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Deutsche Zeitschrift fur
Nervenh eilkun de
Gesellschaft Deutscher Nervenarzte,
Deutsche Gesellschaft fur Neurologie
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Boston
Medical Library,
19 BOYLSTON PLACE.
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DEUTSCHE ZEITSCHRIFT
FOR
NERVENHEILKUNDE.
HERAUSGEGEBEN
VON
Prof. Willi. Erb
Director der med. Klinik in Heidelberg.
Prof. Pr. Schultze
Director der med. Klinik In Bonn.
Prof. L. Lichtheim
Director der med. Klinik in KOnigsberg.
Prof. Ad. v. Striimpell
Director der med. Klinik in Erlangen.
REDIGIRT VON
A. STROMPELL.
SIEBZEHNTER BAND.
Mit 38 Abbildungen im Text und 10 Tafeln.
LEIPZIG,
VERLAG VON F.C.W. VOGEL.
1900.
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Inhalt des siebzehnten Bandes.
Erstes und Zweites (Doppel-)Heft
(an8gegeben am 17. Mai 1900).
Seite
I. Aus der I. deutschen medicinischeu Klinik (Hofrath A. Pribram)
in Prag.
Pick, Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. (Mit
3 Abbildungen im Text und Tafel I—III)........ 1
II. Aus der medicinischen Klinik des Herrn Prof. Strumpell in Er¬
langen.
Hauck, Untersuchungen zur normalen und pathologischen Histo-
logie der quergestreiften Musculatur.57
III. Aus der medicinischen Klinik des Herrn Prof. Schultze in Bonn.
Giese, Ueber eine neue Form hereditiiren Nervenleidens.
(Schwachsinn mit Zittern und Sprachstorung).71
IV. von Krafft-Ebing, Ueber infantile familiare spastische Spinal-
paralyse.87
V. Aus der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf.
Nawratzki, Ein Fall von Sensibilitatsstorung im Gebiete des
Nervus cutaneus femoris externus mit pathologisch-anato-
mischem Befunde. (Mit Tafel IV).99
VT. Flatau, Ueber den diagnostischen Werth des Grafe’schen Symptoms
und seine Erkl&rung. (Mit 2 Abbildungen).109
VII. Aus der Konigl. medic. Universitatsklinik zu Halle a. S. (Director:
Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Weber.)
Hofmann, Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemian-
asthesie und Hemiplegie. (Mit 6 Abbildungen).117
VIII. Aus dem hirnanatomischen Laboratorium der nied.-oster. Landes-
Irrenanstalt Wien.
Probst, Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischen-
hirnverletzungen. (Mit 5 Abbildungen).141
IX. Kleinere Mittheilungen.
1. Riegel, Ueber die springende Mydriasis.169
2. Bruns, Bemerkungen zu den Aufsatzen von Brodmann und
Steinhausen uber Serratuslahmung im vorigen Heft dieser
Zeit8chrift.171
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IV
Inhalt des siebzehnten Bandes.
Seite
X. Besprechungen:
Sachs und Freund, Die Erkrankungen des Nervensystems
nach Unfallen mit besonderer Berucksichtigung der Unter-
suchnng und Begutachtung. (Strumpell).174
Literatur-Uebersicht.176
Drittes und Viertes (Doppel-)Heft
(ausgegeben am 12. Juli 1900).
XI. Aus der Universitatspoliklinik fiir Nervenkranke und dem hirn-
anatomischen Laboratorium in Zurich (Professor v. Monakow).
Veraguth, Ueber einen Fall von transitorischer reiner Wort-
taubheit.177
XII. Rybalkin, Vertigo auralis hysterica. Zur Frage der Harnveran-
derungen nach den Anfallen der grande hysteric.199
XIII. v. Rad, Zur Lehre von der multiplen selbstandigen Gehimnerven-
neuritis. (Fall von Diplegia facialis combinirt mit Ophthalmo¬
plegia externa).209
XIV. v. Bechterew, Ueber eine Affection der VaroPschen Briicke mit
bilateraler Labmung der willkurlichen Augenbewegungen,
Zwangslachen und Zwangsweiuen, sowie fruhzeitiger Atrophie
der rechtsseitigen Unterschenkelmuskeln.221
XV. Thom a, Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose.
(Mit 3 Abbildungen).263
XVI. Frenkel, Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei
Tabes dorsalis. (Mit 6 Abbildungen).277
XVII. MObius, Ueber periodische Oculomotoriuslahmung.294
XVIII. Aus der medicinischen Klinik zu Bonn.
Strasburger, Ueber das Fehlen des Achillessehnenreflexes und
seine diagnostische Bedeutung.306
XIX. Kleine Mittheilung:
Oppenheim, Intermittirendes Hinken und neuropathische
Diathese.317
XX. Besprechungen:
1. Raymond, Le^ns sur les maladies du systfeme nerveux
(Strumpell).319
2. Hof fa, Die Orthopadie im Dienste der Nervenheilkunde.
(Strumpell).321
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Inhalt des siebzehnten Bandes.
v
Fttnftes und Sechstes (Doppel-)Heft
(ausgegeben am 30. August 1900).
Seite
XXI. A us dem Laboratorium Prof. H. Oppenheim’s in Berlin.
Lapinsky, (Jeber acute ischamische Lahmung nebst Berner-
kungen fiber die Veranderungen der Nerven bei acuter Ischamie.
(Mit Tafel V).323
XXII. Ransohoff, Ueber Veranderungen im Centralnervensystem in
einem Fall todtlicher Blasenblutung. (Mit 4 Abbildungen) 351
XXIII. Sander, Untersuchungen fiber die Alters veranderungen im
Rfickenmark. (Mit Tafel VI. VII).369
XXIV. Petrfcn, Ueber die Verbreitung der Neurasthenic unter ver-
schiedenen Bevolkerungsklassen. (Nebst kfirzeren symptoma-
tischen Bern erk ungen). 397
XXV. Haenel, Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des
Hirnschenkels. (Mit 3 Abbildungen).413
XXVI. Aus dem Laboratorium der Universitatsaugenklinik in Wfirzburg
(Professor v. Michel).
Bach, Experimented Untersuchungen und Studien fiber den
Verlauf der Pupillar- und Sehfasern nebst Erorterungen fiber
die Physiologie und Pathologie der Pupillarbewegung. (Mit
1 Abbildung im Text und Tafel VIII—X).428
XXVII. Aus Prof. Koshewnikofrs Klinik (Moscau).
Nalbandoff, Zur Symptomatologie der trophischen Storungen
bei der Syringomyelie (Osteomalacie). (Mit 3 Abbildungen) . 468
XXVIII. Aus der Abtheilung ffir Nervenkranke von Dr. Bregman im isra-
elitischen Hospital in Warschau.
Bregman, Zur Klinik der Akromegaiie. (Mit 2 Abbildungeu) 483
XXIX. Nachtrag:
Mobius, Ueber periodische Oculomotoriuslahmung.496
XXX. Besprechungen:
1. M5bius, Ueber die Anlage zur Mathematik. (Strfimpell). . 497
2. Lomer, Zur Beurtheilung derSchmerzen in der Gynakologie.
(Gessner).499
Literatur-Uebersicht.500
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APR 30 1900
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V/ -n—
Aus der I. deutschen medicinischeiT AlmiE(Hofratli A. Pribram) in Pragl
Znr Kenntniss der progressiyen Muskelatrophie.
Von
Dr. Friedel Pick,
Privatdocent fur inn ere Medioin and Labor&toriums&ssistent der Klinik.
(Mit Tafel I—III u. 3 Abbildungen im Text.)
In der Lehre yon den progressiven Muskelatrophien hat sich in
dem letzten Decennium ein bemerkenswerther Umschwung voUzogen.
Wahrend noch 1876 Charcot und Marie die Beschreibung einer An-
zahl einschlagiger Falle mit den Worten begannen: ,,1/atrophie mus-
culaire progressive semble devoir de plus en plus se morceler en
groupes secondaires, dont le nombre s’accroit 44 , hat sich seither, nament-
lich auf Grand der eingehenden Untersuchungen Erb’s, die Anschauung
Bahn gebrochen, dass die von den verschiedenen Autoren als selbst-
standig aufgestellten Krankheitstypen [die infantile Form (Duchenne)
— die Pseudohypertrophia lipomatosa —, die hereditare Muskelatrophie
(Leyden-Moebius) —, die juvenile Form (Erb)] zusammengehoren und
eine klinische Einheit bilden, fttr welche Erb den Namen Dystrophia
musculorum progressiva eingeflihrt hat. Diese Anschauung ist ziem-
lich allgemein angenommen, und damit schien in dieser Beziehung ein
gewisser Abschluss gewonnen, indem der — auf einer Erkrankung der
Vorderhomganglienzellen beruheuden — spinalen Muskelatrophie die
Dystrophie als eine prim&re Muskelerkrankung ohne nachweisbare
Veranderung des Nervensystems gegenfibergestellt und die differential-
diagnostischen Merkmale beider Affectionen festgelegt wurden. Allein
diese, namentlich in didactischer Beziehung so willkommene scharfe
Abgrenzung hat aus verschiedenen Grilnden alsbald Complicationen
erfahren, zunachst, indem der — wenngleich nicht unbestritten ge-
bliebene — Versuch gemacht wurde, einer dritten auf Lasion der
peripheren Nerven beruhenden Form, der neurotischen oder neuralen
Muskelatrophie (Hoffmann, Sachs) nosologische Selbstandigkeit zu
sichern.
Ferner hat sich die scharfe Gegenuberstellung dieser Hauptgruppen
als zu weitgehend erwiesen, denn es stellte sich heraus, dass den
klinischen Differentialmomenten keine absolute Beweiskraft zukommt.
Deutsohe Zeitschr. f. Neryenheilkunde. XVII. Bd. 1
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I. FiiiEbEL Pick
So zeigte sich, dass die fibrillaren Zuckungen und dieEntartungsreaotion
bei chronischem Verlaufe der spinalen Muskelatrophie oft fehlen (Hoff¬
mann S. 314), hingegen bei sicheren Dystrophien mitunter vorkommen
(s. Erb S.252, Wiersma, Hoppe, Oppenheim und Cassirer S. 157,
Donath),anderentheils lehrten neuere Beobachtungen, dass auch demZeit-
punktdesBeginns und der FamiliaritatoderHereditat keine ausschliessliche
differentialdiagnostische Bedeutung zukomme, denn es wurden Falle
bekannt von spatem Auftreten des Dystrophie, z. B. im 71. Lebensjahre
(Linsmayer), und von Familiaritat oder Hereditat bei anatomisch
sichergestellter spinaler Muskelatrophie (Hoffmann (2), Werdnig).
Diese kurzen Hinweise, welche noch unschwer zu vermehren waren,
zeigen, dass den einzelnen klinischen Momenten, namentlich soweit
sie durch das Fehlen eines Symptoms charakterisirt sind, keine exclu¬
sive differentialdiagnostische Bedeutung zukommt, und so wird es er-
klarlich, dass bezttglich der klinischen Stellung eines und desselben
Falles mitunter zwischen den erfahrensten Autoren Divergenzen vor-
kommen, wie z. B. Hoffmann den von Oppenheim und Cassirer
klinisch unter die neurotische Muskelatrophie gerechneten, anatomisch
als Dystrophie erwiesenen Fall bei genauer Analyse der Symptome
als klinisch ebenfalls unter Dystrophie gehbrig bezeichnet.
Neben diesen verschiedenen klinischen Momenten haben sich aber
auch in anatomischerBeziehungBefunde ergeben,die der schematischen
Trennung der Dystrophie und spinalen Amyotrophie Schwierigkeiten
bereiten. Zunachst lehrten verschiedene Untersuchungen, dass auch
dem mikroskopischen Muskelbefunde keine ausschlaggebende Bedeutung
zukommt Denn im Gegensatz zu der frtiher so scharfen Gegentiber-
stellung — wonach der Dystrophie die „einfache“ Atrophie der Muskeln
mit V erschmalerung, aber erhaltener Querstreifung, so wie Hypertrophie der
Fasem zukomme, den spinalen Amyotrophien dagegen die „degenerative“
Atrophie der Muskelfasern mit scholligem Zerfall derselben —, hat sich ge-
zeigt dass bei unzweifelhaft spinalen Erkrankungen,wie Poliomyelitis (Mul¬
ler, Oppenheim), spinaler Kinderlahmung (Dejerine, Joffroy und
Achard, Hitzig), Syringomyelie (Schultze, Lewin), hypertrophische
Fasem vorkommen, und auch bei progressiver Bulbarparalyse sowie
bei Neuritis (Lewin), ferner bei spinaler Muskelatrophie (Hoffmann)
die Muskeln das Bild der einfachen Atrophie darbieten konnen, und
so gelangte in neuester Zeit Loewenthal zu dem Resultat, dass
„der histologische Muskelbefund nicht zur Sicherung der Diagnose
geeignet erscheint“. Auch experimentelle Untersuchungen haben ge-
zeigt, dass nach Nervendurchschneidung nur ,,einfache“ Atrophie zu
Stande kommt, wahrend die sogenannten „degenerativen“ Verande-
rungen wahrscheinlich als Folge von Nebenursachen aufzufassen sind
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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 3
(Stier). Endlich ergiebt sich aber auch bezflglich des anatomischen
Befundes am Nervensystem keine ausnabmlose Constanz, derm es giebt
eine Anzahl von klinisch der typischen Dystrophia entsprechenden
Fallen, bei welchen die mikroskopische Untersuchung mehr Oder minder
starke Veranderungen der granen Vordersaulen ergab. Solche Falle
sind von Erb-Schultze, A. Pick, Kahler, in nenerer Zeit von
Frohmaier, Heubner, Preisz mitgetheilt worden. Erb lasst in
seiner grossen Monographic (1, S. 248) die Frage often, ob es sich
dabei vielleicht nur um secundare Veranderungen handle, wahrend
Strtmpell bei einem seither mitgetheilten, klinisch nicht sicher ein-
gereihten Fall mit hochgradiger „einfacher“ Atrophie der Muskeln die
von ihm erhobene Atrophie der peripheren Nerven und fast aller
motorischen Ganglienzellen als secundar auffasst, cL h. hinzugetreten
zu der primar in den Muskelfasem entstandenen Atrophie. Wie schwierig
und von dem Standpunkte des jeweiligen Beurtheilers abhangig aber
die Entscheidung in Bezug auf die secundare oder primare Natur
der in solchen Fallen gefundenen Veranderungen des Nervensystems
1st, geht'z. B. daraus hervor, dass Hoffmann bezuglich des letzter-
wahnten StrUmpellschen Falles unter genauer Analyse der klini-
schen und anatomischen Befunde zu dem entgegengesetzten Schluss
gelangt, namlich dass es sich nicht, wie Strfimpell meint, um eine
primare Myopathie, sondem um eine spinale Muskelatrophie (Typus
Duchenne-Aran) gehandelt habe. Diese Falle von Dystrophie mit
mehr oder minder starken Veranderungen am Nervensystem einerseits,
andererseits die oben erwahnten Erfahrungen beziiglich des Vorkommens
einfacher Atrophie bei Erkankungen des Nervensystems haben in
neuerer Zeit die Anschauung von der primar myopathischen Natur
der Dystrophie — auch fUr jene Falle mit anscheinend normalem Be-
fund am Nervensystem — schwankend gemacht und dazu geftihrt,
auch fQr diese Form der Muskelatrophie eine neuropathische Genese
fhr moglich zu erachten, dieselbe also als mikroskopisch sichtbaren
Effect von functionellen, mikroskopisch bislang unsichtbaren Storungen
der trophischen Centra aufzufassen (Erb, 1, S. 239). Diese schon fraher
von Knoll (1), Moebius u. A. geausserte, in neuerer Zeit aber in Folge
der negativen Sectionsbefunde von Lichtheim, Charcot, Schultze
etc. zu Gunsten der primaren Myopathie verlassene Anschauung ist
von Erb neuerdings vertreten und auch von Strampell acceptirt
worden, der hierfftr auch die so ansprechende, von ihm schon fraher
zur Erklarung des Aufhorens der Degeneration der Pyramidenseiten-
strangbahn in der Oblongata bei den sogenannten primaren Degenera-
tionen aufgestellte Hypothese herangezogen hat, wonach die Folgen
einer Verminderung der nutritiven Zellkernfunctionen zunachst in den
1 *
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I. Friedel Pick
vom Zellkern entfernteren Gebieten zu anatomisch sichtbaren Verande-
rungen ffthren wfirden.
Die vorstehend gegebene Uebersicht fiber die verschiedenen, in
neuerer Zeit auf dem Gebiete der Muskelatrophien aufgeworfenen
Fragen zeigt zur Gentige, welche hohe Bedeutung der Untersuchung
derartiger Falle, namentlich in anatomischer Hinsicht, zukommi Fol-
gende Punkte sind es, auf welche die Aufmerksamkeit zu rich ten
sein wird.
1. Die differentialdiagnostische Werthigkeit der verschiedenen,
bei den einzelnen Formen zu beobachtenden Symptome (Lebensalter,
Localisation , fibrillare Zuckungen, EaR, mikroskopischer Muskelbe-
fund etc.) und insbesondere die Feststellung eventueller Uebergangs-
formen zwischen den sog. primar myopathischen und den myelopathischen
Formen.
2. Die genaueste Untersuchung des Nervensystems, insbesondere
der Vorderbomzellen, mit den neueren, einen Einblick in feinere Zell-
structur gestattenden Methoden, so namentlich der von Nissl ange-
gebenen, die, wie ich aus der Literatur ersehe, bei Fallen von typischer
Dystrophie noch nicht zur Anwendung gelangte.
3. Im Falle, dass Veranderungen im Nervensystem gefunden
werden sollten, eine Entscheidung darfiber, ob dieselben als primar
oder secundar in Bezug auf die Muskelatrophie anzusehen sind.
4. Mit Rficksicht auf die oben angeffihrte Theorie von der tropho-
neurotischen Genese der Dystrophie und die Strfimpell'sche Hypothese
von dem frfiheren Auftreten der Veranderungen an den vom Zellkern
entfemtesten Abschnitten eine Untersuchung der motorischen Nerven-
endigungen in den Muskeln, worfiber bisher, soweit mir bekannt, nur
eine Angabe von Sacara-Tulbure vorliegt, welche in einem klinisch
jedoch nichts weniger als klaren Falle Degenerationen der Nerven-
endigungen beschreibt.
Von diesen Gesichtspunkten aus soil im Folgenden zunachst fiber
die Totalsection eines klinisch als spinale Form imponirenden Falles
berichtet werden, sowie fiber drei weitere, von welchen bei zweien
durch Muskelexcision frisches Material gewonnen wurde. Ffir die
Ueberlassung der Falle bin ich meinem hochverehrten Chef, Herrn
Hofrath Pribram, zu ergebenstem Danke verpflichtet
Fall I.
Z. W. 52 Jahre alter Muller aus Wotitz, kam zum ersten Male Ende
Juni 1893 zur Klinik. Er gab an, friiher nie krank gewesen zu sein, bis
er vor 2 Jahren plotzlich unter lebhaften* Schmerzen in beiden Knie- und
Sprunggelenken erkrankte; dabei bestand weder Fieber noch Anschwellung
der Gelenke. Anfangs konnte Pat. wegen den Schmerzen nicht gehen, als
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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie.
5
diese spater nachliessen, bemerkte Pat. beim Gehen friihzeitiges Ermuden,
und gleichzeitig magerten die £eine ab; ebenso trat Schwache und Ab-
magerung der oberen Extremitaten und der Halsmuskeln auf, Schmerzen
hatte er jedocb in diesen nie.
Eine Vergrbsserung der Schilddriise besteht seit friihester Kindheit,
docb war sie friiher nicht so gross; erst im Lauf der Jahre ist sie zur
jetzigen Grosse berangewachsen, sie hat dem Pat. nie Beschwerden gemacht.
Pat. hat mehrfach Traumen erlitten, vor 8 Jahren traf ihn die Schaufel
eines Miihlrades an der Schulter, wonach er eine Zeit lang bewusstlos war;
vor 3 Jahren fiel ihm ein 75 Kilo schwerer Sack Getreide von der Hbhe
eines Meters auf den Kopf und Nacken.
Potatorium und Infection wird negirt.
Vater des Pat. starb an Magenkrebs, die Mutter nach einem Schlag-
anfall, seine Frau an Lungenschwindsucht, ein Kind an dem Pat. unbe-
kannter Krankheit. Ein Bruder und eine Schwester des Pat. leben und
sind gesund; eine ahnliche Krankheit ist in der Familie, soviel er weiss,
nicht vorgekommen.
Status vom 29. VI. 1893.
Pat. gross, von kr&ftig entwickeltem Knochenbau, geringem Panniculus
adiposus, Schadel dolichocephal, Pupillen mittelweit, trage reagirend. Schild-
driise in alien ihren Antheilen massig vergrossert, die cervicalen Lymph-
driisen tastbar, Zunge rein, feucht, wird gerade vorgestreckt. Nach aussen
von der r. Mamilla ein gulden grosser papillarer, pigmentirter Naevus,
auch sonst zahlreiche solche am Stamme. Im Nacken die Wirbel bis zum
sechsten deutlich tastbar. Sternocleidomastoidei nicht zu tasten, man
kommt gleich auf die Halsgef&sse und die Querfortsatze der Wirbel. Auch
sonst die Muskeln an der vorderen und seitlichen Peripherie des Halses
nicht zu tasten, die an der Ruckseite sehr atrophisch. Der Kopf wird steif
gehalten, eine Annaherung des Kinnes an die vordere Brustwand ist activ
nicht mbglich; nach riickwarts sinkt der Kopf weit zuriick bis zur Beriih-
rung des Riickens (Fig. 1S. 6), kann geradeaus nicht wieder aufgerichtet werden,
sondern der Pat. stiitzt sich beim Aufsetzen aus der Riickenlage auf die
Ellbogen und erst nach einer halbkreisformigen Drehung des Rumpfes kommt
Pat. zum Sitzen, wahrend zugleich unter pendelnden Bewegungen der Kopf
nach vorne failt und mit deutlichem Ruck wie einschnappend in eine Stellung
etwas nach vorne von der Mittellinie gebracht wird.
Deltoides sowie Pectoralis sehr gering ausgebildet, ebenso
Biceps und die ganze Musculatur des Vorderarms sowie der Thenar und
Antithenar und der Handflache. Pat. kann die nach vorn gelegten
Hande bis zur Senkrechten erheben, dies ist jedoch nicht der Fall, sobald
er sie aus der Seitenlage erheben soli. Ben gen der Finger ist mbglich,
dagegen nicht das Spreizen derselben; das Strecken geschieht an der
rechten Hand gut, an der linken wird der Kleinfingerballen nicht voll-
standig gestreckt.
Richtet sich Pat. auf, so steht er mit vorgebeugtem Oberkbrper, der
Kopf failt nach vorn; versucht er sich gerade zu halten, so sinkt er in die
Kniee. Gang schwankend, sehr breitspurig.
Sensibilitat normal.
Reflexe an den oberen Extremitaten verstarkt, an den unteren nur an-
gedeutet, Bauchreflex nicht deutlich.
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I. Friedel Pick
Musculatur an den nnteren Extremit&ten viel besser erhalten, zwar
schwach, aber keine besondere Atropbie dentlich. An den inneren Organen
and im Harn nichts Abnormes.
Das Sensorium dea Pat. frei, die Intelligenz dem Bildungsgrade ent-
sprechend.
Die elektrische Untersnchung des Pat ergab bedentende Herabsetzung*
der Erregbarkeit far den faradischen und galvanischen Strom ohne jegliche
Umkehr der Zuckungsformel oder tr&ge Zuckung; an der Danmenmnscalatiir
war bei st&rksten Strom keine Zncknng zn erzielen, aber Starke Schmerzens-
kusserung, nnd der Pat. wnrde bei wiederbolten Untersuchungen ongebalten
Fig. 1.
nnd widersetzte sich der weiteren elektrischen Exploration mit der Begriin-
dung, dass er bis auf die Beine gesnnd sei.
Pat. klagte im weiteren Verlanf iiber Schmerzen in den Fiissen beim
Herumgehen, die bei Bettrahe fehlten; dann schwanden die Schmerzen unter
galvanischer Behandlnng, es blieben noch Schwache und zeitweises Ameisen-
laufen in den Fiissen zariick.
Ende August gab Pat. an, sich leichter aufrichten und besser gehen
zu kbnnen. Anfang October wurde er entlassen.
Ein Jahr sp&ter, Mitte October 1894, kam er wieder zur Klinik mit
bedeutend verschlimmertem Znstande. Er lag meist apathisch mit nach
hinten gesunkenem Kopfe da, beim Aufsetzen beugt er den Oberkorper stark
nach vome; die Pupillen zeigten keine deutliche Reaction. Die Nacken-
musculatur, namentlich links, stark geschwunden, so dass man die Wirbel-
skule durchtastet.
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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie.
7
Der Kopfnicker fehlt auf beiden Seiten. Platysma erhalten, stark
aasgepr> Cucnllaris vorspringend. Clavicularportion fehlend, Pec-
toralis maj., Deltoides, Latissimus dorsi, Supra- und Infraspinati beiderseits
erhalten, aber stark abgemagert.
Die beiden Schulterbl&tter sind von der Wirbelsaule weit entfernt, das
linke Schulterblatt nach oben rotirt.
Der untere Theil des Cucnllaris contrahirt sicb beim Husten sehr
schwach. Von der Schilddriise gegenw&rtig nur ein Theil des rechten und
mittleren Lappen zu tasten, der linke ganz feblend.
Supinator long, beiderseits fast ganz fehlend.
Das Bewusstsein nicht ganz klar, in der letzten Zeifc ist Pat. schlaf-
siichtig. Er antwortet tr§ge mit wenigen Worten, unwillig, seine Antworten
widersprechen sich. sindjedoch im Allgemeinen dem Bildungsgrade angemessen.
Eine wesentlicheSprachstftrung ist in demSinne vorhanden, dassdieBewegungen
der Zunge ganz unregelmassig und wie ermiidet erfolgen. Beim Sprechen
entweicht Luft durch die ‘Nase, und der Kranke ist nicht im Stande ge-
wisse Laute scharf auszusprechen. K wird wie ein hauchendes H gesprochen.
Das gutturale Ch der btfhmischen Sprache bringt Pat. nicht deutlich her-
vor. Zunge nicht auffallend abgemagert, zeigt einzelne fibrill&re Zuckungen,
die Papillae filiformes sind stark verlftngert.
Bewegungen des Gaumens erfolgen beiderseits gleich, mimische und Fa-
cialisbewegungen normal. Sternocleidomastoideus fehlend bis auf einen
kleinen, kaum von der Fascie zu trennenden Rest. Beim Schlingacte, der
anstandslos erfolgt, treten weder rechts noch links besondere Muskeln in
Erscheinung. Contraction des Platysma, Biventer oder Omohyoideus nicht
zu sehen. Man gelangt bei der Palpation durch die Haut und die darunter-
liegenden dunnen Schichten unmittelbar auf die Querforts&tze der Hals-
wirbel, der Kehlkopf ausserordentlich leicht verschiebbar, Brustkorb schmal
und lang. Die Hande in Affenhandstellung, die Daumen nicht opponirt, Spatia
interossea stark ausgepragt, Opponens, Abductor und Adductor des kleinen
Fingers stark geschwunden. Elektrische Reaction derselben nicht auszu-
losen. Am Vorderarm die Beuge- und Streckmuskeln, aber namentlich die
ersteren stark atrophirt, so dass der vordere Contour der Ulna deutlich
sichtbar ist. Oberarmmuskeln abgemagert, jedoch sowohl Biceps als Triceps
zur Contraction zu bringen. Supinator ist am rechten Arm vollstandig ge¬
schwunden, links vorhanden. Tricepsreflex am rechten Arm nicht vorhanden.
Klopfen auf die Musculatur des Ext. digit, commun. hat Contraction zur
Folge, dagegen hat Beklopfen des Palmaris, der Fingerbeuger, des Periosts
keine Contraction zur Folge. Sensibilit&tsstorungen nicht vorhanden.
H&ndedruck am Dynamometer = 0.
Untere Gliedmassen stark abgemagert, namentlich die Wadenmusculatur,
so dass die Fibulae sehr stark vorspringen. Beklopfen des Vastus hat
keine Contraction zur Folge. Cremaster- sowie Patellarreflexe weder rechts
noch links auszulosen. Beim Aufsetzen sinkt der Eopf oft nach riickwarts.
Wirbelsaule gerade.
Die elektrische Untersuchung in dieser Zeit ergab flir die galvanische
Erregbarkeit annkhernd normals Zahlen, fur die faradische Starke Herab-
setzung.
An den kleinen Handmuskeln vollstkndiges Fehlen der Reaction fiir
beide Stromarten.
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I. Friedel Pick
Im weiteren Verlaufe trat dann eine linksseitige Otitis media mit einem
Abscess im Nacken auf, Pat. verfiel immer mehr und starb am 19. Nov. 1894.
Dem Protokoll der am selben Tage im path.-anat. Institut (Hofrath
Chiari) vorgenommenen Section entnehme ich folgende Daten:
Der Korper 171 cm lang, von mfissig kraftigem Knochenbau, mager
blass, Hals lang, Thorax mittellang, flach, Abomen eingezogen. Zahlreiche
Pigmentnaevi von 3 mm bis 1 cm Durchmesser.
Weiche Schadeldecken blass, Sch&deldach 54 cm im Horizontalumfang.
Seine Wand bis 1 cm dick, von mittlerem Diploegehalt, Dura sehr wenig
gespannt, in ihren Sinus sp&rliches flussiges und postmortal geronnenes Bint.
Die inneren Meningen fiber der Convexitat des Grosshirns leicht getrfibt,
odematos, leicht abziehbar und von mittlerem Blutgehalte.
Das Gehim normal configurirt, feuchter, mfissig blutreich. Seine Win-
dungen etwas verschmalert, seine Furchen mit entsprechenden Verbreiterungen.
Seine Ventrikel etwas erweitert, die basalen Arterien mit frischen Blutge-
rinnseln gefullt. Das Rtickenmark zeigt etwas stfirkere Ftillung seiner
Geffisse. Seine Querschnitte lassen keine Verfinderung der gewohnlichen
Zeichnung erkennen. Zwerchfellstand links 4., rechts 5. Rippe, seine Muscu-
latur l&sst keine Atrophie erkennen. Die Prfiparation der Musculatur er-
giebt folgenden Befund. Die Mm. sternocleidomastoidei in dtinne bindege-
webige Strange umgewandelt. Die Mm. omohyoidei, sternohyodei, sterno-
thyreoidei sowie die Muskeln des Bodens der Mundhohle ziemlich gut erhalten.
Mm. pectorales majores von ansckeinend normaler Beschaffenheit, minores
sehr atrophisch. Die Mm. intercostales, serrati antici majores und die
Bauchwandmuskein gut erhalten. Von den Rtickenmuskeln zeigen sowohl
die Cucullares als auch die Mm. latissimi dorsi und die erectores trunci hoch-
gradige Atrophie. An den Extremitaten sind von der Atrophie besonders
stark ergriffen die Mm. deltoidei. Die Streckmuskeln des Vorderarms, die
Muskeln der Daumen und Kleinfingerballen und die Mm. interossei sind ge-
schwunden; ziemlich gut erhalten sind die Mm. bicipites, tricipites und das Caput
comm, der Beuger des Vorderarms. An den unteren Extremitaten zeigt sich
in der Wadenmusculatur sehr starke Lipomatose. Die Glut&almuskeln und
die Muskeln des Oberschenkels sind beiderseits ziemlich gut erhalten.
Pathol.-anatomische Diagnose: Otitis media suppurativa sinistra,
subsequente abscessu nuchal. Pneumonia lobul. bilat. Morbus Brightii
chronic, gradus levioris, Polypus mucosus recti. Hystricismus circumscriptus
parietis thoracis d.
Atrophia cerebri grad, levior. Atrophia et Lipomatosis musculorum.
Bei der Section wurden entsprechende Sttickchen aus den verschiedenen
Hohen des Rfickenmarks sowie Theile der Grosshirnwindungen in Alkohol
eingelegt, der Rest in Miiller’sche Flfissigkeit. Ferner wurden zahlreiche
Nerven und Muskeln in Mtiller'sche Flfissigkeit eingelegt und spater theils
nach Mar chi behandelt, theils mit Hamatoxylin, Cochenille-Alaun, sowie
nach van Gieson, Weigert, Pal, letzteres mit nachfolgender Alaun-Carmin-
farbung geffirbt, wobei mich Herr stud. G. Kobler mit dankenswerthem
Eifer unterstfitzte.
Die Rinde der r. Centralwindungen ergab durchaus normalen Be¬
fund an den Ganglienzellen.
Die TJntersuchung des Rfickenmarks an Schnitten aus der Hfihe des
Cervicalis n, III, V, VI, VII, Dorsalis I, II, HI, VI, X, XII, Lumbalis II,
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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 9
V, mit Ammoniakcarmin, Nigrosin, ferner nach Nissl, Weigert, van
Oieson gefarbt, ergab die weisse and grane Substanz durchans normal, die
Zellen der Vorderhbmer allenthalben, insbesondere ancb an Nisslpraparaten,
wohlansgebildet, von anscheinend normaler Zahl, ihre Fortsfttze und Granula
deutlich zu sehen. Ebenso erwiesen sich vordere nnd hintere Wurzeln normal.
Die Untersnchnng der Oblongata an Serienschhitten bis hinauf zum oberen
Olivenende ergab ebenfalls einen ganz negativen Befund. Die Pia der inneren
Meningen erschien stellenweise etwas verdickt, ebenso die Wand ihrer
Arterien. Indessen erlangte diese Veranderung nirgends einen nennens-
werthen Grad. Die Untersnchnng der Nerven ergab folgenden Befnnd.
N. glossopharyngeus von normalem Anssehen, sowohl der Axen-
cylinder als Nervenfasem. Anf Langsschnitten stellenweise zwischen den
Fasern eingelagerte schone Ganglienzellen. In der Scheide des Nerven reich-
liches Fettgewebe.
N. vagus durchans normal, ebenso N. hypoglossns, radialis, ulnaris
nnd median us bis anf etwas starker e Einlagerung von oblongen Kernen inner-
halb und Fettgewebe zwischen den Nervenbiindeln ebenfalls normal.
Im N. axillaris zeigte die Mehrzahl der Einzelbundel ebenfalls durch-
aus normales Verhalten, nnr in einzelnen Bhndeln fanden sich anffallend
lichte Partien (s. Taf. II n. HI, Fig. 7), bestehend aus einem weitmaschigen Ge-
webe mit sich nnr blass fkrbenden ovalen Kernen, die, wie es scheint, concentrisch
nm ein, manchmal anch an der Peripherie gelegenes, sich starker tingirendes
Gebilde mit kornigem Inhalt angereiht waren, welches stellenweise den Ein-
drnck eines Gefksschens machte, wahrend an anderen Stellen man den Ein-
druck einer im Centrum verlaufenden Nervenfaser hat. Diese Gebilde
liessen sich immer nnr dnrch eine geringe Zahl von Schnitten verfolgen.
Die Nervenfasem in der Umgebung schienen immer durchans intact im
Bogen dariiber wegzuziehen. Stellenweise fanden sich in einem Nerven-
biindel zwei derartige Gebilde, z. B. eines an der Peripherie, eines im
Centrum. Auf Langsschnitten erwiesen sich diese Gebilde als spindelige,
moist einem Bindegewebsseptum anliegende Zuge eines weitmaschigen Ge-
webes mit blassen Kernen. Es handelt sich offenbar urn Renaut’sche
Korperchen, denen wir auch weiterhin (M. triceps) noch begegnen werden.
Der N. accessorius dagegen bot ein von den iibrigen Nerven durchans
verschiedenes Bild. (Taf. II u. Ill, Fig. 4 u. 5.)
Von den 4—5 Nervenbiindeln, aus denen er am Querschnitt zusammen-
gesetzt schien, zeigten die kleineren bis auf etwas Vermehrung des Zwischen-
gewebes keinerlei abnormen Befund. Das grosste Nervenbiindel hingegen
zeigte zwei Haiften von ganz verschiedenem Anssehen. Die eine, den
anderen Bundeln zugekehrte, zeigte wohlentwickelte Axencylinder und Mark-
scheiden, die andere hingegen blieb bei der Weigert'schen Farbung z. B.
ganz ungefarbt und liess in dem faserigen, ziemlich kernreichen Gewebe
nnr einzelne schwarzgefarbte Nervenfasem erkennen (Fig. 5). Bei der Ver-
folgung an Serienschnitten zeigte sich nun, dass an einer bestimmten Stelle
ein Ast gerade aus diesem Biindel herans sich abzweigte, und zwar von der
lateralen, degenerirten Haifte aus, und dieser ganze Zweig blieb bei der
Weigert'schen Farbung gelb und zeigte nur 2—3 gefarbte Fasern am
Rande, welche auch alsbald aufhorten (Fig. 4). Auf die Bedeutung dieses Be-
fundes mbchte ich erst spater, bei der Besprechung des Ergebnisses der
Untersnchnng der Muskeln, eingehen.
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10
I. Friedel Pick
Von den Mnskeln warden 18 von der rechten K5rperh&lfte theils
an L&ngs-, theils an Qnerschnitten untersucht, and sei hier der hierbei er-
hobene Befand der Kiirze halber in Schlagworten wiedergegeben.
Sternocleidoma8toidens. Aensserst reichliches Fettgewebe, da-
zwischen inselftrmig eine sich ziemlich diffns f&rbende Masse, mit wenig an-
gedeuteter fibrill&rer Stractor and ziemlich zahlreichen Kernen, ohne die ge-
ringste Andentnng von Querstreifang. Bei der Marchi’schen Methods
keinerlei Schwarzfkrbung innerhalb dieser Masse. Gef&sse stellenweise stark
verdickt. Intramuscul&re Nerven wohlerhalten. Ebenso heben sich die
Muskelspindeln, namentlich bei Pal-Alauncarminf&rbung, scharf ab von
der Umgebung, ihre Nervenfasern und Muskelbiindel wohlerhalten.
Cucnllaris. Wohlerhaltene Mnskelfasern; nnr hie nnd da etwas
st&rkere Fettentwicklnng in den Septis nnd am die Gef&sse, sowie stellen¬
weise st&rkere Einlagerang von Kernen zwischen den Mnskelfasern. In dem
Pr¶te hie nnd da besonders anffallend grosse nnd intensiv get&rbte
Muskelquerschnitte, doppelt so gross wie die iibrigen (hypertrophische
Fasern.) Die intramuscul&ren Nerven normal.
M. deltoideus. Anffallende Kernvermehrnng innerhalb nnd am Bande
der Mnskelfasern. Querstreifang dentlich erhalten. An l&ngsgetroffenen
Fasern die Kerne in Zeilen angeordnet. An den Mnskelfasern hie nnd da
Andentnng von Spaltnng. An einzelnen Stellen herdweise breite Binds-
geweb8ziige mit Fetteinlagemng. An den umgebenden Mnskelfasern Qner-
streifung nicht dentlich. Intramuscul&re Nerven zahlreich getroffen.
sehr schon bis in die feinsten Verzweignngen gefkrbt.
Serratus anticns major. Starke Fettgewebswucherung zwischen den
Fasern. Diese znm Theil anffallend verschm&lert, Querstreifang allent-
halben gut erhalten, zeigen zahlreiche, in Reihen angeordnete Kerne. Intra-
muscul&re Nerven gut erhalten, gut gefkrbt.
Pectoralismajor. Zwischen den Biindeln wohlerhaltener Mnskelfasern,
die jedoch alle anffallend viel Kernvermehrnng zeigen, sieht man Inseln,
innerhalb welcher die Mnskelfasern theils verschm&lert, theils abnorm breit
sind. Stellenweise spaltet sich eine Mnskelfaser bei noch erhaltener Quer-
streifung, stellenweise nnr noch Bruchstiicke von Mnskelfasern, nmgeben von
zahlreichen, stark tingirten Kernen.
Pectoralis minor. Heines Fettgewebe, in parallelen Reihen da-
zwischen, nnr hie nnd da streifenfdrmig angeordnet, ein sich diffns f&rbendes
kernarmes Gewebe von welliger Structnr. Gefasse stellenweise verdickt.
Sparliche, jedoch gut gefkrbte Nervenbiindel.
Bicep 8. Sehr anffallende Kernvermehrnng in nnd urn die Mnskelfasern.
Herdwetees Zugrundegehen von Mnskelfasern: Zerfall in L&ngsfibrillen, Ver-
lnst der Querstreifang, Starke Ansammlung intensiv gefarbter Kerne an
den Enden der Fasern, neben sehr breiten Fasern einzelne schmale mit
wohlerhaltener Qnerstreifung, vereinzelte Spaltungen von Fasern, wenig
Fettgewebe. Intramuscuiare Nerven normal.
Triceps. Dasselbe Bild wie beim Biceps. Nnr die Differenzen in Bezug
auf die Breite der Fasern und die Spaltbildungen bedentender, neben-
einander 120 nnd 12 Mikren. Mitgetroffen in den Schnitten ist ein
grdsserer Nervenast, dessen Nervenfasern wohlerhalten sind. An einem
Theil der Schnitte findet sich, wie es scheint, von der Peripherie gegen
die Mitte zn vordringend, ein stellenweise die H&lfte des Nervenst&mmchens
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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie.
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eiimehmende8 lichtes Gebilde, welches ganz dieselbe Structur zeigt, wie die
oben beim Nervus axillaris beschriebenen Renaut’schen Kbrperchen
(siehe Taf. II, III, Fig. 6). Dieses Gebilde nur in einem Theil der Schnitte
nachweisbar, immer ums&umt yon wohlerhaltenen, sich gutfUrbenden Nerven-
fasera. An hfther oben gelegenen Schicbten nimmt die licbte Partie immer
mehr an Ansdebnung ab, und alsbald gewinnt der Nerv ein vollstftndig
normales Aussehen.
Caput commune flexornm. Starke Kemvermehrnng im Zwischenge-
webe. Breite Fasern mit verschwundener Qnerstreifang nnd faserigem Ban,
auffallend scbmale Fasern mit erhaltener Qnerstreifang. Intramnsculare
Nerven bis in die feinsten Verzweignngen normal.
Flexor digit communis sublimis. StarkeFetteinlagernng, dazwischen
Brachstftcke von Mnskelfasern. Qnerstreifang meist nocb gat erhalten, in
den l&ngsgetroffenen Fasern Starke Kemvermehrnng nnd Spaltbildnng. An
den quergetroffenen Fasern anffallend eine Sonderung* des Qnerscbnittes in
einen centralen Theil vom Aussehen gewohnlicher Mnskelfasern nnd einen
peripheren Sanm yon blftsserer Farbe nnd ktfrniger Beschaffenheit. In den
Marchi-Praparaten die Mehrzahl der Fasern ohne jegliche Schwarze; in
anderen hingegen mehr minder reichliche schwarze Kbrnchen, mitnnter selbst
bei wohlerhaltener Querstreifnng (s. Taf. II, III, Fig. 10). Bei dieser Be-
bandlnng die oben erwahnte Differenzirung eines peripheren, anscheinend
mehr protoplasmareichen Antheiles von einem centralen mit gnt erhaltener
Muskelfaserstructnr deutlich. Intramnsculare Nerven reichlich, meist
schirn gefarbt. Nur die feinsten Faserchen zwischen den Muskelfasern
zeigen Liicken, welche die schwarze Farbung nicht angenommen haben.
Omohyoidens. Reichliche Kernvermehrung zwischen und in den
Mnskeln, Querstreifnng meist wohl erhalten. In einzelnen Fasern lichte
Partien ohne Querstreifnng. Bedeutende Differenzen in der Breite der Fasern
nnd im Reichthum an Kemen. Herdweise Einlagerung von geringen Mengen
von Fettgewebe. Intramnsculare Nerven stellenweise reichlich, schon
gefarbt.
Intercostalis sextus. Reichliche Fetteinlagernng, dazwischen nur
Bruchstiicke von Mnskelfasern verschiedenster Breite. Auffaserung in Langs-
tibrillen bei erhaltener Qnerstreifung. Reichliche Vacuolenbildung. Manche
Fasern enthalten mehrere Vacnolen, welche stellenweise so gross sind, dass
sie an Fettzellen erinnern. In der Umgebung der Vacnolen der Qnerschnitt
intensiver gefarbt als an der Peripherie. Auch hier an manchen Quer-
schnitten peripher ein Saum grannlirter Substanz, im Centrum wohl er-
haltene Mnskelfasern. An manchen Stellen, wo das Fettgewebe reichlicher
ist, zwischen demselben nnr noch Reste einer homogenen Substanz
ohne jede Qnerstreifung. Intramnsculare Nerven reichlich, schbn
tingirt.
Gastrocnemius. ReinesFettgewebe, zwischen welchem nnr noch schmale
Streifen eines faserigen Bindegewebes erhalten sind. Nnr ganz vereinzelt
linden sich Schlauche, die Bruchstiicke von mnskelahnlichem Ban enthalten
(Taf. I, Fig. 2 u. 3), innerhalb welcher sich rundliche Kerne linden, oder
kurze Streifen ausserst schmaler Muskelfasern mit erhaltener Querstreifnng,
umgeben von dicht gedrangten Kernen. Gefksse stellenweise verdickt.
Das Fettgewebe in parallelen Reihen angeordnet, Nervenfasern in dem-
elben nicht zn entdecken.
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I. Fjuedel Pick
Extensor digitorum communis pedis. Aeusserst reichliche Kern-
einlagerung in und zwischen den Muskelfasern. Stellenweise hypertrophische
Fasern, Querstreifung meist gut erhalten. Intramuscular© Nerven-
starn me schon gef&rbt.
Halsstrecker. In einem lockeren Fettgewebe sehr reichliche Brueh-
stiicke von Fasern, mit theils noch wohlerhaltener Querstreifung, zum Theil
faseriger und korniger Structur (Taf. I, Fig. 1). Die Gef&sse etwas verdickt;
intramusculare Nervenfasern bis in die feinsten Verzweigungen gut
gefkrbt.
Musculatur der vorderen Bauchwand. Im Ganzen normal, nur
etwas mehr Kemeinlagerung, sowie stellenweise breitere Fasern mit undent-
licher Querstreifung.
Zwerchfell. Reichliche Fetteinlagerung die dazwischen gelegenen
Muskelquerschnitte von sehr verschiedener Breite, zeigen zahlreiche Vacuolen.
IntramusculSlre Nerven bis in die feinsten Verzweigungen nachweisbar.
Rechte Zungenhalfte. Reichliches Fettgewebe; in den bundelweise
dasselbe durchziehenden Muskelfasern reichliche Kernvermehrung, stellenweise
auffallend schmale Fasern mit gut erhaltener Querstreifung. Hier auch,
isolirt im Fettgewebe verlaufend, ausserst zahlreiche, intensiv gef&rbte
Nervenbiindel.
Resumiren wir kurz das bisher Gesagte, so fanden wir bei einem
52 jahr. Manne, der angab, nach vorbergehender vollstandiger Gesund-
heit vor zwei Jahren unter Schmerzen im Knie nnd Sprunggelenk er-
krankt zu sein, worauf Schwache der unteren und oberen Extremitaten
und derHalsmusculatur auftrat, klinisch: Ziemlich starke Atropbie dieser
Muskeln mitvorwiegendemBefallenseinderSternocleidomastoidei;in mehr
minder hobem Grade waren abgemagert Thenar und Antithenar, und
eigentlich war die ganze Musculatur der Extremitaten stark atrophisch.
Keine Sensibilitatsstorung, Reflexe schwach; keine fibrillaren Zuckungen
keine EaR. Als Patient nach einem Jahre wieder kommt, constatirt man
auffallend schlechte Sprache, an der Zunge fibrillare Zuckungen; die
Atrophie hat zugenommen. Klinische Diagnose: Spinale Muskel-
atrophie. Anatomische Untersuchung: Ruckenmark intact, ebenso
das Gehirn und die peripheren Nerven, mit Ausnahme der oben er-
wahnten Renaut’schen Korperchen im Nervus axillaris und der
partiellen Degeneration im Nervus accessorius. In den bereits
makroskopisch zum Theil ganz verfetteten Muskeln ergab die Unter¬
suchung „einfache u Atrophie mit Lipomatose und zwar bis zum totalen
Faserschwund im: Sternocleidomastoideus, Gastrocnemius, Pectoralis
minor; hochgradige im Serratus anticus major, Flexor digitorum commu¬
nis sublimis, Halsstrecker; geringere im Pectoralis major, Zwerchfell,
rechter Zungenhalfte. In diesen Muskeln neben der Lipomatose auch
Vacuolenbildung, Spaltung der Fasern und Kernvermehrung in den-
selben, sowie Hypertrophie einzelner Fasern. Diese letztere Verande-
rung, ohne Lipomatose und nur in geringem Grade ausgebildet, fand
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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie.
13
sich in den sonst normalen Mm. cucullaris, biceps r triceps, deltoi-
deus, omohyoideus, extensor digitorum communis pedis, caput com¬
mune flexorum und den Muskeln der vorderen Bauchwand.
Der Fall bot intra yitam diagnostische Schwierigkeiten. Zu-
nachstliess dieAnamnese mit ihrem Beginnmit Schmerzen in den unteren
Extremitaten und der auf wiederholtes Befragen stets wieder-
kehrenden Ant wort, dass die Schwache und Abmagerung am ganzen
Korper gleicbzeitig nach den Schmerzen aufgetreten sei, an einen
polyneuritischen Process denken, der jedoch durch das Fehlen jeglicher
Sensibilitatsstorung und durch die Ergebnisse der elektriscben Prttfung
unwabrscbeinlich wurde. Dasselbe war auch gegen die Annahme einer
neurotischen Muskelatrophie im Sinne Hoffmann’s anzuffthren.
Gegen Dystrophie schien,mitRiicksichtauf dieanamnestischen Angaben
tkber die kurze Dauer und den Beginn des Leidens, das Alter des
Patienten, sowie die recht auffallende Atrophie der kleinen Hand-
muskeln, das Freibleiben des Cucullaris und die hinzutretende Sprach-
storung zu sprechen. Gerade diese Symptome waren mit der Annahme
einer spinalen, auf Erkrankung der V orderhomzellen beruhenden Amyo¬
trophic weit besser vertraglich. Dem Fehlen der fibrillaren Zuckungen
sowie der Entartungsreaction konnte eine ausschliessende Bedeutung
gegentiber dieser Diagnose nicht zugesprochen werden, denn es liegen,
wie schon eingangs erwahnt wurde, bereits eine ganze Anzahl sicherer
Beobachtungen vor, die das gelegentliche Fehlen dieser Symptome bei
spinalen Amyotrophien beweisen. Schon Erb, der das regelmassige Vor-
kommen von EaR bei spinaler Muskelatrophie yertrat (d. Ztsch. II, S. 410).
hat die Moglichkeit ihres Nachweises in Abhangigkeit von dem Stadium
der Atrophie gebracht, seither sind aber mehrfach klinisch reine Falle
des Typus Duchenne-Aran mit anatomisch sichergestellter Atrophie
der Vorderhomzellen mitgetheilt worden, welche nur mehr minder
starke Herabsetzung der Erregbarkeit, aber keine EaR zeigten, z. B.
yon Dejerine, J. B. Charcot, Yillers (s. auch Hoff¬
mann S. 314, Leyden und Goldscheider S. 608), und eine
Durchsicht der Tabelle II von Cramer zeigt, dass alle acht in dieser
Zusammenstellung der Totalsectionen enthaltenen Falle von spinaler
Muskelatrophie nur einfache Herabsetzung der elektriscben Erregbar¬
keit aufwiesen. Aehnlich verhalt es sich mit den fibrillaren Zuckungen
(s. Leyden-Goldscheider). Hoffmann hat sie in seinen Fallen
stets vermisst, Dejerine sah sie in dem einen Falle, der sie jahrelang
gezeigt hatte, verschwinden, ebenso fehlten sie in dem Falle von Polio¬
myelitis anterior chronica von Nonne.
Aus dem Vorstehenden erhellt zur Gentige, dass das Fehlen der
fibrillaren Zuckungen an der Musculatur (mit Ausnahme der Zunge)
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14
I. Friedel Pick
und der Entartungsreaction nicht absolut gegen spinale Amyotrophie
spricht; anderentheils liessen der spate Beginn, das hochgradige Be-
fallensein der Handmuskeln, die endlich hinzutretende Sprachstorung
die Annahme einer spinalen Muskelatrophie berechtigt erscheinen.
Dagegen ergab die anatomische Untersuchung Intactheit des
Rttckenmarks und der weitaus grossten Zahl der peripheren Nerven.
Der Befund in den Muskeln ahnelt uberaus demjenigen, wie er durch
die eingehenden Untersuchungen zahlreicher Autoren, insbesondere Erb's,
als der Dystrophie zukommend bekannt isi Und zwar sehen wir die
verschiedensten Stadien des Processes vertreten.
In manchen, sonst noch ganz normal erscheinenden Muskelbfindelchen
sehen wir vereinzelte, ihre Nachbam um das Doppelte und Dreifache
des Volumens flberragende Fasem (z. B. Gucullaris). Diese Fasem er-
scheinen ganz vereinzelt mitten unter solchen normalen Durchmessers; ein
bfindelweises Auftreten der hypertrophisch en Fasem, wiediesHitzig
beschrieb und zur Erklarung der Atrophie der anderen Fasem durch
Raumbeschrankung verwerthete, konnte ich nirgends constatiren. Diese
hypertrophischen Fasem zeigen ferner ein abweichendes Verhalten
gegeniiber den normalen, wodurch sie sofort in die Augen springen,
indem sie sich mit Cochenille-Alaun viel intensiver, dunkler roth farben
und auch bei der Weigert’schen Markscheidenfarbung den Farbstoff
intensiver festhalten. Ueber die Genese dieser hypertrophischen Fasem
ist bis jetzt nichts Sicheres bekannt; es sind auch Zweifel geaussert
worden, ob sie tiberhaupt ein pathologisches Product darstellen (wenn
man die weiter unten zu erwahnenden Tafeln von Schaffer durch-
sieht, ist die Aehnlichkeit der Querschnitte hypertrophischer Fasem
mit denjenigen von Verdichtungsstellen auffallend), oder nur der
Ausdruck der durch die gesteigerte Inanspruchnahme der noch
functionsfahigen Fasem zu Stande gekommenen Activitatshyper-
trophie sind. Erb hat diese letztere Anschauung abgelehnt: erstens
mit Rticksicht auf das vereinzelte Vorkommen dieser Fasem unter
sonst normalen oder schon ganz atrophischen Fasem, zweitens weil
ein Vorkommen so hochgradiger Verbreiterung und anderer an solchen
Fasem zu beobachtender Veranderungen (wie Kernvermehrung, Spalt-
bildung etc.) bei einfacher Gebrauchshypertrophie unwahrscheinlich
sei, wenngleich, wie er betont, genauere Untersuchungen hieriiber bei
der letzteren Form bis dahin nicht vorlagen. Seither sind nun dies-
bezQgliche, sehr genaue Untersuchungen am Sartorius des Hundes
angestellt worden. Morpurgo constatirte zunachst nach 8—9 wochent-
lichem Laufen im Tretrade an dem bedeutend vergrosserten Muskel
keine Vermehrung der Fasern, wohl aber Vergrosserung derselben,
die jedoch im Mittel nur die Halfte des Durchmessers betrug, wahrend
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Zur Kenutniaa der progressiven Muakelatrophie.
15
bei der Dystrophie der Muskeln eine Zunnahme des Durchmessers um
das Drei- bis Yierfache nicht selten ist, Femer ergaben genaue
Zahlungen der Kerne, dass dieselben bei der Inactivitatshypertrophie
nicht yermehrt sind. Ihr yereinzeltes Auftreten unfcer ganz normalen
Fasem in dem tiberhaupt auch sonst normalen Gucullaris scheint
mir auch f&r die yon £rb genauer begrundete Anschauung zu sprechen,
dass die Hypertrophie der Fasem das erste Stadium des krankhaften
Processes darstelle und der Atrophie vorangehe. Im Allgemeinen
muss man aber sagen, dass die hypertrophischen Fasem in diesem
Falle nicht sehr zahlreich waren, dagegen finden wir auffallend haufig
schmale Fasem (12—20 p) mit noch erhaltener Querstreifung. Einen
zweiten Grad stellen uns Muskeln dar, die bei sonst wohlerhaltener
Querstreifung der Fasem reichliche Keraeinlagerung im interstiliellen
Bindegewebe, sowie auffallende Vermehrung der theils randstan digen,
theils im Centrum gelagerten Muskelkeme erkennen lassen; diese
sind theils in Reihen angeordnet, theils sieht man, wie durch deren
Verschmelzung langgezogene Kerne entstehen. Weiterhin fanden sich
dann Spaltbildungen der Fasem, wie sie von Knoll, Friedreich
und Anderen beschrieben und seither wiederholt beobachtet wurden.
Diese Spaltbildungen waren in meinen Praparaten nicht allzu zahlreich,
wenigstens an Langsschnitten.
Vacuolen haben sich im Ganzen nur in zwei Muskeln gefunden:
dem Zwerchfell und den Halsstreckera. Meist liess sich in denselben
ein Kem und bei tieferer Einstellung noch mehrere solcher erkennen.
Mitunter waren in einer Faser mehrere Vacuolen zu sehen, von un-
regelmassigem Contour. Dort, wo dieselben die Faser in der ganzen
Dicke des Schnittes durchsetzten, hatten sie meist einen kreisformigen
Contour und waren central gelagert. Gelegentlich sah man eine solche
umfangreiche Vacuole nur noch von einem schmalen Saum von Mus-
kelfaser umgeben, und an einer Stelle sah ich in einer solchen Vacuole
ein Septum, so dass es beinahe den Eindruck machte, als ob hier Fett-
zellen in eine Muskelfaser eingelagert waren. An Langsschnitten
durch Muskelfasera in hochgradig veranderten Muskeln sieht man
mehrfache langsgestellte Spalten (s. Tafel I, Fig. 2), in welchen
sich Kerne befinden, wie sie Erb als beginnende Spaltbildungen
abbildet. Stellt man sich durch eine solche Faser einen Querschnitt
gelegt vor, so muss offenbar ein solcher Spaltraum das Bild einer
Vacuole geben. Es erinnern solche Bilder stark an eine von Knoll
und Schultze citirte, sonst aber, wie mir scheint, nicht weiter be-
achtete Mittheilung von Martini, der bei Pseudohypertrophie einen von
ihm als serose Faseratrophie bezeichnete Process beschrieb, wobei im
centralen Theil der Muskelfaser mit einer albuminosen Flttssigkeit ge-
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I. Friedel Pick
fullte Spalten entstiinden, durch deren Erweiterung und Vervielfial-
tigung die Faser aufgezehrt werde. Aus dem Umstande, dass die
Vacuolen sich nur in zwei Muskeln in grosserer Zahl fanden, geht
jedoch hervor, dass die Vacuolenbildung keine so hervorragende Rolle
bei dem dystropbischen Process spielt.
An den nach Marc hi behandelten Praparaten vom Flexor
digitorum communis sublimis liess sich an einzelnen Fasern jene
Schwarzfarbung erkennen, welche als durch Fetttropfchen (s. Tafel
II u. Ill, Fig. 10) bedingt angesehen wird. Das Vorkommen der-
artiger Fetttropfchen in Muskeln bei Dystrophie ist zwar bereits von
Cohnheim, Pepper, Barth und Mtiller, ferner in neuerer Zeit von
Miinzer sowie Oppenheim und Cassirer beschrieben worden, allein
die grosse Mehrzahl der Beobachter konnte einen derartigen Befund
nicht erheben, und vielfach wird das Fehlen fettiger Degeneration als fiir
die Dystrophie charakteristisch hervorgehoben (Erb, S. 190), da man in
ihr den Ausdrupk schwererer Veranderungen der Faser sieht, wie sie
wohl der „degenerativen w , aber nicht der einfachen Atrophie der Muskel-
faser zukommen. Neuere Untersuchungen mahnen aber zur Vorsicht in
der Deutung derartiger Schwarzfarbungen in Muskeln bei Osmiuman-
wendung, indem sie gezeigt haben, dass sich namentlich in den protaplas-
mareichen Muskelfasem sehr zahlreich mattglanzende Komchen finden,
die unter verschiedenen Einfltissen (z. B. destillirtem Wasser) eine
Quellung und Abscheidung einer fettig glanzenden Randschicht erkennen
lassen, so dass Knoll (3, S. 328) sie als ein Gemenge zweier Substanzen
ansieht, deren eine Lecithin, die andere ein Fett oder ein von dem
ersten verschiedenes Lecithin sei. Knoll (2, S. 655) geht von der
Annahme aus, dass die Schwarzung durch Osmium eine specifische
Fettreaction sei, und halt an dieser Anschauung auch gegenliber
Das t re und Mo rat fest, welche die Verfettung bei der Phosphor-
vergiftung und anderen pathologischen Zustanden als durch Vermehrung
des Lecithins bedingt erklaren. Er weist jedoch (3, S. 327) auch darauf hin,
dass das Myelin, welches Gad und Heymans als Lecithin in freiem
Zustande oder in loser chemischer Bindung bezeichnen, durch Osmium
geschwarzt wird. Es ist demnach einestheils die Deutung derartiger
Schwarzfarbung innerhalb der Muskelfasern bei Osmiumeinwirkung als
fettige Degeneration schon im Allgemeinen nicht ganz sichergestellt,
anderentheils lieferte anch die Untersuchung ihrer Vertheilung in dem
vorliegenden Falle Ergebnisse, die eine Auffassung derselben als zum
Processe der Dystrophie gehorig zweifelhaft erscheinen liessen.
Diese schwarzen Komchen waren namlich keineswegs in alien
Fasern desselben Gesichtsfeldes vorhanden, sondern oft nur in ein¬
zelnen, und zwar sowohl auf Quer- als Langsschnitten; insbesondere
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Zur Kenntniss der progressives! Muskelatrophie.
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machte es den Eindruck, als ob sie gerade in hypertrophischen Fasem
am reichlichsten waren. Da der Flexor dig. commun. nicbt gerade zu
den starker entarteten Muskeln gehort und in solchen derartige
Schwarzfarbung fehlte, mochte ich fiber ihre pathologische Dignitat
kein sicheres Urtheil fallen.
In den starker entarteten Muskeln (s. Tafel I, Fig. 2) sieht
man reichliches Fettgewebe, bei dem, namentlich an den Weigertprapa-
raten, immer die reihenfSrmige Anordnung der Fettzellen hervortritt,
in welchen ineist schone Drusen blaulicher Krystalle sicbtbar sind;
dazwischen findet man entweder abgerundete Bruchstttcke von Muskel-
fasern mit zum Theil erhaltener, zum Theil geschwundener Querstreif-
ung und reichlichem Kemgehalt. Auf Langsschnitten siebt man mitunter
die Fasem weithin eingesaumt von beiderseits angereihten Rund-
zellen, die stellenweise zu grosseren Haufen vereinigt sind, und wenn
man dann jene Bilder sieht, wo in langgezogenen, kaum mehr an Mus¬
keln erinnemden Schlauchen Kerne in Reihen und Haufen angeordnet sind
(s. Tafel I, Fig. 3), so wird man zu der Vermuthung geleitet, dass diese
Kerne beim Zugmndegehen der Fasem eine Rolle zu spielen baben,
etwa nach Art der Osteoklasten — eine Analogie, die mit Bezug auf
innerhalb der Vacuolen gelegene Zellen bereits Lewin geaussert hat
(S. 158), der innerhalb dieser Zellen Fragmente der contractilen
Substanz sah und ftir sie deshalb die Bezeichnung Myophagen vor-
schlug. Im Gastrocnemius sieht man hie und da langere Stfickchen
sehr schmaler Fasem mit wohlerhaltener Querstreifung, die der Quere
nach in Bruchstficke zerfallen sind und mehrere Kerne zeigen; ein Ein-
geschlossensein dieser Bruchstttcke in Zellen nach Art der vonS. Mayer
als Sarkolyse bezeichneten Vorgange konnte ich nirgends beobachten.
Als Endstadium des Processes sehen wir dann (Sternocleido-
mastoideus, Gastrocnemius) im Fettgewebe Inseln einer sich diffus farben-
den,homogenen Masse mit nichtsehr zahlreichen,spindelformigen und run-
den Kernen, welche nirgends mehr Muskelstructur zeigt. Das interstitielle
Bindegewebe zeigt,wieoben erwahnt,reichlicheKerneinlagerung;gelegentr
lich finden sich auch breitere Streifen faserigen, welligen Bindegewebes.
Die Gefasse, namentlich die Arterien, zeigten in den starker fettig
entarteten Muskeln bedeutende Wandverdickung. Was die intramuscu-
laren Nerven betrifffc, so waren dieselben meist bis in ihre feinsten
Verzweigungen bei Anwendung der Weigert’schen und Palschen
Methode gut gefarbt Bei der Durchsicht zahlreicher, derartig behan-
delter Praparate ist mir tibrigens aufgefallen, dass dieselben bei, so-
weit es zu beurtheilen ist, ganz gleicher technischer Behandlung be¬
deutende Unterschiede zeigen, indem in manchen Praparaten feinste
Faserchen zwischen den Muskelfasern in grosserer Anzahl gefarbt
Deatsohe Zeitscbr. f. Nervenheilkande. XVII. Bd. 2
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18
I. Friedel Pick
erscheinen, wahrend andere Praparate gar keine zeigen. Es mabnt
dies zur Vorsicht in der Verwerthung negativer Befunde.
In fast alien Praparaten sieht man, umgeben von einer aus mehr-
fachen Lagen faserigen Bindegewebes bestehender Scheide, ein Biindel
vonNervenfasernund neben demselben schmale, deutliche Querstreifung
zeigende Muskelfasern, welcbe bei Weigert-Farbung wie nmsponnen
von markhaltigen Nervenfasern erscheinen (Tafel II u. Ill, Fig. 8 u. 11).
Es sind dies jene merkwftrdigen, von ihren ersten Beschreibern
Kolliker 1 ) als Muskelknospen, von Ktihne als Muskelspindeln
bezeichneten Gebilde, deren Deutung trotz der grossen ihnen bereits
gewidmeten Literatur noch controvers ist. Die Bezeichnung „Muskel-
spindel* 4 ist vorzuziehen, denn der Name „Muskelknospen“ ist von den
pathologischen Anatomen seither ftir junge Muskelfasern gebraucht
worden, wie siebeiRegenerationsprocessennachMuskelverletzungenbeo-
bachtet werden, unddies kanndann zu Verwecbslungen Anlass geben. So
hat Erb solche, nach seiner Meinung den letzterwahnten Muskelknos¬
pen analoge Bildungen in einem seiner Falle (Erb, S. 185, 186 u. 238,
Fig. 7 u. 8) von Dystrophie beschrieben; allein offenbar irregeleitet
durch Erb's Analogisirung mit den Neumann’schen Muskelknospen,
citirt der Englander Batten diese Befunde Erb's in seiner Zusam-
menstellung der Literatur der Muskelspindeln, obwohl sie mit diesen
gar nichts zu thun haben. Auch der Name „neuromusculare Stammchen“,
welchen Roth 1887 vorschlug, ist nicht pragnant genug, um Irrun-
gen vermeiden zu lassen. Was nun die Bedeutung dieser Gebilde
betrifft, gehen die Ansichten der zahlreichen Autoren, die sich mit
ihnen beschaftigt haben, weit auseinander. Die ersten Untersucher
(Weismann, Kolliker, Beale, Ktihne) betrachteten sie als in
Entwicklung begriffene Muskeln, und diese Anschauung ist auch noch
seither von Bremer (1883), Felix (1888), v. Franque (1890), von
Thanhoffer (1892) vertreten worden. Dem gegenuber haben andere
Autoren diese Gebilde als Degenerationsproducte aufgefasst und zwar
entweder als Resultat physiologischer Rtickbildung (Kraske) oder
pathologischer Vorgange. Zu letzterwahnter Anschauung, die jetzt
wohl allgemein aufgegeben ist, gelangten vorwiegend die Untersucher
neuropathologischer Falle, wenn sie in den Muskeln derselben auf
derartige, ja sonst wenig beachtete Gebilde stiessen, und so wurden
sie bei spinaler Kinderlahmung (Eisenlohr), in Muskeln von Phthisikern
1) Um das ohnehin schon ubergrosse Literaturverzeichniss nicht noch mehr
auszudehnen, sind von der Muskelspindelliteratur in dasselbe nur diejenigen Ar-
beiten aufgenommen, die sich mit dem Yerhalten dieser Gebilde bei Dystrophie
beschiiftigen. Bezuglich der anderen sei auf mein zusammenfassendes Referat
iiber diesen Gegenstand imCentralblatt fur pathologische Anatomie 1900 verwiesen.
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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie.
(Frankel), bei yerschiedenen acuten und chronischen Krankheiten
(Millbacher), bei chronischer Myelitis (Babinski) als patbologische
Befunde beschrieben, und Eichhorst hat bei einem Falle von Alko-
holneuritis in ibnen den Ausdruck einer die Nervenbiindel durch Ein-
schnftrung schadigenden Bindegewebswucherung (Neuritis fascians)
gesehen, was jedoch alsbald von Siemerling richtig gestellt wurde.
Dartber, dass es sich nicht um patbologische Producte, sondera um
normale Gebilde handle, ist jetzt wohl kein Zweifel mehr; die Dis¬
cussion fiber ihre Bedeutung hat in letzter Zeit neue Nahrung gefun-
den, seit Kerschner (1888) die Ansicht aufgestellt hat, das die Muskel-
spindeln sensorischer Natur seien, und zwar als Organe des sogenann-
ten Muskelsinns, indem sie die Innervationsempfindungen vermitteln.
Diese Anschauung Kerschner's ist seither zunachst von histologischer
Seite theils acceptirt(Christomanos und Strossner, v. Ebner), theils
bestritten worden (Felix, Kolliker, v. Franque), hat dann aber
auch die Aufmerksamkeit der Neurologen auf diese Gebilde gelenkt
und so zu theils anatomischen, theils experimentellen Untersuchungen,
namentlich englischer und italienischer Autoren, gefhhrt. Zunachst hat
Pilliet (p. 314) die Muskelspindeln bei derUntersuchung pathologischer
Muskeln (alkoholische Paraplegic, chronischer Rheumatismus und amyotro-
phische Lateralsklerose) gefunden und mit Rticksicht auf ihre Aehnlich-
keit mit den Pacini’schen Korperchen als sensible Nervenendi-
gungen der Muskeln gedeutet, offenbar ohne Kenntniss der Kersch-
ner’schen Ausftihrungen, auf deren Prioritat Blocq und Mari-
nesco alsbald hinwiesen (p. 398). Cattaneo (p.346) wies auf manche
Analogien zwischen den Muskelspindeln und den von Golgi beschrie-
benen Sehnenspindeln hin, welch* letztere er nach Durchschneidung
sowohl der vorderen als der hinteren Wurzeln beim Hunde normal,
nach Durchschneidung des Ischiadicus aber bald verandert fand.
Trinchese betont, dass die Anschauung, wonach die Muskelspindeln
Entwicklungsstadien der Muskelfasem darstellen, bislang keineswegs
bewiesen sei; Ruffini erklarte sie als nervose Organe mit einer be-
sonderen sensibeln Function, worauf Kerschner seine Prioritats-
ansprttche geltend machte. Laura Forster (bei Langhans) kam auf
Grund der Untersuchung eines Falles von 1 Jahr alter puerperaler
Transversalmyelitis mit Degeneration der vorderen bei intacten hin¬
teren Wurzeln zu dem Schlusse, dass dieNerven der Muskelspindeln die
Axencylinderfortsatze von Ganglienzellen seien, welche ausserhalb
des Rlickenmarks liegen (Spinal- oder periphere Ganglien) und
die Muskelfasem derselben ihre trophischen Centren nicht im
Rfickenmark haben. 0 nan off erhielt nach Durchschneidung der
vorderen Wurzeln Degeneration einer geringen, nach Exstirpation der
2 *
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I. Friedel Pick
Spinalganglien der Mehrzahl der Nervenfasern der Spindeln. Bei
hochgradiger Atrophie des tibrigen Markgewebes (amyotrophische
Lateralsklerose, Syringomyelie) enthalten die Muskelspindeln eine
grosse Zahl intacter Nervenfasern, dagegen verfallen die Muskelfasern
derselben bei dieaen Affectionen sowie nach Durchschneidung der vorde-
renWurzeln der Atrophie; siestehen also unterdem trophischen Einfluss
der Vorderhorner, ihre Nervenfasern sind aber sensibeL Dagegen fand
Sherrington, dass die Nerven der Muskelspindeln auch nach herbei-
geffihrter Degeneration aller motorischen Fasern normales Verhalten.
zeigen und dem Spinalganglion entstammen. Nach Ischiadicus-
durchschneidung (150 Tage) waren die Nervenfasern der Spindeln
ganz geschwunden, an den Muskelfasern derselben war hingegen
keinerlei Veranderung zu erkennen, sie scheinen also vom Nervenein-
fluss unabhangiger zu sein, als die gewohnlichen Muskelfasern. Eine
Beziehung zwischen dem sympathischen Nervensystem und den
Muskelspindeln besteht nicht. Ebenso verhalten sich die Golgi'schen
Sehnenspindeln. Bei einem Fotus mit hochgradiger Spina bifida,
wo keine einzige vordere Wurzel vorhanden war, fand Sh., wie schon
frfiher 0. v. Leonowa, die Muskelnerven intact. Sh. schliesst seine
interessanten Auseinandersetzungen mit dem Hinweis darauf, dass
der Reiz, ffir welchen diese sensiblen Muskelorgane eingerichtet sind,
mechanischer Natur sei. Eine ahnliche mechanische Vorstellung, bei
der jedoch der im Innern der Spindel enthaltenen Lymphe eine be-
deutende Rolle zugewiesen wird, entwickelten L. Forster und Lang-
hans, sowie Sihler, wahrend Kerschner den Muskelspindeln die
Vermittlung peripherer Innervationsempfindungen zuschreibt, d. h.,
dass ihre sensiblen Fasern durch den Erregungszustand der motori¬
schen Nerven gereizt werden, ohne Intervention eines mechanischen
Momentes, wie es die Muskelcontraction darstellt. In jttngster Zeit
hat Batten in zwei Arbeiten fiber das Verhalten der Muskelspindeln
bei verschiedenen Erkrankungen und nach Durchschneidung des
Brachialplexus und Ischiadicus berichtet. Er sah 24 Stunden nach der
Plexusdurchschneidung bereits Veranderungen an den Nerven und den
in den Muskelfasern gelagerten Zellen der Spindeln auftreten, dagegen
ist an den Muskelfasern auch noch nach 3 Monaten keine deutliche
Atrophie zu constatiren; die Querstreifung sah B. auch noch zu dieser
Zeit, Sherrington sogar 5 Monate nach der Nervendurchschneidung
wohl erhalten. Horsley sah bei Hunden und Katzen nach Ischia-
dicusdurchschneidung eine Schrumpfung der Muskelspindeln ohne
Veranderung der darin enthaltenen Muskelfasern. Was nun das
Verhalten der Muskelspindeln bei pathologischen Processen, insbeson-
dere bei solchen mit Zugrundegehen der Muskelfasern, betrifft, so
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Zur Kenntniss der progressive!* Muskelatrophie.
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liegen hiernber verschiedene Angaben vor. Wie oben erwahnt, fand
Onanoff in total atrophischen Muskeln bei amyotrophischev Lateral-
sklerose und Syringomyelie in den Spindelnerven zahlreiche intacte
Fasem, die Muskelfasem derselben aber atrophisch. Pilliet empfiehlt
gerade sonst atrophische Muskeln (multiple Sklerose, Kinderlahmung,
amyotrophische Lateralsklerose) zum Studium der hierbei wohlerhal-
tenen Maskelspindeln. Dasselbe betonen fttr ihre Falle (Poliomyelitis,
Polyneuritis) Blocq und Marinesco. Batten fand sie bei Kinder¬
lahmung, progressiver Muskelatrophie und wenig vorgeschrittener peri-
pherer Neuritis unverandert, bei Tabes fand er in den sonst normalen
Spindeln Fettdegeneration im Centrum der Muskelfasem, in einem
Falle von ein Jabr alter Verletzung des Brachialplexus mit comple-
tem Verlust der Motilitat und Sensibilitat zeigten die Spindeln
hochgradige Atrophie. Bei Alkoholneuritis fand Siemerling Degene¬
ration der Nervenfasern innerhalb der Spindeln, H. Gudden kornigen
Zerfall der Muskelfasem; Nervenfasern waren in den Spindeln nicht
nachzuweisen (S. 676 und 697).
Ueberblicken wir diepatbologischen Befunde bezliglich der Mukel-
spindeln, so sehen wir, dass dieselben im Allgemeinen mit den ex-
perimentellen Ergebnissen recht gut vibereinstimmen. Bei Erkrankungen
des Rflckenmarks, insbesondere der motorischen Neurone (Poliomyeli¬
tis etc.) wurden sie meist intact gefunden, entsprechend den Ergebnissen
der Durchschneidung vorderer Wurzeln (Sherrington), bei Er¬
krankungen der peripheren Nerven (Alkoholneuritis, Verletzung des
Brachialplexus) fanden sich analog den Durchschneidungsversuchen
(Cattaneo,Sherrington,Batten) Degenerationen der Nerven, weniger
der Muskelfasem. Von diesen letzteren hob Sherrington hervor, dass
sie in trophischer Beziehung vom Nerveneinfluss unabhangig waren,
und ebenso betonen die Untersucher pathologiscber Falle, dass die
Veranderungen an den Muskelfasem der Spindeln anscheinend erst nach
sehr langer Zeit auftreten (Batten S. 176, Onanoff).
Unter diesen Umstanden kommt der Untersuchung der Muskel-
spindeln gerade bei Dystrophie eine erhohte Bedeutung zu, denn
-wenn wir horen, das ihre Muskelfasem auch bei Degeneration ihrer
Nervenfasern entweder normales Aussehen darbieten (nachNervendurch-
schneidung: Sherrington, Batten) oder erst sehr spat entarten, so
st es um so interessanter, zu erfabren, wie sie sich bei einer Affection
verhalten, wo bei intacten Nerven die ttbrigen Muskelfasem zu Grunde
gehen. Die sparlichen diesbeztiglichen Angaben sind widersprechend:
Bei dem in manchen Fallen fast vollstandigen Ersetztwerden der
Muskelfasem durch Fettgewebe treten die scharf umschriebenen
Muskelspindeln besonders deutlich hervor — Batten fand 17 in
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I. Friedel Pick
einem Schnitte — und so wird es erklarlich, dass sie auch hierbei
als pathologischeProducte angesehen wurden (Santesson). L.Forster,
Batten und Spiller haben sie in je einem Falle yon Dystrophie
genauer untersucht und sowohl, was die Nerven als die Muskelfasern
betrifft, normal gefunden. Entgegengesetzt lauten die Angaben von
Grtinbaum: in einem Falle von Pseudohypertrophie erschienen in
dem total lipomatosen Gastrocnemius die Spindeln normal, in anderen
Muskeln war eine Einlagerung von hyalinem Material in die Spindeln
und eineVerringerung derZahl derFasern zu constatiren. Er verwerthet
dies geradezu als Stiitze ftir die primar myopathische Auffassung der Dys¬
trophie, indem er auf die oben erwahnten Versuche von Sherrington
hinweist, wonach bei Degeneration der motorischen Nerven die Spindeln
keine Veranderungen zeigen.
In dem oben erwahnten Falle nun waren die Muskelspindeln
in zahlreichen Praparaten zu sehen, sowohl in normalen Muskeln als
in pathologischen. In den letzteren traten sie entsprechend den
eben erwahnten Angaben der Autoren viel deutlicher hervor, sie sind
meist in den bindegewebigen Spatien zwischen den grosseren Faser-
btindeln gelegen, die Zahl der in ihnen vorhandenen Muskelfasern
schwankte zwischen 4 und 9, die entweder in einem kreisformig von
Bindegewebslamellen umgebenen Raum, theils durch faserige Septa ge-
trennt, in zwei wieder von einer gemeinschaftlichen Scheide umgebenen
Abtheilungen lagen. Gewohnlich sieht man auch noch getrennt von den
auffallend schraalen Muskelfasern ein Nervenstammchen in der Scheide ver-
laufen (s. Taf. II u. Ill, Fig. 11), dann kommt eine Stelle, wo dieses nicht
mehr zu sehen ist, dafiir aber erscheinen die Muskelfasern wie umsponnen
von bei der Weigert’sclien Methode einzelnen schwarzgefarbten Nerven-
fasern (s. Taf. II u. Ill, Fig. 8).
Ein Unterschied zwischen dem Aussehen der Muskelspindeln in
den normalen und atrophischen Muskeln war nicht zu constatiren;
insbesondere sei hervorgehoben, dass auch in dem ganz durch Fett-
gewebe ersetzten Sternocleidomastoideus die Nervenbiindel und Muskel¬
fasern durchaus normal erschienen; die letzteren zeigten ebenso, wie
in den normalen Muskeln, deutliche Querstreifung und dieselben Kaliber-
verhaltnisse. Auch die Zwischensubstanz, in welcher die Muskel- und
Nervenfasern im Innern der Scheide liegen — theils faseriges Binde-
gewebe, theils diffus gefarbte Substanz (Langhans nennt sie Mucin
und fand sie bei Cretinen vermehrt) — zeigte keine Unterschiede,
insbesondere sah ich die Einlagerung der Fasern in solides Bindegewebe,
wie sie Langhans nur bei Cretinen gefunden hat, auch hier wieder-
holt, und scheint mir dieselbe mehr davon abhangig, in welcher Hohe
ihrer Langsausdehnung die Spindel getroffen ist. Es ergiebt sich also
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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie.
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hieraus, tibereinstimmend mit den Angaben von L. Forster, Spiller
und Batten und entgegengesetzt zu denen von Griinbaum, dass
bei selbst totalem Muskelschwund und Lipomatose die Muskelfasem
in den Spindeln wohlerhalten bleiben.
Dieser in den betreffenden Praparaten sebr auffallende Befund
spricht auch dafur, dass diese Fasem tiberhaupt eine Sonderstellung
gegentiber den tlbrigen Muskelfasem einnebmen, und lasst von den
verschiedenen Deutungen der Function der Muskelspindeln wohl die
von Kerschner vertretene, wonach sie sensorische Organe darstellen,
als die plausibelste erscheinen. Denn waren es in Rttckbildung begriffene
Fasem, dann ware ihr Intactbleiben bei jahrelang bestehender Atrophie
der anderen nicbt zu verstehen; dasselbe gilt von der Anschauung,
wonach es sich um Bildungsmaterial neuer Muskelbiindel handle, wo-
bei ich noch erwahnen will, dass in den zahlreichen Praparaten der
verschiedensten Muskeln nirgends auch nur der Anschein eines Ueber-
ganges der Muskelspindeln in ausgebildetere Muskelbiindel zu sehen war.
Hier sei auch erwiihnt, dass Morpurgo bei seinen Untersuchungen tiber
Activitatshypertrophie der Muskeln zu dem Schlusse gelangt, dass die
Muskelspindeln an dem Process der Activitatshypertrophie keinerlei
Antheil haben (pag. 553). Dies Alles lasst die Anschauungen, wo¬
nach es sich um De- oder Regenerationsgebilde handle, als unannehm-
bar erscheinen, und so gelangen wir zu dem Schluss, dass das Intact¬
bleiben der Muskelfasem in den Muskelspindeln bei hocbgradigster
Dystrophie fur die Anschauung spricht, welche dieselben als Organe
sensorischer Natur ansieht, speciell als Vermittler eines Theiles
der als Muskelsinn zusammengefassten Empfindungsqualitaten.
Die peripheren Nerven zeigten, wie oben erwahnt, in der tiber-
wiegenden Mehrzahl durchaus normale Beschaffenheit. Eine Ausnahme
hiervon macht eigentlich nur der Nervus accessorius, auf den ich
spater eingehen will. Vorher sei noch der eigenthiimlichen Ge-
bilde gedacht, die sich im N. axillaris und einem grosseren Nervenaste
im M. triceps fanden. Diese lichten Partien, bestehend aus einem weit-
maschigen Gewebe mit sparlichen Kemen, die concentrisch um eine
eigenthilmliche, sich diffus farbende centrale Masse angeordnet sind,
fanden sich in kleinerer Ausdehnung, jedoch mehrfach im Axillaris
(Taf. II u. Ill, Fig. 7). Die Nervenfasem ihrer Umgebung erschienen
ganz intact, ebenso die in der Umgebung des analogen, etwas grosseren
Gebildes in dem Aste innerhalb des M. triceps. An dieser letzteren Stelle
sieht man zwar nur ein solches Gebilde, dasselbe macht aber den
Eindruck, wie wenn es aus zwei durch eine Scheidewand getrennten
Halfte bestehen wttrde, deren jede Schichtung um ein selbstandiges
Centmm erkennen lasst (Taf. II u. Ill, Fig. 6). Diese centrale Masse
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I. Friedel Pick
macht des Oefteren den Eindruck, als ob es sich um ein Gefasschen
handle, allein nirgends ist ein solcher Befund deutlich. Dagegen
konnte ich an einer Stelle im Centrum des Gebilde im Nervus axil¬
laris den Querschnitt einer Nervenfaser sehen, die sich eine kleine
Strecke weit yerfolgen liess. An Langsschnitten durch den Nerven
konnte man diese Gebilde als spindelformige, der Peripherie anliegende
Complexe eines, ich mochte sagen, myxomatosen Gewebes verfolgen.
Es sind das offenbar diejenigen Gebilde, welche bereits von ver-
schiedenen Beobachtern gelegentlich beschrieben wurden, sowohl bei
Thieren als bei Menschen. In neuerer Zeit wurde die Aufmerksam-
keit auf dieselben dadurch gelenkt, dass Langhans und sein Schuler
Kopp bei der Untersuchung von Menschen und Thieren nach Kropf-
ex8tirpation sie in den peripheren Nerven fanden und in Zusammenhang
mit der Kropfexstirpation und der ihr nachfolgenden Kachexie brach-
ten, wobei Langhans die histologischen Details genauer studirte
und eigenthttmliche siegelringformige Zellen Oder mehrkammerige ohne
Protoplasma innerhalb dieser Gebilde als Blasenzellen beschrieb, die
er als Abkommlinge der platten Endothelien bezeichnete, welche An-
schauung auch Finotti und Preisz vertraten. Schultze hat dann
darauf aufinerksam gemacht, dass Renaut bereits 1881 solche Korper-
chen in Nerven eines Esels fand und seither eine grossere Zahl von
Beobachtern analoge Befunde bei Thieren und Menschen theils unter
normalen, theils unter den verschiedensten pathologischen Verhalt-
nissen gelegentlich erhoben haben. Namentlich Trzebinsky hat es
in seiner von Schultze angeregten Dissertation auf Grund der Unter¬
suchung des Plexus brachialis von 65 Leichen sehr wahrscheinlich
gemacht, dass wir es hier mit einer auch unter normalen Verhaltnissen
vorkommenden Veranderung ohne besondere pathologische Bedeutung zu
thun haben. Und Schultze meint, dass der von Langhans supponirte
Zusammenhang mit Kropfexstirpation nicht aufrecht zu erhalten sei.
Zu derselben Anschauung gelangten dann auch Weiss, Ott und
Howald, welche unter Langhans* Leitung die peripheren Nerven
von Hunden untersuchten. In neuester Zeit hat dann Finotti bei
Untersuchung der peripheren Nerven eines Falles multipler Neurofi-
brome analoge Befunde erhoben.
Auch sonst wurden diese Gebilde, wenn man die Nerven in
pathologischen Fallen einer genauen Untersuchung unterwarf, des Oefte¬
ren beschrieben, so z. B. von Preisz in seinen Beitragen zur Anatomie
der diphtherischen Lahmung, allerdings, ohne dass die betreffenden Be-
obachter auf ihre ZugehSrigkeit zu den hier besprochenen Gebilden
aufmerksam wurden. So scheinen nach der Beschreibung die vonNonne
in einem Muskelast des N. radialis gefundenen und in Fig. 3 abgebildeten
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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie.
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zwiebelschalenformigen Korper derartige Gebilde zu sein. Bei Dystrophie
wurden diese Korperchen auch schon einmal gefunden und zum
Gegenstand einer eigenen Mittheilung gemacht von Blocq und
Marinesco, die bei der mikroskopischen Untersuchung der peripheren
Nerven solche Gebilde fanden und als „Un Systeme tubulaire special
des nerfs“ mit einer centralen stark gefarbten Masse (wahrscheinlich
veranderter Nervenfaser) bezeichneten, und die Blasenzellen als Effect
einer Faltung der bindegewebigen Nervenscheide, ihre Kerne als
Segmentationsproducte der Axencylinder deuteten. Auch Schultze
hatte seinerzeit in seinem Falle derartige Gebilde gesehen und als
obliterirte Gefasse angesehen. Seither ist er dann auf Grund der
Praparate yon Stadelmann und Trzebinsky von dieser Anschau-
ung zuriickgekommen und hat die centrale Partie ebenfalls als Nerven¬
faser bezeichnet. Fiirstner scheint in einem Falle von Dystrophie
mit Pseudohypertrophie ein analoges Gebilde gesehen zu haben. Er
lasst die Entscheidung offen, ob ein Pacini’sches Korperchen oder eine
besonders hochgradig veranderte Muskelknospe zweiter Kategorie
vorliege. Bezliglich der centralen Gebilde denkt er an Muskelreste.
In der centralen Partie konnte ich, wie oben erwahnt, an einer Stelle
ebenfalls ein Gebilde constatiren, welches ganz den Eindruck einer Nerven¬
faser machte und sich eine kurzeStrecke weit verfolgen liess. Renaut
glaubte diesen Gebilden die Function eines Schutzes des Nerven gegen
aussere Eindriicke zuschreiben zu mlissen; dies konnte man flir die
grossen Nervenstamme, soweit sie blossliegen, ja noch gelten lassen,
wenngleich die Anordnung im Inneren des Nervenblindels, wie ich sie
gelegentlich sah, nicht sehr daffor spricht Ftir die ganz vom Muskel
umgebenen Aeste, wie in unserem Falle im Triceps, ware eine solche
Beziehung nicht zu verstehen. Die von Laughans aufgestellte Be-
ziehung zur Kropfexstirpation ist von ihm selbst (2, S. 176) fallen gelassen
worden. Auch die von Rakhmaninoff aufgestellte Anschauung, dass
es sich um eine Wucherung gewissermassen ex vacuo in Folge von
Atrophie der Nervenfasern handle, ist, wie schon Blocq und Mari¬
nesco bemerken, kaum acceptabl, da sich diese Gebilde in sonst
ganz normalen Nerven linden, und ich glaube, man wird den eben
genannten Autoren Recht geben, wenn sie meinen, dass der Zweck
dieser Gebilde noch aufzuklaren sei, jedenfalls scheint ihnen keine be-
sondere pathologische Dignitat zuzukommen.
Was nun den Befund am N.accessorius betrifft, so ist derselbe so
auffallend und hochgradig, dass er im ersten Moment eigentlich befremdet.
Die Degeneration am Querschnitt ist eine circumscripte (s. Fig. 5)
und, wie die weitere Verfolgung der Schnitte zeigt, entspricht die degene-
rirte Partie zwei fast total degenerirten Aestchen des Nerven (s. Fig. 4).
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I. Friedel Pick
Es fragt sich nun, wie haben wir diese Degeneration zu erklaren.
Da in unserem Falle der Cucullaris gut erbalten und auch die
Kehlkopffunction normal war, der Sternocleidomastoideus dagegen
atrophisch ist, wird man dies wohl nur so deuten konnen, dass der degene-
rirte Ast gerade dem Sternocleidomastoideus entspreche; der Befund
von intacten Nervenfasern innerhalb dieses Muskels spricbt nicht
absolut dagegen, denn die erhaltenen Nervenfasern lagen alle an
oder in Muskelspindeln, sind also wohl als sensorisch anzusehen,
und Wir wissen ja jetzt durch die Untersuchungen Sternberg's,
dass die sensiblen Fasern ftir den Sternocleidomastoideus aus dem
Cervicalplexus stammen und sich erst knapp vor diesem Muskel
mit den motorischen, welche der Accessorius fiihrt, vereinigen.
Wir werden also nicht fehlgehen, wenn wir die degenerirte Partie
des Accessorius mit dem total geschwundenen Sternocleidomastoideus
in Beziehung bringen, und es fragt sich nur, wie haben wir uns diese
Beziehung zu denken: Ist die Nervenveranderung das Primare
und derMuskelschwund dasSecundare oder umgekebrt? Gegen
die erstgenannte Anschauung spricht erstens der Umstand, dass eine Ur-
sache ftir die Nervenerkrankung nicht aufzufinden ist, die Untersuchung
der Accessoriuskerngegend an Serienschnitten liess keinerlei Verande-
rung constatiren, und zweitens, wenn hier die Nervenlasion das Primare
und der Muskelschwund das Secundare ware, dann ware es nicht zu
verstehen, wie in den zahlreichen anderen Nerven, so namentlich der
Extremitaten, deren zugehorige Muskeln ja auch recht hochgradige
Veranderungen zeigten, nirgends ein derartiger Befund erhohen werden
konnte. So werden wir zu der Annahme gedrangt, dass der Muskel¬
schwund hier als das Primare anzusehen sei und die Veranderung
des Nerven als secundar, d. h. als eine Atrophie des Nerven
durch Schwund des Muskels, ahnlich wie sie nach Amputationen
wiederholt beobacht wurde. Allerdings ist hierbei meist nur ein
diffuser Faserausfall uud nicht ein so circumscripter und fast totaler,
wie in den vorliegenden Nerven beschrieben worden (s. z. B. Grigo¬
ri ew); allein es ist zu bedenken, dass es sich bei der Amputation
immerum gemischte Nerven handelt, wahrendwir es hier mit einem rein
motorischen zu thun haben. Es ware nun natiirlich sehr wiinschens-
werth gewesen, liber den Zustand der Zellen des Accessoriuskems
Genaueres zu erfahren; leider war bei der Section (1894) die Oblon¬
gata und das obere Halsmark in Miiller’sche Fliissigkeit eingelegt
worden, so dass eine Untersuchung der Zellen nach Nissl nicht mehr
moglich war. An den nach Weigert und van Gieson gefarbten
Serienschnitten aber war eine Veranderung nicht zu constatiren,
die austretenden Accessoriusbiindel zeigten wohl hier und da helle
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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie.
27
Stellen, woselbst sich keine Markscheiden nachweisen liessen, allein
beztiglich der Zellen der Kerngebiete liess sicb mit diesen Methoden
gar nichts irgendwie als pathologiscb Anzusehendes erbeben; jedenfalls ist
eine nennenswerthe Atrophie der Zellen im Accessoriusgebiete ebenso-
wenig, wie in den grauen Vorderhornern oder den’Kernen der Oblon¬
gata, vorhanden. Uebrigens sei bier nebenbei erwahnt, dass nacb den
Untersuchungen Grigoriew’s die Zellveranderungen erst 4 Jahre
nach der Ampatation nachzuweisen sind; so lange Zeit war aber in
unserem Falle nacb der Anamnese gewiss seit Eintritt des vollstandigen
Scbwundes des Sternocleidomastoidens noch nicht vergangen.
Es erscbeint also die Auffassung des Faserausfalls im Accessorius
als Atrophie secundar in Folge des totalen Schwundes des
Musk els ganz plausibeL Eine analoge Auffassung finden wir auch scbon
mebrfach beztiglich jener Falle vertreten, die klinisch zur Dys¬
trophic gerechnet werden mfissen, und dabei doch mehr wenig
hochgradige Veranderungen an den grauen Vordersaulen zeigten,
z. B. beztiglich der Falle von Heubner, Schultze und Erb,
Kahler, Singer, Frohmaier, und des neuesten Falles von
Strtimpell. Jedenfalls aber wird dieser Befund keineswegs davon
abhalten, den mitgetheilten Fall unter die Dystrophie zu rechnen,
was ja auch beztiglich der eben erwahnten Falle, trotz der Verande¬
rungen an den Vorderhornern, von Erb und Strumpell geschehen ist.
Sind wir demnach zu dem Resultate gelangt, dass es sich in dem
vorliegenden Falle um eine Dystrophie handle, und besehen wir uns
von diesem Standpunkte aus einmal das klinische Bild, so zeigen
sich verschiedene bemerkenswerthe Momente. Zunachst enthalt die
Anamnese Angaben, die in dieser Beziehung auffallend sind.
Da haben wir vor Allem die von dem Patienten immer wieder und
bei zweimaligem Spitalaufenthalt wiederholte Angabe von dem Beginn
im 50. Lebensjahr. Und doch haben wir eigentlich kein Recht,
an dieser anamnestischen Angabe allzu viel zu zweifeln, da, wenn das
Leiden schon friiher bestanden hatte, dem Patienten, der nach seinen
Angaben stets schwere Arbeiten zu verrichten hatte, dieselben schon
frtiher erschwert worden waren, wodurch er in arztliche Behandlung
gef&hrt worden ware, was bis dahin aber nicht der Fall war.
Ein Auftreten der Dystrophie nach dem 40. Lebensjahr ist bisher,
soweit ich die Literatur tiberblicke, nur von Landouzy-Dejerine
(Observation 4:40. Jahr) Erb (S. 82, 89: 45. u. 49. Jahr) und in jtingster
Zeit von Linsmayer (67. Jahr) beschrieben worden. Es ist also dieser
Fall ein weiterer Beweis dafttr, dass ein Beginn in so spatem Lebens-
alter als differentialdiagnostisches Moment zwischen spinaler Amyo-
trophie und Dystrophie, keine strenge Geltung besitzt. Ferner ist auch
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I. Friedel Pick
die Vertheilung der Atrophie nicht die gewohnliche. Auffallig sind
erstens die Angaben fiber den Beginn an den unteren Extremitaten, di
starke Atrophie der Musculatur des Thenars und Antithenars, dann
das relative Freibleiben des Cucullaris bei so starkem Ergriffensein der
Stemocleidomastoidei. Was den ersten Punkt, den Beginn an den
unteren Extremitaten, betrifft, so bildet allerdings bei der juvenilen
Form, und dieser steht ja unser Fall am nachsten, der Beginn an den
oberen Extremitaten die Regel, und wenn schon frtihzeitig Schwache in den
unteren Extremitaten vorhanden war, so liess sich meist Hypertrophic der
Unterschenkelmusculatur constatiren (Beobachtung von Charcot [Mari e
und Guinon], Hoffmann, Oppenheimer, Erb [Nr. 5und24]). Allein
wir mfissen bedenken, dass, wenn subjectiv dieErscheinungen zuerst an den
unteren Extremitaten bemerkt werden, deswegen doch schon auch Atro¬
phie an den oberen vorhanden sein kann, ohne dass sie der Patient beson-
ders bemerkt, wie ich dies auch in einem weiter unten zu erwahnenden
Falle (IV) beobachtete. Was die starke Betheiligung der kleinen
Handmuskeln betrifft, so hat ihr Freibleiben bei der Dystrophie im
Gegensatz zu dem Atrophiren im Beginn bei den spinalen Amyotrophien
wohl lange Zeit als fiegel gegolten, in neuerer Zeit jedoch auch schon
einige Einschrankungen erfahren, indem ein starkeres Ergriffensein dieser
Muskeln bereits in frfiheren Stadien der Dystrophie beobachtet wurde.
So sehen wir eine Erkrankung der Handmusculatur gleich im Beginne
in einem der Falle von Landouzy und Dejerine (Observation H),
dann in dem Fall von Schultze und in dem jtingsten Fall von
Strtimpell soil ebenso, wie in dem von Landouzy und Dejerine,
die Fingermusculatur fiberhaupt die erst erkrankte gewesen sein.
Einen weiteren, von der gewohnlichen Vertheilung bei der Dystrophie
abweichenden Befund zeigt uns die so hochgradige Atrophie der
Stemocleidomastoidei bei relativ intacten Cucullares. Ge-
wohnlich ist das Verhaltniss umgekehrt, indem bei hochgradig atro-
phischem Cucullaris die Kopfnicker erhalten sind. Dieser Procentsatz
stellt sich derart, dass sich in der grossen Monographic Erb's unter
83 Beobachtungen 63 mal Atrophie des Cucullaris erwahnt findet, wozu
wahrscheinlich noch manche von den 20 Falle zuzurechnen waren, bei
welch en es kurzweg heisst: typische Localisation. Demgegentiber findet
sich in sechs Fallen besonders hervorgehoben, dass der Sternoclei-
domastoideus normal war und nur in zwei Fallen (Beobachtung von
Erb Nr. 4: Stemocleidomastoidei atrophisch in geringem Grade, Cucul¬
lares fast ganz geschwunden, dann Nr. 72 von Lenoir und Besan^on)
ist Atrophie und in einem Falle (Erb Nr. 2) ist Hypervolumen dieser
Muskeln erwahnt. Ausserdem fand ich noch Atrophie der Sternoclei-
domastoidei erwahnt bei Landouzy u. Dejerine (Seite 977), wo bei
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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie.
29
Fall III die Sternocleidomastoidei als total geschwunden bezeichnet
Sind, wahrend die Beobachtung II beginnende Atrophie des Sterno-
cleidomastoideus erwahnt. Dann ist hier noch ein Fall yon Reinhold
zn nennen, der uberhaupt mit dem vorliegenden in vielen Beziehungen
tibereinstimmt, denn auch in diesem war der Stern ocleidomastoideus
stark atrophisch und die Cucullares bis an das Lebensende relativ gut
erhalten. Ferner bestanden in diesem Falle, analog der Spracbstorung
in dem unsrigen, Atrophien im Gebiete der mimischen Gesichtsmuskeln,
des Pharynx, der Kaumuskeln, so dass der Fall seiner Zeit als un-
gewohnlicher Fall von Bulbarparalyse bereits demonstrirt wurde. Als
die Patientin 14 Jahre spater zu Grunde ging, fand sich das Nerven-
system bis auf eine Degeneration im Recurrens intact, in den Muskeln
dagegen hochgradigste Veranderungen nach Art der Dystrophie. Es
gehort also demnach eine derartige hochgradige Atrophie der Kopf-
nicker bei relativ intacten Cucullares zu den weitaus selteneren Loca-
lisationen der Dystrophie; immerhin zeigen aber mein Fall und die
angeffthrten Literaturbeispiele, dass die so vielfach angenommene Regel
von dem Freibleiben der Kopfnicker ebenfalls Ausnahmen erleiden
kann. Eine Prilfung der Falle, in denen die Umkehr des gewohnlichen
Verhaltens vorkommt, auf irgend welche gemeinsamen Momente giebt
kein brauchbares Resultat. Denn die bei Erb mitgetheilten zwei
Falle sind typische juvenile Formen im dritten Lebensdecennium, und
nur der Fall von Reinhold und der von mir mitgetheilte unter-
scheiden sich in wesentlicher Beziehung von den typischen Fallen.
Noch seltener scheinen die Halsstrecker zu erkranken; diesbezttglicbe
Angaben habe ich nur in dem neuen Fall von Striimpell gefunden.
Letzterer citirt auch als einschlagig einen Fall von Bernhardt, der
ebenfalls Atrophie der Nackenmusculatur zeigte, wegen ausgesprochen
bulbarer Symptome aber als bereditare spinale Muskelatrophie an-
gesprochen wurde. In diesen Fallen waren die Sternocleidomastoidei
normal und der Kopf sank in Folge dessen nach vorn und konnte
nur mit einer schleudernden Bewegung wieder grade gerichtet werden.
In meinem Fall waren zwar, wie sowohl Palpation als histologische
Untersuchung erwies, die Halsstrecker schwer krank, allein die so
hochgradige Atrophie der Sternocleidomastoidei mit dem Unvermogen,
den Kopf nach vorne zu bringen, war das auffallendere Phanomen. Ver¬
anderungen in der Zunge gehoren wohl auch zu deu Seltenheiten;
klinisch ist Erschwerung der Zungenbewegungen bei Dystrophie nur
erwahnt in den Fallen von Oppenheim und Stern, von anatomischen
diesbezttglichen Funden fand ich nur einen solchen von Berger und
den oben erwahnten von Reinhold. Indessen zeigt die Durch-
sicht der diesbezttglichen Literatur, dass functionell noch gar nicht
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I. Friedel Pick
verdachtige Muskeln mikroskopisch bereits Atrophie und Lipomatose
zeigten, so dass eine solche Veranderung wohl ofter vorkommen mag,
als sie constatirt wird. Allein die Sprachstorung, sowie die Behinde-
rung der Zungenbewegung mit Andeutung von fibrillaren Zuckungen
haben noch in anderer Beziebung ihre Bedeutung. Es schien namlich
bis vor Kurzem eines der deutlichsten Merkmale der Dystrophie zu sein,
dass, wie Erb sagt, niemals das Auftreten des Symptomencomplexes
der Bulbarparalyse gesehen werde. Erst in jiingster Zeit hat Hoff¬
mann eine Beobachtung veroffentlicht betreffend 2 Zwillingsbruder im
Alter von 11 Jahren, die er als bulbarparalytischen Typus der Muskel-
atrophie beschreibt. Dieser klinischen Beobachtung Hoffmann’s
reiht sich nun mein Fall als auch anatomisch sichergestellte Dystrophie
mit bulbarparalytischen Symptomen an; Hoffmann giebt an, unter
Hinweis auf Duchenne's Regeln ftir den infantilen Gesicbtstypus,
dass auch der bulbare Typus congenital sei oder in den ersten Lebens-
jahren sich ausbilde und einen descendirenden Verlauf nehme. Vor-
liegender Fall zeigt, dass die bulbaren Symptome auch bei Dystrophie
in hohem Lebensalter und bei ascendirendem Verlauf hinzutreten konnen.
Wir sehen demnach, dass in unserem Falle eine ganze An-
zahl mei8t klinischer Momente vorhanden ist, die ihn, als Dystrophie
betrachtet, als Ausnahmsfall erscheinen lassen, und da sich die Dia¬
gnose ja hier ganz auf den mikroskopischen Befund mit den so hoch-
gradigen Muskelveranderungen bei intactem Nervensystem stiltzt, schien
es mir wtinschenswerth, denselben wo moglich mit demjenigen ver-
gleichen zu konnen, den typische Falle von Dystrophie darbieten. Und
so habe ich denn die Gelegenheit benutzt, die mir zwei in letzter
Zeit an der Klinik beobachtete Falle boten, um die hierbei durch
Excisionen gewonnenen Praparate zur Vergleichung heranzuziehen.
Die erste von diesen Beobachtungen betraf ein Geschwisterpaar mit
den typischen Veranderungen der pseudohypertrophischen Form der
Dystrophie.
Fall II.
Anton K., aufgenommen am 7. XII. 1896. Der jetzt 21 jahrige Patient
giebt an, seit dem 12. Jahre an Schwache der Beine und nnsicherem Gange
zu leiden. Gleichzeitig Erschwerung des Aufrichtens aus knieender und
hockender Stellung; bei letzterem Emporklettern an Knieen und Oberschenkeln.
Seit 4 Jahren zunehmende Schwache der Arme und Abmagerung bei gleich-
zeitige? Volumszunahme der Beine und Unterarme. Vater und Mutter ganz
gesund, zeigen auch bei der Untersuchung nichts Abnormes. Patient ist
das aiteste von 7 Kindern, von denen noch eins, das 4. Kind, dieselbe Er-
krankung zeigt. Die iibrigen sind alle gesund. Ich hatte Gelegenheit, das
3. Kind, einen 15jahrigen Burschen, zu sehen, dessen Musculatur func-
tionell vollkommen normal ist, wenngleich nur m&ssig entwickelt. Dieselbe
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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie.
31
zeigt keinerlei Storting, nur ist der linke Cucullaris starker als der reclite,
die linke Schulter steht hoher vor als die rechte.
Status des Patienten A. K. Innere Organe und Hirnnerven normal.
Patient sehr kraftig gebaut, vermag die Beine nicht zu heben, sondern
nur mit geringer Kraft in den Knieen zu beugen. Die Streckung der
Kniee dagegen erfolgt kraftig. Die Bewegungen der Fiisse und Hande
ganz frei.
Erheben der Arme unmoglich. Wadenumfang 35 cm, Vorderarme dick
(26 cm), Oberarme sehr mager. Patient kann sich nicht im Bette allein
aufrichten oder aus sitzender Stellung langsam niederlegen; er failt wie ein
Stock nach riick warts. Die Wiilste der Erectores trunci zur Seite der
Wirbelsaule ganz geschwunden. Atrophische Muskeln: Pectoralis major,
Deltoideus, Latissimus dorsi, Supra- und Infra-spinatus, Teres m^jor und
minor, Levator scapulae und Rhomboidei, Triceps, Biceps, Coracobrachialis,
Brachialis internus, Supinator longus, Extensor digitorum communis, Erector
trunci, Quadriceps femoris, Adductores femoris, Biceps, Semitendinosus,
Semimembranosus.
Hypertrophisch sind: Tibialis anticus, Extensor digitorun com. und
hallucis, Triceps surae, Tibialis posticus, Flexor digitorum communis et
halluci8. Die Gesichts-, Hals-, Hand- und Fussmuskeln normal und functions-
tiichtig. Sensibilitat durchaus normal. Triceps- und Extensorenreflex am
Vorderarm so wie Patellarsehnenreflex nicht auszuliteen. Bauch- und Cre-
masterreflex lebhaft. Im weiteren Verlauf vermochte Patient dann sich
etwas besser aufzurichten und, indem er sich die Fiisse mit den Handen aus
dem Bett hob, neben demselben fur kurze Zeit aufzustellen. Eine weitere
Veranderung war nicht zu constatiren. Die elektrische Untersuchung ergab
bedeutende Herabsetzung der Erregbarkeit in den befallenen Muskeln bis
zum vollstandigen Erlbschen, ohne jede qualitative Veranderung.
Am 15. Mai 1899 kommt Pat. wieder zur Klinik. Der objective Be-
fund ist ungeandert, Atrophie und Hypertrophie im Gleichen, ebenso das
Unvermbgen, sich allein aufzurichten oder langsam aus sitzender Stellung
riicklings niederzulegen. Dagegen ist eine bedeutende functionelle Besserung
zu constatiren, indem Pat. langst der Betten, sich an diesen anhaltend, zu
zu gehen vermag unter stark lordotischer Haltung. Er giebt an, dass dies
bei seinem ersten klinischen Aufenthalt nicht moglich gewesen sei. Am
r. Unterschenkel ein torpides Geschwiir.
Fall III.
Anna K., aufgenommen 6. XI. 1896, 13 Jahre alte Schwester des •
vorigen Patienten; seit 4 Jahren zunehmende Schwache in den Beinen.
Patientin zeigt das typische Bild der beginnenden Pseudohypertrophie an
den unteren Extremitaten. Schulter mit Armmusculatur noch durchaus
normal bis auf fliigelfdrmiges Abstehen beider Schulterblatter. Stark wat-
schelnder Gang mit deutlicher Lordose. Typisches Emporklettern an den
Oberschenkeln beim Aufstehen aus sitzender Stellung. Wadenumfang beider-
seits 36 cm. Sensibilitat normal; starke Herabsetzung der Erregbarkeit an
den unteren Extremitaten, keine EaR. Bei der neuerlichen Untersuchung
im Mai 1899 erscheint Pat. bedeutend gewachsen, sie ist jetzt 16 Jahre
alt, seit 1 Jahr normal menstruirt. Am Schultergiirtel zeigt sich deutliche
Atrophie der Musculatur, der Handedruck am Dynamometer betragt 10
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I. Friedel Pick
Fig. 2.
Fig. 3.
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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie.
33
und 8 kg gegen 9 und 7 vor 2V 2 Jahren; die Oberschenkel haben um 1 cm
im Umfang abgenommen, der der Waden ist dagegen um 1 cm grosser
(37 cm). Die Lordose beim Stehen hat bedeutend zugenommen; der grosste
Abstand zwischen einer auf dem Os sacrum errichteten Verticalen und der
vorgewblbten Lendenwirbels&ule betr> jetzt 12 cm gegen 4 im Jahre 1897.
Auch der Gang der Pat. zeigt in Folge dessen eine Aenderung, indem die-
selbe nur noch mit den Zehen und Fussballen, gar nicht mehr mit der Ferse
auftritt, wie dies an nebenstehenden Ichnogrammen deutlich hervortritt. Das
Aufrichten vom Boden, welches 1896 unter typischem Emporklettern an
den Oberschenkeln prompt erfolgte, ist jetzt gar nicht mehr mOglich, Pat.
bringt es garnicht mehr zum Abheben der Arme vom Boden.
Die vorstehende Beachreibung wird wohl gentigen, um beide Fftlle als
typische zu betrachten.
Am 23. L 1897 wurde mit Einwilligung des Patienten dem An¬
ton t unter Schleich’scher Anasthesie ein Stfickchen aus dem linken
Gastrocnemius und Biceps excidiri Glatte Wundheilung. Das Stiick-
chen aus dem Gastrocnemius erwies sich schon makroskopisch als nur
aus Fett bestehencL Die Sttickchen wurden theils in Alkohol, theils in
Mttller eingelegt und nachher mit denselben Methoden wie der erste
Fall behandelt
M. gastrocnemius: Fast reines Fettgewebe, nur stellenweise Bruch-
stiicke von schmalen Muskelfasern mit erhaltener Querstreifung, zahlreiche
Muskelschl&uche. An den sp&rlichen Muskelfasern keine Kemvermehrung.
Bedeutende Breitenunterschiede der Fasern. Geffcsse stark verdickt. An
Weigert-Prftparaten vereinzelte Nervenfasern gef&rbt. In den Marchi-
Pr¶ten innerhalb der der Muskelfasern keine Fetttropfchen nachzuweisen.
M. biceps: Starke Lipomatose ? Gef&ssverdickung und Bindegewebs-
wucherung. Querstreifung nur an einzelnen Stellen der Muskelfasern zu
erkennen, meist nur L&ngsstreifung, keine Kemvermehrung, vereinzelte
hypertrophische Fasern. An Marchi-Prftparaten keine Schwftrzung inner¬
halb der Muskelfasern. An Weigert-Pr¶ten keine intramusculftren
Nerven nachweisbar. v
Die Untersucbung dieser beiden sehr bochgradig erkrankten
Muskeln ergab das Bild einer einfachen Atrophie der Muskelfasern
mit Lipomatose, ganz ahnlich wie in den weit vorgeschrittenen Sta-
dien des ersten Falles. Einen Unterschied bietet eigentlich nur der
Mangel einer starkeren Kemvermehrung in den noch erhaltenen Mus-
kelfasem. Dies in irgend einer Weise zu verwerthen, geht jedoch
kaum an, mit Rticksicht darauf, dass die beiden excidirten Muskeln
bereits einen hohen Grad der Lipomatose darstellen.
Fall IV.
Ende November 1897 kam die damals 27 Jahre alte Josefa St. zur
Klinik mit der Angabe, vor 8 Jahren einen Ausschlag an den Extremitaten
und dem Bumpf mit Freibleiben der Vola manus et pedis gehabt zu haben.
Deutsche Zeitechr. f. Nervenhellkunde. XVII. Bd. 3
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I. Friedel Pick
Es bildeten sich erbsengrosse Blasen, die platzten nnd eine grtinlichgelbe
Fliissigkeit entleerten unter starkem Juckgefuhl; auf Hausmittel soil sich
der Ausschlag in 2—3 Wochen verloren haben. Im Anschluss daran be-
merkte Patientin, dass sie die Fhsse nicht dorsal flectiren konnte, was sie
anf h&ufige Erk<ungen, da sie anch bei kaltem Wetter iinmer mit blossen
Fussen hernmgeht, bezieht. Vor 7 Jahren nach einem Falle Eitemng am
linken Unterschenkel, sonst bis anf zeitweise anftretende Eopfschmerzen stets
gesund. Vor 14 Tagen Verletzung des rechten Sprunggelenkes, welches
seit dieser Zeit schmerzhaft ist, weshalb Patientin jetzt ins Spital kommt
Vater nnd eine Schwester starben an unbekannter Krankheit, Mutter ist
einem Schlaganfall erlegen.
Status. Somatisch nnd an den oberen Extremit&ten nichts Abnormes,
ebenso im Gesicht. An den Fussen beiderseits Equinovarus-Stellnng; die
Waden vielleicht voluminbser, jedoch die Entscheidung, da Patientin anch
sonst kr&ftig gebant ist nnd starken Pannicnlns hat, schwer zu treffen;
Wadennmfang rechts 40, links 42 Centimeter. Typischer Steppergang, mit
schlaff herabhangenden Fnssspitzen; active Beweglichkeit in den Sprung-
gelenken aufgehoben, passive normal. Sensibilit&t dnrchaus normal, Patellar-
reflex fehlend, Banchreflex nnd Reflexe der oberen Extremit&ten lebhaft,
elektrische Reaction der oberen Extremit&ten nnd Gesichtsmaskeln ergeben
normale Zahlen. An der Peronealmnscnlatnr bedentende Herabsetznng,
namentlich fur den galvanischen Strom. Keine EaR. Die Schmerzen in
den Spmnggelenken liessen allm&hlich nach, so dass Patientin am 15. 1.
das Krankenhans verliess. Am 13. in. kam sie wieder, mit der Angabe,
neben der Schw&che in den Beinen anch Schmerzen in den H&nden zu haben,
die ihr ein l&ngeres Gestreckthalten nnmbglich machen. Ein pathologischer
Zustand der H&nde war nicht zn erheben. Die Schmerzen liessen bald
nach, Pat verliess am 1. IV. das Krankenhans. Ein Jahr sp&ter sah ich
sie wieder, nachdem sie wegen einer Unterleibsaffection anf einer anderen
Klinik gelegen hatte. Der Wadennmfang hatte etwas abgenommen (rechts
37,5, links 41 cm). Typische Peroneusl&hmung mit intacter Sensibilit&t
An den oberen Extremit&ten nichts Abnormes zn sehen, jedoch Klagen iiber
Schw&che in den H&nden. Dynamometerdmck rechts 13, links 12 kg. Dann
kam Patientin Anfangs M&rz 1897 abermals znr Klinik, nachdem sie vier
Wochen vorher ein lebendes, gesundes Kind zur Welt gebracht hatte. Die
Peroneusl&hmung im Gleichen, der Wadenumfang noch etwas abgenommen:
rechts 36, links 38,5 cm. Klagen fiber Schw&che in den H&nden, Druck
der rechten Hand 7, links 8 kg (25. m. 1897). Dabei f&llt jetzt auf,
dass die Schulter- nnd Handmnscnlatnr abgemagert ist.
Atrophisch: Deltoidens, vielleicht anch Teres minor, Supra- nnd Infra¬
spinatus, deutlich aber die Interossei intemi et externi beider H&nde,
Adductor nnd Flexor pollicis, Abductor nnd Flexor digit min.; femer Tibialis
anticus, Extensor digitor. comm. long, et brev. et hallucis.
Hypertrophisch: Triceps surae nnd Tibialis posticus. Die Hals-
musculatur, der Pectoralis, Cncnllaris etc. normal. Am Gesicht anffallend
eine gewisse Unbeweglichkeit der Stirn, etwas tieferes Herabh&ngen der
oberen Augenlider. In der Mnscnlatnr des Kinns fortw&hrende Zuckungen,
wie von verhaltenem Lachen oder Weinen. Sensibilit&t normal Bedentende
Herabsetznng der galvanischen Erregbarkeit im Deltoides, Supinator 1.,
den Extensoren nnd Flexoren der Wirbel nnd den kleinen Handmnskeln.
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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie.
35
Vom Nerven aus an der oberen Extremit&t normale Zahlen, bis auf den
Medianus am Vorderarm; an der nnteren Extremitat Peronealgebiet und
Wadenumfang unerregbar bei 30 Milliamp&res. An der Oberschenkel-
mnscolatnr bedentende Herabsetznng der Erregbarkeit.
8. Mai Druck der rechten Hand 5, der linken 6 Kilogramm.
Beim ersten Spitalaufenthalt erschien die Diagnose durchaus zweifel-
haft An den oberen Extremitaten war gar nichts nachzuweisen und
die Wadenumfange erschienen bei der sonst kraftig gebauten Patientin
nicbt bedeutend genug, um eine Hypertrophie mit Sicherheit annehmen
zu lassen. Seither ist durcb das Befallensein der oberen Extremitaten
und der Andeutung einer Facies myopathica die Diagnose einer Dys-
trophie wahrscheinlicher geworden. Zur Sicherstellung derselben wurden
der Patientin am 1. VI. mit ihrem Einverstandniss Sttickchen aus dem
L Deltoides, Gastrocnemius und Extensor digitorum communis pedis in
Chloroformnarkose excidirt und nach den oben beschriebenen Methoden
untersucht.
M. deltoideus: Wohlerhaltene Muskelbiindel mit spftrlicher Vacuolen-
bildung, stellenweise hypertrophische Fasern. Vermehrung des interstitiellen
Bindegewebes und dessen Kerne.
An March i-Prftparaten keine Schwarzf&rbnng innerhalb der Muskel-
fasern. Querstreifang wohlerhalten. An W ei ger t-Prftparaten keine intra-
•muscularen Nerven zu sehen.
M. extensor digitorum comm.: Aeusserst reichliches Fettgewebe,
stark verdickte Gef&sse, stellenweise Inseln von welligem Bindegewebe
mit zahlreichen Kernen. Stellenweise lange Schiauche mit Ueberresten von
Muskelfasem, ohne Querstreifung und zahlreichen Kernen. Intramusculftre
Nerven grbsstentheils wohlerhalten, hbchstens stellenweise weniger Fasern,
als der Breite des Nerven entsprechen wiirde.
M. gastrocnemius: Reichliches Fettgewebe mit stark verdickten
Gefassen, darin Inseln zum Theil hypertrophischer Muskelfasem mit Spalt-
bildung, reichlichen Kernanh&ufungen, die stellenweise die Muskelfasem in
parallelen Reihen beiderseits flankiren; Querstreifung undeutlich. Ein
Theil der Schnitte parallel mit der Sehne gefuhrt. In der Nfthe des An-
satzes derselben zum Theil gut erhaltene Muskelfasem, welche eine
eigenthiimliche Scheidung in hoher liegende, dunklere, glasig homogene
Binder und grossere lichte Partien zeigen, die deutliche Langs- Oder
Querstreifung erkennen lassen (Taf. II u. Ill, Fig. 9). (Weiteres s. unten.)
An Marchi-Praparaten nichts Abnormes; an den Weigert-Prtpa-
raten keine gefarbten Nervenstammchen zu sehen.
Es wird nach dem Mitgetheilten wohl keinem Zweifel unterliegen,
dass auch der vierte Fall eine Dystrophie darstellt. Allerdings ist
auch hier das klinische Bild keineswegs das gewohnliche. Denn wir
sehen mit 19 Jahren das Auftreten von Veranderungen der unteren
Extremitaten, wie sie etwa der Pseudohypertrophie entsprechen, hier-
zu kommen dann Erscheinungen der Atrophie an den oberen Extre¬
mitaten und endlich Andeutung einer Gesichtsbetheiligung. Besonders
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I. Friedel Pick
hervorzuheben ist das relatiy frahe Befallensein der kleinen Hand-
muskeln und die spate Gesichtsbetheiligung. Ferner der Beginn mit
typischem Steppergang zu einer Zeit, wo an dem Schultergiirtel gar
nichts Pathologisches nachzuweisen war. Es stellt der Fall demnach
eine juyenile Form dar mit Gesichtsbetheiligung, beginnend unter dem
Bilde der Pseudohypertrophie, aber erst im 19. Lebensjahre.
Die jahrelange Beobachtung dieser Falle liess auffallende Ver-
laufsverschiedenheiten erkennen. Bei dem jangeren Madchen mit
Pseudohypertrophie war in den zwei Jahren der Pubertatsentwicklung
eine bedeutende Verschlimmerung eingetreten, ebenso war der Verlauf
im erstbeschriebenen Fall ein rascher, viel langsamer ist das Fort-
schreiten der Affection % in dem letzterwahnten Falle juveniler Form,
und der Bruder des Madchens mit Pseudohypertrophie, bei dem der
Process schon bis zur Unbeweglichkeit der Beine und des Rumpfes vor-
geschritten war, liess sogar eine leichte Besserung erkennen, indem
er bei seinem zweiten Spitalsaufenthalt, nachdem das erste Mai Geh-
libungen mit ihm gemacht worden waren, die er zu Hause fortsetzte,
ausserhalb des Bettes stehen und sich langs der Bettreihe, an diese
anhaltend, bewegen konnte. Da der Patient 21 Jahre alt ist, werden wir
wohl nicht ein Zuriickgehen der Krankheit, sondern nur eine Kraftig-
ung der noch nicht veranderten Musculatur bei Stillstehen des Processes
anzunehmen haben. Ein derartiges Stillstehen des dystrophischen Pro¬
cesses fhr langere Zeit ist wohl auch schon sonst gelegentlich be-
schrieben worden (s. z. B. Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkr. 1897.
S. 182), hat aber auch deswegen Interesse, weil es in neuerer Zeit mit
zurErklarungdes Entstehens von Muskeldefecten herangezogenwurde.
Erb, Stintzing, Damsch und Andere haben solche Defepte insbe-
sondere der Brustmuskeln beschrieben, welche die anatomische oder
klinische Untersuchung als nicht congenital entstanden, sondern als
Theilerscheinung einer Dystrophie auffassen liess. Fttrstner hat bei
zwei Geschwistern einen Defect des Quadriceps gefunden, von welchen
der eine Fall Anfange einer Dystrophie zeigte, so dass F. trotz des Be-
ginnes in frUhester Kindheit die Frage, ob congenitale oder dystro-
phische Entstehung, offen lasst. Einen solchen Fall, wo ein, soweit
klinischzubeurtheilenmoglich,totalerQuadricepsdefect mindestens
seit der Kindheit besteht, dabei aber andere, allerdings geringgradige
Zeichen far Dystrophie sprechen und diese letztere als Entstehungs-
ursache auch ftir den Quadricepsdefect annehmen lassen, konnte ich
in letzter Zeit untersuchen.
Fall V.
Alois P., 46 jahr. Diener, seit vier Jahren krank, damals eine schraerz-
hafte Geschwulst am 1. Fuss, sp&ter eine ebensolche im r. Hiiftgelenk,
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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie.
37
seither Schmerzen im Eiicken. Patient soli schon seit friihester Jugend
schlecht gehen, ebensolang besteht die Magerkeit der Oberschenkel. Here-
ditftr nnd familiftr nichts zn erniren.
Status. Innere Organe und Hiranerven normal, rechtsseitige Skoliose.
Die Muscnlatur des Schultergurtels deutlich atrophisch, so namentlich
Mm. deltoideus, rhomboidei, serrat. ant. major, sulpra- nnd infraspinatus,
biceps. Schnltem flugelformig abstehend. In der Muscnlatur der Scapula,
dem Biceps und Triceps fibrill&re Zuckungen. Muscnlatur der Vorderarme
normal. Dynamometer rechts 21, links 18 Kilogramm. Die Oberschenkel
sehr diinn, weich, vom Quadriceps garnichts zu fuhlen, ihr Umfang in der
Mitte und iiber den Condylen 30 cm, der der Waden 36 cm. Auch die
Glutaei und die Adductoren zeigen deutliche Atrophie.
Die Beine kann Patient bei Flachlage nur miihsam bis zu 30 cm
Fersendistanz heben, das gebeugte Knie kann er nicht strecken, dagegen
sind die wohlgeformten Unterschenkel bedeutender Kraftentfaltung f&hig.
Vom Sitzen auf der Erde Aufrichten unter typischem Emporklettem an den
Oberschenkeln. Fibrill&re Zuckungen in der Wadenmusculatur. Patellar-
reflexe nicht auszulosen. Sensibilit&t normal. Die elektrische Untersuchung
ergiebt hochgradige Herabsetzung der farad, und galvan. Erregbarkeit.
Keine EaR.
Wir sehen also in diesem Fall einen fast totalen, in das frtiheste
Lebensalter zurfickdatirten Quadricepsdefect mit Atrophien anderer
Muskeln combinirt, welche zwar noch viel weniger weit vorgeschritten
sind, aber doch die Diagnose einer Dystrophie gestatten. Nun
sind wohl mehrfach Falle von Entwicklung einer Dystrophie im An¬
schluss an vorausgegangene Kinderlahmung (Bisping, Filbry)
publicirt worden, allein in diesen Fallen hatte die erste Affection
immer einen hemiplegischen Charakter, und da anderentheils derartige
Quadricepsatrophien im Verlauf sonst typischer Dystrophie gar nicht
so selten sind, werden wir wohl nicht fehlgehen, wenn wir ffir
unseren Fall eine dystrophische Entstehung annehmen; es handelt
sich hierbei eben um einen sehr chronischen Verlauf mit zeitweiligem
Stillgtand des Processes, wie ihn ja auch Fall,II unserer Beobach-
tung zeigte.
Hier sei auch noch in Khrze auf den eigenthiimlichen Befund
eingegangen, welchen die Langsschnitte der Muskeln des Falles IV
darboten, namlich im Verlaufe der Fasern, namentlich an den Enden
mehr minder zahlreiche quer Oder leicht schrag verlaufende Bander
von eigenthtimlich glanzender homogener Beschaffenheit und
dunklerem Farbenton (s. Taf. II u. Ill, Fig. 9). Die Querstreifung der
Fasern war an den zwischenliegenden normalen Faserpartien deutlich,
an den homogenen Bandera nicht ausgepragt, dagegen liess sich eine
Langsstreifung auch an denselben nachweisen. Versehiebung der Mikro-
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I. Fwedel Pick
meterschraube liess deutlich erkennen, dass die homogenen Partien hoher
gelegen sind, als die dazwischen liegenden helleren, wie ihnen auch dort,
wo sie eine grossere Strecke der Faser einnehmen, am Langsschnitte eine
leichte Ausbauchung des Contours der Fasern entspricht Was nun
die Deutung dieser Bilder betrifft, so geben uns die Lehr- und Hand-
blicher keine gentigende Auskunft
Die homogene Beschaffenheit und der wachsartige Glanz dieser Bander
legen zunachst den Gedanken an die bekannte wachsartige Degene¬
ration nahe, wie sie Zenker bei Typhus beschrieb, und in der That
finden wir ja bei der Beschreibung der histologischen Befunde yon
Muskelatrophien oft genug eine wachsartige Degeneration der Fasern er-
wahnt (Erb, Friedreich), allein dort bezieht sich diese Bezeichnung
auf verschmalerte Fasern oder grossere Bruchstucke atrophischer Fasern,
wiihrend hier die Fasern in Bezug auf Breite und sonstige Beschaffen¬
heit ein normales Aussehen darbieten. Ich habe nun daraufhin
die verschiedenen Abbildungen der Autoren, die sich mit dem mikro-
skopischen Befund der Muskelatrophien beschaftigt haben, durch-
gesehen und da finden sich auch gelegentlich Abbildungen, welche unter
der Bezeichnung einer transversalen Zerkltiftung ahnliche Bilder
darbieten, so z. B. bei Friedreich Taf. Ill, Fig. G, H und Taf. IV,
Fig. B, Singer Taf. VI, Fig. 1 und 4. In der That lehrte auch ein
Vergleich mit den im hiesigen pathologisch-anatomischen Institut
aufbewahrten Praparaten des Singer'schen Falles, deren Durchsicht
ich der Freundlichkeit des Herrn Hofrath Chiari verdanke, dass es
sich bei den letzteren um analoge Veranderungen der Muskelfasern
handelt, wie in dem vorliegenden Falle. Roth giebt in einer um-
fassenden Monographic mehrere detaillirte Bilder, welche unzweifel-
haft analoge Befunde darstellen (Taf. VI, Fig. 3, 5, 6 und 8); wofem
ich den russischen Text richtig verstehe, deutet er die homogenen
Partien als eine glasartige Rinde, entstanden durch Zusammenziehung
der peripheren Schicht der Muskelfasern und Einwirkung des Reagens.
Diese glasartige Rinde erfahrt Einrisse, wodurch normale Structur
zeigende quergestreifte Substanz zu Tage tritt; immerhin scheint er
diese Bilder als pathologische Veranderung anzusehen. Was nun die
erstgenannte Deutung, namlich Zerfall in Querscheiben, betrifft,
so scheint mir gegen dieselbe zu sprechen, dass ein eigentlicher Zerfall
gar nicht zu bemerken ist, es besteht gar keine Continuitatstrennung
der Fasern, sondern zwischen den homogenen, dunkleren Partien sieht man
lichtere, anscheinend normale Muskelsubstanz, so dass die Querbander
im Verlaufe der Faser angereiht liegen wie Knoten in einem Strict
Auch die an und flir sich nicht ganz klare Auffassung einer durch Con¬
traction peripherer Fibrillen und chemische Einwirkung entstandenen
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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie.
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homogenen Binde mit Einrissen ist insofem nicht passend, als die
Querbander und lichten Stellen keineswegs durch Einrisse ent-
standen erscheinen. Auch kann die Muller'sche Fltissigkeit
allein nicht solche Yeranderungen bewirken, da man sie ja
doch dann haufiger sehen miisste. So habe ich z. B. bei dem erst-
beschriebenen Falle, von welchem so zahlreiche Muskeln nach Hartung
in Mtiller’scher Fltissigkeit untersucht wurden, nirgends ein solches
Bild erhoben. Diese letztere Thatsache sowie der Umstand, dass der
Deltoides, von welchem die betreffenden Praparate stammen, ja doch
nur ein wenig vorgeschrittenes Stadium der Atrophie darbot, lassen eher
annehmen, dass es sich tiberhaupt nicht um eine pathologische
Veranderung handle, und ffthren dazu, nachdem die Neuropathologie
diesbezhglich keine Hinweise giebt, in der normalen Muskelhistologie
nach ahnlichen Befunden Dmschau zu halten. Und hier linden wir
in der That in neuerer Zeit unter den Namen Dauercontractionen
(E x n e r), Schrumpfcontractionen (R o 11 e 11), V erdichtungsstellen
(Schaffer) Befunde beschrieben, welche, nach den betreffenden Ab-
bildungen zu schliessen, mit den in Rede stehenden identisch sind.
lnsbesondere Jos. Schaffer*) hat in einer grossen Arbeit, in welcher
er die bekannten Untersuchungen von Knoll liber die protoplasma-
arme und protoplasmareiche Musculatur auch auf den Menschen aus-
dehnt, derartige Yeranderungen der Muskelfiasern genauer untersucht
und erortert. Er beschreibt (S. 36—38 etc.) derartige homogene,
glanzende Strecken mit theils sehr enger, theils nicht sichtbarer
Querstreifung in verschiedenen Muskeln vom Menschen und weist
*) Hier sei bemerkt, dass die Tafeln Schaffer’s uber Schrumpfcontrac¬
tionen auch noch Bilder zeigen, die an verschiedene von Neuropathologen be-
schriebene Befunde erinnern. So zeigt seine Figur 41 auf Taf. V auffallende Aehn-
lichkeit mit dem merkwurdigen Befund Erb’s (Taf. I u. II Fig. 7 a), wo ein
Bflndel abgeschniirter, offenbar in Spaltung begriffener Fasem von einem schmalen
kernhaltigen, roth gefarbten und deutlich quergestreiften Band umzogen ist, wie
wenn das Ganze in einer grosseren Faser lage, aber der Ring schliesst sich nicht
vollstandig (Erb, 1. c. 185). Ebenso erinnern diese Bilder an die von Munzer
(Taf. V, Fig. 9) an Muskelfasem von einem amputirten Fuss und auch an exci-
dirten Muskelstuckchen des Dystrophiekranken Wolf gefundene Erscheinung
einer concentrischen Langsschichtung der peripheren Muskelfibrillen um die
centralen. Schaffer erwahnt, dass Batai 11 on solche Bilder bereits beiAmphi-
bien beschrieb und durch Abreissen der ausseren Fibrillen und Anlegen an die
centralen unversehrten erklare, ahnlich wie dies Munzer fur seine Praparate
annahm. Schaffer (S. 66) polemisirt gegen die Erklarung Bataillon’s und meint,
es handle sich um eine Einschndrungsstelle durch Schrumpfcontraction, um
welche das Sarcolemm vom oberen Faserabschnitt her in Form einer Manschette
zuruckgezogen und in Falten gelegt sei, die eine circulare und radiare Streiftmg
vortauschen konnen.
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I. Friedel Pick
darauf hin, dass die bekannten Helligkeitsunterschiede der Fasem auf
dem Querschnitte von Muskeln auch durch diese Verdichtungsknoten
bedingt sein konnen. Ein Vergleich seiner Abbildungen, z. B. Taf. II,
Fig. 14 b und Taf. Ill, Fig. 20, mit meinen Praparaten zeigt die
Identitat der besprochenen Gebilde. Sch. weist femer darauf hin, dass
Exner das Auftreten dieser Veranderung an frischen Muskelfasern
beobacbtet und auch Knoll (II, S. 651) derartige Veranderungen als
Faserwiilste, entstanden durch die Reaction der gesunden, nicht abge-
storbenen Muskelfasern auf das H&rtungsmittel, erwahnt, sowie dass viele
Beobacbtungen pathologischer Anatomen, welche unter dem Schlag-
wort wachsige Degeneration in der Literatur yorgefunden werden,
hierher gehoren dtirften. Aehnlich hat Pineles bei der Untersuchung
der Kehlkopfmuskeln des Pferdes nach Durchschneidung der Nn.
laryngei solche Querbander beschrieben und abgebildet (Fig. la) und
dieselben als degenerative Veranderungen gedeutet. Es zeigt sich
auch hier wieder, ebenso wie oben in der Geschichte der Muskel-
spindeln und der Renaut'schen Korperchen, wie leicht bei der Unter¬
suchung einer Specialfrage die ungentigende Kenntniss seltener, jedoch
normaler histologischer Verhaltnisse zu Irrungen ftthrt und bei der
heutzutage ja nicht mehr zu umgehenden Arbeitstheilung den Patho-
logen als krankhafte Veranderung ansehen lasst, was dem Histologen
und Physiologen als normal oder Artefact bekannt ist.
Dass es sich also bei den beschriebenen glanzenden Querscheiben
nicht um eine pathologische Veranderung handelt, diirfte nach dem
Vorstehenden klar sein, allein dieselben scheinen auch nicht voll-
standig normale Contractionsvorgange darzustellen. Exner hat
bereits darauf hingewiesen, dass diese Contractionen sich nicht wieder
losen, sondern das Absterben der Fasem begleiten und unter Auspressung
einer wassrigen Fllissigkeit zu Stande kommen, und Rollett hat ihre
Verschiedenheit von den normalerweise entstehenden Contractionswellen
betont und sie mit dem Namen „Schrumpfcontractiouen“ bezeichnek
Es handelt sich also nach diesen Autoren um Veranderungen,
welche zwar nur an noch lebenden Muskelfasern durch den
Einfluss der Reagentien, vorwiegend der Osmiumsaure ent-
stehen, aber schon den Charakter eines Absterbens an sich
tragen. Fur diese Auffassung spricht auch mein Befund, denn ich
sah diese Veranderungen an einem excidirten Muskelstiick, welches
direct von einem lebenden Individuum in die Hartungsfltissigkeit gebracht
worden war, nicht aber bei meinem Sectionsfalle. Uebrigens wird es,
da ja die Contractilitat der Muskelfasern bekanntlich den Tod des
Individuums einige Zeit iiberdauern kann, uns nicht Wunder nehmen,
wenn gelegentlich auch bei nicht zu lange nach dem Tode entnommenem
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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 41
Sectionsmaterial analoge Veranderungen gefunden werden, wie dies in
den oben erwahnten Beobachtungen von Singer und von Roth der
Fall war. In Bezug darauf, dass in den betreffenden Mittheilangen
von Exner, Rollett, Knoll besonders die Hartungsfliissigkeit (Os-
miumsaure) als das Zustandekommen derartiger Veranderungen be-
wirkendes Reagens besprochen wird, sei hervorgehoben, dass in meinem
Falle, wie auch in denen von Singer und Roth, die Hartung in
Mtiller'scher Fltlssigkeit erfolgt war.
Kehren wir nun zu dem eigentlichen Zwecke dieser letzteren
Untersuchungen an excidirten Muskelstfickchen zuriick, namlich einer
Vergleichung des histologischen Bildes mit den Muskelver-
anderungen des erstbeschriebenen Falles, so zeigt sich eine voll-
kommen gentigende Uebereinstimmung der histologischen Befunde, und
es durfte wohl keinem Widerspruch begegnen, denselben als Dys-
trophie anzusprechen. Wohl haben neuere Untersuchungen gelehrt,
dass der mikroskopische Befund an und ftir sich nichts ftir die Dys-
trophie Charakteristisches hat, denn, wie schon eingangs erwahnt wurde,
finden sich sowohl die einzelnen frilher als charakteristisch angesehe-
nen Details, wie Vacuolenbildung, hypertrophische Fasern*) etc., als
auch das Gesammtbild der sogenannten „einfachen“ Atrophie bei un-
zweifelhaft spinalen oder neurotischen Erkrankungen, so wie nach
Durchschneidung der peripheren Nerven. Allein, wenn der histolo-
gische Befund an den Muskeln dem der Dystrophic entspricht, der
des Nervensystems ein so negativer ist, wie in dem vorliegenden Falle,
werden wir zu dem Schlusse gedrangt, dass derselbe als der Dystro-
phie angehorig anzusehen ist.
Unter diesen Umstanden gewinnt derselbe aber eine erhohte
Bedeutung durch die mannigfachen klinischen Abweichungen
vom typischen Bilde der Dystrophic, welche intra vitam
eher eine spin ale Muskelatrophie annehmen liessen. Er zeigt,
dass mehrere der Symptome, die schulgemass als gegen Dystrophie und
fttr spinale Muskelatrophie sprechend angesehen werden (Beginn im
spaten Alter, starkes Befallensein der Handmuskeln, der Sternocleido-
mastoidei etc.), gelegentlich auch bei Dystrophie vorkommen konnen
und so die Dystrophie klinisch eine spinale Form der Muskelatrophie
vortauschen kann. Von diesem Gesichtspunkte aus konnte man ver-
*) Nebenbei sei hier erwahnt, dass Kerschner und auch Schaffer (S. 89)
in Muskeln von Embryonen und jugendlichen Individuen sehr grosse, von ersterem
als Eiesenfasern bezeichnete, Fasern sahen und dass Schaffer (S. 310) in den
Augenmuskeln eines Justificirten und bei Thieren unter sonst normalen Verhalt-
nissen reichliche kernhaltige Vacuolen in den Fasern fand, wie schon friiher
Cramer und Both.
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I. Friedel Pick
sucht sein, diesen Fall im Sinne jener eingangs erwahnten Anschau-
ungen zu verwerthen, durch welche die Lehre yon der primar myo-
pathischen Natur der Dystrophien wieder scliwankend geworden ist
Wohl hat es jederzeit Antoren gegeben, welche auch fttr die
jetzt als Dystrophie zuzammengefassten Krankheitsbilder eine neuro-
pathische Genese annahmen, so speciell fttr die Pseudohypertrophie
Knoll (1872) und Mobi us, ferner im Allgemeinen Liebermeister,
Winkler und van Boon; allein unter dem Eindruck des in der
ftberwiegenden Mehrzahl der Sectionen ganz negativen mikroskopischen
Befundes am Nervensystem hat sich seit den Untersuchungen Fried¬
reich's und Lichtheim's die Lehre von der primar myopathischen
Natur dieser Erkrankungen allgemeine Geltung verschafft und ist die
Differentialdiagnose mit schematischer Scharfe festgelegt worden. In
neuerer Zeit ist auch hier wieder ein Umschwung eingetreten, indem
Erb diese Lehre von der primar myopathischen Natur der Dystrophie als
verfiftht bezeichnet und mehr der Annahme einer neuropathischen Genese
zuneigt, eine Auffassung, welche seither auch Strtlmpell vertreten hat
Da, wie schon erwahnt, neuere Untersuchungen mehrfach gezeigt
haben, dass der histologische Muskelbefund, d. h. die einfache Atrophie
auch bei sicher spinalen Erkrankungen vorkommt, ist das negativeRe-
sultat der mikroskopischen Untersuchung desNervensystems
bei der iiberwiegenden Mehrzahl der Dystrophien der Haupteinwand
gegen eine solche Anschauung. Demgegeniiber betont Erb (S. 239)
erstens „die Unzulanglichkeit unserer heutigen mikroskopischen Unter-
suchungsmethoden, denen schwere, andauemde functionelle Stbrungen
am centralen Nervensystem unzuganglich sind“. Diese Worte sind
zwar vor dem bedeutenden Aufschwung geschrieben, welchen die
Nissl'sche Methode unseren Kenntnissen von dem Bau und den
Veranderungen der Ganglienzellen gebracht hat, allein sie haben auch
jetzt noch Geltung behalten, denn jeder mit einschlagigen Untersuch¬
ungen Beschaftigte wird zugeben, dass wir die feineren Details eigent-
lich nur von den multipolaren Vorderhornzellen kennen, wahrend wir
tiber den Zustand der grossen Mehrzahl der liber den Querschnitt
der grauen Rfickenmarkssubstanz verstreuten Zellen im gegebenen
Falle kaum mit Sicherheit etwas auszusagen im Stand© sind. Daftir
aber, dass Muskelatrophien analoger Art sicher auch durch Erkran-
kung anderer Theile des Centralnervensystems zu Stande kommen
konnen, daf&r sprechen die merkwtirdigen Falle von sogenannter fifth-
zeitiger Muskelatrophie bei der cerebralen Hemiplegie, in welchen die
grossen Vorderhornzellen intact gefunden werden (z. B. Eisenlohr,
Borgherini, Steiner). Nach diesem Hinweis auf die keineswegs
absolute Beweiskraft der negativen anatomischen Befunde ftihrt
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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie.
43
Erb als sonst noch fttr einen Zusammenhang der Dystrophie mit
dem Nervensystem sprechend an: die vorwiegende Localication in wahr-
scheinlich zu einem Innervationscentrum gehorigen Muskelgebieten, das
gleichzeitige Vorkommen sonstiger nervoser Storungen bei Dystro-
phikern, das seither auch neuerdings wieder bestatigte (Hoffmann)
Vorkommen hypertrophischer Fasern oder auch sonst mit dem Befunde
bei Dystrophie ganz identischer Muskelveranderungen bei unzweifel-
haft spinalen Erkrankungen und endlich die nicht mehr so ganz
vereinzelten Falle von typischen Pseudohypertrophien oder sonstigen
Dystrophien mit mehr minder hochgradigen Veranderungen im Rticken-
marke, speciell den grauen Vordersaulen, wobei er die Frage aufwirft,
ob diese letzteren Veranderungen nicht vielleicht secundar waren,
bewirkt durch die langdauernde functionelle Storung der Zelle. Diese
verschiedenen Momente flihren Erb zu der Vermuthung, dass die Dys¬
trophie von einer functionellen Storung der trophischen Centren ab-
hange, also eine Trophoneurose sei, und er wirft dann zum Schlusse
die Frage auf, ob nicht auch eine gewisse Verwandschaft zwischen
der Dystrophie und der Amyotrophia spinalis bestehen und Uebergange
zwischen ihnen vorkommen konnten. Auch Strttmpell gelangt bei der
Besprechung seines oben erwahnten Falles und der einschlagigen
Literatur zu dem Ergebnisse, dass die zwischen „myopathischer“ und
„spinaler w Muskelatrophie gezogene Grenzlinie offenbar wieder schwan-
kend geworden sei, und auf die Schwierigkeiten der Differentialdiagnose
zwischen diesen beiden Formen haben gelegentlich der Mittheilung
klinischer Beobachtungen in jtingster Zeit d'Abundo, Schlesinger
und Bregmann hingewiesen.
Wir sehen also, dass in neuester Zeit von berufenster Seite die
streng schematische Scheidung zwischen primar myopathischer und
spinalerMuskelatrophieaufgegeben und die Ansicht einer neuropathi-
schen Genese auch fbr die erstere discutirt wird. Fiir diese Anschau-
ungen ist es nattirlich vonBedeutung, klinischeUebergangsformen
nachzuweisen, d. h. also einerseits Falle mit dem klinischen Bild der
Dystrophie und deutlichen Veranderungen des Rtickenmarks, anderer-
seits aber auch solche, wo die sonst den neuropathischen Muskelatro-
phien zukommenden Symptome vorhanden sind, die aber durch die
mikroskopischen Veranderungen der Muskeln und den negativen Befund
am Nervensystem als der Dystrophie zugehorig erwiesen werden. Es giebt,
wie bereits erwahnt, eine ganze Anzahl von Fallen der ers ten Art, und ge¬
legentlich ist auch dieselbe Beobachtung von dem einen Autor als
Dystrophie mit secundaren Ruckenmarkveranderungen, von einem
zweiten als spinale Form gedeutet worden (Strtimpell, Hoffmann).
Dagegen sind Falle der zweiten Art, wie es scheint, seltener; soweit
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I. Fbiedel Pick
ich die Literatur (ibersehe, ware hier zunachst der Fall von Rein-
hold zu nennen, der intra vitam als Bulbarparalyse imponirte und
auch als solche seiner Zeit demonstrirt wurde; femer der Fall von
Oppenheim und Cassirer, der unter Anderem auch partielle EaR
zeigte und als neurotische Muskelatrophie aufgefasst wurde; in beiden
Fallen ergab die anatomische Untersuchung des Nervensystems ein
negatives Resultat bei, der Dystrophie entsprechendem, Muskelbefunde,
so dass sie von den Untersuchern als primare Myopathien beschrieben
werden. Diesen beiden Fallen wtirde sich dann mein Fall I anreihen als
einer, bei welchem das klinische Bild zur Diagnose „spinale M Muskel¬
atrophie ftihrte, wahrend ihn die Section als Dystrophie erwies.
In diesem Sinne konnte also der oben beschriebene Fall I in
Beziehung zu der Controverse betr. der Scheidung zwischen primarer
myopathischer und neuropathischer Dystrophie gebracht werden, und
ich mochte diesbezttglich noch auf ein Moment eingehen, namlich auf
die Muskelspindeln, die jetzt besonders, wo ihnen sensorische Func-
tionen zugeschrieben werden, auch von den Neuropathologen ein-
gehenderer Beachtung gewiirdigt werden sollten. Ich fand im Gegensatze
zu Grtinbaum, jedoch iibereinstimmend mit Forster, Batten und
Spiller, dass die in diesen Gebilden enthaltenen Muskelfasem selbst
in den total atrophischen Muskeln wohl erhalten waren und keinen
Unterschied gegenfiber der Norm erkennen liessen.
Nun hat Sherrington nachgewiesen, dass die Nerven dieser Ge-
bilde auch nach Degeneration aller motorischen Nervenfasem im
Gegensatze zu den iibrigen Muskelfasem intact bleiben und dem
Spinalganglion entstammen. Mit Rticksicht hierauf lasst sich also von
der Dytrophie behaupten: es entarten auch bei derselben die mit
den motorischenNerven inBeziehung 1 stehenden Fasern; ande-
rentheils findet sich bei Siemerling die Angabe, dass er bei Phosphor-
vergiftung auch die innerhalb der Spindeln gelegenen Muskelfasem
fettig entartet fand. Man konnte also sagen: bei einer sicher primar
die Musculatur treffenden Noxe, wie es der Phosphor ist, erkranken
diese Fasern wie die ubrigen, bei der Dystrophie aber wie auch bei
der spinalen Muskelatrophie (Pilliet,Blocq undMarinesco,Forster)
bleiben sie intact, wahrend die mit den motorischen Nerven in Be¬
ziehung stehenden Fasern zu Grunde gehen, ein Raisonnement, das f&r
die neuropathische Genese der Dystrophie sprechen wurde. Indessen
sind diese Befunde doch noch zu sparlich und die ganze Natur dieser
Gebilde noch zu wenig gekannt, um weitergehende Schlusse zu erlauben.
Es sei hier aber gestattet, auf einzelne Punkte hinzuweisen, die
in anderem Sinne mit der in Rede stehenden Frage in Beziehung stehen.
Wie oben erwahnt, hat Erb (S. 239) gelegentlich der Besprechung
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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie.
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der neuropathischen Genese der Dystrophie eine von ihm schon
frfiher bezfiglich der multiplen degenerativen Neuritis pracisirte An-
schauung herangezogen, dahingehend, dass die allein sichtbare Ver-
anderung der Muskeln durch eine mikroskopisch unsichtbare Stoning
der trophisehen Centren bewirkt sein konne. Strfimpell (S. 500) hat
diese Moglichkeit vollkommen anerkannt und Thatsachen angeftthrt,
die daffir zu sprechen scheinen, dass eine Verminderung der nutritiven
Zellkernfunctionen sich gewissermassen in den entferntesten Provinzen
(am Ende der peripherischen Nervenfaser) bereits siehtbar bemerklich
macht, wahrend im Centrum selbst der Mangel noch nicht hervortritt
Er erwahnt hierbei die leichteren toxischen Lahmungen, sowie die bei
den primaren Erkrankungen der Pyramidenseitenstrangbahn zu beobach-
tende Abnahme der Degeneration von unten nach oben zu, welch* letzteren
Befund er ja bekanntlich schon frfiher in ahnlichem Sinne deutete.
Yon diesem Gesichtspunkte aus erscheint es zunachst wilnschenswerth,
die motorischen Nervenendigungen in den Muskeln bei Dys¬
trophie zu untersuchen, Diesbeziiglich liegt nur eine Angabe vonMme.
Dr. Sacara-Tulbure aus Babes’ Institut vor, die bei einem, allerdings
in vielfacher Beziehung von dem typischen Bilde der Pseudohypertrophie
abweichenden Falle (s. StrttmpeH's Referat im Neurologischen
Centralblatt 1896. XY. S. 85) bedeutende Veranderungen an den Nerven¬
endigungen constatirte. Sie fand mittelst Vergoldung Schwund der
Geweihe und Faden in den Endplatten und Proliferation ihrer Kerne.
Ich habe die Gelegenheit der beiden oben erwahnten Muskelexcisionen
auch benfitzt, um das hierbei gewonnene frische Material in dieser
Beziehung zu untersuchen. Zur Anwendung geJangten verschiedene
der hierfhr empfohlenen Methoden, namlich Vergoldung nach Ranvier,
Hamatoxylin nach Negro und nach Sihler, sowie Methylenblau
nach S. Mayer, von welchen die von Ranvier und die von Sihler
noch relativ die besten Bilder gaben. Das Resultat mochte ich ein-
fach dahin zusammenfassen, dass keine der angegebenen Methoden
einen sicheren Schluss fiber das normale Verhalten oder pathologische
Veranderungen an den Endplatten gestattet, insbesondere erweist sich
das reichliche Fettgewebe der lipomatosen Muskeln bei der Unter-
suchung als sehr storend. Wir werden wohl noch eine Verbesserung
der Methodik abwarten mfissen, ehe wir fiber den Zustand dieser
Gebilde so Bestimmtes aussagen konnen.
Die oben erwahnte Strfimpell'sche Hypothese schien mir aber
noch von einer anderen Seite aus anatomisch controlirbar. Wenn man
namlich annimmt, dass die Entfernung vom Centrum vonBedeutung
ffir das Sichtbarwerden der Degeneration sei, dann schien es wfinschens-
werth, zu erfahren, ob nicht vielleicht auch bei der Waller’schen
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I. Friedel Pick
Degeneration zeitliche Unterschiede in Bezug auf das Auftreten der-
selben an der Peripherie und nahe dem Centrum zu constatiren waren.
Von einigen Versuchen diesbeziiglich, die ich gerade plante, nahm ich
Abstand, als ich bei der Durchsicht der Muskelspindelliteratur auf dies-
beztigliche Angaben von Batten stiess, der in seiner obenerwahnten
Experimentaluntersuchung fiber die Degeneration der Muskelspindeln
(1898) auch auf diesen Punkt geachtet hat. Auf Grund von Durch-
schneidungsversuchen am Brachialplexus von Hunden gelangte er zu dem
Ergebnisse (S. 400), dass die Degeneration der Markscheide im ganzen
Verlauf gleichzeitig eintritt und die central gelegenen Theile ebenso
bald erkranken, als die peripheren; auch f&r den Axencylinder war eine
solche Differenz nicht zu constatiren. Da sich diese Versuche nur auf
die peripheren Nerven beziehen, erschien es mir von Interesse, mensch-
liche Rtickenmarke mittelst der Marchi’schen Methode daraufhin zu
untersuchen, ob bei cerebralen Hemiplegien Differenzen in der Intensitat
der Degeneration der Py-Bahnen zwischen Hals- und Lendenmark zu
finden sind oder solche Unterschiede sich etwa ergeben beim Vergleich
dieser mit Fallen von tiefsitzenden Querlasionen (Dorsalmark). Auch
hierbei waren keine zeitliclien oder Intensitatsunterschiede nachzuweisen,
und es ergiebt sich aus diesen Untersuchungen, dass ein frtiheres Sicht-
barwerden der Degeneration an den peripheren Partien der Zellauslaufer
nach Continuitatstrennung nicht nachweisbar ist. Hervorgehoben sei
jedoch gleich, dass dieses negative Resultat gegen die oben erwahnte
Hypothese von Erb und Striimpell nicht viel beweist, da die hier¬
bei gesetzte Continuitatstrennung jedenfalls etwas Ander&s ist, als die
supponirte functionelle Lasion (Erb) oder „Verminderung der nutri-
tiven Zellfunction u (Str&mpell).
Unter den Momenten, welche neuerlich zur Erorterung der neuro-
pathischen Genese geffthrt haben, spielen auch eine grosse Rolle jene
nicht mehr so vereinzelten Falle von Dystrophie, bei welchen
die anatomische Untersuchung mehr minder starke Ver-
anderungen des Nervensystems nachweist, indem die vom
myopathischen Standpunkt aus gebotene Auffassung derselben, als
secundar durch den Muskelschwund bedingt, Zweifel erweckte. In
Bezug hierauf erscheint der oben beschriebene Befund eines hoch-
gradigen circumscripten Faserschwundes im Accessorius von
Interesse. Wir haben dort gesehen, wie der vollstandige Schwund
des Sternocleidomastoideus bei relativer Intactheit des Cucullaris dazu
flihrt, die Degeneration im Accessorius auf den ersteren Muskel zu
beziehen, und wenn wir nun noch sehen, dass in den so zahlreichen
tibrigen Nerven, die zur Untersuchung gelangten, nirgends auch nur
eine Spur einer Degeneration nachzuweisen war, wiewohl die von
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Zur Kenutniss der progressive!! Muskelatrophie.
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ihnen versorgten Muskeln mehr minder hochgradige Atrophie und
Lipomatose zeigten, so werden wir, wofern wir iiberhaupt eine Be-
ziehung zwischen diesen Befunden suchen, zu dem Schlusse gedrangt, dass
dieser Faserschwund, diese so auffallende Degeneration im Nervus
accessorius nur als secundare Atrophie aufzufassen ist in Folge
des Schwundes des Muskels; denn sonst ware es nicht zu verstehen, wie
in den Nervenstammen der Extremitaten, deren Musculatur ja auch
hochgradig erkrankt war, nicht einmal Andeutungen einer solchen
Degeneration nachzuweisen sind.
Die Annahme einer solchen secundaren Atrophie in Folge totalen
Muskelschwundes hat ja bei BertLcksichtigung der analogen, nach
Amputationen gefundenen Veranderungen im Nervensystem nichts
Befremdendes, und es ist eigentlich eine auffallende Thatsache, dass
bei den Dystrophien derartige als secundar aufzufassende Veranderungen
der entsprechenden Nervengebiete nicht haufiger zur Beobachtung ge-
langen. Schultze (S. 30), der gelegentlich der Besprechung der in
seinem Falle gefundenen Atrophie der Vorderhomzellen die Frage er-
ortert, warum eine solche nicht ofter bei der Dystrophie zur Beobach-
tung gelange, analog wie nach Amputationen, ausserst die ansprechende
Vermuthung, dass das Erhaltenbleiben der sensiblen und reflectorischen
Reize von den Muskeln, die bei Amputationen ja ebenfalls wegfallen,
die Ursache des Intactbleibens der Ganglienzellen bilde. In unserem
Falle liegt die Erklarung dafor, dass wir diese Degeneration nur im
Accessorius finden, wohl aber darin, dass der Stemocleidomastoideus
total und zwar schon langere Zeit geschwunden war, wahrend die meisten
Extremitatenmuskeln noch nicht so vorgeschrittene Atrophie zeigten.
Dieser Befund einer nicht gut anders als secundar zu deutenden
Atrophie im Nerven ist gewiss von Bedeutung ftir die mehrfach er-
wahnten Falle von Dystrophie mit Veranderungen im Nervensystem.
Acceptirt man aber diese Auffassung, wie das die Mehrzahl der
Autoren (s. z. B. Strumpell S. 488) thut, dann stellt die Annahme
einer neuropathischen Genese der Dystrophie eigentlich einen Circulus
vitiosus dar, denn diese secundaren, sichtbaren Veranderungen des
Nervensystems waren danach Folgen der dystrophischen Muskelerkran-
kung, die ihrerseits abhangt von mikroskopisch unsichtbaren Storungen
der trophischen Centra im Rtickenmark.
Hat nun auch schon an und flir sich jede Annahme eines „tro-
phischen M Einflusses, der tiber Reizzuflihrung und Gefassbeeinflussung
hinausgeht, for uns etwas Mystisches, so hat es andererseits den Anschein,
als ob die landlaufigen Vorstellungen fiber den trophischen Ein-
fluss des Nervensystems auf die Muskeln zu weitgehende
waren; es mehren sich die Zeichen, welche eher for eine Einschrankung
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I. Friedel Pick
dieses Einflusses sprechen. Die Schule sagt: wenn der Muskel nicht
mehr unter dem trophischen Einfluss des Rtickenmarks steht, dann
tritt degenerative Atrophie ein, die Muskelfaser zerfallti Nun haben aber
zahlreiche, auch hier schon erwahnte Untersuchungen gelehrt, dass
bei unzweifelhaft spinalen Erkrankungen (Poliomyelitis u. s.w.
[s. Lewin, Hoffmann S. 317]) der Muskel oft nur das Bild der
einfachen Atrophie zeigt, deren Hauptmerkmal die Verschmalerung
der Fasera ist, und es liegen auch schon experimentelle Untersuchungen
vor, welche dasselbe fur die Nervendurchschneidung erweisen
(s. S. Stier). Es scheint also, dass die directeFolge der Aus-
schaltung des trophischen nervdsen dSinflusses nur die ein-
fache Atrophie ist, und das, was wir als degenerative Atrophie
kennen, immer noch der Ausdruck hinzutretender Complica¬
tion en ist. (Worm diese bestehen, ist vorderhand unbekannt, viel-
leicht handelt es sich hierbei ahnlich, wie dies Strfimpell fur die
fibrillaren Zuckungen entwickelt hat, um das Hinzutreten abnormer
Reizvorgange.) Sobald aber die Ausschaltung des Nerveinflusses nur
die-einfache Atrophie zur Folge hat, dann werden wir sie in ihrem Effecte
nicht als wesentlich von blosser Inactivitat verschieden ansehen konnen,
wie ja auch von manchen Autoren die Atrophie nach Neurektomie als
allein auf Inactivitat beruhend angesehen wurde (s. z. B. Ricker). Der
Einfluss des Nervensystems auf die Muskelfaser wtirde sich demnach —
abgesehen von den Vasomotoren — auf die Reizvermittlung beschranken
und wir werden nicht mehr die Vorstellung festhalten konnen, die in
den Worten Erb's hervortritt: „Die Muskelfasem stehen in ihren tro¬
phischen Verhaltnissen doch wohl in derselben Abhangigkeit vom
Nervensystem, wie die motorischen Nerven. 1 *
Gegen diese letztereV orstellung un d ftir eine solche Modification unserer
Anschauungen scheinen mir auch die merkwiirdigen Befunde zu sprechen,
die in neuerer Zeit in Bezug auf die embryonale Anlage der Nerven
und Muskeln an Missbildungen erhoben werden. 0. v. Leo-
nowa sowie nach ihr Karl und Gustav Petren haben bei der Unter-
suchung von menschlichen Missbildungen mit Amyelie gefunden, dass
trotz vollstandigen Fehlens der Vorderhomzellen und der vorderen Wurzeln
die Muskelfasem eine normale Ausbildung erreicht hatten. Diese Be-
obachtungen zeigen, dass „die Entwicklung der quergestreifben Muskeln,
ihr Wachsen und Gedeihen in fraherer und spaterer Fotalzeit von den
vorderen Wurzeln unabhangig ist u (Leonowa). Mag man den Unter-
schied zwischen dem fotalen und extrauterinen Leben noch so hoch
anschlagen, jedenfalls sprechen auch diese Befunde gegen die Anschau-
ung, dass die Muskelfasem in demselben Abhangigkeitsverhaltniss vom
Nervensystem stehen, wie die motorischen Nerven.
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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 49 *
Auch flir die Controverse fiber dieneuro- Oder myopathische
Genese der Dystrophie bieten diese merkwfirdigen Befunde ein
gewisses Interesse, und zwar aus folgendem Grunde. Zu den her-
vorstechendsten Merkmalen der verschiedenen Formen der Dystrophie
gehort die Hereditat, Familiaritat und das Auftreten in frtihem
Lebensalter, so dass der Schluss nahe gelegt wird, dass es sich
um abnorme Verhaltnisse der Anlage der erkrankten Theile
handele. Die Freunde einer neuropathischen Genese sind ge-
neigt, mit Rficksicht auf die zahlreichen anderen Krankheiten des
Nervensystems auch bei der Dystrophie eine abnorme Veranlagung
des Nervensystems anzunehraen, deren Effect die Muskelveranderung
ware. Allein die eben erwahnten Befunde von Leo now a und die
Petren's zeigen, dass die embryonale Anlage der Muskeln vom
Nervensystem in weitestem Grade unabhangig ist, und so werden
wir wohl auch schliessen dfirfen, dass sich auch Abnormitaten dieser
Anlage unabhangig vom Nervensystem entwickeln konnen. Wir ersehen
aus dem Vorstehenden, wie allmahlich neuere Untersuchungen zu einer
Einschrankung der landlaufigen Vorstellungen fiber den trophischen
Einfluss des Nervensystems auf die Muskeln ffihren, und in-
dem sie ffir die letzteren eine grossere Unabhangigkeit in trophischer
Beziehung erweisen, sprecheq' sie ffir die Annahme einer primar
myopathischen Entstehung der Dystrophie.
Ueber die Pathogenese der hierbei im Muskel sich abspielenden
Veranderungen wissen wir eigentlich recht wenig. Die fruheren An-
schauungen, welche entzttndliche Vorgange annahmen oder Faser-
schwund als Folge von Compression durch eine Bindegewebswucherung
ansahen, sind wohl allgemein verlassen zu Gunsten der Annahme einer
primaren Erkrankung der Muskelfaser; allein wie diese zu Stande
kommt, ist noch ganz unklar. Die Theorien von der Hypertrophie
mit nachfolgender Raumbeschrankung (Hitzig) oder von einem longi-
tudinalen Faserschwund, wie sie Roth entwickelte, haben sich bis
jetzt noch keine Anhanger erworben; ebenso hat das Bestreben, eine
Beziehung zwischen der Dystrophie und der Art der Anlage der Mus-
culatur im Embryo oder dem Gehalte der verschiedenen Muskeln an
truben und hellen Fasern (Gradenigo, Babinski und Onanoff, siehe
Schaffer [S. 75]) durch die Thatsachen noch nicht genugende Unter-
fltfttzung gefunden. Vielleicht haben wir von einer anderen Seite
aus einen Einblick in diese Verhaltnisse zu erhoffen. Verschiedene
Untersuchungen haben ergeben, dass die quergestreifte Musculatur zu
jenen Geweben gehort, in denen fortwahrend Untergang und Neu-
bildung stattfindet (S. Mayer, Barfurth, Schaffer u. A). Insbe-
sondere ffir fruhe Entwicklungsstadien (Kaulquappenschwanz) und das
Deutsche Zeitschr. f. NervenheUkunde. XVII. Bd. 4
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50
1. Friedel Pick
embryonale Leben sind derartige Zerfallsvorgange genauer studirt
worden, und so existirt schon eine ganze Literatur tiber diese von
S. Mayer zuerst als Rtickbildungsvorgange erkannten und nacb ihm
allgemein als Sarkolyse bezeichneten Proeesse. Auch fiir den mensch-
lichen Embryo sind analoge Befunde durch Schaffer (S. 130) er-
hoben worden. Ob derartige Rtickbildungen auch in spateren Stadien
des Lebens vor sich gehen und insbesondere ob sie dann auch den-
selben Typus einhalten oder andere Formen annehmen, darftber ist noch
nichts Sicheres bekannt, und deswegen konnen wir vor der Hand nicht
viel Gewicht darauf legen, dass die Beschreibungen der sarkolytischen
Befunde bei den Embryonen mit ihrem Zerfall der contractilen Sub-
stanz in Bruchstlicke dem Bilde der einfachen Atrophie, wie wir
sie bei Dystrophie finder, keineswegs entsprechen und eher noch
Aehnlichkeit mit den als „ degenerative “ Atrophie bezeichneten Vor-
gangen darbieten. Feststpbend ^cli»»t^dagegen die Thatsache zu sein,
dass im embryo n^^Le Zeit nach der Geburt
normaler Weise ausp^wge RficS^TTdun^wirgange vor sich gehen,
zum Theil Hand inJHan^fnptgil^i^y^ngpli] Wie hochgradig diese
Rfickbildungsvorgang# sein konnen, das zeigtfn die Zahlungsergebnisse
von Meek an verscKi^d^ben TfifSfea (Kara**, Schaf, Ratte); so land er
bei Katzchen desselben A S l^Won 9, 20 und 240 Tagen im
Biceps 83514; 64108; 37830, bei einer 3 Jahre alten Katze sogar nur
22858 Fasern.
Wenn wir sehen, dass in friihen Stadien schon normaler Weise
so hochgradige Rtickbildungsvorgange vor sich gehen, dann drangt
sich der Gedanke auf, ob es sich nicht bei Processen, die meist in
so friibe Stadien des Lebens zurfickreichen, nur um eine abnorme
Steigerung oder Fortdauer solcher Rtickbildungsvorgange
handelt. Und bei einer Erkrankungsform, wie die Dystrophie, die
so haufig auf eine abnorme Keimanlage der Musculatur hinweist,
wird sich dann die Frage erheben, ob diese Storung nicht etwa in
der Richtung anzunehmen ist, dass die normaler Weise nur in den
friihesten Stadien sich abspielenden Rtickbildungsvorgange auch spater-
hin noch fortdauern.
Andererseits wird von vielen Autoren angenommen, dass mit den
Ruckbildungsvorgangen auch immer wieder Neubildung von Fasern
Hand in Hand gehe und, wie oben erwahnt, hat man ja auch den
Muskelspindeln eine besondere Function hierbei zuschreiben wollen.
Sicheres scheint mir hieriiber nicht festzustehen, und die oben er-
wabnten Untersuchungen von Morpurgo, wonach die Yolumszunahme
der Muskeln bei gesteigerter Leistung nicht auf Zunahme der Zahl
der Fasern, sondern nur ihrer Dicke beruhe, scheinen nicht daftir zu
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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie.
51
sprechen; sollte sich aber eine grossere Rolle derartiger Neubildungs-
vorgange erweisen lassen, dann hatte man sich zu fragen, ob der
Muskelschwund bei Dystrophie nicht vielleicht nur anf einer Storung
des Ersatzes der Fasera beruhe, ahnlich wie es Edinger vor Kurzem
far gewisse Nervenkrankheiten erortert hat. Eine solche Deutung
hatte den Vorzug, auch fftr die selteneren Falie von Dystrophie in
spaterem Alter und ohne deutliche Familiaritat anwendbar zu sein.
Eine auch nur halbwegs befriedigende Antwort auf diese Fragen
zu geben, ist bei der vor der Hand noch recht sparlichen Kenntniss
dieser Vorgange beim normalen Menschen nicht thunlich. Wieberechtigt
es aber ist, solche Fragen anzuregen, ura so mehr, als jene Befunde, die
ihren Ausgangspunkt bilden, wie mir scbeint, von den Neuropathologen
bisher viel zu wenig beachtet wurden, das hat erst vor Kurzem
gerade bei der Erorterung seines hier citirten Falles S triimp ell hervor-
gehoben (S. 501).
Jedenfalls scheinen mir meinfe Befunde und die Analyse der ver-
schiedenen noch zu berQcksichtigenden Momente gegen die neuer-
dings, namentlich unter dem Eindruck der Neuronenlehre, von com-
petentester Seite (Erb, Strtimpell) wieder in den Vordergrund ge-
schobene Auffassung der Dystrophie als Trophoneurose zu
sprechen und eher aufzufordern, an der primar myopathischen
Natur derselben festzuhalten.
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56 I. Friedel Pick, Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie.
Erkiarnng der Abbildungen auf Tafel I—III.
Fig. 9 stammt von Fall IV, die ubrigen alle von Fall I.
Fig. 1. Halsstrecker. Uebersichtsbild. (Text S. 12.)
Fig. 2. M. gastrocnemius: in der Faser langsgestellte Spalten mit Kemen sicht-
bar, deren Querschnitt offenbar als Vacuole erscheinen muss. (S. 15.)
Fig. 3, Aus demselben Muskel. (S. 17.)
Fig. 4 u. 5. Nervus accessorius Willisii. Umschriebener Faserausfall, der sich
weiter unten (Fig. 4) auf einen abgehenden Ast erstreckt. (S. 25.)
Fig. 6. Renaut’sches Korperchen in einem Nervenaste des M. triceps. (S. 23.)
Fig. 7. Jlenaut’sche Korperchen im Nervus axillaris. (S. 23.)
Fig. 8. M. pectoralis major. Langsschnitt durch eine Muskelspindel. (S. 22.)
Fig. 9. M. gastrocnemius(Excision von Fall IV). Verdichtungsknoten bei schwacher
und starker Vergrosserung. Marchipraparat. (S. 37.)
Fig. 10. Flexor digg. communis sublimis. Schwarzfarbung in den sonst norraalen
Muskelfasern. Marchipraparat. (S. 16.)
Fig. 11. M. sterno*cleido-ma8toideus. Hochgradige Atrophie und Lipomatose.
Muskelfasern nicht mehr zu erkennen, in ein streifiges Gewebe ver-
wandelt, dagegen die der Muskelspindeln wohl erhalten. (S. 22.)
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II.
Aus der medicinischen Klinik des Herrn Prof. Strumpell in Erlangen,
Untersuclmngen zur normalen und pathologischen
Histologie der quergestreiften Musculator.
Von
L. Hauck.
1. Ueber die KaliberyerMltnisse der normalen Muskelfasern.
Wenn auch in den letzten Jahrzehnten das Gebiet der Histologie
der quergestreiften Musculatur durch die verschiedensten und ein-
gehendsten Untersuchungen bereichert wurde, so findet man doch bisher
einen wichtigen Punkt, namlich die Kaliberverhiiltnisse der
quergestreiften Muskelfasern, etwas stiefmfitterlich behandelt.
Untersuchungen, welche im Laufe des vorigen Jahres an der hiesigen
medicinischen Klinik von W. Lowenthal 1 ) an pathologischen Mus-
keln angestellt wurden, liessen es wfinschenswerth erscheinen, der
Frage noch naher zu treten, welchen Veranderungen und insbesondere
welchen Schwankungen in seiner Faserbreite schon der normale
Muskel unterworfen sei. Die bisherigen Angaben der Autoren fiber
diesen Punkt weichen von einander nicht unbetrachtlich ab. Wahrend
z. B. Toldt, Stohr und Ziegler 15—50 ft als Grenzwerthe angeben,
findet man bei v. Kolliker 11—67 bei Bowman 40—130 [i und
bei Schwalbe und Mayeda sogar 9—102 [i als solche verzeichnet.
Da es nun doch erst dann moglich ist, sich fiber die Werthe in
pathologischen Fallen ein richtiges Urtheil zu bilden, wenn man fiber
diejenigen der normalen genau orientirt ist, so soli die vorliegende
Arbeit zunachst vor Allem dazu dienen, Veranderungen im Dicken-
durchmesser, welchen die normale quergestreifte Muskelfaser unter
verschiedenen Verhaltnissen unterliegt, naher zu untersuchen.
Meine Untersuchungen schliessen sich vor Allem an die Arbeiten
von Schwalbe und Mayeda, sowie an diejenige von Halban an.
Viele Ergebnisse, welche von diesen Autoren gewonnen sind, kann
ich bestatigen. In einigen Punkten bin ich aber auch zu etwas
anderen Ergebnissen gelangt. Jedenfalls hat sich aber vor Allem aufs
Neue der wichtige allgemeine Satz bestatigt, dass die Dickenverhalt-
1) S. diese Zeitschrift. Bd. XIII. S. 106.
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58
II. Hauck
nisse der normalen Muskelfasern von den verschiedensten Verhaltnissen
abhangig sind. Denn abgesehen davon, dass selbst in einem nnd
demselben Muskel Schwankungen des Dicken-Durchmessers bis um
das Ftinffache vorkommen, fin den sich noch viel grossere Schwan¬
kungen in verschiedenen Muskeln desselben Individuums und bei
verschiedenen Individuen ausgepragt. Die Hauptfactoren, die hierbei
in Betracht kommen, sind, wie schon Schwalbe und Mayeda, sowie
Halban nachgewiesen haben, Alter, Geschlecht und Ernahrungs-
zustand des betreffenden Individuums.
Ehe ich die Ergebnisse meiner Untersuchungen mittheile, sei
zuvor in Ktirze die Behandlungsmethode der excidirten Muskelstflck-
chen, welche einem neugebornen, einem 1 ] l 2 -, einem 2 3 / 4 -, einem 4jahrigen
Kinde, sowie endlich einem kraftig entwickelten erwachsenem Manne
entnommen wurden, angegeben.
Die Muskelsttickchen wurden, soweit es moglich war, wahrend
der Todtenstarre excidirt, hierauf zwei Tage in Mtiller-Formol-Losung
und einen Tag in Mliller’scher Fliissigkeit gehartet, dann ] ! 2 Tag
gewassert und in Alkohol von steigender Concentration conservirt.
Das Zupfen der einzelnen Fasern geschah in Glycerin, und zwar
wurden bei sammtlichen Versuchen, um moglichst genaue Durch-
schnittsmaasse zu gewinnen, immer 40—50 Fasern isolirt aus einander
gezupft und dann mittelst Ocularmikrometer mit Zeis sachem Mikro-
skop bei Ocular I und Objectiv E gemessen, so dass ein Theilstrich
= 2,7 [i zu rechnen war.
Es ergaben sich
nun folgende Durchschnittswerthe:
I. Neugeborenes
Kind.
Muse
. deltoideus
= 8 n
ri
pectoralis maior
— 7,6 „
rt
supinator longus
= 7,6 „
w
gemellus surae
= 7,1 „
?>
platysma myoides
= 7,1 „
n
temporalis
- 7,1 „
biceps brachii
= 7,0 „
soleus
= 7,0 „
n
orbicularis
= 7,0 „
11. lt^jahriges
Kind.
Muse.
steruo-hyoideus
= 14,0 [i
sterno-cleido-mast.
= 14,0 n
rectus abdomin.
= 13,2 „
pectoral, major
= 11,6 „
gemellus surae
= 9,7 „
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Untereuch ungen z. nonnalen u. path. Histologie d. quergestreiften Musculatur. 59
III. 2/ 3 4 jahriges Kind.
Mqsc. sterno-cleido-mastoid. = 20,8 ft
„ rectus abdominis = 19,7 „
„ gemellus surae = 18,0 „
„ adductor magnus = 14,0 „
„ stern o-hyoideus = 14,0 „
IV. 4jahriges Kind.
Muse, diaphragma = 23,7
„ adductor magnus = 17,8 „
„ temporalis = 16,4 „
„ orbicularis = 15,9 „
V. Erwachsener Mensch (40 Jahre alt).
Muse, gemellus surae = 61,3 4 w
„ rectus abdominis = 55,7 „
„ sterno-cleido-mast. = 45,7 „
„ intercostalis extern. = 47,5 „
„ biceps brachii = 47,0 „
„ temporalis = 37,8 „
Leider war es mir nicht moglich, zur Vervollstandigung dieser
Messungen auch altere Kinder im Alter von 6—14 Jahren zu erhalten.
Immerhin dfirften die hier angefuhrten Resultate genilgend darthun,
welchen Einfluss auf das Dickenwachsthum der Muskelfaser das Alter
hat Denn wahrend beim Neugeborenen die Durchschnittsmaasse sich
zwischen 7—8 [i bewegen, sind dieselben beim l ] l 2 Jahre alten Kind
bereits auf 9,7—14 (i gestiegen, bei einzelnen Muskeln also fast um
das Doppelte. So kann man, wie aus den angeflihrten Maassen er-
sichtlich ist, ein stetiges Wachsen der Dickendurchmesser der Muskel-
fasern bis zum 4. Lebensjahre constatiren, was die Annahme zulasst,
dass dieses Dickenwachsthum, wenn auch in verschiedenem Maasse, bei
den einzelnen Muskeln anhalt, um beim vollstandig entwickelten und
ausgewachsenen Menschen sein Maximum zu erreichen.
Die von mir gefundenen Resultate decken sich so ziemlich mit
den von Schwalbe und Mayeda, sowie von Halban angegebenen.
Ganz besonders stimmen sie in einem Punkte, namlich in Bezug auf
die Maassverhaltnisse beim Neugeborenen, zusammen. Durch meine
Untersuchungen wird die Angabe der eben erwahnten Autoren be-
statigt, dass, wa'hrend beim erwachsenen Menschen die ver-
schiedenen Muskeln ausserordentlich grosse Verschieden-
heiten in der Grosse ihrer Faserbreite unter einander zeigen,
beim Neugeborenen fast gar kein Unterschied zwischen den
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60
If. Hauck
einzelnen Muskeln nachzuweisen ist. Auch bewegen sich die
angefiihrten Durebschnittsmaasse so ziemlich in denselben Grenzen,
indem Hal ban beim Neugeborenen 7,5—8,1 [i findet, wahrend ich
selbst 7,0—8,0 [i gefunden habe.
Der zweite Gesichtspunkt, dem Schwalbe und Mayeda in ihrer
Arbeit besondere Beachtung schenken, ist der Ernahrungszustand
des jeweiligen Individuums. Derselbe tibt offenbar einen bedeutenden
Einfluss auf das Dickenwachsthum der Muskelfaser aus, denn die von
den genannten Autoren angefiihrten Maasse ergeben zwischen gut und
schlecht genahrten Individuen ganz bedeutende Schwankungen in der
Faserbreite. Auch Kunkel hat durch Frosch-Versuche bereits nach-
gewiesen, dass der jeweilige Ernahrungszustand bei der Entwicklung
der quergestreiften Muskelfasern eine grosse Rolle spielt, und ist da-
bei auch zu dem interessanten Resultat gelangt, dass erhebliche
Aenderungen im Ernahrungszustande bei ganz constanter Lange der
Muskelfasern sich nur in der Dicke derselben vollziehen. Ein typisches
Beispiel fur diesen Einfluss des Ernahrungszustandes auf die Muskel¬
faser zeigen auch die folgenden Messungen, die ich an flinf verschieden
gut genahrten mannlichen Leichen angestellt habe. Vom rechten Muse,
biceps brachii wurde jedesmal ein kleines Stiickchen excidirt, in ganz
gleicher Weise gehartet und dann das Durchschnittsmaass von
ca. 45 Fasern festgestellt. Hierbei ergab sich folgendes Resultat:
I. Bei einem ausserst kraftig gebauten 41jahrigen Monteur (Todes-
ursache acute hamorrhagische Diathese) = 70,2
II. Bei einem kraftig entwickelten 35jabrigen Bauern (Todesursaohe
Peritonitis) = 53,3 fi.
III. Bei einem kraftig entwickelten 40jahrigen Bauern (Todesursache
Hamatom der Dura mater) = 47,0 ft.
IV. Bei einem ziemlich abgemagerten 50jahrigen Handwerker (Todes¬
ursache Carcinoma ventricul.) = 36,7 ft.
V. Bei einem an Marasmus senilis gestorbenen 78jahrigen Greis
= 29,7 ft.
Die grossen Unterschiede fallen in die Augen. Es zeigt sich
zwischen I und II ein Unterschied von 17,4 //, zwischen 11 und III ein
solcher von 7 und zwischen 1H und IV ein solcher von 10,3 fi . Ganz
bedeutend ist der Unterschied von I und V, wo er 41 fi, also iiber
die Halfte des Dickendurchmessers von I betragt. Dieses Resultat
gestaltet sich noch interessanter, wenn man auch die Faserbreiten-
Maxima und -Minima vergleicht. Wahrend ich namlich bei I als
Maximum 102,6 fi und als Minimums 40,5 // fand, ergaben sich ent-
sprechend bei V 43,2 t u und 16,2 //. Es ist also die diinnste Faser
von I nur um 2,7 // kleiner als die starkste bei V.
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Untersuchungen z. normalen u. path. Histologie d. quergestreiften Musculatur. 01
Durch diese wenigen Beispiele diirfte ira Anschluss an die aus-
ftihrlichen Arbeiten von Sch walbe-Mayeda und Halban zur GenQge
dargelegt sein, dass der Breite der quergestreiften Muskelfaser eine
besondere physiologische Bedeutung zukommt und dass Alter und
Ernahrungszustand der einzelnen Individuen auf die Kaliberver-
haltnisse der Fasern von grosstem Einflusse sind.
Es war nun weiter die Frage zu beantworten, ob die Faserbreite
nicht auch nach eingetretenem Tode noch Aenderungen unterworfen
sei. In erster Linie war hier die Tod tens tar re in Betracht zu ziehen,
welche ftir das Muskelgewebe von grosser Bedeutung ist. Bereits von
Oppenheim und Siemerling ist nachgewiesen worden, dass in der
Faserbreite von in vivo und post mortem excidirten Muskelsttickchen
ganz bedeutende Unterschiede bestehen. Ich versuchte daher das Ver-
halten des Muskels in den verschiedenen Stadien der Todtenstarre
etwas naher kennen zu lernen. Ein ganz genaues Resultat wird man
freilich schwer erreichen konnen, denn erstens tritt, wie durch Unter¬
suchungen von Bierfreund festgestellt ist, die Starre nicht gleich-
zeitig bei alien Muskeln ein — ja es bestehen sogar Zeitunterschiede
bei verschiedenen Fasern desselben Muskels — und dann ist es auch
nicht moglich, die Versuche an ein und demselben Muskel zu machen,
da durch den Zutritt von Tuft die Verhaltnisse sofort eine Aenderung
erfahren. Doch diirften die folgenden Angaben, nachdem alle zu be-
obachtenden Gesichtspunkte moglichst beriicksichtigt wurden, wenig-
stens annahernd den thatsachlichen Verhaltnissen entsprechen. Die
Dntersuchung geschah in folgender Weise:
Am 5. Marz Abends 3 / 4 8 starben fast gleichzeitig eine 18jahrige
Prostituirte A. und ein 23jahriger Dienstknecht B., beide an hoch-
gradiger Tuberculose. Beide waren in Folge dessen sehr stark abge-
magert. Sofort nach Eintreten des Exitus letalis wurde beiden ein
Stfickchen des rechtsseitigen Biceps brachii sowie Quadriceps excidirt
und sofort in Miiller-Formol-Losung verbracht. Am 6. III. Morgens
10 h wurde sodann vom linken Quadriceps des B. und am 7. 111. Mit-
tags ll h vom linken Quadriceps der A sowie vom linken Biceps beider
Leichen je ein Sttickchen eingelegt. Die Starre war zu dieser Zeit,
namentlich am Hals, im Erloschen begriffen, im Uebrigen noch vor-
handen. Man kann also die Messungen bezeichnen als „gegen Ende
der Starre* 4 angestellt. Die Behandlung der excidirten Muskelstiicke
war genau dieselbe wie die oben angegebene. Bei der Messung der
Dickendurchmesser ergaben sich folgende Werthe:
A.
Quadriceps vor der Starre = 52,1 //
Biceps brachii „ „ „ = 36,3 „
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62
II. Hauck
Quadriceps gegen Ende der Starre = 30,1 //
Biceps „ ,, ,, „ “ 25,6 r
B.
Quadriceps vor der Starre = 44,3 //
Biceps * * „ = 33,2 „
Quadriceps wahrend „ „ = 27,2 „
Biceps gegen Ende „ „ = 24,5 „
Geht man naher auf die gefundenen Maasse ein, so fallt eine
recht betrachtliche Differenz zwischen den vor und den nach der
Leichenstarre entnommenen Muskeln auf. Der Unterschied betragt
durchschnittlich l j z des direct nach eingetretenem Tode gefundenen
Werthes. Ein Theil dieser Differenz muss freilich vielleicht darauf
zurtickgeflihrt werden, dass Unterschiede in der Faserbreite sich bereits
bei demselben Muskel der rechten und linken Korperhalfte finden, ein
Punkt, auf den besonders Schwalbe und Mayeda in ihrer Arbeit
hingewiesen haben. Aber abgesehen davon bleibt immerhin noch ein
nicht unbedeutender Rest, welcher nur auf die Einwirkung der Todten-
starre zurfickgefuhrt werden kann. Das Resultat war mir recht iiber-
raschend. Denn nach den Feststellungen von Bierfreund ist die
Todtenstarre ein Vorgang, der durch Verktirzung des Muskels, Ab-
scheidung von Myosin und Kohlensaurebildung charakterisirt ist, also
durch Factoren, die genau ebenso bei der Contraction des Muskels in
Kraft treten. Der physikalische und chemische Process bei der Starre
und bei der Contraction ist annahernd derselbe. In Folge dessen
hatte man, da nach Ed. Weber bei der Contraction des Muskels
jede Muskelfaser kiirzer und dicker wird, erwarten sollen, dass die
Faserbreite wahrend der Todtenstarre ein grosseres Durchschnitts-
maass aufzuweisen hatte, als vor Eintritt derselben. Statt dessen
gerade das Gegentheil, eine bedeutende Abnahme des Faser-Volumens!
Es bleibt u. E. nur die Annahme iibrig, dass die Verschmalerung der
Fasern eine Folge der Abscheidung und Gerinnung des Myosins ist,
indem bei diesem Vorgang das Muskel-Serum aus der Faser ausge-
presst wird. Was das mikroskopische Bild anlangt, so zeigte sich
in der Structur des Muskels zwischen den vor und wahrend der Starre
entnommenen Fasern kein deutlicher Unterschied. Langs- und Quer-
streifung waren deutlich ausgepragt.
Es sei nun noch das Resultat eines dritten Versuches beigeftigt,
bei dem es moglicb war, die Muskeln nach vollstandig geldster
Starre zu excidiren. Die betrefFenden Muskelstiickchen wurden einem
am 25. Marz Mittags l h an Apoplexie zu Grunde gegangenen, kraftig
entwickelten 42jahrigem Manne entnommen, und zwar in der Weise,
dass ebenfalls wieder der Biceps brachii und Quadriceps der rechten
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UntersuchuDgen z. normalen u. path. Histologic d. quergestreiften Musculatur. 03
Seite gleich nach Eintritt des Exitus letalis, der linke Biceps am
gleichen Tage Abends l f 2 S h bei vollstandig ausgepragter, der linke
Quadriceps nach wieder geloster Starre am 27. III. Morgens 3 / 4 9 h
excidirt wurden. Als Durchschnittsmaasse fanden sich in diesem Falle
ftir den
Biceps brachii vor der Starre = 66,9 [i
Quadriceps . „ „ „ = 54,0 „
Biceps wahrend „ „ = 45,5 „
Quadriceps nach „ „ = 51,8 „
Wahrend nun beim Biceps die Verhaltnisse annahemd ebenso
gelagert sind, wie in den Fallen A. und B., gestaltet sich dagegen das
Resultat bei dem vor der Starre und nach Losung derselben unter-
suchten Quadriceps ganz anders, indem die Differenz nur 2,2 [i betragt.
Es scheint also sowohl das Eintreten der Todtenstarre als auch das
Erloschen derselben auf das Kaliberverhaltniss der quergestreiften
Muskelfaser einen Einfluss auszutiben. Wahrend der Dauer der Starre
bleibt aber die Faserbreite unverandert Welchem Factor das Wieder-
anwachsen des Dickendurchmessers nach geloster Starre zuzuschreiben
ist, lasst sich nicht sicher sagen. Vielleicht ist das nach Landois in
Folge starkerer Saurebildung wieder geloste Myosin die Ursache, in¬
dem es quellend auf die Faser einwirkt. Mag nun auch eine andere
Erklarung richtig sein, jedenfalls haben schon diese wenigen Versuche
von uns zur Gentige bewiesen, dass bei Bestimmungen der Faserbreite
es von nicht zu unterschatzender Bedeutung ist, ob die Muskeln vor
Eintritt, wahrend, oder nach Losung der Todtenstarre entnommen wurden.
Endlich habe ich noch die Frage zu beantworten gesucht: Wie
verhalt sich die Muskelfaser den Einwirkungen der verschiede-
nen histologischen Behandlungsmethoden gegentiber? Bereits
Lowenthal (a. a. 0.) hat diesen Punkt aufgegriflfen, indem er nach-
wies, dass die Einwirkung von Miiller-Formol-Losung, Zenker'scher
Fltissigkeit und 0,6 proc. Kochsalzlosung auf die Muskelpraparate eine
recht verschiedene sei. Ich selbst habe nun nach den Angaben
Kahlden's achtzehn verschiedene Hartungs- und Conservirungs-
methoden und ihren Einfluss auf die Breite der Muskelfasern untersucht.
Die Entnahme der eingelegten Muskelstflckchen geschah dabei, um
die Versuche moglichst gleichmassig zu gestalten, aus einem einzigen
Muskel, namlich dem Caput longum des rechten Biceps brachii eines
kraftig gebauten 47jahrigen Mannes. Um das Eintrocknen durch Zu-
tritt der Luft moglichst zu verhindern, wurde jedes Stiickchen ftir sich
an der Leiche excidirt und sofort in die bereitgestellte Fltissigkeit
gebracht, wahrend der abpraparirte Hautlappen wieder iiber den Muskel
gezogen wurde.
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64
II. Hauck
Die Todtenstarre war zur Zeit der Entnahme noch yollkommen
ausgepragt.
Es ergab sich folgendes Resultat:
Zenker'sche Losung.= 33,7 fi
Flemming'sche Losung.= 39,1 „
Alkoholhartung. = 40,0 „
Erlickysche Fliissigkeit.= 41,6 „
Arnold'sche Methode.= 45,9 r
Ranvier'sche Methode.= 47,2 „
10 proc. Formolhartung (33 °/ 0 Alkohol).= 47,2 „
Pikrinsaurehartung.= 48,8 „
Sublimathartung.= 48,6 „
0,1 proc. Osmiumsaurehartung.= 51,3 „
Muller’sche Fliissigkeit, aufsteigende Alkoholhartung . . = 51,6 ^
Mtiller-Formol-Losung (Mliller’sche Fliissigkeit mit 10 proc.
Formol-Losung).= 52,1 „
Isolirung in 0,6 proc. Kochsalzlosung.= 55,1 „
Miiller’sche Fliissigkeit concentrirt.= 57,8 „
Miiller’sche Fliissigkeit mit Nachbehandlung in 0,6 proc.
Kochsalzlosung.= 71,6 „
Die in Kalilauge, Chromsaure und 0,01 proc. Osmiumsaure isolirten
Fasern liessen sich derartig schwer zupfen und messen, dass ein ge-
naues Resultat nicht zu erzielen war.
Um dem Ein wan de zu begegnen, dass die Fasern an yerschiede-
nen Muskelstellen schon an sich auch bei gleicher Behandlung ver-
schiedene Breite zeigeu, habe ich ausserdem noch Versuche mit Miiller-
Formol-Hartung angestellt, wobei von vier verscbiedenen Stellen
desselben Muskels Stiickchen excidirt und in genau gleicher Weise
behandelt wurden. Bei je 50 gemessenen Fasern fanden sich als
Durchschnittsmaass folgende Werthe: #
1. Fasern in der Niihe des Sehnenansatzes = 51,3 [i
II. Fasern von der Peripherie des Muskels = 51,6 „
III. Fasern von der Peripherie des Muskels = 52,7 „
VI. Fasern aus dem Centrum des Muskels = 52,7 „
Es finden sich hierbei also nur Differenzen von */ 2 —1V 2 P* we lche
fast selbstverstandlich sind, und es diirfte hierdurch genligend nach-
gewiesen sein, dass die oben verzeichneten ganz bedeutenden Unter-
schiede (bis zu 37 ft) zum grossten Theil die Folge der verschiede-
nen Einwirkung der einzelnen Flussigkeiten auf die Muskel-
substanz sind.
Welcher von den einzelnen Methoden nun freilich die Fahigkeit
zugesprochen werden soli, weder quellend noch schrumpfend auf das
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Untersuchungen z. normalen u. path. Histologie der quergestreiften Musculatur. 65
Sarkoplasma zu wirken, durfte ausserst schwer zu entscheiden sein.
Denn, wenn auch als ziemlich sicher aDgenommen werden darf, dass
die erstere Wirkung der physiologischen 0,6proc. Kochsalzlosung sowie
der Mfiller'schen Fltissigkeit, letztere dagegen der Zenker’schen- und
Flemming’schenLosung zuzuschreiben ist, so lasst sich daraufhin doch
noch kein bestimmtes Urtbeil aufbauen. Als Durchschnittswerth der
Resultate sammtlicher angegebenen Metboden ergaben sich 48,6 fi .
Dies ist genau das mittelst Sublimat- und Pikrinsaure-Hartung er-
zielte Durcbschnittsmaass.
Fassen wir alle Ergebnisse nochmals zusammen, so zeigt sich,
dass ausser Alter und Emahrungszustand des betreffenden Individuums
anch die Behandlungsmethode der excidirten Muskelstiickchen, sowie
das Stadium der Todtenstarre, wahrend welchem sie der Leiche ent-
nommen wurden, fiir Untersuchungen auf dem Gebiete der normalen
und insbesondere der pathologischen Muskel-Histologie von grosster
Bedeutung sind.
2. Einige Beobachtungen fiber den Einflnss von Rube, Bewegung
und Innervation auf die Husbelfasern.
Unter genauer Berlicksichtigung der eben angeflihrten Ergebnisse
babe ich noch einige experimentelle Untersuchungen zur Lehre von
der Muskelatrophie angestellt. Mir standen zur Verfiigung sieben
junge Hunde von demselben Wurf. Dieselben dienten zu folgenden
Versuchen:
I. Von den sieben am 7. October 1897 geworfenen Tbieren wurde
dem Hunde A nach 3 Wochen der Muse, gastrocnemius des rechten
Beines excidirt.
H. An demselben Tage, dem 27. X. 1897, wurde dem Hunde B
rechtsseitig der Nervus ischiadicus durchtrennt.
HI. Hund C erhielt am 30. X. das rechte Bein in einen moglichst
festen Gypsverband gelegt.
IV. Hund D wurde am 20. XI. in einen Kafig verbracht, wo er
sich moglichst ruhig verhalten musste.
V. Dem Hunde E wurde am 15. XII. die rechte Halfte des unteren
Brustmarks durchtrennt. Ich gehe auf die Einzelheiten dieses Ver-
suchs nicht ein, da diese Durchschneidungsversuche am Rtickenmark
noch weiter fortgesetzt werden sollen.
VI. Hund F durfte frei umherlaufen und wurde zu moglichst
rieler Bewegung angehalten.
VII. Dem Hunde G wurde das rechte Knie- und Fussgelenk durcb
Injection von Jodtinctur und Chlorzink verodet.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 5
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66
II. Hauck
Die Section der Hunde und Herausnahme der betreffenden Mus-
keln erfolgte jedesmal unmittelbar nach der Todtung. Die eingelegten
Muskelstficke wurden dann genau nach der bereits angegebenen
Methode iu Mfiller-Formol-Losung gehartet und weiter behandelt
Aucb wurden bei diesen Versuchen Langs- und Querschnitte ange-
fertigt und theils zur Bestimmung der Fettbildung mit Osmiumsaure,
theils mit Hamatoxylin-Eosin gefarbt
Es mogen nun die Versuche selbst folgen und zwar in der oben
angeordneten Weise.
Versuch I. Hand A.
Die Excision des Mnsc. gastrocnemius wurde am 27. October an dem
3 Wochen alten Hiindchen vorgenommen; es sollte dieser Versuch vor AUem
ein Bild iiber die normalen Verhaltnisse der Muskelfaser im friihesten
Alter bieten. Als Durchschnittswerth ergab sich 6,7 (i.
Versuch II. Hund B.
Am 27. October, also ebenfalls nach 3 Wochen, wurde dem Hunde B
der rechtsseitige Nervus ischiadicus nach seinem Austritt aus dem Foramen
ischiadicum durchschnitten, und zwar wurde ein etwa 1 cm grosses Stuck
exddirt, um ein Wieder-Zusammenwachsen der beiden Enden des Nerven
zu verhindern. Das Thier erhielt sodann einen antiseptischen Verband
und, abgesehen von einer kleinen und unbedeutenden Eiterung, war die
Wunde in kurzer Zeit geheilt. Die Folge der Operation war eine Labmung
des rechten Beines, welches fortwfchrend schlaff herabhing und beim Laufen
nachgeschleppt wurde.
Am 25. November wurde in den geiahmten Muskeln sehr deutliche
elektrische Entartungsreaction festgestellt. Am 11. December wurde das
Thier getddtet.
Bei der Section zeigte der Gastrocnemius der rechten Seite im Gegen-
satz zu dem der linken ein ziemlich verandertes Aussehen. Er hatte eine
viel hellere und blassere Farbung. Zugleich fiel auch auf, dass der Muskel
rechts in einem ungemein starken Fettpolster eingebettet lag, was links
nicht der Fall war.
Die beiden Gastrocnemii wurden sodann genau an dem Ansatz ihrer
Sehnen excidirt und gewogen, wobei sich fur den rechten ein Gewicht
von 4,650 g, fur den linken ein solches von 5,550 g ergab. Entsprechend
diesem Gewichtsunterschied fand sich auch ein solcher in der Faserbreite,
indem das Durchschnittsmaass rechts = 8,64 p, links = 14,7 p betrug.
Bei Betrachtung der Langs- und Querschnitte fiel an dem rechten
atrophischen Muskel besonders eine starke Vermehrung und Wucherung
der Zellkerne auf, wahrend eine wirkliche ^Degeneration" der
Muskelfasern nirgends zu finden war. So zeigte sich die Quer-
streifung iiberall deutlich erhalten, und auch die von Mantegazza
beobachtete fettige Degeneration konnte nirgends nachgewiesen
werden. Es zeigte sich wohl rechts eine viel reichlichere intrafibrillare
Einlagerung von Fettzellen als links, in den Muskelfasern selbst aber
konnte eine Verfettung nirgends gefunden werden.
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Untersuchungen z. normalen u. path. Histologie d. quergestreiften Musculatur. 67
Eb handelt sich also in diesem Falle, wie aus der Verminderung des
Muskelgewichtes sowie derjenigen der Faserbreite deutlich ersichtlich ist,
in Folge der Durchschneidung des zugehorigen Nerven um eine Atrophie
des Gastrocnemius, aber nur um eine einfache und nicht um eine sogen.
,,degenerative“, ein Resultat, das sich genau mit dem von S. Stier er-
zielten deckt, welche ebenfalls bei Ischiadicus-Durchtrennung nur einfache
Atrophie mit zahlreicher Kernvermehrung constatiren konnte.
Versuch III.
In diesem Falle sollte die Atrophie der Muskeln in Folge von Immobi-
lisirung der Gelenke nachgewiesen werden. Zu diesem Zwecke wnrde am
30. October Hund C mit seinem rechten Beine in einen Gypssehienenverband
gelegt. Leider liess sich jedoch der Versuch in der beabsichtigten Weise
nicht durchfiihren, indem die Verb&nde, obgleich sie in sorgsamster Weise
mehrmals angelegt wurden, nie linger als einige Stnnden hielten. Selbst
die st&rksten und vbllig erhftrteten Gypsverb&nde wurden von der alten
Hiindin stets abgenagt und zerstbrt! Nachdem es auf diese Weise nicht
mbglich war, zu einem Resultate zu gelangen, entschloss ich mich, am
29. November zur kiinstlichen Entzimdung und Ankylosirung des rechten
Knie- und Fussgelenkes. Patella und sammtliche Gelenkbander wurden
durchschnitten und die Schnittflftchen mit einer 10 procentigen Argentum nitri-
cum-Losung geatzt. Doch auch dieser Versuch missgliickte! Es trat Ge-
lenkeiterung und Sepsis ein, und der Hund starb am 6. December. Um
noch einen Versuch anzustellen, wurde dem Hund VII am 11. December ins
rechte Knie- und Fussgelenk Jodtinctur injicirt, was nach 2 Tagen
wiederholt wurde und jetzt auch eine ziemlich vollstandige Ankylose beider
Gelenke zur Folge hatte. Als dieselbe dann Anfang Januar wieder nach-
liess, wurde am 7. Januar 1898 nochmals eine 10 procentige Chlorzink-
Lbsung injcirt. W T ar auch diesmal der Erfolg kein vollstandiger, indem
das Thier es nach einigen Wochen doch wieder, trotz der Steifigkeit der
Gelenke, fertig brachte, das Bein zum Laufen zu beniitzen, so kann man
doch den Versuch als geniigend durchgefiihrt betrachten.
Das Thier wurde am 3. Miirz getodtet, wobei sich bei der Section
Folgendes ergab:
Der Gastrocnemius des 12 Pfund schweren Hundes zeigt sich rechts
wie links von starker Fettschicht umgeben, auf der rechten Seite jedoch
in viel grbsserem Maasse. Ueberhaupt zeigte das rechte Bein in seiner
ganzen Ausdehnung ungemein stark ausgepr>es intramuscul&res Fett-
gewebe. Das Gewicht des excidirten Gastrocnemius ergab
rechts = 7 i l 2 g,
links = 17 V 2 „
Die Faserbreite . . rechts = 12,6 fc,
links = 39,9 „
Es handelt sich also auch in diesem Falle um eine recht bedeutende
Atrophie, die als Inactivit&tsatrophie in Folge von Gelenk-Ankylosirung
anzusehen ist. Die Querstreifung trat iiberall deutlich hervor. Auf den
L&ngs- und Querschnitten fiel eine iiberaus starke Fettablagerung im inter-
fascicalEiren Bindegewebe sowohl, wie zwischen den einzelnen Fasern des
atrophischen Muskels auf. Fettige Degeneration der Fasern selbst war
nirgends mit Sicherheit nachzuweisen.
5*
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68
II. Hauck
Versuch IV. Hund D.
In Folge der Ernahrungsschwierigkeiten konnte dieser Versucli erst
nach ungefahr 6 Wochen am 20. November begonnen werden. Urn dem
dazu verwendeten Hunde D jede korperliche Bewegung moglichst einzu-
schr&nken, wnrde ein K&fig ansgesucht, in welchem er sich zwar gerade
nocb bequem drehen und wenden konnte, jede andere Bewegung jedoch
voilst&ndig ausgeschlossen war. Seine Nahrung war genau dieselbe wie
bei den iibrigen Versuchsthieren, und durfte er bis zum Tage seiner
Tbdtung, den 3. M&rz, den K&fig nicht verlassen. Das Ergebniss der Section
war folgendes:
Kraftig entwickelter Hund mit iiberall stark ausgepragtem Fettpolster,
das jedoch intramuscular nicht iiber die Grenzen normaler Verhaltnisse
hinausgeht. Das Gesammtgewicht betragt 10 Pfund 400 g, das des Gas¬
trocnemius = HV 2 Si die Faserbreite = 34,1 ft.
Bei Betrachtung der Langs- und Querschnitte del auf, dass neben
iiberall deutlich ausgesprochener Querstreifung die Langsstreifung sehr stark
hervortrat. Anomales war nicht zu bemerken. Die Bedeutung der ge-
fundenen Zahlen wird sich spater aus dem Vergleich mit den iibrigen
Messungen ergeben.
Am 3. Marz wurde Hund F getbdtet, der bis zu diesem Tage frei um-
herlaufen durfte und dabei zu moglichst vieler Bewegung angehalten
wurde. Bei der Section fand sich nichts Anomales.
Sein Gewicht betrug 14 Pfd. 50 g, dasjenige des Gastrocnemius 20 g.
Als Durchschnittsmaass der Faserbreite ergaben sich 39,4 ft.
Um nun ein iibersichtliclies Bild iiber das Verhaltniss der Faser¬
breite bei den verschiedenen Versuchen zu gewinnen, sollen die er-
zielten Resultate jetzt noch kurz zusammengestellt werden und zwar
zuerst, um die Entwicklung in normalen Fallen betrachten zu konnen,
nur die Durchschnittsmaasse der nicht atrophischen Gastrocnemii.
Es fanden sich:
Excision nach 3 Wochen bei Hund
,, 2 Monaten
A
B
D
E
F
C
6,7 f 1
14,7 „
34.1 „
39.1 „
39,4 „
39,9 „
Man sieht also auch hier, dass die Entwicklung der Faserbreite
mit zunehmendem Alter proportional fortschreitei Besonderes Interesse
jedoch verdient die Thatsache, dass bei den vier am gleichen Tage
getodteten Hunden, mit Ausnahme des im Kafig gehaltenen D, fast
genau dieselben Dickendurchmesser sich ergaben, indem nur ganz
minimale Schwankungen bis zu 0,8 (i vorkommen. Dass dieses Resultat
zum grossen Theil mit auf die genaue Berucksichsigung der im L Theil
dieser Arbeit angefiihrten Gesichtspunkte zuruckzuflihren ist, darf wohl
mit Bestimmtheit angenommen werden. Dass die Faserbreite bei
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Untersuchungen z. normalen u. path. Histologie d. quergestreiften Musculatur. 09
Hund D um 5 p, also etwa den 8. Theil, hinter derjenigen der tibrigen
zurticksteht, erklart sich wohl ungezwungen aus seiner Einsperrung
in den Kafig. Wenn auch von keiner vSlligen Inactivitat der Muskeln
die Rede sein kann, so handelte es sich doch sicher um eine unge-
wohnlich geringe Inanspruchnahme und Uebung der Muskeln und
diese geringere Thatigkeit der Muskeln sprach sich ganz deutlich in
ihrer geringeren histologischen Entwicklung aus.
Von den Ergebnissen der tibrigen Versuche hebe ich noch einmal
besonders hervor, dass das anatomische Bild des in Folge einfacher
Inactivitat (durch Gelenkankylose) atrophirenden Muskels sich nicht
wesentlich unterscheidet von dem Aussehen des durch Durchschneidung
seines motorischen Nerven inactiven und gelahmten Muskels.
Zum Schlusse sei es mir noch gestattet, meinem hochverehrten
Lehrer, Herm Professor Dr. v. Striimpell, fiir die Anregung zu den
mitgetheilten Untersuchungen und die dabei gewahrte Untersttitzung
meinen verbindlichsten Dank auszusprechen. Ebenso obliegt es mir,
Herm Privatdocenten Dr. L. R. Mtiller herzlichst zu danken, welcher
in der liebenswtirdigsten Weise mir bei den einzelnen Versuchen mit
Rath und That zur Seite stand. Herrn Professor Dr. Hauser danke
ich ftir die freundliche Ueberlassung des Leichenmaterials.
Literatur.
Schwalbe u. Mayeda, Ueber die Kaliberverhaltnisse der quergestreiften Muskel-
fasern. Zeitschr. ffir Biologie Bd. XXVII.
J. Hal ban, Die Dicke der quergestreiften Muskelfasern und ihre Bedeutung.
1893. Anatomische Hefte Bd. IX.
Kunkel, Studien fiber die quergestreifte Muskelfaser.
Bierfreund, Ueber die Todtenstarre. Archiv f. d. gesammte Physiologie. Bd. 43.
Landois, Lehrbuch der Physiologie.
C. v. Kahlden, Technik der histologischen Untersuchungsmethoden.
Steinert, Inactivitatsatrophie nach Ischiadicus-Durchtrennung.
Hoffa, Pathogenese der arthritischen Muskelatrophie. 1892.
Duplay et Cazin, Recherches expSrimentales sur la nature et la pathogenic
des atrophies musculaires cons&sutives aux lesions des articulations.
Scherschewski, Ueber die Fett-Entartung der paralysirten Muskeln.
Sigl. Stier, Experimentelle Untersuchungen fiber d. Verhalten der quergestreiften
Muskeln nach Lasionen des Nerven systems. Archiv f. Psychiatrie. Bd. 29.
W. Lowenthal, Untersuchungen fib. das Verhalten d. quergestreiften Musculatur
bei atrophischen Zustanden. Deutsche Zeitschrift ftir Nervenheilkunde.
Bd. XIH. S. 106.
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70 II. Hauck, Untereuch. z. normal, u. path. Histologie d. quergestr. Muse. u. s. w.
Kurze Cebersicht der
Faserbreite: .
A. Einfluss des Alters.
I. fieim neugeborenen Menschen.
Muse, deltoideus ....
. =8,0 n
»
pectoralis major . .
. = 7,6 „
it
supinator longus. .
. - 7,6 „
it
gemellus surae . .
• = 7,1 ,,
a
platysma myoides .
• = 7,1 „
a
temporalis ....
• = 7,1 „
tt
biceps brachii. . .
. = 7,0 „
a
soleus.
• - 7,0 „
a
orbicularis ....
. = tfi ,,
II. U^jahriges Kind.
Muse, sterno-hyoideus . . = 14,0
„ sterno-cleido-mastoid . — 14,0 „
„ rectus abdomin. . . = 13,2 „
„ pectoralis major . . = 11,6 „
„ gemellus surae ,..«=» 9,7 „
III. 2 3 / 4 jahriges Kind.
Muse, sterno-cleido-mastoid. = 20,8 ft
„ rectus abdomin. . . «= 19,7 „
„ gemellus surae . . . = 18,0 „
„ adductor magnus . . = 14,0 „
„ sterno-hyoideus. . . = 14,0 „
IV. 4jahriges Kind.
Muse, diaphragma . . . .
= 23,7 fi
„ adductor magn. . .
= 17,8 „
„ temporalis.
- 16,4 „
„ orbicularis . . . .
- 15,9 „
V. Erwachsener Mensch,
40Jahrealt.
Muse, gemellus surae . .
= 61,3 ix
„ rectus abdom. . .
= 55, / ,,
„ sterno - cleido-mastoid
= 45,7 „
„ intercostalis extern.
= 47,5 „
„ biceps brachii . .
= 47,0 „
„ temporalis . . .
= 37,8 „
B. Ern&hrungszustand.
I. ausserst kraftig entwickel-
terMonteur(T.-U.Scorbut) = 70,2 n
II. kraftig entwickelt. 35jahr.
Bauer (T.-U. Peritonitis) = 53,3 „
III. kraftig entwickelt. 40jahr.
Bauer (T.-U. Durahama-
tom).= 47,0 „
gefandenen Resultate.
IV. ziemlich abgemagerter 50-
jahr. Handwerker (Car-
cin. ventic.).= 36,7 fi
V. 78jahr. Greis (Marasmus
senil.).= 29,7 „
Verwendet wurde der Biceps brachii
rechts.
C. Todtenstarre.
A. 18jahr. Prostitutirte (Phthisis p.)
Quadriceps r. vor der Starre = 52,1 fi
Biceps brachii „ „ „ = 36,3 „
Quadriceps l.gegen Ended. St. = 30,1 „
Bicepsl. gegenEnde der Starre — 25,6 „
B. 23jahriger Dienstknecht (Tuberc.)
Quadriceps r. vor der Starre = 44,3 fi
Biceps r. vor der Starre . . = 33,2 „
Quadriceps 1. Mitte der Starre = 27,2 „
Biceps 1. gegen Ende d. St. = 24,5 „
C. 42jahr. Mann Apoplexie.
Biceps brachii r. vor d. Starre = 66,9 fjt
Quadriceps r. vor der Starre = 54,0 „
Biceps 1. wahrend der Starre — 45,5 „
Quadriceps L nach d. Starre = 51,8 .,
D. Behandlungsmethode.
ZenkePsche Losung ....»= 33,7 ft
Flemming’sche Losung . . ■= 39,1 „
Alkoholhartung.=» 40,0 „
Erlicky^che Flussigkeit . . = 41,6 „
Arnold’sche Methode . . . = 45,9 „
Ranvier’sche Methode . . . = 47,2 „
10 proc. Formolhartung . . = 47,2 „
Pikrinsaurehartung . . . . = 48,8 „
Sublimathartung.= 48,6 „
O.lproc.Osmiumsaurehartung = 51,3 „
Muller’sche Flussigkeit (mit
Alkoholhartung) . . . . = 51,6 „
Muller-Formol.= 52,1 „
0,6 proc. Kochsalz-Losung . = 55,1 „
Miiller concentrata . . . . = 57,8 „
Muller mit 0,6 proc. Kochsalz-
Nachbehandlung.— 71,6 „
Muller-Formol je 50 Fasem von ein- und
demselben Muskel gezupfL
I. Fasem in der Nahe des
Sehnenansatzes. . . . = 51,3 „
II. peripherische Fasern . = 51,6 „
III. „ „ • • - 52,7 „
IV. centrale Fasem . . . = 52,7 „
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m.
Aus der medicinischen Klinik des Herrn Prof. Schultze in Bonn.
Ueber eine neue Form beredit&ren Nervenleidens.
(Schwachsinn mit Zittem und Sprachstorung.)
Yon
Dr. 0. Giese,
Volont&rarzt der Klinik.
Seitdem Friedreich vor 26 Jahren das so klar gezeichnete Bild
der nach ihm benannten Krankheit geschaffen, hat das Kapitel der
hereditar-familiaren Erkrankungen des Nervensystems eine ungeahnte
Ausdehnung gewonnen. Aber trotz der Fiille von Einzelbeobachtungen
ist unser Einblick in dies interessante Gebiet der Neuropathologie
noch von Schleiern verhiillt; nicht nur, dass wir iiber die atiologischen
Factoren, iiber das eigentliche Wesen vieler hereditaren Affectionen
so gut wie nichts wissen, auch die klinischen Verhaltnisse vieler Falle
geben dem Diagnostiker noch manches Rathsel auf.
Zwolf Haupttypen hereditar-familiarer Nervenkrankheiten hat
Highier 1 ) vor 3 Jahren aufgestellt, wobei er jedoch das Vorkommen
zahlreicher Misch- und Uebergangsformen, deren Rubricirung oft un-
moglich sei, zugeben musste; und die Zahl derartiger Falle ist in
stetem Wachsen begriffen. Auch die folgenden Zeilen bezwecken
nicht mehr, als mit einer neuen Spielart familiaren Nervenleidens
bekannt zu machen.
Es handelt sich um zwei Geschwister, J. und M. Schl. aus
Fischeln bei Krefeld; wahrend der jiingere Bruder vom 8. Juni bis
18. August 1899 in der hiesigen medicinischen Klinik in Behandlung
war, konnte ich die Schwester nur einmal in ihrem Heimathsort
unter ungtinstigen ausseren Verhaltnissen untersuchen, womit ich einige
LUcken in der zweiten Krankengeschichte zu entschuldigen bitte.
Die beiden Patienten staramen aus einer Familie, in der bislang keine
Nervenkrankheiten vorgekommen sein sollen. Nur die Grossmutter vftter-
licherseits sei im Alter etwas „geistesschwach u gewesen. Der Vater war
Ackerer, ist an Asthma gestorben, die Mutter ist gesund. Blutsverwandt-
schaft der Eltern liegt nicht vor, auch besteht kein aufftlliger Altersunter-
1) Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. Bd. IX, 1. u. 2. Hft.
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72
III. Giese
schied. Von Lues oder Potatorium ist in der Anteeedenz nichts nach-
zuweisen.
Von den 7 Kinder der Eltern ist eins, das 4., am Scharlach gestorben,
die beiden aitesten, sowie das 5. und 6. sind gesunde, kraftig entwickelte
Menschen ohne alle nervosen Erscheinungen, frei von alien Degenerations-
zeichen. Das 3. und 7. Kind sind unsere Patienten. Die Geburten sind
sammtlich leicht und ohne Kunsthiilfe von statten gegangen; irgend welche
Schadlichkeiten wahrend der Graviditat sollen nicht eingewirkt haben.
Alle Geschwister sind unter den gleichen localen und hygienischen Ver-
haltnissen aufgewachsen.
Der jiingere Bruder ist jetzt 25 Jahre alt. Er soli zur rechten Zeit
gehen und sprechen gelernt und sich in den ersten Lebensjahren durch
nichts von anderen Kindern unterschieden haben. Doch schon in der Sehule
liess sein Lernfahigkeit viel zu wiinschen iibrig: bis zum ordentlichen
Lesen und Schreiben hat er es nie gebracht. Im Alter von ca. 15 Jahren
beobaclitete die Mutter zum ersten Male bei ihm ein leises Zittern der
Hande, das in den folgenden Jahren sehr allmahlich zunahm. Auch blieben
die geistigen Fahigkeiten des Pat. mehr und mehr zuriick. Andere
Krankheitssymptome wurden zunachst nicht bemerkt; Pat. war kraftigund im
Stande, grobe Feldarbeit zu verrichten. Mit 19 Jahren wurde er zum
Militar eingezogen, jedoch nach 4 Monaten wieder entlassen; er will da-
mals die korperlichen Dienstleistungen noch gut haben ausfiihren konnen,
vermochte aber den Instructionen nicht zu folgen.
Vor ca. 1V 2 Jahren soli er einmal einen Krampfanfall gehabt haben;
er verlor das Bewusstsein, biss sich in die Lippe, der Anfall dauerte etwa
5 Minuten; Naheres ist dariiber nicht zu eruiren.
In den letzten Jahren ist die Sprache des Kranken nach und nach
schwerfallig und undeutlich geworden, besonders seit diesem Friihjahr;
auch das Zittern wurde in der letzten Zeit starker. Ferner klagt Pat.
jetzt iiber Unsicherheit des Ganges und Steifigkeit der Beine. Kopf-
8ckmerzen, Schwindel, Erbrechen haben nie bestanden. Keine Storungen
von Seiten der Blase und des Mastdarms.
Status praesens. Pat. ist ein grosser, kraftig gebauter Mann mit
massig entwickeltem Fettpolster und guter Musculatur. Gesunde Hautfarbe,
keine Driisenschwellungen; an mehreren Korperstellen Psoriasis-Efflorescenzen.
Degenerationszeichen sind nicht vorhanden.
Sensorium frei; Gesichtsausdruck stumpf, miirrisch. Intelligenz sehr
mangelhaft; Pat. giebt zwar auf Fragen iiber sein Leiden, seine Angehorigen
u. Aehnl. meist richtige Auskunft, muss sich jedoch immer erst langer be-
sinnen und ist in seinen Antworten sehr einsilbig, so dass nur wenig ans
ihm herauszubringen ist. Das Alphabet kann er nicht aufsagen, zahlen
gelingt leidlich, einfache Rechenaufgaben vermag er nicht zu lijsen. Auch
das Gedachtniss ist mangelhaft: der Kranke datirt den Anfang seines
Leidens auf 1 1 2 Jahre zuriick, weiss aber iiber die Zeit seiner Kindheit,
die Militarzeit etc. ziemlich gut Bescheid. Ueber Ort und Zeit ist er gut orientirt.
Seine Stimmung ist meist gedriickt, er weint h&ufig ohne geniigende
Veranlassung, verlaiigt stets nach Hause, unterhait sich nie mit seinen
Mitpatienten, sondern briitet stumpfsinnig vor sich hin. In seinen Hand-
lungen wurden keine Abnormitaten beobachtet. Das subjective Krankheits-
gefiihl scheint ziemlich gross zu sein.
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Ueber eine Deue Form hereditaren Nervenleidens.
73
Am Schadeldach nichts Abnormes. Sehkraft normal. Pupillen sind
mittelweit, gleichweit, reagiren gut auf Licht und Accomodation. Augen-
bewegungen nach alien Richtungen frei, kein Nystagmus. Alle actiyen
Bewegungen der Gesichtsmuskeln werden gut ausgefuht. Die Kaumuskeln
wirken kraftig. Die Zunge wird gerade herausgestreckt, zeigt sehr starke
fibrillare Zuckungen. Auch in einzelnen Gesichtsmuskeln besteht ein
deutliches Zittern und Zucken von wechselnder Intensitat. Besonders ist
der linke Levator menti und der rechte Masseter befallen, in geringerem Grade
der Orbicularis oris. Dabei handelt es sich weniger um eigentliches fibril-
lares Zucken, als vielmehr um ein groberes fascicuiares Zittern oder Beben.
Meist besteht dasselbe schon in der Ruhe, oft tritt es erst beim Sprechen
hervor oder wird doch dadurch verstarkt. Der Masseterreflex ist beider-
seits lebhaft. Bei sehr schwacher Beklopfung des Levator menti erfolgt
schon starke Contraction desselben, ebenso im Orbicul. oris. Auch bei
Beklopfen des TrianguL menti contrahiren sich rechts der Levator menti
und der Orbicul. oris, links nicht. Bei seitlichem Streichen des Gesichtes
jedesmalige Contraction der Levatores menti. In den iibrigen Gesichts¬
muskeln besteht keine mechanische Uebererregbarkeit.
Die Sprache ist langsam und leise, mit nasalem Beiklang, monoton
und undeutlich. Es besteht kein Scandiren, kein Silbenstolpern. Die
einzelnen Buchstaben werden ziemlich gleichgut nachgesprochen, ebenso
schwierigere Worter. Nur bei langerem Sprechen, z. B. dem Aufsagen
des „Vaterunser“, wird die Sprache allmahlich immer undeutlicher, schliess-
lich ganz unverstandlich, dabei von haufigen Athemziigen tbnender Art
unterbrochen. — Das Gaumensegel hebt sich beim Intoniren gut, scheint
zu schliessen. Gaumenreflex vorhanden.
An den sensorischen Nerven keine Ausfallserscheinungen. Sensibilitat
im Trigeminusgebiet intact.
Die Wirbelsaule zeigt keine Verkriimmungen. Die Rumpfmusculatur
ist von normaler Beschaffenheit und Actionsfahigkeit.
Auch an ^en oberen Extremitaten bestehen keine motorischen Ausfalls¬
erscheinungen, die rohe Kraft ist eine massig gute, der Musculatur ent-
sprechend. Nur macht sich beim Handedruck eine leichte Ermiidbarkeit
gel tend, die in folgender Yersuchsreihe mit Hiilfe des Dynamometers zum
Ausdruck kommt:
1. Versuch: rechts 70 kg, links 50 kg,
2. » ,50 „ „ 40 „
3. „ „ 30 „ „ 30 „
4. „ „ 30 „ „ 30 „
Es bestehen weder Atrophie, noch deutliche Spasmen. AnbeidenHan-
den failt, meist schon in der Ruhe, ein deutliches Zittern auf. Dasselbe
ist nicht ganz rhythmisch, massig frequent, betrifft die ganzen Hande und
Vorderarme in to to und ist links meist starker als rechts. Die Intensitat
des Tremor schwankt an den einzelnen Tagen, so dass er manchmal in
der Ruhe nicht wahrnehmbar ist; doch geniigt dann leichte psychische Er-
regung, z. B. Sprechen, um ihn sofort, meist zunachst in der linken Hand,
hervorzurufen. Bei Zielbewegungen wird das Zittern in der Regel beider-
seits deutlicher. Complicirtere Bewegungen der Hande, wie Zu- und Auf-
knbpfen, geschehen sehr langsam, mit sorgfaitig darauf gerichteten Augen
und unter Begleitung vieler dem groben Zittern nahestehender Neben-
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74
III. Giese
bewegungen. Bei geschlossenen Augen geht das Zuknbpfen noch langsamer
und nnsicherer.
Radius- und Tricepsreflex beiderseits lebhaft; auch bei Be-
klopfung der Ulna, sowie directer mechanischer Reizung der Flexoren er-
hait man leichte Contractionen.
In den unteren Extremitaten bestehen ebenfalls weder Atrophien, noch
Paresen, auch lassen sich keine deutlichen Spasmen nachweisen. Der Knie-
Hackenversuch gelingt sowohl bei offenen, wie bei geschlossenen Augen
sicher und ohne ausfahrende Bewegungen. In den erhobenen Beinen be-
steht kein Zittern, Kreise mit den Fhssen kdnnen langsam und gleichmassig
beschrieben warden. Dagegen macht sich beim Gang regelm&ssig eine be-
stimmte Storung bemerkbar: wenn der Kranke den linken Fuss aufsetzt,
kurz bevor er das Knie durchdriickt, giebt er sich jedesmal durch starke-
res Anspannen des 1. Quadriceps einen Ruck, der ein einseitiges Heben
des Oberkbrpers bei jedem Schritt zur Folge hat. Auch wird stets der
rechte Fuss etwas hbher gehoben und das rechte Bein etwas weiter nach
yorn gesetzt. Bei ruhigem Gang kein Schwanken; doch geschieht Halt-
machen auf Commando etwas wacklig, der Kranke macht meist noch einen
kleinen Schritt zuviel. Beim Kehrtmachen verliert er leicht daa
Gleichgewicht. Langeres Stehen, auch bei geschlossenen Augen, ohne
Schwanken mbglich; dagegen failt es ihm schwer, auf einem Fuss zu stehen,
auch ist der Fussspitzenstand etwas wackelnd.
Die Patellarreflexe sind sehr lebhaft, jedoch von Tibia und Pa¬
tella nicht auslbsbar. Achillesreflex mittelstark, kein Fussclonus. Vom Condyl.
int. femor. aus erhait man beim Beklopfen deutliche Adduction des Beines.
Die Hautreflexe (Bauchreflex, Cremasterreflex, Fusssohlenreflex) sind mittel¬
stark und bdiderseits gleich; beim Streichen derPlanta pedis erfolgt Dorsal-
flexion der grossen Zehe, besonders deutlich links.
Die Sensibilitat an Rumpf und Extremitaten ist fur alle Qualitaten
intact. Auch lassen sich keine Stdrungen des Muskelsinns und dea
Lagegefuhls nachweisen. Die elektrische Untersuchung ergiebt nichts
Abnormes.
Ophtbalmoskop.Befund(PrivatdocentDr.Hummelsheim): Papillen etwas
hyperamisch, keine Veranderungen des Gefasskalibers.
Die inneren Organe normal. Urin frei von Eiweiss und Zucker. —
Wahrend seines lOwbchentlichen Aufenthaltes in der Klinik traten im
Befinden des Kranken — abgesehen vom Wechsel in der Intensitat des
Tremors — keine wesentlichen Veranderungen ein.
Ordination: Prolongirte Bader, Faradisation, Tct. nuc. vomic.,
spater SoL Kali jodat. Das Korpergewicht hob sich von 139 auf
152 Pfund.
Der Kranke wird auf seinen Wunsch am 14. Aug. entlassen. Ich sah
ihn nochmals am 14. Nov. in seinem Heimathsort in ziemlich unverandertem
Zustand. Nur klagte er jetzt besonders iiber Steifigkeit im linken Bein,
ohne dass jedoch deutliche Spasmen nachweisbar waren; doch bestand ein.
leichter Grad von Hypertonie. Das Zittern war besonders in den Ge-
sichtsmuskeln anhaltend, weniger stark in den Armen. Der Kranke ist
nach wie vor in Feld und Garten thatig und fiihlt sich kbrperlich
vbllig wohl.
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Ueber eine neue Form hereditaren Nervenleidena.
75
Ich schliesse hier sofort die Krankengeschichte der alteren
Schwester an.
Patientin ist 32 Jahre alt. In der Kindheit soli sie stets gesund
gewesen sein, znr rechten Zeit gehen nnd sprechen gelernt haben, auch
waren die geistigen Fahigkeiten angeblich etwas besser als beim Binder.
In der Schule lernte sie, wenn auch schwer, Lesen nnd Schreihen, nur das
Rechnen konnte ihr trotz vieler Miihe nicht beigebracht werden. Im Alter
von 16 Jahren begann die Erkrankung in ahnlicher Weise wie beim Bruder
mit Zittern in H&nden nnd Gesicht und einer Abnakme der Intelli-
genz. Auch hier war die Zunahme der einzelnen Symptom© eine ftusserst
langsame; nur sollen sich bei ihr ziemlich friih eine Steifigkeit und
Schwerfalligkeit sowohl im Rumpfe wie in den Gliedern bemerkbar ge-
macht haben, so dass die Kranke allmfihlich die Gewobnheit annahm, active
Bewegungen auf das Nothwendigste zu beschr&nken. Doch zeigte sich ge-
legentlich, dass sie alle Bewegungen auszufuhren im Stande war und fiber
leidlich gute Kraft verfugte. Auch jetzt ist die Mutter der Ueberzeugung,
dass Pat. „Alles gut bewegen kann, wenn sie nur will a .
In den letzten Jahren soil die Steifigkeit besonders im Rumpf und Hals
zugenommen haben, so dass Pat. trotz vielfacher Ermahnungen stets mit
gebiicktem Kopf und vornuber gebeugtem Rumpf einhergeht. Auch sei der
Gang unsicher geworden, besonders falle die Kranke sehr haufig nach vorn
fiber. Sie liegt weniger durch ihre kbrperlichen Gebrechen, als durch ihren
Gemfithszustand den Ihrigen sehr zur Last: sie soli sehr launisch und
schwer zu behandeln sein, oft erfolgen Ausbriicbe von Jahzorn, auch ist ihre
Stimmung sehr wechselnd, sie kommt leicht ins Weinen, lacht dann wieder
grundlo8. Das Gedachtniss ist angeblich gut, besser als beim Bruder.
Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen fehlten wilhrend der ganzen Erkrankung;
nie warden Krfimpfe beobachtet. Blase und Mastdarm functionirten normal.
Die Menstruation trat erst Mitte der zwanziger Jahre auf, war an-
fangs unregelmassig, in der letzteren Zeit regelm&ssig.
Status praesens. Patientin ist kleiner als der Bruder, von krfiftigem
Knochenbau und sehr gutem Ernfthrungszustand. An der Haut nichts Be-
sonderes. Keine Degenerationszeichen. Die Intelligenz scheint ungeffihr
auf derselben Stufe zu stehen, wie beim Bruder, Patientin kann ziemlich gut
zfihlen, ist aber nicht im Stande, einfachste Additionsaufgaben zu losen.
Sie ist sehr verschlossen, weint zunfichst heftig, wird aber im Laufe der
Untersuchung sehr heiter und behalt ein gleichm&ssiges, blodes Lachen bei.
Der Gesichtsausdruck hat etwas Stieres, Ausdrucksloses. An den Hirn-
nerven bestehen keine Ausfallserscheinungen. Nur die Augenbewegungen
scheinen etwas verlangsamt zu sein, und die Endeinstellungen werden nur
mit Miihe erreicht; am deutlichsten ist diese Storung beim Blick nach oben.
Die Pupillen sind mittelweit, reagiren gut, Sehscharfe scheint normal zu
sein; Nystagmus besteht nicht. In den unterenAugenlidern bemerkt man
ein anhaltendes Zittern, links starker als rechts, das beim Lidschluss
noch zunimmt. Auch in den Mundmuskeln, besonders in den Levatores
menti und im ganzen Orbicul. oris besteht ein intensives Zittern und
Zu cken; dasselbe halt wahrend der ganzen Dauer der Untersuchung in gleicher
Weise an, ist links starker als rechts und nimmt beim Sprechen, Weinen,
Lachen noch an Intensitat zu. In den Masseteren ffihlt man beim Zusammen-
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76
III. Giese
beissen der Zahne ebenfalls ein starkes gleichmassiges Zittern. Der Mas-
seterreflex ist lebhaft. Die Priifang der mechanischen Muskelerregbarkeit
im Gesicbt ist im Einzelnen durch den Tremor und das anbaltende Lachen
sehr erschwert, doch ist sie sicher gesteigert. Die Zunge wird grade, aber
schwerfallig hervorgestreckt, zittert nur wenig; Seitw&rtsbewegungen der-
selben sehr langsam. Die Sprache zeigt genau die gleichen Storungen wie
im vorigen. Falle (langsam, naselnd, monoton, verwaschen); nur ist hier
die Undeutlichkeit noch etwas grosser. — In der Ruhe bemerkt man zeit-
weise ein deutliches Wackeln des Kopfes.
Das Auffallendste an der Kranken ist die Korperhaltung, die den
anamnestischen Angaben vollig entspricht: nicht ein einziges Mai wahrend
der Untersuchung hebt Pat. spontan den tief gebeugten Kopf empor, und der
Riicken bleibt andauernd in leicht gekriimmter Haltung. Doch ist sie auf
energische Aufforderung im Stande, sich leidlich gut aufzurichten, wenn
auch eine geringe allgemeine Kyphose bestehen bleibt. Bei passiven Be-
wegungen des Kopfes und der Wirbelsaule bemerkt man eine starkeRigi-
ditat der Muskeln, die sich jedoch iiberwinden lasst. Eine Steifigkeit der
Wirbelsaule scheint nicht zu bestehen. An den Armen ist die Muskelstarre
nur angedeutet, an den Beinen etwas starker. Alle actiyen Bewegungen
werden ungemein langsam und schwerfallig ausgefuhrt.
Die motorische Kraft der Schulter- und Armmuskeln ist ziemlich gut,
nur der Handedruck etwas schwacher als normal; auch scheint leichteEr-
miidbarkeit zu bestehen. In den ausgestreckten Handen bemerkt man zur
Zeit keinen deutlichen Tremor, bei Zielbewegungen eine leichte zitternde
Unsicherheit; dagegen treten bei complicirteren Bewegungen — Zubinden
der Rockbander etc. — dieselben unregelmassigen zitternden Nebenbewegungen
auf wie beim Bruder.
Die Reflexe sind an beiden Armen ausserordentlich lebhaft, auch
vom unteren Theil der Ulna erhait man starke Zuckung; ebenso reagiren
die Muskeln sehr leicht auf directe mechanische Reizung.
Auch an den unteren Extremitaten konnen fast alle activen Bewegungen
gut ausgefiihrt werden, nur in den linken Mm. peronei besteht eine leichte
Parese. Uebrigens ist die Kraft in to to am linken Bein etwas schwacher
als rechts. Links leichter Pes equinus. Patellarreflex trotz der Muskel-
spannung enorm lebhaft, aber nicht vom Knochen auslosbar. Auch
Achilles-Reflex sehr lebhaft. Kein deutlicher Patellar- und Fussclonus.
Bei Zielbe wegungen in den Beinen keine Ataxie. — Beim Gang failt
zunachst auf, dass die linke Fussspitze am Boden klebt; ferner geht Pat.
sehr langsam, breitbeinig und schwerfallig, die Knie- und Hiiftgelenke
werden fast gar nicht gebeugt, sondern das Becken seitlich gehoben, wo-
durch der Gang etwas Watschelndes bekommt. Fordert man Pat. auf,
schneller zu gehen, so droht sie sofort nach vom iiberzufallen. Kehrt-
machen geschieht schwerfallig und etwas schwankend. Stehen ge-
lingt auch bei geschlossenen Augen gut.
Soweit die Priifung der Sensibilitat moglich ist, lasst sich keine Storung
nachweisen. — An den inneren Organen nichts Abnormes.
Fassen wir kurz das Wesentliche beider Krankengeschichten zu-
sammen, so sehen wir bei 2 erblich nicht bclastcten , schon in der Jugend
etwas schwachsinnigen Geschwistern ohne alle erkenntlichen dusscren Ur-
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Ueber eine neue Form hereditaren Nervenleidens.
77
sachen wahrend der Pubertatsjahre ein Krankheitsbild sich entwickeln , das
sich aus folgendeti allmahlich xunehmenden Erscheinungcn xusammensetxt:
deuilicher Schwachsinn, langsame , monotone , undeutliche Sprache, unregel -
mdssiges Zittern der Hande und einxelner Gesichtsmuskeln, das xeitweise
schon in der Ruhe besteht , bei Bewegungen , besonders complieirterer Art ,
zunimmt , Unsicherheit und Schwanken beim Gauge, Steigerung samml -
fticfor Reflexe und , besonders bei der schon langer erkrankten Schwester,
eine allgemeine MuskelsteifiglceiL Auch besteht bei dieser Patientin eine
leichte Parese der linken Peronei , wahrend beim Bruder die motorische
Kraft uberall xiemlich gut ist. Die Krankheit ist stetig progressiver Natur ,
sckreitet jedoch nur ausserst langsam fort; bei der Schwester besteht sie
seit ca . 16, beim Bruder seit 9 Jahren.
Die grosse Uebereinstimmung der Krankheitsentwicklung sowohl
wie des jetzigen Befundes kann keinen Zweifel dartlber aufkommen
lassen, dass wir es in beiden Fallen mit ein- und derselben
Affection zu thun haben; die vorhandenen Unterschiede sind nur
graduelle und bestehen in eiuem leichten Plus der Symptome bei der
alteren Kranken, so dass sie sich durch die langere Krankheitsdauer
von selbst erklaren.
Die Betheiligung der Psyche ist in beiden Fallen eine recht er-
hebliche; wenn es sich auch unserer Beurtheilung entzieht, inwieweit
die Imbecillitat schon bei den Kindern vorhanden war, so geht eine
Zunahme wahrend der Erkrankung aus der Anamnese deutlich
hervor. Auffallend ist bei der Schwester die in den letzten Jahren
hervortretende starke Alteration des Gemiithszustandes, die sich in
haufigem Stimmungswechsel, Zornausbriichen etc. aussert; immerhin
ist auch beim Bruder schon eine Andeutung davon vorhanden.
Alle iibrigen Krankheitserscheinungen liegen auf dem Gebiet der
motorischen Sphare, und zwar — dies mochte ich besonders be-
tonen — handelt es sich nicht um wirkliche Ausfallserscheinungen,
um eigentliche Lahmungen, sondem vielmehr um abnorme Reiz-
zustande, um Storungen im normalen Ablauf der Muskelaction. Nur
bei der alteren Kranken besteht eine leichte Parese der Peronei, sonst
sind bei beiden alle activen Bewegungen meist sogar mit guter Kraft
ausffthrbar.
Hochstens lasst sich eine gewisse pathologische Ermudbar-
keit in einzelnen Gebieten feststellen, was besonders schon im Dyna¬
mometer-Versuch, dann aber auch in der Sprache zum Ausdruck
kommt. Die letztere zeigt namlich, neben der Langsamkeit und dem
nasalen Beiklang, ein ganz eigenthiimliches Verhalten, insofern zunachst
weder beim Nachsprechen einzelner Buchstaben noch auch beim
Sprechen schwieriger Worter sich eine deutliche An- oder Dysarthrie
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78
III. Giese
kund giebt; erst wenn man die Kranken l&nger hintereinander spre-
chen lasst, wird die Articulation mehr und mehr verwaschen, die
Sprache immer undeutlicher, um schliesslich in ein fast unverstand-
liches Lallen tiberzugehen; zugleich macht sich, auch nur bei langerem
Sprechen, ein storender Mangel an Exspirationskraft bemerkbar, so dass
die Kranken gezwungen sind, das Sprechen durch immer haufiger werdende
tonende Athemztige zu unterbrechen. Es besteht also eine eigenthtim-
liche Ermtidbarkeit der Sprech- und Athemmuskeln, die, besonders im
Zusammenhang mit der Ermtidbarkeit der Hande, an das Verhalten
bei der sogen. astheniscben Paralyse erinnert Bei einer derartigen
Kranken, die ich vor Kurzem auf der Klinik zu beobachten Gelegen-
heit hatte, zeigte auch die zunachst vollig gut articulirte Sprache eine
ganz analoge Sttirung, sobald man Pat. z. B. zahlen liess. Nattirlich
besteht sonst in unseren Fallen keine Analogie mit der erwahnten
Affection, doch scheint mir die Thatsache nicht unwichtig, dass das
Symptom der „Myasthenie“ gelegentlich auch bei anderen organischen
Affectionen yorkommen kann, so dass man sich htiten muss, zu grosses
Gewicht darauf zu legen.
Neben dieser eigenthtimlichen Sprachstorung stehen gewisse ab-
norme Muskelbewegungen im Vordergrunde des Krankheitsbildes.
Befallen davon sind einzelne Gesichtsmuskeln und die Hande; in letzteren
zeigt sich zeitweise schon in der Ruhe ein nicht ganz rhythmischer,
ziemlich schnellschlagiger Tremor yongeringerSchwingungsamplitude;
an einzelnen Tagen haben Zielbewegungen keinen deutlichen Einfluss
auf ihn, andere Male wird er dadurch verstarkt, oft muss er ttberhaupt
erst durch psychische Erregung oder complicirtere Bewegungen her-
vorgerufen werden. Bei letzteren handelt es sich dann nicht mehr
um einen einfachen Tremor, sondern man hat den Eindruck, dass sich
die Sttirung aus 2 Componenten zusammensetzt: einer leichten zitterndem
Unsicherheit und einzelnen groberen, mehr ausgiebigen Zuckungen.
Das Ganze errinnert in gewisser Beziehung an den Intentionstremor
der Herdsklerose, doch ist auch eine Aehnliehkeit mit der Ataxie der
Tabiker unverkennbar, zumal die Stoning bei geschlossenen Augen
noch zunimmt
Etwas einfacher gestaltet sich das Zittern in den Gesichts-
mukeln: am meisten ahnelt es dem bekannten Tremor bei der Dementia
paralytica, nur ist es noch grober, weniger einzelne Fibrillen, als ganze
Muskelztige befallend. — An den Augen konnte niemals auch nur eine
Andeutung von Nystagmus beobachtet werden, was besonders hervor-
gehoben zu werden verdient. Auch Strabismus wurde vermisst; die
einzige Storung am oculomotorischen Apparat war eine Verlangsamung
und Erschwerung der Blickbewegungen bei der Schwester, ein Sym-
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Ueber eine neue Form hereditaren Nervenleidens.
79
ptom, das wohl mit der aUgemeinen Muskelrigiditat und der daraus
resultirenden Bewegungshemmung bei dieser Kranken in Analogie zu
setzen ist.
Diese Muskelsteifigkeit, die wir bei dem jfingeren Pat. kaum
angedeutet finden, hat bei der alteren Schwester einen recht hohen
Grad erreicht; am meisten sind die Rumpf-, Hals- und Nackenmuskeln
betroffen, und zwar handelt es sich nicht eigentlich um gewohnliche
Spasmen, die erst beim Versuch passiver Bewegungen zu Tage treten,
sondern vielmehr um eine auch in der Ruhe fortbestehende, ziemlich
starke, gleichmassige ErhShung des Muskeltonus. Die Anomalie wird
auch von der Kranken selbst sehr storend empfunden und hat zu einer
Korperhaltung gefuhrt, die ausserordentlich an das Bild der Paralysis
agitans erinnert; ein Eindruck, der noch verstarkt wird durch die
Neigung der Pat. beim Gehen nach vornttber zu fallen. Inwieweit
hieran ausser der fehlerhaften Rumpfhaltung die Unsicherheit des
Ganges Schuld tragt, muss dahingestellt bleiben. Doch ist die Stdrung
beim Gehen, das leichte Schwanken und Taumeln beim Kehrtmachen etc.
bei beiden Kranken, wenn auch nicht gerade sehr ausgepragt, so doch
deutlich genug, dass man von einer cerebellaren Ataxie leichten
Grades sprechen kann.
Eigentliche atactische Bewegungen sind in der RUckenlage in den
unteren Extremitaten nicht nachweisbar; auch besteht kein Romberg-
sches Symptom. Wahrend des Ganges tritt aber beim Bruder die
oben naher beschriebene bestimmte Storung im richtigen Ablauf der
Muskelaction bei jedem Schritt in die Erscheinung, so dass wir auch
in den Beinen eine gewisse locomotorische Ataxie nicht leugnen
konnen.
Die Lebhaftigkeit derReflexe fibersteigt entschieden das Physio-
logische, wenn sie auch nicht bis zum Clonus gesteigert sind. Die
Steigerung ist ausgepragter an den oberen Extremitaten, wie uberhaupt
bei unseren Kranken die Storungen der motorischen Sphare von oben
nach unten abnehmen. Besonders gilt dies auch von der mecha-
nischen Muskelerregbarkeit, die wir an einzelnen Gesichtsmuskeln
hochgradig verstarkt, auch an den Armen fiber die Norm hinausgehend
fanden. Dabei sei noch erwahnt, dass diese Steigerung der Erregbarkeit
sich ungefahr auf dieselben Muskeln beschrankt, die vom Zittern be¬
fallen sind. Leider sind die Erfahrungen fiber das Verhalten der
Muskelerregbarkeit zu gering, als dass sich irgend welche Deductionen
an dies interessante Symptom knfipfen liessen.
Sensibilitatsstorungen wurden in beiden Fallen vollig vermisst. —
Ein epileptiformer Anfall soil beim jfingeren Kranken beobachtet
worden sein.
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80
III. Giese
Wenn fiir eine hereditar-familiare Erkrankung des Nervensystems
gefordert wird, dass ein annaherd gleicher Symptomcomplex sich bei
mehreren Familienmitgliedern entwickelt, dass ferner die Erkrankung
in dem gleichen Lebensalter einsetzt, und dass alle ausseren Krank-
heitsursachen vermisst werden, so treffen diese Bedingungen f&r unsere
Falle zweifellos zu. Versuchen wir nun aber, das Krankheitsbild den
bekannten Typen hereditarer Erkrankungen einzureihen, so stossen
wir auf recht erhebliche Schwierigkeiten.
Um die hereditare Ataxie Friedreich’s ohne Weiteres auszu-
schliessen, gentigt schon der Hinweis auf die Steigerung der Reflexe
bei unseren Patienten. Auch mit jenem verwandten Krankheitsbild,
das Marie als Heredo-Ataxie cerebelleuse bezeichnet hat, besteht
nur eine leichte Aehnlichkeit. Vor Allem tritt das cerebellar-atactische
Moment viel zu sehr zuriick in Riicksicht auf die lange Krankheits-
dauer, wir vermissen ferner die Augenmuskellahmungen, Sehstorung
u. A., wahrend andererseits die stark entwickelte Demenz nicht zum
Marie’schen Krankheitsbilde gehort.
Auch in den weiten Sack der cerebralen Diplegien, von denen
ubrigensHighier j ) den Morbus Marie nicht streng geschieden wissen
will, lassen sich unsere Falle nicht stecken. Selbst wenn man mit
Highier die Entstehung dieses Leidens in spateren Lebensjahren zu-
lasst, so macht doch die geringe Entwicklung der Lahmungserschei-
nungen nach einem Verlauf von 9 resp. 16 Jahren eine solche Annahme
unmoglich. Ferner gehort auch das Zittern nicht zum Bilde der here-
ditaren Cerebrallahmungen, wenn es auch in einem Falle von Freud 2 )
beobachtet wurde.
Ueberhaupt gewinnt man beiDurchsicht der einschlagigen Literatur
den Eindruck, dass der Tremor in der Symptomatologie der hereditaren
Erkrankungen eine nicht sehr hervortretende Rolle spielt. In erster
Linie zu nennen ware hier der schon seit langem bekannte, aber wenig
genau studirte essentielle hereditare Tremor, von demBrasch 3 )
etwa 30 Falle in der gesammten Literatur verzeichnet fand. Doch
geht man wohl nicht fehl in der Annahme, das dies Leiden in Wirk-
lichkeit haufiger ist, wofiir auch die zahlreicheren Beobachtungen der
letzten Jahre sprechen (Bonelli 4 ), Achard-Soupault 5 ), Labb6 6 ),
1) 1. c.
2) Neurol. Centralbl. XIII. Jahrg. No. 15 u. 16.
3) Deutsche Zeitschr. f. Nervenh. VII. Bd. S. 444.
4) Rivista di Freniatria. 1897. S. 58.
5) Gazette hebdomad. 1894. Nr. 32.
6) Presse medic. 1894. No. 33.
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Ueber eine neue Form hereditiiren Nervenleidens.
81
Mills 1 )). 2 ) Irgend welche klinischen Charakteristica lassen sich, wie
schon Brasch betont, ftir das erbliche Zittern nicht anftihren, da
gelegentlich alle Varietaten desselben an alien Theilen des Korpers
zur Beobachtung kommen. In emzelnen Fallen war das Zittern ver-
gesellschaftet mit mehr oder weniger stark ausgepragter psychischer
Degeneration; besonders zeigt die Beobachtung von Labbe 3 ), familiarer
Tremor, Demenz und epileptiforme Anfalle bei einer 20jahrigen Frau,
eine unverkennbare Aehnlichkeit mit unserenGeschwistem; dock fehlen
Storungen der Sprache und des Ganges.
Des Weiteren zu berucksichtigen waren hier yereinzelte atypische,
zum Theil recht complicirte Krankheitsfalle hereditar-familiarer Art,
die eine theilweise Uebereinstimmung mit unseren Fallen zeigen. So
beschreibt Bouchaud 4 ) eine „maladie a part" zweier Geschwister yon
6 und 7 Jahren, bestehend in zunehmender Demenz, Rigiditat der
Muskeln, langsamer, spaterhin undeutlicher Sprache, Coordinations-
storungen aller vier Extremitaten und cerebellarem Gang; doch waren
die Sehnenreflexe herabgesetzt, bezw. fehlend, und es entwickelten sich
im weiteren Verlauf Seh-, Schluck- und Kaustorungen. Die Autopsie
ergab als Wesentliches einen Schwund der Markfasern in der Hirn-
rinde und beiderseitige Pyramiden-Degeneration.
In Rossolimo’s 5 ) Fallen (3 Geschwister) bestand Tremor der
Hande, cerebellare Ataxie und erhohte Kniereflexe neben Augenmuskel-
lahmungen und Muskelhypertrophien.
Ausfiihrlich beschrieben ferner Pauly und Bonne 6 ) die Kranken-
geschichte dreier Brtider; bei alien drei kehren als Hauptsymptome
Nystagmus, langsame Sprache, Tremor der Hande, der bei Gemiiths-
bewegung zunimmt, spastisch-schwankender Gang und Atrophie des
N. optic, wieder. Mit Recht betonen die Verfasser die Eigenart dieser Falle.
Ein dem unsrigen ahnliches Krankheitsbild hat unsNonne 7 ) schon
1890 kennen gelehrt; nur waren bei den 3 Brtidern auch noch starkere
1) Neurol. Jahresber. L S. 903.
2) Ich Bah selbst unter den Patienten der med. Klinik in letzter Zeit zwei
derartige Hereditarier: in einem Falle bestand bei einem Manne mit sonst ge-
sundem Nervensystem ein auBgesprochener Intentionstremor Beit der frdhesten
Kindheit, von dem auch der Vater und ein Bruder in gleicher Weise befallen Bind.
Der 2. Fall betrifft ein an Dystrophia muscul. progr. leidendes Kind, an dessen
ausgestreckten Hfinden ein unregelmassiges Zittern besteht, das bei Vater und
Grossvater in derselben Weise vorhanden gewesen sein soil.
3) 1. c.
4) Revue neurol. 1894. Nr. 1.
5) Neurol. Centralbl. 1898. S. 566.
6) Revue de'M6d. 1897. 8. 200.
7) Archiv £ Psychiatrie. XXII. 2.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 6
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82
III. Giese
intellectuelle Storungen vorhanden, wahrend das Zittern der oberen
Extremitaten mehr zurucktrat Die eigenthiimliehe „explosive“ Sprache,
der Nystagmus und die Opticusatrophie bilden die wesentlichen Unter-
scheidungsmerkmale von unseren Fallen. Anatomisch fand sich eine
auffallende Kleinheit des ganzen Nervensystems.
Schliesslich waren hier noch die Falle von Homen 1 ) zu erwahnen,
die wohl die meiste Aehnlichkeit mit den unsrigen zeigen, jedoch
leider in ihrer Deutung durch das Bestehen luetischer cerebraler Ver-
anderungenbeeintrachtigtsind 2 ): es bestand ebenfalls bei 3 Geschwistem
zunehmende Demenz, undeutliche Sprache, zeitweise Tremor der Hande
und Arme, Spasmen an den Extremitaten und unsicherer Gang. Die
Section ergab neben specifischen Veranderungen eine Kleinheit der
Gehime, Schwund der Tangentialfasem und Gehimverdickungen.
Aus dieser Zusammenstellung ergiebt sich, dass zwar eine Aehn¬
lichkeit unserer Falle mit einzelnen frfiheren Beobach-
tungen hereditarer Art zuzugeben ist, dass jedoch ein vollig
tibereinstimmendes Symptomenbild bisher nicht beschrieben
wurde.
Zu demselben Resultat werden wir gelangen, wenn wir die Be-
ziehungen unserer Falle zu den anderen, sonst nicht hereditar auf-
tretenden Nervenkrankheiten ins Auge fassen. In erster Linie ware
hier der atypischen Formen der multiplen Sklerose zu gedenken, um
so mehr, als mehrfach iiber die Moglichkeit einer hereditaren Form
derselben discutirt worden ist (Dreschfeld 3 ), Pelizaeus 4 ), Eich-
horst 5 ) u. A.). Doch sind die betreffenden Falle auch in anderer
Weise gedeutet worden, da es sich nur um klinische Beobachtungen
handelte. Nur Eichhorst 6 ) konnte anatomisch multiple Sklerose bei
Mutter und Kind nachweisen, doch zeigt der Befund verschiedene vom
Autor selbst zugegebene Besonderheiten, so dass „wir bislang nicht
das Recht haben, ein familiar auftretendes Nervenleiden auf die mul¬
tiple Sklerose zu beziehen“ (Oppen heim 7 ). Wenn auch in unseren
Fallen die Bewegungsstorungen, besonders in den oberen Extremitaten,
an die multiple Sklerose erinnern, so sprechen doch das Fehlen des
Nystagmus und der scandirenden Sprache, die geringe Betheiligung
der unteren Extremitaten, das Fehlen der Spasmen beim jtingeren Bru-
1) Archiv f. Psychiatrie. Bd. XXIV.
2) Vgl. Highier, 1. c. S. 56.
3) Medical Times and Gazette. 1879.
4) Archiv f. Psychiatrie. Bd. XVI.
5) Virchow’s Archiv. Bd. 146.
6) 1. c.
7) Lehrbuch. S. 260.
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Ueber eine nene Form bereditaren Nervenleidens.
83
der, die starke Entwicklung der Demenz und das eigenthtimliche Zittern
der Gesichtsmuskeln gegen eine solche Diagnose.
Eine unverkennbare Aehnlichkeit zeigen unsere Kranken femer
mit jenen Fallen, deren anatomisches Substrat in einer Sklerose und
Atrophie des Kleinhirns bestand. Es sei nur auf die Beobach-
tungen von Schultze 1 ), Redlich 2 ), Kirchhoff 3 ), Huppert 4 ) ver-
wiesen, in denen sich fast alle unsere Symptome annahernd wieder
finden. Doch trat in diesen Fallen immer die cerebellare Stoning, be-
sonders das Taumeln des Ganges, sehr friihzeitig und ausgiebig in den
Vordergrund, auch bestand des Oefteren Nystagmus.
Weiterhin ist hier noch jener seltenen und unklaren Krankheits-
falle zu gedenken, die Westphal 5 ) als „Pseudosklerose w bezeichnet
hat und deren weitere Kenntniss wir besonders Striimpell 6 ) ver-
danken. Besonders mochte ich auf die auffallende Analogic unserer
Falle mit der ersten Beobachtung Westphal’s aufmerksam machen:
Beginn der Erkrankung im 14. Lebensjabre mit unbestimmten Sym-
ptomen und Doppeltsehen, 6 Jahre spater fand sich deutlicher Schwach-
sinn, unvollkommene, niiselnde, nicht gerade scandirende Sprache,
Zittern des Kopfes, der Zunge, des Unterkiefers, der Mundmusculatur,
lebhafte Reflexe, Zittern der Arme bei Bewegungen, Steifigkeit und
Unsicherheit der Beine; dabei erhaltene Motilitat und Sensibilitat und
Fehlen sonstiger Symptome — also eine fast absolute Uebereinstim-
mung mit unserem Krankenbefund. Das Leiden war progressiv, die
Sprache wurde immer unverstandlicher, 9 Jahre nach Beginn der Er¬
krankung Tod an Entkraftung. Die Autopsie ergab ausser einer auf-
fallenden Derbheit der weissen Gehimsubstanz, namentlich in den
hinteren Partien, nichts Abnormes. Fast* die gleichen Verhaltnisse
bietet der zweite Fall Striimpell’s (1. c.), nur dass die Ataxie und Parese
der unteren Extremitaten eine grossere ist; im Uebrigen besteht auch hier
ein bestandiges Zucken und Zittern in alien Gesichtsmuskeln, beson¬
ders in den Orbiculares oculi und den Mundmuskeln, das beim Sprechen
und Weinen noch verstarkt wird; ferner stockende, undeutliche Sprache,
eine zitternde Unsicherheit der Arme u. s. w.
Trotz dieser weitgehenden Uebereinstimmung scheint es mir nicht
angangig, in unseren Fallen die Diagnose auf eine Pseudosklerose zu
1) Virchow’s Archiv. 108. 2.
2) Wiener med. Wochenschr. 1895. Nr. 19.
3) Archiv f. pBych. XII. 3. Hft.
4) Ebenda. Bd. VII.
5) Ebenda. 1883.
6) Deutsche Zeitschrift f. Nervenbeilk. XII, 2. u. XIV, 5. C.
6 *
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84
in. Giese
stellen. Zunachst ist ein familiares Auftreten der Erkrankung noch
nicht beobach tet, wenn auch S t r ti m p e 11 (1. c.) sich fttr die hereditar-luetische
Aetiologie, von der jedoch bei uns nichts nachweisbar ist, ausgesprochen
hat. Sodann stimmt der ausserst langsam fortschreitende Charakter
unserer Falle nicht mit den frtiheren Beobachtungen, wo der Verlauf
zwischen 3 und 10 Jahren schwankte. Vor Allem aber ist das klinische
Bild der Westphal’schen Sklerose ein noch viel zu wenig bestimmtes
und abgegrenztes, als dass es moglich ware, diese Diagnose zu Leb-
zeiten mit einiger Sicherheit zu stellen, wie denn auch die iibrigen
bekannten Falle (2. Fall WestphaPs, 1. und 3. Fall StrtlmpelPs,
Schultze's 1 ) nicht unerhebliche Abweichungen von unseren Krankeu
aufweisen. Das Gleiche gilt von jenen seltenen Fallen, die man als
diffuse Hirnsklerose bezeichnet hat, und in die das Krankheitsbild
der Pseudosklerose wohl zum Theil iibergeht, wie dies schon von
Striimpell vermuthet und durch die Untersuchungen Meine's 2 ), der
die sonst nicht erkennbare Hirnsklerose nur an bestimmt behandelten
Carminpraparaten nachweisen konnte, noch wahrscheinlicher gewor-
den ist.
Eine haufige Erkrankung des Centralnervensystems aber, der eben-
falls eine, wenn auch wohl secundare diffuse Sklerose zu Grunde liegt,
mflssen wir noch besonders hervorheben: ich meine die progressive
Paralyse. Dass wir es freilich nicht mit dem typischen, gut abge-
grenzten Krankheitsbilde dieses Namens zu thun haben, liegt auf der
Hand; ich brauche nur an den ausserst chronischen Krankheitsverlauf,
an das normale Verhalten der Pupillen, das Fehlen gewisser psychi-
scher Veranderungen bei unseren Kranken zu erinnem. Immerhin
zeigt sich in der Symptomatologie unserer Falle — der zunehmenden
Demenz, dem eigenthtimlichen Zittern, besonders in der Mundmuscu-
latur, und der freilich nicht ganz charakteristischen Sprachstorung, — eine
so grosse Aehnlichkeit mit der progressiven Paralyse, dass man zum
Mindesten die Moglichkeit analoger anatomischer Veranderungen zu-
geben muss; und auch klinisch konnte man das Krankheitsbild, wenn
man will, als eine ausserst langsam fortschreitende progres¬
sive Paralyse bezeichnen.
Betreffs der Einzelheiten der anatomischen Grundlage unserer
Falle werden wir tiberhaupt kaum fiber Vermuthungen hinauskommen.
Dass die Grosshimrinde in irgend einer Weise afficirt ist, kann aller-
dings bei der starken Betheiligung der Psyche als sicher angenommen
werden. Auch erscheint eine Betheiligung des Kleinhims wegen der
1) Lehrbuch d. Nervenkrankh. S. 285.
2) Deutsche Zeitschr. f. Nervenh. XII, 5. u. 6. Hft.
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Ueber eine neue Form hereditaren Nervenleiuclio.
85
leichten cerebellaren Ataxie wahrscheinlich. Andererseits lasst sich
eine erheblichere Erkrankung der grauen Vordersaulen bei dem Fehlen
motorischer Ausfallserscheinungen mit Bestimmtheit in Abrede stellen,
wahrend eine Pyramidenstrang-Erkrankung als nicht unwahrscheinlich
anzuseben ist Die moisten Krankheitssymptome aber sind kaum auf
bestimmt localisirte Veranderungen zurfickzufQhren. Nicht einmal far
die Sprachstorung lasst sich angeben, ob sie cerebral oder durch einen
Process in der Kerngegend bedingt ist; und welche Theile des cen-
tralen Nervensystems far das Zustandekommen des Tremors, der Coor-
dinationsstorungen und nun gar erst der Steigerung der mechanischen
Muskelerregbarkeit anzuschuldigen sind, darttber sind die Meinungen
bekanntlich sehr getheilt Ob nun weiterhin eine einfache Hypoplasie
einzelner Theile oder des Ganzen, wie im Falle Nonne, vorliegt, ob
ein Schwund der nervosen Elemente mit entsprechender starkerer Skle-
rosirung etwa in fleckenweiser Ausdehnung anzunehmen ist, oder ob
yielleicht nur bestimmte Fasersysteme erkrankt sind, darttber glaube
ich ebensowenig eine Entscheidung treffen zu konnen, wie mir die
klinische Einreihung der Falle unter die feststehenden Krankheitsformen
nicht angangig erscheini
Suchen wir nun schliesslich uns noch einen Begriff liber die atio-
logische Seite, liber das eigentliche Wesen unserer Krankheit, zu
bilden, so tappen wir hier erst recht vollig im Dunkeln! Weder lasst
sich irgend ein hereditares Moment eruiren, noch kann man ektogene
Einflftsse far die Entwicklung des Leidens verantwortlich machen. Die
schon in der Kindheit bestehende psychische Degeneration beweist,
dass wir es mit einer congenitalen Anlage zu thun haben, aus der
heraus sich dann in den Pubertatsjahren die fortschreitende nervose
Entartung entwickelte. Worin aber jene erbliche Disposition besteht,
wodurch weiterhin die Entwicklung und die Progression des Leidens
bedingt wird und warum von 9 unter den gleichen Verhaltnissen auf-
gewachsenen Geschwistern gerade diese 2, die noch dazu durch meh-
rere gesunde getrennt sind, befallen werden — auf diese Fragen mlissen
wir beim heutigen Stande unserer Kenntnisse die Antwort schuldig
bleiben.
Meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Schultze, spreche ich
fttr die glitige Ueberlassung des interessanten Krankheitsfalles und die
freundliche Durchsicht dieser Arbeit auch an dieser Stelle meinen auf-
richtigsten Dank aus.
Nach Beendigung dieser Arbeit erschien in der Revue neuroL
(15. Jan. 1900) eine Veroffentlichung von Trenel, die ein ahnliches
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III. GIES£, Ueber eine neue Form hereditaren Nervenleidens.
Krankheitsbild wie das unsrige zum Gegenstand bat. Bei 2 Schwestern
(50 und 52 Jahre alt), die von blutsverwandten Eltem abstammen und
in der Kindheit an Krampfen gelitten haben, besteht seit den Puber-
tatsjahren zunehmende Demenz, Tremor der Arme und des Kopfes,
langsamer Gang, Steigerung der Sebnenreflexe, trage Pupillenreaction;
aucb zeigt die Sprache eine gewisse Monotonie und V T erlangsamung,
und bei einer der Kranken bestand andauerndes fibrillares Zittem in
einer Gesichtshalfte. Die Uebereinstimmung mit unserer Beobachtung
ist also eine recht grosse, nur tritt die psychische Storung weit mehr
in den Vordergrund’: die „demence apathique 44 beider Kranken wird
in unregelmassigen Intervallen von hochgradigen Erregungszustanden
unterbrochen; bei der jiingeren Scbwester kommen auch epileptiform©
Anfalle vor. Trenel legt auch das Hauptgewicht auf die psychischen
Stbrungen und betont ihre grosse Seltenheit als Complication der
„spastischen Paralyse 44 , die hier nach seiner Ansicbt in einer forme
fruste vorliegt. Er sieht in diesen Beobachtungen ein Bindeglied zwi-
schen den Formen von familiarem Schwachsinn und familiarer spasti-
scher Lahmung. Unseres Erachtens tritt in diesen Fallen die Aehn-
lichkeit mit der progressiven Paralyse, besonders auch was die psy-
chhschen Anomalien angeht, nocb weit mehr als bei unseren Kranken
in den Vordergrund.
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IV.
Ueber infantile famili&re spastische Spinalparalyse.
Von
Prof. R. v. Krafft-Ebing.
Die folgenden Mittheilungen sollen dazu dienen, weitere klinische
Beobachtungen eines Krankheitsbildes, dessen Bedeutung als eines
spinalen oder cerebralen noch sehr umstritten ist, in strong objectiver
Darstellung zu liefern und fiber den Verlauf frtiher mitgetheilter Be¬
obachtungen (Wiener klin. Wochenschrift. 1892. Nr. 47), die trotz
aphoristischer Darstellung wissenschaftliche Beachtung fanden, zu
berichten.
Sie reihen sich an die in dieser Zeitschrift mitgetheilten Arbeiten
von Erb (VI. S. 137), Hochhaus (IX. S. 291) und von Higier (IX,
H. 1 und 2) einfech an.
Da das Vorkommen einer spinalen spastischen Paralyse im Sinne
Erb's und Charcot’s bei Kindern noch durch keine Nekropsie er-
wiesen ist, da eine solche bei einer an und f&r sich nicht zum Tode
f&hrenden Krankheit und bei jugendlichen Individuen nur von einem
Zufall erwartet werden kann, bleibt keine Moglichkeit, in der Aus-
tragung dieser Streitfrage weiter zu gelangen, als indem man die klinisch
sich bietenden Falle moglichst genau aufzeichnet, in derErwartung, dass,
mit ihrer Haufung, Besonderheiten im klinischen Befund und Verlauf
sich ergeben diirften, welche das Krankheitsbild als ein eigenartiges
und von ahnlichen Bildem sicher cerebraler Bedeutung unterscheid-
hares erscheinen lassen. Ein solcher Versuch scheint mir noch etwas
verfr&ht, weshalb ich mich auf die blosse Mittheilung von an Erb’s,
Newmark’s, Hochhaus* u. A. Beobachtungen eng sich anschliessen-
den Fallen beschranke.
Von dem Bild einer spinalen infantilen spastischen Paralyse waren
jedenfalls alle diejenigen Falle auszuschliessen, bei welchen die Geburt
schwierig oder verzogert war; ferner solche mit Zeichen eines friiheren
Hirnleidens, wobei aber Strabismus oder auch Stottem, da sie nicht
residuare Zeichen eines solohen zu sein brauchen, sondera auch zufal-
lige Complicationen darstellen konnen, nicht unbedingter Ausschliessungs-
grund sein mtissten. Nahestehenden spinalen Krankheitsbildern gegen-
Uber, mit complicirenden Erscheinungen als Hinweisen auf Degeneration
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IV. Krafft-Ebing
noch anderer Gebiete, als die der Seitenstrange, ware die Forderung
des Nichtvorhandenseins von Blasen- und Sensibilitatsstorungen, sowie
von Muskelatrophien im Krankheitsbilde festzuhalten.
Familie K . . .
Die 3 Kinder, deren Krankheitsgeschichten im Folgenden mitgetheilt
werden, stammen ans nnbelasteter Familie. Deren Eltem raachen korper-
lich und geistig einen dnrchans normalen Eindmck. Sie sind nicht bints-
verwandt. Sie zengten 7 Kinder. Syphilis lftsst sich sicher ausschliessen,
1. Jacob K., gestorben mitl6*/ 2 Monaten an Diphtheritis. Qatte sich
bis dahin normal entwickelt.
2. Heinrich (Fall I), 12 Jahre alt.
3. Jgnaz, jetzt 10 Jahre alt. Gesund.
4. Wilhelm, gestorben mit 2 Jahren an Pnenmonie. Hatte keine
Gangstbrung gehabt.
5. Alexander, jetzt 8 Jahre (Fall II).
6. Hans, jetzt 4 Jahre (Fall in).
7. Anna, jetzt 18 Monate alt. Normale Entwicklung.
Die Graviditaten and Geburten sind bei s&mmtlichen Kindem normal
verlaufen. Sie kamen rechtzeitig und ohne Kunsthiilfe zur Welt. Keines
derselben war asphyktisch gewesen. Ausser bei Heinrich, der mit 8 Tagen,
angeblich durch eine heisses Bad, einen einmaligen Anfall von Convulsionen
hatte, waren niemals cerebrale Insulte vorgekommen. Auch von Tranmen
oder Krankheiten wfthrend der Schwangerschaft wusste die intelligente
Mutter nichts zu berichten.
Sftmmtliche Kinder, ausser 2 und 6, konnten schon mit Ende des
ersten Lebensjahres laufen.
Fall L
Bei Heinrich fiel schon im 5. Monat nach der Geburt eine Unge-
geschicklichkeit der Beine auf. Er begann erst mit 2 Jahren zu sitzen
und zu gehen und zwar auffallend unbeholfen. Die Gehstorung hat sich
im Laufe der Jahre zunehmend verschlechtert, besonders im letzten Jahre.
Er konnte nie zur Schule kommen, lernte aber daheim und bewftltigte
im 10. Jahre den Lehrstoff der 4. Volksschulklasse.
Er machte mit 6 Jahren gleichzeitig mit seinem Bruder Alexander
Diphtheritis durch. Seit dieser Zeit habe seine Gehstbrung sich besonders
verschlimmert Er soil bis zum 7. Jahre geschielt haben.
Der Stat. praes. vom 30. Sept. 1899 ergiebt einen dem Alter ent-
sprechend korperlich entwickelten Jungen. Schadelbildung und Zahne deuten
auf iiberstandene Rachitis. Der Umfang des Schadels betrftgt 520 mm.
Die psychische Entwicklung ist eine dem Alter entsprechende. Der Befund
seitens der Hiranerven ist ein negativer — keine Abblassung der Papillen,
kem Nystagmus, keine Sprachstbrungen. Seitens der ob. Extr., ausser einer
leichten Steigerung der tiefen Reflexe, nichts Abnormes. Die Wirbels&nle
zeigt eine leichte Lordose im Lendentheil. Patient h&ngt mit dem Rumpf
nach hinten iiber. In sitzender Position ist er in best&ndiger Gefahr nach
rtickwarts zu sinken und vom Sessel herabzugleiten. Pat vermag nur ganz
kurze Zeit breitbasig und mit aneinander gelehnten Knieen zu stolen. Er
ermiidet dabei iiberaus rasch und droht nach riickwarts zu stiirzen. Aus
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Ueber infantile familiars spastische Spinalparalyse.
89
liegender Position vermag er sich nothdiirftig frei anfznrichten. Ira Sitzen
sind die Beine in stnmpfem Winkel gebeugt nnd aneinander gepresst, die
Fnsse addncirt nnd volarflectirt. In Rohe zeigen sicb nnr die Wadenmnskeln
nnd die Adductoren der Oberschenkel rigid.
Bei passiver Bewegung nnd beim Gehact entsteht spastische Starre in
den Hdft- and Kniegelenken. Bedentende Herabsetznng der groben Muskel-
kraft zeigt sich in den.Streckern, Bengern nnd Abdnctoren des Hiiftgelenks,
den Streckern des Kniegelenks and den Volarflexoren der Fnssgelenke. Ge-
lfthmt sind die Dorsalflexoren.
In den Hiift- nnd Kniegelenken ist die active Beweglichkeit theils dnrch
Schwftche, theils dnrch Starre beschrhnkt. Minimal ist die F&higkeit Fuss
nnd Zehen plantarw&rts zu bengen. Dorsalw&rts ist diese Leistnng un-
mftglich. Die Wadenranscnlatnr erscheint danernd in einem Zustand mitt-
lerer Contractor dnrch L&hmung der Antagonisten, mit leichter Eqninus-
stellnng der Fiisse.
Gehen ist nnr moglich mit Untersthtzung, bei nach riickwarts strebendem
Rnrapf, sich vorschiebendem Becken, einknickenden Hiift- nnd Kniegelenken,
die aneinander sich reiben, mit sich wblbenden Fhssen, einkrallenden Zehen
nnd anf den inneren Fnssrand einstellenden Fhssen, die am Boden leicht
schleifen.
Das Volnmen der Muskeln der nnt. Extr. ist ein gates, bis anf Schm&ch-
tigkeit der Wadenmnskeln.
Die elektrische Prhfung mit dem faradischen nnd galvanischen Strome er-
giebt bei Pat., gleich wie bei seinen Geschwistern, durchaus normals Reactionen.
Vasomotorische Sthrungen bestehen nirgends.
Die Patellarreflexe sind hochgradig gesteigert. Der Achillesreflex
lhsst sich nicht hervorrufen. Die plantaren Reflexe sind vorhanden, aber
dnrch die spastische Starre der oberen Gelenke nnd dnrch die L&hmung im
Fnssgelenk von geringem Effect.
Sensibilit&t, Blasen- nnd Mastdarmfunction sind tadellos.
Fall IL
Alexander, 8 Jahre alt, soli bis zum Ende des 2. Lebensjahres sich
normal entwickeltjhaben nnd tadellos gegangen sein. Erst in der Recon-
valescenz von Diphtheritis bemerkte seine Mutter eine allm&hlich uberhand-
nehmende, sphter schnbweise sich verschlimmernde Gehstomng, die namentr
lich seit 1898 zngenommen habe.
Status praesens 24. September 1899. Dem Alter entsprechend ent-
wickelt, ohne Spnren von Rachitis. Schftdelnmfang 515 mm. Vegetativ ohne
Befnnd.
Pat. scheint geistig etwas zurhckgeblieben, hat aber anstandslos den
Lehrstofi der 1. Volksschulklasse bei hhuslichem Unterricht absolvirt Er
ist weniger gespr&chig, als seine Geschwister. Die Sprache ist etwas
8chwerfhllig, langsam, aber dnrchans nicht scandirend. Bei Erregung wird
sie leicht stotternd. Dieses Stottern soil erst mit 7 Jahren, als Pat. seine
Milchz&hne verlor, anfgetreten sei. Pat. zeigt nach Entfernnng von massen-
haften adenoiden Vegetationen ans dem Nasenrachenraum eine bedentende
Bessernng seiner Sprache. Es besteht bei ihm Strabismus convergens alter¬
nant Sonst absolnt keine Sthrnng im Hirnnervengebiet, speciell kein
Nystagmus, keine Anomalien am Augenhintergrund. An den oberen Extremi-
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IV. Krafft-Ebing
t&ten l&sst sich, ausser einer geringfiigigen Steigerung der tiefen Reflexe.
nichts Abnormes auffinden.
Pat hat Miihe frei aufrecht zu sitzen. Er sitzt nach vorn iiberge-
beugt und ist kaum im Stande sich aus der Riickenlage frei aufzurichten.
Die Bauchdeckenreflexe sind rechts and links gleicb lebhaft entwickelt.
Wirbels&ule ist ohne Deviation. In der Ruhe sind Ober- nnd Unter-
schenkel in stumpfem Winkel gegeneinander gestellt, die Fusse in ausgebildeter
Varoequinustellung, die grossen Zehen ofter in Hyperextensionsstellung.
Bei activer Bewegung zeigt sich leicht herabgesetzte Muskelkraft in
den Muskein der Hiiftgelenke, starkere Herabsetzung in den Streckem der
Kniee nnd der 4 letzten Zehen. den Volarflexoren der Fussgelenke nnd den
Bengern s&mmtlicher Zehen. Vollstandige Lahmung beiderseits im ganzen
Peroneusgebiet.
Bei passiver Bewegung findet sich Rigor in den Adductoren der Ober-
schenkel, den Extensoren nnd Flexoren der Kniee. Die Varoequinnsstellnng
der Fusse (Contractur) ist nicht ausgleichbar.
Stehen nnd Geben ist nnr mit Unterstiitznng moglich. In beiden Fallen
knickt Pat. in deh Kniegelenken ein. Diese werden aneinander gepresst. Die
Gelenkbander sind insufficient an der Innenflache der Gelenke, so dass eine
Andeutnng von X-Fuss entsteht Die Locomotion erfolgt wesentlich durch
Verschieben des Beckens, wobei die Beine wie Stelzen fungiren nnd Pat.
ausschliesslich auf der Spitze des Fusses auftritt.
Die Mnsculatur der Unterschenkel zeigt eine geringe Abmagerung.
Die Fusse sind leicht cyanotisch, die Patellarreflexe sind hoch gesteigert.
Achilles- und Plantarreflex sind wegen Starrheit im Fnssgelenk nicht zu
priifen. Sensibitliat, Blase nnd Mastdarm zeigen ganz intacte Function.
Fall III.
Han8, 4 Jahre, soil an Rachitis gelitten haben. Mit 2 Jahren erst
begann er zu laufen. Man bemerkte schon damals eine Gehstorung, die sich
seither immer verschlechterte. Geschielt hat das Kind von jeher. Auch die
Sprache war von Anfang an erschwert, leicht lallend.
Status praesens vom 24. September 1899: Dem Alter entsprechend
entwickeltes, gut genfchrtes, lebhaftes, intelligentes Kind. Keine Spuren
von Rachitismns. Schftdelumfang 500 mm. Sprache etwas schwerfftllig, in
der Entwicklnng znriickgeblieben, leicht anstossend, aber sicher nicht scan-
dirend, iiberhaupt nicht von pathologischem Gepr&ge. Strabismus convergens
alternans. Im Uebrigen Hirnnerven ohne irgend welche Functionssttirnng.
An den ob. Extr. sehr prompte tiefe Reflexe, sonst kein Befnnd. Hal-
tung gut. Sitzen, Aufrichten aus der Riickenlage ungestbrt, Wirbel-
s&ule ohne Deviation. Im Sitzen ist Pat. nnr auff&llig durch aneinander
gepresste Beine, Varoequinustellung der Ffisse mit dorsalflectirten grossen
Zehen.
Die active Bewegung ist im Hiift- und Kniegelenk ungestbrt, in den
Sprunggelenken fast aufgehoben, in den grossen Zehen sehr gering. Bei
passiver Bewegung zeigt sich Rigor nur in den Adductoren. Die Sprung-
gelenke sind fast unbeweglich durch Contractur der Volarflexoren. Die
grobe Muskelkraft ist in den Streckem und Beugern der Hiift- und Knie-
gelenke herabgesetzt.
Beim Versuch allein za stehen, filllt Pat. nach riickw&rts.
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Ueber infantile familiare spastische Spinalparaiyse.
91
Auch das Gehen ist nur mit Untersttttzung moglich. Der Gang ist
nicht spastisch, insofern Hiift- und Kniegelenke frei beweglich sich. Da
aber die Strecker dieser Gelenke insufficient sind, erfolgt sofortiges Ein-
knicken, wenn die KOrperlast auf ihnen rnhen soli. An Spasmus (der Adduc-
toren) erinnert nur die Neigung zum Ueberkreuzen der Beine. Die Fiisse
werden gut gehoben, aber Pat. setzt nur die Spitzen derselben auf und ge-
rilth dabei auf den ftusseren Fussrand. Der Patellarreflex ist sehr gesteigert.
Der Achillesreflex ist bei der Contractor im betr. Muskelgebiet nicht aus-
1 os bar. Der Plantarreflex ist erhalten. Trophische und vasoniotorische
Stdrungen bestehen nicht. Sensibilitfit normal, desgleichen Function von
Blase und Rectum.
Epikrise.
1. In den vorstehenden 3 Fallen handelt es sich sicher um ein
familiares Leiden, das bei I und III sich schon in den ersten Lebens-
monaten, bei II erst nach einer Infectionskrankheit (Diphtheritis) ent-
wickelte und einen progressiven Verlauf aufweist.
2. Alle atiologischen Bedingungen ftir eine cerebrale Erkrankung
im Sinne einer sogenannten Little’schen Lahmung fehlen, desgleichen
die Merkmale der Mitbetheiligung der ob. Extr., des halbseitigen Ueber-
wiegens der Functionsstorungen der Motilitat, sowie der Stabilitat Oder
der Besserung der Symptome.
3. Ausser den Zeichen einer spastischen Spinalparaiyse finden sich
gewisse cerebrale Functionsstorungen, die, als zum Bild einer spinalen
Erkrankung nicht gehorig, vorweg eine Besprechung und Deutung
verlangen.
Es sind dies geistige Minderwerthigkeit, Strabismus und Storungen
der Sprache in Fall II und III.
Die geistige Insufficient erscheint aber nicht als stabile oder
gar progressive, sondern als verspatete Entwicklung bei allerdings
nichts weniger als glanzender Veranlagung und wird bei vielen schwach
veranlagten, besonders bei rachitisch gewesenen Kindern sehr haufig
gefunden, ohne eine Beziehung auf eine grobe organische Grundlage
zu gestatten.
Der Strabismus, welcher bei I bis zum 7. Jahre bestand, bei
II und III bisher andauert, wird von einer Autoritat (Doc. Bern-
heimer) als fttr die Frage, ob es sich hier um eine spinale oder cere¬
brale Erkrankung handelt, ganz irrelevant bezeichnet und auf vor-
handenen Astigmatismus und Hypermetropie zuriickgefQhrt. Bemerkt
muss werden, dass der Augenhintergrund keine pathologischen Ver-
anderungen aufwies.
Die Stbrung der Sprache ist eine durch verlangsamte und un-
geschickte Innervation bedingte, wie sie bei langsam sich entwickelnden
und weniger gfinstig veranlagten Kindern ganz gewohnlich ist.
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92
IV. Krafft-Ebing
Beschaftigt man sich eingehend mit den betreffenden Kind era,
lasst man sie dieselben Worte ofters wiederholen, so bessert sich die
Aussprache. Jedenfalls ist die Sprachstorung regressiv, besserungsfahig,
was sich besonders bei II aus dem sofortigen Erfolg der Entfernnng
von adenoiden Vegetationen im Nasenrachenraum zeigte. Eine orga-
nische, etwa nucleare, bulbare Sprachstorung lasst sich hier bestimmt
nicht annehmen. Ueberhaupt yollziehen sich alle bulbaren Functionen
tadellos.
4. Die sonstigen Functionsstorungen sind ausschliesslich auf eine
Erkrankung der Pyramidenbahnen beziehbar.
Sie bestehen theils in Spasmen, theils in Lahmungen der Muscu-
latur der unt Extr., wobei distal die Lahmungen, proximal die Spasmen
tiberwiegen. Die 3 Falle weisen nur dem Alter der Erkrankung ent-
sprechende Intensitatsunterschiede auf.
Speciell findet sich an Fuss- und Zehengelenken Lahmung der
Peroneusmusculatur mit antagonistischer Contractur und Entwicklung
von Pes equinus. An den Knie- und Fussgelenken constatirt man der
Dauer und dem Grad des Leidens entsprechende Spasmen und Paresen,
bis zum Verlust der Fahigkeiten des Stehens und Gehens.
5. Es ergiebt sich daraus die Berechtigung, eine langsam fortschrei-
tende Degeneration in spinalen Abschnitten der Pyramidenbahnen
anzunehmen, und die Vermuthung, dass diese von Geburt aus minder-
werthig veranlagt und gegen Schadlichkeiten (Toxine, functionelle In-
anspruchnahme) nicht genug widerstandsfahig waren. Die Moglichkeit,
dass diese Bahnen schon in hoheren Abschnitten oder gar in corticalen
Centren auf Grund von Entwicklungshemraungen solcher, als distale
Abschnitte der gesammten corticomuscularen Bahn schwach veranlagt
waren, kann nicht absolut ausgeschlossen werden, immerhin ware es
dann sonderbar, dass bios die Fuss- und nicht auch die Armbahn
betroffen ware. Auch der Umstand, dass es sich in keinem der Falle
um Frtthgeburt handelte, ware in Betracht zu ziehen.
Zu denken ware endlich noch an spastische Paralyse durch Druck-
wirkung eines Hydrocephalus chronicus internus.
Zeichen eines solchen bieten aber unsere Falle nicht. Wir ver-
missen den blasigen Schadel mit 600 mm Circumferenz und drhber,
die Veranderungen am Augenhintergrund im Sinne von Atrophia n.
optic, oder Stauungspapille, die schwere Schadigung der Intelligenz, die
Mitbetheiligung der ob. Extr. an der spastischen Paraplegie der unt Extr.,
wenn auch nur in Form von Ataxie, die haufigen Convulsionen, die
allgemeinen Dystrophien, wie sie die spastische Paralyse durch Hydro¬
cephalus zu bieten pflegt
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Ueber infantile familiare spastische Spinalparalyse.
93
Die folgende, aus einer Reihe solcher Falle ausgewahlte Beobach-
tung moge den klinischen Unterschied von den vorausgehenden
klarstellen.
Beob. Spastische Spinalparalyse durch Hydrocephalus chronicus.
W., 17 Jahre, Sohn eines Bahnwkrters, aufgenommen am 6 . Nov. 1894
in meiner Klinik, stammt von gesunden Eltern. Graviditat der Matter and
Gebnrt des Kindes verliefen normal. 2 Geschwister sind voUkommen ge-
sund. 1m 10. Lebensmonat begann bei W. ohne bekannte Ursache and
ohne Beschwerde eine fortschreitende Volumzanahme des Kopfes. Pat.
fing mit 6 V 3 Jahren an die Schule zu besuchen. Er fasste ziemlich gut
auf, ermiidete geistig rasch und bekam beim Lernen gleich Kopfweh.
Vom 10. Jahre ab erfolgte Stillstand in der geistigen Entwicklung und
bei jedem Versuch, zu lernen, so heftiger Kopfschmerz, dass Pat. nicht in
der Schule bleiben konnte. Um die gleiche Zeit (1887) erfolgte rasche
Ermftdung der U.-E. beim Stehen und Gehen. Pat. wurde muskelschwach
and starr in den U.-E.
Pat. erschien im Stat. praesens mittelgross, krftftig, ziemlich gut ge-
nahrt. Schadel kugelig aufgetrieben. Umfang 630 mm. Psyche u. Gehirn-
nervenfunction bis auf erheblichen Schwachsinn ungesttfrt.
O.-E. ausser leichter Steigerung der tiefen Reflexe, herabgesetzter
Leistnng in einzelnen Schultermuskeln und leichter Ataxie ohne Befund.
Speciell keine Spasmen.
U.-E. Rigiditat und motorische Schwache in einzelnen Hiiftgelenksmuskeln.
Rigor bei passiven Bewegungen in alien Gelenken. Klassisch paretisch-
spastischer Gang mit scharrenden Fiissen. Keine Difformitat in den Ge¬
lenken. Patellar- und Fussclonus, Sensibilitat intact. Blasen- a. Mast-
darmfunction ungestort.
Familie R . . . .
Die vorausgehenden Falle Heinrich, Alexander, Hans K. erinnern an
3 in der Sitzung vom 18. Nov. 1892 d. k. k. Gesellschaft der Aerzte in
Wien 1 ) von mir vorgestellte, einer Familie R. angehSrige Kinder, die ich
als Typen familiarer spastischer Spinalparalyse bezeichnet hatte. Die Matter
dieser Kinder, aus unbelasteter Familie, hatte in erster Ehe 2 Sflhne ge¬
boren, die gesund blieben. In zweiter Ehe mit einem unbelasteten, nicht
blutsverwandten Manne hatte sie noch zehnmal ohne Kunsthiilfe geboren.
Anch in der Graviditat batten sich weder Traumen noch schwere Krank-
heiten ereignet Von diesen 10 Geburten waren gewesen:
1 . Knabe. Achtmonatkind. Vom 5.—11. Jahr AnfUlle von nachtlichem
Aufschrecken. Seithef gesund.
2. Abortus im 3. Monat.
3. Hermann, rechtzeitig geboren. Spastische Gliederstarre.
4. Madcben, ausgetragen. Mit 4 Wochen an Pneumonie nnter Convul-
sionen gestorben.
5. Knabe, ausgetragen. Mit 5 Monaten bfter Anfaile von Laryngo-
spasmus, spater gesund.
1 ) Wiener klin. Wochenschr. 1892. Nr. 47. S. 681.
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IV. Krafft-Ebing
6. Hermine, ausgetragen. Lernte mit 15 Monaten gehen. Normal©
Entwicklung bis zura 5. Jahr. Damals Morbilli. Im Anschluss Entwick-
lung spastischer Gliederstarre.
7. Knabe, ausgetragen, gesund.
8. Knabe, ausgetragen. Morbilli, Pneumonie, ohne Folgeerscheinungen.
9. Rudolf, Siebenmonatkind. Seitdem 3. Jahr spastische Gliederstarre.
Ich hatte Gelegenheit die 3 kranken Geschwister 6 Jahre nach ihrer
erstmaligen Demonstration neuerlich eingehend zu beobachten. Da sie
Gegenstand wissenschaftlichen Interesses waren und der Verlauf des Leidens
nicht unwichtig fur die Beurtheilung der Krankheitsfaile ist, komme ich
auf sie zuriick, indem ich, den Stat. praesens von 1892 kurz recapitulirend,
den von Ende Mai 1899 mittheile.
I. Hermine, 17 Jahre alt. Ungestbrte Graviditat der Mutter, recht-
zeitig und ohne Kunsthulfe geboren. Normale Entwicklung. Vermochte an-
standslos mit 15 Monaten zu gehen.
Im Anschluss an Morbilli mit 5 Jahren zunehmende „Schw&che der
U.-E., haufiges Fallen*". Zunehmende Steitigkeit der Beine, besonders links.
Im Status 1892: Sch&del leiclit rachitisch, Umfang 530 mm, Korper-
lange 137 cm.
Andeutung von Nystagmus bei extremer Einstellung der Bulbi. Sonst
keine Stbrung seitens der Hirnnerven. Geistige Entwicklung bei dem
12jahrigen M&dchen gut. O.-E. ausser leicht auslosbaren tiefen Reflexen,
ohne Befund.
Stehen etwas breitbeinig, in den Knieen leicht einsinkend.
Gang sicher, aber behindert durch wesentlich spastische Erscheinungen
in Knie- und Fussgelenken. Hiiftgelenke frei von Spasmus. Passiv nur im
1. Kniegelenk etwas Rigor.
Gang im Ganzen gehemmt, schlappend, spastisch, mit den Fussohlen
anstreifend. Neigung zum Ueberkreuzen der Fiisse. Grobe Muskelkraft
ein wenig herabgesetzt.
Patellarreflexe bedeutend erhoht. Die Bewegungsstorungen in der 1. U.-E.
etwas mehr vorgeschritten als rechts.
Sensibilitat normal. Blase, Rectum intact.
Status vom 25. Mai 1899: Kraftig gebaute, gut entwickelte Persbn-
lichkeit. Vegetative Functionen normal, Menses regelmassig, ohne Be-
schwerden. Ausser leichtem Strabismus convergens alternans und Spur von
Nystagmus bei extremer seitlicher Einstellung der Bulbi an den Hirnnerven
keine Abnormitat. Intelligenz sehr gut entwickelt. Hat nie Convulsionen
oder epilepsieverdachtige Erscheinungen geboten. O.-E. ohne alle Abnor¬
mitat (Reflex© nicht in ihrem Bereich gesteigert). Bauchdeckenreflexe nor¬
mal. Wirbelsaule ohne Deviation. Voiles Wohlbefinden bis auf Bewegungs-
storungen an den U.-E. Muskelkraft trotz gutem Volumen etwas herab¬
gesetzt, besonders in den Beugern des Hiift-, des Kniegelenks und den
Dorsalflexoren des Sprunggelenks. Leichte Rigiditat bei passiven Be-
wegungen in den Fussgelenken, Kniestreckern und in der Wadenrousculatur.
Im Stehen Hiift- und Kniegelenke leicht gebeugt und Kniee aneinander
gepresst.
Gang spastisch-paretisch, mit Verschiebuug des Beckens und anstrei-
fenden Fusssohlen, aneinander reibenden Knieen, gebeugten Hiift- und Knie-
gelenken. Beiderseits Patellar- und Fussclonus. Keine trophischen, keine
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TJeber infantile familiare spastische Spinalparalyse.
95
vasomotorischen Stbrungen. Normal© elektrische Reactionen. Sensibilitat
in alien Qualitaten intact. Blase, Rectum ungestort.
Der Befund in den letzten Jahren ist somit sehr langsame Progression
der spastiscben und paretischen Erscheinungen an den Unt.-Extr. proximal-
warts, mit erheblicher Steigerung der tiefen Reflexe (Fussclonus!).
II. Rudolf. 12 Jahre. Siebenmonatkind. Bald nach der Geburt Ohren-
fluss, nie Convulsionen. Lernte mit 18 Monaten geben, ging normal. Be-
gann mit 3 Jahren ohne vorherige Krankheit die Beine zu schleppen und
zu schleifen. Pat. im Stat. von 1892 dem Alter entsprechend entwickelt,
korperlich und geistig. Schadelumfang 530 mm. Hirnnerven functioniren
normal. An den oberen Extremitaten keine Anomalien. Beim Stehen nur
breitbeinige Stellung und leichte Unsickerheit. Gang schwerf&llig, breit-
spnrig, schleppend. Mangelhafte Abhebung der Fiisse vom Boden. Muskel-
volum und grobe Muskelkraft nicht geschadigt. Beim Liegen keine Stbrung
im Bewegungsumfang beider U.-E. Patellarreflex erheblich gesteigert. Rein
Fussclonus. Sensibilitat, Blasen-, Mastdarmfunction intact.
Status vom 23. Mai 1899. Voiles Wohlbefinden, gute geistige und
korperliche Entwicklung. Genitalien noch infan til.
Spuren von Rachitis an Schadel, Zalinen, Schienbeinen. Schadelum-
fang 545 mm. Leichter Grad von Strabismus divergens altern. An Cere-
bralnerven sonst keine Abnormitat, ebensowenig an Rumpf und oberen
Extremitaten. Bauchhautreflex prompt. Pat. kann sich frei aus horizontaler
Lag© aufrichten. Muskeln der Unterextremitaten etwas schmachtig, aber
nirgends localisirte Atrophie. Grobe Muskelkraft in alien Gelenken herab-
gesetzt, besonders aber in Hiiftbeugern, Xniebeugern und Dorsal- und Volar-
llexoren der Sprunggelenke. Die Kniee etwas schlotterig und nach riickwarts
iiberstreckbar. Die Fiisse plantarflectirt, die Fusswolbung verschwunden.
Rigor in Hiift- und Kniegelenken, Fussgelenke davon frei. Stehen mit
leicht gebeugten Hiift- und Kniegelenken, stark geneigtem Becken, ge-
kriimmtem Riicken. Die Fersen erreicben nicht den Boden. Gang un-
beholfen, steif, mit eingesunkenen Knieen, leichter Equinusstellung, an-
streifenden Vorderfussen und sich vorschiebendem Becken. Elektrische
Reaction normal. Tiefe Reflexe bis zu Clonus gesteigert. Plantarreflex
erhalten. Sensibilitat und Function der Sphincteren ungestort.
Auch in diesem Falle langsame Progression der auf die Unt.-Extr.
beschrankten Erscheinungen im Sinne spastischer Parese.
III. Hermann, 21 Jahre. Spatgeburt. Fiel schon in dem ersten
Lebensjahre dadurch auf, dass er die Beine iibergeschlagen hielt. Mit
15 Monaten Morbilli und Pneumonie. Seither schwachlich, in der Ent¬
wicklung zurflckgeblieben. Rutschte bis zum 5. Jahre auf dem Boden mit
gestreckten Knieen. Lernte erst mit 5 Jahren stehen und gehen. Er war
schwach auf den Fiissen, fiel oft um, war aber sonst nicht auffallig beim
Gehen. Vom 6. Jahre ab zunehmende Schwache der Unt.-Extr. und be-
ginnende Versteifung derselben, so dass er vom 10. Jahre ab sich an den
Spielen der anderen Kinder nicht mehr betheiligen konnte.
Status vom 28. Juni 1892. Die Gehstorung soil seit 5 Jahren nicht
mehr zugenommen haben. Pat. 15 Jahre alt, kflrperlich und geistig gut
entwickelt. Schadelumfang 540 mm. Spuren von Rachitis. Zunge weicht
beim Vorstrecken nach rechts ab. Bei extremer Augenstellung seitwarts
oder nach oben leichter Nystagmus. Bei aufrechtem Stehen arcukre Kyphose
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IV. Krafft-Ebing
der Brust- und Lendenwirbels&ule. Ueberdies leichte Dextroskoliose. Kniee
leicht gebeugt. Pat. kann sich ohne Unterstutzung aufsetzen. Functionen
der Ob.-Extr. tadellos. Tricepsreflex gesteigert.
An U.-E. die Musculatur gut entwickelt bis auf die der Waden. Grobe
Muskelkraft entsprechend. Nirgends Lahmung, aber Bewegungen im Htift-
und Sprunggelenk auffallend langsam und von geringer Excursion. Im
Kniegelenk ist voile Streckung nicht moglich. In diesem, sowie im Hiift-
gelenk erheblicher, die passive Bewegung sehr behindemder Bigor. Fuss-
gelenke davon frei. Gang spastisch-paretisch, unbeholfen, schiebend, bei
leicht gebeugten und starren Hiift- und Kniegelenken, mangelhaft vom Boden
abgehobenen Fiissen. Dabei best&ndige Neigung der Beine kreuzweise sich
iibereinander zu schieben. Patellar- und Fussclonus. Intacte Sensibilit&t
Ungestdrte Blasen- und Mastdarmfunction.
Status vom 23. Mai 1899. Pat. blieb inzwischen von Krankheiten
verschont, ist gut gewachsen, intelligent. Spuren von Rachitis. Sch&del-
umfang 550 mm. Leichter Strabismus converg. alternans. Nystagmus wie
friiher. Zunge ein wenig nach rechts abweichend. Sonst nichts Abnormes
im Gebiet der Hirnnerven, ebensowenig an den O.-E., ausser einer Druck-
atrophie an Muskeln des rechten Daumenballens durch den Griff eines Stockes,
auf den sich Pat. beim Gehen stutzt.
Kyphose unver&ndert. Aufrichten aus horizontaler Position nur mehr
mit Unterstutzung mbglich. Unt.-Extr.: geschweifte Tibiae, leichter Grad von
Pes planus. Musculatur von geringem Volum, aber nirgends locale Atrophie.
In alien Muskeln der Hiift- und Kniegelenke starker, passive Bewegung
sehr erschwerender Rigor, von welchem nur die der Fuss- und Zehengelenke
frei sind.
Am st&rksten ist der Rigor in den Adductoren. Die Kniee sind selbst
in Ruhelage fest aneinander gepresst. In alien Muskeln erhebliche Herab-
setzung der groben Kraft, besonders aber in denen der Sprunggelenke. Die
Muskeln der grossen Gelenke ftihlen sich derb an und bei gestreckter Stellung
sind sie geradezu starr.
Im Fussgelenk bestehen beiderseits trophische Storungen (Verdickungen)
und bemerkt man Knarren bei passiver Bewegung.
Der Gang ist miihsam durch Rigor und Schw&che, mit leicht gebeugten
und starren Hiiftgelenken und Neigung zum Ueberkreuzen der aneinander ge-
pressten Kniee.
Er erfolgt wesentlich durch Vorschiebung des Beckens, wobei die Fusse
nor als Stelzen dienen. Die Fusssoblen streifen am Boden. Es besteht
Patellar- nnd Fussclonus. Bauchhaut-, Cremaster- und Plantarreflex normal.
Elektrische Reaction ohne Abweichung von der Norm. Sensibilit&t, Blase,
Rectum ohne Stoning.
Die Progression der spastischen Parese in den letzten 6 Jahren ist
eine deutliche.
Die Deutung dieser 3 F&lle bei ihrer Demonstration 1892, im Sinne
einer Erkrankung des spinalen Abschnittes der Pyramidenbahnen, mttglicher-
weise ausgehend von einer dorsolumbaren Bildungshemmung, stiess auf Wider-
spruch (Prof. Ober Steiner), indem diese F&lle der Little'schen Lahmung
zugesprochen wurden, obwohl vom Vortragenden der Mangel atiologischer
Momente, das Freibleiben der O.-E., die gleich intensive Erkrankung
rechts und links, das Fehlen von Symptomen in der ersten Zeit nach der
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Ueber infantile f&miliare spastische Spinalparalyse.
97
Geburt, der progressive, nicht station&re oder regressive Charakter des
Leidens, die urspriingliche Beschrankung desselben auf Spasmen, bei Fehlen
von L&hmungserscheinungen gel tend gemacht wnrde. Anch Freud in seinem
trefflichenBuche(„Die infantile Cerebraliahnmng.“ 1897. S. 259) glanbte diese
F&Ue als zur Little’schen Krankheit gehorig und somit cerebralen Ur-
sprungs denten zu miissen, w&hrend Souqnes, Erb, Hochhaus sie fur
solche spinaler Localisation erkl&rten. Dem Wunsche Erb’s (Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilknnde. Bd. VI. S. 149) nach Publication weiterer der-
artiger Falle entspreche ich durch folgende nach meiner Meinnng ins Ge-
biet der familiaren spastischen Spinalparalyse gehorige Beobachtung.
Beob.... H. L., 9 Jahre alt, mos., normal geboren, aus Galizien, wurde
am 6. October 1892 auf meiner Klinik aufgenommen. Die Mutter soli
neuropathisch sein und viel an Cephalaea leiden. Pat. hat 5 Briider und
1 Schwester. Ein alterer Bruder soli etwa im 5. Lebensjahr in gleicher
Weise erkrankt sein wie unser Pat. und neuerlick nicht melir gehen kbnnen.
Pat. versichert, friiher gesund und ebenso gehfahig gewesen zu sein, wie
die 5 gesund gebliebenen Geschwister. Ohne erkennbare Ursache sei sein
Gang vor 2 Jahren ungeschickt, schwach, schwerfailig geworden und seither
sei er immer schlechter gegangen. Schmerzen, Blasen- oder Mastdarm-
stbrungen habe er nie gehabt.
Im Status praesens erscheint Pat. seinem Alter entspreckend entwickelt.
Der Sch&del ist rachitisch-hydrocephal, Umfang 52,7 cm.
Im Gebiet der Hirnnerven ist keine Functionsstorung nachweisbar.
Die Intelligenz lasst nichts zu wiinschen iibrig.
An irgend welchen cerebralen Insulten, Convulsionen und dergl. soli
Pat. nie gelitten haben. In den Ob.-Extr. l&sst sich ausser einer Steigerung
der tiefen Reflexe nichts Abnormes constatiren.
Pat. ist skoliotisch, seine Haltung leicht vorniiber geneigt, das Abdomen
stark vorgewblbt. Beiderseits Genu recurvatum m&ssigen Grades.
Freies Stehen, selbst bei breiter Basis, fallt schwer. Romberg negativ.
Die Unt.-Extr. sind trophisch intact. Der Gang ist unbeholfen, steif,
mit leicht gebeugtem Hiift- und Kniegelenk. Fuss- und Kniegelenk werden
dabei steif gehalten und die Vorwartsbewegung gelingt wesentlich nur durch
Vorschiebung des Beckens.
Die Fiisse konnen vom Boden nicht abgehoben werden.
Auch in horizontaler Position ist die active Bewegung durch Steifig-
keit sehr behindert und in Folge herabgesetzter grober Muskelkraft bald
vereagend. Bei passiver Bewegung ist kaum Rigidit&t zu bemerken. Die
Selbstaufrichtung aus horizontaler Lage ohne Zuhiilfenahme der Arme ist
nicht moglich.
Die tiefen Reflexe sind sehr gesteigert, ab und zu l&sst sich Fussclonus
erzielen.
SensibilitSlt, Blasen- und Mastdarmfunetion intact.
Pat. verweilte nur wenige Tage auf der Klinik.
Irgend welche Hinweise auf eine secund&re Bedeutung der spastischen
Spinalparalyse liessen sich nicht auffinden.
Bezflglich der Aetiologie der Falle von familiarer spastischer
Spinalparalyse scheint es mir nicht ohne Werth, auf die Bedeutung
etwaiger Blutsverwandtschaft der Erzeuger zu verweisen, auf die schon
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilknnde. XVII. Bd. 7
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98 IV. Krafft-Ebing, Ueber infantile famili&re spastische Spinal paralyse.
Seeligmtiller (Jahrb. f. Kinderheilkde. 1879. S. 228) bei hereditaren
und familiaren Formen von Paralyse, spater auch Feer (Jahrb. f.
Kinderkrankheiten. 1890) aufmerksam gemacht haben. Jenes degene-
rative atiologische Moment findet sicb aucb in Fallen von Hanshalter,
Higier (op. cii), femer in Erb’s (op. cit.) Fallen.
Ich kann es mir nicht versagen, eine Beobachtung hier anzureihen,
die, wenn sie auch einen Fall von familiarer spast Spinalparalyse bei
Erwachsenen betrifft, dieses Moment in pragnanter Weise aufzeigt.
Beob.Herr F., Dr. jur., 37 Jahre, aus Ungarn, consultirte mich am
18. Juli 1893 wegen eines seit 10 Jahren bei ihm bestehenden langsam
progressiven „Ruckenmarksleidens“.
Er bebauptet, dass sein Vater und dessen Binder ein ebensolches
Leiden gehabt hatten. Aucb in der Generation, welcber er selbst angehbre.
sei dieses Leiden aufgetreten, insofern ausser ibm einer seiner Briider mit
24 Jabren und eine Scbwester mit 22 Jabren in identiscber Weise erkrankt
seien, wfthrend 4 Geschwister von diesem offenbar familiaren Leiden ver-
schont blieben.
Er sucht den Grand fdr dieses Familienfibel darin, dass durch 3 Gene-
rationen in seiner Familie Inzucht stattfand, insofern Urgrosseltern, Gross-
eltern und Eltern Cousin und Cousine waren.
Pat. bietet das typische Bild einer spastischen Spinalparalyse. Er bat
nie an Lues, nocb an einer sonstigen schweren Krankheit gelitten nnd bot
ira Stat. praesens absolut nicbts, was auf eine secundare functionelle oder
organische Erkrankung der Seitenstrange einen Hinwsis gestattet hatte.
Von Seiten des Gehirns und der Hirnnerven boten sich keine St5rungen
der Function, ebensowenig solcbe im Gebiet des Stammes nnd der Ob.-Extr.
Das Bild der spastiscben Spinallabmung beschrankte sich anf die
Unt-Extr. Der Gang war erheblicb erschwert durch Muskelrigidit&t und
Spannungen, die, je mebr distal, urn so intensiver sicb bemerklich machten
und auch der passiven Bewegung erhebliche Hindernisse boten. Die Stdrung
war auf der r. Unt.-Extr. starker entwickelt als auf der L Nur im Be-
reich der ersteren war die grobe Muskelkraft in massigem Grade herab-
gesetzt. Musculatur nirgends atrophisch, elektrischer Beftmd normal. Tiefe
Reflexe in Ob.-Extr. normal, in Unt.-Extr. beiderseits gleich und stark ge-
steigert bis zur Andeutung von Fussclonus. Sensibilitat. in alien Qnalitaten
normal. Blase und Mastdarm unbetheiligt.
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Y.
(Aus der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf.)
Em Fall von Sensibilit&tsstorung im Gebiete des Nervus
cntaneus femoris extemus mit patMogisch-anatomischem
Befnnde. 1 )
Yon
Dr. E. Nawratzki,
Assistenzarzt.
(Mit Tafel IV.)
Die Mittheilungen von Bernhardt 2 ) und Roth 3 ) fiber isolirt
vorkommende Sensibilitatsstorungen am Oberschenkel haben eine ganze
Reihe von Veroffentlichungen fiber ahnliche Beobachtangen gezeitigt,
die aber insgesammt nur auf die Ausgestaltung des klinischen Bildes
Bedacht nehmen. In Betreff der zu Grunde liegenden anatomischen
Veranderungen ist man bisher fiber mehr als theoretische Erwagungen
nochnichthinausgekommen. Roth (Lc.)und spaterKalischer 4 )sprechen
z. B. nur die Yermuthung aus, dass das anatomische Substrat, welches
bei dieser Krankheit vorausgesetzt werden konne, ein gewisser Grad
von Para- oder Perineuritis seL
Es ist mir nun moglich gewesen, bei einem in die stadtische Irren¬
anstalt zu Dalldorf aufgenommenen und dort verstorbenen Patienten
eine Sensibilitatsstorung im Bereiche beider Nervi cut. femor. exterai
festzustellen und alsdann durch die mikroskopische Untersuchung des
bei der Obduction entnommenen Materials einen Einblick in den Sitz
und die Ausdehnung der anatomischen Veranderungen des Nerven zu
gewinnen. Bei dem Mangel an ahnlichen Befunden dfirfle eine ein-
gehendere Mittheilung fiber meine Untersuchungen nicht unange-
bracht sein.
1) Nach einem am 9. Januar 1899 in der Geeellschaft fur Psychiatrie und
Nervenkrankheiten zu Berlin gehaltenen Vortrage.
2) Bernhardt, Ueber isolirt im Gebiete des N. cut. femoris ext. vorkom¬
mende Parasthesien. Neurologisches Centralblatt. 1895. S. 242.
3) Wladimir K. Roth, Meralgia paraesthetica. Berlin 1895.
4) 8. KaliBcher, Ueber Parasthesien imd Neuralgien an der Aussenseite
des OberBchenkels. Allg. medic. Central-Zeitung. 1896. S. 574.
7*
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100
V. Nawratzki
Der am 29. October 1895 aufgenommene, am 3. Januar 1896 ver-
storbene Patient H. war 80 Jahre alt, von Beruf Schmied. Er soil friiher
nie krank gewesen sein, hatte nnr als junger Mensch einen Hufschlag gegen
das Kinn erhalten. Ein Trinker soil er nicht gewesen sein. Von einer
geschlecbtlichen Infection des Patienten war nichts bekannt geworden. Seit
ca. 10 Jahren lebte er besch&ftigungslos bei seinem Sohne. Seit October
1894 wnrde H. wegen multipler Abscesse am Halse znerst in einer chirur-
gi8chen Poliklinik, sp&ter in einer Klinik behandelt. Wegen aufgetretener
Zeichen von Geistesstorung wnrde er nach der Abtheilung fttr Geisteskranke
der koniglichen CharitS verlegt und von dort nach der st&dtischen Irren-
anstalt uberfuhrt. In psychischer Hinsicht bot Pat. das Bild einer ein-
fachen Dementia senilis dar. Was den korperlichen Befnnd betrifft, so
fanden sich am Halse mehrere secernirende Geschwiirsflachen und Fisteln,
ferner eine starke Arteriosklerose, geringes Oedem des rechten Armes nnd
beider Unterschenkel, eine linksseitige Hydrocele mkssigen Umfanges. Die
Patellar-, Fnsssohlen-, Bauch-, Cremaster- und Armreflexe waren beider-
seits deutlich erhalten. Die Pupillen waren gleich, reagirten auf Lichtein-
faU. Der Gang war ziemlich sicher, Sprache undeutlich. Ataktische
Storungen, sowie Blasen- und Mastdarmstorungen fehlten. Urin war frei
von Alb. und Sacch.
Wesentliches Interesse beanspruchte in dem Befunde eigentlich nur
die Sensibilitatsprufung. Diese ergab nun, dass, wkhrend an alien iibrigen
Korperstellen Beriihrungen deutlich empfunden warden, Pat. an der Aussen-
seite beider Oberschenkel, und zwar rechts in einer Ausdehnung von
18 cm oberhalb der Epipliysengrenze bis zu dieser herab, links ca. 15 cm
oberhalb jener Linie bis zu ihr in einer schmalen Zone, Pinselstriche so
gut wie gar nicht verspiirte. Bei einzelnen Beriihrungen versetzte er die
Empfindung nach dem Unterschenkel. Gleichzeitig war das Gefuhl fur
„warm und kalt“ in jenen Bezirken stark herabgesetzt. Die Schmerz-
empfindung hatte in ihnen jedoch keine wesentliche Einbusse erlitten.
Im vorliegenden Falle, in welchem dem Anscheine nach keinerlei
subjectiven Beschwerden bestanden, wenigstens niemals geklagt wurden,
konnte also durch die objective Untersuchung eine Sensibilitatsstorung
nachgewiesen werden, die der von Bernhardt J ) nnd Roth 2 ) beschrie-
benen entsprach und in einer Herabsetzung des Tast- und Temperatur-
sinns im Bereiche beider Nervi cut, femor. ext, bestand.
Patient, bei dem mehrere Tage vor seinem Tode das Yorhanden-
sein eines doppelseitigen pleuritischen Exsudates von massigem Um-
fange constatirt werden konnte, starb am 3. Januar 1896 unter den
Erscheinungen des Collapses.
Der Obductionsbefund war folgender: Ulcera nonnulla et flstulae
colli; Abscessus subcostalis lateris dextri; Pericarditis; Atrophia fusca cor¬
dis; Arteriosclerosis; Pleuritis exsudativa lateris utriusque; Bronchitis
diffusa catarrhalis; Atrophia granularis renum. Pachymeningitis externa;
1) 1. c.
2) 1. c.
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Ein Fall von Sensibilitatsstorung im Gebiete des Nervus cut. fem. ext. etc. 101
Leptomeningitis chronica; Dilatatio ventriculorum lateralium cerebri;
Ependymitis granularis.
Mit Riicksicht auf die vorher constatirten Storungen im Bereich beider
Nervi cut. femor. ext. warden diese im grossen Becken and am Oberschenkel
bis zu ihrer Vertheilung in der Haut herauspr&parirt und zusammen mit
dem Riickenmark in Muller’scher Fliissigkeit conservirt.
Schon bei der Herausnahme beider Nerven fiel eine spindelfbrmige
Anschwellung derselben in einer Ausdehnnng von ca. 2 cm an ihrer Um-
schlagstelle auf, d. h. an derjenigen Stelle, an welcher der Nerv aus dem
grossen Becken unter dem Poupart’schen Bande hinweg auf den Ober¬
schenkel tritt und mit welcher er der Spina ossis ilei ant. sup. anliegt.
Untersucht warden mehrere Stiicke jedes Nerven, die aus dem Nerven-
stamme oberhalb und unterhalb jener Umschlagstelle entnommen waren,
ferner letztere selbst in Quer- und Langsschnitten, endlich das Lendenmark.
Die einzelnen Stiicke warden in Paraffin gebettet; von jedem Blocke wurde
eine grfissere Anzalil von Schnitten entnommen und grossentheils nach
Weigert gefarbt. Ausserdem wurden Fftrbungen nach van Gieson, mit
dem Triacidgemisch, mit Carmin und mit Hamatoxylin und Eosin aus-
gefhhrt.
In den Schnitten, welche aus dem unterhalb der Umschlagstelle ge-
legenen Abschnitt des rechten Nervus cut. femor is ext. stammen, failt der
ausserordentlich Starke Faserschwund auf. Nur hier und da sind noch
einzelne Nervenfasern erhalten.
Das endoneurale Bindegewebe der secundaren Nervenbiindel ist ver-
mehrt und bildet breite, blasse Bahnen zwischen den degenerirten Nerven-
fasem. Einzelne in ihm liegende, kleinste Gefasse zeigen verdickte Wan-
dungen. Die secundaren Nervenbiindel selbst fallen das Perineurium nicht
immer ganz aus, sondern haben sich vom Rande etwas zuriickgezogen.
Aehnliche, aber nicht so hochgradige Veranderungen bietet der rechte
Nerv in seinem oberen Verlauf, oberhalb der Umschlagstelle dar.
Ein Faserausfall ist auch hier zu constatiren; indess iiberwiegt die Zahl
der noch erhaltenen Nervenfasern. Man kann in den nach Weigert ge-
farbten Querschnitten gewissermaassen 3 Zonen unterscheiden, die sich ent-
sprechend der Menge noch intacter Fasern durch den dunkleren und helleren
Farbenton von einander abheben. Das endoneurale Bindegewebe ist nicht
wesentlich vermehrt. Die Nervenbiindel fallen das Perineurium zumeist
vollstandig aus.
Die erheblichsten Veranderungen hat der Nerv an seiner Umschlagstelle
erfahren (vgl. hierzu Fig. 1, Taf. IV). Es ist bereits hervorgehoben worden, dass
schon makroskopisch die spindelformige Auftreibung und gleichzeitig vor-
handene Abplattung des Nerven an dieser Stelle aufgefallen war. Die
mikroskopische Untersuchung ergiebt zunachst eine ganz betrachtliche Ver-
dickung des Perineurium (Fig. 1 Pn). Das endoneurale Bindegewebe ist
ausserordentlich stark vermehrt und bildet dicke Balken zwischen den noch
erhaltenen Nervenfasern, oder durchsetzt in baumartigen Verastelungen die
secundaren Nervenbiindel. Die in ihm verlaufenden BlutgefUsse haben er-
heblich verdickte Wandungen. In einem Theil der Biindel fullt die Faser-
masse das Perineurium nahezu ganz aus, in anderen hat sie sich wiederum
losgeldst und lasst zwischen sich und der Hull© einen hellen, faserarmen
Raum bestehen.
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102
V. Nawratzki
Die auffaUendste Erscheinung bilden knospenartige Gebilde, die in ver-
schiedener Anzahl in jedem Nervenbiindel zwischen die Nervenfasern ein-
gelagert sind (Fig. 1 und Fig. 3 Kn, Taf. IV). Sie bestehen aus einer seholiigen,
homogenen Masse, die nicht selten eine Segmentirung erkennen lasst, be-
ziehnngsweise durch Septa abgetheilt ist, in die Kerne eingelagert sind.
Eine derbe Kapsel, die sich oft ans mehreren Lameilen zusammensetzt,
hlillt diese soliden Korper ein. Diese eigenthumlichen Scbollen liegen meist
der Innenflftche des Perineurium an. In anderen Biindeln sind sie von der
Peripherie mehr nach dem Centrum gewandert. Um sie herum, sowie auch
im ftbrigen Nervenbiindel ist ein Faserschwund zu constatiren. Die Unter-
suchung dieser Massen auf Amyloid mittelst F&rbung batte ein negatives
fiesultat.
Eine andere Art von Herden hat sich nur in wenigen Nervenbiindeln
vorgefunden (vgl. Fig. 3 H). Sie machen bei schwacher Vergrosserung
den Eindruck, als ware an dieser Stelle des Praparates etwas ausgefallen.
Bei stftrkerer Vergrosserung erkennt man in ihnen ein sehr lockeres, con-
centrisch angeordnetes Bindegewebsgeriist mit mehr oder weniger zahl-
reichen spindelfbrmigen Kernen, das nach dem Centrum hin sich hie und
da zu einer filzigen Masse verdichtet.
Die Zahl der ersten Art von Herden ist eine wechselnde. Ich habe
in einzelnen Biindeln bis zu 7 und mehr solcher Herde z&hlen konnen. Die
Anzahl der zweiten Art ist weit geringer; von ihr habe ich in einem Biindel
hochstens 2 gesehen. Zuweilen sind beide Formen in demselben Biindel
vertreten.
Die GrOsse der einzelnen Herde ist verschieden. Neben grossen, einen
nicht unerheblichen Theil des Querschnitts eines Nervenbiindels einnehmenden
Abkapselungen erblickt man manchmal in demselben Praparat eine kleine,
kugelige, structurlose, helle, scharf begrenzte Substanz inmitten einer Gruppe
von Nervenfasern.
Im linkenNervus cut. fern. ext. ist unterhalb derUmschlagstelle ebenfalls
ein nicht unerheblicher Faserschwund zu constatiren. Derselbe betrifft haupt-
‘sftchlich einen etwa 2 / 3 des Querschnitts betragenden, scharf abgegrenzteu Keil.
Das Perineurium erscheint ein wenig verdickt; das endoneurale Binde-
gewebe, sowie die in ihm verlaufenden GefUsse zeigen keine wesentlichen
Veranderungen.
Oberhalb der Umschlagstelle ist in dem Nervenstamm wohl hie und
da ein Ausfall von Nervenfasern zu erkennen; jedoch ist dieser sehr gering,
so dass der linke Nerv in jenem Abschnitte schon mehr einen normalen
Eindruck macht.
Die hauptsachlichsten Veranderungen warden wiederum an der Umschlag¬
stelle gefhnden (Fig. 1, Taf. IV). Sie entsprechen denen der rechten Seite und
bestehen in einer Verdickung des perineuralen und endoneuralen Bindege-
webes, in Gefassveranderungen und Zerfall von Nervensubstanz. Innerhalb
der einzelnen Nervenbiindel tauchen wieder jene oben geschilderten, eigen-
thiimlichen Gebilde auf. Auf Langsschnitten bilden dieselben zwischen die
Faserziige eingebettete, bald wellenfOrmig angeordnete, bald korkzieherartig
gewundene, homogene, structurlose KOrper, in die spindelformige Kerne ein¬
gelagert sind (Fig. 2 Kn). Sie haben verschiedene Lange und durchsetzen
manchmal als ein einziges, zusammenhangendes, cylindrisches oder spindel-
formiges Gebilde den ganzen Langsschnitt. In einzelnen dieser Convolute
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Ein Fall von Sensibilitatsstorung im Gebiete dee Nervus cut fem. ext. etc. 1Q3
8ind AbBchnorungen erkennbar, die sich durcb ihr helleres Aussehen and
grogseren Kernreicbtham von den soliden Massen abheben. Was diese eigen-
thihnlichen Kbrper darstellen and bedeuten, soli an einer sp&teren Stelle
etwas eingehender besprochen werden.
Die Untersuchung des Lendenmarks hat aasser einer Bindegewebsver-
m eh rung m&ssigen Grades in den Hinterstr&ngen, die bei greisen Lenten
nichts Ungewohnliches ist, grobere Ver&nderungen nicht ergeben.
Fasse ich die Besonderheiten des eben beschriebenen Falles noch
einmal kurz zusammen, so erscheint derselbe zunachst nach der klini-
schen Seite hin in etwas bemerkenswerth, insofem, als derselbe gewisse
Abweichungen von dem gewohnlichen Verhalten der Bernhardt-
schen Sensibilitatsstorung aufweist. Dahin gehoren: 1. das Yorkommen
der Erkrankung bei einem 80jahrigen Manne; 2. das Bestehen der-
selben ohne subjective Beschwerden.
Durch die Doppelseitigkeit der Affection reprasentirt der geschil-
derte Fall ausserdera die seltener vorkommende Krankheitsform.
Zum Vergleiche mogen hier die Ergebnisse der einschlagigen Mit-
theilungen von Bernhardt 1 ), Roth 2 ), Nacke 3 ), Freud 4 ), Escat 5 ),
Kalischer 6 ), v. Luzenberger 7 ), Koster 8 ), Benda 9 ), Adler 10 ),
Warda 11 ), Shaw 12 ), Donath 13 ), Good 14 ), Traugott 15 ), v. Nar-
1) 1. c. 2) 1. c.
3) P. Nacke, Beitrag zu den isolirt auffcretenden Parasthesien im Ge¬
biete des Nerv. cut. femoris ext Neurolog. Centralbl. 1895. S. 338.
4) S. Freud, Ueber die Bernhardt’sche Sensibilitatsstbrung am Ober-
schenkel. Neurolog. Centralbl. 1895. S. 491.
5) Escat, Un cas de mgralgie paraesthetique de Roth. Revue neuro-
logique 1895, refer, im Neurolog. Centralbl. 1896. S. 507.
6) 1. c.
7) A. v. Luzenberger, Beitrag zur Aetiologie der Bernhardt’schen Sen-
sibilitStsstorung am Oberachenkel. Neurolog. Centralbl. 1896. S. 1026.
8) G. Koster, Ein Beitrag zur Kenntniss der Bernhardt’schen Sensi-
biHtfitsstdrung am Oberachenkel. Neurolog. Centralbl. 1897. S. 253.
9) Th. Benda, Zur Parasthesie der Hautnerven am Oberachenkel. Neuro¬
log. Centralbl 1897. S. 256.
10) Adler, Zur Kenntniss der Bernhardt’schen Sensibilitatsstorung. Neu¬
rolog. Centralbl. 1897. S. 682.
11) Warda, Ein Fall von Neuritis des N. cutaneus femoris ext Neurolog.
Centralbl. 1897. S. 948.
12) John C. Shaw, Paraesthesia of the external femoral region. New-York
med. Joum. 1897. Bd. LXY. p. 205.
13) J. Donath, Ein Fall von Bernhardt-Roth’scher Parasthesie. Wien,
med. Woch. 1897. S. 1142.
14) A. Good, Ein Fall von Bernhardt’scher Sensibilitatsstorung am Ober-
schenkel. Neurolog. Centralbl. 1898. S. 57.
15) Richard Traugott, Casuistischer Beitrag zur jjBernhardt’schen Sen-
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104
V. Nawratzki
towski 1 ) u. A. kurz angeffihrt werden. Dieselben umfassen ca.
50 Falle. Aus ihnen geht so viel hervor, dass die Patienten immer
mit subjectiven Beschwerden zum Arzte kamen. Bald wurde fiber
stechende und brennende Schmerzen beim Gehen geklagt, bald fiber
ein Geflihl der Spannung und Taubheit, bald fiber Kriebeln and un-
angenehme Sensationen. Die Kranken standen meist im mittleren
Lebensalter. Indess schwanken die Zahlen innerhalb weiter Grenzen,
zwischen 30 und 64 Jahren. Eine doppelseitige Erkrankung endlieh
konnte unter den 50 Fallen nur 13mal constatirt werden; 34mal war
eine Seite befallen. Bei 3 Kranken fehlen genauere Angaben fiber
den Sitz der Affection.
Hinsichtlich der Aetiologie der Meralgia paraesthetica herrschen
noch mannigfache Meinungsyerschiedenheiten. Unter den atiologischen
Momenten finden sich in der Literatur aufgezahlt: Erkaltung, Intoxi¬
cation (Blei, Alkohol), Infection (Typhus, Pneumonie, Lues), endlieh
mechanische Einfltisse (Trauma, Druck, Ueberanstrengung). Mehr und
mehr scheint man jetzt den letzteren den Vorrang in der Reihe der
moglichen Entstehungsursachen dieser electiven Sensibilitatsstorung
einraumen zu wollen.
In unserem Falle konnte eine bestimmte Krankheitsursache nicht
ausfindig gemacht werden. Nur vermuthungsweise konnte man an
eine Druckwirkung auf beide Spinae denken, vielleicht durch einen
Leibriemen, wie ihn Leute aus dem Arbeiterstande so haufig zu
tragen pflegen, zu der als begfinstigendes Moment noch das Senium
hinzukame.
Ffir die Annahme einer mechanischen Ursache gewahren aber in
unserem Falle die pathologisch-anatomischen Veranderungen eine neue
brauchbare Stfitze.
Was diese Veranderungen betrifft, welche den klinischen Er-
scheinungen zu Grunde lagen, so sind sie, wie wir gesehen haben, im
Nerven derart vertheilt, dass der Hauptsitz der Erkrankung an der
auf der Spina il. ant. sup. gelegenen Umschlagstelle zu suchen ist.
Hier sind die grobsten Zerstorungen und Umwandlungen zu sehen.
Sie bestehen in einer Perineuritis und Neuritis interstitialis et paren-
chymatosa. Von der Umschlagstelle aus haben sich im weiteren Ver-
lauf eine starkere absteigende, eine schwachere aufsteigende secundare
Degeneration im Nerven entwickelt.
sibilitatsstorung am Oberschenkel“. Monatsschrift f. Psychiatrie und Neurologie.
1898. Bd. Ill, Heft V, S. 416.
1) Miecislaus v. Nartowski, Ein Beitrag zur Kenntniss der Bernhardt*
schen Sensibilitatsstorung. Neurolog. Centralbl. 1898. Nr. 23.
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Ein Fall von Sensibilitatsstorung im Gebiete des Nervus cut fem. ext etc. 105
Ueber die eigeDthtimlichen Umbilduugsproducte an den Umschlag-
stellen der Nerven ist zu bemerken, dass diese Gebilde mit Korpem
identisch zu sein scheinen, die sich in der Literatur bereits mehrfach
erwahnt finden und eine verschiedenartige Deutung erfahren haben.
Langhans 1 ) giebt eine kurze fibersichtliche Zusammenstellung der
einschlagigen Arbeiten. Nach ihm haben wohl Rump und Varaglia 2 )
zuerst die soliden, langlich cylindrischen Einlagerungen gesehen und
beschrieben, ersterer bei einem Falle von multiplen Neuromen, letzterer
im Nervus facialis. In demselben Nerven, sowie im Nervus oculomo-
torius, Abducens und Hypoglossus wurden sie von Oppenheim 3 )
und Thomsen 4 ) beobachtet. Beide Autoren neigten der Ansicht zu,
dass es sich bei diesen Herden nicht um einen speciellen pathologi-
schen Process handeln konne. Fr. Schultze 5 ) fand sie im Plexus
brachialis und Nervus ischiadicus und wollte sie als obliterirte Gefasse
angesehen wissen.
An gleiche Bildungen erinnern die Angaben von Oppenheim
und Siemerling 6 ) fiber Yeranderungen, die sie in einem Hautast des
Nervus ulnaris bei einer tabischen Frau zu beobachten Gelegenheit
hatten. Rosenheim 7 ) fand ahnliche Einlagerungen in beiden Nervi
ischiadici, Stadelmann 8 ) im Plexus brachialis, Joffroy und Achard 9 )
in den dorsalen Nerven des 2. und 3. Fingers, Arnold 10 ) in einem
Bfindel der Cauda equina. Eine sehr ausffihrliche Beschreibung jener
eigenthfimlichen Korper liegfc dann von Trzebinski n ) vor, der sie
im Plexus brachialis, im N. ulnaris, radialis, cruralis, Plexus sacralis
zahlreicher Leichen fand. Wenngleich seine Untersuchungen fiber die
Entwicklung jener Herde nichts Sicheres ergaben, so konnte er immer-
bin ihre Unabhangigkeit von den Gefassen feststellen.
Der Einfluss irgend eines bestimmten Leidens auf die Entstehung
dieser Abkapselungen konnte ebenfalls nicht entdeckt werden. Sie wurden
1) Th. Langhans, Ueber Yeranderungen in den peripherischen Nerven bei
Cachexia thyreopriva des Menschen und Affen und bei Cretinismus. Virchow’s
Archiv f. pathol. Anat. Bd. 128. S. 318.
2) cit nach Langhans, 1. c.
3) H. Oppenheim, Ueber einen Fall von chronischer progressiver Bul-
barparalyse ohne anatomischen Befund. Virchow’s Arch. Bd. 108. S. 522.
4) R. Thomsen, Ueber eigenthumliche, aus veriinderten Ganglienzellen
hervorgegangene Gebilde in den Stammen der Hirnnerven des Menschen. Vir¬
chow’s Arch. Bd. 1C9. S. 459.
5) cit nach Langhans, 1. c.
6) H. Oppenheim und E. Siemerling, Beitriige zur Pathologie der Tabes
dorsalis und der peripherischen Nerveneikrankung. Archiv f. Psych. 1887.
Bd. 18. S. 98.
7) —11) cit nach Langhans, 1. c.
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106
Y. Nawratzki
bei Individuen gefunden, die an den verschiedensten Krankheiten gelitten
hatten, an chronisehen Gehirn- und Rtickenmarkskrankheiten, an Tuber-
culose, an Herz- und Gefasserkrankungen, an acuten Infectionskrank-
heiten u. a. m. Langhans 1 ) selbst erwahnt ausser den schon vor
ihm von anderen Autoren bescbriebenen soliden, concentrischen Herden
und Auflagerungen auf das Perineurium noch lockere Herde, femer
eine Erweiterung der Lymphspalten und Blasenzellen. An der Zu-
sammengehorigkeit dieser verschiedenen Producte mochte er nicht
zweifeln. Nach seinen Untersuchungen, die er an 3 Fallen von Cachexia
thyreopriva und einem Fall von Cretinismus angestellt hat, sind diese
Nervenveranderungen pathologischer Natur und weisen auf irgend
einen Zusammenhang mit der Schilddrtise hin. Sie seien „die letzten
Auslaufer einer Degeneration, deren hochsten Grade in dem Cretinis¬
mus sich vereinigen“. Sein Schtiler Howald 2 ) konnte gegen die An-
nahme einer solchen Verbindung geltend machen, dass er jene Herde
nicht nur bei einem Cretinen, sondern auch bei einem Individuum
mit uormaler Schilddriise in grosser Anzahl vorgefunden hatte. Yor
ihm hatten bereits Weiss und Ott 3 ) diese endoneuralen Wucherungen
bei Thieren mit normaler Thyreoidea nachgewiesen. Was die Ent-
stehungsweise und Bedeutung jener Gebilde betrifft, so neigt Howald 4 )
am meisten zur Annahme der mechanischen Theorie von Renant hin,
welcher alle diese endoneuralen Veranderungen als Schutzorgane ftr
die Nerven angesehen wissen will, indem sie gleichsam Polster fUr die
Nerven zum Schutz gegen Druck und Zerrung bilden. Uebrigens kann
sich auch Langhans 5 ) nicht dem Eindruck verschliessen, dass die
Localisation der Veranderungen durch aussere Verhaltnisse mechanischer
Art, Zerrungen, beherrscht werde. Eine Einschrankung in der An-
wendung der Renant’schen Theorie macht Howald (Lc.) insofem, als
er dieselbe nur flir die Blasenzellen und die in den erweiterten Lymph-
bahnen befindliche Fliissigkeit gelten lassen will, wahrend er die soliden
Herde mit Ott als pathologische Erscheinungen auffassen mochte.
Jene rundlichen, vom Perineurium ins Innere der Nervenbiindel
dringenden Wucherungen sind noch von Gudden 6 ) in der peripheren
1) 1. c.
2) M. Howald, Ueber die topographische Yertheilung der endoneuralen
Wucherungen in den peripherischen Nerven dee Menschen. Virchow’s Arch. f.
path. Anat. 1895. Bd. 141. S. 283.
3) cit. bei Howald, 1. c.
4) 1. c.
5) 1. c. S. 358.
6) H. Gudden, Klinische und anatomische Beitrage zur Kenntniss der
raultiplen Alkoholneuritis nebst Bemerkungen fiber die Regenerationsvorgange im
peripheren Nervensystem. Archiv f. Psychiatrie. Bd. 28. 1896. S. 643.
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Ein Fall von Sensibilitatsstdrung im Gebiete des Nervus cut. fem. ext. etc. 107
Strecke des N. medianus bei einem an multipler Alkohol-Neuritis zu
Grunde gegangenen Individuum gesehen und beschrieben worden,
ohne dass der Autor weitere Erorterungen an diesen Befund ge-
kniipft bat.
Aus den Ausffihrungen der eben citirten Autoren geht jedenfalls
so viel hervor, dass die Frage, ob die in den Nerven beobachteten
Einlagerungen patbologische Producte oder nonnale Gebilde darstellen,
immer noch als offene anzusehen ist.
In dem von mir mitgetheilten Falle dlirften die in den beiden
Hautnerven gefundenen endoneuralen Veranderungen wohl in einen
unmittelbaren Zusammenhang mit der Erkrankung des Nerven zu
bringen sein. Eine annehmbare Erklarung ftir die Natur derselben
gestattete mir ein Hinweis des Herrn Prof. 0. Israel, dem ich ftir
seinen freundlichen Rath auch an dieser Stelle meinen Dank aussprechen
mochte. Nach seiner Bestatigung stellen jene grotesken Gebilde sehr
wahrscheinlich nichts Anderes dar als sklerotisches Bindegewebe. Das-
selbe ist durch die Umwandlung des gewucherten endoneuralen Binde-
gewebes entstanden, nach vorausgegangenem Zerfall und Untergang
der nervosen Substanz. Die Sklerosirung wlirde nur ein Beweis dafilr
sein, dass der an der Umschlagstelle des Nerven gefundene, aus einer
umschriebenen interstitiellen Entzilndung hervorgegangene Herd sehr
alt ist In den lockeren Herden wlirde man eine weniger weit vorge-
schrittene Destruction des Nervengewebes zu sehen haben. Bei ihnen
dtirfte es sich wohl nur um eine einfache Wucherung des interstitiellen
Bindegewebes handeln.
Dass der Mittelpunkt der anatomischen Veranderungen an der-
jenigen Stelle des Nerven gelegen ist, an welcher er dem Druck und
Zng am meisten ausgesetzt ist, bildet, wie schon betont worden ist,
einen recht brauchbaren Anhalt ftir die Annahme einer mechanischen
Schadigung als Ursache der Sensibilitatsstorung. Wunder kbnnte es
nur nehmen, dass bei der exponirten Lage des Nerven eine Affection
desselben nicht noch haufiger vorkommt, als dies in Wirklichkeit der
Fall zu sein scheint Aber einerseits konnen manche Falle ubersehen
werden, beziehungsweise ununtersucht bleiben, falls keine subjectiven
Beschwerden vorgebracht werden. Andererseits scheinen mir Unter-
suchungen an Leichen fiber die Lagerung des Nervus cut. fem. ext
zum Skelet noch weiteren Aufschluss zu dieser Frage zu geben.
Die Messungen ergaben folgende Werthe:
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108
V. Nawratzki, Ein Fall von Sensibilitatsstorung etc.
Entfernung des Nervus cut. fem. ext. nach innen yon der
Spina il.
ant. sup.
. bei 11
Mannern.
II. bei 10 Frauen.
Rechts
Links
Rechts
Links
1. 0 mm
0 mm
1. 0 mm
7 mm
2. 0
!1
35 ,,
2. 8 „
10 „
3. 5
30 „
3. 10 „
8 „
4. 10
10 „
4. 10 „
47 „
5. 10
??
20 „
5. 10 „
55 „
6. 13
H
12 „
6. 15
5 „
7. 15
11
5 „
7. 20 „
12 „
8. 20
11
55
8. 25 ,.
45 „
9. 30
?!
44 „
9. 52 „
35 „
10. 32
11
47 „
10. 58 „
28 „
11. 52
1?
45 „
Die eben angeftihrten Zahlen lehren, dass die Entfernung der Um-
schlagstelle von der Spina il. ant. sup. nicht nur bei den verschiedenen
Individuen recht betrachtlichen Schwankungen unterworfen ist, sondem
auch bei demselben Individuum rechts und links verschieden gross ist.
Letzterer Umstand, namlich die Verschie^enheit der Lage des Nerven
bei derselben Person, wtlrde eine plausible Erklarung dafttr gewahren,
dass die Sensibilitatsstorung oft nur einseitig ist.
Die Lagerungsverhaltnisse des Nervus cut. fem. ext. konnten
immerhin den Schluss gestatten, dass, je naher die Umschlagstelle dem
Knochenvorsprunge lage, der Nerv um so mehr mechanischen Schadi-
gungen ausgesetzt und damit eine um so grossere Disposition zu sei¬
ner Erkrankung geschaffen sei.
Am Schlusse ist es mir eine angenehme Pflicht, meinem Chef.
Herrn Geheimrath Dr. Sander, sowieHerm Oberarzt S.-R. Dr. Richter
ftir die giitige Erlaubniss zur Verwerthung des Materials meinen Dank
auszusprechen.
Erklarnng der Abbildungen anf Tafel IV.
Fig. 1. Quersclinitt der Umschlagstelle des linken N. cut. fem. ext. (W eigert’sche
Farbung, 30fache Vergr.) Bei Pn erhebliche Verdickung des Penneurium.
Degeneration in den einzelnen Nervenbundeln. Kn solide Herde, wahr-
scheinlich aus sklerosirtem Bindegewebe bestehend. G Gefass mit ver-
dickten Wanden.
Fig. 2. Langsschnitt aus der Umschlagstelle des linken N. cut. fem. ext. (Wei-
gert’sche Farbung, 36fache vergr.) Betrachtlicher Nervenschwund. a
erhaltene Nervenfasern. Kn langs getroffene Herde.
Fig. 3. Querschnitt der Umschlagstelle aes linken N. cut. fem. ext. (van Gie-
son’sche Farbung. Mittelstarke Vergr.) Bei Kn solider Herd, bei H
lockerer Herd. G Gefass mit verdickten Wanden. Pn verdicktes Peri¬
neurium.
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VI.
Ueber den diagnostischenWerth des GrSfe’schen Symptoms
und seine Erkiamng.
Von
Dr. Georg Flatau,
Assistent an der Poliklinik fiir Nervenkranke des Herm Prof. H. Oppenbeim.
(Mit 2 Abbildungen.)
In letzter Zeit wurde unsere Poliklinik auffallend haufig von
Kranken aufgesucht, bei denen sich das Grafe’sche Symptom nach-
weisen liess, ohne dass Basedow'sche Krankheit vorlag. Wir konnten
auch die von Anderen vielfach hervorgehobene Thatsacbe bestatigen,
dass bei ausgesprochener Base do w’scher Krankheit das Grafe’sche
Symptom haufig fehlt.
Das gab uns Veranlassung einmal zu untersuchen, wie haufig das
Grafe’sche Symptom bei anderen Erkrankungen gefunden wird und
dabei die Frage nach dem diagnostischen Werth des Symptoms
zu prttfen.
Die Darstellung des Grafe’schen Symptoms, bez. die Prtifung,
ob ein solches vorhanden ist, geschieht nach Oppenheim (Lehrbucfc
d. Nervenkrkh.) so: Wird der Patient aufgefordert, den erhobenen Blick
langsam zu senken, indem der Untersuchende die von dem KrankeA
zu fhrirende Hand langsam herunterlasst, so folgt das obere Augenlid
der Bewegung des Bulbus uberhaupt nicht, oder nur unvollkommen
und es wird der supracorneale Theil der Sklera sichtbar (vergl. auch
Fig. 1 und 2 S. 110 u. 111).
Bruns (Neurol. Centralblatt. 92. S. 6) hat bereits hervorgehoben,
dass in den meistenLehrbuchem eine Coordinationsstorung bei Hebung
und Senkung des Blickes als Grafe’sches Symptom bezeichnet wird,
und hat nachgewiesen, dass diese Angabe nicht richtig ist (vergl. auch
Mobius, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilk. Bd. I. S. 401) und dass
nur ein Zurtickbleiben des oberen Lides, eine Incoordination bei Sen¬
kung des Blickes, vorhanden ist.
Yon unseren Fallen mochte ich zunachst einige kurze Kranken-
geschichten geben.
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110
VI. Flatau
1. S., Restaurateur, sucht die Poliklinik auf, weil sich plotzlich eine
Lahmung des rechten Armes bei ihm eingestellt hat. Die Untersuchung er-
giebt das Bestehen einer peripheren Radialislfthmung, welche als toxico-
traumatische (alkoholiscbe) aufzufassen ist.
Pat. hat auffallend weite Lidspalten (Fig. 1) und exquisites Grife-
sches Symptom (Fig. 2); doch findet sich kein weiteres Zeichen, das fur
Morbus Basedowii spricht. Er giebt an, immer sehr grosse Augen gehabt
zu haben.
2. Fr. N., 52 Jahre, suchte die Poliklinik nur in Angelegenheit ihres
Mannes auf. Es fSlllt bei ihr auf: ein starker Exophthalmus, schon in der
Ruhe ist der obere Skleralrand in
Ausdehnung von mehreren Millimetern
sichtbar; Gr&fe’sches Symptom sehr
deutlich, namentlich links.
Das Hervortreten der Augen ist
ihr selbst aufgefallen, sie schiebt das
sowie die Beeintrachtigung ihrer Seh-
kraft darauf, dass sie viel zu n&hen
hat und ihre Augen sehr anstrengt.
Es fehlt jedes sonstige Zeichen des
Morbus Basedowii; psychisch ist sie
leicht erregbar. Der Lidschlag erfolgt
sehr selten.
3. Bertha V., 16 Jahre, Arbeiter-
tochter: Vor 5 Jahren Diphtheritis,
vorher hftufige Lungenkatarrhe. Nach
der Diphtherie entwickelte sich all-
mahlich eine Struma, die jetzt er-
heblich gewachsen ist.
Exophthalmus ist nicht vorhanden,
kein Tremor, keine Tachycardia, keine
Durchfaile, Schweisse sollen hftufig
sein.
Das Grftfe’sche Symptom lSLsst
sich fast constant hervorrufen.
4. R., 39 Jahre, Arbeiter.
Erkrankte am Anfang August 1896
mit Stichen in der Brust, Kaitegef&hl, Fieber. Seit der Zeit hat er
Schwkchegefuhl in Armen und Beinen, ist Sngstlich und schreckhaft, depri-
mirte Stimmung. Schlaf oft gestbrt
Die Untersuchung ergab keine Zeichen eines organischen Nervenleidens,
vielmehr musste die Diagnose Neurasthenic gestellt wer.den.
Am 13. Mai 1899 stellte Pat. sich mit den gleichen Klagen vor, dazu
kam noch starker Schweiss, Zittern in den ausgestreckten Hftnden, Reiz-
barkeit
Ferner fand sich Erweiterung der Lidspalten, deutliches Gr&fe’sches
Symptom, manchmal auch Tachycardie.
Bei der ersten Untersuchung konnte man wohl an Morbus Bas. denken.
musste aber bei weiterer Beobachtung die Diagnose fallen lassen. Es be-
stand keine Struma, sondern nur eine Hervorwolbung der Trachea, die zu
*
Fig. 1.
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Ueber den diagnostiachen Werth des Grafe'schen Symptoms etc. m
Anfang als Anschwellung des Mittellappens imponirte, die Tachycardia war
nur imZustande der Erregung vorhanden nnd auch nor mSssig (Puls 25—28).
Exophthalmus bestand nicht, aber zeitweise, besonders bei Erregung,
Erweiterung der Lidspalte. Von den Symptomen blieben nur die Schweisse
und der Tremor der H&nde iibrig, die als neurasthenische Erscheinungen
gedeutet werden konnten.
Die Diagnose Neurasthenie musste auch nach dem weiteren Verlauf
festgehalten werden.
5. H., 55 Jahre, Musiker. Hat vor 20 Jahren eine Arthritis gonor-
rhoica des rechten Fussgelenkes durchgemacht; in seinem Beruf hat er viel
Nachts zu spielen gehabt, trank re-
gelm&ssig 10—12 Glas Bier und
verschiedene Mengen Cognac da-
zwischen; am Tage war dann die
Nahrungsaufnahme mangelhaft; we-
nig Schlaf.
Jetzt klagt er liber Schmerzen
im Riicken, besonders im Nacken,
Steifheit der Wirbelsftule, beson¬
ders wenn er nach lftngerem Sitzen
sich in Bewegung setzen wilL Die
Schmerzen wechseln in ihrer Locali¬
sation und ziehen bis in die Hiiften
hinein. Fieber besteht nicht, keine
Urinbeschwerden.
Pat. ist blass, geht langsam
nnd schwerfSLllig. Bei der Unter-
suchung findet sich: Struma, weite
Lidspalten, Sklera sichtbar. Gr&fe-
sches Symptom constant und
ebenso deutlich wie in Fig. 2. In
den Hftnden leichter vibrirender
Tremor, keine Schweisse, keine cha-
rakteristischen Durchf&lle, keine
vasomotorischen StOrungen, kein Ex-
ophthalmus. Beide Pupillen eng, Fig 2.
rechte > linke, Reaction auf Licht
beiderseits vorhanden, nur links, wo h&ufig Entzftndungen bestanden haben
sollen, ist sie erst bei kiinstlicher Beleuchtung deutlich nachweisbar.
Tachycardie bestimmt auszuschliessen. Auf Befragen giebt Pat. an, dass die
Struma schon seit Jahren, vielleicht von Kindheit an besteht.
Aus8erdem wurde das Grafe'sche Symptom gefunden bei einem
Falle von
1. Bulbarparalyse, 2. Tumor cereberi, 3. Neurasthenie, 4. apo-
plectischem Insult, 5. Diplegia spastica cerebralis, 6. in je 2 Fallen
von traumai Neurasthenie und Hysterie, 7. Thomsen’scher Krankheit.
Bei gesunden Personen wurde es gefunden zweimal bei solchen,
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112
VI. Flatau
die nur als Begleitung anderer Patienten in die Poliklinik kamen.
Ein Mitassistent und ich selbst konnten es willktirlich hervorrufen.
Eine statistische Zusammenstellung findet sich bei Sharkey
(Lancet 1890. II. p. 877).
Sharkey bespricht zunachst einen Fall, bei welchem sich leichter
Exophthalmus, Grafe und beschleunigte Herzaction fanden; er halt
sich nicht ffir berechtigt, hier die Diagnose Morbus Basedowii zu
stellen; den diagnostischen Werth des Grafe'schen Symptoms halt
er ffir sehr gering; die Diagnose zweifelhafter Falle von Morbus
Basedowii kann durch das Grafe'sche Symptom nicht gesichert
werden.
In 613 Fallen verschiedenster Art fand er es 12 mal. Auch Sh.
giebt an, dass Gesunde das Grafe'sche Symptom zeigen und durch
starres Fixiren willktirlich heryorbringen konnen; dagegen fehlt es bei
ausgesprochenem Basedow haufig.
Raymond (Gazette medicale de Paris) fand bei zwei Patienten
mit Thomsen’scher Krankheit Grafe'sches Symptom.
Buschan (Realencyklopadie der ges. Heilkunde) giebt an, dass
das Zeichen bei anderen Neurosen vorkommen kann, wahrend es bei
Basedow nicht selten fehlt
Mobius (Neurolog. Centralblatt. 1892. S. 13) fand bei einem
30jahrigen Kranken mit organischer linksseitiger Hemiparese, bei
welchem sich ein Zustand grosser Erregtheit durch einen Schreck ent-
wickelt hatte, die Lidspalten erweitert, so dass ein weisser Streifen
von etwa 2 mm Breite oberhalb der Cornea sichtbar war. Das
Grafe'sche Zeichen bestand wie bei einem Basedow-Kranken.
Mannheim (Der Morbus Gravesii. 1894) fand in 41 Fallen yon
Morbus Basedowii 6mal Grafe’sches Symptom.
Passler (Dtsch. Zeitschrift ftir Nervenheilkunde. VI. S. 210) fand
in 58 Fallen nur 9mal Grafe'sches Symptom; giebt auch an, es bei
Kranken ohne Basedow gefunden zu haben.
Arthur Maude (The eyelid Symptoms in exophthalmic, goitre.
Edinb. med. Journal. N. S. II, 2. p. 138) hat 25 Falle untersucht und
findet Graf etches Symptom haufiger als Stellwag; er glaubt, dass beide
Zeichen je nach dem Erregungszustand des Kranken veranderlich sind.
Schmidt-Rimpler (Nothnagel's Handbuch. 1. S. 374) giebt an,
dass das Grafe'sche Zeichen in einzelnen Fallen von diagnostischer
Bedeutung sein konne, es fehlt bisweilen, andererseits kann es sich
bei Personen zeigen, die nicht an der Krankheit Morb. Basedow,
leiden. Es giebt nicht wenige, welche besonders in Erregungszustanden
ihr oberes Lid ungewohnlich stark heben konnen, so dass ein grosser
Saum der Sklera fiber der Homhaut sichtbar wird; lasst man hier
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Ueber den diagnostisehen Werth dee Grafe’schen Symptoms etc. 113
den Blick senken, so bleibt auch bei ihnen das obere Lid 5fbers
zurfick.
Wilbrandt nnd Sanger (Neurologic des Auges) haben ebenfalls
das Grafe’sche Zeichen bei ganz gesunden Personen gefunden, und
stellten fest, dass es bei Morbus Basedowii nicbt allzu baufig gefunden
wird, auch Eulenburg [Berl. kl. Wochenschr. 1889. 1—3] halt das
Grafe'sche Symptom fftr im Ganzen selten.
Wir selbst fanden unter 30 Fallen 16mal Grafe'sches Symptom.
Im Ganzen sind die Procentzahlen, die ich in der Literatur gefunden
babe, ziemlich yerschieden und schwanken zwischen 14 Proc. und
55 Proc. Grafe’schen Symptoms bei Morbus Basedowii. Aus meinen
Untersuchungen geht besonders die Thatsache hervor, dass das Grafe-
sche Symptom bei Gesunden und bei Personen, die nicht an M. B.
leiden, gar nicht selten yorkommt
Das geht aus den angeftihrten Krankengeschichten hervor, welche
sich auf Falle beziehen, in denen die Diagnose M. B. trotz ausgespro-
chenem Grafe'schen Symptom nicht gestellt werden durfte.
Im Fall I war ausser der Erweiterung der Lidspalte und Grafe-
schem Symptom nichts far M. B. Charakteristisches nachweisbar, und
dieses Zeichen bestand von jeher.
Im Fall II war neben dem starken Exophthalmus deutliches
Grafe'sches Symptom vorhanden; doch fehlten alle anderen Haupt-
nnd Nebensymptome vollstandig und haben sich auch im Laufe der
Zeit keine weiteren hinzugesellt.
Im Fall III hatte sich die Struma nach einer Infectionskrankheit
entwickelt, doch gesellten sich ausser Grafe keine anderen Symptome
hinzu, welche auf M. B. schliessen liessen.
Im vierten Falle endlich trat neben der Neigung zu Erweiterung
der Lidspalte das Grafe’sche Symptom so deutlich zu Tage, dass zu-
nachst, namentlich da auch Struma, Tachycardie und Schweisse vor¬
handen zu sein schienen, die vorher gestellte Diagnose Neurasthenie
in M. B. geandert werden sollte; erst weitere eingehende Nachunter-
suchung erwies, dass von den Symptomen nur das Stellwag’sche und
Grafe’sche Symptom tibrig blieben. Wichtig ist auch hier zu bemerken,
dass ein Zustand dauernder psychischer Erregtheit bestand.
Auch im 5. Fall konnte das gleichzeitige Bestehen von Struma,
Stellwag'schem und Grafe’schem Symptom, Tremor zur Annahme
ernes M. B. fuhren. Indessen besteht die Struma schon seit der Jugend;
Tachycardie, Exophthalmus fehlen. Der Tremor entspricht nicht
dem bei M. B., kann hier vielmehr auf Alkoholismus zur&ckgefahrt
werden.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 8
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114
VI. Flatau
Auf Grand des Untersuchungsbefundes wurde die Diagnose auf
arthritische Processe an der Wirbelsaule gestellt.
Die 5 Falle haben das Gemeinsame, dass zu einer Reihe von
Symptomen [Stellwag, Struma, Exophthalmus], die dem M. B. ange-
horen, sich das Grafe’sche Symptom gesellt, und so ein Bild hervor-
gerafen wird, das bei fltichtiger Untersuchung als M B. imponirt,
wahrend eine genauere Prttfung erst die Nichtberechtigung dieser
Diagnose ergiebt.
Zu diesen 5 Fallen gesellen sich nun 9 andere, die den verschie-
densten Gebieten nervoser Erkrankungen angehoren und zwar organi-
schen und fiinctionellen.
Es geht aus diesen Beobachtungen ebenfalls hervor, dass das
Grafe'sche Symptom nicht allein dem Morbus Basedowii zukommt
und dass es von Gesunden willktirlich hervorgerufen werden kann;
dieser Umstand ist yon Wichtigkeit ftir die Erklarung des Zustande-
kommens desselben. An solchen Erklarungsversuchen und an Theo-
rien, wie diese Dissociation der normalen Mitbewegung zwischen Lidem
und Bulbus, speciell beim Blicksenken zu Stande kommt, fehlt es
nicht. Es scheint mir aber, als ob das Grafe’sehe Symptom auf
verschiedene Weise zu Stande kommen konne, und es ist wahrschein-
lich, dass es bei Morbus Basedowii anders zu deuten sein wird, als
bei anderen Nervenkrankheiten und bei gesunden Personen.
Die Mehrzahl der Autoren scheint geneigt, eine enge Verbindung
des Grafe’schen Symptoms mit dem Stellwag'schen Symptom (der
dauernden Erweiterung der Lidspalte) anzunehmen, und jenes aus die-
sem abzuleiten; namentlich behaupten M obi us und Bruns (1. c.) die
spastische Natur des Grafe’schen Symptoms; dieselbe gehe aus der
Tendenz zur Erweiterung der Lidspalte hervor.
Nach Busch an (1. c.) wird das Grafe'scbe Symptom weder durch
den Exophthalmus, noch durch einen krampfartigen Zustand des Levator,
oder durch eine Parese des Orbicularis bedingt, sondern erscheint als
nothwendige Folge der Neigung zur Erweiterung der Lidspalte, die
bei Senkung der Fixirlinie uberwunden werden muss. Buschan sagt
aber nicht, wodurch eben diese Erweiterung der Lidspalte zu Stande
kommt, welche ja ihrerseits durch Levatorkrampf oder Orbicularis-
parese bedingt sein kann oder durch Contraction des glatten Lidmus-
kels. Eulenburg halt es ftir zweifelhaft, ob das Grafe'sche Sym¬
ptom von dem Stellwag’schen abgeleitet werden kann, da eines ohne
das andere vorkommen kann, und ist geneigt, eine Stoning central
angelegter Coordinationen anzunehmen.
Sharkey (1. c.) halt es ftir moglich, dass es sich um centrale
Storangen handelt, namentlich wenn zugleich Seltenheit des Lidschlages
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Ueber den diagnostisehen Werth des Gr&fe’scnen Symptoms etc. 115
besteht, glaubt aber eher, dass es sich um eine Schwache des Anta¬
gonists (sc. des Orbicularis oculi) handelt, wenn das Stellwag'sche
Symptom auch yorhanden ist; beim Grafe'schen Symptom, ohne
Stellwag’sches, ist entweder ein Reizzustand des Levator vorhanden,
oder des glatten Lidmuskels. Durcb Reizung des Sympathicus konnte
auch Remak eine Erweiterung der Lidspalte hervorrufen.
Wilbrand und Sanger haben gefunden, dass in der Literatur
folgende Theorien fiber die Entstehung des Grafe'schen Symptoms
aufgestellt werden: namlich dass es zu Stande komme
1. durch Storungen des Sympathicus,
2. Storung der betreffenden Reflex- und Coordinationscentren,
3. durch Einwirkung der erweiterten Orbitalgefasse auf den
Levator.
Ferri glaubt, dass die Muskelsubstanz des Levator durch Erwei¬
terung der Gefasse manchmal verkfirzt werde und es dadurch zur
Retraction des Oberlides komme.
4. Insufficienz des Orbicularis,
5. Steigerung der Lidheberwirkung.
Wilbrand uud Sanger schliessen sich im Ganzen der Ansicht
von Mobius und Bruns an, dass es sich um Erregungszustande der
Lidheber handelt, glauben aber, dass noch andere mechanische Ver-
haltnisse mitspielen, welche individual verschieden sind und unter der
Einwirkung des Exophthalmus mehr oder weniger deutlich hervor-
treten. Sie weisen darauf hin, dass zwischen Levator palp. sup. und
Rectus sup. eine Verbindung durch einen Fascienzipfel existirt und dass
die Faltung der Conjunctivalschleimhaut, in welche die Fascienzipfel
genannter Muskeln eine Insertion hineinsenden, manchmal weniger,
manchmal mehr ausgiebig ist. Beim Blick nach unten wird der An-
satz des Rectus superior nach vom unten gezogen und mit ihm der
des Levator palp. sup. 1st die Verbindung eine schlaffere, so braucht
das obere Augenlid der Abwartsbewegung nicht gleich zu folgen und
so kann die Entstehung des Grafe’schen Symptoms bei normalen
Individuen erklart werden; tritt durch starkere Fttllung der Orbital¬
gefasse der Zustand des Exophthalmus ein, so kann zunachst dadurch
ein Klaffen der Lidspalte und seltenerer Lidschlag hervorgebracht
werden (Stellwag). Durch den in Folge des Exophthalmus entstan-
denen Zug des vorgetretenen Augapfels soli der Tonus des Levator
noch erhoht werden und so das Zuruckbleiben des Oberlides noch
verstarkt werden. Die Abhangigkeit des Grafe'schen Symptoms vom
Exophthalmus geht bei M. B. noch hervor aus Beobachtungen von
Mobius, welcher meint, dass Exophthalmus, wenn auch in geringem
Grade, fast immer bei M. B. vorhanden sei, ferner Fitzgerald, wel-
8 *
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116 VI. Flatatj, Ueber den diagnost. Werth dea Grafe’schen Symptoms etc.
cher bei 4 Fallen von einseitigem Exophthalmus nur an diesem Auge
Grafe’sches Symptom fand, und schliesslich von Hack, in dessen
Beobachtung das Grafe’sche Symptom zugleich mit dem Exophthal¬
mus verschwand (citirt nach Wilbrand und Sanger, „Neurologie des
Auges“).
Ffir die von mir beobachteten Falle mit Ausnahme des zweiten muss
von der Heranziehung des Exophthalmus zur Erklarung des Grafe-
schen Symptoms abgesehen werden; die von Wilbrand und Sanger
(1. c.) beschriebenen anatomischen Verhaltnisse gentigen aber zur Er¬
klarung der Thatsache, dass das Grafe’sche Symptom auch bei ge-
sunden Personen vorkommt, und es gelingt, dasselbe willkurlich her-
vorzubringen. Fttr die Beobachtungen des Grafe'schen Symptoms
an sonst gesunden Personen muss man sich erinnern, dass bei vielen
Menschen wahrend des Sprechens, besonders bei etwas erregter Unter-
haltung, eine Neigung zur Erweiterung der Lidspalte besteht, die nur
auf eine Erh5hung des Levatortonus zurtickgef&hrt werden kann.
Untersucht man bei solchen Personen jetzt auf das Grafe'sche Sym¬
ptom, so wird man es haufig finden, zugleich aber feststellen konnen,
dass es zu anderen Zeiten, oft nur kurze Zeit, nachdem man es eben
nachgewiesen hat, nicht mehr vorhanden ist. Auf den in Folge psy-
chischer Erregung vermehrten Levatortonus muss das Bestehen des
Grafe’schen Symptoms auch in den Fallen von Neurasthenic (1. Fall),
traumatischer Neurose (2 Falle), Hysterie (2 Falle) bezogen werden.
In dem Falle von Tumor cerebri und dem von Diplegia spastica
cerebr., die nur einmal untersucht wurden, kann eine ausreichende Er¬
klarung nicht gegeben werden.
Bei dem Falle von Bulbarparalyse wurde sowohl Erweiterung der
Lidspalte als Grafe’sches Symptom constant beobachtet und, obgleich
der Lidscbluss nicht abnorm schwach war, ist hier wohl am ehesten
an eine Schwache des Orbicularis zu denken.
Aus den vorstehenden Erorterungen glaube ich schliessen zu dtLrfen,
dass das Grafe’sche Symptom keine wesentliche diagnostische Be-
deutung hat und dass sein Zustandekommen bei den verschiedenen
Erkrankungen verschieden zu deuten ist.
Die Theorie von Mobius und Bruns im Verein mit den von
Wilbrand und Sanger angegebenen anatomischen Befunden reicht
fhr die Erklarung in vielen Fallen aus.
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Aus der K3nigl. medic. Universitatsklinik zu Halle a./S.
(Director: Qeh. Med.-Rath Prof. Dr. Webeb.)
Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemi-
an&sthesie und Hemiplegie.
Yon
Assistenzarzt Dr. A. Hofmann,
z. Z. Oberarzt der Klinik del Herm Prof. Dr. v. Mering.
(Mit 6 Abbildungen.)
So bekannt und haufig vorkommend das Bild der Hemianasthesie
verbunden mit Storungen der specifischen Sinnesorgane derselben Seite
bei Hysteric ist, so selten sind die Falle, wo in Folge einer organischen
intracerebralen Erkrankung dieser Symptomencomplex zur Beobachtung
kommt. Die Mittheilung eines weiteren derartigen Falles erscheint
deshalb gerechtfertigt, um so mehr, als er einige bemerkenswerthe
Eigenthttmlichkeiten darbietet und zur Aufklarung einer strittigen
Frage beitragt.
Die Krankengeschichte ist folgende:
J. St., 26 Jahre alt, Bergarbeiter aus Kl.-Sch. in Posen, wurde am
19. Mai 1899 in die hiesige medicinische Klinik aufgenommen. Seine
Eltera leben und sind gesund, nur zuweilen leidet die Mutter an Kopf-
schmerzen. Sechs Geschwister sind gleichfalls gesund. Das erste Kind
seiner Eltern starb einen Tag nacb der Geburt an unbekannter Krankheit,
ein anderes im vierten Lebensjahre an einer „Erkaitungskrankheit“, nach-
dem es Yorber immer gesund gewesen war. Es war dies eines der zuletzt
geborenen Kinder. Patient ist der zweit<este seiner Geschwister, war
als Kind stets gesund und auch von alien Kinderkrankheiten verschont ge-
blieben. Seit seinem 14. Lebensjahre half er seinem Vater in der Sch&ferei,
und will stets sehr mftssig gelebt, nur an Sonntagen Bier in geringer
Menge genossen haben. Geschlechtliche Infection wird auf das Ent-
schiedenste in Abrede gestellt. Vor fiinf Jahren, in seinem 21. Lebensjahre,
fiel er plbtzlich beim Viehffittern im Stalle bewusstlos zusammen, ohne sich
kQrperlich besonders angestrengt und ohne irgend welches Unwohlsein vorher
verspfirt zu haben. Er mochte etwa eine Stunde bewusstlos dagelegen haben,
als ihn sein Vater fand. Mit seiner Hiilfe konnte er, als er das Bewnsst-
sein wieder erlangt hatte, nach Hause gehen, doch waren der linke Arm
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118
VII. Hofmann
and das linke Bein sehr schwach, das letztere mehr wie der Arm. Ob
Kr&mpfe in den Gliedem auftraten, vermag er nicht anzugeben. Am n&chsten
Tage stellten sich Schmerzen in der linken Korperhftlfte ein nnd er be-
merkte zugleick, dass er aaf dieser Seite nichts fiihlte, dass er Gespr&che
anf dem linken Ohre schlechter hbrte, anf der linken Zungenh&lfte nichts
schmeckte nnd dass es ihm „wie ein Schleier vor den Angen lag u . Die
Parese, in Folge deren er den Arm nor zur halben Horizontalen, das Bein
noch weniger heben konnte, besserte sich nach 3 Tagen, doch bestanden
Schwindelgefdhl nnd Schmerzen in der linken Kbrperseite weiter. Nachdem
er l 1 ^ Monate zn Hause geblieben, machte er 10 Wochen lang in einem
orthop&dischen Institute in Breslau Uebungen zur St&rkung seiner noch
immer schwachen linksseitigen Extremit&ten. Im Laufe dieser Zeit ver-
schwanden die Schmerzen in der linken Kfirperh&lfte fast ganz und anch
die Paresen besserten sich, Arm und Bein vermochte er jetzt fiber die
Horizontal zu heben; doch fiel ihm eine Abmagerung der linken Hand auf,
deren Beginn er nicht mehr genauer anzugeben vermag. In das Eltemhaus
zurfickgekehrt, verblieb er daselbst zwei Jahre, w&hrend deren er oft ein
leichtes Schwindelgefuhl und diffuse, besonders rechtsseitige Kopfschmerzen
in der Stim- und Scheitelgegend verspfirte. Die Schmerzen in der linken
Korperh&lfte traten nur nach l&ngerem Gehen und Stehen auf. Alsdann
nahm er eine Stelle als Bergarbeiter in einer Grube an, wo er im ersten
Jahre ziemlich schwere Arbeit verrichtete. W&hrend er anfangs nur eine
zunehmende Schw&che in den linken Extremit&ten verspfirte, stellten sich
nach i l 2 Jahre Schmerzen in beiden Beinen ein, die sich zuweilen zu schmerz-
haften, krampfartigen Muskelcontractionen steigerten. In Folge dessen
musste er mehrmals die Arbeit aussetzen, wonach sich die Schmerzen jedes-
mal besserten, um nach Wiederaufhakme der Arbeit von Neuem aufzutreten.
Er wurde deshalb bei leichter Arbeit besch&ftigt, doch blieben die Schmerzen
in der linken Seite jetzt anhaltend, wenn sie sich auch nicht mehr zu
krampfartigen Zuf&llen steigerten. Vor einem Jahre versuchte er nochmals,
sich bei schwerer Arbeit zu besch&ftigen, sofort stellten sich aber jene Zu-
f&lle unter fiusserst starken Schmerzen wieder ein. Am 22. December v. J.
erreichten sie eine solche Heftigkeit, dass er zu Boden fiel und nach Hause
getragen werden musste. Es stellte sich auch wieder ein grosses Schw&che-
geffihl in den linken Extremit&ten ein. Im Krankenhause zu Altdebern
besserte sich sein Zustand etwas, doch traten sofort wieder heftigere Schmerzen
au£ wenn er das Bett verliess. Vorubergehend erkrankte er dort noch an
einem Hautausschlage, der seiner Beschreibung nach ein n&ssendes Ekzem
war und am Scrotum und Oberschenkel sass, bald aber geheilt wurde. Am
19. Mai wurde er in die hiesige Klinik aufgenommen.
Status praesens. Patient ist ein mittelgrosser Mann von leidlich
gutem Ernfthrungszustande und geringem Fettpolster, dessen Brust- und
Bauchorgane vollkommen gesund sind. Insbesondere l&sst sich weder am
Herzen und dem fibrigen Gef&sssysteme, noch an den Nieren etwas Krank-
haftes nachweisen. Auch Zeichen einer heredit&ren oder erworbenen Lues
fehlen, nur hinter den beiden Ohren ffihlt man eine kleine, erbsengrosse,
verschiebbare, wie eine vergrbsserte Mastoidealdrtise erscheinende Ver-
dickung.
Seine Klagen bestehen in Schw&cbe und Schmerzen in der ganzen
linken Kbrperseite und im rechten Beine.
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Ein Fall cerebraler seusibler und sensorieller Hemianasthesie etc. U9
Er ist bei freiem Sensorium und antwortet klar und verstandig, wenn
auch zuweilen etwas langsam, in gebrochenem Deutsch. Sprach-, Lese- nnd
Schreibstdrungen irgendwelcher Art besteben nicht. Seine Stimmnng ist
etwas deprimirt, im Verlaufe der weiteren Beobachtung zeigt er sicb leicbt
znm Weinen geneigt. Er giebt an, dass sein Gedachtniss seit dem Beginne
seiner Krankheit vor 5 Jahren nachgelassen habe, anch seine F&higkeit,
Rechenaufgaben auszuftihren, habe gelitten. Er vermag auch nur die aller-
einfachsten Exempel des kleinen Ein mal Eins zn ldsen.
Es besteht eine linksseitige totale Anasthesie, Herabsetzung der Function
der hdheren Sinnesorgane links, Parese and AtropMe der linken Extremit&ten.
Eine genauere Untersnchung ergiebt Folgendes:
Kopf nach alien Seiten frei beweglich, auf Beklopfen etwas dififos
empfindlich, besonders iiber der rechten Stirn- und Scheitelgegend. Die ganze
linke Gesichtsh&lfte erscheint ein wenig geringer entwickelt, besonders die
Wangenpartie etwas flacher und die Musculatur am unteren Kieferrand
etwas diinner wie rechts. Das rechte Ohr misst in seiner Lange und Breite
7,0 resp. 3,3 cm, das linke 6,6 reap. 3,1 cm. Die iibrigen Maasse des Ge-
sichts und Schadels sind beiderseits gleich, ebenso Dicke, Farbe und Be-
haarung der Haut.
Olfactorius. Rechts werden alle Geruchsqualitaten normal empfunden,
links werden Geriiche, wie von Campherspiritus, TerpentinSl, Kolner Wasser,
Asa foetida, Essig gar nicht wahrgenommen. Die Untersuchung des Nasen-
inneren ergiebt eine normale Schleimhaut. Scharfe Geriiche, wie Ammoniak
und Acidum acet. glaciale werden links in sehr geringem Grade (Trige¬
minus) wahrgenommen, rechts dagegen rufen sie die normale starke Reiz-
emptindung hervor. Dieser Befund bleibt w&hrend der ganzen Beobachtungs-
zeit unver&ndert.
Opticus. Der ophthalmoskopische Befund ist auf beiden Augen ein
normaler. Bei einer grob orientirenden Untersuchung werden Finger links
auf 5 m gezfthlt, rechts besteht normale Sehscharfe. Auf dem linken Auge
concentrische Gesichtsfeldeinengung, rechts normales Gesichtsfeld. Um diesen
Befund von fachm&nnischer Seite controliren und den Grad der Gesichts¬
feldeinengung am Perimeter genau feststellen zu lassen, und um mich zu
vergewissern, ob dieses auff&llige Ergebniss ein constantes sei, warden
wiederholte Untersuchungen in der hiesigen K3nigl. Universitatsaugenklinik
vorgenommen, f&r die ich den Herren Collegen auch an dieser Stelle meinen
verbindlichsten Dank ausspreche. Die erste von Herrn Dr. Sandmann,
I. Assistenten der Augenklinik, am 16. Juni vorgenommene Priifung ergab:
Das ophthalmoskopische Bild normal. Rechts voile Sehscharfe, links an-
fangs 0,5, die dann durch geeignete Mittel auf 0,9 der Norm gebracht wird.
Rechts normales Gesichtsfeld, links concentrische Einengung fiir Weiss
und alle Farben. Sicher keine Hemiopie. Zugleich wollte Patient auf dem
linken Auge beim Blick nach den Seiten Diplopie, also monoculare, haben,
was natiirlich nicht der Fall war. Das Ganze mache den Eindruck eines
nervdsen Augenleidens. Wiederholte Untersuchungen meinerseits ergaben
stets concentrische Gesichtsfeldeinengung links, rechts normales Gesichtsfeld.
Eine zweite, 5 Wochen spater vorgenommene Untersuchung seitens des
Herrn Collegen Dr. Wagner ergab: Rechts normales Gesichtsfeld, links
concentrische Einengung fur Weiss und alle Farben (s. Fig. 1). Auch
bei binocularer Aufnahme ergiebt sich dies. Rechts normale Sehscharfe,
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120
VII. Hofmann
links < 0,5. Monocnl&re Diplopie wird nicht mehr angegeben. Eine dritte
Untersuchung am 8. August verdanke ich Herrn Collegen Dr. Schick:
Augenhiutergrund normal. Sehsch&rfe rechts 0,6, links 0,3 der Norm. Ge-
sichtsfeld links ist fUr Weiss nnd alle Farben aufs Aeusserste eingeengt,
auch rechts zeigt sich heute eine Starke concentrische Einengung. Derselbe
Befund wird am n&chsten Tage erhoben, doch wird das Gesichtsfeld nach leicbter
Faradisiruner der Aiuren beiderseits etwas weiter an¬
gegeben. (S. Figg. 2 S. 122 u. 123.) Ueber eine vierte
Untersuchnng am 1. September berichtete mir Herr
College Dr. Schlodtraann, L Assistent der Augen-
Grenze fdr Weiss
81 m
. Etoth
w - tfrfa
Fig. 1.
klinik: Bei einer eingehenden Untersuchnng des St. habe ich heute gefunden:
Binocular rait— 0,5 D ist S<0,9. Rechts S<0,8 (augenscheinlich hat er hier
in Wirklichkeit < 0,9); links S < 0,7. Das Gesichtsfeld des linken Auges ist
fast normal und erst nach mehrfachen Aufnahmen so angegeben. Die Kreuzchen
bedeuten die urspriinglichen Angaben (s. Figg. 3 S. 124 u. 125.) Es handelt sich
entweder um Simulation oder stark herabgesetzte Willenskraft, die erst durch
Zureden und Suggestion kiinstlich gehoben werden kann. Etwas Patho-
logisches habe ich nicht gefunden. — Bereits am n&chsten Tage war das
Gesichtsfeld links wieder stark eingeengt.
Oculomotorius, Trochlearis, Abducens. Augenbewegungen nach
alien Seiten mon- und binocular frei, keine Doppelbilder. Keine Ptosis,
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Em Fall cerebraler sensibler and sensorieller Hemianasthesie etc. 121
kein Nystagmus. Linke Pupille etwas enger wie die rechte, beide mittel-
weit, accomodativ and reflectorisch gut reagirend. Keiue hemianopiscbe
Pupillenstarre.
Trigeminus. Bei Seitw&rtsbewegung der Unterkiefer keine Stttrung
in ihrer motorischen Function, dagegen wird der Biss auf ein Holzstbck
links mit etwas geringerer Kraft wie rechts ausgefiihrt, wahrscbeinlicb aber
nur wegen Schmerzen, die Patient dabei zwischen Ohr und Jochbogen
empfindet Die Sensibilit&t der linken Gesichtshalfte ist fur Beriihrung
vollkommen aufgehoben. Von eiuer scharf in der Mitte des Gesichts iiber
Stirn, Nase, Lippen und Kinn verlaufenden Linie an besteht starke Hypas-
Fig. 1.
thesie, die */ 4 cm nach links in yollst&ndige An&stkesie iibergeht. Vome
geht diese An^sthesie in die gleicbfalls gefbhllose Zone des Nerv. subcutan.
colli, nach hinten und oben in die der Nn. auricular, magnus, occipital,
minor und major iiber. Die An&sthesie betrifft auch die Schleimhaut der
Zunge, Lippen, Wangen, des Gaumens und Rachens liukerseits, gleichfalls
in der Mittellinie beginnend. In den tieferen Partieen des Pharynx, der
Epiglottis und des Larynx ist die Sensibilit&t erhalten. An der Con¬
junctiva bulbi ist sie stark herabgesetzt, doch noch etwas vorhanden, der
Lidreflex erfolgt auf Beriihrung links weniger prompt wie rechts. Keine
trophischen Stftrungen am Augapfel, norraaler, beiderseits gleicher Feuchtig-
keitsgehalt der Conjunctivalschleimhaut. Die Schmerzempfindung ist auf
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122
VII. Hofmann
der ftusseren Haut nnd den Schleimh&uten stark herabgesetzt. Kneifen,
Stechen mit einer Nadel werden nur wenig schmerzhaft empfonden, die
linke Zungenh&lfte ist selbst far tiefe Nadelstiche unempfindlich. Relativ
am wenigsten ist die Schmerzempfindung berabgesetzt in der Gegend zwischen
Nase nnd nnterem Augenlide, w&brend die Scbleimbaat der Nasenscheide-
wand in ibren oberen Tbeilen sogar schmerzempfindlicher ist wie rechts.
Temperaturnnterscbiede werden nicht empfonden, Beriihrung mit Eis wird
gar nicht, mit einem beissen Glase nur als Betastring wabrgenommen. Starke
Geriiche werden links nnr in geringem Grade empfonden. Die linke Znngen-
h&lfte empfindet in ibren vorderen Partieen keinerlei Geschmacksqualit&ten,
Fig. 2.
desgleicben die hinteren (Nerv. glossopharyngeus.), w&hrend rechts normale
Verh<nisse besteben. Der Feucbtigkeitsgebalt der Mundhohle ist beider-
seits gleicb, die Geschmacksstbrnngen bestanden wahrend der ganzen Beo-
bachtungszeit unverandert fort.
Facialis. Wie bereits erwaknt, ist die ganze linke Wangenpartie
etwas flacher and weniger entwickelt, and wohl nur aus diesem Grande er-
scbeint die linke Nasolabialfalte etwas seicbter wie recbts. Die Mundwinkel
steben beiderseits gleicb bocb. Die willkiirlichen mimischen Bewegungen,
wie Pfeifen, Spitzen des Mundes, Riimpfen der Nase, werden beiderseits
gleiclimftssig aasgefubrt, aach der Stiraast fonctionirt beiderseits gleicb.
Dagegen bleibt bei onwillkiirlichen, nicht za aasgiebigen mimischen Be*
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Em Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 123
wegungen, beim L&cheln oder Weinen der linke Mundwinkel in geringem
Grade, aber deutlich tiefer stehen nnd die linke Nasolabialfalte ist noch
niehr verstrichen, w&hrend bei starkem Lachen dieser Unterschied zwiscben
beiden Seiten wieder verschwindet. Die Bewegnngen des Ganmensegels
beiderseits gleich, dock steht die linke H&lfte etwas bober und erscheint
schm&ler; die Uvula ist leicht nach rechts geneigt.
Acusticus. Rechts wird das Ticken einer Taschenubr auf 1 m, links
auf 10 cm geh5rt. Andere Male hbrt er sie aber wieder auf 20—40 cm.
Knochenleitung rechts iiberall gut, links wird die Taschenuhr nur am
Warzenfortsatz ganz leise gehbrt. Der Rinne’sche Versuch beiderseits
positiv. Bei dem Weber’schen hort Patient die Stiramgabel bei offenem Gehor-
Fig. 2 .
gauge beiderseits gleich, bei geschlossenem linken nicht, nur ein Brummen
und Summon im ganzen Kopfe, bei geschlossenem rechten auf diesem Ohre.
Glossopharyngeus, Vagus, Accessorius. Geschmacksempfindung
links vollst&ndig aufgehoben, auch fur die st&rksten Substanzen. Keine
Schluckstbrungen. Athmung ruhig, 20 pr. Min., desgl. Herzaction 72—80.
Im Kehlkopf nichts Abnormes, Sensibilit&t des Kehlkopfinnern, der Epiglottis
und der tieferen Pharynxpartieen beiderseits gleich. Der linke Musculus
cucullaris zeigt beim Heben der Schultern eine deutliche Schw&che gegeniiber
dem rechten, wfthrend die Widerstandspriifung der Sterno-cleido-mastoidei
beiderseits gleich ausf&llt.
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124
VII. Hofmann
Hypoglossus. Die Zunge wird gerade herausgestreckt, zeigt keine
Atrophie Oder fibrillaren Zuckungen. Keine Storungen beim Kauen, Schlncken,
Sprechen.
An der linken Rumpfhftlfte und den linken Extremitftten zeigt sich
gleichfalls yollkommener Schwnnd des Tastgefiihles. Anch hier verlftuft
vorne nnd hinten genau in der Mitte eine gerade Linie, von welcber nach
links eine schmale, etwa j / 4 cm breite Zone stark herabgesetzter Sensibilitat,
alsdann aber totale An&sthesie folgt. Pinselstriche Oder Beruhrung mit dem
Finger werden nirgends gefiihlt. Druckdifferenzen werden anch nicbt erkannt,
nur sehr starker Druck anf die Knocben wird als leichter Drnck empftmden.
Fig. 3.
Die Schmerzempfindung der Haut fdr Stecben und Kneifen ist gleicbfaUs
vollkommen aufgehoben mit Ausnahme einer Stelle des linken Beines. Hier
findet sich anf der Hinterseite des Ober- nnd Unterschenkels sowie anf der
Vorderflftche des letzteren vom Knie an ein Bezirk, in dem die Schmerz-
empfindnng noch erbalten ist, oben in geringerem, an der Fnsssohle in
bbherem Grade. Der Ortssinn, der nur an diesen Stellen gepriift werden
kann, ist gleichfalls stark beeintr&chtigt, denn bei den Angaben, wo er ge-
stochen worden sei, deutet Patient meist handbreit daneben. Der Banmsinn
ist gleichfalls vollst&ndig geschwnnden. Temperatnrnnterschiede werden
an keiner Stelle erkannt. Patient verbrannte sich w&hrend seines Anfent-
haltes in der Klinik eines Tages die linke Hand bis znr Blasenbildung an
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Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasfchesie etc. 125
einem heissen Sandsacke, obne sich dessen bewnsst zu werden. Ansserdem
zeigte die Hand eine Reihe alter, yon Verbrennnngen herrtihrender Narben.
Der Mnskelsinn ist vollstandig vernichtet, passiv ansgeffihrte Bewegnngen
der linken Extremitaten werden nicht wahrgenommen, die Lage der Glieder
nicht erkannt. SelbstverstSndlich ist anch der stereognostische Sinn gftnz-
lich vernichtet. Die faradocntane Sensibilitat anch for die starksten Strtime
erloschen, er nimmt nnr die Muskelznckung wahr nnd verspiirt bei Be-
ruhrnng der Wangen einen sanren Geschmack.
Patient klagt liber spont&ne Schmerzen, die reissend, stechend nnd
ziehend in Arm, Bein nnd Rnmpf linkerseits fast andanemd vorhanden
Fig. 3.
sind. Anch in Zeiten, wo dieselben sich in geringerem Grade geltend
machen, besteht ein sclimerzhaft brennendes Gefiihl in den genannten Regionen,
besonders hanlig nnd heftig in der Gegend der linken Fussknbchel. Einzelne
achmerzhafte Nervenstamme, Gelenkaffectionen oder schmerzhafte Contrac-
tnren bestehen nicht, vielmehr sind die Schmerzen an alien Theilen der Extremi-
t&ten nnd des Rnmpfes vorhanden. Schon bei leicht kiihler Anssentemperatnr
steigern sich die Schmerzen, er r friert u dann, wie er sich ansdriickt, ohne
dass er den Temperatnrunterschied wirklich empfindet.
Anch im rechten Beine verspiirt er Schmerzen, die sich aber im Ver-
laufe des Nerv. ischiadicns halten. Die Hantsensibilitat ist in diesem Be-
zirk etwas herabgesetzt. Nachweisliche Atrophie ist nicht vorhanden.
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126
VII. Hofmann
Die motorischen Storungen der linken Seite sind recbt betrfichtliche.
Der linke Arm wird bis zur halben Horizontalen, das linke Bein nar wenig
liber die Unterlage emporgehoben. Bewegt man die Extremit&ten weiter,
so steigern sich die Schmerzen. Beim Gehen hinkt Patient anf dem linken
Bein, der Gang ist links spastisch-paretisch, das linke Bein wird dabei
im Knie nicht gebengt; die Fusssohle tritt mit dem fcusseren nnd inneren
Rande gleichm&ssig anf. Die rohe Kraft im rechten Arme m&ssig gat, in
den linken Extremit&ten stark herabgesetzt. Recbts driickt Patient 45 k,
links 1 k mit dem Dynamometer. Contractnren bestehen nicbt, nor zu-
weilen erscheinen bei passiven Bewegnngen ganz leichte Spasmen.
Die linken Extremitaten zeigen kleinere Maasse wie rechts.
Recliter Arm vom Akromion bis zur Spitze des Mittelfingers 80,9 cm
Linker „ „ „ „ w „ „ „ 79,0 ,,
Umfang des rechten Armes 15 cm fiber dem Olecranon 28,4 „
,, „ linken „ „ „ „ „ 26,1 T ,
,, „ rechten Unterarmes 10 cm unter dem Olecranon 26,5 „
„ „ linken „ „ „ „ „ 25,2 ,,
„ „ rechten „ am Handgelenk 17,4 „
„ " „ linken „ „ „ 16,8 ..
Eine sehr starke Atrophie weist die linke Hand anf, die der bei der
progressiven Muskelatrophie gleicht. Am starksten vorgeschritten ist die-
selbe an der Musculatnr des linken Daumenballens, an dessen Stelle sich
eine tiefe Grube zwischen Daumen und Zeigefinger findet. Die abduci-
renden, adducirenden und opponirenden Bewegungen des Daumens werden
nur sehr wenig ausgiebig und mit minimaler Kraft ausgefulirt. Flexion
des Daumens geschieht in noch geringerem Grade. Auch die Interossei
sind atrophisch, die Spatia interossea auf Dorsal- und Volarflftche stark aus-
gepragt, die Vola manus betr&chtlich abgeflacht. Die vier letzten Finger
werden im 2. Phalangealgelenke fast rechtwinklig gebeugt gehalten und
ktfnnen activ nur wenig gestreckt werden, auch passiv nicht bis zur Graden.
Rechter Oberschenkel von d. Spina ant. super, bis zur Spitze
der grossen Zehe 108,5 cm
Linker Oberschenkel von d. Spina ant. super, bis zur Spitze
der grossen Zehe 106,2 „
Umfang des rechten Oberschenkels 23 cm iiber dem oberen
Patellarrande 46,0 „
Umfang des linken Oberschenkels 23 cm iiber dem oberen
Patellarrande 44,1 „
Umfang des rechten Unterschenkels 30 cm unter dem unteren
Patellarrande 31,2 ,,
Umfang des linken Unterschenkels 30 cm unter dem unteren
Patellarrande 29,8 ,,
Umfang des rechten Unterschenkels unmittelbar iiber den
Knbcheln 20,4 ,,
Umfang des linken Unterschenkels unmittelbar iiber den
Knocheln 19,8 „
Der linke Fuss zeigt keine Atrophie in der Weise wie die Hand.
Die linke Glut&algegend erscheint beim Gehen gleichfalls deutlich
flasher wie die rechte.
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Em Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 127
Der Pharynxreflex lftsst sich rechts in normaler Weise ausliteen, links
tritt er nor bei starkerer Beriihrung anf. Bauchreflexe rechts schwach,
links fehlend, Cremasterreflex rechts sehr schwach, links fehlend.
Patellarreflex rechts lebhaft, links sebr gesteigert, Achillessehnenreflex
rechts nicht vorlianden, links lebhafter Fussclonus, der Fusssohlenreflex
rechts gering, links sehr gesteigert.
Die Bicepssmascalatnr des linken Armes zeigt zuweilen einzelne
Zackungen, kleinere fibrillftre Zncknngen sind fast best&ndig in der atro-
phischen Danmenballenmusculatnr zu sehen. Die Finger der linken Hand
fuhren kleine choreaartige Bewegungen aus, indem der kleine Finger bald
abducirt, die anderen bald flectirt, bald extendirt werden.
Die elektrische Priifnng mittels des faradischen und galvanischen
Stromes ergiebt eine normale, beiderseits gleiche Erregbarkeit der Nerven
und Miiskeln. Nur die Erregbarkeit der atrophischen Daumenballenmuscu-
latur ist etwas herabgesetzt, entsprechend dem Schwunde der Muskelfasern.
Die Differenz betragt bei dem faradischen Strome 20 mm Rollenabstand
gegen rechts. Keine Spur von Entartungsreaction.
Blasen- und Mastdarmthatigkeit sind ungestort.
Die Temperatur war eine normale, nur selten kamen abendliche leichte
Steigerungen bis 37,9 vor. Dagegen zeigte die linke Kflrperhalfte stets
einige Zehntel Grade weniger wie die rechte.
Als Beispiel hierfiir mhgen folgende Zahlen dienen.
Rechts Links
Morgens Abends Morgens Abends
4. August. 37,2 37,9 36,9 37,6
5. August. 87,4 37,5 37,0 37,4
6. August. 37,4 37,6 37,3 37,4
Auch in den Nasenlftchern und ausseren Gehorgangen wurden Messungen
angestellt:
Rechtes Nasenloch | Linkes Nasenloch
Morgens
Abends Morgens
Abends
5. August. 37,0
36,9 36,6
36,6
Rechtes Ohr
Linkes
Ohr
Morgens
Abends Morgens
Abends
5. August. 36,9
37,0 1 36,5
36,7
Diese des Oefteren wiederholten, mit genau gehenden Thermometern
ausgefiihrten Messungen ergaben auf der linken Seiten stets eine Temperatur,
die hinter der der rechten um 0,1—0,4° zuriickblieb.
Auch die Feuchtigkeit der Haut war auf beiden Kbrperhaiften eine
verschiedene, indem die linke stets trockner war. Am deutlichsten zeigte
sich dieser Unterschied, wenn Patient kiinstlich zum Schwitzen gebracht
wurde. Wahrend dann auf der rechten Korperhalfte die Schweisstropfen
scharf bis zur Medianlinie standen, fiihlte sich der Rumpf links nur wenig
feucht, Arm, Bein und Gesicht aber trocken an.
Fassen wir das Wesentlichste der yorstehenden Krankengeschichte
nochmals kurz zusammen: Ein aus gesunder Familie stammender,
bisher vollkommen gesunder junger Mann von 21 Jabren erleidet
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128
VII. Hofmann
plotzlich in volligem Wohlbefinden einen Schlaganfall, in Folge dessen
er bewusstlos zu Boden fallt. Nach dem Erwachen bemerkt er eine
betrachtliche Parese der linken Extremitaten, auch das Geftihl auf der
ganzen linken Seite ist geschwunden. Auf dem linken Ohre hort er
nicht mehr so gut wie frtiher, die linke Zungenhalfte schmeckt nicbts
mehr, liber den Augen, besonders dem linken, liegt es ihm „wie ein
Schleier“. Zugleich treten lebhafte Schmerzen in der ganzen linken
Korperhalfte auf. Die Parese bessert sich schon nach drei Tagen, auch
die Schmerzen lassen allmahlich nach, bald stellt sich aber eine Atro-
phie der linken Hand ein und die GefQhllosigkeit mit den genannten
Gehor-, Geschmack- und Sehstorungen bleibt eine dauernde. Wahrend
er zu leichter Arbeit noch fahig ist, treten bei schwererer sofort
heftige Schmerzen in der linken Seite auf, die Schwache in den linken
Extremitaten nimmt zu und es gesellt sich noch eine rechtsseitige Ischias
zu den tibrigen Beschwerden. Trotzdem versucht Patient immer wieder
an die Arbeit zu gehen, die Schmerzen steigem sich zu krampfartigen
Anfallen in den unteren Extremitaten, und er muss sich ins Kranken-
haus begeben. Flinf Jahre nach dem Beginne der Krankheit findet
sich eine vollstandige Anasthesie in der linken Korperhalfte ftir Be-
rlihrung; Druck- und Raumsinn sind yollkommen, Ortssinn fast voll-
standig geschwunden, Schmerzempfindung nur noch an einzelnen Stellen
des Beines und des Gesichts vorhanden, wenn auch abgeschwacht,
Temperatur-, Muskel- und stereognostischer Sinn ganzlich aufgehobeu.
Andauernde Schmerzen in der linken Korperhalfte, rechtsseitige Ischias.
Geruch und Geschmack sind auf der linken Seite ganz geschwunden,
die erstere Storung kommt dem Patienten bei unsererUntersuchung zum
ersten Male zum Bewusstsein. Wahrend der Verlust dieser Sinne
links ein ganzlich er und andauernder ist, ist das Gehor- und Sehver-
mogen links nur stark beeintrachtigt und in seiner Leistungsfahigkeit
schwankend. Vortibergehend betheiligt sich auch das rechte Auge
an der Sehstorung, die in Einengung des Gesichtsfeldes mit Abnahme
der Sehscharfe bei normalem ophthalmoskopischem Befunde besteht.
Dabei besteht hochgradige Schwache der linken Extremitaten, eine
leichte Parese des Nerv. facialis bei unwillktlrlichen mimischen Be-
wegungen und eine Schwache des Musculus cucullaris links. Die
linke Hand ist stark atrophisch, die Langen- und Umfangsmaasse der
linken Extremitaten bleiben hinter denen der rechten zurlick, doch
besteht keine Entartungsreaction. Die Temperatur der linken Korper¬
halfte ist niedriger wie die der rechten, ebenso der Feuchtigkeitsgehalt,
starkerer Schweissausbruch ist auf dieser Seite nicht hervorzurufen.
In einzelnen Muskeln und an der linken Hand zeigen sich kleine
Zuckungen und choreaartige Bewegungen der Finger.
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Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 129
Bezfiglich der weiteren Krankengeschichte ist nur wenig zu be-
merken. Bettruhe und warme Einpackungen brachten einige Zeit
Besserung, spater traten die Schmerzen aber wieder von Neuem heftiger
auf. Die Ischias besserte sich dauemd. Da kein atiologisches Moment
fftr die Entstehung der Krankheit zu eruiren war, wurde versuchs-
weise eine Schmiercur mit Ungt hydrarg. ciner. untemommen
und Kal. jodai gegeben, indem wir von dem Gedanken ausgingen,
dass etwa doch eine luetiscbe Gefasserkrankung vorliegen und einem
Weiterschreiten dieses Processes vorgebeugt werden konnte. Ein Er-
folg trat, wie zu erwarten war, nicht ein. Yerschiedene Nervina
brachten auch keine Besserung der Schmerzen. Neben den warmen
Einpackungen leisteten leichte faradische Strome noch die besten
Dienste.
Nach Alledem muss man eine vor funf Jahren stattgehabte
Blutung in die rechte Hirnhemisphare annehmen. Das Fehlen jedes
atiologischen Momentes bei der Jugend des Patienten ist bemerkens-
werth, doch kommen solche Falle immerhin vor. Die Blutung hat
den hinteren Theil des hinteren Schenkels der inneren Kapsel zer-
stort und die vor ihm gelegenen motorischen Bahnen in Mitleiden-
schaft gezogen. Diese Diagnose kann mit Sicherheit gestellt werden,
da nur die Lasion dieser von Charcot als carrefour sensitif bezeich-
neten Stelle den geschilderten Symptomencomplex hervorzurufen ver-
mag. Der Ausfall der verschiedenen Geftlhlsqualitaten war ein so
hochgradiger, wie er nur in seltenen Fallen beobachtet wurde. Es ist
anzunehmen, dass der ganzlichen Yernichtung des Musk el-, Tempera-
tur- und stereognostischen Sinnes, dem Ausfalle des Tastsinns bis auf
geringe Reste eines stark beeintrachtigten Ortssinns und dem Schwunde
der Schmerzempfindung bis auf einen kleinen Bezirk hochgradige Zer-
storungen im Bereiche des hinteren Theiles des lenticulooptischen Ab-
schnittes der Capsula interna zu Grunde liegen mtlssen. Wie in fast
alien Fallen dieser Art war auch hier die motorische Bahn mitbetroffen
und zwar die am weitesten nach hinten liegende fBr das Bein und
den Arm in hohem Grade, der Muscul. cucullaris nur noch wenig,
wahrend die noch weiter nach vorne gelegenen Hypoglossus- und
Facialisfasem intact geblieben waren. Die willkurlichen Bewegungen
der vom Facialis innervirten Muskeln wurden beiderseits in gleicher
Weise ausgeffthrt, nur bei unwillkQrlichen, nicht sehr ausgiebigen
Bewegungen, wie Lacheln, zeigte sich der linke Facialis leicht paretisch.
Bekanntlich soli nach Nothnagel l ) dieses Symptom auf eine Affec¬
tion des Sehhligels hinweisen, ein Satz, der sowohl durch wiederholte
1) Nothnagel,TopischeDiagnostik. 1879, u. Zeitechrift f.klin.Medicin. 1889.
Deutsche ZeiUchr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 9
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130
VII. Hofmann
klinischeBeobachtungen,als auch durch das Experiment v.Bechtere w’s 1 )
bekraftigt worden ist. Bei dem unverkennbaren, wenn aucb gering-
gradigen Yorhandensein dieses Symptoms ist man berechtigt, eine
leichte Lasion des rechten Thalamus opticus anzunehmen, die wahr-
scheinlicb durch Fernwirkung des unmittelbar angrenzenden, in der
inneren Kapsel sitzenden Herdes zu Stande kommt
Trotz des jahrelangen Bestehens des Krankheitsherdes und des
totalen Ausfalles aller GefQhlsqualitaten waren dauernde, oft erhebliche
Schmerzen in der linken Korperseite vorhanden, zu denen sich bei
angestrengter Arbeit auch motorische Reizerscheinungen in Form von
schmerzhaften, krampfartigen Muskelcontractionen in den Beinen und
den Armen gesellten. Das Auftreten dieser Schmerzen unmittelbar
nach dem apoplectischen Anfalle und das Fehlen einzelner schmerz-
hafter peripherer Nervenstamme, schmerzhafter Gelenkaffectionen und
Contracturen, die bei Hemiplegikern bekanntlich nicht selten zu Klagen
Yeranlassung geben, der Charakter der Schmerzen, die nicht allein als
ein Reissen in den Extremitaten, sondern auch als ein bestandiges
Brennen in der linken Rumpfhalfte angegeben wurden, beweisen ihren
cerebralen Ursprung. Unser Fall stellt deshalb einen weiteren Beitrag
zur Frage der central entstehenden Schmerzen dar. Schon frtlher
hatten Gowers, Nothnagel und Bernhardt auf die Moglichkeit
solch central entstehender Schmerzen hingewiesen, wahrend sie anderer-
seits von Mobius 2 ) bestritten wurde. Die Deutung einer Anzahl der
nachstehend aufgefiihrten Mittheilungen in dem Sinne, dass es sich
dabei um Schmerzen gehandelt habe, die durch eine Erkrankung des
Gehirns ausgelost wurden, ist erst durch eine Arbeit Edinger's 3 )
ermoglicht worden, der den sicheren Beweis fQr die Existenz solcher
central entstehender Schmerzen erbrachte. Es handelte sich um eine
Person, welche durch rasende Schmerzen, verbunden mit Hyperasthesie
und Hyperalgesie der Haut zum Selbstmorde getrieben worden war.
Auch die Falle von Ballet 4 ), Greiff 5 ) und Lauenstein 6 ) zeigten
neben den Schmerzen Hyperasthesie der betreffenden Glieder. Bei
1) y. Bechterew, Die Bedeutung der Sehhugel auf Grand von exper. und
pathol. Daten. Virchow’s Archiv. Bd. CX.
2) M5bius, Allgemeine Diagnostik der Nervenkrankheiten.
3) Edinger, Giebt es central entstehende Schmerzen? Dtsch. Ztschr. f.
Nervenheilkunde. 1891.
4) Ballet cit. nach Edinger.
5) Greiff, Zur Localisation der Hemichorea. Arch. f. Psychiatrie. 1883.
Bd. XIV.
6) Lauenstein, Zur Lehre von der Hammond^chen Athetose. Dtsch.
Arch. f. klin. Medic, Bd. XX.
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Ein Fall cerebraler sensibler and sensorieller Hemianasthesie etc. 131
Duchek’s 1 ) Kranken bestanden anfangs Schmerzen, dann Hyper-
asthesie, und Delbanco 2 ) verzeichnet bei einem Patienten Schmerzen
in den Extremitaten. Schmerzhafte Formicationen bei normaler Haut-
sensibilitat beobachtete v. Leyden 3 ). In einer weiteren, gleichfalls
nur aus wenigen Fallen bestehenden Gruppe konnte neben den
Schmerzen Beeintrachtigung der Sensibilitat constatirt werden. Es
sind dies die Falle von Biernaki 4 ), Nieden 5 ), Eisenlohr 6 ), Mann 7 ),
Kolisch 8 ) und Link 9 ), in denen Hypasthesie, und der von Marot 10 ),
bei welchem vollkommene Anasthesie zu finden war. In den Fallen
yon Edinger, Biernaki, Greiff und Lauenstein waren Herde
im Thalamus opticus vorhanden, deren Sitz unmittelbar neben den
sensiblen Bahnen der inneren Kapsel diesen Reiz ausloste, in den
anderen fanden sich solche im Pons und in der Medulla, jedes Mai
aber die sensiblen Bahnen in Mitleidenschaft ziehend. (Jnser Fall, der
dasBild einer Anaesthesia dolorosa darstellt und nur in dem Marot’schen
ein Analogon hat, ist um deswillen bemerkenswerth, weil bei ihm die
Schmerzen auch an Bezirken vorhanden waren, wo alle Geftthlsqualitaten,
auch die Schmerzempfindung, bis auf den letzten Rest erloschen sind.
Bei der Constanz der Symptome, die sofort nach dem apoplectischen
Insulte auftraten und nunmehr unverandert fQnf Jahre bestehen, ist
es unzulassig, die Erkrankung anderer Bahnen im Gehirn anzu-
nehmen, als die, die von vorneherein betroffen waren. Er stellt des-
halb eine schone Illustration zu der Ansicht v. Monakow’s l l ) dar, dass
kein Grand vorliege, eine Erkrankung (und zwar im Sinne einer
Reizung) anderer nervoser Regionen als solcher, deren Zerstorung
Empfindungslahmung bewirkt, anzunehmen, zumal beide, d. h. Reiz-
und Lahmungserscheinungen, nebeneinander, durch einen Herd be-
dingt, bestehen konnen.
1) Duchek cit. nach Nothnagel.
2) Delbanco, Beitrage z. Symptomatol. u. Diag. der Geschwiilste d. Pons.
Dissertation. Berlin. 1891.
3) v. Leyden, Zwei Falle von acuter Bulbarparalyse. Archiv f. Psychiatrie.
Bd. vn.
4) Biernaki, Beitrage zur Lehre von central entstehenden Schmerzen und
Hyperastherie. Dtsch. medic. Wochenschr. 1893.
5) Nieden, Zusammenhang von Hirn- und Augenaffectionen. Arch. f.
Augenheilkunde. 1881.
6) Eisenlohr, Dtsch. med. Wochenschr. 1892. S. 81.
7) Mann, Casuist. Beitrage z. Lehre v. central entstehenden Schmerzen.
Berl. klin. Wochenschr. 1892.
8) Kolisch, Ein Fall von Ponstumor. Wiener klin. Wochenschr. 1893.
9) Link, Ein Fall von Ponstumor. Arohiv f. Psychiatrie. Bd. XXXI.
10) Marot cit. nach Nothnagel.
11) v. Monakow, Gehirnpathologie. S. 364.
9*
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132
VII. Hofmann
Neben diesen sensiblen Reizerscheinungen bestanden auch solche
motorischer Art, indem andauernde kleine choreaartige, zuckende Be-
wegungen in den Fingern der linken Hand, daneben auch Zuckungen
in der Daumenballenmusculatur und im Musculus biceps zu beobachten
waren. Die als posthemiplegische Chorea und Hammond'sche Athe-
tose bekannten Bewegungsstorungen wurden meist in solchen Fallen
gefunden, wo sich Herde in den Sehhiigeln oder im hinteren Theile
der inneren Kapsel ergaben, so dass eine Beziehung zwischen einer
Lasion dieser Qegend und motorischen Reizerscheinungen angenommen
werden muss.
Bemerkenswertb war auch die Atrophie der ganzen linken Korper-
seite, yon der die Hand am starksten befallen war. Bis zu einem
gewissen Grade handelte es sich dabeium ein einfaches Zuriickbleiben in
dem Wachsthume, da die Entstehung der Krankheit in das 21. Lebens-
jahr des Patienten fallt. Die geringen Langenmaasse der Extremitaten
und des Ohres gegen rechts sprechen dafur. Dagegen differirten die
Umfangmaasse der rechten und linken Arm- und Beinmusculatur
zu betrachtlich, als dass man nicht von einer Atrophie hatte reden
mtissen, und die Beschaffenheit der linken Hand beweist das Vorhanden-
sein einer solchen. Inactivitatsatrophieen in gelahmten und paretischen,
wenig gebrauchten Gliedern sind etwas sehr Gewohnliches, erreichen
aber selten einen hoheren Grad. Zudem hatte Patient trotz der hoch-
gradigen Schwache seiner linken Extremitaten dieselben immer noch
zum Arbeiten verwendet. Hier handelte es sich um die immerhin seltene,
durch ihr rasches Auftreten charakterisirte Atrophie cerebralen Ur-
sprungs, und auch unser Patient gab an, dass sie schon einige Wochen
nach dem apoplectischen Insult an der Hand bemerkbar gewesen seL
Charcot 1 ), Joffroy und Achard 2 ) erklarten diese Atrophie durch
ein Uebergreifen der Degeneration der Pyramidenbahnen auf die
Vorderhorner und ihre Ganglien, eine Hypothese, ftir die in neuester
Zeit wieder Schaffer 3 ) eingetreten ist. Doch fanden Senator u. A-.
dass sie auch bei gesunden Vorderhomganglien zu Stande kame, und
man stellte mehrere andere Theorien zu ihrer Erklarung auf. Steiner 4 )
glaubte die Ursache in einem Reize auf die Vorderhornganglien er-
1) Charcot, Leyons sur les localisations dans les maladies du cerveau.
Paris 1876.
2) Joffroy et Achard, Contribution & T4tude de l’atrophie musculaire
chez les h^mipleg. Arch, de med. exp4rim. et d’anatom. 1892.
3) Schaffer, Zur Lehre der cerebralen Muskelatrophie u.s.w. Monateschr.
f. Psychiatrie u. Neurologie. 1897. II.
4) Steiner, Ueber die Muskelatrophie bei der cerebralen Hemiplegic.
Ztschr. f. Nervenheilkunde. 1893. Bd. III.
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Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 133
blicken zu sollen. Borgherini 1 ) nimmt, wie Charcot, eine Lasion
der trophischen Yorderhomganglien an, die aber auf dem Wege der
sensiblen Bahn vom Gehim her erfolge. Quincke 2 ) machte den
Versuch, sie durch den Ausfall trophischer Centren in Folge der Herd-
erkrankung zu erklaren, und Darkschewitsch 3 ) nimmt Gelenkaffec-
tionen, die er zuweilen vorfand, als ursachliches Moment an. Gold-
scheider 4 ) erklart ihre Entstehung so, dass an irgend einer Stelle
des Nervensystems Lasionen stattgefunden haben, welche die zeitliche
Continuitat der Erregung, wie sie fQr die Erhaltung der trophischen
Functionen der Ganglienzellen bez. der Muskeln nothig sind, herab-
setzen.
Die Krankheitsherde, welche man bei cerebraler Muskelatrophie
im Gehim fand, hatten einen sehr verschiedenen Sitz, doch ist man
nach v. Monakow 5 ) aus der Analyse der ca. 17 bis jetzt vorliegenden
Sectionsbefunde der etwa 40 Falle betragenden Casuistik zu der An-
nahme berechtigt, dass corticate Circulationsstorungen im 3. Hauptaste
der Arter. foss. Sylvii und central im lenticulo-optischen Gefassgebiete
bei der Genese der cerebralen Muskelatrophie eine hervorragende Rolle
spielen. Diese Annahme wird nach ihm noch durch den Charakter
der mit der Muskelatrophie verkniipften hemiplegischen Lahmung, mehr
aber noch durch das haufige Zusammenfallen der Muskelatrophie mit
Sensibilitatsstorungen untersttitzt. Er ist der Ansicht, dass eine aus-
gedehnte Emahrungsstorung (Atrophie) in den Muskeln als Folge eines
gleichzeitigen Ausfalles (resp. Reduction) yon sensiblen Functionen
einerseits und von motorischen und vasomotorischen Functionen anderer-
seits nicht von der Hand zu weisen ist.
BezOglich der vasomotorischen Storungen bei Hirnaffectionen
wissen wir nur wenig. Es ist bekannt, dass anfangs die gelahmten
Glieder oft warmer, spater kiihler sind, sich zuweilen feuchter, ein
anderes Mai wieder trockner anffthlen, und dass sich auch Storungen
im Wachsthume der Nagel und Haare u. Ae. einstellen. Ein tieferer
Einblick in diese Verhaltnisse fehlt uns aber bis jetzt. Immerhin
1) Borgherini, Ueber die fruhzeitige Muskelatrophie bei der cerebralen
Lahmung. Dtech. Arch. f. klin. Medic. 1889. Bd. 45.
2) Quincke, Ueber Muskelatrophie bei Gehimkrankheiten. Dtsch. Arch. f.
klin. Medic. Bd. 42. — Ueber cerebrale Muskelatrophie. Dtsch. Ztschr. f. Nerven-
heilkunde. 1893.
3) Darkschewitsch, Ein Fall von friihzeitiger Muskelatrophie bei einem
Hemipleg. Neurolog. Centralblatt. 1891.
4) Goldscheider, Zur allgememen Pathologie des Nervensystems. Berl.
klin. Wochenschr. 1894.
5) v. Monakow 1. c. 8. 374.
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134
VII. Hofmann
wurden vasomotorische Storungen und Herabsetzung der Temperatur
auf der gelahmten Seite, wie sie auch unser Fall aufweist, nichfc selten
bei Herden im Pedunculus und im hinteren Theile der inneren Kapsel,
haufiger noch erhohte Temperatur und reichlicherer Schweiss bei
Lasionen des Thalamus opticus beobachtet.
Ein besonderes Interesse bietet unser Fall durch das Zu9ammen-
treffen der Hemiplegie und sensiblen Hemianasthesie mit der Beein-
trachtigung der Specialsinne derselben Seite. Borsieri 1 ) erwahnte
schon im vorigen Jahrhundert den Symptomencomplex der Hemian¬
asthesie mit AnasthesiederSinnesorgane, spateraberhabenLandouzy 2 ),
Briquet 3 ) und Charcot 4 ) gezeigt, dass diese halbseitige GefELhls-
storung eine ffir die Hysterie ungemein charakteristische Erscheinung
sei. Dieser Satz behalt seine Richtigkeit, wenn auch Magnan 5 ) bei
Alkoholikem nicht selten Hemianasthesie fand, und Thomsen und
Oppenheim 6 ) halbseitige sensible und sensorielle Storungen auch
bei anderen Erkrankungen, wie Epilepsie, Neurasthenic, allgemeine
Neurosen, in Folge von Kopfverletzungen und allgemeinen Korper-
erschfitterungen in theils stationarer, theils passagerer Weise constatiren
konnten.
Dem gegenttber sind die Falle einer Hemianasthesie mit Bethei-
ligung der hoheren Sinnesorgane in Folge einer organischen Himer-
krankung selten. Dieersteu dieser Art beschrieb Ttirk 7 ), dessen Befunde
durch mehrere Falle Rosenthal’s 8 ) bestatigt wurden. Spater beschrieb
Charcot 9 ) dasKrankheitsbild der cerebralen Hemianasthesieeingehend.
Weitere casuistische Beitrage lieferten Jakson 10 11 ), Veyssiere n ),
1) Borsieri, Inst, pract. Bd. Ill, cit. nach Charcot.
2) Landouzy, Trait6 complet de Thyst^rie. 1847.
3) Briquet, Traits clinique et th^rapeutique de Physt6rie. 1859.
4) Charcot 1. c. et Lemons sur les maladies du systfcme nerveux. Paris 1874.
5) Magnan, De Palcoolisme, des divers formes du d&ire alcoolique. 1874.
6) Thomsen und Oppenheim, Ueber das Vorkommen und die Bedeu-
tung der sensorischen Anasthesie des Centralnervensystems. Arch. £ Psy¬
chiatric. 1884.
7) Turk, Ueber die Beziehung gewisser Krankheitsherde des grossen Ge-
hims zur Anasthesie. Sitzungsberichte der Kaiserl. Akad. d. Wissensch.
Wien 1859.
8) Rosenthal, Wochenblatt der Gesellschaft der Wiener Aerzte. 1870.
Cit. nach Virchow-Hirsch’s Jahresbericht. 1870. II. S. 47.
9) Charcot 1. c.
10) Jakson, London Hospital Reports. Bd. IH.
11) Veyssifere, Recherches cliniq. et experiment, sur rhemianaesthes. de
cause c4rebrale. Paris 1874. (13 Falle.)
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Elio Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 135
Bernhardt 1 ), Pitres 2 ), Ruissel 3 ), Wuth 4 ), Mliller 5 ), Noth-
nagel 6 ), Boyer 7 ), Hofmann 8 ), Mathieu 9 ), Kalkhoff 10 ), Ander¬
son 11 ), Seguin 12 ), Ferrier 13 ), Hahn u ), Gee 15 ), Her tel 16 ), Morau 17 ),
Eisenlohr 18 ), Bevoor 19 ), Manteuffel 20 ). Als zweifellos sicher
stehend ist aus den Sectionsergebnissen dieser Falle die Thatsache
erwiesen, dass die Zerstorung des hinteren Theiles des lenticulo-optischen
Abschnittes der inneren Kapsel eine Hemianasthesie der gegeniiber-
liegenden Seite im Gefolge hat und dass in der Mehrzahl der Falle
auch motorische Lahmungserscheinungen zu finden sind. Dagegen
waren die Ansichten getheilt und sind es immer mehr geworden be-
zQglich des Ausfalles der hoheren Sinnesorgane bei diesem Krank-
heitsherde. Charcot 21 ) behauptete bekanntlich, dass bei der Lasion
dieser von ihm als carrefour sensitif bezeichneten Stelle neben einer
sensiblen Hemianasthesie auch eine Beeintrachtigung aller Specialsinne
dieser Seite zu Stande kame, und betonte mit besonderem Nachdrucke,
dass, wie es ihm einzelne Falle unzweifelhaft gezeigt hatten, eine ge-
kreuzte Amblyopie, d. h. Abnahme der Sehscharfe und concentrische
Einengung des Gesichtsfeldes auf der der Hirnlasion gegentiberliegenden
Seite die Folge sei. Dabei sei, wie sein Schiller Lan dolt fand, auch
das andere Auge fast stets, wenn auch nur in geringem Grade, schwach-
sichtig. Vulpian, Duretundvor Allem Veyssiere 22 ) bestatigten diese
Behanptung. Auch zwei autoptisch erhartete Falle von Bernhardt 23 )
1) Bernhardt, Berliner klin. Wochenschr. 1875. Nr. 36.
2) Pitres, Gaz. m&L 1876. (2 Falle.)
3) Ruissel, Med. Times and Gaz. 1877.
4) Wuth, Dissertation. Gdttingen. 1877.
5) Muller, Berliner klin. Wochenschr. 1878.
6) Nothnagel, 1. c.
7) Boyer cit. nach Nothnagel. S. 434.
8) Hofmann cit. nach Schmidt’s Jahrbucher. 1880.
9) Mathieu, Progrfcs med. 1882.
10) Kalkhoff, Dissertation. Halle a./S. 1884.
11) Anderson, Medic. Times. 1885.
12) Seguin, Journal of nervous and mental diseases. 1886.
13) Ferrier, The Lancet. 1887.
14) Hahn, Dissertation. Berlin 1887.
15) G6e, Barthol.-Hosp. Rep. 1890.
16) Hertel, Charit6-Annalen. 1890.
17) Morau, Gaz. hebd. 1891.
18) Eisenlohr, Dtsch. medic. Wochenschr. 1892.
19) Bevoor, Lo Sperimentale. 1894.
20) Manteuffel, Petersburger medic. Wochenschr. 1897.
21) Charcot, 1. c. 22) Veyssifcre, 1. c,
23) Muller, 1. c.
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136
VII. Hofmann
und M tiller 1 ) scheinen die Ansicht Charcot's zu bekraftigen. Im
ersteren bestand neben recbtsseitiger Parese und Anasthesie Blindheit
des rechten Auges und concentrische Gesichtsfeldeinengung des linken;
Geruch, Geschmack und Gehor waren nicbt geprttft. Der zweite zeigte
rechtsseitige Parese und Anasthesie, Amblyopie des rechten Auges,
Herabsetzung des Gehor-, Geruch- und Geschmackvermogens rechts,
wahrend links diese Sinnesorgane normal functionirten. Charcot
nahm an, dass das im Chiasma nery. opt. ungekreuzte Biindel in den
Vierhfigeln eine Kreuzung erfahre, so dass alle von einem Occipitallappen
ausgehenden Fasern in das Auge der gegentiberliegenden Seite ge-
langten. Er trat damit der schon damals als feststehend geltenden
Meinung entgegen, dass eine durch einen einseitigen intracerebralen
Herd hervorgerufene Sehstorung eine bilaterale homonyme Hemianopsie
sei und dass die Sehnervenfasern nur im Chiasma eine Semidecussatio
eingingen, einer Ansicht, die beute sicber bewiesen isi Aber die
klinischen Erfahrungen aller anderen Beobachter stimmen darin tiber-
ein, dass Sehstorungen, die durch eine Lasion des Hinterhauptlappens,
der Gratiolet’schen Sehfasern, der vorderen Vierhtigel, des ausseren
Kniehockers, des Sehhtigels, des hinteren Tbeiles der inneren Kapsel
und des Tractus opticus bedingt seien, stets in Form der bilateralen
homonymen Hemianopsie auftreten. Auch bei der vulgaren cerebralen
Hemiplegie stellt sie nach Hauer 2 ) ein haufiges vortibergehendes
indirectes Herdsymptom dar. Schliesslich bevvies noch v. Bechterew 3 )
experimentell, dass durch eine Durchscbneidung der Sehnervenfasern
zwischen Chiasma und VierhQgeln stets Hemianopsie erzeugt werde.
Zur Erklarung dieser Meinungsdifferenzen construirte Grasset 4 ) ein
Schema, nach dem das Faserbiindel, das sich nach Charcot in den
Vierhtigeln kreuze, sich in seinem weiteren Verlaufe nochmals kreuze,
und wonach je nach dem Sitze der Lasion in der inneren Kapsel weiter
vom oder hinten eine gekreuzte Amblyopie oder homonyme Hemianopsie
zu Stande kame. Die UnnatQrlichkeit dieses rein theoretisch con-
struirten, durch nichts bewiesenen Schemas liegt auf der Hand.
Die Charcot'schen Falle stellten somit bis heute ein ungelostes
Rathsel dar, das um so unerklarlicher war, als man nicht berechtigt
1) Muller, 1. c.
2) Hauer, Ueber Hemianopsie als Theilerscheinung des Symptomencom*
plexes frischer cerebraler Hemiplegien. Prager medic. Wocbenschr. 1888.
3) v. Bechterew, Ueber die nach Durchschneidung der Sehfasern im
Innera der Grosshirnhemispharen (in der Nachbarschaflt des hinteren Abschnittes
der inneren Kapsel) auftretenden Erscheinungen. Neurolog. Centralblatt. 1884.
4) Grasset, De l’amblyopie croiss^e et de Th&nianopsie dans les lesions
c6r6br. Nouveau ch^ma du trajet pr4sum4 des fibres optiques. Montpellier me¬
dical. 1883.
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Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 137
ist, diesem Altmeister neurologischer Forschung eine mangelhafte
Untersuchung vorzuwerfen.
Ich war deshalb sehr fiberrascht, als ich bei der erstmaligen Unter¬
suchung unseres Patienten einen den Charcot’schen Angaben ganz
entsprechenden Befund erheben konnte: neben der sensiblen Hemi¬
anasthesie eine Storung aller specifischen Sinnesorgane derselben Seite,
insbesondere eine gekreuzte Amblyopie mit concentrischer Gesichts-
feldeinengung, wahrend das andere Auge vollkommen normal erschien;
Hemianopsie fehlte vollstandig. Eine erstmalige Untersuchung in der
Augenklinik bestatigte diesen Befund, eine zweite nach mehreren Wo-
chen gleichfalls, doch war die Sehscharfe auf dem linken Auge eine
andere, eine dritte ergab eine noch hochgradigere Einengung und noch
schlechtere Sehscharfe links und auch das bis dahin normale Auge
rechts zeigte concentrische Gesichtsfeldeinengung und herabgesetzten
Visus. Bei einer weiteren Prtifung erweiterte sich das linke Gesichts-
feld in derseiben Sitzung fast zur Norm, das rechte war wieder normal,
so dass der untersuchende Herr College zu dem Schlusse gelangte, dass
entweder Simulation oder stark herabgesetzte Willensenergie vorlage.
Die erstere halte ich ftir ausgeschlossen, da ich dem Patienten schon
von vorn herein seine Invalidisirung zugesichert hatte, und er ein
durchaus glaubwfirdiger und aufrichtiger Mensch war. Eine herab¬
gesetzte Willensenergie als den Ausdruck einer Hysterie aber anzu-
nehmen, ist nach Lage der Sache nicht gestattet, da die organische
Natur der ganzen Krankheit fiber jeden Zweifel erhaben und es nicht
angangig ist, jede nicht plausible Erscheinung als hysterische Eigen-
thumlichkeit zu deuten. Thomsen und Oppenheim betonten in der
oben erwahnten Arbeit, dass sie diese sensorische Hemianasthesie und
beiderseitige concentrische Gesichtsfeldeinengung auch bei anderen
nervenkranken Personen, nicht allein bei Hysterischen gefunden und
dass diese dann regelmassig bestimmte psychische Anomalien aufge-
wiesen hatten. Auch unser Patient zeigte eine stets deprimirte Stim-
mung und seine Intelligenz hatte abgenommen. Dass es sich um eine
rein functionelle Storung handelt, ist nach den wiederholten Unter-
suchungen mit ihrem wechselnden Befunde erwiesen’, und ich glaube
mit Recht annehmen zu dfirfen, dass sich auch die Falle von Charcot,
Bernhardt und Muller auf diese Weise erklaren. Denn der unsrige
gleicht diesen vollkommen, auch bei ihm bestanden die Sehstorungen
auf einer fast constant zu nennenden Hartnackigkeit in der der Charcot-
schen cerebralen Hemianasthesie eigenthfimlichen Weise und nur die
wiederholten Untersuchungen und die auf mehrere Monate sich er-
streckende Beobachtung konnte das Functionelle der Storung auf-
decken.
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138
VII. Hofmann
Ebenso, wie man auf Grund anatomischer Untersuchungen und
kliniscber Beobachtungen die Moglichkeit bestritt, dass ein Herd im
hinteren Theile der inneren Kapsel Sehstorungen in der von Charcot
beschriebenen Weise hervorrufen konnte, wurde man auch zweifelhaft
an der Richtigkeit der Charcot’schen Behauptung beziiglich des Aus-
falles des Geruches der gegenQberliegenden Seite bei diesen Krank-
heitsherden, denn die anatomiscbe Forschung ergab, dass die Geruchs-
bahnen vom Gyrus fornicatus und uncinatus bis zum Tractus olfactories
den carrefour sensitif gar niebt berGhren. Eher moglich ware sebon
eine Lasion des Gehors, da seine Bahnen von dem vorderen Ende des
Gyrus temporalis super, und med. wahrscheinlich zu dem inneren Knie-
hocker, hinteren VierhGgel und der unteren und lateralen Schleife
zieben. Von dem intracerebralen Verlaufe der Geschmacksfasem wissen
wir nur wenig, sie steigen in der Schleifenschicht empor und gelangen
wahrscheinlich zur inneren Kapsel.
Erwagen wir, dass sich in unserem Falle die Sehstorungen als
rein functionelle herausgestellt haben, dass Geruchsstorungen auf Grund
einer organischen Erkrankung der fraglichen Gegend nach unseren
heutigen anatomischen Kenntnissen nicht moglich sind, dass die Mog¬
lichkeit auch beziiglich der Geschmacks- und Gehorstorungen nur eine
sehr zweifelhafte ist und dass die Function dieses letzteren Organs
an einzelnen Tagen eine schwankende war und Besserungen und Ver-
schlechterungen zeigte, so ist der Ein wand, den Wilks 1 ) und Wernicke 2 )
schon vor Jahren den Charcot 7 schen Behauptungen machten, als
durchaus richtig zu bezeichnen. Der erstere bestritt, dass es sich bei
den sensorischen Hemianasthesien durch Verletzung des carrefour sen¬
sitif um eine anatomische Lasion der betreffenden Bahnen handele,
hielt sie vielmehr nur fiir eine functionelle Storung, ohne aber Beweise
hierflir zu erbringen. Wernicke nahm beziiglich der Sehstdrungen
eine Herabsetzung der Lichtempfindlichkeit, der Erregbarkeit desNervus
opticus an. Derselben Ansicht war v. Bechterew 3 ), der bei einem
Kranken nach einer Schussverletzung der Medulla oblongata neben
anderen Symptomen auch eine Anasthesie der rechten Gesichtshalfte
und eine Beeintrachtigung aller specifischen Sinne derselben Seite con-
statiren konnte. Eine Erklarung fur diesen auffallenden Befund gab
1) Wilks, On hemianaesthesia. St. Guy’s Hosp. Rep. XXVI.
2) Wernicke, Lehrbuch der Gehirnkrankheiten. 1881. Bd. I. S. 254.
3) v. Bechterew, Ueber die ^Vechselbeziehungen zwischen der gewohn-
lichen und sensoriellen Anasthesie (Functionsabnahme der Sinnesorgane) auf
Grund klinischer und experi men teller Daten. Neurolog. Central blatt. 1894. —
Durch Verwunduug des yerlangerten Markes verursachte Lahmung. Zeitschrift
f. Nervenheilkunde. 1896.
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Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 139
ihm ein schones Experiment. Er durchschnitt einem Hunde die auf-
steigende Trigeminuswurzel im verlangerten Marke und sah darauf
Anasthesie des Gesichts, aber auch das SehvermSgen, der Geruch, Ge-
schmack und das Gehor auf dieser Seite waren gestort, ohne dass bei
der Autopsie diese Hirnnerven irgendwie ladirt waren. Als Grund ftlr
diese Erscheinung mmmt er Nutritionsstorungen dieser Sinnesorgane
an, da die Ernahrungsverhaltnisse nur dann yollkommen normale seien,
wenn ihre sensibel-motorischen Nervenapparate sicb im normalen Zu-
stande befanden. Er glaubt, dass vor Allem vasomotorische Storungen
eine Rolle spielten, die die Perceptionsfahigkeit der einzelnen Sinnes¬
organe und die Leistungsfahigkeit ihrer Hiilfsmusculatur berabsetzen.
Auch die mangelhafte Tastempfindung spiele eine Rolle. Er fasst seine
Ansicht in folgende Worte zusammen: „Die Ursache also, weshalb die
sich auf die Sinnesorgane ausbreitende Anasthesie Schwachung ihrer
Function und die sogenannte sensorielle Anasthesie nach sich zieht,
ist unserer Meinung nach hauptsachlich in der Ischamie der Organe
und dem mangelhaften Anpassungsvermogen ihres Gefasssystems be-
zliglich ausserer Reize, theilweise aber auch in einer weniger vollkommen
anpassenden Thatigkeit der Muskeln in den Organen, in welchen sich
solche vorfinden (Gehor, Gesicht) und endlich in unmittelbarer Schwa¬
chung der speciellen Function derjenigen yon diesen Organen, deren
Empfindung (wie z. B. Geschmacks- und Geruchsempfindung) nicht
als streng von Tastempfindungen und vom Allgemeingeftihl differenzirt
gelten konnen, zu suchen.“
Einen hiermit ganz im Einklange stehenden Fall theilt Higier 1 )
mit, wo bei apoplectiformer einseitiger Bulbarparalyse eine sensorielle
Hemianasthesie neben der Trigeminusanasthesie bestand und bei wel-
cher die Seh- und Gehorsstorungen durch den Sitz des Krankheitsherdes
nicht zu erklaren waren.
Auch der dritte der Ttirck’schen Falle muss hier noch angefQhrt
werden: Der Patient zeigte rechtsseitige Hemiplegie, die spater zurhck-
ging, intensive Anasthesie derselben Seite, Abnahme des Seh-, Geruchs-
und GeschmacksvermSgens derselben Seite. Die cutane Sensibilitat
besserte sich etwas, auch das Sehen mit dem rechten Auge wurde
betrachtlich besser, nach einigen Tagen verschlechterte es sich wieder.
Diese Schwankungen sprechen auch fhr eine functionelle Storung, ihr
ZusammentreflFen mit Veranderungen der Hautsensibilitat flir die Richtig-
keifc der v. Bechterew'schen Ansicht.
Unser im Vorstehenden ausfiihrlich mitgetheilter Fall beweist also,
1) Higier, Wie verhalten sich die Specialsinne bei Anasthesie des Ge-
sichtes? Ztschr. f. Nervenheilkunde. 1898. Bd. IH.
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140 VII. Hofmann, Em Fall cerebraler sensibler u. sensor. Hemianasthesie etc.
dass es sich bei dem Charcot’schen Krankheitsbilde der cerebralen
Hemianasthesie nicht um eine organische Lasion der im hinteren Theile
der inneren Kapsel verlaufenden Sehnervenfasem, sondem um einen
functionellen Schwachezustand handelt, der vorwiegend auf dem Auge
der anasthetischen Seite besteht, vortibergehend aber auch das andere
befallen kann, und auch bezuglich der Gehorsstorung macht er einen
solchen wahrscheinlich. Den Zusammenhang dieser functionellen Std-
rung mit der Anasthesie des Trigeminus zeigt uns das v. Bechterew-
sche Experiment, bei dem alle hoheren Sinnesorgane nach Durch-
schneidung des Quintus beeintrachtigt waren. Es ist deshalb der
Schluss berechtigt, dass auch die Storungen des Geschmacks- und Ge-
ruchsvermogens nur diesen Charakter tragen, um so mehr, als in der
That betrachtliche vasomotorische Veranderungen und deutliche Tern-
peraturunterschiede auf der anasthetischen Seite vorhanden waren.
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VIII.
Aus dem himanatomischen Laboratorium der nied.-09t Landes-
Irrenanstalt Wien.
Zur Anatomie and Physiologie experimenteller Zwischen*
hirnverletzungen.
Von
Dr. Moriz Probst,
Voretand dee Laboratoriams.
(Mit 5 Abbildungen.)
Unsere Kenntnisse fiber die Zusammengehorigkeit des Sehhfigels
mit der Qrosshimrinde basiren fast ausschliesslich auf den feinen expe-
rimentellen und pathologisch-anatomischenUntersuchungenMonako w’s,
der die Sehhttgelantheile nach experimentellen partiellen Rindenab-
tragnngen und bei pathologischen Defecten des Grosshims eingehend
studirte.
Die bisherigen Kenntnisse fiber den Stabkranz des Sehhfigels waren
die, dass man dickere Bfindel aus der inneren Kapsel durch die Lamina
medullaris lateralis einstrahlen sah, die nach Kolliker den grossten
Theil des Stabkranzes des Sehhfigels darstellten. Hierbei kreuzen sich
die8e Faserbundel in verschiedener Richtung unter spitzen Winkeln
und bilden so einen dickeren Streifen, der aus einer medialen dunkleren
und einer helleren, zwischen dieser und der inneren Kapsel gelegenen
Zone besteht Hierauf zerfallen diese Faserbtindel, indem sie weiter
medianwarts verlaufen, in viele feine Bfindelchen, die nach und nach
im Innem des lateralen Kerns sich verlieren. Die Gegend, wo die
groberen Bfindel liegen, stellt nach Kolliker an frischen Theilen
einen weissen, an Weigert’schen Praparaten dagegen einen dunklen,
gebogenen Faserzug dar, der seines eigenthfimlichen netzformigen Aus-
sehens halber auch den Namen Gitterschicht erhalten hat, unter wel-
chem Namen keine besondere, von der Lamina medullaris lateralis
versehiedene Lage zu verstehen ist
Genauer bezeichnet dringen aus alien Theilen der inneren Kapsel
Markstrahlen in den Sehhfigel ein, und bezeichnet man dieselben, je
nach den verschiedenen Gegenden, mit verschiedenen Namen. In das
vordere Ende des lateralen Kerns treten zwischen dem Kopf des
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142
VIII. PR0B8T
Nucleus caudatus und dem Linsenkem zahlreiche Faserbiindel aus
dem Stirnlappen ein, welche als sogenannter v ordererStiel desSehhttgels
somit den yorderen Theil und das Knie der inneren Kapsel zu durch-
laufen haben.
In die laterale Seite des lateralen Kerns treten aus dem hinteren
Schenkel der inneren Kapsel zahlreiche Markstrahlen, die aus dem hin¬
teren Theile des Stirnlappens und aus dem Parietallappen abstammen,
welche Kolliker als lateralen oder parietalen Stiel des Sehhtigels
bezeichnet.
Der hintere Theil des lateralen Thalamuskems grenzt im Pulvinar
lateral warts hinter dem Linsenkern an weisse Substanz, welche mit
der Markmasse des Occipitallappens und des Schlafelappens zusammen-
hangt, und finden sich auch hier Einstrahlungen aus diesen Him-
gegenden in den Sehhugel, die occipitaler und temporaler Stiel
heissen.
Ausserdem finden sich noch Einstrahlungen von der ventralen Seite
her in den Thalamus, die jedoch nicht nur in den lateralen, sondern
auch in den medialen Kern des Thalamus statthaben und den unteren
oder ventralen Stiel des Sehhiigels bilden.
Von dem lateralen Kern wird im Bereich des Pulvinar auf hori-
zontalen Flachenschnitten oberflachlich ein grosserer Bezirk deutlich
abgegrenzt, aus dem medianwarts der Arm des yorderen Vier-
hfigels hervorgeht, wahrend lateralwarts der Tractus opticus mit
starken Biindeln in der Fortsetzung der Lamina medullaris lateralis
denselben umsaumt und in ihn einstrahli
Auf die Fasem des Tractus opticus und die cerebrale Sehstrahlung,
den Fornix, die Linsenkernschlinge, das Btindel von Meynert und
Vicq d’Azyr und die Stria medullaris lasse ich mich hier nicht
ein, da ich in einer spateren Arbeit darauf zurtickkommen werde.
Kolliker lasst nun die grosse Mehrzahl der Fasem des Stab-
kranzes des Sehhtigels im Thalamus opticus mit freien Ausl&ufera
enden und meint auch, dass hochstwahrscheinlich neben diesen vom
Parietallappen des Centrums stammenden Fasem auch diejenigen des
Frontallappens im Stilus anterior thalami und diejenigen des Unter-
lappens frei im Thalamus opticus endigen, dagegen die Fasem der
cerebralen Opticusbahn im Sehhfigel entspringen. Kolliker lasst
also die Fasem des Sehhiigelstabkranzes in der Hirarinde entspringen
und im Sehhiigel enden mit Ausnahme der cerebralen Opticusbahn,
und es erschien ihm auffallend, dass gegenfiber der grossen Zahl von
zuleitenden Bahnen, die im Sehhiigel enden, relativ nur eine geringe
Zahl ableitender solcher sich nachweisen liess, und zwar nur eine,
namlich die cerebrale Opticusbahn, die eine allerdings grosse Bedeutung
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Zur Anatomie und Physiologic experimenteller Zwischenhirnverletzungen. 143
beansprucht, wahrend die im Ganglion habenulae entspringenden Fasem
und die centrifugale Tractus opticus-Bahn nur eine untergeordnete
Rolle spielen sollen.
Gudden hat gefunden, dass der SehhQgel nach frfth erworbenen
Grosshirndefecten schrumpft, doch hat erst Monakow diese Thatsache
in glanzender Weise fiir die Beantwortung der Frage nach der allge-
meinen Organisation der Verbindungen des Grosshims mit den tibrigen
Hirntheilen ausgentitzt. Da die Httlfsmittel der normalen Anatomie
beschrankte sind, so musste zur Erforschung der Verbindungen des
Zwischenhims zum Thierexperiment gegriffen werden und zum Ex¬
periment, wie es die Natur in pathologischen Fallen des Menschen
darbietet.
Monakow fand nun gleich Gudden, dass nach Grosshirnabtra-
gimg bei jungen Thieren verschiedene, infracorticale graue Massen
secundar yerktimmern, dass also die Entfernung einer Grosshimhemi-
sphare nicht nur eine Eliminirung von Elementen innerhalb der abge-
tragenen Masse, sondem auch eine wesentliche Mitversttlmmelung von
Neuronen mit sich bringt, deren Zellenleib in anderen und eventuell
weit entfernten Hirntheilen liegt, deren Nervenfortsatze aber in das
Grosshim ziehen, und die durch die Operation zur volligen Inactivitat
verurtheilt werden. Der Abtragung einer Grosshirnhemisphare ent-
spricht also eine wesentliche Schadigung eines ganzen Complexes von
Neuronen, von denen nur einzelne Abschnitte in das grob anatomisch
begrenzte Grosshirn reichen und die grosstentheils zum Besitz der
Producte anderer Himblaschen gehoren. Monakow nennt nun solche
ausserhalb des Grosshims liegende, mit letzterem aber eng verkntipfte
Neuronencomplexe, die ohne Mitwirkung des Grosshims gar nicht
oder nur mangelhaft in Action treten konnen, und die nach Ausschal-
tung dieses total oder partiell verktimmem mttssen, Grosshirn-
antheile.
Mit Rticksicht auf die secundaren Veranderungen nach Grosshim-
rindenabtragungen unterschied Monakow Neuronencomplexe, die nach
operativemEingriff selbst nachMonaten nicht beeintrachtigt werden (meist
directe Producte des Mittel-, Hinter- und Nachhiras, sowie des eigent-
lichen Medullarrohrs), feraer Neuronencomplexe, die ohne Grosshim
nicht existenzfahig sind und schon wenige Wochen nach der Operation
degeneriren, und die er directe Grosshirnantheile nennt. Ausser-
dem fand Monakow Neuronencomplexe, die durch Wegfall einer
Hemisphare theilweise verkiimmem, so dass deren Elemente ihre nattir-
liche Form partiell einbttssen und vor Allem eine Volumsreduction
erfahren; diese nennt Monakow indirecte Grosshirnantheile.
Der Sehhttgel erfahrt nach Grosshimabtragung eine hochgradige
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144
VIII. Probst
Volumsverminderung, die durch Degeneration der Ganglienzellen be-
dingt wird. Nicht beeintrachtigt werden das Ganglion habenulae, das
Meynert’sche Bfindel, die Taenia thalami und das centrale Hohlen-
grau. Als indirecte Grosshirnantheile stellten sich die ventraien
Kerngruppen des Sehhttgels, sowie der mediale Kern des Corpus
mamillare heraus. Directe Grosshirnantheile sind die vorderen Seh-
httgelkerne (ant. a und ant. b), die medialen Kerngruppen (med. a, med. b
und med. c), das Pulvinar, der hintere Kern, der laterale Kern (lat a
und lat b).
Der laterale Kern des Corpus mamillare und die Zona incerta
nehmen eine vermittelnde Stellung zwischen directen und indirecten
Grosshirnantheilen ein, wahrend der Luys’sche Korper ein directer
Grosshimantheil ist
Ein sehr wichtiges Verhalten bietet bei totalen Grosshirndefecten
die Lamina medullaris externa dar, indem sie bei sehr ausge-
dehnter Degeneration des Sehhiigels und totaler Resorption der inneren
Kapsel zum Theil erhalten bleibt und nur eine sehr erhebliche Vermin-
derung des Kalibers ihrer Fasem aufweist.
Im Mittelhirn fand Monakow das Grau der Formatio reticu¬
laris, das mittlere Grau des vorderen Zweihtigels als vom Grosshirn
vollig unabhangig. Die Substantia nigra und das oberflachliche Grau
des vorderen Zweihtigels stellten sich als directe Grosshirnantheile
heraus, wahrend der rothe Kern und der hintere Zweihtigel sich als
indirecte Grosshirnantheile entpuppten, ebenso wie die Haubenstrahlung,
die Haubenfascikel FOrel's, die Schleifenschicht und der Arm des
hinteren Zweihtigels.
Der directe Grosshimantheil des Hinterhirns ist die graue Sub-
stanz der Brttcke, der indirecte Grosshimantheil der gekreuzte Bracken-
arm und die gekreuzte Kleinhirnhemisphare.
Unabhangig vom Grosshirn sind das Grau der Formatio reticu¬
laris, die grauen Geflechte um die Raphe und oberhalb der Schleifen¬
schicht, der Trapezkern, die oberen Oliven, die Bogenfasern, das Corpus
trapezoides, das Mark der oberen Oliven, die innere Abtheilung des
Kleinhirnstiels und sammtliche hier entspringende Hirnnerven nebst
ihren Keraen.
In der Medulla oblongata lassen sich nach Monakow keine
directen Grosshirnantheile mit Sicherheit nachweisen. Die mediale Ab¬
theilung des Burdach’schen Kerns und die caudale des GolPschen
Kerns zeigen einfache atrophische Veranderungen oder Sklerosirung
nach Grosshiraabtragung, ebenso der Kern in den Processus reticulares
des Cervicalmarks.
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Zur Anatomie und Physiologic expcrimenteller Zwischenhimverletzungen. 145
Monakow weist aach mit Recht auf die Wechselbeziehung zwi-
schen Hirnmantel und directen Grosshimantheilen hin und ftihrt aus,
dass bei Thieren mit schlechter Entwicklung des Grosshirnmantels,
wie Selachiern, Teleostiem und Reptilien, nach den bisherigen Kennt-
nissen einzelne der directen Grosshirnantheile sehr ktimmerlich ent-
wickeit sincL Die Grosshirnantheile des Zwischenhirns (Kerne des
Sehhttgels) fehlen hier, und besteht das Grau des Zwischenhirns nur
aus dem Ganglion habenulae und centralen Hohlengrau, also Gebilden,
die durch eine Grosshirnabtragung bei hoheren Saugern nicht beein-
trachtigt werden. Forel machte darauf aufmerksam, dass die Ent¬
wicklung der Sehhtigelkerne vollig Schritt halt mit der Entwicklung
der Grosshirnhemispharen.
Monakow erwahnt auch, dass die indirecten Grosshirnantheile,
z. B. der vordere Zweihugel (Lobus opticus), in der Thierreihe abwarts
viel machtiger entwickelt sind, als bei hoheren Saugern, und legt den
Gedanken nahe, dass diese Regionen, wenigstens das Dach des Mittel-
hirns, eine Vereinigung dessen darstellen, was bei hoheren Saugern
theils in der Rinde des vorderen Zweihtigels (Grosshirnantheile), theils
in der Rinde des Occipitallappens getrennt liegt, dass also die mit dem
vorderen Zweihtigel in Verbindung tretenden Ganglienzellen der Occi-
pitalrinde sich mit den zugehorigen Grosshimantheilen des vorderen
Zweihtigels im Mittelhirndach eng vereinigt vorfinden. Als Beispiel
ftihrt Monakow die Thatsache nach Steiner an, dass Knochenfische
nach Grosshirnabtragung noch fahig bleiben, das Gesehene psychisch
zu verwerthen, und dass die Rolle des vorderen Zweihtigels mit der
Zunahme der Entwicklung der Occipitalrinde stetig abnimmt, ebenso
wie die raumliche Ausdehnung desselben, und dass als Vermittler ftir
das psychische Sehen das Corpus geniculatum externum in der Thier-
reihe aufwarts an Bedeutung stetig zunimmt.
Monakow ftihrt auch die entwicklungsgeschichtliche Verwandt-
schaft des Grosshirns mit dem Sehhtigel an, indem das secundare
Yorderhim aus dem primaren, d. h. aus dem Zwischenhirn, durch Aus-
sttilpung der vorderen Wand des letzteren hervorgeht, und stellt die
Yermuthung auf, dass die Neuroblasten derjenigen Gebilde, die er mit
dem Namen Grosshirnantheile bezeichnet hat, nach vorausgehender
Differenzirung — ahnlich wie die Neuroblasten der spinalen Ganglien-
leiste in das Medullarrohr — in den Grosshirnmantel hineinwachsen
und erst durch diesen Vorgang in den Besitz des Grosshirns gelangen.
Monakow hat # nun in grundlichster Weise durch Abtragung
umschriebener Rindenabschnitte beim Kaninchen, bei der Katze und
beim Hunde die dazugehorigen directen und indirecten Grosshirnan¬
theile genauer zu erforschen versucht und fand dabei, dass jedem
Deutsche Zeitsohr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 10
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146
VIII. Probst
Sehhtigelabschnitt (Kern, Kerngruppe) ein besonderer Rindenbezirk zu-
gehtirt, welcher die Ernahrung jenes beherrscht, und dass die Gross*
hirnoberflache in eine Reihe von Zonen zerlegt werden kann, in denen
ganz verschiedene Rindenabschnitte vertreten sind. Als Zone far den
medialen Kern (med. a) fand er die Zone J von Mnnk (Rumpfregion)
entsprechend, far med. b die Zone H (Nackenregion). Die Zone des
vorderen ventralen Kerns (vent, ant) entspricht der Vorderbeinregion D,
die Zone des medial-ventralen Kerns (vent, b) entspricht der Hinterbein-
region C, die Zone des central-ventralen Kerns (vent a) der Kopfregion
E; die Zone des lateral-ventralen Kerns (vent c) liegt im vorderen
Drittel der ectosylvischen Windung nnd fallt theilweise mit der Kopf¬
region E zusammen; die Zone der vorderen Kerngruppe (ant a, ant b,
ant c) liegt im ersten Ftinftel der suprasylvischen Windung, im
Feld F, die Zone des vorderen lateralen Kerns (lat. ant) liegt im vordersten
Abschnitt des Gyrus coronarius und fallt theilweise ebenfalls in die
Munk’sche Kopfregion. Die Zone des dorsal lateralen Kerns (lat a)
entspricht dem zweiten Ftinftel (von vorn gerechnet) der suprasylvischen
Windung, die Zone des ventral-lateralen Kerns (lat b) nimmt das zweite
Ftinftel (von vorn) der ecto-lateralen und suprasylvischen Windung
ein, die Zone des hinteren Kerns liegt im hinteren Drittel der ecto¬
sylvischen Windung, im Feld G von Munk; die Zone des Pulvinars
nimmt das dritte Ftinftel des Gyrus suprasplenius und ectolateralis ein,
die Zone des Corpus geniculatum externum fallt mit der Munk’schen
Sehsphare zusammen und nimmt ca. die drei eaudalen Ftinftel der
ersten und zweiten ausseren Windung ein. Die Zone des inneren Knie-
hockers liegt im Gyrus compositus post und vielleicht auch im hinteren
Schenkel der Sylvi’schen Windung und fallt zum grossen Theil mit
der Horsphare von Munk zusammen; die Zone des Corpus mammil-
lare muss in das Gebiet des Uncus und des Ammonshorns verlegt
werden.
In richtiger Erkennung der Thatsachen betont Monakow auch,
dass je einem Rindenfeld mindestens zwei verschiedene und zwar in
der Regel in entgegengesetzter Richtung verlaufende Projectionsfaser-
kategorien entstammen, beziehungsweise in denselben endigen intissen.
Monakow fand auch beim Menschen auf Grund von elf patho-
logischen Fallen, dass jedem Sehhtigelabschnitte eine correspondirende
Windungsgruppe, welche die Leistung desselben beherrscht, zugewiesen
ist, und zwar ebenso, wie in den experimentellen Fallen beim Thiere.
Beztiglich des Ursprungs der Fasern fand Monakow nach Ab-
tragung von umschriebenen Rindentheilen, dass der Entartungsprocess
von der Faser direct auf die Zelle ubergreift, und dass somit die
meisten dem Sehhugel entstammenden Stabkranzbundel directe Fort-
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Zur Auatomie und Physiologic experimenteller Zwischenhirnverletzungen. 147
4
a
setzungen der Sehhtlgelzellen sind, welche blind in der Grosshimrinde
endigen.
Monakow kam anf Grund jahrelanger, exacter, mtihevoUer
Arbeiten zn diesen glanzenden Ergebnissen, die nns eine Grandlage
f&r alle weiteren Forschungen geben. j
Um die oben geschilderten Verbindungen des Zwischen-
hirns weiter zu erforschen, habe ich mich einer anderen ex-
perimentellen Operationsmethode und einer anderen Farbe-
technik bedient. Wahrend Monakow dureh uraschriebene
Abtragung yon Rindenfeldern bei Kaninchen, Katzen und
Hunden zum Ziele zu kommen suchte, ging ich das
Zwischenhirn selbst operativ an, indem icb bei Hunden,
Katzen und Igeln theils circumscripte Verletzungen im Zwi¬
schenhirn erzeugte, ohne andere Himpartien zu verletzen,
theils circumscripte Rindenabtragungen yollftihrte und die
secundaren Degenerationen, die auf diese Lasionen hin ent-
standen, auf ltickenlosen Serienschnitten nach der Farbung
von Marc hi mit Osmiumsaure untersuchte.
Um exacte, circumscripte Lasionen des Zwischenhims
zu erzeugen, habe ich die Methode mit der Hakencantile
zu Stande gebracht, wodurch bei einiger Uebung die Ver-
letzung anderer Hirntheile vermieden wird. Die Haken-
canhle (Fig. 1) besteht aus der Cantile a, in welche der
Stahldraht b hineinpasst, der sich beim Vorschieben aus
der Cantile rechtwinklig abbiegt, c und d sind Klemmen mit
Stellschrauben; durch die Klemme c wird die Tiefe des
Einstiches markirt, durch die Stellklemme d wird die Rich-
tung des rechtwinklig abgebogenen Hakens markirt, und
zugleich bietet diese die Handhabe zum Hineindriicken und
Herausziehen des Stahldrahtes. Der Stahlhaken wird beim
Gebrauch des Instrumentes in der Cantile verborgen, indem
man bei der Klemme d anzieht; hierauf wird das Instru¬
ment bei x gefasst, in das Gehirn eingestochen bis zu der
durch die Klemme c markirten Hohe; dann wird der Stahl¬
haken vorgeschoben, indem man bei der Klemme d den
Stahldraht in die Cantile hineindrtickt. Die Schraube der
Klemme d giebt die Richtung des Stahlhakens an. Nun kann einfach
das Instrument gehandhabt werden, indem man die ganze Hakencantile
ein wenig emporzieht oder eine zirkelformige Drehung macht, wie es
eben der Operateur wtinschh Die Lange, wie weit der Stahlhaken
nach dessen Vorschieben aus der Cantile herausschauen soil, wird durch
Verschieben und Feststellen der Klemme d bewirkt.
10 *
J
Fig. 1.
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148
VIII. Probst
Es ist dies ein einfaches Instrument, durch welches circumscripte
Lasionen im Hirnstamm, Kleinhim und Grosshirn gesetzt werden k5nnen,
sowie auch durch Einsetzung verschiedenartiger Drahte mit Leichtig-
keit Halbseitendurchschneidungen der Medulla oblongata, des Pons,
des Sehhttgels etc. ausgefiihrt werden konnen.
Um mit diesem Instrument Verletzungen zu erzeugen, ist es
nicht einmal immer nothwendig, den Schadel regelrecht zu txepa-
niren, sondem es gentigt fQr manche Operationen oft nur eine einfache
Oeffnung, die mit dem Drillbohrer oder dem Stachel des Trepans allein
gemacht wird.
Fig. 2 und 5 zeigen Lasionen, wie sie mit dem obigen Inst rumen te
gemacht wurden.
Monakow liess seine Versuchsthiere mehrere Monate for die
Atrophiemethode leben und untersuchte das Gehim an Serienschnitten
nach Carminfarbung.
Ich habe bei meinen Versuchen fast ausschliesslich die Osmiumsaure-
farbung nach March i angewendet, welche, wenn man die Fehler derselben
zu vermeiden weiss, die besten Resultate liefert Eine retrograde Degene¬
ration war nie aufgetreten. Die Thiere wurden nach der Operation meist
2 bis 4 Wochen am Leben gelassen. Wahrend des Lebens wurden die Er-
scheinungen, welche die Operation erzeugte, sehr genau Tag fur Tag be-
obachtet und notirt, und bevor die Thiere getodtet wurden, wurden die
Rindenzonen freigelegt und die faradische Rindenerregbarkeit geprftft, und
gesehen, inwiefem die Verletzung des Zwischenhims etc. abnorme Ver-
haltnisse schuf. Es wurde die Erregbarkeit der motorischen Zone links
und rechts verglichen bei schw&chsten Stromen und bei starkeren, femer
beobachtet, wie die Zuckungen in den Extremitaten stattfinden und
schliesslich, wann epileptische Anfalle auszulosen waren und wann nicht
Ich habe bisher bei 21 Thieren umschriebene und grossere Seh-
hiigelverletzungen gesetzt und habe das Gehirn aller dieser Thiere auf
liickenlosen Serienschnitten nach Osmiumsaurefarbung geschnitten.
Ausserdem habe ich Rindenabtragungen vorgenommen und in der
gleichen Weise behandelt. Fiir die Technik der Marchi'schen Farbung
habe ich einige Apparate construirt, so dass sicher lfickenlose
Serienschnitte gemacht werden konnen: unter anderen einen Schneide-
apparat zum Zerlegen des Gehirns in planparallele Scheiben, Netze
zum Auflegen dieser Scheiben in der Osmiumsaurelosung etc. 1 )
Ausser den Rindenabtragungen und den experimentellen Ver¬
letzungen im Sehhugel, habe ich yiele Halbseitendurchschneidungen
1 ) Probst, Experimentelle UntersuchuDgen fiber die Schleifenendigung,
die Haubenbahoen, das dorsale Laogsbfindel und die hintere Oommissur. Archiv
ffir Psychiatrie u. Nervenkr. Bd. 33 H. 1. S. 6.
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Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhirnverletzungen. 149
im Pons, in der hinteren Zweihugelgegend zur Constatirung des Faser-
verlaufes im Sehhtigel unternommen und auch bei diesen Thieren
wurde vor der Todtung die Rindenerregbarkeit in obigem Sinne geprQfk
Die obige Methode zur Erzeugung von Lasionen des Zwischen-
hirns habe ich angewendet — da es bisher noch keine Methode zur Er¬
zeugung circumscripter Lasionen im Sehhtigel gab —, ohne dass andere
Hirntheile erheblich mit verletzt wurden. Die Methode durch Ein-
spritzung von Chromsaure ist sowohl zur exacten Erforschung der
Physiologie als der Anatomie der Sehhtigel nicht verwerthbar, da, ab-
gesehen von den Allgemeinwirkungen der Chromsaure, diese beim
Einspritzen in den Sehhtigel auch in andere Hirntheile Qbergeht
(Ventrikel, innere Kapsel, vorderer Zweihugel etc.). Es wurden auch
bei den Versuchen, die bisher mit Chromsaureinjection gemacht wurden,
die Gehime nie anatomisch-histologisch untersucht, sondern nur die
physiologische Wirkung beobachtet.
Im Folgenden will ich von einigen Versuchen berichten, die ich,
wie oben angegeben, durchgefQhrt habe. Ich habe bei diesen Ver¬
suchen die verschiedenen Kerne des Thalamus theils isolirt, theils zu-
sammen mit anderen zerstort und die Verbindungen dieser einzelnen
Kerne mit der Grosshimrinde studirt und den Bezirk der Grosshirn-
rinde genau umschrieben, mit welchem die einzelnen Kerne des Seh-
hfigels zusammenhangen. Wenn ich nun einen bestimmten Kern des
Sehhttgels zerstorte, so degenerirten die von diesen Zellen entspringenden
Nervenfasern. Diese durch die Marchi’sche Farbung deutlich kenn-
baren degenerirten Fasern wurden nun zur Hirnrinde genau verfolgt
und das Einstrahlungsgebiet in die Grosshimrinde festgestellt.
Freilich muss man bei diesen Zerstorungen einzelner SebhQgel-
kerae auf Fasera RQcksicht nehmen, welche vielleicht einfach den
Sehhtigel durchsetzen und eigentlich weiter caudalwarts herkommen.
Wenn also solche Fasern durch die Lasion verletzt werden, so konnen
diese ebenfalls centripetal zur Rinde degeneriren, ohne dass sie im
Sehhtigel entspringen. Solche Fasera von den Hinterstrangkernen, vom
Kleinhirn, vom Pons, vom rothen Kern etc. hatte man annehmen
konnen, dass sie den Sehhtigel einfach durchziehen und in die Gross-
himrinde einstrahlen. Um diese Frage vorher zu entscheiden, habe ich
die zahlreichen Praparate, die ich herstellte, diesbeztiglich durchstudirt.
Ich habe zahlreiche Experimente an Katzen und Hunden mit Halb-
seitendurchschneidungen des RQckenmarks, der Medulla oblongata,
der Brticke, der hinteren Zweihtigelgegend durchgefQhrt und die Ge-
hirne und den Stamm an lUckenlosen Serienschnitten nach Osmium-
saurefarbung geschnitten, so dass mir zur Entscheidung dieser Frage
wohl die Praparate von 40 Thieren vorlagen.
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150
VIII. Pbobst
Ich kann das diesbezdgliche Resultat dieser Versache kurz zu-
sammenfassen, wenn ich sage, dass in keinemFalle eine aufstei-
gende Degeneration von Fasern weiter, als bis in die grossen
subcorticalen Ganglienmassen zu verfolgen war. Namentlich
giebt es aber ganz sicher keine directe aufsteigende Degeneration von
den Hinterstrangkernen zur Grosshirnrinde, wie das neuerdings wieder
behauptet wurde.
Es enden also sowolil die Schleifenfasern als die Hauben-
fasern, als die vom Kleinhirn kommenden Fasern im Seh-
hugel, und es finden also hier die Umschaltungen der von der Peri¬
pherie centripetal geleiteten Erregungen statt, theils zum Grosshirn,
theils zum Klein-
him, theils zum
rothen Kern und
von hier peripher-
warts.
Ich werde auf
diese zahlreichen
Versuche einzeln
naher eingehen,
wenn ich gelegent-
lich darttber be-
richten werde.
Im Folgenden
will ich nun auf
experimentelle La-
sionen der medial
ventralen Kern-
gruppe des Seh-
htigels eingehen
und von diesen Ex-
perimenten zwei
Falle herausheben,
welche die Verbin-
dung dieser Gegend mit der Grosshirnrinde illustriren sollen; zunachst.
liber einen Versuch mit einer Verletzung, wie sie Fig. 2 zeigt.
Bei einer erwachsenen Katze wurde nach der oben geschilderten Ope-
rationstechnik eine L&sion im medial-ventralen caudalen Sehhiigelabschnitte
gesetzt, indem dieselbe knapp dorsal vom rechten Corpus mammillare aus-
ging und in frontal-dorsaler Richtung die medialen Theile des rechten
Sehhugels verletzte. Das Corpus mammillare ist von der Verletzung nicht
getroffen. Durch die L&sion wurde die medialste Spitze des sensenformigen
Kerns vent, b zerstort, ferner das median davon gelegene Hohlengrau,
C.g.e.
C.c.
ventb
CL
Fig. 2.
g.h.
MB
V
oH
KTh
BV
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Zur Auatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhirnverletzongen. 151
ferner wurde das Meynert’sche Biindel and das Vicq d’Azyr’sche Btindel
darchschnitten und die medialste Spitze des Kerns med. b ein wenig tangirt,
ferner einige medialst gelegene Fasern der frontalen Haubenstrahlung. Am
caudalsten Ende der L&sion war auch das Haubenbiindel des Corpus mam-
millare bei seinem Aufsteigen aus dem Corpus candicans darchschnitten
worden und konnte auch dessen Degeneration studirt werden. Wie weit
die L&sion dorsal reicht, zeigt Fig. 2 .
Ich habe also eine circumscripte, kleine Lftsion gesetzt etwa im mitt-
leren Verlaufe des Meynert’schen Biindels, die lateral den Kern vent, b
in seinen medialsten Antheilen und gegen die Mitte zu das centrale
Hohlengrau zerstbrte.
Von dieser L&sion aus konnte ich nun eine streng umschriebene Bahn
zur Hirnrinde verfolgen,
ohne dass sonst irgend
welche Fasern im Gross-
hirn degenerirt gewesen
wftren.
Die degenerirten
Fasern zogen von der
LSsionsstelle im medial-
ventralen Theil des Ker¬
nes vent, b weiter in der Fasc - 8Ubc -
Richtung, wie das dor-
sale Mark der Regio sub-
thalamica, und waren c.c.
nicht streng zu scheiden
von den Fasern dieses. Wo
nun die Hirnschenkel-
schlinge auftritt, wenden
sich die Fasern etwas
ventralw&rts und biegen
auf dem Wege der Lamina
medallaris externa des
Sehhugels in die innere
Kapsel ein. Dort, wo
der Pedunculuskern
proximal zu Ende geht,
durchqueren diese Fasern
den ventralen Theil der
inneren Kapsel, indem sie theils im Bogen dorsal vom Pedunculuskern, theils
ventral von dem proximalen Ende dieses herumziehen; sie kommen dadurch
zum Theil auch in jenes Gebiet zwischen Linsen- und Pedunculuskern
zu liegen, welches die Hirnschenkelschlinge inne hat. Die degenerirten
Fasern kommen dann nach Durchquerung des ventralen Theiles der inneren
Kapsel in der Gegend der vorderen Commissar knapp an die mediale Seite
der Linsenkernglieder zu liegen, und die Richtung dieser Fasern scheint in
die Linsenkernglieder zu gehen. Das ist aber nur anscheinend der Fall.
Die Fasern gehen keine grobere Verbindung mit dem Linsenkern ein, son-
dern ziehen im lateral-ventralen Antheil der inneren Kapsel weiter hirn-
wUrts. Die dorsalsten Antheile des Linsenkerns werden theils von den
X
Li
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152
VIII. Peobst
F&8ern durchzogen, theils ziefaen sie knapp an der medialen Seite des
Linsenkerns waiter, wie es Fig. 8 zeigt
Diese Lage behalten nun die Fasern in der inneren Kapsel bei nnd
ziehen hier weiter frontalw&rts. Nach dem Verschwinden der Linsenkem*
glieder kommen sie etwas lateraler zu liegen nnd strahlen dann in die
Windung ein, wie es Fig. 4 veranschaulieht. Die Degenerationsproducte
sind etwa bis zum Gennari’schen Streifen zu verfolgen. Die Windung,
in welche diese degenerirten Fasern eintreten und ausstrahlen, ist das vor-
derate frontale Ende der vierten Aussenwindung.
Am frontalen Pol der Katze liegt an Stelle der ersten Aussenwindung
der Gyrus sigmoideus, die zweite und dritte Aussenwindung enden lateral
davon mit einem Windungszug, Gyrus coronarius, in dem sie sich vereinigt
haben. Zwischen diesem und
dem Gyrus orbitalis reicht der
Windungszug, der sich zum
Theil aus der dritten und vier¬
ten Aussenwindung zusammen-
setzt und in eine spitze Win¬
dung ausgezogen vorne endet.
Hier nun strahlen die geschil-
derten degenerirten Fasern ein.
wie es Fig. 4 zeigt.
Durch diesen Befund
ist eine Verbindung
sichergestellt, welche
den medial-ventralen
caudalen Antheil des
Zwischenhirns mit dem
x frontalen Ende der vier¬
ten resp. dritten Aussen¬
windung verbindet. Der
Zellkorper dieser Neurone
liegt also im Zwischenhirn,
und die Nervenfaser endet
blind in der obigen Windung.
Der Hauptantheil dieser Zell¬
korper, die in dieser Art ihre
Nervenfasem gegen die Grosshirnrinde senden, dtirfte wobl im Kern vent,
b zu suchen sein. Sicher ausschliessen kann ich freilich nicht, ob nicht
auch Fasern von den anderen verletzteu Ganglienzellen und Nervenfasern
dabei eine Rolle spielen, namentlich, ob nicht vom Mittelhirn her
einige Fasern des dorsalen Markes der Regio subthalamica in dieser
Weise verlaufen. Weiter caudal, etwa vom hinteren ZweihQgel, kommen
sie sicher nicht her, wie es meine oben ausgeflihrten Durchschneidungs-
versuche in dieser Gegend beweisen. Ausser der medialen Spitze von
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Zur Anatomie and Physiologie experi men teller Zwischenhimverletzungen. 153
vent, b war auch etwas der medialste Antheil von med. b bertihrt worden,
und konnten auch, allerdings nur zum Theil, die Ganglienzellen dieser
Gruppe mit in Frage kommen.
Weiter konnte noch das centrale Hohlengrau und das Grau liber
dem rechten Corpus mamillare in Betracht kommen. Darauf werde
ich noch zurtickkommen.
Was nun die Degenerationsverhaltnisse des Meynert’schen Btin-
dels anbelangt, so konnte ich auch in diesem Falle, wie ich es schon
frtiher einmal ausgeftthrt habe, nachweisen, dass es, durchscbnitten, einer-
seits zum Ganglion habenulae hin degenerirt, andererseits aber auch
zum Ganglion interpedunculare, dass es also sowohl auf- als ab-
steigende Fasern enthalt.
Das Vicq d’Azyr'sche Blindel degenerirte nach seiner Durch-
schneidung oberhalb des Cor- n Cg e. B ^ t u
pus mammillare aufwarts
zum Kern ant. a und endete
dort mit feinen ausstrahlenden
Degenerationen, in dem diese
an der ventralen und lateral-
dorsalen Seite am meisten an-
gehauft sind und einen form-
lichen Saum um diese Theile 11
des Kerns bilden.
Jene Fasern des dorsalen
Markes der Regio subthala-
mica, welche verletzt waren,
degenerirten frontalwarts und
endeten im ventralen Kernla-
ger des Thalamus zum Theil
im Kern med. b und med. c.
Ein grosser Theil der Fa- p
sern des dorsalen Marks der Fig. 5.
Regio subthalamica kommt
nach anderen Versuchen von mir vom Kleinhim her und zwar durch
den Bindearm. Ich komme anderweitig darauf naher zu sprechen. 1 )
Ich mochte hier noch auf die Fasern der Forel'schen Commissur
zu sprechen kommen, welche im obigen Falle auch degenerirt waren.
Ich habe die Fasern der Forel’schen Commissur bei meinen zahlreichen
Durchschneidungsversuchen durch die BrQcke in vielen Fallen
zur Degeneration gebracht und komme auf diese ausfQhrlicher in
einer spateren Arbeit zu sprechen und will sie hier nur kurz erwahnen.
1 ) 1 . c.
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154
VIII. Probst
Monakow lasst die vordere Haubenkreuzung Ganser's oder
Forel’sche Kreuzung aus wenigen Btindeln bestehen, welche aus der
Zona incerta (ventralerTheil) stammen und das central©Hohlengrau durch-
setzen and divergirend im Tuber cinereum der gekreuzten Seite aufsteigen.
Kolliker schreibt darliber, dass er ttber das weitere Verhalten
dieser Commissura hypothalamica anterior keine weiteren Aufschlasse
geben konne, als diejenigen, die seiner Fig. 686 zu entnehmen sind,
welche zeigt, dass dieselbe lateral von der Fornixsaule dorsal warts
verlauft und dann in den anderen, in derselben Richtung verlaufenden
Faserbfindeln (der Ansa lenticularis, dem Hilus inferior thalami und
dem dorso-central verlaufenden Abschnitte der Stria medullaris thalami)
sich verliert.
Bechterew schildert die ForePsche Commissur als Fasciculus
tuberis cinerei. Die ziemlich starken Elemente dieses Btindels verlaufen
unter dem Boden des dritten Ventrikels von einer Seite zur anderen,
von der Mittellinie aus facherformig auseinanderweichend. Caudal-
warts umgehen sie den Fornix vorwiegend von innen her und verlieren
sich sodann an den vorderen Absehnitten des rothen Kerns. Die ven-
traleren Fasern ziehen nach aussen, um sich noch im Gebiete des
Tuber cinereum unter dem Boden des Ventrikels mit solchen der
anderen Seite zu kreuzen, gesellen sich an dem medialen Rande des
Hirnschenkels zu der Meynert’schen Commissur und erreichen mit
letzterer, ventral vom Hirnschenkel weiterziehend, den ventralen Theil
des Linsenkerns. Bechterew fand nach Thalamuslasionen, dass sich
die degenerirten Fasern von der Lasionsstelle gewohnlich beiderseits
von den Fornixschenkeln abwarts zu dem Boden des dritten Ventrikels
begeben, die Mittellinie tiberschreiten und schliesslich mit Elementen
der Meynert’schen Commissur zur ventralen Seite des Linsenkerns
streben, wo sie sich dem Blicke entziehen.
Tschermak will nach seinem Befunde bei einer Katze schliessen,
dass die Einstrahlung der ForePschen Kreuzung in den Linsenkern,
speciell in den Globus pallidus eine allem Anscheine nach vollstandige sei.
Den Befund Tschermak’s kann ich nicht bestatigen, sondern
ich bin zu anderen Resultaten gekommen.
Es liegen mir fiinf Falle vor, wo die ForePsche Kreuzung deut-
lich einseitig degeuerirt ist. Nach Halbseitendurchschneidungen in
der Brticke degeneriren Fasern in der Nahe des medialen Antheiles
der Schleife frontalwarts, und gelangen lateral-ventral vom rothen Kern
zum dorsalen Mark der Regio subthalamica. Von hier aus treten dann
die Fasern ventralwarts in das Tuber cinereum, wie es Bechterew
schildert, gelangen zurMeyner t’schen Commissur der anderen Seite, gehen
aber hier nicht zum Linsenkern, sonderndurchbrechen von unten her
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Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhimverletzungen. 155
den Fuss der inneren Kapsel, durchqueren diese in schiefer Richtung
und treten in die Gitterschicht des Sehhtigels ventral vom
Corpus genicnlatum externum ein und zersplittern sich hier.
Ich komme fibrigens auf diese Fasem noch anderwarts zu sprechen
und will hier nur betonen, dass ihre Einstrahlung nicht in den Linsen-
bem erfolgt, sondern in den Sehhflgel der anderen Seite, und dass
diese Fasem von der Brficke herkommen.
Ich kann hier noch fiber ein anderes Btlndel berichten, welches von
der Lasionsstelle dorsal vom rechten Corpus mammillare aus in caudaler
Richtung degenerirte, das mit dem Verlauf des Haubenbfindels des
Corpus mammillare der Autoren ttbereinstimmt.
Kolliker berichtet fiber das Vicq d’Azyr*sche Bfindel und
das Haubenbfindel von Gudden, dass man von diesen zwei Bfindeln
nach den bisherigen Daten annehmen mttsse, dass das Gudden*sche
Haubenbfindel im Ganglion tegmenti profundum von Gudden ent-
springe, wahrend von dem Vicq d*Azyr’schen Bfindel bisher uner-
mittelt war, wo dasselbe herkomme und ende. Kolliker hat 1895
bereits das Vicq’ d*Azyr*sche Bfindel im Nucleus dorsalis thalami
mit freien Endigungen ausgehen sehen, welche Beobachtung fast gleich-
zeitig Ramon verofFentlichte. Kolliker war es nicht moglich, das
Bfindel von Vicq d'Azyr bis ins Corpus mammillare hinein zu ver-
folgen und erklarte, dass dasselbe sich immer an einer gewissen Stelle
verlor und mit dem Haubenbfindel vereinigte. Diese eigenthttmliche
Thatsache hat auch Gudden mehrfach angedeutet.
Ramon fand bei jungen Mausen, dass die Fasern des Vicq
d’Azyr*schen Btindels und diejenigen des Haubenbfindels aus gemein-
samen Stammfasem hervorgehen, die, nach dem sie aus der dorsalen
Seite des Corpus mammillare herausgetreten sind, sofort unter an-
naherad rechtem Winkel sich theilen und den einen Ast in das eine,
den anderen in das andere Bfindel senden. Ramon vermuthet, dass
alle Zellen des Ganglion mediate des Corpus mammillare solche Stamm¬
fasem abgeben.
Kfilliker fand nun auf Golgi*schen Praparaten von Mausen,
Ratten und Kaninchen, dass die Faserbfindel, die von der gemeinsamen
Fasermasse, zu welcher das Vicq d'Azyr’sche und Haubenbfindel
dorsal sich vereinen, in das Corpus mammillare ein treten, in diesem
auf lfingere Strecken als starkere und schwachere Bfindel sich erhalten
und schliesslich, pinselformig zerfahrend, mit ungetheilten und unver-
astelten Fasern sich verlieren, ein Verhalten, das voll beweist, dass alle
diese Fasem im Corpus mammillare von Zellen entspringen.
Ramon sah bei der Maus im Allgemeinen den Ast, der in den
Fasciculus Vicq d*Azyr einging, etwas starker, als den anderen;
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156
VIII. Probst
beim Kaninchen ist gerade das Umgekehrte die Regel. Kolliker
schliesst sich nun den Beobachtungen Ramon y Cajal’s an und nennt
das Stammbtindel Fasciculus mammillaris princeps, das sich in die
beiden Auslaufer Fasciculus thalamo-mammillaris und Fasc. tegmento-
mammillaris theilt.
Die Fasem des Stammbtindels des Corpus mammillare entspringen
nach Kolliker von den Zellen des Ganglion mediale. Was den Ver-
lauf und die Endigungen des Fasciculus tegmento-mammillaris betrifft,
so stimmt Kolliker mit Gudden insofern tiberein, dass auch er die
Bfindel, die Gudden zeichnet, als Fortsetzungen desselben ansieht und
von einem Uebergang in den Fasciculus longitudinalis dorsalis nichts
Sicheres zu beobachten im Stande war. Sowie das Ganglion Guddenii
profundum auftritt, werden diese Btindel undeutlich und enden jeden-
falls grosstentheils nach Kolliker in diesem Ganglion, welche En-
digung eine freie ist.
Auch an Sagittalschnittserien der Regio hypothalamica und des
Zwischenhirns des Menschen kam Kolliker zu demselben Resul-
tat, wie bei der Maus und dem Kaninchen, dass der Fasciculus tha-
lamico-mammillaris und Fasc. tegmento-mammillaris zu einem Faser-
systeme gehSren, und dass hochstwahrscheinlich die eine Abtheilung
dieses Systems, namlich der Fasciculus tegmento-mammillaris, in das
dorsale Langsbtindel iibergeht und einen wesentlichen Bestandtheil des¬
selben bildet.
Ich habe nun nach der oben geschilderten Verletzung dorsal vom
rechten Corpus mammillare, wobei das hier verlaufende Bundel von
Vicq d’Azyr und das Haubenbfindel des Corpus mammillare durch-
schnitten waren, den Verlauf dieser und die Degenerationsrichtung
genau verfolgen konnen. Das Resultat einer Durchschneidung des
Vicq d’Azyr’schen Biindels dorsal vom Corpus mammillare ist, dass
dasselbe zum Kern ant. a aufsteigend degenerirt, aus mittelfeinen Fasern
besteht und sich namentlich im ventralen und lateralen dorsalen Theil
des Kerns ant. a aufsplittert. Es besteht demnach zum grossten
Theile aus zum Kern ant. a aufsteigenden Fasern.
Was nun das Haubenbfindel des Corpus mammillare betrifft, so
konnte ich auch den Zug dieser Fasern durch die distincte Degenera-
tionsfarbung mit Osmiumsaure verfolgen. Sie gelangen von der Ver-
letzungsstelle an die laterale Seite des dorsalen Langsbtindels, wo dieses
aus dem tiefen Kern der hinteren Commissur entspringt, und behalt
diese Stelle auch im weiteren Verlaufe bei.
Im weiteren Verlaufe werden Fasern abgegeben namentlich dort,
wo der rothe Kern auftritt. Wo die dorsale Langsbfindelformation in
der bekannten Form auftritt, liegen die Fasern knapp lateral davon.
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Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhimverletzungen. 157
Beim Trochleariskern angelangt, werden lateral Faserchen entsendet
in die Substantia reticularis. Caudal vom Trochleariskern schlagen die
Fasem eine ventrale Richtung ein und verlieren sich sammtlich in der
Substantia reticularis derselben Seite.
Es degeneriren also die Fasem dieses Bfindels abstei-
gend und sie enden mit Aufsplitterungen in der Substantia
reticularis der hinteren Zweihfigelgegend.
Wenn ich nochmals auf die oben geschilderte Lasion des Zwischen-
hirns eingehe, so waren zerstort zunacbst die mittlere Lage des cen-
tralen Hohlengraus medial vom Meynert’schen Biindel, die mediale
Spitze des Kerns vent, b und ein wenig der dort angrenzende Kern
med. b; ferner war die dorsal vom rechten Corpus mammillare gelegene
graue Substanz in kleinem circumscripten Umfange zerstort und zu-
gleicb das Vicq d’Azyr’sche Biindel und das Haubenbiindel des
Corpus mammillare.
Wie verhalten sich nun diese Biindel und Kerngruppen beztiglich
der Resultate Monakow’s nach Rindenabtragungen? Das Meynert-
sche Bundel und das centrale Hohlengrau bleiben nach Grosshirnrinden-
abtragungen ganz unbeeinflusst. Die ventralen Kerngruppen und der
mediale Kern des Corpus mammillare sind nach Monakow indirecte
Grosshirnantheile; sie erkranken also secundar nach Grosshimrinden-
abtragungen, indem die Ganglienzellen alle Uebergange von der Volums-
reduction bis zur volligen Sklerose zeigen. Eine vermittelnde Stellung
zwischen directen und indirecten Grosshirnantheilen nehmen der laterale
Kern des Corpus mammillare und die Zona incerta ein.
Es kann also nach den Befunden Monakow’s das centrale Hohlen¬
grau ausgeschlossen werden, dass es directe Verbindungen zur Gross-
himrinde entsendet. Das Meynert’sche Biindel und das Vicq
d’Azyr'sche Biindel kommen hier nicht in Betracht. Das Grau der
Zona incerta war nicht verletzt worden, nur das Grau dorsal vom
rechten Corpus mammillare und die medial-ventrale Spitze des Kerns
vent, b und einige medial gelegene Fasem des dorsalen Markes der
Zona incerta.
Ich kann also mit grosser Wahrscheinlichkeit schliessen, dass die
Neurone der oben geschilderten degenerirten Zwischenhirnrinden-
bahn ihre Zellkorper in dem medial-ventralen caudalen Sehhugel-
kera haben.
Ich komme nun auf die physiologischen Wirkungen der oben ge¬
schilderten Lasion. Welchen Effect hatte die Verletzung des Zwischen-
hirns und die Ausschaltung der oben geschilderten degenerirten Neurone?
Gleich nach Vollzug der Operation, die das rechte Zwischenhirn be-
traf, drehte das Thier stark den Kopf nach rechts and begann nun fort-
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158
VIII. Probst
w&hrend in einem Kreis nach rechts zu gehen. Trotz der Hindernisse, die
am Boden liegen, macht die Katze zwangsweise die Bewegnng nach rechts
im KreiBe; bekommt sie einmal auf der rechten Seite die Maner als Hinder-
niss fur ihre rechtsseitigen Kreisbewegungen, so streicht sie mit dem Kbrper
der Maner entlang, iiberdreht sich aber bald im Kreise nach rechts, nm
ihre Man&gebewegnng nach rechts wieder anfznnehmen. Wenn sie die
linke hintere Extremist in die Hbhe hebt, treten hier und da ganz leichte
clonische Zncknngen anf. Nach einer halben Stnnde vennag sie schon
anf den Sessel und von da anf den Tisch zn kommen, verfehlt jedoch den
letzteren nnd fftllt herab.
Die Katze will mit dem Kopfe sich nach links wenden, bringt es aber
trotz aller Miihe nicht zn Stande. Nach einiger Rnhe beginnt sie wieder
im Kreise nach rechts zn gehen. Sie geht an der Wand, als ob sie die-
selbe beschnnppern wollte. Immer wieder stbsst sie an die ihr entgegen
stehenden, nnangenehmen Hindernisse, nm dem scheinbaren Zwange, im
Kreise nach rechts zn gehen, nachznkommen. Dnrch die Hindernisse kommt
sie in die nnbeqnemsten Lagen, fhhrt aber trotzdem immer wieder denselben
Weg nach rechts ans. Im Manerwinkel schant sie empor, tiberall herum-
snchend, als ob sie sich orientiren wollte.
Die Pnpillen reagiren; die Katze sieht, Hort nnd ftihlt; die Znnge ist
gerade. Der Mnskeltonns ist hberall ein gnter; bei den Extremit&ten ge-
halten, zieht das Thier fest an, knnrrt.
Nach fhnf Viertel Stnnden f&ngt das Thier plbtzlich an, zwangsweise
im Kreise nach der entgegengesetzten Seite zn gehen. Die Kreis-
bewegnng nach links ist aber lange nicht so arg, als die frhheren Kreis¬
bewegungen nach rechts. Die Kreisbewegungen nach links danern nur
knrze Zeit an. Das Thier geht dann unruhig herum, sucht umher.
Nach einigen Stnnden haben diese Kreisbewegungen vollst&ndig auf-
gehbrt und das Thier geht ganz gut.
Auch die n&chsten Tage zeigt die Katze keine Sensibilitatsstbrungen, die
Reflexe sind alle vorhanden, die Pnpillen reagiren. Sie liegt raeist beim
warmen Herde nnd schl&ft, fletscht die Z&hne und knnrrt zornig, wenn man
sie angreifen will. Auch im weiteren Verlaule zeigt sie keine Besonderheiten.
Die physiologischen Versuche, die sich bisher auf Sehhiigellasionen
bezogen, wurden ohne nachfolgende anatomischeUntersuchung gemacht.
Es ist aber eine unerlassliche Bedingung, zumindestdie Verletzungs-
stelle an ltickenlosen Serienschnitten zu studiren, da man sonst nie
sichere Riickschliisse zieben kann. Solche Untersuchungen sind aller-
dings sehr zeitraubend, da das ganze Qehirn in Serienschnitte zerlegt
wird;ab^r nur diephysiologisch-anatomischeUntersuchung auf dieser Basis
bietet eine gesicherte Grrundlage, auf welcher weitergebaut werden kann.
Ich werde in spateren Arbeiteu noch alle die diesbezuglichen ein-
zeln genau durchgepriiften Falle zusammenfassend wiedergeben und
die gemeinsamen Resultate physiologischer und anatomischer Art,
welche Verletzungen des Zwischenhirns bieten, schildern.
Nach der oben geschilderten circumscripten Verletzung und den
oben geschilderten, sich daran anschliessenden Degenerationen, welche
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Zur Anatomie und Physiologie experimen teller Zwischenhirnverletzungen. 159
letzteren darauf schliessen lassen, dass diese Bahnen nach der Lasion
zum Ausfall gebracht wurden, machten sich also bei dem Thiere durch
ftnf Viertel Stunden zwangsweise Kreisbewegungen nach rechts gel-
tend, die sich dann far kurze Zeit in schwachere zwangsweise Kreis-
bewegnngen nach links verwandelten. Nach einigen Stnnden waren
keine groberen Storungen mehr nachweisbar.
Die Erscheinnngen, welche die tibrigen zahlreichen Yersuchsthiere
mit nachfolgender anatomischer Untersnchung boten, werde ich noch
schildern. 1 ) Manche der Symptome sind besser bei Hunden, manche
besser bei Katzen zu Tage getreten.
Die Rindenreizversuche, die yor der Todtung des Thieres gemacht
wurden, ergaben in diesem Falle, wo die Lasion die medial-ventrale
caudale Zwischenhirnpartie betraf, keine abnormen Verhaltnisse. Die
Zuckungen der Extremitaten waren sowohl von der linken als rechten
motorischen Zone auslosbar und waren gleich; ebenso konnte auf bei-
den Seiten ein epileptischer Anfall erzielt werden.
Unvollstandige und einseitige Zerstorungen der Sehhtigel haben
nach Longet’s, Schiffs und Nothnagel’s Versuchen Einfluss auf
die Stellung des Kopfes und der oberen Extremitaten. Die Muskeln
der Wirbelsaule drehen dieselben so, dass der Kopf nach der Seite des
unverletzten Sehhtigels gewendet ist, wahrend an der Seite des unzer-
storten Sehhtigels zugleich die Beuger der oberen Extremitat, an der
mit dem zerst5rten Sehhtigel gleichseitigen oberen Extremitat jedoch
die Strecker contrahirt werden. Doch haben diese Forscher die uner-
lassliche Durchforschung der Lasionsstellung an Serienschnitten unter-
lassen, die Lasion mit Zerstorung anderer Hirntheile gemacht Oder mit
Chromsaureeinspritzungen gearbeitet
Die zahlreichen widersprechenden Ansichten fiber den Sehhtigel
sind darauf zurttckzufahren, dass das Zwischenhim nicht anatomisch
genau im oben erwahnten Sinne studirt wurde. Die Lasionen, welche
die einzelnen Forscher setzten, waren durchaus nicht gleich, es waren
bei den einzelnen Versuchen die verschiedensten Antheile des Sehhtigels
verletzt worden und allgemein als Sehhtigelverletzungen geschildert; in
den meisten Versuchen wurden aber auch andere Hirntheile mit ver¬
letzt. Dieser Fehler ist nur durch genaue anatomische Schilderung
der Lasion an der Hand von Serienschnitten und der Schilderung der
von hier ausgehenden secundaren Degenerationen moglich.
Luys halt den Sehhtigel far eine Art Sensorium commune, far
einGebilde, in welchem alle Empfindungen zusammenfliessen, Meynert
halt ihn far den Sitz der Muskelempfindungen. Nach Lon get soil
1) Experimen telle Untereuchungen fiber die Anatomie u. Physiologie des
Sehbugel8. Monatsschrift fur Psychiatrie u. Neurologie. 1900, Mai.
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160
VIII. Promt
er Einfluss auf die Ortsbewegung besitzen, nach Schiff soli er den
speciellen Bewegungen der Brustglieder vorstehen, gleicb den Ansichten
von Sancerotte, Serres u. A. Nothnagel sah bei Thieren um-
fangreiche Zerstorungen vollig symptomlos verlaufen, Ferrier giebt
Storungen der Sensibilitat auf der entgegengesetzten Seite als constanten
Erfolg an. Wundt halt ihn fftr ein Reflexcentrum des Tastsinns.
Das Thier mit der oben geschilderten Verletzung machte Kreis-
bewegungen nach rechts und nach einiger Zeit in umgekehrtem Sinne.
Man stritt sich, ob diese Reitbahnbewegungen auf Lahmung des Willens-
einflusses oder als dauernde Reizungen zu deuten seien. Schiff ver-
theidigte die Lahmungstheorie und Brown-Sequard die Reizungs-
theorie. Von einer Aufhebung des Willenseinflusses kann nach
Wundt hier nicht die Rede sein, da bei Erhaltensein der motorischen
Rindenzone mit ihren Pyramidenneuronen trotz der Bewegungsstorungen
die willktirliche Innervation bestehen bleibt Der des Grosshirns be-
raubte Frosch, der keine Willktirbewegung taacht, ffthrt seine Flucht-
versuche in Reitbahnbewegungen aus, wenn der eine Thalamus wegge-
nommen wird. Kaninchen, denen die Grosshirnlappen weggenommen
werden, behalten bei intactem Zwischenhirn ihre normale Korperstel-
lung und fiihren auf Reize zweckmassige Fluchtbewegungen aus
(Christiani).
Nach Wundt werden im Zwischenhirn durch die Tasteindrlicke
sofort zusammengesetzte Korperbewegungen ausgelost. Die Bewegungen
unserer Skeletmuskeln sind zunachst abhangig von den Sinnesein-
drticken; sie rich ten sich nach diesen, noch bevor der Wille bestim-
mend und verandernd einwirkt, in erster Linie nach dem Gesichtssinn
und Tastsinn. Unsere unwillkiirlichen oder durch den Willen zwar
zuerat angeregten, aber nun der reflectorischen Selbstregulirung tiber-
lassenen Bewegungen richten sich fortwahrend nach den Tasteindrhcken.
Durch sie werden insbesondere die Ortsbewegungen, sowie die Tast-
bewegungen der Arme und Hande geregelt. Ebenso sind diejenigen
Muskelspannungen, die in den verschiedenen ruhenden Korperstellungen.
wie beim Sitzen, Stehen, eintreten, durch die Tasteindrflcke bestimmt.
Die letzteren losen nach Wundt in den Sehhtigelcentren motorische
Innervationen aus, welche genau der in den Tasteindrflcken sich spie-
gelnden Korperhaltung entsprechen. Wird nun eines jener bilateralen
Centren entfernt, so konnen die von ihm abhangigen Innervationen
nicht mehr erfolgen, wahrend das Centrum der anderen Seite noch
fortwahrend functionirt: so miissen denn die schon in den ruhenden
Korperstellungen bemerkbaren Verbiegungen eintreten, mit welchen
unmittelbar die Storungen bei der Bewegung zusammenhangen. Diese
letzteren sind theils direct durch jene Verbiegungen, theils dadurch
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Zur Anatomie und Physiologie experimen teller Zwischenhimverletzungen. 161
verursacht, dass wahrend der Bewegung die veranderte Innervation
nattirlich im gleichen Sinne sich geltend machi Aber dabei bleibt
die Leitung der Empfindungseindriicke znm Gehirn und der willktir-
lichen Bewegungsimpulse zu den Muskeln erhalten.
So kommt es, dass die anfanglichen Storungen mit der Zeit ge-
ringer werden, ja vollstandig sich ausgleichen konnen, ohne dass die
anatomische Yeranderung beseitigt oder auch nnr gemindert ware.
Willkiirlich verbessert das Thier seine falschen Bewegungen, und es
lemt allmahlich die Storungen des niedrigen Centralorgans durch das
hohere compensiren.
Bei der oben geschilderten Verletzung traten nach der Operation
Kreisbewegungen, Reitbahnbewegungen nach der Seite des verletzten
Zwischenhirns auf, die durch einige Zeit andauem und dann ftlr
kurze Zeit in Kreisbewegungen nach links umschlagen. Nach einigen
Stunden sind die Reitbahnbewegungen vortiber. Ich werde auf die
Physiologie dieser Erscheinungen noch naher zu sprechen kommen;
doch sei schon hier bemerkt, dass dabei viele Componenten mitspielen
und die Sache sich complicirt gestaltet.
Wenn wir das Zwischenhirn rein anatomisch betrachten, so ist es
auffallig, dass es von der Peripherie eine Flille von Bahnen aufnimmt,
wahrend von peripher entsendeten Bahnen nichts Sicheres bisher mit-
getheilt wurde. Anders verhalt es sich mit der Grosshirnrinde, obgleich
auch da die Meinungen auseinandergehen. Wahrend die einen an-
geben, die Neurone enden blind im Sehhiigel, geben die anderen an,
dass dieselben hier entspringen.
Auf Grund der zahlreichen experimentellen Verletzungen des
Zwischenhirns, die ich ausffihrte, sind beide Meinungen zu Recht be-
stehend; der Sehhiigel entsendet sowohl eine Menge Bahnen
zur Grosshirnrinde, die dort blind endigen (Sehhtigel-Rinden-
fasern), andererseits erhalt aber auch der Sehhiigel Bahnen
von der Grosshirnrinde, die mit Aufsplitterungen im Thala¬
mus opticus enden (Rinden-Sehhiigelfasern).
Wie steht es nun mit den Bahnen, welche das Zwischenhirn peri¬
pher entsendet? Daruber hat sich bisher nur Meynert geausserh
„In den Querschnitten, welche hart vor dem Vierhligel durch den brei-
testen Theil der Keile des Ganglion habenulae fallen, treten wahr-
scheinlich aus vielen Partien der Giirtelschicht des Sehhligels und
moglicher Weise durch die hintere Commissur mehrere starke Bund el
hervor, welche die Anschwellung der flinften Btlndelordnung der inneren
Kapsel, den rothen Kern der Haube, durchsetzen.
Aus Langsschnitten durch diese Biindel geht hervor, dass dieselben
wirklich in die Haube des Hirnschenkels iibergehen. Sie biegen
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde XVII. Bd. 11
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162
VIII. Probst
theils als vorderste innere Btindel der Haube den Nervus oculomotorius
nach aussen urn, theils durchflechten sie ihn und sindin die Langsbtindel
der hinteren Brtickenabtheilung verfolgbar. Sie setzen sich wohl nach
Einschaltung von Ganglienzellen in die Oblongata, eventuell in das
Rtickenmark fort als Fasciculus retroflexus. Die Haube des Hirnschenkels
wird auch durch die hintere Commissur noch mit Btindeln bereichert,
welche unterhalb des Fasciculus retroflexus und ihm parallel zuerst
aus der hinteren Commissur nach vorn laufen und sich dann medullar-
warts umbeugen.** Meynert kommt zu dem Schlusse, dass sowohl
gekreuzte als ungekreuzte Sehhtigelursprtinge in das Rtickenmark tiber-
gehen und zwar die gekreuzten durch die hintere Commissur, die un-
gekreuzten durch die Laminae medullares, welche einen pinselartigen
Ursprung aus dem Sehhligel nehmen.
Meynert standen ftir seine Untersuchungen nur grobe Unter-
suchungsmittel zurVerfogung und kam deshalb zu manchenTrugschlussen.
Bei meinen zahlreichen Verletzungen des Zwischenhirns konnte
ich von peripheren centrifugalen Degenerationen, die sich in caudaler
Richtung verfolgen liessen, nur Verbindungen zum rothen Kern und
vorderen Zweihtigel feststellen; ferner die Fasern, welche in der obigen
Verletzung geschildert wurden und als Haubenbtindel des Corpus mam-
millare knapp lateral vom dorsalen Langsbtindel bis in die Brucke
hinter dem Trochleariskern verfolgbar waren, wo sie sich in der Sub¬
stantia reticularis aufsplitterten. Auch nach Verletzungen, welche die
hintere Commissur betrafen und die ich anderweitig genau schildere,
fanden sich die Fasern in dieser Bttndelformation degenerirt und zwar
in diesen Fallen viel starker, als in dem oben beschriebenen Fall.
Anderweitige auf langere Strecken caudal verlaufende Bah-
nen, die etwa im Sehhligel ihren Ursprung nehmen wtirden,
konnte ich nicht nachweisen.
Andererseits enden aber nach meinen Untersuchungen nachDurch-
schneidungen der Schleifenformation und Zerstorung des Hinterstrang-
kerns sammtliche aufsteigend degenerirenden Fasern im Seh-
htigel. Ferner konnte ich an alien meinen Untersuchungen mit Ver¬
letzungen oder Abtragungen der Kleinhirnhemispharen nachweisen, dass
die vom Kleinhirn zum rothen Kern hin degenerirenden Fasern des
Bindearms nur zum Theil im rothen Kern enden und ein grosser
Theil sich erst im Sehhligel aufsplittert. Ueber den Sehhligel
hinaus reicht keine Degeneration mehr. 1 )
Nach den anatomischen und den experimentell-anatomischen
Untersuchungen mtissen wir daher schliessen, dass das Zwischenhirn
1) Probst, Archiv fQr Psychiatrie. Bd. 33. H. 1.
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Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwiachenhirnverletzungen. 103
respective der Sehhtigel hauptsachlich dazu da ist, alle Erregungen,
die von der Peripherie, vom Rfickenmark und Kleinhirn her,
dahingelangen, aufzunehmen und hier umzuschalten nnd
weiter zu vermitteln, theils durch seine zahlreichen Ver-
bindungen mit dem Grosshirn centripetal zur Grosshirn-
rinde, wo dieselben weiter verarbeitet werden, theils zum
Yierhfigel und rothen Kern peripherwarts, von wo die Vier-
hfigel-Vorderstrangbahn, das dorsale Langsbiindel und das Monakow-
sche Biindel Impulse peripherwarts ins Rtickenmark entsenden konnen.
Der Sehhiigel ist somit die Hauptschaltstation zwischen
Peripherie und Grosshirnrinde, wo die verschiedensten
Empfindungen und Eindrticke umgesetzt werden.
Beziiglich der oben geschilderten Bahn vom Zwischenhirn zur
Grosshirnrinde will ich hier noch auf einen Versuch eingehen, bei dem
der Kern vent, b des Sehhtigels in grosserer Ausdehnung zerstort
wurde. Ich will hier nicht den Versuch genau im Detail schildern,
sondern nur auf die gleichen Resultate aufmerksam machen.
Einer erwachsenen Katze wurde nach der von mir beschriebeuen Methode
eine Lesion des Zwischenhirns gesetzt, wie sie Fig. 5 in den caudalen
Partien der L&sionsstelle zeigt. Zum Unterschiede von der vorigen L&sion
ist diese lateraler gelegen und reicht nicht so tief ventral herab. Die Ver-
letzung reicht in der caudalen Partie von der seitlichen Ausstrahlung der
hinteren Commissur lateral-ventral herab bis zur Lamina medullaris externa
des Sehhiigel8. Was durch die Verletzung hier zerstort wurde, zeigt Fig. 5.
Weiter nach vom-frontal reichte die Verletzung durch den Kern vent, b
hindurch bis zum frontalen Ende dieses Kerns. Es war also hauptsachlich
die medial-ventrale caudale Partie des Sehhtigels zerstort. Caudal war
seitlich die hintere Commissur durchschnitten, sowie der medial-ventrale Kern
vent, b und die laterale Haubenstrahlung, weiter frontal war das Meynert-
sche Biindel durchschnitten im mittleren Verlauf, der Kern vent, b ganz zer-
stbrt und der Kern med. b und vent, a etwas tangirt.
Hier war die Zerstorung des medial-ventralen Kerns des Sehhtigels in
einem grosseren Umfange als bei der friiher geschilderten Lasion gemacht
worden. Die secundaren, zur Grosshirnrinde aufsteigenden Degenerationen
mussten deshalb hier auch umfangreichere sein. Die zur Grosshirnrinde
aufsteigende Bahn nahm im Grossen und Ganzen denselben Weg wie die
friiher beschriebene Bahn.
Die von hier aus degenerirten Fasern nehmen ihren Weg im medial-
ventralen Theil des Zwischenhirns erst so, wie die frontale Haubenstrahlung.
Wahrend aber die Haubenfasern sich im Thalamus opticus aufsplittern,
ziehen die von den medial-ventralen Kernen des Sehhtigels ausgehenden
Fasern in die Lamina medullaris externa des Thalamus opticus ein, durch-
queren an Schnitten, welche zwischen vorderer Commissur und Chiasma
nervi optici gelegt sind, den ventralsten Theil der inneren Kapsel, ziehen an
die iaterale Seite der inneren Kapsel und kommen knapp an die Linsen-
keraglieder zu liegen, welche sie, namentlich im dorsalen Theile, zerkliiften
11 *
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164
VIII. Pbobst
und durchziehen. Stets den lateralsten Theil der inneren Eapsel innehaltend,
ziehen sie frontalwarts und entsenden ihre Ausstrahlungen in die frontalsten
Antheile der zweiten und dritten Aussenwindung und ausserdem noch in
die vorderste Spitze der vierten Aussenwindung, geradeso wie in der fruher
geschilderten L&sion in Fig. 4. Der Verlauf dieser Fasern sowie der in
die zweite und dritte Aussenwindung blind ausstrablenden Fasern ist in
der Capsula interna, ahnlich wie es Fig 2 fur den oben geschilderten Ver-
such zeigt. Die zweite dnd dritte Aussenwindung erh< dort, wo diese
Windungen frontal in Form des Gyrus coronarius ineinander iibergehen,
lateral vom Gyrus sigmoideus, die ziemlich stark kalibrigen Fasern der
vom Sehhiigel aufw&rts degenerirenden Bahn. Die erste Aussenwindung
war frei von degenerirten Einstrahlungen.
Das Meynert’sche Biindel zeigte auch in diesem Falle sowohl auf- als
absteigend degenerirte Fasern, und zeigten sowohl das Ganglion interpedunculare
als das Ganglion habenulae die zahlreichsten degenerirten Einstrahlungen.
Es zeigt also auch dieser Versuch unter den gleichen Voraus-
setzungen, wie ich sie oben machte, dass die Zellen des medial-ventralen
Thalamuskerns ihre Nervenfasern in die oben geschilderten Rinden-
territorien entsenden. Es ist dies das Feld E von Munk, welches zur
Fnhlsphare CDE des Hundes gehort, speciell die Kopfregion, indem
nach Munk Verletzungen innerhalb der Strecke E immer Storungen
am Kopfe verursachen.
Auch in diesem Falle degenerirten von der Verletzung caudalwarts
Fasern des schon oben beschriebenen Biindels, welche knapp lateral
vom dorsalen Langsbiindel zu liegen kommen und caudalwarts bis in
die Brftcke verfolgt werden konnen. Sie liegen stets knapp lateral
vom dorsalen Langsbiindel, ziehen neben dem Trochleariskern vorbei.
Bei dem runden Ganglienzellenkern, der caudal vom Trochleariskern
in derselben Hohe wie dieser liegt, wenden t sich die Fasern central
gegen den Nucleus reticularis tegmenti und verschwinden in Auf-
splitterungen in der Substantia reticularis der Brticke.
Dieses Biindel enthalt also Fasern zum Theil des Haubenbftndels
des Corpus mammillare, zum Theil kommen noch anderweitige Fasern
in Betracht, die in derselben Formation verlaufen und immer nach
Durchschneidung der Commissura posterior degenerativ zu erhalten sind.
Nach der Operation machte das Thier ebenso Kreisbewegungen nach
rechts, wie im oben geschilderten Falle. Dieselben dauerten durch ca. zwei
Stunden an, worauf schwachere Kreisbewegungen nach links erfolgten. Nach
einigen Stunden waren keinerlei Storungen mehr bemerkbar.
Die Rindenreizversuche ergaben gegeniiber einem normalen Thiere keine
besonderen Erscheinungen, vielleicht dass von der motorischen Zone der
Lasionsseite etwas starkere Strome nbthig waren, um dieselben motorischen
Effecte zu erzielen.
Rindenabtragungsversuche, die ich an Katzen anstellte, ergaben die
Bestatigung fur die von Monakow gemachten Versuche.
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Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhirnverletzungen. 105
Nach Abtragung des Gyms sigmoideus fanden sich im Thalamus und
seiner Gitterschicht zahlreiche feine, schwarze F&serchen, die sich hier auf-
splitterten. Der vordere ventrale und yordere laterals Kern, sowie dessen
Gitterschicht zeigten die von der Rinde aus in den Thalamus einstrahlenden
F&serchen. Es beweist dies, dass es ausser den im Sehhiigel ent-
springenden Fasern, welche in der Grosshirnrinde blind enden,
auch solche giebt, die in der Grosshirnrinde entspringen und
blind im Sehhugel endigen. Ausser diesen Fasern degenerirten natiir-
lich die Pyramidenfasern, deren Verlauf ich bereits genauer geschildert habe
(Monatsschrift fur Psych, und Neurologie). Ausserdem degenerirten die
Balkenfasern bis in die Rinde der gesunden Hemisphere.
Ausser bei den oben erwahnten Thieren habe ich auch Rinden-
abtragungen bei Igeln ausgeftihrt, die bisher noch nicht gemacht waren
und ebenso auch Durchschneidungsversuche bei diesen im Hirnstamm.
Das Zwischenhirn des Igels ist entsprechend der Grosse des Gross-
hims. Nach Rindenabtragungen, welche das Frontalhim betrafen,
fanden sich auf den ltickenlosen Serienschnitten, die ich nach Osmium-
saurefarbung anlegte, ebenfalls degenerirte Einstrahlungen von der
Grosshirnrinde in die vordersten Abschnitte des Sehhtigels. Ich werde
die diesbezuglichen Versuche vom Igel noch genauer ausfQhren und
will hier nur anhangweise etwas liber die Pyramidenbahn des Igels kurz
berichten, die in meinen Fallen degenerirt war. Die Pyramidenbahn des
Igels ist schwach entwickelt und nimmt im Hirnstamm denselben
Raum ein, wie bei Katzen und Hunden, doch erschopfen sich die Fasern
dieser Bahn sehr rasch, so dass dort, wo der Hypoglossuskern auftritt,
nur mehr wenige Fasern der Pyramidenbahn vorhanden sind. Dort,
wo bei Katzen und Hunden die Pyramidenkreuzung ist, verschwinden
die Pyramidenfasern des Igels und sind selbst mit der distincten
Osmiumsaurefarbung nur schwer im Seitenstrange des Rfickmarkes
nachweisbar. Die Pyramidenfasern des Igels sind also nur bis
zum Beginn des Rlickenmarks als starkeres Biindel verfolg-
bar und erschopfen sich bis dort fast vollstandig durch
Abgabe von Fasern. Die Hinter- und Vorderstrange sind frei
von Degenerationen.
Auch Durchschneidungsversuche durch den Hirnstamm ergaben
beztiglich der Pyramidenbahn dasselbe Resultat. Es sind also die
Pyramidenbahnen beim Igel sehr gering entwickelt. Welche motorische
Bahn ist nun beim Igel machtig entwickelt? Darliber geben Durch¬
schneidungsversuche am vorderen Zweihiigel Aufschluss. Wir finden
namlich dann, dass das von mir genauer geschilderte Monakow’sche
Biindel und die Vierhtigel-Vorderstrangbahn, also die motorischen
Haubenbahnen, relativ recht machtig vorhanden und bis ins Sacral-
mark des Igels verfolgbar sind.
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166
VIII. Probst
Dieser Befund zeigt beziiglich der motorischen Bahnen, dass bei
Saugern mit weniger eDtwickeltem Grosshirn auch die Pyramidenbahnen
gering entwickelt sind, dagegen die motorischen Haubenbahnen, welche
reflectorisch-automatischen Zwecken dienen, wie ich das ander-
warts ausgeflihrt habe, relativ sehr stark ausgebildet sind. Mit dem
hoher entwickelten Grosshirn ist auch die motorische Willensbahn,
die Pyramidenbahn, hoher entwickelt, bis sie beim Affen und Menschen
ihre hochste Entwicklung erreicht und hier auch schon principielle
Unterschiede gegeniiber niederen Saugern aufweist.
Bei Katzen und Hunden, deren Rindenabtragungen caudal vom
Gyrus sigmoideus gemacht wurden, waren auch degenerirte Einstrah-
lungen in die lateralen Kerngruppen des Sehhfigels zu constatiren.
In dieser Weise finden wir, dass bestimmte Partien des Sehhligels
mit bestimmten Territorien der Grosshirnrinde verbunden sind und
auch umgekehrt bestimmte Grosshirnrindenpartien mit bestimmten
Sehhtigelabschnitten gesetzmassig durch bestimmte Bahnen zusammen-
hangen. Auf die verschiedenen einzelnen Rindenterritorien, die mit
dem Zwischenhirn in gesetzmassiger Weise durch bestimmte Bahnen
verbunden sind, komme ich noch bei detaillirter Schilderung der
Anatomie und Physiologie der tibrigen von mir gesetzten Zwischen-
hirnlasionen zuriick.
Literati! r.
v. Monakow, Experimentelle und pathologisch-anatomische Untersuchungen
fiber die Haubenregion, den Sehhfigel und die Regio subthalamica, nebst
Beitragen zur Kenntniss friih erworbener Gross- und Kleinhirndefecte.
Archiv f. Psych. 1895. Bd. 27.
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Wundt, W., Grundziige der physiologischen Psychologie. Leipzig 1887.
Meynert, Th., Psychiatrie. Wien 1884.
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dessen Verbindungen, besouders die JEtindenschleife. Deutsche
Zeitschr. f. Kervenheilkunde. Bd. XIII.
2) Zur Kenntniss der Pyramidenbahn. Normale und anormale
Pyramidenbfindel und Reizversuche der Kleinhimrinde. Mo-
natsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie. 1899.
3) Ueber vom Vierhugel, von der Brucke und vom Kleinhim ab-
steigende Bahnen. Deutsche Zeitschr. f.Nervenheilkunde. Bd.XV.
Munk, H., Ueber die Functionen der Grosshirnrinde. Gesammelte ^littheilungen
aus den Jahren 1877—1880. Berlin 1881 u. 1890.
Meynert, Wiener psychiatrisches Centralblatt. 1873.
Forel, A., Untersuchungen fiber die Haubenregion und ihre oberen Ver-
knupfungen im Gehirn des Menschen und einiger S&ugethiere mit Bei-
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Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhirnverletzungen. 157
tragen zu den Methoden der Gehimuntersuchung. Archiy f. Psych, u.
Nervenheilkunde. Bd. VII. H. 3
Derselbe, Beitrage zur Kenntniss des Thalamus opticus. Diss. 1872.
Ganser, Morpholog. Jahrbucher. Bd. VII.
Grunbaum, Journal of Physiologie. 1891.
Gudden, 1 ) Correspondenzbl. f. schweizer. Aerzte. Bd. II.
2) Archiv f. Psych, u. Nervenkr. Bd. II.
3) Archiv f. Psych, u. Nervenkr. Bd. XI.
Luys, Recherches sur le systbme nerveux. p. 342.
Meynert, Wiener med. Jahrb. 1872. II.
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Schiff, Lehrbuch I. S. 342.
Vulpian, Physiologie du systfeme nerveux. p. 658.
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Goltz, Beitrage zur Lehre von den Functionen der Nervenoentren dee Frosches.
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Renzi, Ann. univers. di medicina. 1863/64.
Steiner, Untersuchungen uber die Physiologie des Froschhirns. Braunschweig
1885. 8 . 35 u. 53.
Erkiamng der Abbildungen.
Fig. 1 . Instrument zur Verletzung des Zwischenhirns.
Fig. 2. Verletzung (V) des Zwischenhirns im mittleren Verlauf des Mey-
nert’schen Biindels. Frontalschnitt durch das Zwischenhirn. Osmium-
saurefarbung.
Fig. 3. Die vom Zwischenhirn zur Grosshirnrinde aufsteigende Bahn x. Fron¬
talschnitt durch den 8 chweifkern und den Linsenkern. Osmiumsaure-
farbung.
Fig. 4. Die vom Zwischenhirn kommende Bahn x strahlt hier in die Gross-
himrinde ein. Frontalschnitt durch das Stirnhirn. Osmiums&ure-
farbung.
Fig. 5. Verletzung (V) des Zwischenhirns einer Katze. Frontalschnitt durch
den caudalen Abschnitt des Zwischenhirns. Osmiumsaurefarbung. Die
von hier aus zur Grosshirnrinde aufsteigenden Fasern (x) nehmen in der
Capsula interna dieselbe Partie ein, wie x in Fig. 2 und strahlen auf
einem Frontalabschnitt, wie ihn Fig. 3 zeigt, in die zweite, dritte und
vierte Aussenwindung der Grosshirnrinde ein.
B V Vicq d’Azyr’sches Bundel.
C A Cornu Ammonis.
C c Corpus callosum,
c g e Corpus geniculatum externum,
c g i Corpus geniculatum internum.
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168 vm. Probst, Zur Anat. u. Physiol, experment. Zwischenhirnverletzungen.
c H centrales Hohlengrau.
ci innere Kapsel.
cp Commissura posterior,
f Fornix
frH frontale Hauhenstrahlung und doreales Mark der Regio sub-
thalamica.
G. h. Ganglion habenulae,
hint hinterer Sehhugelkern.
KTh Kleinhim Thalamusbundel.
1. med. ext. Lamina medullaris externa.
1. med. int. Lamina medullaris internn.
Li Linsenkern.
MB Meynert’schee Bundel.
med. b medialer Sehhfigelkern.
nc Nucleus caudatus.
p Pedunculus cerebri.
Pu Pulvinar.
Tr.olf. Tractus olfactorius.
V Verletzung.
^vent. a mittlerer ventraler Sehhugelkern.
vent, b medialer ventraler Sehhugelkern.
vent, c lateral-ventraler Sehhugelkern.
x degenerirte Bahn vom Zwischenhim zur Grosshirnrinde.
II Tractus opticus.
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IX.
Kleinere Mittheihmgen.
1.
Ueber die springende Mydriasis.
Von
Dr. Wilhelm Riegel,
Aagen- and Nervenarzt in Niirnberg.
Der Arbeit KSnig’s: „Ueber springende Pupillen in einem Falle von
cerebraler Kinderlfthmung, nebst einigen Bemerkungen iiber die prognostische
Bedentnng der springenden Pupillen bei normaler Lichtreaction“ in dieser
Zeitschrift Bd. XV, S. 122 mdchte ich eine Mittheilung hinzufugen, die
geeignet sein diirfte, der Schlussfolgerung Konig's, dass das Auftreten der
springenden Mydriasis bei normaler Pupillenreaction und beim Fehlen
sonstiger Anhaltspunkte fur ein organisches Nervenleiden nicht nothwendiger
Weise von iibler Vorbedeutung sei, eine weitere Stutze zu geben. Ich
beobachte schon lange einen Neurastheniker, der jetzt seit rund 12 Jahren
an 8pringender Mydriasis leidet, ohne dass in dem Befinden des Patienten
Symptome aufgetreten sind, die zu einer ernsten Befurchtung auf Paralyse
oder ein sonstiges organisches Hirnleiden Veranlassung geben kdnnten. Der
38j&hrige, kr&ftige, erblich in keiner Weise belastete Mann ist in seinem
Bemfe sehr th&tig, muss sich geistig viel anstrengen und verschafft sich
gegen seine der Hauptsache nach cerebral neurasthenischen Beschwerden durch
gelegentliche Erholungsreisen ins Gebirge oder an die See immer wieder
nachhaltige Erleichterung.
Im August 1888 trat zum ersten Mai maximale linksseitige spastische
Mydriasis auf, die am n&chsten Tage verschwunden war, um in diesem
Jahre noch 3 mal links und 1 mal rechts zu erscheinen. Es zeigte
sich dann die Mydriasis in den sp&teren Jahren, wie folgt: *1891 1 mal
rechts; 1893 2 mal links, 1 mal rechts; 1894 3 mal links, 3 mal
rechts; 1895 2 mal links, 2 mal rechts; 1896 3 mal links; 1897
5 mal links, 1 mal rechts; 1898 8 mal links, 3 mal rechts; 1899
5 mal links, 1 mal rechts. (Ueber die Jahre 1889, 1890 und 1892
liegen leider keine Aufzeichnungen vor, doch sollen auch da die springenden
Pupillen manchmal vorhanden gewesen sein.) Die Mydriasis war nun nicht
immer, aber oft maximal, so wie sie durch vereinigte Atropin-Cocainwir-
kung in einem jugendlichen Auge hervorgebracht wird, und dann reagirte
die betreffende Pupille in den ersten Stunden fast gar nicht auf Licht, und
es dauerte meist zwei Tage, bis die Pupillen wieder ganz gleich waren.
Ausserdem aber, d. h. bei nur mittlerer oder geringfugiger Erweiterung der
einen Pupille, war die Differenz stets schon am n&chsten Tage wieder
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170
IX. Kleinere Mittheilungen.
verschwunden. Die Accomodation war sicher nie wesentlich beeintrachtigt,
vielleicht etwas bei maximaler Mydriasis. Patient ist Myop, rechts — 1,0 D,
links — 5,0 D, sphar. Sehscharfe beiderseits normal. Beide Pnpillen sind
fur gewohnlich gleichweit nnd reagiren lebhaft bei Licbteinfall, Convergenz
nnd Accomodationsimpnlsen. Stets trat die Mydriasis nnr bei schlechtem
Allgemeinbefinden auf, nach geistigen Anstrengnngen, Gemuthserregungen
oder anch nach gesellscbaftlichen Excessen. Dabei bestanden meistens
leichte neuralgische Schmerzen im betreffenden Auge nnd in der Umgegend
desselben, die oft noch Tage lang anhielten. Eintraufelung von Eserin
verengte die erweiterte Pupille ausgiebig. Schon vor lftngerer Zeit fiel
mir am Patienten eine geringe Differenz in der Weite beider Lidspalten
anf bei vollkommener Beweglichkeit der Lider. Die linke Lidspalte ist
constant etwas weiter, als die rechte. Es ist moglich, dass ich diesen Zu-
stand seiner Geringfugigkeit wegen bis jetzt immer iibersehen habe, nnd
ich kann daher nicht sagen, wann er eigentlich begonnen hat. Anfangs
hielt ich die rechte Lidspalte fur die pathologisch verengte nnd dachte an
eine isolirte Ptosis sympathica. Im Znsammenhang damit aber, dass bis
jetzt die spastische Mydriasis links sehr viel haufiger aufgetreten ist als
rechts, nnd es sich tiberhaupt am rein spastische Erscheinnngen im Gebiete
des Sympathicns handelt, diirfte doch wohl eine isolirte dauernde Erregung
des linken glatten Mnsculus palpebr. superior vorliegen. Demnach ist also
die linke Lidspalte pathologisch vergrossert, die rechte normal. Eine ahn-
liche Beobachtung ist von H. Frenkel beschrieben worden (cf. Jahres-
bericht fiber die Leistungen nnd Fortschritte anf dem Gebiete der Neuro¬
logic u. Psychiatrie, I. Jahrgang, S. 399). Sonst weist Patient keinerlei
organische Nervenstbrungen anf und ist bis jetzt trotz der 12jahrigen
springenden Mydriasis, abgesehen von seinen schwankenden nenrasthenischen
Beschwerden, ganz gesund und arbeitsfahig geblieben. Hier sei noch be-
merkt, dass Lues nicht vorhanden ist.
Wenn ich nun der vorsichtigen Schlussfolgerung Konig’s, dass wir
uns anch in Fallen von Neurasthenie beziiglich der Prognose immerhin noch
sehr reservirt anssprechen miissen, nicht widersprechen will, so fhllt, denke
ich, ein 12 Jahre langes Bestehen unseres Pupillenphanomens ohne das
Auftreten organischer Veranderungen fiir die Annahme einer nnr functio-
nellen Storung doch sehr ins Gewicht.
Es ist iibrigen8 noch die Frage, ob die springende Mydriasis wirklich
so selten ist, wie man allgemein annimmt. Geringe voriibergehende Pu-
pillendifferen^en kommen bei nenrasthenischen Zustanden ziemlich hanfig
vor, und vielleicht haben Aerzte wie Patienten bisher nnr nicht genugend
daranf geachtet, ob die Erweiterung immer derselben Pupille angehbrt hat,
oder auch einmal der anderen. Was meinen Fall betrifft, so hoflfe ich, iiber
das weitere Schicksal desselben spater einmal noch einige Mittheilungen
machen zu kbnnen, weil Patient mit mir naher bekannt ist.
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IX. Kleinere Mittheilungen.
171
2 .
Bemerkungen zu den Aufsatzen von. Brodmann und Stein-
hausen iiber Serratuslahmung im letzten Hefte des XYL Bd.
dieser Zeitschrift.
Von
Dr. L. Bruns,
Nervenarzt in Hannover.
In seiner Arbeit: „Kritischer Beitrag zur Symptomatologie der iso-
lirten Serratuslahmung nebst Bemerkungen iiber die erwerbsschadigenden
Folgen derselben“ (diese Zeitschrift. 16. Band, Seite 467) bescbaftigt sich
Brodmann in eingehender Weise mit einer von mir im Jahre 1893 publi-
cirten Arbeit: „Zur Pathologie der isolirten Lahmungen des Musculus serra-
tus anticus 14 , Neurologisches Centralblatt. Bd. 12, Seite 34, nebst einem
Zusatze ebenda S. 258. Der Verfasser betont zunachst in Uebereinstimmung
mit meinen damals geiusserten Ansichten — und das ist fur mich die
Hauptsache — dass unter Umstanden bei auch nach seiner Auffassung
totaler Lahmung des Musculus serratus anticus eine active Erhebung des
Armes zur Senkrecbten moglich ist, die erreicht wird durch kraftige
Function des raittleren Drittels des Cucullaris, des Deltoideus und Infra¬
spinatus und manchmal vielleicht auch noch einiger anderen Muskeln. (Ich
will hier hervorheben, dass ich zwar damals, wie auch jetzt noch der An-
sicht war, dass es sich in meinem Falle urn eine Lahmung des gesammten
Serratus gehandelt hat, dass ich aber stets hervorgehoben habe, dass ein
Erhaltenbleiben dor oberen Zacken dieses Muskels sich nicht mit absoluter
Sicherheit leugnen liesse.) Dagegen ist er anderer Meinung als ich in
Bezug auf die Frage nach der Stellung des Scbulterblattinnenrandes zur
Wirbelsaule bei ruhig herabhangendem Arme in Fallen von isolirter Lah¬
mung dieses Muskels; wahrend ich und Andere, spec. Reraak, glauben,
dass ein irgend erheblicher Schragstand dieses Randes von oben aussen
nach unten innen bei isolirter Serratuslahmung nicht besteht, dass viel-
mehr ein solches Vorkommen ein Zeichen der Mitbetheiligung des Cucullaris
sei, ist Brodmann, wie ebenfalls eine Anzahl von Autoren, der Meinung,
dass eine solche Schragstellung auch bei isolirter Serratuslahmung vor-
komme. Ich kbnnte diese Frage auf sich beruhen lassen, denn Brod¬
mann erkennt an, dass sie noch eine strittige sei, dass ferner die Schrag¬
stellung des inneren Scapularandes bei isolirter Serratuslahmung eine sehr
geringe sei, und er will sie nicht als einen integrirenden und pathognomo-
nischen Bestandtheil des Krankheitsbildes dieser Lahmung hinstellen. Aber
B. macht mir bei dieser Gelegenheit zwei Vorwiirfe, die ich fur ungerecht
halte und zuriickweisen mochte. Er wirft mir erstens vor, in Bezug auf
den Schragstand der Scapula in dem Zusatze gegeniiber meinem Vortrage
einen vollstandigen Stellungswechsel vorgenomraen zu haben; wahrend ich
im Vortrage eine deutliche Schragstellung behauptet hatte, hatte ich im
Zusatze sogar einen leicht schragen Verlauf geleugnet und als meine An-
sicht die oben erwahnte, besonders von Remak vertretene hingestellt, dass
ein solcher schrager Verlauf immer auf eine Betheiligung des Cucullaris
an der Lahmung hinweise. Dieser Ansicht bin ich noch heute und wtirde
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IX. Kleinere Mittheilungen.
auch in dem, was mir Brodmann zum Vorwurfe macht — selbst wenn
es richtig ware — etwas Tadelnswerthes nicht erblicken, da ich niemals
Unbelehrbarkeit fiir eine Tugend gehalten habe. Thatsachlich liegt die
Sache aber so, dass ich in meinem Znsatze nur erkl&rt habe, dass,
wie auch meine Photographien in Uebereinstimmung mit Reraak lehrten,
bei ruhig herabhangendem Anne eine dentliche Schragstellung des
inneren Scapnlarandes, eine „ausgepragte Schankelstellung des Schulter-
blattes“ bei der isolirten Serratusiahmung nicht vorkomme, was ich auf
die Autoritat von Berger kin angenommen — Berger spricht von „einer
mehr horizontalen Richtung des ausseren Schulterblattrandes“, also einer
ausgepragten Schankelstellung — und auch in meinen Photographien zu
sehen geglaubt hatte. Dagegen habe ich auch im Zusatze noch bestimmt
hervorgehoben, dass ein leichter Schragstand der Scapula, ein Tiefstehen
des Acromion auch in meinen Photographien deutlich nachweisbar sei;
aber ich habe darauf kein Gewicht gelegt, weil sich ein solcher leichter
Schragstand nach meinen Erfahrungen auch bei ganz Gesunden findet, und
weil in meinem Falle, in dem es sich um eine Neuritis im Plexus brachialis
gehandelt hatte, eine geringe Mitbetheiligung anderer Muskeln des Schulter-
giirtels, spec, auch des Cucullaris, nicht ganz absolut auszuschliessen war.
Das ware der erste Vorwurf. Der zweite ist weit schwerwiegender; er
bezieht sich auf die Verwendung einiger 1882 in einer Miinchener Disser¬
tation von Morstadt publicirten Falle von Serratusiahmung, die ich nach
Brodmann unverdientermaassen zur Stiitze meiner Anschauungen der
Vergessenheit entrissen hatte. Namentlich handelt es sich um Fall 8, in
dem nach Morstadt’s Angaben eine isolirte Serratusiahmung bestand, der
Arm aber, allerdings nur 30°, iiber die Horizontal erhoben werden konnte
und der innere Scapularand nicht schrag stand. Brodmann halt diesen
Fall fiir einen ganz unklaren. denn es habe hier, wie B. zunachst auf
Seite 484 in der Anmerkung sagt, auch eine elektrische Entartung des
Cucullaris und Deltoideus bestanden; es sei also absolut unverstandlich,
wie in diesem Falle eine Erhebung des Armes iiber die Horizontale m8g-
lich gewesen sei, die bei einer Serratusiahmung doch gerade von diesen
Muskeln besorgt werde. Spater — Seite 487 — wird bei Brodmann
aus dem entarteten Cucullaris eine „ausgesprochene Cucullarislahmung mit
Entartungsreaction", ein Umstand, den ich wohl iibersehen hatte und bei
dessen Vorhandeusein es gerade nach Remak’s und meiner Anschauung
ganz unklar sei, dass keine Schragstellung, sondern ein paralleler Verlauf
des inneren Scapularandes zur Wirbelsaule bestanden hatte. Nun sagt
aber Morstadt von einer Lahmung des Cucullaris und Deltoideus in
seinem Falle III absolut nicbts; er hebt vielmehr ausdriicklich hervor, dass
in diesen Muskeln partielle Entartungsreaction bei ganz guter Function
derselben bestanden hatte; ja in der Epikrise hebt er gerade dieses Ver-
halten — Entartungsreaction in gut functionirenden Muskeln — den da-
maligen (1882) Kenntnissen entsprechend — als Grund hervor, um auch eine
Bleilahmung in den Kreis seiner differentiell-diagnostischen Erwagungen
zu ziehen. Heute wissen wir, dass besonders bei Neuritiden — und da-
hin gehort wohl der Fall 3 Morstadt’s — sogar vollstandiges Fehlen
jeder elektrischen Reaction in schon wieder Oder noch gut functionirenden
Muskeln vorkommen kann, die partielle Entartungsreaction im Deltoideus
und Cucullaris im citirten Falle also, wie auch Brodmann wohl zugeben
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IX. Kleinere Mittheilungen.
173
wird, kein Grund ist zur Annahme einer functionellen Schwfiche dieser
Muskeln — und die ausgesprochene L&hmung dee Cucullaris in
diesem Falle ist eine Improvisation Brodraann’s. Danach glaube
ich doch die M.’sche Casuistik genauer gelesen zu haben wie Brodmann
und kann nicht anerkennen, dass eine wissenschaftliche Verwerthung der-
artiger unklarer (nach B/s Ansicht) Publicationen gleichbedeutend mit einer
Irrefiihrung der Casuistik sei! Ich wiirde mich auch zu einem solchen Yor-
wurfe nnr bei zwingenden Griinden verstehen; denn wenn ich auch
selb^tverstfindlich zugebe, dass manche, ja viele Dissertationen der Ver-
gessenheit werth sind und irgendwelche wissenschaftliche Bedeutung nicht
haben, so handelt es sich doch im Falle 3Morstadt’s um einen Kranken,
der in Ziemssen’s Klinik vorgestellt und von dem deshalb ohne Weiteres
anzunehmen ist, dass der nervdse, speciell auch der elektrische Status mit
Sorgfalt gemacht ist. Ja der Fall ist gerade fur unsere Auffassung von
der Symptomatology isolirter Serratuslfihmungen besonders wichtig; im
Anfang, wo Cucullaris und Deltoideus wahrscheinlich auch functionell nicht
ganz geniigten, konnte der Arm nicht iiber die Horizontale erhoben werden;
sp&ter als diese Function bei noch vorhandener partieller Entartungsreaction
wieder gut war, war die Erhebung iiber diese Linie moglich.
Bei dieserGelegenheit mochte ich auch mit ein paar Worten eingehen auf den
interessanten und unsere Ansichten iiber Vorkommen und Symptomatologie’der
isolirten Serratuslahmung wesentlich modificirenden Aufsatz Steinhausen’s
fiber L&hmung des vorderen Sfigemuskels in demselben Hefte dieser Zeitschrift.
Steinhausen hebt mit Recht hervor, dass das von Berger noch ver-
tretene alte Schema von der Erhebung des Armes im Schultergelenk —
erst Deltoideus: Abduction bis zur Horizontalen — dann Serratus: Hebung
zur Senkrechten durch Drehung der Scapula — nicht zu Recht besteht, dass
vielmehr die Drehung der Scapula sofort mit der Abduction des Armes
beginnt, ja schon vor der Erreichung der Senkrechten ihr Maximum er-
reicht. Er ffihrt einige Autoren an, die das schon friiher angegeben haben,
er vindicirt aber vor Allem Hitzig das Verdienst, diese Thatsache mit
Nachdruck hervorgehoben zu haben. Ich will gewiss Hitzig’s Verdienst
an dieser Sache nicht verkleinern, mochte aber doch bemerken, dass ich
in meinem Vortrage, bei dessen Discussion Hitzig seine Bemerkungen
machte, ausdrucklich gesagt habe, dass normaliter der Serratus sofort mit
dem Deltoideus bei Erhebung des Armes aus der Senkrechten in Function tr&te,
wfihrend bei meinem Falle von Serratuslfihmung die das Schulterblatt drehende
Function des stellvertretenden Cucullaris erst einsetzte, wenn der Arm
fiber die Horizontale stieg. Bis dahin wurde die Scapula dicht an die
Wirbelsfiule gezogen und ihr innerer Rand stand derselben parallel. Auch
in meinem Schlusswort zur Discussion habe ich auf dies Verhalten aus-
drficklich hingewiesen.
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X.
Besprechung.
Die Erkrankungen des Nervensystems nach Unfallen mit be-
sonderer Beriicksichtigung der Untersuchung und Begut-
achtung. Von Dr. H. Sachs und Dr. C. S. Freund. Mit 20 Abb.
im Text. Berlin, Fischer’s raed. Buchhandlung. 1899. 581 Stn.
Die Verff. des vorliegenden Buches brachten bei Beginn ihres Unter-
nehmens die beiden hauptsachlichsten Erfordernisse far ein giinstiges Ge-
lingen ihrer Arbeit mit: einerseits eine gate allgemeine neurologische und
auch psychiatrische Vorbildung, andererseits eine sehr umfassende Erfahrung
auf dein besonderen, in mancber Beziehung eigenartigen Gebiet der Un-
fall-Erkrankungen. Das Buch tr£gt daher nicht den Charakter einer Com¬
pilation, sondem hat durchweg das Geprage einer aus eigenen Erfahrungen
und aus selbstandiger Durcbforschung des Gebietes hervorgegangenen Dar-
stellung. Von der Voraussetzung ausgehend, dass das Buch auch dem neuro-
logiscb nicht geschulten praktischen Arzte als Wegweiser dienen soli, haben
die Verff. weit ausgeholt und bieten in ihrem Werke nicht nur das, was
der Titel verspricht, sondern ausserdem einen Grundriss der Anatomie und
Physiologie des Nervensystems, sowie eine ziemlich ausfiihrliche Besprechung
der allgemeinen Symptomatologie und der Untersuchungsmethodik bei den
Erkrankungen des Nervensystems. Mehr als ein Dritttheil des ganzen
Buches ist diesen allgemeinen Erdrterungen gewidmet. Dann folgt eine aus-
fuhrliche Besprechung der Pathogenese der Unfall-Erkrankungen, wobei
selbstverstandlich die wichtige Trennung der mechanischen Wirkungen
des Traumas von seinen Nebenwirkungen, insbesondere von der psychischen
Nebenwirkung, hinreichend scharf betont wird. Von Interesse sind die
Anschauungen der Verff. iiber den Einfluss der UnfUlle auf die Entstehung
typischer organischer Erkrankungen des Nervensystems. In Bezug auf die
Tabes stehen die Verff. auf dem jetzt wohl fast allgemein angenomme-
nen Standpunkt, dass ein Trauma niemals die wirkliche Ursache einer
Tabes ist, wohl aber zuweilen den Anlass zum Ausbruch der Krankheits-
erscheinungen giebt und bei schon vorher bestehender Tabes eine nicht un-
erhebliche Verschlimmerung bewirken kann. Genau ebenso ist das Ver-
haltniss zwischen Unfall und progressiver Paralyse. Die multiple
Sklerose halten die Verff. mit dem Ref. fur eine endogene Erkrankung.
Die Rolle des Traumas kann also ebenfalls hochstens eine secundare sein.
Uebrigens spielt das Trauma bei der multipeln Sklerose iiberhaupt nur
selten eine Rolle. Die Verff. sahen unter ihrem grossen Material keinen
einzigen Verletzten mit multipler Sklerose. Fiir die spastische Spinal-
paralyse, die amyotrophische Lateralsklerose und die progressive
Muskelatrophie liegen bisher nur wenige Beobachtungen vor, die auf
einen moglichen traumatischen Ursprung hinweisen. In Bezug auf die
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X. Besprechungen.
175
letztgenannt© Krankheit ist bemerkenswerth, dass das Reichsversicherungs-
amt unter gewissen Umstanden auch die einfache korperliche Ueber-
anstrengung als Betriebs-Unfall anerkannt hat. Ueber den oft betonten
Znsammenbang der Paralysis agitans mit einem Trauma aussern sich
die Verff. sehr zuriickhaltend. Wahrscheinlich haben friiher zuweilen Ver-
wechslungen der Par. agitans mit dem so sehr haufigen hysterisch-trauma-
tischen Tremor stattgefunden. Ebenso vorsichtig wird die Frage nach der
traumatischen Entstehung der Syringomyelie behandelt and insbesondere
eine Entstehung derselben auf Grand einer peripherischen Verletzung mit
Recht vollstandig in Abrede gestellt. Ref. muss dem zuriickhaltenden und
vorsichtigen Urtheil der Verff. in alien soeben erwahnten Fragen voile An-
erkennung zollen. Denn unzweifelbaft hat die nach der Unfall-Gesetz-
gebung neu entstandene „Unfall-Pathologie“ im Allgemeinen zu einer
Ueberschatzung des mechanischen Traumas als Krankheitsursache ge-
fuhrt, so dass es bald kaum eine Krankheit mehr geben wird, die nicht
ein Kapitel in der „Unfallheilkunde“ beansprucht. Der „specielle Theil“
des Buches beginnt (auf S. 310) mit der Besprechung aller der mannig-
fachen mechanischen Verletzungen des Nervensysteros an der Peripherie, am
Riickenmark und am Gehirn, und dann folgt die ihrer Wichtigkeit ent-
sprechende, besonders ausfuhrliche Bearbeitung der Unfall-Neurosen.
Den allgemeinen Erbrterungen uber Neurastbenie und Hysterie kann Ref.
im Allgemeinen zustimmen. Der yersucli jedoch, die „Neurasthenie u als
organisch-functionelle Nervenerkrankung, gekennzeichnet durch das
dauernde Vorhandensein der „neurasthenischen Reactionsform der Nerven-
zellen, der Hysterie als einer rein psychogenen Erkrankung gegeniiberzu-
8tellen“, scheint mir, so verlockend auch eine derartige Abgrenzung der
beiden Krankheiten sein mag, den klinischen Thatsachen nicht zu ent-
sprechen. Wenigstens komme ich, je linger ich mich mit der Neurasthenic
beschftftige, immer mehr und mehr zu der Ueberzeugung, dass das, was
man in der Praxis allgemein als „Neurasthenie“ bezeichnet, zum grdssten
Theil ebenfalls psychogenen Ursprungs ist. Den Satz z. B.: „Die Ein-
wirknng der Athmung und Herzthatigkeit auf das reizbare Nervensystem
aussert sich nicht selten in der Form des Angstgefuhls 44 , kann ich nicht
fiir richtig erachten, halte vielmehr stets das Angstgefiihl fur die pri-
mare Storung, welche ihrerseits auf Athmung und Herzthatigkeit ein-
wirkt. Consequent ist es freilich, wenn die Verff. von ihrem Standpunkte
aus die „traumatische Neurasthenie* 4 fiir eine seltene Erkrankung er-
kliren. Aber gerade die grosse Haufigkeit der ausgesprochenen neurasthe-
nischen Symptomenbilder nach leichten Traumen spricht m. E. fur die
Richtigkeit meiner Auffassung. Auch die von den Verff. unternommene
Abgrenzung der „Schreckneurose“ von der Hysterie halte ich fiir ganz un-
nbthig, da die Schreckneurose nach meiner Ansicht mit der Hysterie vollig
identisch ist. Uebrigens betone ich noch einmal, dass gerade der Ab-
scbnitt iiber die Unfall-Neurosen mit grosser Sachkenntniss geschrieben ist.
Er enthalt auch eine sehr reichhaltige und eingehend bearbeitete interessante
CaBuistik. Das Schlusskapitel des Buches behandelt in vortrefflicher Weise
die Beziehungen zwischen Unfallen und Geistesstorungen und wird eben¬
falls durch eine Reihe lehrreicher Krankengeschichten erlautert.
Striimpell.
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176
Literatur.
Literatur.
Der Alkoholismus. Eine Vierteljahrschrift zur wissenschaffclichen Erorterung
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Tafel I.
Deutsche Zeitscluilt {.Xervenheilkimde Bd . XV H.
Fig 1
Fig. ?.
Friedel Pick. Munkekiti ophie.
F.r.WTofjel
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Googk
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/
Deutsche Zeilschriltf.Xervenlu'ilkundr Bd.XVII.
/
Kricdel Pick: Muskolalrophie.
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KC
Till'd II. III.
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Deutsche Zeilschriltf.XeiTeiiheilkiiiKle Bd.XVII.
/
Kuj 9.
Kricciel Pick: Muskelalropliie.
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VC \
in I'd II. III.
Kiij.O.
v'.Voqel
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Deutsche Zeilschrift f.Xervenheilkunde B d. X V[[.
TalW IV.
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Vergr = :w.
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Vergr *■ .fti.
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MitteLstarke Vergr.
F.f WWogel.
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XL
Aus der Universitatspoliklinik ftir Nervenkranke und dem hirnana-
tomischen Laboratorium in Zurich (Professor von Monakow).
Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit.
Von
Dr. Otto Veragnth
in Ziirich.
Die Erfordernisse zur Feststellung und scharfen Umgrenzung einer
Aphasieform sind:
1. die Reinheit des klinischen Symptomemomplexes,
2. ein Sectionsbefund mit der minimalsten Veranderung, die eben
ausreichte, um die betreffende Storung — und nur diese —
hervorzurufen.
Soweit die sogenannte subcorticale sensorische Aphasie in Frage
kommt, sind diese beiden Postulate in keinem der wenigen Falle erftillt,
in denen dieses Krankheitsbild beschrieben worden ist. Ueber die klinisch
reinen Falle liegen keine Sectionsberichte vor, wabrend andererseits die-
jenigen, welche post mortem untersucht worden sind, entweder von vorne-
herein nicht reine Worttaubheiten gewesen oder nicht bis zum Lebensende
frei von Beimengungen anderweitiger Sprachstorungen geblieben waren.
Die Berechtigung, den folgenden Fall zu veroffentlichen, liegt
darin, dass er diese Lficke wenigstens einigermassen ausftillen wird.
Ich mache daher gerne Gebrauch von der liebenswtirdigen Er-
laubniss meines Chefs, Herrn Professor von Monakow, nachfolgend die
Krankengeschichte des Patienten R. aus der Universitatspoliklinik flir
Nervenkranke in Zurich zu publiciren.
Krankengeschichte.
Peter R., 42 Jahre alt, friiher Maschinenarbeiter, stammt aus gesunder
Familie. Seine Frau und 5 Kinder leben und sind gesund, das jfingste ist
10 Monate alt. — Mit 19 Jahren machte Patient einen Typhus durch.
Seither will er zeitweise an Kurzathmigkeit gelitten haben. Ueber andere
Krankheiten wird von R., trotz mehrmaligen Fragens, nichts berichtet; ins-
besondere ist fur Lues in der Anamnese kein Anhaltspunkt aufzuspiiren.
Dagegen giebt er unumwunden zu, friiher Alkoholiker gewesen zu sein: er
habe jahrelang Morgens Schnaps und den Tag fiber Wein und Bier ge-
trunken. Seit 6 Jahren aber „sei er Abstinent".
Deutsche Zeltschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 12
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XI. Veraguth
Anfang September 1897 nun erlitt R. einen Unfall. Er wurde von
der Handhabe eines rotirenden Schwungrades derart uber die linke Stirn-
haifte getroffen, dass er hinfiel und ungef&hr V 2 Stunde (?) bewusstlos
liegen blieb. Heimtransportirt und zu Bette gelegt, erwachte er mit Kopf-
weh und Tosen in den Ohren. Er konnte aber sofort reden, horen, Worte
verstehen, sehen, sich ungehindert bewegen. Es bestanden keine sichtbaren
Blutungen. 14 Tage lang hiitete er das Bett. Dann blieb er 3 Wocben
lang noch unthatig zu Hause; erst in der zweiten Octoberwoche war er
im Stande, es wieder mit einiger leichterer Arbeit zu versuchen.
Seit dem Unfall, so gab Patient bei der ersten Untersuchung (18. Oc¬
tober 1897) an, leide er an Kopfschmerzen und an Druckgefuhl an einer
Stelle am Ruckgrat. Der Schlaf sei schlecht; der Appetit ordentlich; nie
habe er Brecbreiz verspiirt. Stublgang regelmassig.
Es falle ibm auf, dass er viel schlechter sehe als vor dem Unfall.
Dies zeige sich besonders beim Lesen; deun nach kurzem Versuch ver-
zerrten sich die Linien und die Worte verschwammen. Geistige Anstrengung
veranlasse Steigerung der Kopfschmerzen, auch scheme ihm sein Gedacht-
niss abgenommen zu haben. Anfallsweise werde ihm schwindlig, so dass
er sich halten miisse, um nicht umzufallen.
Status im October 18 97. M&ssig kraftiger Mann, von ordentlichem
Ernahrungszustand; hat weisse Haare; sieht uberhaupt viel alter aus, als
er ist. Der Schadel ist an einer 5frankstuckgrossen Stelle 3 cm iiber dem
linken Ohr auf Beklopfen schmerzhaft. Keine Narben am Kopf oder im
Gesicht. Stark geschlangelte Temporalarterien. Facialisinnervation beider-
seits normal. — Die rechte Pupille ist bedeutend weiter, als die linke,
reagirt trager als diese. Augenbewegungen ungehindert; bei starker Blick-
wendung nach links wird jedoch ein Doppelbild angegeben. Das Gesichts-
feld zeigt concentrische Einschrankung beiderseits, namentlich fur Roth.
Augenhintergrund normal. Grosser Druck wird gut gelesen; kleinerer
(Snellen III) nur einige Zeilen weit, dann erkiart Patient, plotzlich nichts
mehr deutlich zu sehen. — Zunge gerade herausgestreckt. Keine Ge-
schmacks- oder Geruchsstorungen. — Am Hals und an den Armen nichts
Besonderes; kein Tremor der gespreizten Finger. Untere Extremitaten ohne
abnormen Befund. Gang sicher, ohne Schwanken, kein objectives Zeichen
von Schwindel. — Auf der linken Lunge leichter Katarrh des Oberlappens.
Sonstiger Befund der Thoraxorgane normal. Am Abdomen failt ausser
einem linksseitigen Leistenbruch nichts Besonderes auf. — Die Reflexe sind
normal, abgesehen vom Patellarphanomen, das links deutlich erhoht ist. —
Die Prufung der Sensibilitat ergiebt, dass Knopf und Spitze der Stecknadel
iiberall richtig unterschieden werden; es besteht keine Differenz in der In-
tensitat der Beruhrungsempfindung zwischen rechts und links; Schmerz- und
Temperaturempfindung unverandert. Dagegen scheint der stereognostische
Sinn der Hande etwas herabgesetzt: Patient taxirt mit der linken und rechten
Hand ein 20 Cent.stiick fur ein 5 Cent.stiick; ein 2 Francstiick fiir ein 1 Franc-
stuck.— Handedruck rechts 2G, links 26 Kilo. — Urin eiweiss- und zuckerfrei.
Dieser Zustand anderte sich im Verlauf von zwei Monaten insofern,
als Patient nach einiger Zeit im Stande war, wieder anhaltender zu lesen
und sein Kopfwek ihn allmahlich verliess. Auch waren nach Kurzem
keine Doppelbilder mehr bei extremer Blickwendung nach links vorhanden,
und es verlor sich die Storung des stereognostischen Sinnes.
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Ueber einen Fall vod transitorischer reiner Worttaubheit.
179
Um die Jahreswende 1897/1898, also 10 Wochen nach der ersten
Untersuchung, klagt R. nach einem l&ngeren Spaziergang iiber Unsicherheit
im linken Fuss. Hat das Gefiihl, derselbe sei geschwollen. Er kann sich
nicht mehr auf die linke Fussspitze heben (rechts kann er es). Die Sen-
sibilit&tspriifnng der nnteren Extremit&ten ergiebt keine Anomalien. Patel-
larreflex beiderseits vorhanden, links stark erhoht. Sohlenreflexe beiderseits
gleich. Wade rechts 32, links 29 cm. Oberschenkel iiber der Patella
rechts 35 */ 2 , links 33 cm; Mitte zwischen Trochanter und Patella rechts 46 l j 2 ,
links 45 J / 2 cm. Die vier kleinen Zehen des linken Fusses sind stark
extendirt. Flexion des Oberschenkels geschieht links weniger kr&ftig, als
rechts. Beim Marschiren wird der linke Fuss in Hackenstellung aufgesetzt.
Die elektrische Priifung ergiebt leichte Herabsetzung der Erregbarkeit des
Peroneus, keine EaR.
Zu gleicher Zeit klagte R. iiber Dyspnoe und Husten. Systolisches
Blasen iiber der Mitralis. Puls 80, irregular. Urin eiweiss- und
zuckerfrei.
Im Verlauf des Januar und Februar 1898 blieb die Neuritis im linken
Bein — um eine solche handelte es sich offenbar — ungefahr gleich. Da-
gegen entwickelte sich in dieser Zeit eine Laryngitis und Bronchitis. Unter
geeigneter Behandlung traten diese Beachwerden jedoch bald zuriick.
Da — am 28. Februar 1898 — iiberraschte uns R. durch ein g&nz-
lich unerwartetes Symptom. Mit seinem Namen im Wartezimmer
aufgerufen, reagirt er nicht. Zwei-, dreimaliges, lauteres An-
rufen erregt seine Aufmerksamkeit nicht. Er muss vom Nach-
barn durch Anstossen mit dem Ellbogen auf den wartenden
Arzt aufmerksam gemacht werden. Sodann tritt er ruhig und
ohne Gangstbrung in das Sprechzimmer ein. Auf die Frage:
„Nun, R., wie geht es Ihnen denn heute?“ antwortet er mit
einem verlegenen Lachen: „Ich yerstehe Sie nicht. Ich ver-
stehe iiberhaupt nicht mehr, was man zu mir sagt. Aber ich
hbre Alles ganz gut. Ich hore auch, wenn man zu mir spricht.
Aber wenn mir meine Frau etwas sagt, so ist es ein Kauder-
walsch, das ich nicht verstehe. Und mit den andern Leuten
geht es mir auch so.“ Durch ein Zeichen aufgefordert, sich zu
setzen, folgt er dem Wink. Ein in diesem Augenblick auf der
Strasse ertdnendes Horn veranlasst ihn zur sofortigen Aus-
sage: „Ich hore zum Beispiel ganz gut, dass jetzt gerade ein
Horn auf der Strasse geblasen wird.“ Ohne dass er es sieht,
wird der Inductionsapparat in Th&tigkeit gesetzt. Er ver-
steht das Experiment sofort, indem er bemerkt: „Auch die
Maschine hore ich genau, wie friiher.“ Es wird ihm eine Uhr
von hinten her vor das Ohr gehalten, ohne ihn zu beruhren.
Er constatirt ohne Zogern, dass er auch die Uhr ticken hore
(bis zu einer Entfernung von l l 2 Meter beiderseits). AufFragen
antwortet er nur, wenn er sieht, dass gesprochen wird, nicht,
wenn man ihn von hinten her anspricht. Seine Antwort ist aber
best&ndig dieselbe: „Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie
sagen; es ist mir, wie ein Gebrumm im Ohr, so ein Sausen.“
Auch wenn man mit erhobener Stimme, scharf articulirend und
langsam Worte des t&glichen Verkehrs ihm zuruft, versteht er
12 *
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180
XI. Veraguth
gar nichts. Seine spontane Rede aber ist fliessend, absolnt
obne Wortverwechslung oder Verstummelung der Worte. Er
giebt spontan an, dass er oft die Zeitnng lese. Er kdnne aber
nicht behalten, was er lese. Es werden ihm Drnckproben vor-
gehalten; er liest sie fliessend, ohne die geringste Paraphasie.
— Nach seiner Angabe bestehe dieser Zustand seit einigen
Tagen. Er habe eine Reise nach Bern gemaclit und dort, um sich zu
st&rken, wieder einmal Wein getrunken. Die schriftlich ihm mitge-
theilte Mahnnng: „Lassen Sie sofort alles Wein- und Biertrinken wieder
weg“, kann er, wenn auch etwas langsamer, als die Druckschriftproben,
lesen. Sie erregt eine etwas inadequate Heiterkeit. Er verspricht, ihr
zu folgen. Tags darauf giebt er aber wieder zu, neuerdings spanischen Wein
getrunken zu haben. Er glaube, heute einzelne Worte zu verstehen. Die
Untersuchung des kusseren Ohres ergiebt keine Anomalien des
Trommelfelles. Er bore best&ndiges Sausen, namentlich im
linken Ohr, schwacher im rechten.
Am 4. Marz 1898 trat Morgens ohne besondere Veranlas-
sung starkes Nasenbluten auf. Von diesem Moment an sei ihm
bedeutend leichter geworden und er habe alsbald auch Alles
wieder verstanden, was man zu ihm gesprochen. Nur sei noch
das Sausen im linken Ohr iibrig geblieben; rechts aber sei es
verscliwunden.
Am 7. Marz 1898 berichtet R. in Uebereinstimmung mit seinen frtiheren
Aussagen, dass er die vorigen Tage hindurch, wahrend er nichts verstand,
doch jedes Gerausch gehort habe. Ja, er behauptet sogar, feiner gehdrt
zu haben, als sonst; doch habe er kein einziges gesprochenes Wort ver¬
standen. Er giebt spontan an, es habe ihm jede Anrede „wie eine fremde
Sprache geklungen“. Es sei ihm schon vor einiger Zeit (und zwar am
20. November 1897, wie sich dies in einem Actenstiick feststellen lasst)
einmal aufgefallen, dass er auf einem Bureau den Beamten, der mit ihm
sprach, zu seinem Erstaunen plotzlich absolut nicht verstanden habe. Er
habe dann, aus Verlegenlieit, mit den Schuhen sich zu schaffen gemacht,
und glaube, nach diesem tiefen Biicken wieder leichter verstanden
zu haben.
Kurze Zeit darauf reiste Patient, ohne seine Familie ins Einverst&nd-
niss zu setzen, wieder nach Bern und wurde dort im Inselspital lkngere
Zeit beobachtet. Dem Brief eines befreundeten Collegen, unter dessen Auf-
sicht R. stand, entnehme ich, dass daselbst ein Klappenfehler, Starke
Herzarhythmie, die sich oft bis zum Delirium cordis steigerte,
ferner Emphysem und Asthma constatirt wurde. Durch geeignete Behand-
lung seien diese Symptome wesentlich gebessert worden. Nie habe sich
eine Spur voneiner Sprachstorung mehr gezeigt; auch dann nicht,
als man ihm, experimenti causa, ausnahmsweise Wein verabreicht habe.
Die Neuritis des linken Beines sei ungef&hr gleich geblieben.
Am 28. Juni 1898 stellte R. sich wieder in der Poliklinik. Er sei
jetzt immer so &ngstlich. Sein Ged&chtniss sei noch immer schlecht. Er
w r eis8 das Datum seines Unfalls nicht anzugeben. Der Sch&del ist nicht
mehr percussionsempfindlich. Die rechte Pupille ist noch immer weiter als
die linke; Pupillenspiel beiderseits normal. Herzd&mpfung 2 cm rechts vom
Sternalrand, 3 cm links von der Mamilla. Stiirmische, irregulkre Herz-
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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit.
181
action. Radialispuls sehr schwach, 130. Lungengrenzen nach rmten ver-
breitert, fiber der ganzen Ausdehnung der Lunge feuchtes Rasseln. Waden-
nmfang rechts 31V 2 , links 29 cm.
Bis Ende Februar 1899 zeigte der inzwischen noch oft untersuchte
Patient ungefahr den eben geschilderten Status, mit kleinen Schwankungen
des Zustandes der Lungen und des Herzens. Auch seine subjectiven Be-
schwerden blieben im Ganzen dieselben. Zur ArbeitsfUhigkeit brachte er
68 nie mehr. Von einem Wiederauftreten der Stbrung des Sprach-
verstandnisses oder der Sprache iiberhaupt jedoch zeigte sich
nie mehr auch nur eine Spur.
Hier mag beigefiigt werden, dass R. fur seinen Unfall seinerzeit zu
seiner Zufriedenheit entschadigt worden ist, und zwar lange vor dem Auf-
treten der oben geschilderten schweren Storungen; so dass schon dadurch,
wie ubrigens durch den ganzen objectiven Befund zur Geniige Simulation
der fraglichen Symptome ausgeschlossen ist.
Ende Februar 1899 erkrankte R. unter den Symptomen einer crou-
posen Pneumonie des rechten Unterlappens. Nach 5 Tagen Krisis. Am
2. Marz 1899 mehrere Schiittelfroste; nachherige hohe Temperaturen (bis 40°),
mit morgendlichen Remissionen. Rasseln auf dem rechten Ober- und Mittel-
lappen. Herzarhythmie. Nach einigen Tagen wird der Auswurf putrid.
Am 11. Marz 1899 pldtzliches Erblinden des rechten Auges. Pupille jetzt
mittelweit (die friiher immer weit gewesen), zeigt griinlichen Reflex. Das
kranke Auge hat nur noch Lichtschein. — Zunehmende Schwache, haufige
Dyspnoe. 12. Marz Abends unwillkiirliche Bewegungen im linken Arm
(nach Angabe der Frau); am anderen Morgen lassen sich dieselben nicht
mehr constatiren; Patient kann den Arm frei hewegen. 14. Marz Morgens
6 Uhr Exitus letalis unter Erscheinungen des Collapses.
14. Marz Morgens 9 Uhr Section. Starke Abmagerung. Icterische
Verfarbung der Haut. Fettpolster sehr gering. Musculatur sparlich, von
gnter Farbe. Beim Eroffnen des Thorax liegen die Lungen in starker
Aosdehnung vor. Der Herzbeutel ist aber zum Theil anbedeckt. Beim
Anschneiden desselben entleeren sich ca. 200 ccm gelblich-griiner, triiber
Fliissigkeit. Das parietale und viscerale Blatt des Pericards ist durch
Anflagerungen getrtibt und vielfach verdickt. Aus den Vorhofen entleert
sich Cruor und Speckhaut. Herz vergrossert; beide Kammern etwas weiter,
als normal, Tricuspidal- und Pulmonalklappen ohne besonderen Befund.
Mitralis kaum fur einen Bleistift durchgangig, mit stark verdicktem, ver-
kalktem Rand. Auf einem Zipfel sitzt ein Thrombus, der ausgedehnte
Nekrose zeigt; bei leichtem Betupfen zerf&llt er in Fetzen. Aortenklappen
und Aorta ohne Besonderheit, Anfang der letzteren nicht verkalkt. Muscu¬
latur des Herzens beiderseits stark verdickt, braun verfarbt. Rechte Lunge
an der Spitze adbarent. Beim Loslosen derselben entleeren sich ca. 50 ccm
Eiter in die — vorher leere — Pleurahohle. Pleura ausser an der An-
heftung8stelle intact. Im Unterlappen der Lunge kein Luftgehalt, massiger
Blutgehalt. Emphysematos erweitert. Im Oberlappen inselfdrmige Ver-
dichtungen, wo das Organ nicht lufthaltig ist. Bronchien mit Eiter gefiillt.
Linke Lunge nicht adharent, Pleura glatt, sie zeigt auf der Aussenseite
des Oberlappens unter der Pleura eine streifenftjrmige Eiteransammlung.
Auf dem Durchschnitt ist sie gut loft-, wenig bluthaltig, an der eben ge-
nannten Stelle verdichtet. Leber vergrossert, zeigt das Bild der Stauung.
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182
XI. Veraguth
Milz and Nieren ohne Besonderheiten. L. Bulbus oculi zeigt Abhebung der
Retina durch eine frische Blutung hinter dieselbe. — Sch&deldach aussen
nnd innen ohne Besonderheiten. Die Schadelknochen sind diinn, zeigen
wenig Diploe. Dura der Oberfl&che nirgends verwachsen. Im Sinus longi-
tudinalis Cruor und Speckhaut. Pia der Oberfl&che beiderseits iiber dem
Scheitel stark bdematos, ihre Gefasse reichlich gefullt. Ueber dem Mantel-
rand der rechten Hemisphare in der Gegend des Paracentraliappchens liegt
unter der Pia ein frischer Eiterherd in der Ausdehnung eines l-Francsttickes.
Consistenz der Rinde in dieser Gegend etwas weicher. Starke Pacchio-
ni’sche Granulationen. Dura der Schadelbasis glatt, feucht, glanzend.
Schadelbasis ohne Fracturspuren. Pia der Basis zart. Opticus und Oculo-
motorius von fibrosen Str&ngen begleitet. Arteriae vertebr., basil., carotis
int. und Fossae Silv. m&ssig erweitert und geschiangelt; Intima glatt, die
Gef&sse sind mit geronnenem, nirgends an der Gef&sswand adh&rentem Blut
gefullt.
Die linke Hemisphare zeigt im hinteren Theil der dritten
Stirnwindung (in der Pars opercularis) bedeutende Atrophie.
Dieser Theil der Windung fehlt fast ganz und ist durch serose
Fliissigkeit ersetzt. Ebenso zeigt die Mitte der 1. Temporal-
windung einen Defect nach der 1. Temporalfurche zu, an dessen
Stelle sich ebenfalls zwischen Gehirn und Hauten serose Fliis-
sigkeit findet. Auch im Uebrigen ist die 1. Temporalwindung
schmal; die 1. Temporalfurche 3 cm tief. Central- und Inter-
parietalfurche, sowie der Sulcus frontalis II sind betrUchtlich
tiefer, als normal, und mit serbser Fliissigkeit gefullt. Die 2.
Frontalfurche communicirt mit dem Ramus ascendens der Fiss. Silvii. Auf der
rechten Hemisphare fallt die Schmalheit der 1. Temporalwin¬
dung auf. Sie ist unten eingefasst von einer 2 cm tiefen Temporalfurche.
Hinterhorn erweitert gegeniiber der anderen Hemisphare (Occipitalspitze bis
Spitze des Hinterhorns links 5 ! / 2 , rechts 4 cm). Ebenso Unterhorn erweitert
Auch links ist der Seitenventrikel weiter, als normal. Ependym nicht granulirt.
Die weisse Substanz des Grosshirns ist in toto reducirt und zeigt zahl-
reiche, gleichmassig vertheilte Blutpuncte. Auf dem Durchschnitt sind die
oben beschriebenen Windungen kammartig zugespitzt. Die Sehhiigel zeigen
makroskopisch keine Veranderung. Das Corpus geniculatum internum er-
scheint links etwas grosser, als rechts. Facialis normal, Acusticus beider¬
seits etwas schmal (?), von normaler Farbe.
Grosshirnmantel und Hirnstamm, nach Meynert getrennt, warden in
Formol-Miiller gehartet, nachdem einzelne Partien der atrophischen Windungen
herausgeschnitten und behufs Farbung nach Nissl in Alkohol gelegt worden
waren. Die grossen Praparate warden sodann im Gudden’schen Mikrotom
in Serien geschnitten und einzelne Schnitte aus den wichtigsten Gegenden
mit Carmin gefarbt.
Das Ergebniss dieser genaueren Durchsuchung war folgendes: Die
schon oben als atrophisch geschilderten Gyri zeigen ihre Re¬
duction, ihre kammfbrmig zugespitzte Gestalt nnd ihre Be-
grenzung durch breite und tiefe Furchen auch auf den Durch-
schnitten. Die Rinde erscheint in diesen Gebieten namentlich,
in geringerem Grade aber iiberall etwas schmaler, als in nor-
malen Controlpraparaten. Auch die Markmasse ist in toto
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Ueber einen Fall von trandtorischer reiner Worttaubheit. 183
reducirt Von einem Herd in Rinde Oder Mark ist keine Spur
zu fin den. Die Gef&sse sind m&ssig erweitert; ihre Wand nicht abnorm
gestaltet; es lassen sich zwar an einzelnen Stellen per diapedesiu ausge-
tretene Lymphocyten l&ngs einiger Capillaren erkennen; doch zeigen sich
nirgends erhebliche Blutaustritte. Die Gef&ssw&nde sind nicht ver&ndert.
Die Nisslpr¶te geben keine Auskunft dariiber, auf Rechnung welcher
Elemente die Verschm&lerung der Rinde zn setzen sei. Insbesondere sind
die kleinen PyramidenzeUen in Schnitten aus der 1. Temporalwindung links
wohl erhalten. Einige unter ihnen zeigen Randstellung des Kernes. In
den grossen Pyramiden der Centralwindungen starke gelbliche Pigment-
bildung. — Acusticuskerne, untere Schleife, hinterer Zweihiigel, Corpus
geniculatum internum zeigen unter dem Mikroskop keine wesentlichen Ver-
Underungen. Ebensowenig die anderen Theile des Hirnstammes. Die oben
signalisirte Verschiedenheit der beiden Corpora geniculata interna erwies
sich als auf ungleicher Ueberlagerung durch die benachbarten Organe be-
mhend. Die Gefhsse dieser Gehirntheile sind etwas weit; doch halten sich
die Dimensionen innerhalb normaler Grenzen. Ver&nderungen der Gef&ss-
wande sind nicht nachzuweisen.
Das Wesentliche in der Geschichte dieses Falles, die, da es sich
die langste Zeit, und namentlich wahrend der interessantesten Periode,
um ambulante, poliklinische Beobachtung handelte, nothgedrungen
etwas skizzenhaft ausfalleu musste, lasst sich etwa folgendermassen
zusammenfassen:
Ein hereditar nicht belasteter, vielleicht durch einen friiher durch-
gemachten Typhus, wahrscheinlich durch langjahrigen Alkoholmiss-
brauch in seinem Nervensystem geschadigter Mann erleidet ein Schadel-
trauma. Von den unmittelbaren Folgen desselben, die auf keine
localisirte Himlasion schliessen lassen, erholt er sich alsbald. Doch
bleiben ihm mit einiger Hartnackigkeit Storungen des Gesichtssinus:
Pupillendifferenz, concentrische Gesichtsfeldeinschrankung fttr Farben
und eine anfangs ausgesprochene, allmahlich abklingende Dyslexie.
Von weiteren accentuirten Erscheinungen seitens des Nervensystems
kann neben einer vorfibergehenden leichten Storung des stereo-
gnostischen Sinnes, neben dem Auftreten von Schwindel, Ohrensausen
und Kopfweh nichts von Belang constatirt werden. Auch diese Sym-
ptome klingen langsam ab. Doch bleibt von Anfang an eine ent-
schiedene Herabsetzung der psychischen Personlichkeit des Patienten
bestehen, ohne dass sich aber neben etwelcher Gedachtnissschwache
und der Unfahigkeit, zu arbeiten, bestimmte psychische Krankheits-
zeichen feststellen liessen. Im Anschluss an eine korperliche Ueber-
anstrengung stellt sich eine schnell auftretende Parese des linken
Beines mit geringer Atrophie ein — periphere Neuritis. Zu gleicher
Zeit wird — nachdem bei der Eintrittsuntersuchung von Seiten dieses
Organes keine Anomalien bemerkt worden waren, am Herzen ein
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184
XI. Veraguth
Mitralklappenfehler mit Compensationsstorungen constatirt. Ca. V 2 Jahr
nach dem Unfall, und unleugbar im Anschluss an alkoholische Ex-
cesse nach angeblicher mehrjahriger Abstinenz, tritt eine wohl-
umschriebene Sprachstorung ein, die nach kurzer Dauer
ganzlich verschwindet und nie mehr auftritt. 1m letzten V 2 Jahr
beherrscht die Herzaffection das Krankheitsbild; sie manifestirt sich
jetzt in Dilatatio cordis, in starker Arhythmie und in consecutiven Er-
scheinungen seitens der Lungen. Tod durch Endocarditis mit Embolien
in die Lungen und andere Organe.
Sectionsbefund: Pericarditis, Endocarditis ulcerosa valv.mitralis,
putride Bronchopneumonie, frische eitrige Embolie unter der Pia des
Mantelrandes der rechten Hirnhemisphare. Stauungsleber. Postretinales
Hamatom im rechten Bulbus. Allgemeine Atrophie des Gross-
hirns, besonders der Rinde und des Marks der 1. Temperal-
windung beider Hemispharen und von der Pars opercularis
der dritten Stirnwindung links. Keine Herdlasionen. —
Im Vordergrund des Interesses steht die Sprachstorung, an der R.
wahrend einer kurzen Zeit litt. Es handelt sich hier um eine transi-
torische „Worttaubheit“ oder, nach der haufig noch gebrauch-
lichen alteren Nomenclatur, „subcorticale sensorische Aphasie 44 ,
und zwar um eine durch keine Beimengung anderweitiger aphasischer
Storungen yerwischte, also um ein klinisch reines Bild.
Folgende Analyse wird diese Diagnose rechtfertigen.
1. Die Aphasie war im Falle R. eine sensorische. Denn es lagen
keinerlei Storungen seitens der expressiven Sprachsphare vor.
2. Die sensorische Aphasie war eine sogenannte „subcorticale“ —
d. h., soweit das klinische Bild in Frage kommt. Denn alle — oder doch
alle wesentlichen — Erfordernisse zu dieser Diagnose waren vorhanden:
R. sprach wahrend der Dauer der Affection ebenso gelaufig, wie vor-
und nachher, und — was betont werden muss —, ohne dass eine Spur
yon Paraphasie hatte bemerkt werden konnen. Das laute Vorlesen ging
bei gedruckter Schriftprobe gelaufig und ohne Paraphasie vor sich.
Das Schriftverstandniss war nun freilich nach Angabe des Patienten
dadurch getrtibt, dass er einmal nach Kurzem „in den Augen“ ermudete,
d. h. dass sich ihm die Buehstaben nach dem Lesen langerer Ab-
schnitte verzerrten; zweitens aber durch eine Vergesslichkeit und Un-
fahigkeit, sich zu concentriren, die wohl als Theilerscheinung der
ganzen Herabsetzung der psychischen Persoulichkeit anzusprechen ist,
nicht aber als specielle receptive Sprachstorung. Was die in diesen
Fallen minder wichtige willklirliche Schrift und das Copiren von Vor-
lagen anbelangt, muss zugegeben werden, dass diese Versuche bei der
kurzen Dauer der Affection der poliklinischen Untersuchungsart zum
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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit.
185
Opfer flelen. Es liegfc aber kein Grund vor zur Annahine, dass sich
Storungen in jenen Beziehungen ergeben hatten. Wichtiger aber ist,
dass die positiven Ergebnisse der Untersuchung unanfechtbar sind.
Der Patient, dessen Gehor fttr Klange und Gerausche erhalten — er
meinte sogar gesteigert — war, verstand kein Wort von dem, was
man zu ihm sprach. Spater wieder in den Besitz des Wortverstand-
nisses gelangt, giebt er an, dass wahrend jener Zeit jede Anrede ihm
wie eine fremde Sprache geklungen habe. Ob er damit sagen wollte,
er habe zwar wohl verstanden, dass man rede, nur nicht, was man
sage, lassen wir dahingestellt Wahrscheinlicher ist, dass er nur dann
den Eindruck hatte, dass man rede, wenn er es an den Lippen des
Untersuchenden sehen konnte. Jedenfalls erregte (und dies mag hier
betont werden) die Klang- und Gerauschfolge gesprochener Worte als
solche, d. h. als acustisches Phanomen, seine Aufmerksamkeit nicht:
er reagirte auf Anrufen mit seinem Namen im Wartezimmer nicht,
sondern musste durch einen Rippenstoss von seinem Nachbar auf den
rufenden Arzt aufmerksam gemacht werden. Ebenso machte es auf
ihn keinen Eindruck, wenn hinter seinem Rticken gesprochen wurde,
wahrend er, wenn er sah, dass man zu ihm sprach, meist mit der
Betheuerung antwortete, er hore schon, aber er verstehe nichts. Man
ist daher zur Annahine veranlasst, dass seine Aufmerksamkeit ftir
Gerausche tiberhaupt abgestumpft war, unbeschadet der Scharfe der
Perception derselben nach Erregung der Aufmerksamkeit auf anderem
Wege. Doch sei hier hervorgehoben, dass seine einmal erregte Auf¬
merksamkeit sehr schnelj nachliess, dass er auch eine gewisse stumpfe
Gleichgtiltigeit gegentiber seiner auffallenden Ausfallserseheinung zur
Schau trug. Sein Gesicht zeigte nicht den Ausdruck der Schwer-
horigen, die sich eifrige Miihe geben, zu verstehen; auch nicht den
der Depression, wie sie etwa bei der schweren, plotzlich eintretenden
Lasion zu erwarten gewesen ware. Wie weit bei der Wurdigung
dieser Thatsachen die alkoholische Intoxication mit in Betracht kommt,
muss dahingestellt bleiben. — Es ist klar, dass bei dieser Unfahigkeit,
Worte zu verstehen, von Nachsprechen und von Schreiben nach Dictat
nicht die Rede sein konnte.
3 . Die „subcorticale sensorische Aphasie“ war in diesem Falle eine
reine. Dies verdient, mit Nachdruck betont zu werden. Wir sind
berechtigt, ibr dieses Adjectiv zu vindiciren, da sich vor Allem von
Paraphasie beim willktirlichen Sprechen und Lautlesen keine Spur
zeigte. Denn bekauntlich ist auch bei der viel haufiger beschriebenen,
differential-diagnostisch hier allein in Frage kommenden „corticalen“
sensorischen Aphasie der Verlust des Sprachverstandnisses das hervor-
ragendste Symptom. Fur diese charakteristisch ist dann aber die
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186
XI. Veraguth
Begleiterscheinung der Paraphasie: die Patienten bedienen sich beim
willkttrlichen Sprechen und Lautlesen ofters oder seltener, aber aus-
nahmslos, verdrehter Worte oder solcher, die ahnlich klingen, wie die
beabsichtigten. Ueberdies ist bei „corticaler“ sensorischer Aphasie auch
das Schriftverstandniss aufgehoben. Von Alledem nichts bei unserem
Fall. Das Bild ist daher als Sprachstorung in „centripetaler“ Richtung
scharf umschrieben.
Weniger scharf freilich ist seine Abgrenzung „nach der Peripherie 4 *
zu. War die Storung sicher nur eine cerebrale oder spielte auch eine
Lasion der peripheren Gehororgane eine Rolle? Als Antwort auf
diese Frage stehen uns nun freilich sparliche objective Daten zur Ver-
fttgung. Eine Trtibung oder anderweitige Veranderung des Trommel-
fells lag keinerseits vor. Von einer Prufung der Horscharfe durch
Fliistersprache und mittelst Stimmgabeln konnte angesichts des er-
schwerten Verkehrs mit dem Patienten die paar Mai, da er worttaub
auf die Poliklinik kam, aus naheliegenden Grtinden nicht die Rede
sein. Eine Untersuchung des Gehors, nachdem die sensorische Aphasie
wieder spurlos verschwunden war, gab uns auch keinen Aufschluss
darflber, ob wahrend der Storung eine periphere Componente mit im
Spiel war. Wir sind also auf die spontanen Angaben des Patienten
wahrend und nach dem Anfall von Aphasie angewiesen. Er h5rte
jedenfalls nicht schlecht: das Ticken der Uhr erkannte er in der Ent-
fernung von */ 2 m auf beiden Ohren (nachdem durch die Untersuchung
seine Aufmerksamkeit fur acustische Eindrflcke gescharft worden war).
Wenn also die periphere Gehorsleitung und die Perception von acus-
tischen Phanomenen eine Veranderung erlitten hatte, so konnte es sich
nur um eine so geringe Verminderung des Horvermogens handeln,
dass sie jedenfalls dem einzigen Beurtheiler, auf den wir uns in diesem
Fall verlassen mtissen, dem Patienten selbst, nicht auffallen konnte.
Darauf freilich, dass R. sogar angab, er glaube wahrend der Wort-
taubheit Gerausche noch deutlicher gehort zu haben, als vor der
Attacke, ist wohl kein Gewicht zu legen. Vielmehr mtissen wir an-
nehmen, dass sich auf dem Hintergrund der Worttaubheit die annabernd
normal erhaltene Fahigkeit der Wahrnehmung anderer Gehorsempfin-
dung fiir das subjective Urtheil des Patienten pointirter hervorhob
und dadurch den Eindruck erhohter Horscharfe machte. Nicht ausser
Acht zu lassen ist aber das Ohrensausen, das den Patienten seit dem
Unfall belastigte. Und zwar diirfte mit Nachdruck hervorgehoben
werden, dass dasselbe bis zum Eintritt der Worttaubheit nur auf das
linke Ohr beschrankt war; dass es hingegen wahrend der Sprach¬
storung beiderseits auftrat und endlich mit dem schnellen Aufhoren
der aphasischen Erscheinung ebenso plotzlich rechts wieder verschwand.
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Ueber einen Fall vod transitorischer reiner Worttaubheit.
187
4. Die „subcorticale sensorische Aphasie“ war im Falle R. eine
transitorische, von kurzer Dauer. Das vorubergehende Erscheinen
eines so auffalligen Symptomes, wie eine reine Worttaubheit es ist,
verlangt in der That eine besondere Wiirdigung. Rufen wir uns in
Erinnerung: R. gab an, schon vor dem in der Poliklinik beobachteten
Zustand der Worttaubheit einmal f&r kurze Zeit die Leute nicht ver-
standen zu haben. Dann trat die krankhafte Erscheinung mit voller
Kraft auf, um einige Tage ungeschwacht anzudauern; darauf, im An¬
schluss an heftiges Nasenbluten, verzog sich der Schleier tiber dem
Wortverstandniss wieder und seither ist bis zum Tod jede Spur von
Recidiv ausgeblieben.
Dieses transitorische Auftreten und spurlose Verschwinden der
Sprachstorung ist schon allein eine Veranlassung, den Fall R. den
bisherigen in der Literatur vorkommenden gegentiber zu stellen.
Vollends aufgefordert dazu wird man durch den Sectionsbefund:
allgemeine geringgradige Atrophie der interessirten Grosshirnpartien,
Abwesenheit eines jeglichen subcorticalen Herdes.
Die Auffassung des Wesens der reinen Worttaubheit hat seit
der ersten Feststellung des klinischen Krankheitsbildes durch Licht-
heim und Wernicke nicht unbedeutende Wandlungen durchgemacht.
Im Jahr 1885 veroffentlichte Lichtheim den ersten Fall. 1 ) Es
handelte sich um einen Patienten, der im Jahr 1872 einen Schlag-
anfall erlitten hatte, an den sich folgende Sprachstorungen anschlossen:
Paraphasie beim willkiirlichen Sprechen und Vorlesen, und Paragraphic.
Davon blieben im Verlauf der nachsten Jahre nur noch Spuren der
Paraphasie Gbrig. Im Jahr 1882 zweiter apoplectischer Insult ohne
begleitende Allgemeinerscheinungen; voriibergehende Facialisparese,
neuerliche Sprachstorung: Patient versteht kein einziges Wort, obwohl
er alle Gerausche hort. Er habe anfangs auf Lichtheim den Eindruck
eines peripher Tauben gemacht, weil er auch eine geringe Auf-
merksamkeit fttr Gerausche an den Tag gelegt und scheinbar gar
nicht darauf geachtet habe, wenn man mit ihm sprach. — Fahigkeit
nachzusprechen, sowie nach Dictat zu sprechen, aufgehoben. Die will-
knrliche Sprache dagegen ist vollkommen correct, es kann nicht die
geringste Paraphasie mehr constatirt werden. Intelligenz und will-
kllrliche Schrift vollig intact; Lautlesen und Copiren geschieht fehler-
los. — Dieser Zustand dauerte ohne Schwankung 3 Jahre lang, bis
zum Tode des Patienten. Keine Section.
1) Lichtheim, „Ueber Aphasie". Deutsches Archiv fur klinische Medicin,
Band 36. S. 238. 1885.
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188
XI. Vera.guth
Im folgenden Jahre befasste sich Wernicke 1 ) mit der Frage.
Audi er brachte Notizen tiber einen Fall ahnlicher Art, der aber durch
anderweitige cerebrale Storungen (epileptische Anfalle) compHcirt war.
Obwohl beide Forscher flir ihre Befunde keine Belege durch die
Section erheben konnten, wurde von ihnen die Affection mit dem
topisch prajudicirenden Namen der „subcorticalen sensorischen Apha-
sie“ benannt. Dabei gingen sie von der Annahme aus, dass es sich
um eine Erkrankung im Marklager des linken Temporallappens handeln
mtisse. Ihnen war also das Krankheitsbild ein Herdsymptom par
excellence und eine rein cerebrale Storung der Sprachperception.
In der That schien diese Annahme eine Sttitze zu erhalten in dem
1892 erschienenen Bericht liber einen Sectionsbefund bei einer „sub-
corticalen sensorischen Aphasie“, die Pick 2 ) beobachtet hat. Pick’s
Kranker war ein Irrsinniger, der wiederholte Schlaganfalle, unter
anderen auch mit linksseitiger Hemiplegie durchgemacht hatte. Das
Sprach verstandniss fehlte ganz. Fragen beantwortete er falsch, inso-
fern er zwar an sich correcte, aber nicht zur Sache gehorige Be-
merkungen machte. Auf Gerausche in seiner Umgebung achtete er
nicht. Es bestand bei ihm thatsachlich ein geringer Grad beiderseitiger
Taubheit. Er percipirte indessen leiseres Rufen, Sprechen u. s. w.
Das Verstandniss gehorter Melodien schien ebenfalls gestort, er konnte
aber etwas Flote spielen. Die Sprache war correct, also frei von
Paraphasie. Vorgezeigte Gegenstande bezeichnete er richtig. Die Schrift
war langsam, aber correct. Ebenso richtig das fliessend von statten
gehende Lesen, flir welches das Verstandniss erhalten war. Nach-
sprechen und Dictatschreiben fehlte vollkommen. Der Zustand des
Patienten anderte sich wahrend der Beobachtungszeit nicht. Section:
Rechts: Gyrus temp. I und ziemlich grosse Theile des Gyrus temp. II,
ferner die ganze Insel und kleine umschriebene Stellen am unteren
Ende der vorderen Centralwindung und in der untersten Stirnwindung
sind erweicht, und zwar in Rinde und Mark. Links: Hintere Halfte
des Gyrus temp. I und des Gyrus supramarginalis erweicht.
Nun war aber dieser Fall, obwohl durch eine Section erganzt, in
keiner Beziehung unzweideutig. Erstens war er klinisch nicht rein
weder als cerebrale Storung (Complication mit einer Geisteskrankheit),
noch mit Bezug auf eventuelle Mitbetheiligung peripher erkrankter
Horbahnen. Ueber letztere fehlen genauere Daten. Zweitens war die
Zerstorung des Gehirns, welche durch die Autopsie blossgelegt wurde,
eine viel zu ausgedehnte, um einen einigermassen sicheren Schluss
1) Wernicke, „Die neueren Arbeiten uber Aphasie“. Fortschritte der
Medicin. 1886.
2) Pick, Archiv f. Psychiatric. Bd. XXIII. 1892.
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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit.
189
auf einen Herd zu erlauben, der speciell die betreffende Storung hatte
hervorgerufen. Immerhin ist bemerkenswerth — und Pick macht
darauf ausdrticklich aufmerksam — dass die Lasion beide Hemi-
spbaren getroffen hatte, nicht nur die linke, und dass sowohl Rinde
als Mark ergrifFen waren.
Die gleiche Beobachtung machte Edgren 1 ), der einen weiteren
Fall verofFentlichte. 34jahriger Patient. Kopftrauma, im Anschluss
daran verschiedene cerebrale Symptome. Kann Musik nicht auffassen.
Er h5re sie wohl, aber nicht wie gewohnlich; er konne keine Melodie
herausfinden. Versteht seine Frau nicht, wenn sie zu ihm spricht.
Zwei Tage spater bleibt die Worttaubheit constant und meist complet,
nur ab und zu versteht er einzelne Worte. Er sagt, dass er hore,
wenn man zu ihm spreche, er verstehe aber nichts. Die Sprache ist
meist fliessend, zuweilen aber paraphasisch; Lautlesen geht anfangs
leicht und correct, nach einer Weile aber mit Paraphasie. Das
Schreiben, anfangs correct, wird spater ofters durch Paragraphic .ent-
stellt. Das Gehor ist beiderseits herabgesetzt. Nach einer Woche
versteht er ziemlich gut, wenn man liber etwas spricht, womit seine
Gedanken beschaftigt sind. Auf anderen Gedankengang reagirt er erst,
wenn man ihn schllttelt, bevor man ihn anredet.. Spater versteht
er Alles, was langsam geredet wird, kann nachsprechen und
Dictatschreiben. Zuletzt bleibt als Rest der Affection geringe
Paraphasie und Tontaubheit. Zwei Jahre spater Tod durch Purpura
haemorrhagica. Section: Aeltere Erweichungsherde in der Oberflache
der Gehirnhemispharen: links im vorderen Theil der Fossa Sylvii eine
Einsenkung, die die vordern zwei Drittel der 1. Temporalwindung und
die vordere Halfte des Gyr. temp. II umfasst. Am Uebergang zwischen
hinterem und mittlerem Drittel des Gyr. temp. I ist die oberflachliche
Schicht sklerotisch und mit der Pia verwachsen. Unter diesem sklero-
tischen Theil und 1 cm weiter nach hinten geht die Erweichung auch
in das Mark des Gyr. temp. I. Die umliegenden Theile der Ge-
hirnrinde sind gesund. Rechts: Um den Ramus horizontal is foss.
Sylvii ahnliche Defecte. In der Rinde sind zerstort die aussere und
die obere Oberflache der hinteren Halfte des Gyrus temp. I und ent-
sprechend der untere Rand des Gyrus supramarginalis. Die Zerstorung
ging im Boden der Fossa Sylvii in die weisse Substanz uber und
war nach vorne und nach hinten ausgedehnter, als in der
Rinde. — Also auch hier Zerstorung von Rinde und Mark in beiden
Hemispharen. Nicht die Klarheit des Symptomencomplexes und Un-
zweideutigkeit des anatomischen Befundes verleihen dem Fall seine
1) Edgren, Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. VI.
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190
XI. Veraguth
Bedeutung — es bestanden ja neben der Worttaubheit manche Para-
storungen der expressiven Sprachsphare und die bei der Autopsie
blossgelegten Zerstorungen weisser und grauer Grosshirnsubstanz waren
weit ausgedehnte — vielmehr ist es der Umstand, dass die Stoning
einp nur kurze Zeit andauernde war und dass das Wortverstandniss
wieder vollstandig sich einstellte, was angesichts des beigefRgten
Sectionsbefundes (subcorticale Herde beiderseits!) hervorgehoben zu
werden verdient. Dies und nebenbei die Thatsache der ahnlichen
Aetiologie eines vorhergegangenen Kopftraumas machen Edgren's
Fall zu einem fur uns besonders interessanten.
So wenig die Frage nach dem Sitz der Erkrankung durch diese
Falle erklart war, um so complicirter wurde sie durch die Erwagungen,
die nun andere Forscher in dieser Sache geltend machten.
Schon Pick 1 ) hatte in seinera Fall auf die Rolle hingewiesen, die
eventuell eine periphere Gehorsstorung bei der „subcorticalen sen-
sorischen Aphasie“ spielen konnte, ohne jedoch genauere Daten iiber
das Hbrvermogen des Patienten anzugeben.
Zu gleicher Zeit schrieb Bleuler 2 ) seine Arbeit „Zur Auffassung
der subcorticalen Aphasien“, worin er die Idee geltend machte, dass
das Wortverstandniss aufgehoben werden konne durch eine allgemeine
Gehorsstorung, ohne dass die Perception anderer Schallqualitaten er-
heblich verandert sei. Er ging dabei von der Beobachtung aus, dass
man im Nebenzimmer befindliche Personen zwar so gut sprechen
hore, wie man ziemlich leise Gerausche dortselbst vernehme; dass man
auch die Stimme des Sprechenden kenne, aber dennoch die Worte
nur hochst unvollstandig oder gar nicht verstehe. Es waren also die
Moglichkeiten vorhanden, dass physikalische, ausser dem Ohr liegende
Hindernisse das Wortverstandniss erschweren. Ebensogut konnten
aber auch Ohrenkrankheiten oder drittens AfiFectionen des corticalen
Gehorcentrums das Symptom verschulden, indem sie im letzteren Fall
den geregelten Ablauf der Klangbilder verlangsamten und dadurch ein
Ineinanderfliessen der verschiedenen Worttheile bewirkten.
Soweit die Rolle der infranuclearen Theile der Horbahn dabei
in Frage kommt, ist Bleuler's Ansicht namentlich von Freund 3 )
eifrig verfochten worden, der in seiner Arbeit „Labyrinthtaubheit und
Sprachtaubheit“ den fraglichen Symptomencomplex in zwei Fallen (von
denen der eine identisch ist mit dem oben erwabnten Fall Wer¬
nicke's) auf Lasion des Labyrinthes zuriickftihrt. Er vergleicht diese
zwei Aphasiker mit Taubstummen, deren Gehor nicht vollstandig ge-
1) 1. c.
2) Neurolog. Centralblatt. Bd. 18. 1892.
3) Freund, Labyrinthtaubheit und Sprachtaubheit. Wiesbaden 1895.
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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit.
191
schwunden ist, und findet eine grosse Aehnlichkeit im Verhalten der
zwei Krankheitsformen, der Unterschied des Sprachverstandnisses sei
nur ein gradueller. — Seine’Auseinandersetzung gipfelfc in dem Satz,
dass es verschiedene Arten von Sprachtaubheit gebe. „Es handelt sich
um ein Symptom von Seiten des acustischen Apparatus, welches keinen
absoluten topischen Werth besitzt. Die veranlassende Lasion ist nicht
an eine bestimmte Stelle gebunden; sie kann im Gehirn, im Acusticus-
stamm oder im Labyrinth des inneren Ohres, ja sogar unter Umstanden
im Mittelohr localisirt sein und den gleichen Functionsausfall ver-
anlassen. Seine locale Farbung erhalt das Symptom der Sprachtaub¬
heit erst durch die gleichzeitig vorhandenen anderweitigen Symptome. w
Leider wird der Werth der bedeutenden Arbeit Freund's beeintrachtigt
durch das Fehlen pathologisch-anatomischer Belege ftir seine Deduc-
tionen. Auch ist der erste seiner zwei Falle (Wernicke’s Fall
Hendschel) jedenfalls cerebral erkrankt (s. o.).
Unter dem Zeichen der Bleuler-Freund'schen Ansicht von der
Bedeutung der peripheren Gehorsstorungen flir die W orttaubheit steht
die beztiglich des Gehors genauere Untersuchung im Fall Ziehl's. 1 )
Ein 75 jahriger Mann erkrankt plotzlich, ohne Allgemeinerscheinungen,
an Worttaubheit und Paraphasie. Durch den Insult wird das Ver-
standniss fhr Worte zerstort, obwohl Patient hort, dass gesprochen
wird. Er hort die Uhr ticken. Gehorprtifung nach Rinne und
Weber ergeben normalen Befund. Er erkennt einzeln ausgesprochene
Buchstaben „r“ und „o“, aber nicht das Wort „roh“. „Soll es Fenster
heissen“? fragt er. Dabei Paraphasie leichteren Grades. Er spricht
gelegentlich von „Don Wan“ statt „Don Juan“, „weich“ statt „reich“,
kann nicht nachsprechen. Einzelne Buchstaben ist er zwar im Stand,
nachzuahmen, auch einzelne Onomatopoetica, z. B. „wau, wau“, aber
kein einziges Wort. Das Dictatschreiben ist unmoglich. Bei der will-
ktlrlichen Schrift besteht Paragraphic. Das Lautlesen und Bezeichnen
von Gegenstanden geschieht mit gelegentlicher Paraphasie. Dieser
Zustand bleibt unverandert bis zum Tod des Patienten. Keine
Section. — Das Wesentliche an dieser Krankengeschichte liegt wohl
in dem negativen Befund der Gehorsprilfung. Andererseits aber war
der Fall kein rein subcorticaler (Beimengung von Parastorung), und
es fehlte die Autopsie.
Hatte bis dahin das Studium der „subcorticalen sensorischen
Aphasie“ nur theoretische Vermuth ungen zu Tage gefordert, so be-
1) Ziehl, „Ueber einen Fall von Worttaubheit und das Lichtheim’sche
Krankheitebild der subcorticalen sensorischen Aphasie“. Deutsche Zeitschrift
fur Nervenheilkunde. VIII. 1896.
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192
XI. Veraguth
deutete der Fall, den Serieux 1 ) klinisch beobachtet und Dejerine 2 )
anatomisch untersucht hat, einen wesentlichen Fortschritt in der Er-
kenntniss dieser Affection.
Im Fall Serieux-Dejerine handelte es sich urn eine 55jahrige
Frau, die vom Jahr 1887—1893 gradatim das Verstandniss fiir ge-
sprochene Worte verlor, ohne dass die Horscharfe sich verminderte.
Auch konnte sie Melodien nicht mehr erkennen, noch nach Dictat
schreiben; dagegen sprach sie, schrieb sie spontan, las und copirte und
hatte ibre voile Intelligenz bewahrt. Bemerkenswerth ist, dass ibr
langere Zeit die Fahigkeit erhalten blieb, einzelne gebrauchliche Worte
und Silben zu verstehen und dadurch mit mehr oder weniger GlGck
die Frage des Untersuchenden zu errathen. Z. B. „En quelle annee
sommes-nous“? Antwort: „Somme? quelle somme“? oder: „La memoire
est-elle bonne u ? „armoire? Je n'ai pas d’armoire. J'entends bien tout
ce que vous me dites: Je ne suis pas sourde. Mais je ne comprends
pas . . .“ — Einige Monate vor dem Tode traten paragraphische und
paraphasische Storungen, sowie allgemeine Verminderung der Intelligenz
hinzu, so dass sie zuletzt iiberhaupt nicht mehr schreiben, noch sich
ausdrticken konnte. — Bei der Autopsie zeigten sich die Schlafen-
lappen beiderseits en masse atrophirt. Ihre Atrophie war sym-
metrisch und jeder Lappen war beinahe um die Halfte vermindert.
Sie prasentirten eine sehr deutliche Mikrogyrie und die Insel lag un-
bedeckt. Die Schlafenwindungen hatten ihre Form im Allgemeinen
beibehalten, waren aber um die Halfte reducirt und waren „d'une
apparence lamellaire“. Die Consistenz der Rinde war vermehrt. Die
Pia zeigte Adharenzen. Die mikroskopische Dntersuchung des in
Serien zerlegten Gehirns ergab, dass es sich um eine Poliencephalitis
chronica handelte, mit beinahe vollstandiger Atrophie der kleinen
Pyramidenzellen und Schwund der Tangentialfasern. Die Grefasse
zeigten verdickte Wande. Nirgends war ein Herd im Mark
nachzuweisen, wohl aber eine merkliche Verminderung der Tfirck-
schen Btindel (im Vergleich zu normalen Praparaten).
Mit diesem Sectionsbefund war wohl die alte Lichtheim-Wer¬
nicke'sche Annahme vom subcorticalen Herd griindlich widerlegt —
wie dies Dejerine in seiner Zusammenfassung des Resultates aus-
spricht: „Dans la surdite verbale pure il s'agit non pas d'une separa¬
tion du centre auditif des mots; mais bien d’un affaiblissement dans
les fonctions du centre auditif commun“. Nun muss freilich zugegeben
werden, dass die Gehoruntersuchung in diesem Fall nicht eine exacte
1) Serieux, Revue de Medicine. Aotlt. 1893.
2) Dejerine et Serieux, „Un cas de surdite verbale pure termini par
aphasie sensorielle suivi d'autopsie. 14 1897.
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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit. 193
war (wenigstens fehlen daruber nahere Angaben) — so dass also
klinisch jedenfalls nicht entschieden werden konnte, ob die Abschwach-
ung des Horvermogens wirklich nur auf die Perception der Worte
sich bezog, ob es sich also d’un affaiblissement dans les fonctions du
centre auditif handelte oder ob auch eine periphere Lasion mit im
Spiele war. Auch blieb der Fall nicht bis zum Lebensende eine
Surdite verbale pure, sondern verwandelte sich in eine Aphasie sen-
sorielle („cortdcale sens. Aph.“). Eine betrachtliche Zeit lang aber war
die Worttaubheit eine reine gewesen. Und dennoch von einem
subcorticalen Herd keine Spur!
Eine kiirzlich erschienene Arbeit von Liepmann 1 ) versucht nun
aber doch, die alte Lichtheim-Wernicke'sche Anschauung aufrecht
zu erhalten. Der Autor resumirt die Krankengeschichte seines Falles
folgendermassen: „Ein 67jahriger Mann verlor durch zwei offenbar
cerebrate Anfalle, deren Symptome (rechtsseitige Krampfe, rechts-
seitige Facialislahmung) beide Male auf die linke Hemisphare
wiesen, das erste Mai vorfibergehend, das zweite Mai dauemd
jegliches Sprachverstandniss, und zwar ist schon die Auffassung
der Sprachelemente, d. i. der einzelnen Buchstaben, gestort. Das Ge-
sprochene erkennt er tiberhaupt nur dann als Gesprochenes, wenn er
das Gesicht des Sprechenden sieht oder vorher davon verstandigt ist,
dass man zu ihm sprechen werde. Das Horvermogen flir Tone erweist
sich als vollkommen ausreichend ftir das Sprachverstandniss. Die
gesammte Tonreihe wird beiderseits percipirt, nur zeigt sich eine gleich-
massige Herabsetzung der Horscharfe beiderseits, wie sie weder ftir
Labyrintherkrankung noch ftir Erkrankung des ausseren
Gehorapparates charakteristisch ist. Insbesondere ist das von
Bezold abgegrenzte Gebiet luckenlos vorhanden. AUe tibrigen Sprach-
functionen sind intaci Einzelne Erscheinungen weisen tiber Sprach-
taubheit hinaus“ (partielle Seelentaubheit). Eine dritte Attacke mit
Bewusstseinsverlust und Krampfen ftihrte den Tod herbei. Die Section
ergab Folgendes: Frische Erweichungen im Pons, im Crus cerebelli ad
pontem; in der rechten Hemisphare die Ventrikel stark erweitert und
mit Blutgerinnsel erfttllt; die Ventrikelwande intact; „ftberhaupt in
Mark und Rinde der rechten Hemisphare kein Herd auf-
zu fin den. In der linken Hemisphare wird ein grosser frischer Blut-
herd aufgedeckt. Die Blutung hat eine mit Blutgerinnsel und zer-
trflmmerter Hirnmasse geftillte Hohle im Mark gebildet, die 2 cm
hinter dem Stimpol beginnt und bis l i L 2 cm vor den Occipitalpol
1) Liepmann, „Ein Fall von reiner Sprachtaubheit." Psychiatr. Ab-
handlungen, herausg. v. Wernicke. 1898.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkonde. XVII. Bd. 13
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194
XI. Veraguth
reicht, bis in die Hohe der Stelle, an welcher das Hinterhom sich
Yom Unterhorn trennt Die Blutung hat den Thalamus und den Rest
des Corpus striatum ganzlich von der Rinde abgesprengt Oben ist
die Hohle durch den zum Theil erhaltenen Balken begrenzt Seine
grosste Breite hat der Herd 6 cm hinter dem Stirnpol, wo er einen
seitlichen Fortsatz in die dritte Stirnwindung sendet. Vom ist der
Nucleus caudatus und der Linsenkern fast ganz zerstort Durch die
Zerstorung der grossen Ganglien bilden Vorderhorn und Celia media
mit der pathologischen Hohle einen Hohlraum. In der Inselgegend
wird die Hohle kleiner; immerhin ist der grBsste Theil des Corpus
striatum und der inneren Kapsel, sowie Claustrum und aussere Kapsel
zerstort Von oben reicht in der Sagittalrichtung ein nach unten ab-
getrennter, 5 cm langer Rest des Stabkranzes in die Hohle, diese in
2 Halften theilend. Die Basis der Hohle wird in der Inselgegend
nur durch eine 3 / 4 cm dicke Platte gebildet, welche das obere Dach
des Unterhorns bildet Der ganze, oberhalb dieser Platte gelegene
Stabkranz zum Schlafenlappen ist zerstort. Der sich nach hinten ver-
schmalernde und spitz in der den Thalamus nach hinten begrenzenden
Frontalebene endigende Herd bleibt dauemd oberhalb des Unterhorns
durch die etwa 4 mm dicke Platte, welche hinten den erhaltenen Rest des
Stabkranzes enthalt, vom Unterhorn getrennt. Unterhorn und Hinterhorn
ausserordentlich erweitert und mit Blutgerinnsel erftillt, aber intact. 4 *
Aus diesem Befund glaubt Liepmann schliessen zu mtissen, dass
die seinerzeit vorhandene Sprachstorung durch einen Herd im Mark-
lager bedingt gewesen sei. „Leider hat die neue Blutung 44 (finale
Attacke) „eine ungeheure Zerstorung angerichtet und auch gerade das
Gebiet betroffen, in welchem der alte Herd zu suchen war, namlich
das Marklager des linken Schlafenlappens. Ein makroskopischer Nach-
weis des alten Herdes in der mit Blutgerinnsel und zertrtimmerter
Himsubstanz erftillten Hohle, welche die Blutung hergestellt hatte,
liess sich nicht ftihren. Zum Gliick gestattet ein Exclusionsschluss
schon vor der mikroskopischen Untersuchung unsere Annahme, dass
der Herd im Stabkranz des linken Schlafenlappens innerhalb des neuen
Herdes gelegen habe, zu bestatigen 44 ... „ln unserem Fall erwies sich
namlich die Rinde beider Schlafenlappen als intact. Ja, in der rechten
Hemisphare ist tiberhaupt kein Herd nachzuweisen. 44 ... „Da sich so-
mit in den erhalten gebliebenen Theilen des Gehirns der alte Herd
nicht fand, so muss er in dem zerstorten Gebiet, namlich dem Mark
der linken Hemisphare gelegen haben. Doppelseitige Labyrinther-
krankung war ja schon durch den klinischen Befund auszuschliessen.
Der rechte N. acusticus ist schon mikroskopisch (van Gieson'sche
und Markscheidenfarbung) untersucht worden und erwies sich als
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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit. 195
durchaus normal 44 — Em Bericht tiber die mikroskopische Unter¬
suchung der Rinde steht aber ftoch aus.
Liepmann’s Schlussfolgerung von der Abhangigkeit der Sprach-
storung von einem subcorticalen linksseitigen Herd ist durchaus nicht
zwingend. Vorausgesetzt auch, dass seinerzeit im Gebiet des grossen,
letzten Herdes ein kleinerer Herd in der linken Hemisphere existirte,
so ist dadurch noch immer nicht bewiesen, dass die Worttaubheit von
einer Unterbrechung der cerebralen Horbahn abhing. Vielmehr muss
die M5gHchkeit offen gelassen werden, dass ein solcher Herd indirect,
durck Stoning der Circulation in der Rinde des Schlafenlappens (Druck-
wirkung) Ursache der Aphasie war. Angenommen also, dass ein solcher
Herd fruher yorhanden war, so ist damit aber noch immer nicht die
endgtiltige Losung der Frage gegeben: Welches ist die minimale Him-
lasion, welche eben genftgt, um die reine Worttaubheit — und nur
diese — hervorzurufen? Mangels einer mikroskopischen Untersuchung
der Rinde scheint der Fall tiberhaupt noch nicht spruehreif, namentlich
auch rticksichtlich der Frage, ob die rechte Hemisphere unbetheiligt
gewesen sei. — Ein besonderes Verdienst hat sich Liepmann's Arbeit
erworben durch eine peinlich genaue Berticksichtigung eventueller
infranuclearer Gehorsstorungen. Er erweitert den Kreis der tiblichen
Gehorprttfung durch die Bezold'sche Untersuchung mit der ununter-
brochenen Tonreihe. — Wie weit die diagnostische Bedeutung dieser
Untersuchungsmethoden fttr sensorische Aphasien geht, bedarf zwar
wohl noch der Prttfung. Bezold ging bel der Aufstellung seines
Lehrsatzes, dass flir das Sprachverstandniss unumganglich nothwendig
die Tonstrecke b'—g" sei, vom Studium des Gehors bei Taubstummen
mit Horresten aus. Auch Freund wahlte als Ausgangspunkt fQr seine
Annahme von dem Sitz der Worttaubheit im Labyrinth die Analogic
mit Taubstummen. Die Berechtigung dieser Zusammenstellung ist
aber durch keine pathologisch-anatoraischen Befunde in Labyrinthen
bei sensorisch Aphasischen bis jetzt erhartet. Wohl aber spricht im
klinischen Bild ein Umstand direct gegen sie. In den meisten Kranken-
geschichten (Lichtheim, Ziehl, Liepmann, unser Fall, um die
klinisch reinsten zu nennen) wird berichtet, dass die Worttauben
acustischen Eindriicken gegenhber eine gewisse Gleichgtiltigkeit, einen
Mangel an Aufmerksamkeit entgegenbringen, die scharf contrastiren
gegen den Eifer, mit dem peripher Schwerhorige acustische Eindrucke
zu erhaschen suchen, und gegen die seelische Reaction, die sich doch
wohl bei plotzlich eintretender gewohnlicher Schwerhorigkeit einzu-
stellen pflegi — Immerhin dtirfte unterstrichen werden, dass in Liep-
mann’s Fall die genaue Untersuchung des Gehors keine Labyrinth-
oder Mittelohrstorung ergab.
13*
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196
XI. Veraguth
Wie verhalt sich nun unser Fall R. zu den bisherigen Ergebnissen
der Forschung fiber das Wesen der reinen Worttaubheit?
I. Was das anatomische Substrat der cerebralen Storung betrifft,
so beweist es fftr’s Erste zur Evidenz, dass ein Patient eine reine
Worttaubheit par excellence durchmachen kann, ohne einen
subcorticalen Herd im linken Schlafenlappen zu besitzen.
Darin erganzt er den Fall Serieux-Dejerine, mit dem er gemeinsam
hat, dass die Lasion die minimalste war, die bis jetzt durch Section
von worttauben Gehimen aufgedeckt worden ist; ja noch mehr!
Dejerine findet in der Rinde der 1. Temporalwindung beiderseits
Schwund der kleinen Pyramidenzellen, in unseen nach Nissl behan-
delten Praparaten aus derselben Region waren aber Veranderungen
gegenfiber normalen Controlpraparaten nicht zu erkennen. Freilich
artete auch bei Serieux's Kranken die Affection in eine gewohnliche
Aphasie sensorielle aus, wahrend sie bei R. wahrend ihres kurzen Be-
standes frei von anderweitigen aphasischen Storungen blieb.
II. Ferner giebt die Beiderseitigkeit der allgemeinen Atrophie (Ver-
schmalerung) der 1. Temporalwindun gen eine starke Sttitze ab ffir die
Annahme von der Bilaterralitat der nothwendigen Rindenerkrankung, die
durch die Sectionen von Pick, Edgren und Dejerine wahrschein-
lich gemacht, durch Liepmann's Fall aber noch keineswegs zurfick-
gewiesen ist.
HI. Sodann wird durch die Autopsie in unserem Falle demonstrirt,
dass von der Rinde an ab warts bis zum Acusticus keine mikroskopisch
nachweisbaren Veranderungen der Horbahn zu bestehen brauchen,
damit die reine Worttaubheit zu Stande kommt. Nehmen wir dazu
noch den Umstand, dass das wahrend der Attacke nicht wesentlich
gestorte und nach derselben sofort und vollstandig leistungsfahige
Gehororgan direct gegen eine erhebliche Lasion des oder richtiger der
Labyrmthe spricht, so dtirfte der Fall R. eine Illustration sein zu dem
Satz, dass die Worttaubheit im Wesentlichen eine corticale,
resp. eine von der Grosshirnrinde ausgehende Storung ist.
Doch bleibt bei dieser Schlussfolgerung ein Widerspruch zwischen
dem klinischen und dem anatomischen Bild zu losen. Wie ist es
moglich, dass R/s Worttaubheit transitorisch war, dass aber die Section
eine Atrophie der 1. Schlafenwindung beiderseits aufwies? R. verstand
demnach nach Ablauf der Attacke das gesprochene Wort trotz be-
stehender Atrophie der beiderseitigen Gyri temporales I. Daraus ergiebt
sich der zwingende Schluss, dass nicht einmal dieser Sectionsbefund
der minimalste ist, der vorausgesetzt werden muss zum Zustandekommen
der reinen Worttaubheit. Hier muss freilich wiederholt werden, dass
die Nissl-Praparate keinen befriedigenden Aufschluss gaben fiber die
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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit.
197
Ursache der Windungsatrophie: ob und welche Zellen in geringer
Anzahl fehlen oder verkleinert sind, ob anderweitige intracellulare
Veranderungen vorlagen, oder ob intracorticale Bahnen gelitten hatten.
Sei dem, wie ihm wolle: die „subcorticale sensorische w Aphasie wird
in unserem Falle durch den negativen Befund, theilweise wenig-
stens, in das Bereich der sogenannten fanctionellen Sym-
ptomencomplexe verwiesen. v
Damit ist man nun freilich mit der Nachfrage nach der aus-
I5senden Ursache der transitorischen Worttaubheit bei R. auf Er-
klarungsversuche zurtlckgewiesen. Doch bieten Krankengeschichte und
Autopsie eine plausible Erklarung des Phanomens. Vergegenwartigen
wir uns, dass Patient an Sklerose der Himarterien litt und dass sich
im Lauf der Beobachtung ein Herzfehler manifestirte. Derselbe mag
vielleicht schon frtlher, schon seit dem Typhus vor 22 Jahren, be-
standen haben. Jedenfalls aber gingen erst dem Anfall von Wort¬
taubheit Compensationsstorungen des Herzens voraus. Durch Alkohol-
genuss schadigte der Patient seinen defecten Circulationsapparat in
noch hbherem Grade, und dies konnte geniigen, um in dem betreffenden
Ast der Art foss. Sylvii eine locale Ernahrungsstorung leichterer, vor-
tibergehender Art zu provociren, durch welche die aus anderen Griinden
schon irgendwie defecte (leicht atrophische) graue Substanz der Schlafen-
windungen in noch schlechtere Circulations verhaltnisse kam. Dadurch
wurde die Reizschwelle der corticalen Neurone derart erhbht, dass
die von der Peripherie kommenden Reize nicht mehr gentigten zur
Auslosung der associativen Arbeit des Wortverstandnisses, wahrend
sie eben noch ausreichten fttr die Wahrnehmung und flir das Verstand-
niss von Gerauschen des taglichen Lebens. Auf den causalen Zusammen-
hang zwischen Circulations- und Sprachstorung weist auch die That-
sache, dass R. bei einem friiheren, leichteren Anfall die Worttaubheit
will zum Verschwinden gebracht haben dadurch, dass er sich biickte —
also jedenfalls durch eine Aenderung der Circulation im Schadel;
ferner dadurch, dass ein heftiges Nasenbluten — also wieder eine
starke Druckschwankung in den Gefassen des Kopfes — die Besserung
des Zustandes herbeifiihrte. — Ein anderes Agens, das in diesem Falle
vielleicht mit ebenso viel Wahrscheinlichkeit als auslosende Ursache
kann angesprochen werden, ist der Alkohol, den R. — nach seiner
Angabe nach 6jahriger Abstinenz — kurz vor dem Anfall zu sich
genommen hatte. Die Moglichkeit ist nicht abzuweisen, dass die schon
minderwerthigen (atrophischen) Schlafenwindungen fGr das Gift eine
besondere Affinitat besassen, die sich dann durch die Worttaubheit
ausserte.
IV. Was die Frage nach der Mitbetheiligung des Labyrinths am
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198 XI. Vebaguth, Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaabheit.
Krankheitsbild anbelangt, ist allerdings einzuraumen, dass die Gehor-
priifung in unserem Fall nicht in erschopfender Weise vorgenommen
wurde. Das attacken weise Auftreten der Worttaubheit, das rasche
Einsetzen und Abklingen derselben, femer das Fehlen jeder auffallenden
Gehorsstorung im spateren Yerlauf sprechen aber deutlich gegen eine
Labyrintherkrankung, die zudem auch an beiden Ohren gleichzeitdg
und acut hatte auftreten mtissen. Ftir eine Mitbetheiligung dieses
Organs spricht in unserer Krankengeschichte nur das Auftreten von
beidseitigen subjectiven Gerauschen. Doch bleibt dahingestellt, ob
dieses Ohrensausen in die Labyrinthe zu localisiren oder nicht schliess-
lich auch centralen Ursprungs sei — moglich, dass sie mithalf, den
corticalen Yorgang des Wortverstandnisses zu erschweren.
Die Behauptung, dass periphere Storungen des Gehors bei der
reinen Worttaubheit eine Rolle spielen mtissen, wird tibrigens direct
widerlegt durch die extrem genaue Gehoruntersuchung inLiepmann's
Fall, wo keine oder nur sicher belanglose Hordefecte festgestellt wurden.
Soli aus dem Vorhergehenden der gegen wartige Stand der Frage
tiber das Wesen des besprochenen Krankheitsbildes resumirt werden,
so lassen sich folgende Satze aufstellen:
Das primare cerebrale Substrat der reinen Worttaub¬
heit ist nicht eine Unterbrechung der subcorticalen Hor-
bahn im Mark des linken Schlafenlappens; vielmehr gentigt
eine einfache Atrophie der ersten Schlafenwindungen —
wahrscheinlich beider Hemispharen — als anatomische
Grundlage, um beim Hinzutreten eines secundaren (circu-
latorischen, toxischen, functionellen) Momentes die reine
Worttaubheit zu bedingen.
Das klinische Bild der reinen Worttaubheit bleibt, so wie es
Lichtheim zuerst beschrieben hat, zu Recht bestehen. Die Beob-
achtung der Autoren beztiglich begleitender peripherer Gehorsstorungen
machen es wahrscheinlich, dass diesen in gewissen Fallen eine Rolle
in der Genese der Worttaubheit zukommt. Dieselbe kann aber nur
eine secundare sein.
Beztiglich der Nomenclatur diirfte die vielfach noch gebrauchliche
Bezeichnung „subcorticale sensorische Aphasie u zu ersetzen
sein durch die anatomisch nichts prajudicirende und den Kern der
Sache treffende Benennung „Surdite verb ale pure* 4 der Franzosen,
die „reine Worttaubheit 44 .
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XII.
Vertigo auralis hysterica.
Zur Frage der Hamver&nderungen nach den AnfaUen der grande hystdrie.
Yon
PriTatdocent Dr. Bybalkin,
Oberarzt der Nervenabtheilnng dee Marienhospitals in St. Petersburg.
Wie bekannt, wird der Meniere’sche Symptomencomplex ge-
w5hnlich angetroffen einerseits bei organischen Storungen der ein-
zelnen Theile des Gehorapparates, andererseits bei mehr oder weniger
direct einwirkenden Reizvorgangen im Ohr. Zu den letzteren
gehoren Ausspritzungen, Katheterisirung, Galvanisation, beftige Gehors-
reize, ferner rasche Umdrehungen des Korpers, hoher Seegang. Ausser
diesen Bedingungen linden sich Schwindel, Erbrechen und Ohrensausen
(anfallsweise auftretend) auch bei Personen mit intactem Gehorapparat
und ohne aussere Reize. Diese sogenannten pseudomeniereschen An-
falle werden sehr selten bei der Hysterie angetroffen als Aura des
hysterischen Anfalls, dann auch bei der Epilepsie und endlich bei an
Migrane leidenden Personen. 1 )
Die nachstehende Beobachtung gehort der letzteren Gruppe von
Krankheiten an; der pseudomeniere’sche Schwindel trat in eigen-
artiger Weise, ohne organische Veranderungen des inneren Ohres ent-
weder als Aura des hysterischen Anfalls oder aber selbstandig auf.
J. T., 24 Jahre alt, wurde auf der Strasse in besinnungslosem Zu-
stande gefunden und sofort (1. April 1898) in das Marienhospital ge-
bracht Pat. erlangte die Besinnung erst in der Anstalt wieder.
Anamnestisch liess sich feststellen, dass Pat. seit 1895 an Krampf-
anf&llen mit Bewusstseinsverlust und (mitunter) mit Zungenbiss leidet
Der erste Anfall trat im Januar 1895 auf dem Lande auf: Pat. erwachte
Nacbts, wollte sich erheben, da „begann es ihn nach der linken Seite zu
ziehen tt , und er verlor das Bewusstsein. Als er zu sich kara, bemerkte er,
dass er sich in die Zunge gebissen hatte; ausserdem empfand er Uebelkeit,
Kopfweh und Gliederschmerzen. Vier Monate sp&ter war der zweite An¬
fall, in Petersburg, am Morgen friih, beim Aufstehen. Seit der Zeit wieder-
holten sich die Anftllle alle 2—3 Monate. Im letzten Jahre h&uften sich
die Anf&lle derart, dass sie allwochentlich auftraten. Pat. soil in der
1) Frankl-Hochwart, „Der Meniere’sche Symptomencomplex“ in Noth-
nagePs Handb. d. spec. Path. u. Therapie.
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200
XII. Rybalkin
Kindheit an Somnambnlismus gelitten haben, sprang vom Bett auf, lief im
Zimmer nmher und war anfanglich nicht im Stande, sich zn orientiren.
Im Jahre 1889 hat er anscheinend einen Typhus im Botkin’scben Baracken-
hospital dnrchgemacht. 1892 lag er im Obuchowhospital krank wegen
eines Erysipels am rechten Unterschenkel. Mit 13 Jahren kam Pat. nach
Petersburg, wo er im Sommer das Malerhandwerk betrieb, im Winter aber
in einer Handschuhfabrik arbeitete. Zu derselben Zeit begann Pat. fast
t&glich zu masturbiren, was er bis zum 20. Lebensjahre fortsetzte. Mit
19 Jahren hatte er die ersten normalen geschlechtlichen Beziehungen, blieb
aber sehr m&ssig darin und hbrte nicht auf, ausserdem zu masturbiren.
Syphilis und Gonorrhoe hat er nicht gehabt. Alkoholmissbrauch wird
ebenfalls in Abrede gestellt. Bis zum ersten Krampfanfall hat er weder
an Schwindel noch an Absencen gelitten. Als Maler war Pat. Sfters ge-
nothigt, in verschiedenen, oftmals gefahrlichen Stellungen zu arbeiten, ohne
dass ihm dabei je das Geringste zugestossen ware. Etwa vor einem Jahr
trat ein Gefuhl von Schwere und Schmerzen, von mitunter stechendem
Charakter, in der linken Schlafen- und Hinterhauptgegend auf. Dumpfen
Schmerz, welcher sich wahrend der Anfalle steigert, empfindet er best&ndig.
Endlich klagt Pat. iiber dauerndes Ohrensausen links und verschiedenartige
Ger&usche (bald wird das Ohr „verlegt w , bald „zugegossen a u. s. w.).
Der Vater des Pat. starb nach einer Erkaitung, war kein S&ufer. Die
Mutter und 4 Geschwister leben und sind gesund.
Status praesens. Der Pat. ist von mittlerem Wuchs und Kbrperbau.
Am knochemen Schadel keine Abnormitaten.
Der harte Gaumen spitz und hochgewolbt. Behaarung normal. Die
Gesichtsfarbe wechselt schnell: bei der geringsten Erregung wird sie
dnnkelrothbraun bis cyanotisch. Die Hande sind kalt und cyanotisch,
feucht, desgleichen die Fiisse. Die Conjunctiven bedeutend hyper&misch.
Deutliche Dermatographie. Wahrend der Untersuchung fallen kurz-
dauernde Zuckungen in den Gesichts- und Halsmuskeln auf (Masseteres,
Temporales, Sternocleidomastoidei). Bei Augenschluss heftiger Lid tremor.
Der gleiche Tremor in den vorgestreckten Handen, in der Zunge fibrillfcre
Zuckungen. Der erw&hnte Tremor verstarkt sich bei jeder Erregung und
pflanzt sich auf andere Korpertheile fort.
Active Beweglichkeit frei. Die Muskelkraft in den linken Extremitaten
ein wenig herabgesetzt.
Am Dynamometer links 19, rechts 45 kg. Kein Romberg’sches Zeichen.
Die Sensibilitat aller Arten ist in der linken Korperhalfte herabgesetzt,
wobei die Herabsetzung fiir K<ereize am auffailigsten ist.
Anasthesie der Conjunctiva, Sklera und theilweise der Hornhaut. Linker-
seits An&8the8ie der Nasenschleimhaut, des weichen Gaumens und Rachens.
Geschmack und Gerucb links bedeutend herabgesetzt, desgleichen das
Gehor und die knocherne Leitungsfahigkeit.
Der Rinne’sche und WebeFsche Versuch fallen positiv aus. Beider
otoskopischen Untersuchung werden keine Veranderungen wahrgenommen
(Dr. Neumann).
Pat. hat keinerlei Ohrerkrankungen in der Kindheit iiberstanden. Das
Gesichtsfeld ist beiderseits gleichmassig unbedeutend verengt, die Farben-
empfindung ist normal; die Pupillen sind gleichweit, reagiren gleich gut
auf Lichteinfall, Convergenz und Schmerzreize.
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Vertigo auralis hysterica.
201
Augenhintergrund normal (Dr. Sergijew). Ueber der linken Mamilla
und im linken Hypochondrium Schmerzpunkt. Hinter dem linken Ohr
befindet sich eine hysterogene Zone, deren Reizung Scbwindel und mit-
unter hysterische Anfklle hervorruft.
Die Patellarreflexe Bind gesteigert, die Reflexe der Achillessehnen
normal. Die Soblenreflexe Bind herabgesetzt, der Bauchreflex ist recbts
lebhafter. Cremasterreflexe gleich und normal. Der Wiirgreflex fehlt links,
de8gleichen der Reflex von der Nasenschleimhaut linkerseits. Blase und
Mastdarm ohne Stbrungen.
Eine lfcngere Beobachtung erst liess beim Pat. 2 Hauptarten von An-
fftllen unterscheiden. Der ganz leicbte Anfall beginnt damit, dass der Pat.
„einen Schlag vor den Kopf* empfindet, gleichzeitig tritt Schwindel, links
Obrensausen („zugegossen u ) auf, die Bi*ust und der Hals werden zugeschniirt
(„wie erwiirgt u ), die Nares bl&hen sich auf und die Athmung wird tiefer;
h&ufig kommen hinzu ruckweise Zuckungen des Kopfs nacb links nnd
Wendung des ganzen Korpers nach derselben Seite. Bei einem
heftigeren Anfall kehrt sich der Pat. nach der linken Seite und vollfiihrt dabei
1—2 Umdrehungen urn die Verticalaxe des Korpers, ohne dabei zu fallen;
das Bewusstsein ist erhalten, obwohl er im Verlaufe einiger Secunden nicht im
Stande ist, Antworten zu ertheilen; mitunter scbliesst der Anfall mit Uebelkeit.
Ausser diesen Insulten wurden beim Pat. schwere Anf&lle mit Be-
wus8tseinsverlust beobacbtet; sie beginnen, wie oben beschrieben, nur ver-
breiten sich die linksseitigen Zuckungen mit Ablenkung der Augen u. s. w.
auf den ganzen Korper. Dazu gesellen sich Spannung in der gesammten
Kbrpermusculatur, Cyanose, die Athmung wird schnarchend, dann wird das
Gesicht des Pat. blass, es treten klonische Zuckungen auf, der Kranke
w£lzt sich nach links, Schaum (mitunter blutig verf&rbt) tritt aus dem
Munde, endlich Somnolenz, Uebelkeit und Erbrechen. Einige Male schloss
sich an die epileptoide Periode eine Phase des Clownismus in der Form
des Arc de cercle an. Die Schwindelanfalle (nach Art der Meni^re’schen)
treten mehrmals t&glich (bis 30 mal) auf, besonders wenn der Pat. sich
zu Bett legt oder eine Treppe hinabsteigt. Es erwies sich, dass die kleinen
Anf&lle leicht experimentell hervorgerufen werden konnen: man lksst nur
den Kranken auf 1—2 Minuten die Augen schliessen, dann wird die Ath¬
mung tiefer, das Gesicht cyanotisch, der Kopf wird ruckweise nach links
gezogen, die Lider offnen sich, beide Augen werden nach links abgelenkt und der
Kranke macht eine halbe oder ganze Drehung nach links urn seine verticale Axe.
Vor dem Auftreten des grossen Anfalls bemerkt die Umgebung tags-
iiber, dass Pat. nachdenklich, schweigsam wird. Tritt Nachts ein Anfall
auf, so springt Pat aus dem Bett und dann vollzieben sich die obener-
wahnten Erscheinungen. Der Kranke w&lzt sich mit solcher Gewalt nach
links, dass er tiber die weicheu Schutzbretter, zwischen denen er liegt, hin-
ausgedr&ngt werden und zu Boden fallen wiirde, wenn nicht rechtzeitig
Htilfe zur Hand w&re. Pat. erinnert sich stets des gehabten Anfalls. Nie
hat er w&hrend des Anfalls Harn oder Koth unter sich gelassen. Nach den
klonischen Zuckungen des grossen Anfalls schl&ft er gewbhnlich kurze
Zeit, dann wacht er auf und kann, wenn es Nachts geschieht, lange nicht
wieder einschlafen, wobei er heftige Kopf- und Gliederschmerzen nebst
Druck auf der Brust verspiirt
Der Harn wurde systematisch untersucht; er ver&ndert sich deutlich
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202
XJI. Rybalkin
nach dem Anfalle, besonders auffallend waren die Ver&nderungen im erst-
gelassenen Harn (Urine primaire). Schon ausserlich nnterschied sich diese
Portion dentlich von dem vor dem Anfalle gelassenen Ur in durch schwache
Farbung, ja fast vollige Farblosigkeit, Fehlen jeden Gernchs, neutrale
Reaction, niedriges specifisches Gewicht (1001—1005), die Quantity der
ersten Portion (bis 700 und 1000 ccm). Alles das bildete einen scharfen
Contrast zu dem Urin vor dem Anfalle. Eiweiss und Zucker warden nicht
gefunden, ebensowenig Cylinder. Zum Vergleich fUlire ich 2 genane
Analysen des Hams vor nnd nach dem Anfall an, die ebenso wie die
folgenden Untersuchungen im Laboratorium des Prof. Poehl, dem ich hier-
mit meinen Dank ausspreche, ausgefiihrt warden.
Vor dem Anfall
29. Januar 9. April
Nach demselben
29. Mai 9. April
Harnstoff
12,84 °/ 0 o
19,66 % 0
5,18 °/ 00
5,34 0 00
Harnsaure
0,30
0,39
0,12
0,11
Chlornatrium
7,90
7,40
5,20
5,30
Phosphorsaure
1,02
1,42
0,26
0,18
Schwefelsaure
0,92
1,52
0,32
0,42
GesammtN-Gehalt
6,71
10,25
2,72
2,79
Ptomaine und Urate
2,38
3,65
0,99
0,99
Zucker
0
0
0
0
Eiweiss
0
0
0
0
Spec. Gew.
Verhaltniss des N im|
1014
1016
1005
1003
Harnstoff zum Ge-|
sammtstickstoff (Ro¬
bin’s Coefficient) J
Verhaltniss des Ge-1
89,27:100
89,46:100 88,97:100
unter der Norm
89,25:100
sammtN-Gehalts zum
Phosphorsaure-Gehalt 1
(Ziilzer’s Coeff.) J
Verhaltniss der Harn-
100:15,2
100:13,9 100:10,3
unter der Norm
100:6,5
s Stare zu der Phos-
0,30:0,88
0.39:1.20
0.12:0.13
0,11:0,12
phorsaure in Form des
doppelphosphorsauren
Natron (Zerner’s
Coeff.)
Verhaltniss der Ge-
• = 0,34
= 0,33 = 0,92
also vermehrt
= 0,92
sammtphosphorsaure
100:86,3
100:84.5
100:46,4
100:66,7
zur Phosphorsaure in
Form ihres Natron-
salzes (Poehl’s Coeff.)
normal
unter normal
normal.
Die inneren Organe waren gesund. Temperatur normal. Einige Male wurde
vor dem Anfall eine kleine Erhohung bis auf 37.6 und 38,2° beobachtet; nach
dem Anfall fiel die T° auf 36°. Herz normal, leicht erregbar. P. 80—112.
So haben wir denn, kurz zusammengefasst, einen Patienten von
24 Jahren vor uns mit einer linksseitigen Hemiparese, einer fast volligen
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Vertigo auralis hysterica.
203
Anasthesie der linken Korperhalfte und mit hysterischen Stigmata,
der an zweierlei Krampfanfallen leidet. Die leichte Form dieser Par-
oxysmen besteht in Schwindel, linksseitigem Ohrensausen, Drehen des
Eopfes und darauf des ganzen Korpers nach der linken Seite, wobei
der Kranke mitunter mehr als zwei Umdrehungen nach links um die
Verticalaxe seines Korpers macht. Die Besinnung ist wahrend dessen
mehr oder weniger wohlerhalten.
Bei dem schwereren Typus der Anfalle tritt nach den oben-
erwahnten Einleitungsstadien Bewusstseinsverlust und die epileptoide
Phase des grossen hysterischen Anfalls ein, welch letztere einige Male
in Clownismus tiberging.
Als der Patient ins Hospital aufgenommen wurde, konnte an das
Bestehen epileptischer Anfalle gedacht werden. Zu Gunsten einer
solchen Annahme schien zu sprechen, dass die Krampfanfalle mitunter
Nachts auftraten und mit vfilligem Bewusstseinsverlust einbergingen,
ferner dass Zungenbiss festgestellt wurde. Nach Auffindung der hyste¬
rischen Stigmata war es klar, dass der Patient an Hysterie litt, doch
schliesst diese ja das gleichzeitige Bestehen der Epilepsie nicht aus.
Bald iiberzeugte uns die feraere Beobachtung, dass die schwereren
Anfalle mit Bewusstseinsverlust der grande hysterie angehorten.
Ungeachtet dessen, dass die Anfalle manchmal Nachts auftraten, er-
hielten sie sich vollig im Gedachtniss des Patienten, was bei der
Epilepsie nicht vorzukommen pflegt; nach epileptischen Anfallen bildet
Amnesie die Regel, und oft erratben die Patienten nur aus dem be-
stehenden Zerschlagenheitsgeftihl, dass sie einen Anfall fiberstanden.
Niemals liess unser Kranker im Anfall Harn oder Koth unter
sich gehen. Der Zungenbiss, das gewohnliche Symptom der Epilepsie,
wird nur ausnahmsweise bei Hysterie beobachtet.
Die bei unserem Kranken bei der geringsten Erregung auftretenden
klonischen Zuckungen der Kaumuskeln verstarkten sich beim Anfall
und konnten naturgemass zu Zungenbiss Veranlassung geben, woher
diese Erscheinung auch ofter bei unserem Kranken vorkam. Die
grossen Anfalle beginnen beim Patienten stets mit den Erscheinungen
der leichteren Form — einer hysterischen Aura, welche leicht hervor-
zurufen ist auf dem Wege des Experiments und vermittelst der Ge-
mfithsbewegungen. Schliesst man dem Kranken nur auf 1—2 Minuten
die Augen, so tritt die Aura auf. Aehnliches wird nie bei Epilepsie
beobachtet, deren Paroxysmen charakteristischer Weise stets unerwartet
auftreten und gewohnlich nicht experimentell hervorgerufen werden
konnen. Auch die Differenzen der Harnzusammensetzung sind in
unserem Fall recht ausgesprochen. Die Menge des nach dem Anfall
zuerst gelassenen Urins (Urine primaire) ist betrachtlich; von 20 Be-
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204
XII. Rybalkin
obachtungen ist das Mittel 650 ccm (Min. 200, Max. 1000), folglich
Polyurie. Das specifische Gewicht ist im Mittel 1005—1006(Min. 1001,
Max. 1009). Reaction neutral. Farbe sehr hell, immer heller als der
vor dem Anfall gelassene Urin; kein Zucker, kein Eiweiss. Wie aus
der obigen Tabelle erhellt, sind die Quantitat des N, der Hamsaure,
Schwefelsaure, der GesammtN-Gehalt und die Leukomaine betrachtlich
herabgesetzt. Besonders niedrig ist der Gehalt an Phosphorsaure, die
von 1,02—1,42 °/ 00 vor dem Anfall, auf 0,28—0,18 nach demselben
fallt, also um etwa 4—5 mal sich vermindert Die Menge der Hbrigen
Bestandtheile verringert sich um das 2—3fache.
Ebenso verandert sich auch das Verhaltniss der Phosphorsaure
zum GesammtN-Gehalt, das normaler Weise nach Neugebauer und
Vogel = etwa 1 : 7 ist; bei unserem Patienten hingegen vor dem
Anfall 1 : 6,6 und 1 : 9,7 und nach demselben 1,72 und 15,5. Das
Verhaltniss der Hamsaure zu der Phosphorsaure (als doppelt-phosphor-
saures Natron) steigt von 0,34—0,33 auf 0,92 nach dem Anfall. Durch
diese Veranderungen unterscheidet sich der hysterische Ham sehr be¬
trachtlich von dem nach epileptischen Anfallen gelassenen Urin. Im
epileptischen Ham ist die Menge der Hamsaure fast stets Yermehrt
(Lepine 1 ), Haig 2 ), Krainsky 3 ) u. A.), ebenso steigt der Phosphorsaure-
gehalt fast bestandig(Mairet 4 ), Ztilzer 5 ), Lailler 6 ), Krainsky u.A.).
Ausser den obenerwahnten Harnveranderungen nach dem hyste-
rischen Anfall, die in den Hauptztigen von vielen Autoren (Briquet 7 )
u. A.) bemerkt wurden, haben Gilles de la Tourette und Cathe-
lineau 8 ) noch Veranderungen im Verhaltniss der phosphorsauren Salze
gefunden. Wahrend im normalen Urin das Verhaltniss der phosphor¬
sauren Erden (Calcium und Magnesium) zu den phosphorsauren Alkalien
oder das Verhaltniss des Gehalts an P 2 0 5 , dem Phosphorsaureanhydrid,
in diesen Salzen 1: 3 betragen soli, ist im Ham nach dem hyste-
rischen Anfall dieses Verhaltniss =1:1; diese Thatsache bezieht sich
nicht nur auf den zuerst gelassenen Harn (Urine primaire), sondem
auch auf den Tagesharn nach dem Anfall. Um den Unterschied
zwischen den beiden Portionen (des erstgelassenen und des Tagesharns,
1) Lupine et Jaquin, R4v. mensuelle de M6decine et Chir. 1879.
2) Haig, Brie. acid, as a factor in the consation of disease. 1894.
3) Krainsky, StofFwechseluntersuchungen bei Epilepsie (russ.). 1895.
4) Mai ret, Recherches sur l’dlimination de l’acide phosphor, etc. 1884.
p. 208.
5) Zfilzer, Untersuchungen fiber die Semiologie des Haras.
0) Lailler, Sur Pelimination de l’acide phosphorique etc. l’Encephale.
1885, 1.
7) Briquet, Traits de Thyst^rie. 1859. p. 521.
8) Gilles de la Tourette, Traite de l’hyst^rie. I. 1895. p. 97.
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Vertigo auralis hysterica.
205
Urine primaire et secondaire) zu erlautern, gebe ich zwei diesbeztigliche
Analysen wieder:
Erster Harn
3. VI. nacb dem Anfall der tibrige Tagesharn
Harnstoflf
Harnsaure
Chlornatrium
Phosphorsaure
Schwefelsaure
GesammtN-Gehalt
Leukomaine
Phosphorsaure Sake (Ca u. Mg)
» „ (K u. Na)
Specifisches Gewicht
Farbe
Reaction
7,09 °/ 00
26,15 \
0,12 „
0,38 „
7,15 „
9,20 „
0,18 „
1,94 „
0,47 „
1,98 „
9,77 „
13,73 n
1,54 „
5,21 r
0,06 „
0,54 „
0,12 „
1,4 „
1009
1021
1002 (nach V ogel)
1007
neutral
sauer
Aus dem Vergleicb beider Analysen erhellt der grosse Unterschied
zwischen den zwei Portionen. Die „Urine primaire" enthalt fast 10 mal
weniger Phosphorsaure und phosphorsaure Sake und ausserdem be-
deutend weniger feste Bestandtheile als die „Urine secondaire 44 . Das
Verhaltniss des Phosphorsaureanhydrids in der Form der Ca- und
Mg-Salze einerseits und der K- und Na-Salze andererseits ist im
zuerst gelassenen Urin = 1:2, im tibrigen Tagesharn = 1:2,6. Also
ist das Verhaltniss fast gleich in beiden Portionen.
Dafttr andert sich aber das Verhaltniss des Gesammtphosphor-
sauregehalts zu dem GesammtN-Gehalt betrachtlich. In der ersten
Portion ist es = 1:21, in der zweiten aber =1:7, d. h. normal,
wahrend die ersten Zahlen weit unter der Norm sind. Folglich be-
statigen unsere Analysen die Inversion der Phosphatformel
(rinversion de la formule des phosphates) nicht und zeigen: erstens
eine bedeutende Herabsetzung des Gehalts an fester Substanz und
insbesondere der Phosphorsaure im zuerst gelassenen Harn, und
zweitens eine betrachtliche Verringerung des Verhaltnisses der
Phosphorsaure zum Gesammtstickstoflf in demselben Harn.
Um zu zeigen, in wie weit unsere Untersuchungen die Behaup-
tungen Gilles de la Tourette's und Cathelineau's bestatigen,
dass die Aenderung in dem Verhaltniss der Phosphate zu einander
sich nicht nur auf die erste Portion, ssndem auch auf den gesammten
Tagesharn bezieht, flihren wir noch eine Analyse der zwei Ham-
portionen an und zwar des Harns vor dem Anfall und des Tagesharns
nach demselben:
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206
XII. Rybalkin
13. VI. Vor dem Anfall
Nach dem Anfall
Harnstoff
19,t4
16,30
Harnsaure
0,42'
0,39
Chlornatrium
7,60
0,95
Phosphorsaure
1,52
1,29
Schwefelsaure
1,44
1,24
Gesammtstickstoff
10,06
8,70
Leucomaine
3,73
3,60
P 2 0 5 als Ca und Mg-Salze
0,41
0,24
P 2 0 5 als K- und Na-Salze
1,06
1.00
Zucker
0
0
Eiweiss
0
0
Specifisches Gewicht
1015
1015
Reaction
sauer
alkalisch.
Vergleichen wir diese Resultate, so finden wir nicht so schroffe
Gegensatze in der Zusammensetzung, wie wir sie beim Yergleicb des
Harns vor dem Anfall und der ersten Portion nach demselben erhielten;
gleicbwohl sind die Bestandtheile des nacb dem Anfall gelassenen
Urins ein wenig herabgesetzt. Das Verhaltniss der Phosphate vor dem
Anfall ist = 1:4,47, nach demselben = 1:4,17, folglich handelt es
sich nur um einen geringen Unterschied. Das Verhaltniss der Ge-
sammtphosphorsaure zum Gesammtstickstoff ist vorher = 1:6,6, nach-
her = 1:7, d. h. in beiden Fallen normal
Alle diese Analysen zeigen, dass nur die erste Harnportion
fiir den hysterischen Anfall charakteristisch ist, denn in derselben
findet sich eine bedeutende Verminderung aller festen Be¬
standtheile und hauptsachlich eine Herabsetzung derPhos-
phorsaure selbst und ihres Verhaltnisses zum Gesammtstick¬
stoff; ausser den sch on ausserlichau f fallen den Veranderungen
der Farbe, der Menge und des specifischen Gewichts.
Ausserdem beweisen die Analysen, dass die Inversion der Phosphat-
formel im Gegensatz zu der Behauptung von Gilles de laTourette
und Cathelineau nicht immer vorkommi Uebrigens betonen die
genannten Autoren anlasslich einiger Erwiderungen auf ihre Behaup¬
tung von der Umkehr der Phosphatformel, dass ffir den hysterischen
Urin alle Veranderungen desselben gleichzeitig mit der Umkehr
der Phosphatformel charakteristisch seien.
Alle Veranderungen des Urins unseres Kranken weisen also auf
einen hysterischen und nicht auf einen epileptischen Anfall hin, im
letzteren Fall hatten wir gerade entgegengesetzte Resultate zu erwarten.
Ungeachtet der epileptoiden Phasen, der Aehnlichkeit derselben mit
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Vertigo auralis hysterica.
207
der Epilepsie und der Zungenbisse sehen wir uns genothigt, den
hysterischen Charakter der Anfalle ftir unbestreitbar zu halten. 1 )
Bei Betrachtung der kleinen Anfalle oder der bysterischen Aura
mlissen wir gestehen, dass die Aura den Charakter des Meniere’schen
Schwindels tragt und zwar in sehr ausgepragtem Maasse, denn ausser
dem Schwindel, dem Ohrensausen, dem mitunter beobachteten Er-
brechen bestanden Drehbewegungen des Korpers um die verticale Axe
stets nach links hin. Die otoskopische Untersuchung und das positive
Resultat des Weber- und Rinne'schen Versuches beweisen wohl eine
Unversehrtheit des leitenden Apparats und ein Fehlen organischer
Erkrankungen des innern Ohres. Die linksseitige Herabsetzung des
Gehors und der knochernen Leitungsfahigkeit miissen wohl als Theil-
erscheiuung der linksseitigen Hemianasthesie unseres Patienten be-
trachtet werden.
Auf Grund dieser Ueberlegungen und der Annahme, dass die An¬
falle unseres Kranken zweifellos hysterischen Ursprungs sind und dass
die Aura nur eine Theilerscheinung des grossen hysterischen Anfalls
ist, diirfen wir schliessen, dass es sich liier um eine vertigo auralis
hysterica oder einen pseudomeniereschen Anfall nach Frankl-
Hochwart handelt.
Aehnliche Beobachtungen sind, soviel mir bekannt, nur zweimal
in der Literatur veroffentlicht worden. Gilles de la Tourette be-
schreibt einen solchen Fall als attaque hysterique a forme de vertige
de Meniere; die Kranke war Gegenstand einer klinischen Vorlesung
Charcot’s am 24. Mai 1887. Die Patientin, eine Hysterica, litt an
Ohrensausen rechts mit Pfeifen und Schwindel, manchmal mit Er-
brechen. Der Schwindel war so heffcig, dass Patientin mitunter hin-
stiirzte; einmal Nachts fiel sie sogar aus dem Bett. Sie fiel immer
nach rechts hin; auf dieser Seite war sie hemianasthetisch und hemi-
paretisch. Der Anfall endete mit Weinen. Die Untersuchung des
Ohrs und des Allgemeinzustandes wies zweifellos auf den hysterischen
Charakter der Storung hin.
Ein zweiter, weniger klarer und lehrreicher Fall (Halischek’s)
wird von Frankl-Hochwart 2 ) in seiner Arbeit fiber den Meniere-
schen Symptomencomplex mitgetheilt. Eine 28jahrige Kranke mit
schwerer neuro- und psychopathischer Belastung litt an anfallsweisem
Schwindel, Ohrensausen und Erbrechen (vom 10. bis zum 12. Lebens-
jahre). Im Alter von 28 Jahren stellte sich plotzlich Nachts Schwindel
ein, das Bett drehte sich, wahrend in den Ohren ein solches Gerausch
1) Auch die vergeblichen therapeutischen Versuche mit grossen Bromgaben
bestatigen wohl unsere Annahme.
2) 1. c. 8. 31.
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208
XII. Rybalkin, Vertigo auralis hysterica.
war, dass die Kranke kaum verstand, was man ihr sagte; ausserdem
traten Gehorshallucinationen auf, deren sich Patientin in der Folge
erinnerte. Die Resultate der Untersuchungen des Hams and des
Nervensystems waren negativ; das Gehor intact, keinerlei Veranderungen
des Gehorapparates.
Nur in diesen zwei Fallen scheint der hysterische Anfall unter
dem Bilde des Meniere'schen Schwindels aufgetreten zu sein. Bei
unserem Kranken traten die Meniere’schen Symptome entweder als
selbststandiger hysterischer Anfall, aber yon leichtem Typus, oder aber
als Aura des schweren hysterischen Anfalls auf.
Es mag noch darauf hingewiesen werden, dass unser Kranker auf
der Seite der Hemianasthesie und Hemiparese und der Herabsetzung
des Horvermogens haufig an Ohrensausen, Zugegossensein des Ohres
und anderen subjectiven Gehorsstorungen im Bereich der linken
Schlafengegend litt, woriiber er haufig klagte. Solche subjectiven
Empfindungen bei hysterischer Gehorsherabsetzung sind von Briquet,
Rosenthus, Desbroski 1 ) geschildert worden. Ausserdem hat unser
Patient am oberen Theil des linken Processus mastoideus eine hyste-
rogene Zone; Druck auf dieselbe bewirkt Auftreten einer hysterischen
Aura in der Form des Meniere’schen Schwindels oder mitunter auch
eines Anfalls der grande hysterie.
Wie oben erwahnt, konnte durch Augenschluss ein kleiner oder
pseudomenierescher Anfall experimentell bei unserem Patienten her-
vorgerufen werden. Als Ursache dieser Erscheinung konnen wir
die Ausschaltung eines das Gleichgewicht controlirenden Apparates
betrachten. Eine ahnliche Erscheinung beobachtete Bonenfant 2 ) bei
einem Meniere kranken: kaum schloss der Patient die Augen, so stellte
sich ein Schwindelanfall ein.
Ich will mich nicht bei der Erorterung der complicirten und
schwierigen Frage aufhalten, warum beim epileptischen Rrampfanfall
die einen Veranderungen im Urin beobachtet werden, wahrend beim
hysterischen Anfall mit einer epileptoiden, d. h. der EpUepsie durchaus
ahnlichen Phase, ganz andere chemische Umsetzungen im Organismus
vor sich gehen. Es mag nur auf die grosse Wichtigkeit der syste-
matischen Untersuchungen des Urins bei Krampfanfallen zweifelhafter
Provenienz auch in forensischer Beziehung hingewiesen werden. Die
Hamveranderungen in derartigen Fallen konnen einerseits be-
weisen, dass ein Anfall stattgefunden hat, und andererseits
entscheiden, welcher Art dieser Anfall gewesen ist
1) Gilles de la Tourette, 1. c. pag. 193.
2) Bonenfant, Reflexions sur les phenomfcnes nerveux etc. (Ann. d. ma¬
ladies de Poreille et du larynx. Paris 1882, cit. nach Frankl-Hochwart.)
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XIII.
Zur Lehre yon der multiplen selbstandigen
Gehimneryeimeuritis.
(Pall von Diplegia facialis combinirt mit Ophthalmoplegia externa.)
Yon
Dr. med. Carl v. Rad,
Nervenarzt in Ntirnberg.
Falle von neuritischer Gehirnnervenlahmung sind im Ganzen selten.
Jeder einzelne neue Fall darf besonderes Interesse beanspruchen und
der Veroffentlichung werth erscheinen. Am besten scbeidet man die
auf neuritischer Basis entstandenen Gehirnnervenlahmungen erstens
in solche, die in Verbindung mit allgemeiner Polyneuritis vorkommen,
und zweitens in die Formen, die ohne Betheiligung der spinalen Nerven
ais selbstandige Affection der cerebralen Nerven auffcreten.
Die Entstehungsursachen, welche zu einer Entziindung der Gehirn-
nerven ffihren, sind natiirlich genau die gleichen, wie die, welche eine
allgemeine multiple Neuritis der Extremitatennerven zur Folge haben.
Traumatische, infectiose, toxische und rheumatische Schadlichkeiten
spielen hier wie dort die gleiche Rolle. Langst schon bekannt ist,
dass die im Verlaufe der Diphtherie auftretende Polyneuritis mit
Vorliebe neben den Extremitatennerven die Augen-, Rachen- und Kehl-
kopfmuskeln zu ergreifen pflegt. Von der der infectiosen Form der
Polyneuritis nahestehenden Beri-Beri-Erkrankung steht ebenfalls fest,
dass sie Gehirnnerven sehr haufig befallt. Mit der erst in den letzten
2 Jahrzehnten verbesserten Kenntniss der neuritischen Erkrankungen
wurde erst bekannt, dass die Gehirnnerven sich auch an dem entzund-
lichen Process betheiligen konnen.
Was zunachst die Falle anbelangt, wo sich neben einer allgemeinen
Neuritis eine solche eines oder mehrerer Gehirnnerven findet, so weist
die Literatur, soweit sie mir zur VerfQgung stand, zahlreiche Beispiele
dafur auf. Da in der Arbeit von Minkowski 1 )*) die vor 1888 ver-
offentlichten Falle aufgeflihrt sind, so berGcksichtigte ich hauptsachlich
nur die im Laufe der letzten 10 Jahre erschienenen Arbeiten. Wenn
ich von der im Verlaufe einer Polyneuritis auftretenden Neuritis optica
*) Literatur s. am Schluss d. Art.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenhellkunde. XVII. Bd. 14
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210
Xin. v. Rad
oder retrobulbaris absehe, so fallt bei der Durchsicht der Literatur
auf, dass am allerhaufigsten der Nervus facialis ein- oder besonders
doppelseitig erkrankt ist. Derartige Falle wurden beschrieben von
Pierson 2 ), Eisenlohr 3 ), Oppenheim 4 ), Strube 5 ), Buzzard 6 ),
Savage 7 ), Targowla s ), Westphalen 9 ), Crocq 10 ), Stieglitz 11 )
und 2mal von v. Striimpell ,2 ) u. *3). Betheiligung des Opticus
ein- oder beiderseitig konnten unter Anderen nachweisenEichhorst 14 ) t
Lowenfeld 15 ), Remak ,6 ) t Lilienfeld 17 ), Thomsen ,8 ), Render 19 ),
Miura 20 ), Goldscheider 21 ), Fuchs 22 ), Jolly 23 ) und Schanz 24 ).
Ueber eine Betheiligung von motorischen Augennerven in Fallen
von Polyneuritis berichteten Hiller 25 ), Boeck 26 ), Pal 27 ), Schulz 28 ),
Lilienfeld 29 ) und Jolly 30 ). In dem Falle des letzterwahnten For-
schers waren neben beiden Abducentes noch beide Optici und Faciales
ergriffen. Mehrere Autoren, wie Leyden 31 ), Sorgo 32 ), Oppen¬
heim 33 ), Achard und Soupault 34 ) beschrieben ein Mitergriffensein
der Nn. vagi; es ist das eine ausserst ernste und lebensgefahrliche
Complication der Neuritis. Achard und Soupault konnten in ihrem
Falle die neuritische Degeneration des Nerven anatomisch nachweisen.
Ueber eine Betheiligung beider Nn. acustici berichtete Strtimpell l2 ).
Es kam in seinem Falle von alkoholischer Polyneuritis neben einer
Diplegia facialis zum Auftreten von beiderseitiger, rein nervoser Taub-
heit, die nach 3 Wochen vorttberging, um einem lange andauernden
Ohrensausen Platz zu machen (Neuritis acustica). Wahrend die neu¬
ritische Gehirnnervenlahmung in der Regel sich auf einen oder wenige
Nerven zu beschranken pflegt, konnten Roth 35 ) und Schlier 36 ) eine
Affection mehrerer Gehirnnerven nachweisen. In dem Roth’schen
Falle waren 6 verschiedene Nerven neuritisch afficirt, in dem durch
seinen Verlauf und seine haufigen Recidive interessanten Fall von
Schlier waren neben den Nerven der Arme und Beine der Opticus,
Abducens und Facialis der linken Seite, so wie der N. vagus ergriffen.
Ebenfalls um eine Lahmung mehrerer Gehirnnerven handelt es
sich in dem von Rossolimo 37 ) beschriebenen Falle. Bei seinem
Patienten hatte sich auf luetischem Boden und nach einer Erkaltung
eine multiple Neuritis entwiekelt, welche ausser einer Reihe von peri-
pherischen Spinalnerven die ersten Aeste der beiden Trigemini und
die beiden Nn. oculomotorii und trochleares betraf. Die Function
der inneren Aeste beider Oculomotorii blieb vollig erhalten. Wahrend
die Lahmungen der genannten Nerven vollig verschwanden, entwickelte
sich spater bei dem Patienten eine Tabes mit Myosis und Lichtstarre.
Dammron-Meyer 38 ) beobachteten im Verlaufe einer Polyneuritis das
Auftreten mehrerer Augenmuskellahmungen und waren im Stande, ihre
klinische Diagnose durch die anatomische Untersuchung zu bestatigen.
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Zur Lehre von der multiplen selbstandigen Gehinmervenneuritis. 211
Auf Bleiyergiftung konnte Mannaberg 39 ) seine 2 Falle von
Polyneuritis zurttckfQhren. Neben einer Affection an den Armen und
Beinen fand sich im ersten eine beiderseitige Neuritis optica, totale
rechtsseitige Oculomotorius- und Facialislahmung. In seinem 2. Falle
waren ausser beiden Optici der rechte Abducens und der linke Facialis
ergriflfen. Ich selbst hatte Anfang dieses Jahres Gelegenheit, 2 in
diese Gruppe gehorige Falle zu untersuchen. Bei einem 47jahrigen
Manne kam es zu einer Polyneuritis beider Arme und Beine, die sich
mit einer completen Ophthalmoplegia externa und Reizerscheinungen
im Bereiche des linken ersten Trigeminusastes verband. Im Laufe
der Behandlung erfuhren sowohl die Lahmung der Augenmuskeln,
als auch die schmerzhafte Schwache der Beine eine wesentliche Bes-
serung. Einen 2. Fall hatte ich Gelegenheit im hiesigen stadtischen
Krankenhause zu uutersuchen. Der Fall ist kurz folgender: Bei einem
jungen Maun entwickelte sich neben einer multiplen Neuritis der Arme
und Beine eine nur kurz bestehende Diplegia facialis, zu der sich im
weiteren Verlauf eine Neuritis des linken Opticus und eine Schwache
der Bulbamerven gesellte, die eine Erschwerung der Sprache und des
Schluckactes zur Folge hatten. Der Fall verlief sehr gtinstig.
Wahrend die in Verbindung mit Entztindung der Extremitaten-
nerven auftretende Gehirnnervenneuritis schon friiher zur Beobachtung
kam, wurde das selbstandige Vorkommen einer cerebralen entztind-
lichen Erkrankung der Gehirnnerven ohne Betheiligung der spinalen
mit wenigen Ausnahmen meist erst in den letzten Jahren be-
schrieben.
Falle von uncomplicirter ein- oder doppelseitiger Facialislahmung
auf neuritischer Basis beobachteten Althaus 40 ), Bregmann 41 ) und
Dejerine 42 ). In dem Hoffmann’schen 43 ) Falle kam es neben einer
Diplegia facialis zu einer Neuritis beider Optici und Acustici. Kauf-
mann 44 ) beschrieb eine neuritische Lahmung des linken Facialis und
linken Abducens, sowie des zweiten Astes des linken Trigeminus. Im
Verlaufe einer Leukamie konnte Eisenlohr 45 ) eine acute multiple
Neuritis der Bulbamerven beobachten. Ein weiteres interessantes
Beispiel ftir das Auftreten der Gehirnnervenneuritis ist die Beobachtung
von Moebius 46 ). Bei einem 20jahrigen Manne hatte sich in Folge
einer unzweifelhaften Erkaltung im Eisenbahncoupe gleichzeitig mit
starken reissenden Schmerzen in der rechten Seite des Gesichts,
welche nachher in eine Hautanasthesie des genannten Theiles tiber-
gegangen sind, eine vollstandige Lahmung aller ausseren Muskeln des
rechten Auges entwickelt, wahrend die Accomodation und Pupillen-
reaction intact geblieben sind.
14*
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212
XIII. V. fUD
Mobius ftthrt die Lahmung de9 rechten Trigeminus und die
Ophthalmoplegia externa auf eine rheumatische Neuritis zurfick.
Ueber das Befallensein zahlreicher Gehirnnerven berichtet uns die
Publication von v. Hosslin 47 ).
Es waren betroffen rechts der Nervus trigeminus und abducens,
die Chorda tympani und das Gaumensegel; auf der linken Seite der
Opticus, Trigeminus, Abducens, Facialis und Hypoglossus. Gleich-
zeitig bestanden Reizerscheinungen von Seiten des Nervus vagus. Der
Verlauf der Erkrankung war ein ausserst gttnstiger, indem nur die
Erblindung des linken Auges bestehen blieb und alle anderen Lah-
mungen sich vollig zurtickbildeten.
Besondere Beachtung verdient ferner die Abhandlung von Fla-
tau 48 ), der eine Neuritis des Facialis und Acusticus beobachten und
durch die anatomische Untersuchung bestatigen konnte. Ebenso
konnten Gibson und Turner 49 ) in ihrem Falle von linksseitiger
Oculomotoriuslahmung post mortem eine hamorrhagische Neuritis
nachweisen.
Einige Falle fand ich in der Literatur beschrieben, wo die M5g-
lichkeit einer neuritischen Genese der Lahmungen zwar nicht aus-
drttcklich erwahnt, aber doch nicht ganz von der Hand zu weisen war.
So beschreibt Mendel 50 ) einen Fall von multipler Hirnnervenlahmung,
die er beim vollstandigen Fehlen aller sonst daftir verantwortlich zu
machenden Ursachen als eine rheumatische bezeichnet. Betroffen waren
der linke Oculomotorius und Facialis. Der Verlauf war ein sehr
gfinstiger. Beachtenswerth ist, dass der Lahmung Schmerzen und all-
gemeines Uebelsein vorausgingen.
Aus dem gleichen Jahre stammt eine Veroffentlichung von Uht-
hoff 51 ), der drei Falle von doppelseitiger Accomodationslahmung in
Folge von Influenza beschreibt
Der eine Fall, auf den ich besonders hinweisen mochte, war com-
plicirt durch eine Ophthalmoplegia externa und Parese der Schlund-
muskeln und des Gaumensegels. Heilung trat nach wenigen Wochen
ein. Uhthoff weist auf die Aehnlichkeit der beschriebenen Erschei-
nungen mit denjenigen bei postdiphtheritischer Lahmung hin.
Bunzel 52 ) beschreibt endlich noch eine Lahmung der Augen-
muskeln bei Polyarthritis. Da mir die Arbeit nur im Referat zugang-
lich war, vermag ich nichts Naheres daruber anzugeben. Jedoch liegt
bei den innigen Beziehungen, die zwischen der arthritischen Diathese
und der Neuritis bestehen, die Moglichkeit einer neuritischen Ent-
stehung der Lahmungen nahe.
Nach dieser Literaturiibersicht, die auf Vollstandigkeit keinen
Anspruch machen kann, da mir die einzelnen Zeitschriften und Ab-
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Zur Lehre von der multiplen selbstandigen Gehirnnervenneuriti8. 213
handlungen nur in beschranktem Maasse zuganglich waren, mochte ich
nun fiber einen selbst beobachteten Fall bench ten, der auf gewisses
Interesse Anspruch machen darf. Er ist ausgezeichnet durch eine auf
neuritischer Basis entstandene Diplegia facialis, zu der sich eine beider-
seitige Ophthalmoplegia externa mit Freibleiben des Levator palpe-
brae gesellt.
Der Fall ist kurz folgender:
B. E., 14j&hriger Kaufmannslehrling, stammt aus einer durchaus ge-
sunden, mit Nervenkrankheiten nicht belasteten Familie. Mit 8 Jahren litt
er, wie aus einem Bericht des damals behandelnden Arztes zu ersehen ist,
an einer sehr schweren tuberculosen Cerebrospinalmeningitis, die wider Er-
warten in Genesung ausging. Seit jener Erkrankung will Pat. das linke
Auge nicht mehr vfillig scbliessen konnen und bleibe beim Schlafen eine
kleine Spalte offen. Sonst sei nicht die geringste Stfirung in der Beweg-
lichkeit der linken Gesichtshftlfte zurtickgeblieben. (Die Angaben des Pat.
und die seiner Eltern gehen fiber diesen Punkt recht auseinander.) Ende
Mai 1899 traten ohne nachweisbare Ursache plotzlich sehr heftige Schmerzen
hinter beiden Ohren auf, die in beide Gesichtshfilften ausstrahlten. Etwa
14 Tage darauf bemerkte Pat. eine sehr stark behinderte Beweglichkeit
beider Gesichtshfilften. Augenschluss, Stirnrunzeln, Lachen, Pfeifen, Ver-
ziehen des Mundes warden unmoglich. Auch stellte sich Doppeltsehen beim
Blick nach rechts aussen ein. Pat. begab sich deshalb in die Behandlung
des Augenarztes Herrn Dr. v. Forster, welcher die grosse Freundlich-
keit hatte, mir den Fall zur weiteren Behandlung zu uberweisen. Es ist
mir eine angenehme Pflicht, Herrn Dr. v. Forster bestens daffir zu
danken.
Bei der am 20. Juni 1899 vorgenommenen Untersuchung ergab sich
folgender Befund:
Es besteht beiderseitige Facialislfihmung mit Betheiligung sfimmtlicher
Aeste. Am st&rksten sind die Stirnaugen&ste, am schwfichsten die Unter-
kieferfiste befallen.
Das Gesicht ist ausgesprochen maskenartig, vSllig starr, jede mimische
Bewegung in demselben ist erloschen. Die reflectorische Erregbarkeit ist
vfillig aufgehoben. Druck auf die Austrittsstellen beider Nn. faciales hinter
den Ohren am Foramen sty lorn astoideum sowie an den einzelnen elektrischen
Reizpunkten der Nerven wird als sehr schmerzhaft empfnnden.
Die schon normaler Weise bestehende Empfindlichkeit bei elektrischer
Reizung des Facialis ist so sehr gesteigert, dass die elektrische Unter¬
suchung fiusserst schmerzhaft und sehr erschwert ist. (Eine Anschwellung
der Nerven ist nirgends ffihlbar.)
Die mechanische Erregbarkeit der Gesichtsmuskeln ist gesteigert. Das
Beklopfen derselben wird als schmerzhaft angegeben.
Die elektrische Untersuchung ergiebt deutliche Entartungsreaction, die
Erregbarkeit vom Nerven aus ist fast erloschen, bei directer galvanischer
Reizung erfolgen trfige Muskelzuckungen und fiberwiegt die ASZ fiber die
KSZ. Mit dem faradischen Strom sind die Muskeln nicht erregbar.
Gaumensegel und Geschmack sind vfillig intact.
Es besteht keine Hyperacusis.
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214
XUI. v. Rad
Im Bereiche des Trigeminus keine Storting.
Angenbefnnd. Es besteht rechtsseitige Abducenslahmung mit den da-
ftir charakteristischen Doppelbildern.
Die iibrigen Augenbewegnngen sind frei.
Die Pupillen sind gleich und von mittlerer Weite, reagiren gut auf
Licbt und Convergenz.
Augenhintergrund normal bis auf etwas starker gefiillte Venen.
Die Untersuchung des iibrigen Nervensystems ergiebt normale Ver¬
bal tnisse. Von Seiten der Extr emit aten nerven besteben keinerlei krankhafte
Erscheinungen.
Die Untersuchung der Brust- und Bauchorgane ergiebt ausser einer
leichten Abschwachung des Schalles auf der linken Lungenspitze beim
Feblen auscultatorischer Erscheinungen durchaus normale Verhaltnisse.
Der Urin ist frei von Eiweiss und Zucker.
Der weitere Verlauf gestaltete sich folgendermassen: Die Diplegia
facialis blieb vorerst unverandert bestehen, dagegen trat am 25. Juni eine
Labmung des linken Abducens auf; zu der sich am 27. Juni eine solcbe
beider Mm. interni, sowie beider Nn. trochleares gesellte. Es kam also
zu einer Ophthalmoplegia externa. Die Beweglichkeit beider Bulbi war
nach alien Richtungen hin sehr betrachtlich eingeschrankt. Der Levator
palpebrae blieb beiderseits frei, die Reaction auf Licht, sowie die Mdglich-
keit, zu accomodiren, blieben erhalten. Von den ausseren Augenmuskeln
waren am starksten diejenigen betroffen, die den Bulbus urn die verticale
Axe drehen. Von den um die borizontale Axe drehenden Muskeln waren
die Senker starker paretisch als die Heber.
Mitte Juni besserte sich die Excursionsfahigkeit der Bulbi etwas,
namentlich functionirten die Mm. interni besser. Die sehr lastigen Doppel-
bilder bestanden noch fort.
In der beiderseitigen Mundmusculatur wurde die Beweglichkeit etwas
besser, die iibrigen vom Facialis versorgten Muskeln blieben noch vollig
starr. Es bestand ausgesprochene Entartungsreaction. Die Scbmerzhaftig-
keit der Nerven und Muskeln wurde geringer.
Ende Juni war die Beweglichkeit der Bulbi eine weit bessere ge-
worden, die Heber und Senker, sowie die Einwartswender waren fast normal,
eine nennenswerthe Behinderung der Beweglichkeit bestand nur mehr in
den Mm. externi.
Die Beweglichkeit des Mundes war ebenfalls eine weit bessere ge-
worden, namentlich auf der rechten Seite, sonst blieb der Befund unver¬
andert. Es bestand noch vbllige Entartungsreaction, nur im Bereiche des
Mundfacialis wurden die Zuckungen etwas besser, ohne jedoch ihren tragen
Charakter ganz zu verlieren. Die Schmerzhaftigkeit der Nerven auf Druck
war nun fast v511ig verschwunden.
Mitte August waren die Augenbewegnngen ganz frei, die Doppelbilder
bestanden noch fort. Die Beweglichkeit des Gesichtes hat sich auch ge-
bessert. Vdllig unbeweglich war nur mehr die Stirn.
Pat. konnte rechts lachen und gut den Mund verziehen, links nur an-
deutungsweise. Bei galvanischer Reizung des Nerven Hess sich beiderseits
eine schwache, aber doch deutliche Zuckung auslosen, bei directer Reizung
zeigten die Muskeln nicht mehr so tragen Charakter und war die KSZ =
ASZ. Faradisck waren die Muskeln weder direct noch indirect erregbar.
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Zur Lehre von der multiplen selbstandigen Gehimnervenneuritis. 215
Erst Anfang September trat nun eine wesentliche Besserung der Be-
weglichkeit der gesammten Gesichtsmusculatur ein, die mit einer Besserung
der elektrischen Erregbarkeit einherging.
Bei Zunahme der directen und indirecten galvaniscben Erregbarkeit
waren auch mit dem faradischen Strom schwache Muskelzuckungen aus-
zulosen.
Im weiteren Verlauf trat eine stetig zunehmende Besserung ein, so
dass Anfang October Pat. als vollig geheilt betrachtet werden konnte.
Am 10. October konnte ich folgenden Befund aufnehmen:
Die Augenbewegungen sind vollig frei. Es bestehen keine Doppel-
bilder mehr. Die Gesicbtsmuskeln sind beiderseits recht gut beweglich.
Pat. vermag alle ihm aufgegebenen Bewegungen, wie Augenschliessen,
Naserumpfen, Z&hnezeigen, Lachen, den Mund nach der Seite verziehen,
prompt und gut auszufuhren. Seine Gesichtsbewegungen unterscheiden sich
in nichts mehr von denen eines Gesunden; nur klagt er iiber ein bei den-
selben auftretendes leichtes Gefiihl von Spannung im Gesicht.
Bei der elektrischen Untersuchung lassen sich vom Nerven aus mit
beiden Stromesarten schwache, aber doch keineswegs tr&ge Muskelzuckungen
auslosen. Bei ‘ Anwendung des galvanischen Stromes fallen die Zuckungen
besser aus als bei Eeizung mit dem faradischen. Die directe Muskelerreg-
barkeit ist fiir beide Stromesarten noch etwas berabgesetzt, doch erfolgen
iiberall kurze, kr&ftige Zuckungen, die nicht mehr wie friiker einen tragen,
wurstfbrmigen Verlauf zeigen, auch iiberwiegt die KSZ iiber die ASZ.
Die Behandlung bestand in Anfangs taglich, spater jeden zweiten Tag
vorgenommener Galvanisation der Nn. faciales und denen ihnen versorgten
Muskeln.
Resumiren wir kurz die wichtigsten Punkte des Krankheitsbildes,
so sehen wir bei einem 14jahrigen jungen Mann, der aus nicht be-
lasteter Familie stammt und ausser einer tuberculosen Cerebrospinal-
meningitis stets gesund war, ohne nachweisbare Ursachen plotzlich
sehr heftige, von beiden Ohren in die Gesichtshalften ausstrahlende
Schmerzen auftreten, denen nach 14 Tagen eine complete Lahmung
beider Facialisnerven sich anschloss. Fast gleichzeitig mit der Diplegia
facialis entwickelte sich eine rechtsseitige Abdueenslahmung, zu der
sich nach wenigen Tagen in rascher Aufeinanderfolge der einzelnen
Muskeln eine Lahmung sammtlicher ausseren Augenmuskeln, die nur
den Levator palpebrae verschont liess, gesellte. Es kam also zu einer
completen Ophthalmoplegia externa bei gut erhaltener Lichtreaction
und Accomodationsfahigkeit. In hohem Grade beaehtenswerth war
die ausgesprochene Schmerzhaftigkeit beider Nn. faciales sowohl an
ihren Austrittsstellen hinter dem Ohr, als auch in ihrer ganzen Aus-
breitung im Gesicht. Die spontan durch Druck noch zu steigernden
Schmerzen waren sehr heftige.
Die Lahmung trug einen ausgesprochen peripheren Charakter,
umfasste sammtliche Aeste der Nerven und ging mit Entartungsreaction
einher. Der weitere Verlauf der Erkrankung war ein ausserordentlich
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XIII. v. Rad
gtinstiger. Zuerst besserte sich die Lahmung der Augenmuskeln und
erst nach 3 Monaten die der beiden Gesichtsnerven. Nach 4V2 Mo-
naten war der ganze Process abgelaufen und vollige Heilung ein-
getreten.
Die Diagnose bot im vorliegendenFalle keine besonderen Schwie-
rigkeiten. Das acute, fast apoplectische Auftreten der bilateral ein-
setzenden Lahmungen, wie ganz besonders die initialen Schmerzen und
die sehr starke Druckschmerzhaftigkeit der Nerven und der von ihnen
versorgten Muskeln, so wie der ausgesprochen periphere Charakter
der Lahmung sprachen mit grosser Sicherheit fur eine neuritische
Affection.
Die weitere klinische Beobachtung, in deren Verlauf vollige Heilung
eintrat, konnte die gestellte Diagnose vollauf bestatigen.
Die einzelnen krankhaften Erscheinungen lassen sich ungezwungen
durch die Annahme einer entztindlichen Nervenaflfection erklaren. Die
neuritischen Cardinalsymptome waren namentlich wahrend der Ent-
wicklung des Leidens voll ausgepragt vorhanden. Erhebliche spontane
Schmerzen im Gesicht leiteten den Process ein, zu denen sich bald
eine betrachtliche Druckschmerzhaftigkeit im Bereiche der Gesichts-
aste der Nn. faciales gesellte. Das Auftreten von Schmerzen in einem
so rein der motorischen Leitung dienenden Nerven, wie dem Facialis,
ist wiederholt schon beobachtet worden. Es handelt sich eben um
eine Reizung der Nervi nervorum. Die centripetale Leitung des
Schmerzes erfolgt nach Remak wohl durch Anastomosen mit dem
N. trigeminus.
Dass die elektrische Reizung des entztindeten Facialis ftusserst
schmerzhaft ist, liegt auf der Hand. In manchen in ihrer Genese
zweifelhaften Fallen von Facialislahmung mag vielleicht eine sehr be-
trachtlich gesteigerte Schmerzhaftigkeit der elektrischen Untersuchung
einen Fingerzeig ftir die Natur des Processes abgeben, zumal wenn
es sich um Formen handelt, in denen die ubrigen neuritischen Sym-
ptome nur schwach oder gar nicht ausgepragt sind.
Die Lahmung selbst war ausgezeichnet durch das rasche, acute
Einsetzen, das ziemlich gleichmassige Befallensein aller Aeste, das
Erloschensein aller reflectorischen Bewegungen im Bereiche der ge-
lahmten Muskeln und durch die degenerativen Veranderungen der
Muskeln selbst.
Die Veranderungen der elektrischen Erregbarkeit, welche der Lah¬
mung auf dem Fusse folgten, bestanden in einer deutlichen Entartungs-
reaction mit zeitweiligem Verlust jeder indirecten Erregbarkeit ftir
beide Stromesarten. Ein Stadium einer initialen gesteigerten Nerven-
erregbarkeit kam nicht zur Beobachtung. Nach dem elektrodiagno-
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Zur Lehre von der muJtiplen selbstandigen Gehirnnervenneuritis. 217
stdschen Befund musste die Lahmung der Gesichtsnerven als schwere
bezeichnet werden. Mit Zunahme der regenerativen Vorgange besserte
sich auch allmahlich die elektrische Erregbarkeit. Nachdem ganz
langsam die Nervenerregbarkeit (und zwar zuerst die ftir den galva-
nischen Strom) zurtlckgekehrt war, yerschwand auch nach und nacb
die pathologische Reaction des Muskels. Doch muss im Auge behalten
werden, dass die Restitution der elektrischen Erregbarkeit wie fast
stets eine viel langsamere war, als diejenige der motorischen
Function.
Das Symptom der Anschwellung des entziindlich erkrankten Ner-
ven wurde im vorliegenden Falle vollig vermisst. Bei der recht ge-
schdtzten Lage der Gesichtsnerven war es auch nicht zu erwarten.
Beachtenswerth ist ferner noch der Umstand, dass bei dem Pa-
tienten im Anschluss an die tuberculose Meningitis, die er vor sechs
Jahren durchmachte, eine leichte Parese des 1. Orbicularis zurtick-
geblieben war. Es ist also der linke Facialis zweimal von einer Lah¬
mung befallen worden. Intetessant ist nun, dass die im Anschluss an
die zweite Lahmung eingetretenen regenerativen Veranderungen auch
die Fasem des Augenfacialis wieder functionstuchtig machten, die bei
der ersten Erkrankung lange Jahre geschadigt blieben.
Was nun den Augenbefund anbelangt, so haben wir hier das
Bild einer Ophthalmoplegia completa mit Verschontbleiben des Levator
palpebrae vor uns. Accomodation und Lichtreaction blieben vollig
intact. Die Lahmung aller ausseren Augenmuskeln, die eine vollige
Unbeweglichkeit der Bulbi zur Folge hatte, ist zuruekzuflihren auf
eine Affection einzelner Fasern der beiden Oculomotorii, sowie beider
Nn. abducentes und trochleares. Ueber die Moglichkeit des Auftretens
einer partiellen Lahmung des Oculomotorius, welche bei Erhaltung
der Function der inneren Augenmuskeln nur die die ausseren inner-
virenden Faserbtlndel des Nerven betrifft, ist von ophthalmologischer
und neurologischer Seite schon viel discutirt worden. Wahrend
Mauthner hauptsachlich die Meinung vertritt, dass eine derartige
Differenzirung der Symptome bei Wei tern leichter ihre Erklarung in
der Annahme einer nuclearen Affection finde, sprechen andere Forscher
dieses Vorkommen auch peripheren Aflfectionen des Nerven zu. Ich
glaube, dass mein Fall zur Sttitze der letzteren Anschauung verwerthet
werden darf.
Granz abgesehen von der gleichzeitig in Erscheinung getretenen
zweifellos neuritischen Diplegia facialis spricht schon das so acute
bilaterale symmetrische Einsetzen der Lahmungen und das vollige Ver-
schwinden derselben innerhalb kurzer Zeit gegen das Bestehen einer
nuclearen Affection. *
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Xin. y. Rad
Irgend welche cerebralen AllgemeinerscheinuDgen, die bei Herden
in der Kernregion der Gehirnnerven ja doch auf die Dauer nie fehlen,
kamen auch nie zur Beobachtung. Es lasst also der ganze Verlauf und
insbesondere die Rticksicht auf die gleichzeitige neuritische Gesichts-
lahmung keine andere Deutung zu, als dass die Ophthalmoplegia externa
auf eine neuritische Affection der motorischen Augennerven zurftck-
zufiihren ist. Dieses elective Verhalten der Lahmung des Oculomo-
torius ist durch die Annahme einer neuritischen Affection gut zu er-
klaren. Denn gerade bei der Neuritis von Spinalnerven sehen wir oft
diese Diflferenzirung der Lahmungssymptome auftreten, so dass oft bald
mehr oder weniger, ja oft ausschliesslich die motorischen oder sensiblen
Fasern eines Nerven erkrankt sind.
Von den eventuell diflferentialdiagnostisch in Betracht kommenden
Erkrankungen ware in erster Linie zu erwahnen eine luetische Basal-
meningitis oder specifische Neuritis der Gehirnnerven. Ganz abgesehen
davon, dass die Anamnese keinerlei Anhaltspunkte ffor eine hereditare
Lues und nur um eine solche konnte es'sich handeln, ergiebt, spricht
schon das vollige Fehlen aller cerebralen Erscheinungen, die wir bei
diesen luetischen Erkrankungen nie vermissen, dagegen. Wenn auch
im Verlaufe der Hirnlues Schwankungen haufig vorkommen, so ist
doch eine vollige Heilung ohne jede specifische Therapie ein ausserst
seltenes Vorkommniss.
Gegen basale Tumoren, die ja ebenfalls multiple Hirnnervenlah-
mungen zur Folge haben konnen, spricht in erster Linie der gfinstige
Verlauf, auch musste in einem solchen Falle der hart neben dem
Facialis liegende N. acusticus mitbetroflfen sein; auch ware es dann
schwer zu verstehen, wie der zwischen den befallenen Nerven liegende
N. trigeminus hatte frei bleiben konnen.
Die Aetiologie ist mir im vorliegenden Falle unklar. Ob der
tuberculosen Diathese irgend welche ursachliche Bedeutung zugemessen
werden darf, mochte ich unentschieden lassen. Im Allgemeinen sehen
wir die tuberculose Neuritis meist nur bei sehr heruntergekommenen,
kachektischen Individuen auftreten. Sie ist dann mehr eine Folge des
Marasmus, als der Infectionskrankheit selbst Diphtherie muss eben¬
falls ausgeschlossen werden. Da auch keine nachweisbare Erkaltung
vorausgegangen ist, muss die Frage nach der Entstehungsursache often
gelassen werden.
Die Prognose der Gehirnnervenneuritis entspricht im Allgemeinen
natiirlich derjenigen der allgemeinen Polyneuritis. Sie ist abhangig
von der besonders nach dem elektrodiagnostischen Befund zu beur-
theilenden Schwere der degenerativen Veranderungen.
Im Grossen und Ganzen glaube ich, darf man die Prognose in
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Zur Lehre von der multiplen selbstandigen Gehirnnerven neuritis. 219
solchen Fallen gtinstig stellen. Die Mehrzahl der in der Literatur
beschriebenen Falle nahm einen gunstigen Verlauf. Eine Ausnahme
machen natiirlich die Falle, die mit einer Erkrankung des N. vagus
einhergehen. Jedenfalls bietet die multiple Gehirnnervenlahmung auf
neuritischer Basis gegeniiber alien anderen Erkrankungen, welche zu
einer Lahmung mehrerer Gehimnerven fiihren, die weitaus beste Pro¬
gnose. Die Moglichkeit eines Recidivs muss natiirlich im Auge be-
halten werden.
Die Therapie wird meist eine rein symptomatische sein mttssen.
Gegen die initialen Schmerzen werden feuchtkalte oder feuchtwarme
Umschlage empfohlen. Mir hat sich als schmerzlindemd sehr die
Anodengalvanisation bewahrh
Die Hauptsache bleibt natiirlich eine regelmassig und langere Zeit
fortgesetzte elektrische Behandlung der gelahmten Muskeln und Nerven.
Am meisten mochte ich den galvanischen Strom empfehlen, der fara-
dische ist namentlich im Anfangsstadium zu schmerzhaft und, so lange
bei faradischer Reizung keine Zuckung ausgelost werden kann, ist auch
eine faradische Behandlung zwecklos. Sobald eine Spur von Beweg-
lichkeit vorhanden ist, veranlasse ich meine Kranken mit Gesichts-
lahmung selbstandig vordem Spiegel Bewegungsversucheund Uebungen
anzustellen.
Literatur.
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XIV.
Ueber eine Affection der Varol’schen Brtlcke mit bilateraler
Lahmung der willktlrlichen Angenbewegnngen, Zwangs-
lacben und Zwangsweinen, sowie frtlhzeitiger Atrophie
der rechtsseitigen Unterschenkelmnskeln.
Von
Professor Dr. W. t. Bechterew
in St. Petersburg.
Die Affectionen des Pons Varolii sind sowohl nach der klinischen
wie nach der diagnostischen Seite hin noch vielfach in Dunkel ge-
hhllt Folgender Fall scheint uns der Beachtung und eingehenden
Darstellung nicht unwerth zu sein.
•
Patient K, 28 Jahre alt, seines Zeichens Gaukler, nnverheirathet, wird
am 12. October 1893 wegen anfgetretener rechtsseitiger Hemiplegie in das
Hospital anfgenommen. Von dem Assistenten B. J. Worotynski konnten
folgende anamnestische Angaben ernirt werden: Heredit&re Belastnng nicht
vorhanden, nur war der Vater dem Trunke ergeben. Im Jahre 1886
syphilitische Infection von sehr schwerem Verlaufe. Seit seinem 13. Jahre
trinkt Pat. Branntwein. Vor der gegenw&rtigen Erkrankung hat Pat. durch
vier Monate fast nnnnterbrochen and in grossen Mengen getranken. Schon
seit mehreren Jahren bestehen Kopfschmerzen. Am 11. April warde Pat.
in der Ambulanz, die er behufs antisyphilitischer Qnecksilberinjectionen
anfsnchte, schwindelig; er ftusserte dabei den Wunsch, geschiittelt zu
werden, and es trat auch thats&clilich eine Bessernng des subjectiven Be-
findens danach ein, doch begab sich Pat. trotzdem, ohne seine Eeihenfolge
abgewartet zu haben, nach Haase. Wahrend er am Aasgange des Spitales
seine Gummischuhe anzog, bemerkte Pat, dass sein rechtes Bein nicht in
Ordnnng sei; er wiinschte nan schleunigst nach Haase und masste, da
keine Droschke zu finden war, den Weg zu Fusse zuriicklegen. Unterwegs
stellte sich wieder Schwindel ein, der erst voruberging, nachdem Pat. sich
eine Zeit lang an eine Maner gelehnt hatte. Schliesslich gelang es ihm,
seine Wohnung zu erreichen, wo er mit Kopfschmerzen and Schwindel sich
ins Bett legte. Mehrere Mai stand Pat. auf and ging im Zimmer umher,
obwohl sein rechtes Bein and rechter Arm bereits schwach waren. Gleich-
zeitig bemerkte Pat., dass seine Zunge zu lallen begann. Am Abend suchte
Pat. endgiiltig das Bett auf and konnte alsbald feststellen, dass er weder
sein rechtes Bein, noch seinen rechten Arm zu be wegen im Stande war und
dass seine Zunge noch mehr lallte. Mit Anstrengang vermochte Pat. jedoch
noch einige Worte hervorzubringen. Das Bewusstsein ging keinen Augen-
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222
XIV. v. Bechterew
blick verloren. Am anderen Tage wurde Pat. in das Hospital gebracht,
wo er folgendes Bild darbot:
Pat. von mittlerer Kbrpergrosse, befriedigendem Ernahrungszustande,
mit blassen Hautdecken nnd Schleimhauten, Puls 80. Es besteht Stuhlver-
stopfung. Herz und Lungen ohne Ver&nderungen. Pupillen massig er-
weitert, die linke etwas starker als die rechte, Reaction regelrecht; beide
Augen konnen vollstandig gescblossen werden, die Lider senken nnd heben
sich frei. Der rechte Mundwinkel kaum merklich herabgesunken, die rechte
Nasolabialfalte etwas verstrichen. Pat. kann pfeifen, aber nur mit Mhhe.
Die Zunge weicht nach rechts ab, ohne Zittern. Uvula und Gaumenbogen
ohne Veranderungen. Pat. kann sein rechtes Bein und seinen rechten Arm
fast gar nicht bewegen. Beiderseits der Patellarreflex erhbht, der linke
starker als der rechte. Ebenso erscheint der Achillessehnenreflex links
etwas lebhafter, als rechts. Die Ellenbogenreflexe ohne wesentliche Ver¬
anderungen. Die Functionen der Beckenorgane normal. Schon am zweiten
Tage trat eine erhebliche Restitution der Motilitat ein und der Kranke ver-
mochte nun sich auf den Beinen aufrecht zu halten. Jedoch war die Kraft
im rechten Arm immer noch erheblich schwacher als im linken, die Finger-
bewegungen rechts sehr beschrankt, und Pat. kann mit der rechten Hand
weder kleinere Gegenstande fassen, noch schreiben. Der Gang des Kranken
paralytisch, das rechte Bein wird stark nachgeschleppt und jeder Schritt
mit Miihe ausgefiihrt. Sprache undeutlich, abgebrochen, mit Ueberspringung
von Buchstaben. Dabei Neigung zu unmotivirtem Lachen. Therapeutisch
werden Jod- und Bromkali zu innerlicher Anwendung verordnet.
15. April. Pat. klagt tiber Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen. Be-
sonders beim Husten giebt Pat. an, heftigen Schmerz im Kopfe und zwar
in der Hinterhauptgegend zu empiinden. Die paralytischen Erscheinungen
haben sich in diesen Tagen noch etwas gesteigert. Pat. kann etwas freier
sprechen, wiewohl noch immer Buchstaben und Silben iibersprungen werden,
und man ihn nur mit Miihe verstehen kann. Die Parese des rechten Facialis
ist noch wahrnehmbar, aber nur in geringem Grade. Die Muskelkraft der
rechten Hand ist noch auffallend geschw&cht. Pat. vermag bereits zn
schreiben, wenn er sich Miihe giebt, die Worte werden richtig und ohne
Auslassungen mit zitternder Handschrift wiedergegeben. Auf den Beinen
halt Pat. sich etwas freier und geht etwas besser. Das linke Auge da-
gegen bewegt sich lateralwarts nur bis zur Mittellinie, die iibrigen Beweg-
ungen des Bulbus sind vollig frei. Infolge dieser Abducenslahmung
erscheinen dem Pat., wenn er nach links sieht, die Gegenstande doppelt,
doch kann er, wenn er ein Buch gerade vor sich halt, ungehindert lesen.
Beim Essen verschluckt sich Pat. Er glaubt selbst, das Schlucken sei bei
ihm nicht ganz in Ordnung, da der Bissen gewissermassen beim Schlucken
etwas stecken bleibe. Die Sehnenreflexe verhalten sich wie friiher; Fuss-
sohlenphanomen nicht vorhanden; die einfache Muskelerregbarkeit nicht er-
hoht. Bei der Percussion des Kopfes hat Pat. heftige Schmerzen in der
linken Seite des Hinterhauptes, etwas hinter dem Processus mastoideus.
Auch spontan stellen sich in dieser Gegend zeitweilig Schmerzen ein.
Eine Auftreibung des Knochens in der erwahnten Gegend ist nicht wahr¬
nehmbar. Pat. erinnert sich jetzt, bereits mehrere Tage vor der gegen-
wartigen Erkrankung dumpfe Schmerzen im Kopfe und unmittelbar vor dem
Anfalle einen ganzen Tag hindurch Stiche in der linken Hinterhaupt-
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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 223
gegend gef&hlt zu haben. Zwangslachen tritt jetzt in vermindertem
Grade auf.
16.—17. April. Klagt iiber heftige Schmerzen im unteren Theile des
Hinterliauptbeines links vom Foramen magnum. Hier besteht Schmerzhaftig-
keit auch bei der Percussion und gegen Druck. Die L&hmungserscheinungen
von Seiten des rechten Facialis haben merklich nachgelassen. Leichte Atro-
phie der linken Haifte der Zunge ist wahrnehmbar. Beim Hervorstrecken
der Zunge weicht das Corpus linguae nach rechts ab. die Spitze nach links.
Die linke Pupille nach wie vor etwas weiter als die rechte. Sehnenreflexe
wie friiher. Stuhlverstopfung.
21. April. Nach mehrfachen Abfiihnmgen sind jetzt weder Kopf-
schmerzen noch Percussionsempfindlichkeit am Kopfe vorhanden. Sprache
und Gang besser. Kniereflexe ihrer Intensit&t nach fast vollig gleich auf
beiden Seiten. Klagen iiber Stiche im rechten Schultergelenke.
22. April. Es besteht von Neuem etwas Schmerzhaftigkeit bei der Per¬
cussion der linken Hinterhauptsh&lfte. Temperatur Nachts auf 38,2° ge-
stiegen. Der rechte Patellarreflex heute bereits erhoht im Vergleich mit
dem linken. Im Uebrigen der Zustand unver&ndert.
23. April. Klagen iiber Schwere im Kopfe und Schmerzen in den
Augen. Knie- und Achillessehnenreflex rechts noch starker erhdht; rechts
ist Fussclonus aufgetreten.
26. April. Die Sprache deutlicher, wiewohl noch merklich behindert;
Gang ziemlich frei. Die Muskelkraft der rechten Hand nimmt zu.
Rechts deutlich ausgepr>es Fussph&nomen. Die Lahmung des rechten
Abducens gegen friiher unver&ndert. Klagen iiber Stechen in den Augen
und Schmerzen im Hinterhaupte. Letzteres ist bei Percussion noch schmerz-
haft, aber weniger als friiher.
Der Kranke musste an diesem Tage wegen privater Angelegenheiten
das Hospital verlassen. Am 8. Mai, also nach weniger als 2 Wochen, liess
sich Pat. wegen eines neuen Anfalles wieder aufnehmen. Dieser Anfall hat
sich nach Aussage der Mutter des Pat. allm&hlich eingestellt. Es war ganz
zuerst Schwere im Kopfe mit Kopfschmerzen, besonders in der Hinterhaupts-
gegend, eingetreten. In der Nacht vom 6. auf den 7. Mai hatte der Korper
zu zittern begonnen, krampfhafte Zuckungen hatten sich in beiden Armen
eingestellt, urn sp&ter auch auf beide Beine iiherzugehen. Gleichzeitig war
Steifheit der Zunge zu bemerken gewesen. Die Augen waren dauernd
offen und nach vorne gerichtet. Das Bewusstsein war keinen Angenblick
getriibfc. Gegen Morgen begannen die Krampfe nachzulassen, doch konnte
der Kranke bereits kein Wort hervorbringen und ebenso die rechtsseitigen
Gliedmassen nicht bewegen. Am Tage nach der Wiederaufnahme in das
Krankenhaus stellte der ordinirende Anstaltsarzt folgende Erscheinungen an
dem Kranken fest: Pat. liegt auf dem Riicken, sein Blick ist ins Unbe-
stimmte gerichtet; die Augen weit geoffnet, unheweglich, sehen geradeaus.
Pupillen etwas erweitert, gleichmassig, reagiren schwach auf Licht. Rechts-
seitige Facialisparese mit Betheiligung des oberen Astes; nur mit Miihe
blast Pat. die Wangen auf und vermag sie in dieser Stellung nicht fest-
zuhalten; die Zunge kann nur bis zum Rande des Zahnbogens vorgestreckt
werden. In der Mundhohle ist die Zunge nach rechts gekrummt. Die
Z&hne kann Pat. nicht zeigen. Pat. vermag kein Wort hervorzubringen.
Das zu ihm Gesprochene versteht er gut. Pat. ist fast best&ndig aufge-
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XIV. v. Bechterew
regt und weint. Die Bewegungen der A u gap fel nach oben and unten Bind
vbllig frei. Bei Annaherung des fixirten Gegenstandes weichen die Angen
nach innen ab nnd die Pupillen verengern sich dabei merklich; nach rechts
und links aber sind keine Augenbewegungen mbglich. Auch kann jedes
Auge fur sich bei Schliessung des zweiten sich weder nach rechts, noch
nach links bewegen. Complete rechtsseitige Hemiplegie der Extremitaten.
Pat. kann weder mit dem rechten Arm noch mit dem rechten Bein irgend
eine Bewegung machen. Das rechte Bein zeigt Erscheinungen von Exten-
sionscontractur, es ist gestreckt und der Fuss befindet sich im Zustande
der Plantarflexion. Die Sensibilitat iiberall erhalten, mit Ausnahme des
linken Armes, wo sie merklich herabgesetzt erscheint. Links bieten die
Extremitaten ebenfalls Erscheinungen von Muskelparese dar. Vollstandige
Retentiourinae und eine Obstipation, die keinem Laxans weichen wilL
Bauchreflexe schwach. Patellarreflexe auffallend erhbht, besonders rechter-
seits; dieser Reflex wird rechts von einem Erzittern der ganzen Extremitat
begleitet. Deutlich ausgesprochenes Fuss- und Kniescheibenphanomen beider-
seits, rechts etwas starker. Der Puls massigvoll, beschleunigt, bis zu 100
in der Minute. Athmung ungleichmassig und rauh, 24 in der Minute. Der
Kranke vollfiihrt bestandige Husten- und Exspirationsbewegungen, begleitet
von einen besonderen, stohnenden Gerausch. Schmerzhaftigkeit bei Percussion
des Hinterhauptes links.
10.—13. Mai. Die nahere Untersuchung ergiebt, dass die Parese des
Antlitzes sich nicht auf die rechte Seite allein beschrankt, sondern sich auch
auf die linke Seite erstreckt, infolge dessen der Kranke einige Bewegungen,
wie Zahnezeigen, Seitwartsziehen des Mundes, nicht auszufiihren vermag.
Rechts sind die paralytischen Erscheinungen allerdings eclatanter. Nach
wie vor hustet der Kranke bestandig trotz Mangel jeglicher Lungenaffection;
der Husten ist vollig trocken, kurz und abgebrochen; gleichzeitig fahrt der
Kranke fort achzende Tone von sich zu geben. Sprache aufgehoben. Die
rechtsseitigen Extremitaten unbeweglich. Die Augenbewegungen unver-
andert. Beim Essen verschluckt sich Pat. etwas und manchmal gerath da¬
bei sogar fliis8ige Nahrung in die Nase. Bei Untersuchung des Rachens
erweisen sich Gaumenbogen und Uvula herabgesunken. Athmung nach wie
vor ungleichmassig. Retentio urinae und Obstipatio alvi. Pat. weint haufig,
doch lacht er auch hin und wieder. Beim Weinen zeigt die Mimik regel-
rechte Bewegungen.
14. Mai. Die elektrische Reaction der Muskeln der rechten Gesichts-
halfte regelrecht. Am rechten Arm geringe Contractur. Manchmal giebt
der Kranke wie zufailig ein oder zwei Worte von sich; die weichen Vo-
kale spricht er hart aus, auch einige Consonanten (z. B. m) vermag er her-
vorzubringen, doch gelingt ihm dies nicht mit den Zahn-, Gaumen- und
Kehllauten (z. B. ch). Die Zunge kann nur 1 cm weit vor die Zahnreihe
gestreckt werden, ist im Uebrigen unbeweglich. Die Augapfel bewegen
sich nach wie vor zusammen weder nach rechts, noch nach links, wohl aber
nach oben und unten sowie nach innen. Bei geschlossenem linkem Auge
kann das rechte nach aussen ab weichen, aber nur sehr wenig, das linke
Auge dagegen kann nicht einmal fur sich nach aussen hin sich verschiebem
Nach innen kann jedes Auge fiir sich abweichen, aber gleichfalls nur sehr
wenig. Accommodation und Pupillenreaction sind beiderseits normal. Puls
80 in der Minute; Athmung ungleichmassig, fast unaufhbrlich Hustenbe-
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Ueber eine Affection der VaroPschen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 225
wegungen; haufiges und andauemdes Weinen, auch Lachen ist dabei leicht
auszulbsen. Fussphanomen kann links nicht hervorgernfen werden. Re-
ten tio urinae besteht fort, Pat. mass katheterisirt werden. Obstipatio alvi.
Pat. vermag bereits einige Worte hervorzubringen. Patellar- und
Fusssohlenreflex immer noch gesteigert, doch ist Fussphanomen nicht aus-
zulosen. Die Bewegnngen der Angapfel sind freier geworden. Sie weichen
etwas mehr nach rechts und links ab, doch bleibt die Beweglichkeit nach
diesen Richtungen immer noch stark beschrankt. Die Lahmung der Ex-
tremitaten noch sehr anffallend. Das gelahmte rechte Bein fUhlt sich etwas
kaiter an als das linke. Anzeichen beginnender Muskelatrophie im rechten
Unterschenkel. Die Parese des linken Armes nnd Beines wie friiher, die
Finger der linken Hand bewegt Pat. mit grosser Miihe, und die Muskel-
kraft derselben ist so gering, dass Pat. die Hand des Untersuchers kaum
merklich zu driicken vermag. Auch die Flexion im linken Kniegelenke ist
sehr gering, wahrend die Flexion im Ellenbogengelenke nnd die Streckung
im Kniegelenke noch ziemlich ausgiebig sind. An den linksseitigen Glied-
massen keine Contracturen. Der Fusssohlenreflex auf beiden Seiten vor-
handen, jedoch rechts starker. Pat. ist wie friiher bestandig aufgeregt und
weint, dagegen sind Hus ten nnd Stohnen seltener geworden.
26.—31. Mai. Merkliche Besserung der Motilitat der rechtsseitigen
Gliedmassen. Pat. bewegt das rechte Bein und den rechten Arm ziemlich
frei, ersteres kann er im Kniegelenke beugen, adduciren und abduciren, vom
Bette aufheben, den rechten Fuss und die Zehen desselben bewegen. Die
gleichen Bewegnngen fuhrt Pat. am rechten Arme aus. Contracturen noch
vorhanden, aber in geringerem Grade. Auch die Lahmung der linksseitigen
Gliedmassen wird besser. Patellarreflexe noch wie vor erhbht, doch sind
Fuss- und Kniescheibenphanomen nicht vorhanden. Die Motilitat der Augen
hat sich fast vbllig wieder hergestellt; nur Auswartsbewegungen des linken
Auge8 sind noch nicht moglich, wohl aber kann das rechte Auge nach
aussen abgelenkt, wie auch nach alien anderen Richtungen ziemlich frei
bewegt werden. Die Parese des linken Facialis noch deutlich wahrnehmbar.
Die Zunge kann noch nicht frei vorgestreckt werden. Die mimischen Be-
wegungen nahern sich bereits der Norm. In der Sphare der Sensibilitat
ist ausser Abschwachung derselben an dem linken Arme ein handtellergrosses
anasthetisches Feld am rechten Oberschenkel zu erwahnen. Harnentleerung
ohne Kunsthiilfe. Obstipation verschwunden. Das Weinen und aufgeregte
Gebahren hat sehr nachgelassen. Pat. erscheint ruhig und sogar froh ge-
stimmt.
1.—4. Juni. Die Motilitat der Angapfel hat eine weitere Besserung
erfahren; nur eine leichte Parese des linken Abducens ist zuriickgeblieben.
Doppeltsehen ist nicht vorhanden, die Zunge kann vorgestreckt werden, doch
weicht sie dabei merklich nach links ab. Wie friiher spricht der Kranke
nur einige Worte. Die mimischen Bewegnngen haben sich wieder herge¬
stellt. Merkliche Muskelatrophie im rechten Unterschenkel, welcher deutlich
schinachtiger erscheint als links; auch ftihlen sich die Mnskeln daselbst
schlaff an. Qualitative Veranderungen der elektrischen Reaction nicht vor¬
handen, nur besteht eine geringe Herabsetzung der faradischen Muskeler-
regbarkeit. Am rechten Oberschenkel und am rechten Arm keine Atrophie
zu bemerken. Affectionen des Fussgelenkes, der Knie- und anderen Gelenke
wahrend der ganzen Dauer der Krankheit nicht zu beobachten gewesen.
Deutsche Zeltsohr. f. Nervenheilkunde. XVI. Bd. 15
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XIV. v. Bechterew
Deutliche Herabsetzung der peripheren Korpertemperatur am rechten Beine,
besonders im Gebiete des Unterschenkels.
7.—9. Juni. Der linke AbduceDS immer noch paretisch, im Uebrigen
die Motilit&t der Aug&pfel frei. Die bervorgestreekte Zunge weicht etwas
nacb links ab. Die unwillkiirlichen mimischen Antlitzbewegungen vollig
regelrecht. Auch wiUkiirliche Bewegungen im Antlitz sind ausfiihrbar, nur
sind diejenigen der rechten Wange etwas beschr&nkt. Streckung der Finger
der rechten Hand vollfuhrt Pat. ziemlich gut, wenn auch nicht ganz frei.
An den gestreckten Fingern der Hand ist leichte Contractur erkennbar.
In der rechten unteren Extremity Extensionscontractur geringen Grades.
Die Sehnenreflexe wie fruher rechts starker erhoht. Fussphanomen nicht
vorhanden. Pat kann mit Unterstiitzung bereits stehen and sogar einige
Schritte machen, nicht aber ohne Hiilfe gehen. Pat. spricht undeatlich
einige Worte. Manchmal bringt er nur einige Silben hervor, doch kann
er fast jedes Wort nur etwas undeutlich nachsprechen. Pat. zeigt Er-
scheinungen unaufhaltbaren Lachens. Er lacht lange Zeit bei dem geringsten
Anlasse, manchmal aber stellt sich solches unaufhaltbares Lachen bei ihm
auch ohne jeden ausseren Grund ein. Zugleich besteht bei dem Pat. die
Neigung zum Weinen. Bei dem Wiedersehen mit seiner Mutter weint Pat
jedesmal fast wahrend der ganzen Dauer ihrer Besuche.
10. Mai. Die Motilitat der rechtsseitigen Gliedmassen kehrt allmahlich
zuriick. Sprache noch unverstandlich. Urinentleerung regelrecht. Diarrhoea.
Der Kopf bei Percussion links am Hinterhaupte noch schmerzhaft. Haufiges
Weinen und Aufgeregtsein. Nicht selten tritt Zwangslachen auf. Pat. wird
auf seinen eigenen Wunsch aus dem Hospitals entlassen. Nach kurzer Zeit
ist Pat., wie ich spater erfuhr, bei vollem Bewusstein plotzlich gestorben.
Am Morgen des Todestages fiihlte sich Pat. ziemlich schwach; trotzdem
konnte er in Folge geschlechtlicher Erregung sich nicht enthalten, zu onaniren,
worauf er noch schwacher ward und seiner Umgebung mehrfach erklarte,
sich nach dem Masturbiren sehr schlecht zu fiihlen. Einige Stunden spater
fand man ihn tod auf seinem Bette. Die Section hat leider unterbleiben
miissen.
Der vorstehend berichtete Fall ist trotz Mangel eines Sections-
befundes geeignet, in mehr als einer Beziehung unser Iijteresse wach-
zurufen. Bevor wir jedoch in eine Discussion dieser Verhaltnisse ein-
treten, ist zunachst die locale und qualitative Diagnose festzustellen.
Es stehen uns in diesem Falle eine Reihe ausserst charakteristischer
vitaler Symptome zur Verfiigung, die eine vollig einwandfreie Fest-
stellung der ortlichen Krankheitsdiagnose ermoglichen.
Der Verlauf der Krankheit bestand, wie wir sahen, aus zwei An-
fallen. Anfangs beschrankten sich die Lahmungserscheinungen bei
unserem Kranken auf die rechte Korperhalfte und es handelte sich
also urspriinglich um einen Fall einer einfachen Hemiparese, und erst
in der Folge gesellte sich linksseitige Abducenslahmung hinzu, die so-
fort auf eine Affection des unteren Theiles der Varolsbrtlcke, der
Austrittsstelle dieses Nerven, die Aufmerksamkeit hinlenken musste.
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Ueber eine Affection der Varol’schen Brflcke mit bilateraler Lahmung etc. 227
Hemiplegie mit gekreuzter Abducenslahmung ist ein charakteristi-
sches Merkmal von Affectionen der dem gelahmten Abducens ent-
sprechenden Halfte des unteren Theils der Varolsbrffcke, vielleicht auch
mit Theilnahme der benachbarten Theile der Medulla oblongata. Bei
keiner anderen cerebralen Erkrankung kann diese eigenartige Symptom-
verbindung zur Beobachtung kommen. Doch ist dies nicht das einzige
Symptom, auf welches unsere obige Diagnose begriindet ist. Vielmehr
verdienen von weiteren positiven Momenten vor Allem Erwahnung die
schon in der ersten Krankheitsperiode aufgetretenen Schluckbeschwerden.
Dieses Symptom deutet zweifellos auf eine Mitbetheiligung des Gloss-
opharyngeus-Vagus, welcher bekanntlich in Nachbarsehaft der Briicke
aus der Medulla oblongata hervorgeht, und ist. jedenfalls geeignet,
obige Diagnose weiter zu bekraftigen. Endlich deutete die locale
Schmerzhaftigkeit bei Percussion der linken Halfte des Hinterhauptes
hinter dem Processus mastoideus gewissermassen die Gegend an, in
welcher im vorliegenden Falle der Krankheitsherd zu suchen sei.
Spaterhin gingen, wie wir sahen, alle diese Erscheinungen bei unserem
Kranken so weit zuriick, dass er das Krankenhaus verlassen konnte.
Aber sehr bald tritt bei ihm ein zweiter, doppelt schwerer Anfall auf.
In der klinischen Erscheinungsweise des zweiten in der Nacht vom
6. auf den 7. Mai aufgetretenen Anfalles ist der klare Beweis gegeben,
dass auch dieser Anfall zu erklaren ist durch eine Affection des unteren
Theils der Varolsbrticke und hochstwahrscheinlich nur als eine Exacer¬
bation und Propagation des urspriinglichen Processes, welcher ausser
unbedeutender rechtsseitiger Parese eine linksseitige Abducenslahmung
zurftckgelassen hatte, aufgefasst zu werden verdient. Im Anschlusse an
diesen zweiten von doppelseitigen Krampfen begleiteten Anfall stellten
sich, wie wir sahen, bilaterale Extremitaten lah mu n gen ein und zwar
wurden die Extremitaten der rechten Korperseite, die sich vor dem
zweiten Anfalle von den friiheren Lahmungserscheinungen schon fast
vollig erholt hatten, von Neuem total paralytisch, wahrend in den
linksseitigen Gliedmaassen deutliche Erscheinungen von Muskelparese
zu Tage traten. Diese bilaterale Vertheilung der Lahmung im Vereine
mit der voraufgegangenen Erkrankung findet offenbar ihre einfachste
Erklarung in dem engen Zusammenliegen der motorischen Leitungs-
bahnen ffir die Extremitaten in der Region der Varolsbrticke.
Es fehlt aber nicht an weiteren Beweisen daftir, dass die neue
Erkrankung ebenfalls auf eine Affection des unteren Theils des Pons
Varolii zu beziehen sei. Wie wir sahen, entwickelte sich bei unserem
Kranken neben doppelseitiger Extremitatenlahmung und schon friiher
vorhanden gewesener linksseitiger Abducensparalyse eine Lahmung des
Abducens der rechten Seite, woraus augenscheinlich hervorgeht, dass der
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XIV. v. Bechterew
ursprfinglich in der linken Briickenhalfte localisirte Krankheitsprocess
nach dem zweiten Anfalle nicht nur auf dieser Seite exacerbirte, son-
dern auf die rechte Halfte der Briicke sich verbreitete und somit die
Wurzeln des rechten Abducens in die Erkrankung hineinzog. Zu
Gunsten dieser Localisation der Erkrankuug sprach unzweifelhaft auch
das Auftreten von rechtsseitiger Facialisparese mit Betheiligung des
oberen Astes desselben, sowie die erneute Exacerbation der Schluck-
beschwerden und die Entwicklung completer Glossoplegie.
Die Gesammtheit aller dreier Erscheinungen ist so ungemein
charakteristisch far Affectionen der unteren Partien der Varolsbrficke,
dass an der vorhin dargelegten Localisation des Krankheitsprocesses
jeder Zweifel ausgeschlossen erscheint, zumal mit derselben auch die
abrigen fur die topische Diagnose in Frage kommenden Symptome
bestens im Einklange stehen. So z. B. konnte die Ungleichmassigkeit
der Athmung, die im Beginne des zweiten Anfalles ziemlich lange
Zeit andauerte und eine gewisse Beschleunigung des Pulses bei nor-
maler Temperatur durchaus ungezwungen erklart werden durch eine
Mitaffection des Nervus vagus. Ebenso liessen sich die bestandigen
Hustenbewegungen und das Stohnen des Kranken sehr wohl in Zu-
sammenhang bringen mit Reizung jener Bahnen des Vagus, die dem
Nervus laryngeus angehoren. Was die beobachteten Veranderungen
der Sensibilitat betrifft, so konnten dieselben leicht erklart werden
durch Mitaffection der in der Schleife die Briicke durchsetzenden
sensorischen Leitungsbahnen.
Weiterhin konnte fttr die bei dem Kranken beobachtete Retentio
urinae mit andauernder Stuhlverstopfung eine in der Brftckenregion
statthabende Unterbrechung der centralen Bahnen flir diese Functionen
verantwortlich gemacht werden.
Endlich lasst sich die in der Nacht des 22. April beobachtete
vorhbergehende Temperatursteigerung in ursachlichen Zusammenhang
bringen mit der Brtickenaffection, da solche Affectionen bekanntlich
gar nicht selten von einer Steigerung der inneren Korpertemperatur
begleitet werden.
Kurz, alle jene Erscheinungen, welche fQr die Begrfindung der
topischen Diagnose irgend von Bedeutung sein konnen, finden im vor-
liegenden Falle eine durchaus befriedigende Erklarung durch die vorhin
von uns dargelegte Annahme einer Affection in derHohe derYarolsbrflcke.
Weniger leicht ist die Eruirung der Natur der Affection. Aber
auch hier fehlt es nicht an Anhaltspunkten, die wenigstens mit grosser
Wahrscheinlichkeit eine qualitative Diagnose ermoglichen. Nach dem
Symptomenbilde und nach dem Verlaufe kann im vorliegenden Falle
eine Neubildung, die ja stets langsam, aber grSsstentheils progressiv
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Ueber eine Affection der Varol’schen Brficke mit bilateraler Lahmung etc. 229
fortschreitet, nicht angenommen werden, und es ertibrigt nur noch
die Wahl zwischen circumscripter Gewebs-Entztindung, Erweichung
des Himgewebes in Folge von Gefassthrombose und Hamorrhagie.
Entztlndung des Gehirngewebes lasst sich jedoch leicht ausschliessen
im Hinblicke auf das Fehlen einer ausreichenden Ursache zur Ent-
wickelung einer solchen Entztlndung, aber auch mit Rtlcksicht auf
die ungemeine Schnelligkeit des Auftretens der Symptome, endlich
aus dem Grunde, weil nach dem ersten Anfalle sammtliche Symptome
plotzlich nachzulassen begannen und fast ganz verschwanden, um nach
einiger Zeit mit ausserordentlicher Plotzlichkeit und in gesteigerter
Intensitat wieder aufzutauchen.
Was die Annahme einer Gewebserweichung betriflft, so konnte in
unserem Falle an Verschluss von Aesten der Arteria basilaris durch
einen wandstandigen Thrombus gedacht werden. Da es sich um einen
Syphilitiker handelt, so steht der Annahme einer luetisehen Affection
der Gefasse an der Gehimbasis nattirlich nichts im Wege, und solche
Affectionen sind der Bildung von Thromben mit nachfolgendem Ge-
fassverschlusse bekanntlich ungemein gfinstig. Es stimmen jedoch die
klinischen Erscheinungen mit der Annahme einer solchen Affection
nicht uberein. Wie wir sahen, stellten sich bei unserem Kranken die
Symptome im Wesentlichen ohne jede Prodromalerscheinungen ein:
schon beim ersten Schwindelanfalle war das Bein paretisch und gleich
darauf die ganze Korperhalfte paralytisch geworden, wogegen Gefass-
verschluss in Folge eines wandstandigen Thrombus bekanntlich fast
immer von mehr oder weniger andauernden Prodromalsymptomen be-
gleitet wird. Auf der anderen Seite wtirde eine einmal bestehende
Erweichung ihrer Natur nach eine so plotzliche, wenn auch vor-
Qbergehende Besserung des Zustandes, wie dies in unserem Falle vor-
lag, nicht zulassen. Letzterer Umstand spricht gleichzeitig gegen die
Annahme von Gefass verschluss durch einen metastatisehen Thrombus
zumal eine Quelle zur Entwickelung metastatischer Thromben in
unserem Falle nicht nachweisbar erscheint und die Bruckengegend
von solchen Thromben jedenfalls nur in ganz ausnahmsweisen Fallen
afficirt wird.
Demgegenuber muss sowohl nach dem klinischen Befunde, wie
nach den vorhandenen anamnestischen Angaben als in hohem Grade
wahrscheinlich die Annahme hingestellt werden, es handele sich in
unserem Falle um eine Hamorrhagie aus einem von der Hirnbasis her
in die Brficke eindringenden Aste der Arteria basilaris.
Fur die Annahme einer Hamorrhagie spricht allem zuvor die
Rapiditat des Auftretens der Symptome, so wie femer der Umstand,
dass die Symptome nach dem ersten Anfalle schnell nachliessen, was
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XIV. v. Bechterew
bekanntlich bei Blutungen, wenn sie resorbirt werden, gar nicht selten
zur Beobachtung gelangt. Aber auch die erneute Exacerbation des
Krankheitsprocesses, die wahrend des zweiten Anfalles ihren Hohe-
punkt erreichte, lasst sich augenscheinlich in durchaus befriedigender
Weise erklaren durch eine abermalige Hamorrhagie in der namlichen
Gegend, die eine noch ausgedehntere Gewebsdestruction im Gefolge
hatte, was ebenfalls bei Hamorrhagien haufig der Fall ist. Das Auf-
treten von Reizungserscheinungen in Form von Krampfen wahrend
des zweiten Anfalles steht ebenfalls in vollem Einklange mit der An-
nahme einer Hamorrhagie. Fiigt man zu dem Angefiihrten noch hinzu,
dass nnser Patient nicht nur Syphilitiker, sondern auch Alkoholiker
war und unmittelbar vor der Erkrankung fast ununterbrochen durch
vier Monate schwer getrunken hat, so finden wir flir die Entstehung
einer Blutung ein ausreichendes causales Moment in jener Brtichigkeit
der Gefasse, welche dieselben darbieten, wenn sie unter dem Einflusse
schweren Alkoholmissbrauches in Entartung tibergegangen sind.
Wir kommen also durch die Analyse der im vorliegenden Falle
beobachteten klinischen Erscheinungen zu dem Schlusse, dass bei
unserem Kranken im Anschluss an die bestehende Gefassinduration
ein Blutextravasat aus dem gegen die Tiefe der BrQcke emporsteigen-
den Aestchen der Basilararterie stattgefunden habe. Dieses Extravasat
hat augenscheinlich die Wurzeln des linken Abducens in Mitleiden-
schaft gezogen und die fur die rechte Korperhalfte bestimmten Pyra-
midenbahnen der linken Briickenhalfte comprimirt. Im Beginn der
Resorptionsperiode hat sich wahrscheinlich in Folge mangelhafter Be-
aufsichtigung des Kranken in der Nacht vom 6. auf den 7. Mai eine
zweite, aber starkere Blutung eingestellt. Letztere fQhrte nicht nur zum
Wiederauftreten der nun stabilen Hemiplegie, sondern es gesellte sich
Parese der linksseitigen Gliedmaassen und des linken Facialis, sowie
rechtsseitige Abducenslahmung hinzu.
Nach dieser Darlegung der Localisation und des Charakters der
Erkrankung wollen wir noch auf einige der beobachteten klinischen
Erscheinungen besonders aufmerksam machen, vor allem auf die
Symptome am Auge, die uns schon bei Gelegenheit der Besprechung
einer Reihe anderer Krankheitsformen frtiher beschaftigt haben.
Wie wir sahen, waren auf der Acme des Krankheitsprocesses
die seitlichen Bewegungen der beiden Augapfel vollig lahm gelegt,
wahrend alle anderen Bewegungen durchaus regelrecht ausgeftihrt
werden konnten. So z. B. gingen die Augapfel frei nach oben und
unten, und wandten sich ferner nach innen, wenn man den Kranken
geradeaus auf einen Finger sehen liess und letzteren nun seinem Auge
naher brachte. An keiner der bezeichneten Bewegungen konnte die
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Ueber eine Affection der Varorschen Briicke mit bilateraler Lahmung etc. 231
geringste Einschrankung wahrgenommen werden. Beispiele solcher
eigenartigen Storung der Augenbewegungen giebt es in der Literatur
nur sehr wenige 1 ) und es dtirfte daher eine kurze Darlegung der
Pathogenese dieser eigenartigen Erscheinungen wohl am Platze sein.
Wo ist die Ursache der erwahnten Storung der Augenbewegungen
zu suchen? Da die Augapfel sich nach alien Richtungen, mit alleiniger
Ausnahme der synergischen Seitwartsdrehungen, frei bewegen konnten,
so handelt es sich in unserem Falle oflfenbar an beiden Augen um
Innervationsstorung vor allem zweier Muskeln, namlich des Rectus
lateralis und des Rectus internus s. medialis. Doch ist die Storung
bei beiden Muskeln eine wesentlich verschiedene. Wahrend namlich
der Musculus rectus lateralis sich tiberhaupt unter keinen Umstanden
contrahirt, zieht sich der Rectus internus medialis im Gegentheile
vollig frei zusammen, wenn beide Augen nach innen gedreht werden,
also synergisch mit dem correspondirenden Muskel der anderen Seite.
Es ist also jedenfalls die ganze peripherische Innervationsbahn beider
Musculi recti oculi interni einschliesslich ihres Ursprungskernes vollig
frei von jeder Affection. Noch mehr, auch die corticate Bahn, welche
durch Vermittelung zum Opticuscentrum der Rinde gelangender und
bei Convergenz der Augenaxen beide Musculi recti interni in syner-
gische Contraction versetzender Impulse die Augenbewegungen be-
herrscht, muss in unserem Falle als unversehrt angesehen werden.
Anderenfalls hatten wir keine Erklarung ftir die bestehende vbllige
Freiheit dreier Bewegungen bei Fixirung eines dem Auge sich an-
nahemden Gegenstandes. Es muss sich also in unserem Falle handeln
um eine Affection irgend welcher anderen Leitungsbahnen, die den
Contractionen des M. rectus lateralis und des M. rectus medialis beider
Augen vorstehen.
Zu beachten ist in dieser Beziehung, dass schon seit langer Zeit
auf Grundlage klinischer Erscheinungen eine Verbindung angenommen
wird zwischen dem Centrum des Rectus lateralis des einen Auges und
dem Centrum des Rectus medialis des anderen Auges.
Diese Annahme erscheint gegenwartig als kaum zu bezweifelnde
Thatsache, und zwar nicht nur im Hinblicke auf die synergische Action
des Rectus lateralis des einen und des Rectus medialis des anderen
Auges, sondern auch mit Riicksicht auf eine ganze Reihe pathologi-
scher Erscheinungen. Seit langer Zeit bekannt ist beispielsweise die
sog. synergische Abweichung der Augapfel bei gewissen Cerebral-
affectionen, wobei beide Augen des Kranken nach der Seite der er-
1) Ein ahnlicherFall (ohne Sectionsbefund) ist kurzlich von Koshewnikow
be8chrieben worden.
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232
XIV. v. Bechterew
krankten Hemisphare abweichen (le malade regarde sa lesion, wie
Prevost sich ausdrtickt). In anderen Fallen weichen die Augen bei
Krampfen in Folge von cerebralen Afifectionen nach der der erkrankten
Hemisphare entgegengesetzten Seite ab, d. h. nach der Seite der Krampfe
(le malade regarde les membres convulses nach Prevost).
Andere Thatsachen bezeugen, dass die functionelle Association
zweier verschiedener Muskeln nicht bedingt werde durch Verhaltnisse,
die an der Peripherie des Nervensystems vorhanden sind, da peri-
pherische Lahmung eines der Muskeln an sich niemals gleichzeitige
Lahmung des synergisch wirkenden Muskels der anderen Seite zu be-
dingen braucht Die Quelle der associirten Thatigkeit der beiden ge-
nannten Muskeln muss also offenbar in den Centren, nicht aber an
der Peripherie, liegen, was durch die Falle von associirter Abweichung
der Augen nach einer Seite bei Cerebralaffectionen befestigt wird.
Aus einer Reihe weiterer Thatsachen geht sodann hervor, dass das
nachste Centrum fiir die associirte Thatigkeit beider Muskeln bei lateraler
Abweichung der Augen dargestellt wird von dem Abducenskem und
nicht von dem Nucleus oculomotorii fiir den Musculus rectus medialis.
Ware namlich letzteres der Fall, so mtissten wir neben nuclearer Oculo-
motoriuslahmung bei Contractionsunfahigkeit des Musculus rectus me¬
dialis des gelahmten Auges gleichzeitig Paralyse des Musculus rectus
lateralis des entgegengesetzten Auges vor uns haben, was aber nicht
zutrifft. Fiir die erwahnte Annahme spricht andererseits die associirte
Lahmung des Rectus lateralis an einem und des Rectus medialis an dem
anderen Auge bei Erhaltung der synergischen Beweglichkeit dieses
letzteren und des gleichnamigen Muskels der anderen Seite, wie dies in
unserem Falle sich verwirklicht fand. Es kann also Lahmung der soeben
erwahnten synergischen Bewegung des Rectus lateralis der einen und des
Rectus internus der anderen Seite eine Erklarung finden in dem Falle,
wenn eine Affection des Abducenskernes oder der corticalen Bahnen dieses
letzteren vorliegt. Thatsachlich ergiebt die klinische Beobachtung,
dass das eigenthtimliche Symptom der Abweichung beider Augen nach
einer Seite, wie es bei Herdaffectionen des Gehirns zur Beobachtung
gelangt, jedes Mai nach der Seite der Cerebralaffection statt hat, wenn
letztere im Gebiet der Hemispharen Platz greift, dagegen bei Affectionen
der Varolsbriicke nach der dem Hirnherde entgegengesetzten Seite.
Dies erklart sich in einfachster Weise so, dass in dem erstgenannten
Falle die fiir die fragliche associirte Augenbewegung bestimmten
Leitungsbahnen vor ihrer Kreuzung, bei BriickenafFectionen hingegen
die gleichen Bahnen nach vollendeter Kreuzung oder aber der Nucleus
abducentis selbst afficirt erscheint. In unserem Falle also, wo nach
beiden Richtungen die seitlichen Augenbewegungen aufgehoben sind,
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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 233
handelt es sich im Wesentlichen offenbar entweder um eine bilaterale
Affection der vorhin erwahnten Leitungsbahnen fttr die bilaterale
Augenmuskelinnervation, oder aber um eine Affection der Kerne beider
Nervi abducentes. Einfache Wurzelaffection beider Abducensnerven
wffrde offenbar alle beobachteten Erscheinungen nicht zu erklaren
vermogen, da ja bei unserem Kranken auf Verschiebungen des fixirten
Gegenstandes nach rechts und links keine synergische Bewegung beider
Musculi recti mediales eintritt, wiewohl Convergenz der Augenaxen
dabei vollig regelrecht erfolgt.
So findet die Angelegenheit vom klinischen Standpunkte ihre Er-
ledigung. Was sagt uns aber hieriiber die Anatomie und Physiologie
des Nervensystems? Im Hinblick auf die synergische Function des
Rectus lateralis der einen und des Rectus medialis der anderen Seite
und mit Rticksicht auf die schon vorhin erwahnten Thatsachen, aus
denen zur Evidenz hervorgeht, dass der Nucleus nervi abducentis das
nachste Innervationscentrum ftir die Augenmuskeln darstellt, haben
einige franzosische Forscher (Duval, Laborde u. A.) der Vermuthung
Raum gegeben, der Musculus rectus medialis erhalte seine Innervation
nicht aus dem Oculomotoriuskern, sondern aus dem Abducenskern.
Andere Autoren beschreiben einen Faserzug unter dem Boden der
Rautengrube, der vom Abducenskern der einen Seite zura Oculo¬
motoriuskern der anderen Seite verlaufen soil (Graux). Mit der
ersterwahnten Ansicht stehen jedoch die Thatsachen der Pathologie
im Widerspruche. Handelt es sich namlich um eine Affection des
Kernes oder der centralen Bahn des N. abducens der einen Seite, so
m&sste nicht nur Lahmung des Musculus rectus lateralis der einen
Seite, sondern auch totale Paralyse des Rectus medialis der anderen
Seite vorliegen, was aber in den entsprechenden Fallen de facto nicht
zutrifft. Die Sache lauft also hinaus auf das Vorhandensein einer
anatomischen Verbindung zwischen dem Abducenskern und dem Kern
fftr den Musculus rectus internus des entgegengesetzten Auges, und
als einziges Innervationscentrum ftir diese gemeinsame Bewegung er-
scheint der Kern des N. abducens. So erklaren sich die oben auf-
gefhhrten Erscheinungen bei cerebralen Affectionen mit Localisation
in der Varolsbrflcke. Freilich besitzt auch der Kern des Musculus
rectus medialis eine selbstandige corticale Innervation, doch tritt diese
Innervation offenbar nur dann in Wirksamkeit, wenn die Nothwendig-
keit zur Convergenz der Augenaxen auftritt, also im Falle einer
synergischen Contraction der beiden geraden Augenmuskeln.
Wie schon erwahnt, beschreiben einige franzosiche Beobachter
einen Faserzug, welcher uuter dem Boden des vierten Yentrikels von
dem Abducenskern der einen Seite zu dem Oculomotoriuskern der
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XIV. v. Bechterew
anderen Seite verlaufen soli. Diese Angaben haben jedocb durch
spatere Untersuchungen nicht bestatigt werden konnen. Dagegen ver-
mochte ich bei meinen eigenen Untersuchungen an entsprechenden
Durchschnitten Fasem zu eruiren, welche aus dem Abducenskem in
das Gebiet des hinteren Langsbiindels der gleichen und der entgegen-
gesetzten Seite hintibergehen. *)
Es ist mehr als wahrscheinlich, dass durch Vermittlung dieser
Fasern des hinteren Langsbiindels eine Verbindung des Abducens-
kerns mit dem fiir den Musculus rectus medialis bestimmten Theile
des Oculomotoriuskerns zu Stande kommt.
Was die centrale Leitungsbahn fiir die associirten Augenabweichun-
gen betrifft, so kommen wir hierauf nach Darlegung der physiologischen
Verhaltnisse nock naher zuriick.
In physiologischer Beziehung besitzen wir ziemlich umfassende
Vorstellungen von den corticalen Centren fiir die seitlichen Bewegungen
der Augapfel.
In seinem Werke fiber Gehirnfunctionen eruirt schon Ferrier
im Gebiete des Lobus postfrontalis, bezw. im hinteren Theil des Stim-
lappens bei verschiedenen Geschopfen ein Centrum fiir Lideroffnung,
Pupillenerweiterung und seitliche Abweichung der Augen und des
Kopfes nach der entgegengesetzten Seite.
Spaterhin zerlegten Horsley und Beevor mit Hiilfe schwacher
Strome das genannte Centrum der Augen- und Kopfbewegungen in
drei verschiedene Centra: ein oberes oder mediales fiir die Bewegungen
des Kopfes nach der entgegengesetzten Seite, ein mittleres fiir die
Bewegungen von Kopf und Augen nach der entgegengesetzten Seite
und ein unteres oder lateral es fiir die Abweichungen der Augapfel
nach der entgegengesetzten Seite. Mott 2 ) versuchte dann eine noch
weitergehende Zerlegung des Centrums fiir die Drehbewegungen des
Kopfes durchzufuhren. Nach seinen Befunden hat namlich Reizung
verschiedener Theile dieses Centrums zur Folge a) Drehung der Augen
nach der entgegengesetzten Seite in horizontaler Richtung, b) Drehung
der Augen nach der entgegengesetzten Seite und nach oben, und
c) Drehung der Augen nach der entgegengesetzten Seite und nach
unten. Das Centrum fiir c findet sich nach Angabe von Mott am
weitesten nach oben, dann folgt das Centrum fiir die Drehung der
Augen in horizontaler Richtung, und noch weiter unten hat das Centrum
fiir die Bewegungen der Augen nach der entgegengesetzten Seite und
nach oben seine Lage. Das Vorhandensein eines Centrums fiir die
1) W. v. Bechterew, Die Leituugsbahnen im Gehim und Buckenmark.
2. Aufl. Bd. I.
2) Brain. 1890.
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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 235
Bewegung der Augapfel nach der entgegengesetzten Seite ist von
Beevor und Horsley auch beim Orang im hinteren Theil des Stirn-
lappens nachgewiesen worden.
Bei meinen eigenen Untersuchungen fiber diesen Gegenstand, die
noch im Jahre 1880 begonnen wurden, fand ich das Centrum fiir die
contralateralen Augen- und Kopfbewegungen bei verschiedenen Thieren
im Gebiete der vorderen Abtheilung des Gyrus sigmoideus. Bei den
Affen wurden Bewegungen des Kopfes und der Augen nach der ent¬
gegengesetzten Richtung in meinen Fallen grosstentheils gemeinsam
von einem ziemlich umfangreichen Felde aus, welches vor dem Gyrus
centralis anterior seine Lage hatte, ausgelost. Die mehr nach oben
gelegenen Theile dieses Feldes ergaben aber unzweifelhaft isolirte
Kopfdrehungen nach der entgegengesetzten Seite. Dagegen ergiebt
Reizung der mehr nach unten gelegenen Theile des in Rede stehenden
Feldes isolirte Abweichung der Augapfel nach der entgegengesetzten
Richtung. Was die Bewegungen der Augenbulbi nach anderer Richtung
bei Reizung einzelner Theile jenes Centrums betrifft, so waren dieselben
in meinen Versuchen nicht durch Constanz ausgezeichnet.
Unlangst sind in meinem Laboratorium von Herrn Dr. Herwer
in dieser Beziehung eingehende Untersuchungen angestellt worden und
es ergaben hier die Experimente an Hunden ganz analoge Befunde.
Ich hatte ferner Gelegenheit, bei einem Kranken an dem wegen Epilepsie
blossgelegten Gehirn festzustellen, dass faradische Reizung der hinteren
Abtheilung des Gyrus frontalis medius Abweichung der Augen und
des Kopfes nach der entgegengesetzten Seite ergiebt. Es hat also dieses
Centrum bei dem Menschen ganz dieselbe Lage wie bei den Thieren.
Ferner giebt es Beobachtungen fiber pathologische Destruction
des mehrfach erwahnten Rindengebietes, wobei paralytisehe Abweichung
der Augen und des Kopfes nach der Seite der afficirten Hirnhemisphare
zu Tage traten.
In einzelnen solchen pathologischen Fallen beobachtete ich sogar
isolirte seitliche Abweichung der Augen nach der Richtung der er-
krankten Hemisphere.
Es darf also die Localisation des Centrums ftir die seitlichen Ab-
weichungen der Augapfel am Fusse des Gyrus frontalis medius als
keinem Zweifel unterliegend angesehen werden.
Auch die hinteren Gebiete der Hemispharenrinde, wie bekannt, be-
herbergen Centra fftr die Bewegungen der Augapfel, doch stehen diese
von mir auch vielmal untersuchten Centra, wie die aus Munk’s Labora¬
torium hervorgegangenen Untersuchungen von Obregia gezeigt haben,
in innigstem functionellen Zusammenhang mit dem Sehcentrum und
besitzen nach Annahme einiger Forscher nicht einmal voile Selbstandig-
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236
XIV. v. Bechterew
keit, sondern iiben durch die frontalen Centra ihre Wirksamkeit auf
die Kerne des N. abducens.
Aehnliche Centra flir seitliche Bewegung der Augen befinden sich,
wie ich mich iiberzeugen konnte, in der Rinde der oberen Partien der
Schlafenlappen. Es ist ofifenbar, dass diese Centra mit den Horcentra
in Beziehung stehen. Unlangst wurden die Centra flir Augenbewegungen
in den Schlafenwindungen ausflihrlich in meinem Laboratorium von
Dr. Larianoff und Gerwer untersucht.
Sowohl die Centra der hinteren Partien der Hemispharen als auch
die Centra der Schlafenwindungen sind ofifenbar reflectorischer Natur,
da die voile Zerstorung dieser Centra keine seitliche Ablenkung der
Augen ausfiihrt.
Indem wir nun zu den Leitungsbahnen, welche die frontalen Rinden-
centra flir die seitlichen Augenbewegungen mit den Abducenskernen
in Verbindung setzen, tibergehen, konnen wir schon hier bemerken,
dass dieselben in Gemassheit einer ganzen Reihe klinischer und anato-
mischer Befunde wohl mit Sicherheit durch die innere Kapsel und
den Himschenkel zur Brttcke vordringen, wo sie vor ihrem Eintritt
in die Abducenskerne der Kreuzung in der Raphe unterliegen.
Wie aus den klinischen Befunden zweifellos hervorgeht, gelangt
bei Aflfectionen bezw. Continuitatsaufhebung dieser Bahn auf irgend
einer Strecke derselben vor der Unterbrechung in der Briickengegend
associirte Abweichung der Augen nach der Seite der Erkrankung in
der gleichen Weise zur Beobachtung wie bei Aflfectionen der Hemi-
spharenrinde im hinteren Theil des Stirnlappens. Reizung dieser Bahnen
dagegen hat zur Folge associirte Abweichung der Augapfel nach der
entgegengesetzten Seite.
Es konnen also weder durch Zerstorung noch durch Reizung der
corticalen Centra und der aus denselben hervorgehenden Bahnen isolirte
Aflfectionen der Augenmuskeln hervorgerufen werden.
Diese Thatsache im Zusammenhang mit dem Umstand, dass auch
das nachste Centrum flir die synergische Seitwartswendung der Aug¬
apfel in dem Kern des N. abducens seine Lage hat, ist ausserordent-
lich bedeutungsvoll in diagnostischer Beziehung. Sie gestattet uns in
alien jenen Fallen, wo isolirte Lahmungen von Augenmuskelnerven
vorliegen, eine centrale Affection im Gebiet der Rinde und liberhaupt
im Gebiet der Hemispharen mit positiver Sicherheit auszuschliessen,
so dass der Diflferentialdiagnose nur noch zwischen nuclearer und peri-
pherischer Affection die Wahl iibrig bleibt.
In unserem Falle waren die in Rede stehenden Bahnen im Gebiet
der Varolsbriicke ofifenbar schon vor ihrem Eintritt in die Abducens¬
kerne afficirt. So erklaren sich die charakteristischen Erscheinungen
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L T eber eine Affection der Varorschen Brficke mit bilateraler Lahmung etc. 237
an den Augen, bezw. erklart sich die bilaterale Aufhebung der seit-
lichen Bewegungen der Augapfel. Bei einer peripherischen Abducens-
lahmung hingegen hatte es sich um einfaches Einwartsschieben ohne
jede Storung der Function des Recti medialis handeln mtissen.
Von anderen besonders bemerkenswerthen Symptomen erwahnen
wir zunachst die als Fussphanomen und Patellarphanomen be-
kannten Erscheinungen. Dieselben verdienen Beachtung, einmal weil
auf der linken Seite in unserem Falle schon am zweiten Tage nach
der Erkrankung Fussphanomen auftrat, dann aber auch mit Rficksicht
auf den Umstand, dass dieses Phanomen, nachdem es spaterhin auch
auf der rechten Seite sich herausgebildet, in einem fernen Zeitpunkte
nach dem Beginn des cerebralen Anfalis vollig verschwand, noch ehe
die Lahmungserscheinungen durch die eingeleitete Therapie batten zum
Schwinden gebracht werden konnen. Bemerkenswerth ist ferner, dass
das Fussphanomen auf der linken Seite schon am zweiten Tage nach
dem Auftreten des zweiten Anfalis manifest wurde. Auf der rechten
Seite entwickelte sich Fuss- und Patellarphanomen zwischen dem 10.
und 14. Tage nach dem Beginn der Erkrankung, auf der linken Seite
hingegen bestand Fussphanomen schon am Tage nach dem in Lahmung
der linken Extremitaten ausgehenden zweiten Anfall. Vorher waren
auf der linken nicht gelahmten Seite nicht die geringsten Spuren von
Fussclonus nachweisbar. In der Folge aber, zwischen dem 17. und 21. Mai,
also 9—13 Tage nach dem zweiten Anfall, waren bereits weder auf
der rechten noch auf der linken Seite irgend welche Reste von Fuss¬
phanomen vorhanden.
Vor einiger Zeit habe ich Gelegenheit gehabt 1 ), mich eingehender
fiber das Fussphanomen zu aussern und fiber die Bedeutung, welche
diesem Symptom in diagnostischer Beziehung zugeschrieben wird. Ich
erhob dabei Bedenken gegen die Anschauungen yon Gowers, denen
zufolge Fussphanomen ein untrfigliches Anzeichen einer bestehenden
organischen Affection darstellt und speciell unzweifelhaft hindeuten
soli auf Gewebsveranderungen im Rtickenmark und in der Mehrzahl
der Falle auf eine Veranderung der Seitenstrange. Ich wies ferner
hin auf eine Reihe allgemein zu den Neurosen gerechneter Erkrankun-
gen, wie Myoclonus multiplex und Akinesia algera, wo dieses Symptom
als vorfibergehende Erscheinung kfirzere oder langere Zeit anhalt. Man
sagt auch, dass bei Hysterischen das Symptom manchmal in deutlicher
Auspragung zur Beobachtung kommt. Endlich kann es bei Fallen
von Neuritis multiplex auftreten, was ich auf Grundlage meiner eigenen
1) W. Bechterew, Newrologitscheski Westnik. Bd. III. Heft 2. 1895.
(Russiech.) Neur. Centr. 1895. S. 1157.
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238
XIV. v. Bechterew
Erfahrungen nur bestatigen kann. Mail ersieht hieraus, dass Fuss¬
phanomen sehr wichtiges, aber kein untrugliches Merkmal einer be-
stehenden organischen Affection des Centralnervensystems darstellt.
Man bat bekanntlicb das Auftreten von Fussphanomen bei orga¬
nischen Erkrankungen des Nervensystems in Zusammenhang gebracht
mit der Entwicklung secundarer Degenerationen in den Pyramiden-
bahnen der Seitenstrange des Rtickenmarks, und diese Vermuthung
sttitzt sich ganz besonders auf die Thatsache, dass das Fussphanomen
in Fallen von organischen Affectionen gewohnlich in der Zeit zwischen
dem 10. und 14. Tage nach dem Auftreten der Krankheit, wie dies
beispielsweise auch in unserem Fall auf der rechten Seite beobachtet
wurde, sich einstellt. Jedoch war das Phanomen an den Extremitaten
der linken Seite, wie wir sahen, schon am zweiten Tage nach dem Auf¬
treten der Lahmung daselbst deutlich erkennbar. Schon mehrfach
konnte friihes Auftreten von Fussphanomen festgestellt werden, so von
Gowers, Westphal und mir selbst.
In einem meiner Falle stellte sich das Symptom in den gelahmten
Gliedmassen 36 Stunden, in einem anderen Falle 12 Stunden nach
dem Beginn der Cerebralaffection ein. Bekannt ist ausserdem, was
ich auch in meinen eigenen Fallen mehrfach eruiren konnte, voruber-
gehendes Auftreten von Fussphanomen nach epileptischen Anfallen.
In diesen und ahnlichen Fallen, wo von einer secundaren Degene¬
ration der Seitenstrange des Marks keine Rede sein kann, hat man in
der Regel zu der Vermuthung einer bestehenden Schwachung der
Seitenstrange Zuflucht genommen. ! ) Wenn aber diese Hypothese in
Bezug auf jene Falle, wo das Phanomen im Anschluss an krampfhafte
und speciell an epileptische Anfalle auftritt, noch einen Sinn haben
kann, so wird sie jedenfalls vollig gegenstandslos, wenn das Phanomen
sich einstellt im Anschluss an Cerebralaffectionen, die nicht von Krampf-
erscheinungen begleitet werden. Und doch ging in meinen vorhin er-
wahnten beiden Fallen, wo das in Rede stehende Symptom 36 und
12 Stunden nach dem Gehirninsulte aiiftrat, letzterer mit keinerlei
Krampferscheinungen einher. Gerade mit Riicksicht hierauf glaube
ich, dass diese Hypothese von der Erschopfung der Seitenstrange des
Marks, als mit den Thatsachen nicht iibereinstimmend, ganzlich auf-
zugeben sei. Dagegen scheint mir in FjLllen von frtthzeitigem Auf¬
treten von Fussphanomen am meisten am Platze die Annahme einer
abnormen Erregung der Reflexcentra des Riickenmarks als Folge von
pathologischer Reizung der Riickenmarkscentra oder -Bahneu. Hierfiir
spricht auch der Umstand, dass in den von mir beobachteten Fallen
1) Vgl. Gower8, Diagnostik der Krankheiten des Ruckenmarks.
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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 239
frtihzeitigen Auftretens des Fussphanomens letzteres in der Regel
schon wenige Tage nach dem Auftreten des Insultes allmahlich ver-
schwand und von einfacher Erhohung der Reflexe abgelost wurde.
In unserem Falle verschwand das Phanomen auf der linken Seite
schon am 6. Tage nach seinem Auftreten. Ganz anders ist es bei
spaterem Erscheinen des Fussclonus, wo letzterer in der Regel auch
langere Zeit anhalt. Doch ist auch hier schnelles Zurttckgehen des
Fussphanomens nicht unmoglich, und so war es beispielsweise auch
in unserem Falle an der rechten unteren Extremitat, wo es, wie ge-
wohnlich bei cerebralen Lahmungen, am 10.—14. Tage auftrat und
um den 35. Tag nach dem Insult verschwand. Das Verschwinden des
Fussphanomens in dem in Rede stehenden Fall fiel zeitlich zusammen
mit der Entwicklung von Contracturen in den rechtsseitigen Extremi-
taten, ein Umstand, der meines Erachtens nicht ganz ohne Belang ist.
Ich habe namlich auch in anderen Fallen cerebraler Lahmungen eruiren
konnen, dass im Augenblicke des Auftretens secundarer Contracturen
in den gelahmten Gliedmaassen das Fussphanomen verschwindet. Wie
dieser Zusammen hang zwischen Contractur und Verschwinden des
Fussclonus zu erklaren sei, ist eine andere Frage. Man konnte hier
allem zuvor denken an eine mit dem Auftreten der Contraction ein-
hergehende Alteration des Muskeltonus, der ja fftr das Auftreten der
Reflexe iiberhaupt und des Fussphanomens im Besonderen von so hervor-
ragender Bedeutung ist.
Es kann nun zwar auch an eine mit dem Auftreten der Contrac¬
turen einhergehende Steigerung von Hemmungswirkungen gedacht
werden, in Folge deren dann das Symptom des Fussphanomens ver-
loren gehh Doch lassen sich zu Gunsten dieser letzteren Ansicht
keine ausreichenden Beweise geltend machen, und sie kann uns daher
keine unanfechtbare Erklarung liefem fur das plotzliche Verschwinden
des Fussclonus, wahrend die erwahnte Veranderung des Muskeltonus
sehr wohl geeignet erscheint, die Erscheinung in befriedigender Weise
zu erklaren. Es ist namlich bei dem Auftreten der Contractur die
unwillkurliche Muskelspannung in den Extremitaten schon so be-
deutend, dass es zwar noch gelingt, das Bein in eine zur Hervor-
rufung des Fussphanomens geeignete Lage zu bringen, nicht aber die
Wadenmusculatur in jenen passiven Zustand sich versetzen lasst,
welcher zum Zustandekommen des fraglichen Reflexes nothwendige
Bedingung bildet. Dass die Ursache des Verschwindens des Fuss¬
phanomens thatsachlich auf abnormer Spannung der Wadenmusculatur
beruht, ergiebt sich aus dem Umstande, dass in anderen Fallen, wo
die Contractur aus diesem oder jenem Grunde nachliess, das Fuss¬
phanomen wiederkehrte, um im Augenblick erneuter Steigerung der
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240
XIV. v. Bechterew
Contractin' wieder zu verschwinden. Es braucht kaum noch bemerkt
zu werden, dass auch das Verschwinden des Patellarphanomens in
unserem Falle in Abhangigkeit stand von abnormer Spannung bezw.
Contractur der Extensoren des Oberschenkels.
Als weitere Erscheinung ist das bei unserem Kranken beobachtete
zwangsweise Weinen und Lachen ganz besonderer Beachtung
wtirdig. Diese Erscheinung, die von mir zuerst bei Herderkrankungen
des Gehirns beschrieben worden ist, ist schon an einem frttheren Orte,
bei der Darstellung zweier anderer von dem gleichen merkwiirdigen
Symptom begleiteter Falle von mir naher erortert worden. Doch
glaube ich im Hinblick auf einige Besonderheiten des eingangs dieses
Aufsatzes mitgetheilten Falles und im Hinblick auf einige nach Ver-
offentlichung meiner ersten Beobachtungen hieriiber im Auslande er-
schienenen beztlglichen Mittheilungen nicht fehlzugehen, wenn ich die
vorliegende Frage hier noch einmal bertihre. Allem zuvor verdient
betont zu werden, dass das Symptom des Zwangslachens und Zwangs-
weinens im vorliegenden Falle bei einer Affection auftritt, die an der
Basis des Gehirns, und zwar im Gebiet der Varolsbrticke ihren Sitz
hat. Schon frtther hatte ich unter Zusammenstellung aller Falle von
Zwangslachen darauf hingewiesen, dass es sich in derartigen Fallen
gewohnlich um Affectionen der Hemispharenrinde handelt, und mit
Rticksicht auf diesen Umstand konnte ich hervorheben, „dass Falle von
zwangsweisem Lachen bei Affectionen anderer Hirnregionen, z. B. der
inneren Kapsel und der Ganglien, merklich seltener vorkommen als
Rindenaffectionen mit dem gleichen Symptom des Zwangslachens." ] )
Als bemerkenswerth ware der hier beschriebene Fall daher zunachst
insofern hinzustellen, als derselbe die Moglichkeit des Auftretens jener
eigenthlimlichen Zwangserscheinung auch bei Affectionen, die ober-
halb des verlangerten Markes ihren Sitz haben, in bestimmter Weise
darthut.
Was die Pathogenese der Erscheinung betrifft, so konnte in meiner
fruheren Mittheilung uber den gleichen Gegenstand auf Grundlage einer
genauen Analyse aller Begleiterscheinungen der Schlusssatz gewonnen
werden, „Lachen als Ausdrucksbewegung komme offenbar unter Ver-
mittelung der Thalami optici zu Stande, und die Fortleit.ung der von
der Gehimrinde und von der Peripherie (bei reflectorischem Lach-
reiz) ankommenden Erregungen mttsse durch ein den Sehhtigeln
angehorendes Fasersystem vor sich gehen. NatOrlich ist dabei
zu beachten, dass zu den Centren in den Thalami optici von
1) W. Bechterew, Nervenkrankheiten. 1894. Heft 1. Newrolog. Westnik,
1883 (russisch). Arch. f. Psych. 1895.
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Ueber eine Affection der Varol'schen Brucke mit bilateraler Labmung etc. 241
der Rinde her sowohl erregende, wie hemmende Impulse ttbertragen
werden.***)
Was die Entstehung des Zwangslachens in pathologischen Fallen
betriflft, so kann dieses Symptom, wie ich bereits frtiher hervorgehoben
habe, einerseits bedingt sein durch Wegfall willktirlicher Hemmungs-
wirkungen, andererseits durch den Einfluss gesteigerten unwillkflrlichen
Lachreizes. Ebenso bin ich in meiner mehrerwahnten fruheren Ab-
handlung zu dem Schluss gelangt, dass Zwangsweinen die gleiche
physiopathologische Grundlage besitzt, wie Zwangslachen, also gleich-
falls bedingt wird entweder durch Ausfall von Hemmungen oder durch
Reizung der entsprechenden Centra und Leitungsbahnen.
In beiden Fallen bandelt es sich somit, wie wir sahen, um Affec¬
tion eines Fasersystems der Sehhiigel, in welchen meinen Versuchen
zufolge unter anderem auch Centra fur die angeborenen Ausdrucks-
bewegungen und ftir die Innervation der vegetativen Kbrperfunctionen
eingeschlossen sind.
Wie verhalt es sich nun aber mit dem Auftreten von zwangs-
weisem Lachen und Weinen in nnserem Falle bei einer Affection im
Gebiet der Varolsbr&cke? Auch in diesem Falle haben wir offenbar
an eine Affection von Bahnen zu denken, welche die Thalami mit
tiefer liegenden Centren in Verbindung setzen. Dass dem thatsachlich
so sei, ergiebt sich unschwer aus einer Analyse der im vorliegenden
Falle beobachteten Storungen. Wie wir sahen, gab es in unserem
Fall ausser Storungen im Gebiet des willktlrlichen Muskelsystems eine
Reihe von Storungen der Function jener Organe, deren Innervation
den vorhandenen physiologischen Untersuchungen zufolge in gewisser
Abhangigkeit sich befindet von der normalen Function der Thalami
optici. Meine speciellen auf Eruirung der Functionen der Sehhiigel
hinzielenden Versuche haben mir gezeigt, dass Reizung dieser Ganglien
bei verschiedenen Thieren neben Beschleunigung der Athmung ver-
schiedene aufifallende Respirationsbewegungen, welche in andauemde
Bethatigung der Stimme Ubergehen, zur Folge hat. Die Thalami optici
Uben, wie meine Versuche des Weiteren ergeben haben, einen Einfluss
auf das Gefasssystem und dieErweiterung der Pupille, auf dieThranen-
absonderung, auf die Herzthatigkeit, auf die Bewegungen des Magens
und der Darme, und zwar nicht in reizendem, sondem auch in hem-
mendem Sinne, ferner auf die Contractionen der Harnblase und auf
die Thatigkeit der Geschlechtsorgane. Nattirlich schliesst dies in keiner
Weise die Moglichkeit eines Einflusses tiefer gelegener Hirnregionen
auf die genannten Thatigkeiten aus. Beispielsweise vermochte ich
1) W. Bechterew, a. a. O. S. 71.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 16
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242
XIV. y. Bechterew
noch ganz unlangst experimentell nachzuweisen, dass die Region des hin-
teren Vierhtigels unter anderem als Centrum des Gehors, der Phonation und
der Association von Reflexerregungen sich darstellt. Doch ist ersichtlich,
dass die Verbindungen der Sehhtigel mit den tiefergelegenen Gebilden
von unzweifelhaftem Einfluss sein miissen auf die gleichen Functionen,
auf welche jene selbst einen Einfluss tiben. Die Thalami erscheinen
sozusagen als hohere subcorticale Sammelcentra fflr die erwahnten
Functionen, und in diesem Sinne ist hier die Rede von einem Faser-
system der Thalami optici.
Bei unserem Kranken beobachteten wir nun bestandige Exspira-
tionsbewegungen, begleitet von eigenartigen, einem Gestohne zu ver-
gleichenden Gerauschen, sodann eine durch andere Ursachen nicht
erklarliche Beschleunigung der Herzthatigkeit und Erweiterung der
Pupillen, femer durch Laxantia nicht zu beseitigende Obstipationen
und Harnretention, die mittelst Katheterisirung der Harnblase bekampft
werden musste. Augenscheinlich lassen sich alle diese Symptome durch-
aus ungezwungen erklaren mit der Annahme einer durch das Blut-
extravasat in der Briickengegend bedingten Affection jener Systemen
von Leitungsbahnen, welche in cerebraler Richtung mit den Sehhtigeln
in Verbindung stehen.
Mit Rflcksicht auf diese Verhaltnisse scheint es uns, dass auch
hier jenes merkwiirdige Symptom des zwangsweisen Lachens und Wei-
nens zu erklaren sei durch eine Erkrankung der den Sehhtigeln an-
gehorenden Leitungsbahnen, die bekanntlich im Gebiete der Formatio
reticularis, also in der Briickenhaube ihre Lage haben. Auch Brissaud,
welcher nach der Veroffentlichung meiner vorhin erwahnten Beobachtung
gleichfalls fiber zwangweise auftretendes Lachen bei cerebralen Herd-
erkrankungen berichtet 1 ), kommt gleich mir zu dem Schlusse, das
Symptom sei ein Ausdruck gesteigerter Function der Sehhtigel. Im
Uebrigen bringt Brissaud das Auftreten dieses Symptoms inAbhangig-
keit von einer Lahmung der willktirlichen Motilitat der Gesichtsmuskeln.
Letztere Ansicht ist aber im Grunde nichts Anderes als eine Wieder-
holung einer vor vielen Jahren angedeuteten Darstellung, welche ich
schon vor langer Zeit aufgegeben habe 2 ). Man muss aber bemerken,
1) Brissaud, Revue scientifique 1894.
2) Vgl. meine Artikel : Ueber die Functionen der Sehhugel bei den Thieren
und bei den Menschen. Westnik psichiatrii (russisch). 1885. Virchow’s Archiv.
Bd. 110. 1887. S. 351. Ich schrieb damals Folgendes: „Die Erscheinung des
unaufhaltbaren Lachens und Weinens kann in solchen Fallen, wie mir scheint,
nur so erklart werden, dass der Kranke in Folge von Lahmung der willktirlichen
Gesichtsmotilitat der Fahigkeit beraubt ist, die mimischen Bewegungen zu
hemmen, wodurch er bezuglich des Ausdrucks seiner Empfindungen macht-
lo8 wird. u
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Ueber eine Affection der Varol'schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 243
d&ss Lacben nicht nur besteht in mimischen Antlitzbewegungen, son-
dem sich ausserdem zusammensetzt aus einer Reibe anderer Bewegungen,
wie z. B. exspiratorische Excursionen des Thorax mit vorfibergehen-
dem Schlusse der Glottis, als Folge deren das als Gelacbter bezeichnete
Stimmphanomen beim Lacben auftritt, femer mehr oder weniger in¬
tensive Thranenabsonderung und auffallendes Errothen des Antbtzes.
Yon diesen Bewegungserscheinungen bilden die mimischen Antlitz¬
bewegungen sozusagen nur die am meisten hervortretende Aussenseite.
Dabei sind alle erwahnten Bewegungen einander durchaus nicht in der
Weise subordinirt, dass Hervorrufung irgend einer von ihnen das
Auftreten der ttbrigen veranlassen konnte. Im Gegentheil, alle diese
Bewegungen befinden sich in einem dcrarfcigen Verhaltniss wechsel-
seitiger Coordination, dass Hinwegfall einer derselben keinen Ausfall
der fibrigen Componenten des zusammengesetzten Lachactes nach sich
ziehi Beispielsweise bei bilateraler peripherer Facialislahmung ist
Lachen im gewohnlichen Sinne dieses Wortes in Folge der totalen
Starrheit des Antlitzes nicht mehr moglich, aber unter der kalten Maske
kann zweifellos ein Lachen in Gestalt besonderer Stimmphanomene
mit Blutandrang zum Antlitze und Feuchtwerden der Augapfel
verborgen sein. Es fehlt nur die so sehr bezeichnende Antlitzbewe-
gung, und solche Falle konnen zu irrthtimlichen Schlfissen fiber Vor-
handensein oder Fehlen eines Lachactes Anlass geben.
Es ist aber bekannt, dass es mit Hfilfe willkfirlicher Innervation
der Antlitzmuskein moglich sei, ein aufsteigendes Lachen zurfickzuhalten,
wenn zum Auftreten desselben genfigende Grfinde vorliegen. Jeder-
mann weiss, dass durch Beherrschung der Gesichtsmuskeln das Lachen
bis zu einem gewissen Grade hintangehalten werden kann; aber diese
Hintanhaltung des Lachens ist nur in sehr beschranktem Grade mog¬
lich. Alles dies weist darauf hin, dass die oben erwahnte, zuerst von
mir angegebene und spaterhin von Brissaud wiederholte Betrachtungs-
weise der Pathogenese des zwangweisen Lachens nicht ffir alle Falle
annehmbar erscheini
In dem uns hier beschaftigenden Falle nun bestanden in der ersten
Zeit Erscheinungen von Lahmung der willkttrlichen Antlitzbewegungen,
auffidlender Weise jedoch stellte sich bei dem Kranken zwangsweises
Lachen gerade in jener Krankheitsphase ein, wo die Lahmung der
willkfirlichen Antlitzbewegungen bereits verschwunden war. Augen-
scheinlich kann also die Ursache des zwangsweisen Lachens bezw. des
zwangsweisen Weinens in diesem Falle nicht oder nicht ausschliesslich
in der Aufhebung der Willkfirbewegungen des Antlitzes gesucht werden.
Denn es kommt zwangsweises Lachen und Weinen fiberhaupt nicht
selten gerade in jenen Fallen zur Beobachtung, wo eine Lahmung der
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XIV. v. Bechterew
wiUkiirlichen Gesichtsmuskelbewegungen vorhanden ist oder wenigstens
bestanden hat, so dass sich dieser Umstand rneines Erachtens ohne
Schwierigkeiten dadurch erklaren lasst, dass die von der Rinde zum Thala¬
mus hinziehenden Leitungsbahnen, deren Affection zwangsweises Lachen
auch hervorrufen kann, in nachster Nachbarschaft yerlaufen von den
Bahnen der wiUkiirlichen Bewegungen des Antlitzes.
Beachtung verdient ferner die bei unserem Kranken beobachtete
Sprachstorung.
Nach dem ersten AnfaU ausserte sich diese Storung nur in laUen-
der Sprache oder Behinderung der Aussprache, nach dem zweiten An-
falle aber vermochte der Kranke bereits kein Wort hervorzubringen.
Spaterhin lernte der Kranke, zunachst gewissermassen zufallig, einige
Worte hervorzubringen, und bisweilen beschrankte sich seine Sprache
auf einige Silben. Ftir fremde Rede besass der Kranke ein voUes Ver-
standniss, es bestand also keine Worttaubheih
Im Zusammenhang mit unseren obigen Darlegungen beztiglich der
Localisation des Krankheitsprocesses in der Varolsbr&cke gewinnt der
AusfaU der Sprache hier ein ganz besonderes Interesse. Man konnte
denken, es stehe dies in Beziehungen zu der beiderseitigen Hypoglossus-
lahmung bei unserem Kranken. Der Kranke vermochte in der That
eine Zeit lang weder die Zunge vorzustrecken, noch mit der Zunge
irgend eine Bewegung zu vollfuhren. Das konnte nicht ohne Einfluss
bleiben auf die Sprache des Kranken, und in Abhangigkeit von der
Zungenlahmung ist fraglos der Umstand zu bringen, dass der Kranke
in der ersten Zeit weder weiche Selbstlaute, noch jene Mitlaute, die
wie die Zahn- und Gaumenlaute eine Betheiligung der Zunge erfordern,
hervorzubringen im Stande war. Es bleibt indessen zu beachten, dass
in der Zeit des Rtickganges der Bewegungsstorungen, als der Kranke
bereits die Zunge bewegen konnte, er nichtsdestoweniger, abgesehen
von einigen Worten, nicht sprechen konnte, wiewohl er bereits im
Stande war, aUe ihm vorgesagten Worte mit Htilfe des Gehors zu
wiederholen, er also jene Erscheinung darbot, weiche als Echolalie
bekannt ist. Konnen diese Verhaltnisse nicht erklart werden durch
die Annahme eines besonderen Stimmcentrums an der Gehirnbasis,
dessen Zusammenhang mit der Hemispharenrinde im vorliegenden FaUe
unterbrochen sein konnte?
Ueber die functionelle Bedeutung eines solchen besonderen Sprach-
lautcentrums an der Gehirnbasis besitzen wir noch keine v5Uig abge-
schlossenen Vorstellungen. Wiewohl zu Gunsten der Annahme eines
derartigen Centrums sich eine Reihe klinischer Beobachtungen (insbe-
sondere Falle von congenitaler Anencephalie) aufftihren lassen, haben
unsere Kenntnisse hieriiber bisher keine wesentliche Erweiterung er-
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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 245
f&hren, so dass es angemessen erscheint, die physiologische Seite der
Frage einer Prtifung zu unterziehen.
Mit dem yon Krause, Semon Horsley, Masini u. A. beschrie-
benen corticalen Stimmcentrum, welches ich bei meinen Versuchs-
hunden constant am Knie der dritten Urwindung in der Nahe der
Basis fissurae Sylvii vorfand, hat sich die jtingste Zeit ziemlich ein-
gehend beschaftigt. Es ist jedoch positiv sicher, dass Abtragung dieses
Centrums nicht nur die reflectorische Bethatigung der Stimme bei
Thieren nicht aufhebt, sondern nicht einmal die Intonation und die
Modulationsfahigkeit derselben zu alteriren vermag.
Diese Thatsache habe ich zuerst im Jahre 1885 eruiren konnen
und dienten mir hierzu zahlreiche Versuche an Vertretern der ver-
schiedensten Thierspecies, bei denen ich sammtliche Theile der Hirn-
hemispharen dicht bis zu den Sehhiigeln fortnahm. Es zeigte sich
nun, dass nach diesem Eingriff die operirten Thiere unter dem Ein-
flusse ausserer Reizwirkungen die ganze Summe deijenigen Schreie
und Tone, zu denen sie tiberhaupt befahigt sind, von sich gaben.
Hieraus ergiebt sich der augenscheinliche Nachweis, dass schon
in den basalen Regionen des Gehirns Centra vorhanden sein miissen,
welche den allermannigfaltigsten Stimmausserungen durchaus angepasst
erscheinen und auf deren Mithiilfe das corticale Stimmcentrum offenbar
die dem Thiere zu Gebote stehenden Stimmmittel wirksam werden lasst.
Es kann jedoch keinerlei Zweifel unterliegen, dass auch unterhalb
von den Sehhtigeln bei den Thieren ein besonderes Stimmcentrum an-
gelegt ist Diese Thatsache war schon Longet und Vulpian wohl
bekannt, und letzterer fand, dass beim Kaninchen Durchschneidung
des Gehimstammes proximal von der Briicke die reflectorische Stimm-
ausserung nicht aufhebt. Vulpian lenkte ferner die Aufmerksamkeit
auf den Umstand, dass die Stimme in diesem Falle durch ihre Mono-
tonie auffallt, jener Modellirung entbehrt, welche gesunden Thieren
eigenthiimlich zu sein pflegt und wie sie auch jenen vorhin erwahnten
Geschopfen nicht fehlt, denen die Hirnhemispharen hart bis an die
Thalami fortgenommen wurden. Ich habe diese Versuche an verschie-
denen Thierspecies und auch an Hunden bei der Untersuchung der
Function der Thalami optici nachgepriift und bin zu den gleichen
Ergebnissen gekommen. Es blieb also nur tibrig, die Localisation
jenes primaren Centrums zu eruiren, welche fBr das Zustandekommen
der Phonation maassgebend ist.
Beachtenswerth erscheinen in dieser Beziehung die neuerlichen
diesbezflglichen Untersuchungen von A. Onodi 1 ). Nach seinen Be-
1) A. Onodi, Berliner klinische Woclienschrift 1894. Nr. 48.
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XIV. v. Bechterew
funden bedingt quere Durchschneidung im Gebiete des Bodens des
vierten Himventrikels fiber den Vagus- und demnach auch fiber den
Hypoglossuskemen vollige Aufhebung der Stimme bei den Thieren.
Die laryngoskopische Dntersucbung jedoch ergab in diesem Falle ein
Klaffen der Stimmritze in einer Weite von 3—4 mm. Gleichzeitig
wichen dieselben bei tiefer Inspiration wenig nacb aussen ab. Auch
bei isolirter Durchschneidung der Corpora quadrigemina wurden
die Thiere sofort stimmlos, wahrend die Glottis klaffend blieb. Da-
gegen bei Durchschneidung des ganzen Himstammes unmittelbar nach
vorn vom Vierhttgel gab das Thier Geschrei von sich und an den
Bewegungen der Stimmbander waren keinerlei Veranderungen zu be-
merken. Mit Rficksicht auf diese Befunde kommt Onodi zu dem
Schlusse, das Stimmcentrum finde sich beim Hunde in einer Ausdeh-
nung von 8 mm nach hinten von der Trennungslinie zwischen vorderem
und hinterem Vierhfigel. Meine eigenen Versuche, welche im Verlaufe
vieler Jahre, theilweise noch vor denjenigen Onodi's behufs Eruirung
der Localisation des Stimmcentrums angeffihrt wurden, ffihrten zu Er-
gebnissen, welche mit denen von Onodi im Ganzen fibereinstimmen,
und ich schopfe aus solcher Uebereinstimmung der Ergebnisse zweier
in voller Unabhangigkeit von einander ausgeffihrter Untersucher
einen Hinweis darauf, dass die Resultate derselben zuverlassig sein
mfissen. Die Localisation des Stimmcentrums wird ttbrigens durch
meine Erhebungen genauer bestimmt, als durch diejenigen von
Onodi.
Abgesehen davon, dass Schnitte, welche unmittelbar hinter den
Sehhugeln hindurchgehen, wie wir sahen, die reflectorische Phonation
bei den Thieren nicht aufheben, konnte ich eruiren, dass beim Hunde
Schnitte, die in schrager Richtung vom vorderen Vierhttgel bis zum
Oberende des verlangerten Markes den ganzen Gehimstamm durch-
setzen, ebenfalls keine Stimmlosigkeit zur Folge haben. Wohl aber
ffihrt bedingungslos zu volliger Aphonie ein Schnitt, welcher von hinten
nach vom so hindurchgelegt wird, dass er unmittelbar hinter dem
Corpus quadrigeminum posterius beginnend, unter den Sehhugeln auf
der Gehimbasis zur Anschauung kommt. Wenn hingegen der Schnitt
durch den hinteren Vierhfigel selbst hindurchgeht und zwar so, dass
ein Theil dieses Ganglions mit der Brticke in Verbindung bleibt, so
ist vollige Aphonie, wenigstens in der ersten Zeit nach dem Eingriff,
nicht zu verzeichnen, sondem lediglich mehr oder weniger ausgespro-
chene Abschwachung der Stimme, die mit der Zeit auch ganz ausge-
glichen werden kann. Bei der weissen Ratte, beim Kaninchen und
Meerschweinchen fand ich nach Zerstorung der Region des hinteren
Zweihfigels ausser Taubheit hochgradige Abschwachung und sogar
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Ueber eine Affection der Varorschen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 247
volliges Aussetzen der Stimme, trotz Erhaltung der Athmung bei den
Thieren. Ich bin, gestiitzt auf diese Befunde, zu dem Schlusse ge-
kommen, dass in der Gegend des hinteren Vierhtigels bei den Sauge-
tbieren ein Stimmcentrum vorhanden ist, welches seiner Entwicklung
nach in offenbarem Zusammenhange steht mit dem zu der Region des
hinteren Vierhtigels gleichfalls in nachsten Beziehungen stehenden
Gehorcentrum.
Es lassen ja die neueren anatomischen Ermittelungen thatsachlich
keinen Zweifel ubrig, dass das hintere Vierhugelganglion in innigstem
Zusammenhange stehe mit den Gehornerven. Ich habe diese That-
sache zuerst eruirt an der Hand von anatomischen Untersuchungen,
die ich im Verlauf des Winters 1884/1885 in dem Laboratorium von
P. Flechsig angestellt habe. Anf Gru^d dieser Untersuchungen hat
P. Flechsig in seinem der Konigl. Sachs. Gesellschaft der Wissen-
schaften in der Sitzung desselben vom 4. Mai 1885 vorgelegten Be-
richte fiber meine Arbeit mit voller Bestimmtheit erklart, „die Unter-
suchung von Foten von 28—30 cm Lange nothige zu der Annahme,
dass der untere Vierhtigel durch die laterale Schleife mit der oberen
Olive und hierdurch mit dem achten Gehirnnerven in Verbindung
stehe“. Da ich schon vorher eruirt hatte, dass die Faserung des
Trapezkorpers zu einem grossen Theile in dem vorderen Acusticuskern
seinen Ursprung nimmt und dass letzterer neben dem Tuberculum
acusticum einen Kern des Ramus cochlearis und nicht des Ramus
vestibularis des Gehornerven vorstellt, so war hierdurch zum ersten
Male der Zusammenhang des Gehornerven und zwar des Ramus coch¬
learis desselben mit dem hinteren Vierhtigel festgestellt worden. Die
Ergebnisse dieser Untersuchungen sind in der Folge im Ganzen be-
statigt worden durch die Atrophieversuche von v. Monakow, Ba-
ginski 1 ) und Kirilzeff 2 ). Zufolge den Ermittelungen dieser Autoren
verbindet sich der Gehomerv mit dem hinteren Vierhtigel nicht allein
durch Vermittelung des vorderen Acusticuskerns und in den oberen
Oliven unterbrochener Trapezfasem, sondern auch durch Vermittelung
der sogenannten Striae acusticae Monako w's, welche aus dem Tuber¬
culum acusticum emporsteigen, von aussen und oben um das Corpus
restiforme herumziehen und sodann, in medio-ventraler Richtung ver-
laufend, sich fiber dem Trapezkorper mit denen der anderen Seite
durchkreuzen und schliesslich mit jener lateralen Schleife, welche auch
die Faserung des Trapezkorpers in sich versammelt, wiederum zum
hinteren Vierhtigelganglion sich erheben.
1) B agin ski, Virchow’s Archiv 1890. Bd. XXIX.
2) Kirilzeff, Inaugural-Dissertation. Moskau.
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248
XIV. v. Bechterew
Ohne naheres Eingehen weisen wir hier nur kurz auf die Unter-
suchungen von Held hin, welche mit Htilfe der Golgi'schen Me-
thode die Beziehungen der genannten Gehorbahn durch Collateralen
zu den Nachbargebilden (z. B. zam Facialiskern und zu der Formatio
reticularis, sowie zu den Elementen des vorderen Vierhtigels, die offen-
bar bei der Entstehung der Reflexe mit von Bedeutung sind) naher
darthun, sowie auf die Ermittelungen von v. Monakow, durch welche
an der Hand von Atrophieversuchen der Zusammenhang des medialen
Kniehockers, der die Fasern des Brachium corporis quadrigemini
posterioris in sich aufnimmt, mit dem corticalen Gehorcentrum irn
Schlafenlappen des Vorderhims nachgewiesen wird. Nach der ana-
tomischen Seite hin ist der Zusammenhang des Schlafenlappens der
Hemispharenrinde mit dem f hinteren Vierhtigelganglion und durch
letzteres mit dem Nervus acusticus vollig sicher begrtindet. Noch
ktirzlich ist durch Versuche fiber Zerstorung des Gehorcentrums des
Schlafenlappens beim Hunde in meinem Laboratorium dargethan wor-
den, dass in diesen Fallen mit Htilfe der Methode von Marchi dege-
nerirte Fasern sich vorfinden, sowohl im medialen Kniehocker und im
hinteren Vierhtigel, wie auch in der lateralen Schleife und in den Kemen
des Nervus acusticus. Meine speciell hierauf gerichteten Versuche haben
ferner gezeigt, dass die Region des hinteren Vierhtigelganglion nicht nur
Centrum der Stimme, sondern auch Centrum des Gehors sei und gleich-
zeitig vermoge seiner Verbindungen mitanderen motorischen Centren der
Gehimbasis auch als Centrum ftir die Association von Reflexbewegungen
sich darstellt Nach alien diesen Thatsachen befindet sich das Centrum
der Stimmbildung in der Region des hinteren Vierhtigels zweifellos in
innigster anatomischer und physiologischer Wechselwirkung mit dem Ge-
hororgane, unter dessen Einfluss es offenbar auch zur Entwicklung gelangt.
Es beherbergt dieses Centrum wahrscheinlich die Bahnen flir min-
destens zwei Arten von Bewegungen: Exspiration und Glottisschluss,
welche flir die nicht articulirte Stimmbildung erforderlich sind. Das
Vorhandensein eines solchen primaren Stimmcentrums muss, wie die
Falle von congenitaler Anencephalie darthun, auch flir den Menschen
angenommen werden. Jedoch bedarf die articulirte menschliche Sprache
ausserdem bekanntlich der Betheiligung des Hypoglossus, Facialis und
Trigeminus. Ob auch Bahnen der letztgenannten Nerven in diesem
Centrum vorhanden sind, welches sodann als unteres Koordinationscen-
trum der articulirten Sprache erscheinen wtirde, oder ob die Koordination
der Bewegungen der Zunge, der Lippen und der Stimme nur in den
hohergelegenen Centren vor sich geht, muss vorlaufig dahingestellt
und die Entscheidung dieser Frage zuktinftigen Untersuchungen vor-
behalten bleiben.
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Ueber eine Affection der Varol’schen Briicke mit bilateraler Lahmung etc. 249
Wenn wir jedoch, ohne der Losung dieser Fragen vorauszueilen,
zu unserem speciellen Fall zurffckkehren, so ergiebt sich.vor Allem,
dass die Phonation bei unserem Kranken im Allgemeinen nicht aufge-
hoben erschien, und es lasst sich sogar vermuthen, dass die zur Stimm-
bildung in Beziehung stehenden Bahnen sich wahrend des Krankheits-
verlaufs in einem Zustande besonderer Erregung befanden, ein Zustand,
welcher in bestandigen Hustenbewegungen und in eigenthfimlichen,
einer Art Gestohne vergleichbaren Lauten sich ausserte. Dabei bestand
in der ersten Zeit der Erkrankung totale Hypoglossuslahmung, die
jedes Hervorbringen von Worten vollig unmbglich machte. Diese
Lahmung verschwand zwar mit der Zeit und es kehrte die Beweglich-
keit der Zunge wieder, allein eine willkurliche Sprache war noch nicht
moglich in Folge unvollstandiger Rehabilisirung der Willkfirbahnen
in der Varolbriicke. Wohl aber bestand die Moglichkeit einer Rei-
zung des Sprachcentrums durch reflectorisehe Vermittelung des Gehor-
organs. So lasst sich bei zeitweiligem Mangel der willkurlichen
Sprache das Vorhandensein von Echolalie in unserem Falle erklaren.
Eine weitere, bei unserem Kranken beobachtete Erscheinung, die
unserer Aufmerksamkeit nicht unwerth erscheint, besteht in dem Auf-
treten von Atrophie der Wadenmusculatur nach dem zweiten
Anfalle bei volhgem Fehlen einer Affection des Fuss- und Kniegelenkes.
In einer frtiheren Mittheilung ] ) hatte ich bereits Gelegenheit, fiber
einen Fall zu beriehten, wo cerebrale Muskelatrophie auf der gelahmten
Seite, begleitet von einer Gelenkaffection, zur Entwicklung gelangt
war. Da Muskelatrophien verhaltnissmassig nicht oft bei cerebralen
Paralysen zur Beobachtung kommen und die Frage zudem noch den
Reiz der Neuheit hat, so wollen wir dieselbe hier naher betrach-
ten, um die Pathogenese der Erscheinung zur Darstellung bringen
zu konnen.
Nach einer in den letzten Jahren von A. A. Kornilow auf-
gestellten Hypothese steht das Auftreten cerebraler Muskelatrophien
in directer Abhangigkeit von einer an die Hemiplegie sich an-
schliessenden Affection der Gelenke.
Unser obiger Fall, in welchem Atrophie ohne die geringste
Gelenkaffection zur Beobachtung gelangte, kann augenscheinlich zum
Beweise der Insufficienz der erwahnten Hypothese dienen, welche auch
insofem schon als hinfallig sich erweist, als man die eine unbekannte
Grosse durch ein zweites Unbekanntes zu erklaren versucht. Denn
1) W. Bechterew, Zwangsweises Lachen und Weinen bei cerebralen
Lahmungen. Neurolog. Westn. 1893. Nervenkrankheiten 1894. In russischer
Sprache. Arch. f. Psych. Bd. XXVI. Heft 3.
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250
XIV. y. Bechterew
die Gelenkaffectionen bei Hemiplegie bilden eine in pathogenetischer
Hinsicht noch sehr wenig untersuchte Erscheinung.
Schon bei der Darlegung dieser Hypothese durch ihren Antor
auf dem Pirogoff’schen Aerztecongress habe ich meine Bedenken
dagegen geaussert und kann die bei dieser Gelegenheit gemachten
Einwendungen jetzt nur bekraftigen. Ich hob schon damals hervor,
dass der Antor, nachdem er alles in allem einen Fall mit negativem
pathologisch-anatomischen Nervenbefund l ) beigebracht, die cerebralen
Amyotrophien in Abhangigkeit bringt von arthropathischen Affec-
tionen im Wesentlichen auf Grundlage der klinischen Analogie zwischen
cerebralen und arthropathischen Amyotrophien und des einfachen
Nebenhergehens beider. Die Ftthrung des Nachweises, dass es auch
Falle cerebraler Amyotrophie giebt, wo eine Gelenkaffection weder
bestaud noch bestehen konnte, uberlasst Vf. dabei Anderen. Als Ant-
wort auf diesen Einwand aussert sich Vf. in seinem Werke fiber
„Muskelatrophien bei Erkrankungen der Gelenke, der Knochen und
ihrer nachster Umgebung 44 in dem Sinne, er „sei so vorgegangen, wie
jeder Andere auch“, d. h. „wenn ein vollig analoges klinisches und
pathologiseh-anatomisches Bild vorliegt, so muss dasselbe auf eine und
die namliche Ursache bezogen werden, und wenn diese Ursache vorfiber-
gehend, die Folgenerscheinungen aber bleibend sein konnen, so ist an-
zunehmen, dass Falle, in denen momentan das ursachliche Moment
nicht zu Recht besteht, die Hypothese noch nicht hinfallig machen, so
lange die Moglichkeit vorliegt, anzunehmen, dass das causale Moment
vorhanden war und verschwunden ist 44 Das Hauptsachlichste und
Originelle dieses Satzes besteht in dem letzten Theile desselben („so
lange die Moglichkeit vorliegt, anzunehmen, dass das causale Moment
vorhanden war und verschwunden ist 44 ).
Es ist namlich die Thatsache der klinischen Aehnlichkeit zwischen
cerebralen und arthropathischen Amyotrophien, sowie die haufige
Coexistenz beider Storungen schon vor A. A. Kornilow bekannt
gewesen und auch die Frage nach der Verwandtschaft beider vor ihm
aufgeworfen worden. Von russischen Forschern betont diese Analogie
ganz besonders L. 0. Darkschewitsch 2 ), indem er in einer hierauf be-
ziiglichen Arbeit sich folgendeFrage vorlegt: „Wenn thatsachlich zwischen
den beiden Formen von Amyotrophie, den arthropathischen und den
hemiplegischen, eine so grosse Aehnlichkeit vorhanden ist, ware
1) In seinem spateren Werke fiber „Muskelatrophie“ erwahnt der Verfasser
noch einen zweiten von ihm untersuchten Fall mit ebenfalls negativem Sections-
befiind.
2) Vgl. Erkrankung der Gelenke und Muskeln bei cerebralen Hemiplegien.
Wratsch 1891. S. 895 ff. In russischer Sprache.
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Ueber eine Affection der Varol’schen Brflcke mit bilateraler Lahmung etc. 251
dann nicht anzunehmen, die Muskelatrophie des Hemiplegikers sei
nichts Anderes, als eine Art Muskelatrophie arthropathischer Herkunft ? 44
Darkschewitsch will diese Frage jedoch nicht definitiv entscheiden,
sondem ffberlasst dies zukttnftigen Untersuchungen. Er erkennt nur
das Eine an, dass bei Hemiplegien Gelenkaffectionen auf die Ent-
wicklung von Muskelatrophien einen Einfluss ausuben konnen, und
bemerkt dann weiter: „Nicht zu vergessen ist, dass Muskelatrophien
von ganz der namlichen Art wie bei Hemiplegien, auch bei ver-
schiedenen Erkrankungen des Gehims, die das Bild der Lahmung
nicht hervortreten lassen, zur Erscheinung kommen konnen * 4 .
„So lange durch eine Reihe von Sectionsbefunden nicht bewiesen ist,
dass hemiplegische Amyotrophien nicht anders als in Abhangigkeit
von einer Arthropathie zur Beobachtung kommen, wird es richtiger
sein anzunehmen, dass Gelenkaffection und Muskelatrophie bei Hemi¬
plegien Erscheinungen darstellen, welche zwar mit einander in einer
gewissen Wechselwirkung stehen, nichtsdestoweniger jedoch in Ab¬
hangigkeit von einer und der namlichen Ursache und von einer be-
stimmten Affection des Gehirns zur Entwicklung gelangen . 44 J ) Wer
nach diesen Worten als Vertheidiger der Hypo these vom arthro-
pathischen Ursprunge cerebraler Amyotrophien auftritt, darf sich
m. E. nicht begntigen mit dem Hinweis auf die klinisehe Aehnlichkeit
zwischen cerebralen und arthropathischen Amyotrophien, sondem
nrasste wenigstens in einigen Fallen von Hemiplegien, in welchen
der Zusammenhang der Amyotrophie mit einer Arthropathie wegen
scheinbaren Mangels einer Gelenkerkrankung zweifelllaft erscheint,
einen Sectionsbefund beibringen, aus dem hervorginge, dass auch in
diesen Fallen Andeutungen einer bestehenden oder wenigstens vor-
handen gewesenen Gelenkaffection sich nachweisen lassen. Anderen-
falls bleibt nichts tibrig, als die vollig aus der Luft gegriffene Ver-
muthung, „die Ursache (i. e. die Arthropathie) sei vorhanden gewesen
und verschwunden 44 .
Unser Fall nun verlief von Anfang an unter arztlicher Beobachtung
im Krankenhause und bei bestandiger aufmerksamer klinischer Unter-
suchung. Eine Gelenkaffection konnte hier nicht wohl iibersehen werden,
und doch entwickelte sich vollig deutliche Amyotrophie. Dieser Fall
dient also offenbar zur Widerlegung der oben erwahnten, auf so ausserst
sch wachen Fiissen stehenden Hypothese. lch konnte iibrigens aus dem Be-
reiche meiner klinischen Erfahrung noch mehrere andere Falle cerebraler
Affectionen anftihren, in welchen Muskelatrophien vorlagen, obwohl das
Vorhandensein einer Arthropathie mit Sicherheit ausgeschlossen war.
1) Wratsch 1891. Nr. 40. S. 826. In russischer Sprache.
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252
XIV. y. Bechterew
Wenn somit die Annahme einer directen Abhangigkeit der cere-
bralen Muskelatrophien von einer gleichzeitig bestehenden Arthro-
pathie von der Hand zu weisen ist, so dtirfen jene Momenta, von
welchen die fragliche Hypothese urspriinglich ihren Ausgangspunkt
genommen, namlich die Haufigkeit der Coincidenz von cerebraler
Amyotrophie mit Arthropathien und die klinische Aehnlichkeit
zwischen cerebralen und arthropathischen Muskelatrophien, unserer
Beachtung nicht entzogen werden. Beide Erscheinungen, die den
Klinikem schon langst aufgefallen sind, sind fraglos insofern von
Bedeutung, als sie im Lichte einer die Genese der cerebralen Amyo-
trophien zutreffend begriindenden Hypothese die eine oder die andere
Deutung werden finden konnen.
Was die sonstigen in der Literatur vorhandenen Darstellungs-
versuche des Pathogene der cerebralen Amyotrophien betrifft, so ist
schon von Charcot 1 ) zur Erklarung der cerebralen Amyotrophien
die Hypothese der consecutiven Veranderungen des Rlickenmarks
geltend gemacht worden. Nach dieser Lehre bildet nicht der Gehim-
herd selbst die unmittelbare Ursache der entstehenden Atropine, son-
dern eine in derFolge auftretende krankhafte Affection des Vorderhorns
als Propagation einer secundaren Sklerose der Pyramidenbahnen.
Ausser dem von Charcot selbst beschriebenen Falle sind von {ran-
zosischen Autoren eine ganze Reihe cerebraler Amyotrophien ver-
offentlicht worden, in welchen Atrophie von Zellelementen des Vorder-
hornes nachgewiesen werden konnte. Beachtenswerth in dieser
Beziehung ist besonders die Monographie von Brissaud 2 ), in welcher
mehrere Falle von Gehirnaffectionen mit Sectionsbefund und Nach-
weis von Zellatrophie in dem contralateralen Vorderhome mitgetheilt
werden. Bekannt sind ausserdem die Falle von Pitres, Hallopeau
und Anderen mit analogen Veranderungen im RUckenmarke. Ich kann
meinerseits einen weiteren genau untersuchten Fall von cerebraler
Amyotrophie mit Auftreten von Atrophie des contralateralen Vorder-
hornes den schon vorhandenen hinzuzufttgen.
Alle diese Thatsachen sprechen unzweifelhaft zu Gunsten der von
Charcot entwickelten Ansichten. Im Jahre 1876 jedoch untersuchte
Babinski 3 ) in Charcot's Laboratorium einen Fall von cerebraler
Amyotrophie, ohne die erwarteten Veranderungen im Riickenmarke
1) Charcot, L^ons sur le syst&me nerveux. Tome I. Vgl. auch Carrieux,
Des amyotrophies spinales s^condaires. These de Paris 1875.
2) Brissaud, Recherches anatomo-pathologiques et physiologiques sur la
contracture permanente des h^miplegiques. Paris 1880.
3) Babinski, Atrophie musculaire d’origine c^rebrale. Travail de labora-
toire de M. Charcot. Comptes rendus de la Soci4t^ de Biologic 1886.
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Ueber eine Affection der Varol’schen Briicke mit bilateraler Lahmung etc. 253
vorzufinden. Nach einiger Zeit untersuchte der Genannte noch zwei
weitere Falle von cerebraler Muskelatrophie mit ebenfalls negativem
Ergebniss der anatomischen Untersuchung des Rtlckenmarkes. Es
erhellt hieraus die Moglichkeit der Entwicklung cerebraler Muskel-
atrophien auch ohne Veranderungen des Rtlckenmarkes. In der Mehr-
zahl der spater veroffentlichten Beobachtungen wird in der That das
Fehlen jeglicher Veranderungen in den Vorderhoraem des Rticken-
markes strict hervorgehoben.
Einige Autoren wandten sich nun zu der Annahme dynamischer
Veranderungen an den Nervenzellen der Vorderhomer des Markes,
bedingt durch eine der cerebralen Amyotrophie zu Grunde liegende
Affection des Gehims. Ich muss aber gestehen, dass ich mich fiir
die Annahme solcher dynamischer Veranderungen nicht zu erwarmen
vermag. Derartige Veranderungen konnen nach Belieben tiberall ver-
muthet werden, es kann mit dieser Vermuthung jede beliebige Hypo-
these gestutzt werden, doch fQr das exacte Wissen ist der dabei er-
zielte Gewinn hochst gering anzuschlagen. Was aber speciell die
Annahme einer Entstehung cerebraler Muskellahmungen in Abhangig-
keit von dynamischen Veranderungen in den Vorderhomzellen des
Rtlckenmarkes betrifft, so stehen damit meiner Ansicht nach auch die
klinischen Erscheinungen im Widerspruche. Es kommen namlich bei
atrophischen Processen an den Vorderhomzellen des Rtlckenmarkes in
der Regel sog. degenerative Atrophien mit Entartungsreaction und
Erloschen der Sehnenreflexe zur Beobachtung. Dynamische Ver¬
anderungen an den Vorderhomzellen des Markes mtissten, wenn sie
zu Atrophie ftihren sollen, offenbar so beschaffen sein, dass sie eine
Herabsetzung jener den Zellen entspringenden Impulse, die ftir die
Nutrition der Muskeln von Wichtigkeit sind, im Gefolge haben. Es
muss also der Einfluss der Zellatrophie und der functionellen Inactivitat
der Nervenzellen auf die Nutrition der Muskeln im Wesentlichen der
gleiche sein und konnte nur graduelle Unterschiede darbieten. Hieraus
erhellt aber, dass durch die vermutheten dynamischen Veranderungen
des Rtlckenmarkes, sofern sie zu functioneller Inactivitat der Elemente
der Vorderhomer hinfiihren, zu gleicher Zeit eine, wenn auch gering-
gradige degenerative Atrophie und Herabsetzung der Reflexe im
Gefolge haben mtlssen, was indessen de facto nicht stattfindet. In
vereinzelten derartigen Fallen*) wurde ubrigens incomplete Entartungs¬
reaction beobachtet, in alien tibrigen Fallen jedoch waren, wenn Qber-
haupt, so nur quantitative und keine qualitativen Veranderungen der
elektrischen Muskelreaction zu constatiren. Endlich bleibt noch die
1) vgl. z. B. Eisenlohr, Neurologisches Centralblatt 1890. Nr. 1.
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254
XIV. v. Bechterew
Frage offen, wie der geschwachte trophische Einfluss seitens der
Nervenzellen der Vorderhomer des Markes auf die Musculatur eine
Atrophie der Muskeln bedingen kann, ohne zahlreich atrophische
Veranderungen in den Nervenfasern zur Folge zu haben?
Alle diese Momente sind, meine ich, ausreichend, um die Hypothese
der dynamischen Veranderungen der Vorderhornzellen als Ausgangs-
punkt atrophischer Muskelprocesse ablehnen zu konnen. 1st aber die
Annahme eines Einflusses dynamischer Veranderungen der Vorderhom-
zellen auf die Entstehung cerebraler Atrophien nicht begrundet, so kann
auch die Hypothese Charcot's betreffend die genetische Abhangigkeit
cerebraler Amyotrophien, wenigstens der friihen, von atrophischen
Veranderungen an den Vorderhornzellen des Rtickenmarkes aus den
gleichen Griinden von der Hand gewiesen werden, zumal solche
atrophische Veranderungen in Fallen cerebraler Amyotrophien, wie
wir gesehen haben, bei weitem nicht die Regel ausmachen, und jeden-
falls nur in den spateren Krankheitsphasen, wahrend des Auftretens
von Skierosen, zur Beobachtung kommen, nicht aber zu einer Zeit, wo
die frtihen cerebralen Amyotrophien auftreten, d. h. im Verlaufe der
ersten 3—4 Wochen nach dem Beginn der Affection.
Nach der Ansicht vonBorgherini, die sich von den vorerwahnten
nur wenig unterscheidet, giebt es besondere trophische Centra in der
motorischen Zone der Rinde bezw. in der subcorticalen Region, welche
auf die motorischen Zellen der Vorderhomer des Markes einen dyna¬
mischen Einfluss austiben sollen. Doch wird dieser Einfluss nicht
durch Vermittelung der Pyramidenbahnen, bei deren Sklerose Amyo¬
trophien erst in den spateren Phasen auftreten, sondem durch Ver¬
mittelung der sensiblen Bahnen ausgeiibt.
Diese Ansicht ftihrt jedoch, ohne die schwachen Seiten der vor-
hergehenden zu eliminiren, zur Erklafting des pathologischen Processes
eine neue Promisse auf, die weder mit den klinischen, noch mit den
pathologisch-anatomischen Thatsachen im Einklange steht.
Auf die Hinfalligkeit dieser Ansicht hat daher Eisenlohr und
spaterhin L. 0. Darkschewitsch hingewiesen, gesttitzt auf Falle von
Amyotrophien bei lntactheit der sensorischen Leitungsbahnen. Unser
Fall, in welchem an den unteren Extremitaten keinerlei sensible
Storungen vorhanden waren, ist der Annahme von Beziehungen der
sensiblen Bahnen zu den cerebralen Amyotrophien ebenfalls nicht
gftnstig.
Quincke 1 ), Hirt 2 ) und Eisenlohr 3 ) neigen zu der Annahme
1) Quincke, Deutsches Archiv fur klinische Medicin. Bd. 42.
2) Hirt, Pathologie und Therapie der Nervenkrankheiten. 1890.
3) Eisenlohr, Neurologisches Centralblatt 1890. Nr. 1.
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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 255
einer unmittelbaren trophischen Beeinflussung des Muskelsystems durch
das Gehim. Nach Ansicbt von Quincke, die sich auf der Beobachtung
dieser Falle cerebraler Amyotrophien stiitzt, miissen in den Central-
windungen des Gehirns ausser den motorischen Centren trophische
vorhanden sein, von welcben selbstandige cortico-musculare Leitungs-
bahnen ibren Ausgangspunkt nebmen. Er hoffte bierin eine Erklarung
zu finden fttr die bin und wieder beobachteten Falle von Atrophien
obne motoriscbe Paralysen, wie auf der anderen Seite fiir Falle von
Labmungen ohne Atropbie. Aucb Eisenlohr glaubt an eine unmittel-
bare Einwirkung des Gebims auf die Muskelemahrung, unbeschadet
einer mittelbairen seitens der Vorderhomer des Rflckenmarkes. Doch
aussert er sich dabei in bestimmter Weise weder fiber die Localisation
dieses trophischen Centrums, nocb fiber die Bahnen, die als Uebertrager
jener Einwirkungen auf die Muskeln sich darstellen sollen. Wie schon
erwahnt, stellt sich Eisenlohr ineinem Gegensatzzu Borgherini, nach
dessen Ansicht die trophischen Centren des Gehirns ihren Einfluss auf
die Muskeln durch Vermittelung sensorischer Leitungsbahnen ausfiben.
Diese Hypothese beseitigt anscheinend alle jene Schwierigkeiten,
mit denen alle fruheren Anschauungen fiber die Entstehungsweise der
cerebralen Amyotrophien zu kampfen hatten, doch besitzt sie, ab-
gesehen vondereinfachenVermuthung fiber das Vorkommen trophischer
Hirncentra, keinerlei festere Grundlagen. Auch darf mit Riicksicht
auf dieselbe der Umstand nicht tibersehen werden, dass bei Hemi-
plegien bekanntlich neben Amyotrophien in der Regel auch Arthro-
pathien zur Beobachtung gelangen, und wenn man erstere durch
Hinwegfall des trophischen Einflusses corticaler Centra erklaren will, so
muss natfirlich auch die Entstehung der Arthropathie in Abhangigkeit
gebracht werden von einer Alteration des trophischen Einflusses der
Gehimrinde. Gleichwohl aber wflrde die Abhangigkeit der genannten
beiden pathologischen Processe von einer Functionsstorung eines und
desselben Rindencentrums nicht nothwendig zu der Annahme eines
besonderen corticalen trophischen Centrums hinftthren, welches, was
an und fur sich schon wenig wahrhrscheinlich, gleichzeitig die Nutrition
einer ganzen Reihe heterogener Organe beeinflusste.
Ich meine also, die Hypothese von dem Vorhandensein specieller
trophischer Centra in der Gehimrinde, die dabei unmittelbar auf die
Muskeln einwirken, konne zur Erklarung der cerebralen Amyotrophien
nicht als ausreichend bezeichnet werden.
Neuerdings ist eine besondere vasomotorische Hypothese von
Roth und Muratow aufgestellt werden. 1 ) Von letzterem ist dieselbe,
1) W. K. Roth und W. A. Muratow, Zur Pathologie des Grosshirus.
Jubilaumsschrift fur Koshewnikow. Moskau 1896. In russischer Sprache.
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256
XIV. v. Bechterew
wie A. Kornilow 1 ) mittheilt, jedoch schon jetzt aufgegeben worden,
wahrend zu Gunsten derselben sich spaterhin L. 0. Darkschewitsch,
wenn auch nicht mit voller Entschiedenheit ausgesprochen hat, da er
zum Theil noch an der dynamischen Hypothese festhalt Es bleibt
also augenblicklich nur W. Roth als ttberzeugter Anhanger der vaso-
motorischen Lehre tibrig.
Meiner Ansicht nach ist von alien die Pathogenese der cerebralen
Amyotrophien betreffenden Hypothesen die vasomotorische am meisten
geeignet, die noch weit offen stehende Frage in zutreffender Weise za
beleuchten, wie ich dies schon in der Section flir Nervenkrankheiten
und Psychiatrie auf dem V. Pirogoff'schen Aerztecongress 2 ) hervor-
zuheben Gelegenheit hatte. Allem zuvor spricht zu Gunsten derselben
die Thatsache, dass die Muskelatrophie in anatomischer Beziehung an
jene Atrophien erinnert, die im Gefolge von Storungen des Zuflusses
und der Zusammensetzung des Blutes, wie z. B. bei marastischen und
kachektischen Zustanden, sich einstellen. Auf der anderen Seite lasst
sich das haufige Nebenhergehen von Muskelatrophie mit Gelenk-
affectionen am leichtesten mit vasomotorischen Storungen in Zu-
sammenhang bringen. Die Grundlage solcher Gelenkaffectionen bildet,
wie wir wissen, eine Synovitis, und was ist naturlicher, als sich diese
Synovitis entstanden zu denken durch vasomotorische, mit der Hemi-
plegie nebenhergehende Veranderungen der Gelenke? Fflr die frag-
liche Hypothese spricht endlich auch die Haufigkeit vasomotorischer
Storungen bei cerebralen Paralysen.
Stauungserscheinungen und Oedeme, die ja so oft bei Hemiplegien
zur Beobachtung gelangen, spielen, wie auch Roth mit Recht hervor-
hebt, in der Pathologie der cerebralen Amyotrophien keine besondere
Rolle. Es treten namlich diese Erscheinungen ofters in Fallen auf^
wo keinerlei Anzeichen von Atrophie vorhanden sind, und andererseits
konnen Atrophien auch bei Mangel von Stauungs- und Oedem-
erscheinungen vorhanden sein. Es kann deshalb die Muskelatrophie
bei Hemiplegien nur Folge sein einer ungenttgenden Blutversorgung
der Muskeln, und als Grundlage der mangelhaften Blutzufuhr zu den
Muskeln muss ein Gefassspasmus angenommen werden. „ln analoger
Weise", bemerkt W. Roth, „wie sich Hypertrophie der willkftrlichen
Muskeln entwickelt bei Lasionen der motorischen Zone der Rinde oder
der Pyramidenbahnen, so tritt bei Affectionen der gleichen Statten
wohl auch eine Hypertrophie der Muskelvasomotoren auf.“ Roth
verweist ferner auf die bekannten Untersuchungen von Landois und
1) Muskelatrophien etc. Theil II. S. 23. In russischer Sprache.
2) Vgl. die Protocolle dieses Congresses.
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Ueber eine Affection der VaroFschen Briicke mit bilateraler Lahmung etc. 257
Eulenburg liber cortical© vasomotorische Centra und auf den Satz,
dass zusammen mit dem willknrlichen Bewegungsimpulse vom Gehirn
h5ch8twahr8cheinlich ein vasodilatatorischer, Hyperamie auslosender
Impuls den Muskeln zugeht. Hiernach kann eine anatomische Affection
der entsprechenden Centra gleichzeitig die Grundlage schaffen ftir
Lahmung und Gefassverengerung in den Muskeln. Roth nimmt an,
eine solche Gefassverengerung konne bedingt sein durch Veranderungen
spinaler vasomotorischer Centra, da im Rtickenmarke im Anschluss
an den Gehiimprocess sich die Bedingungen zu einer Hypertrophie
der Vasomotoren in ganz ahnlicher Weise, wie zu einer Hypertrophie
der willktirlichen Musculatur entwickeln konnen. Dies ist das Wesen
der vasomotorischen Hypothese.
Man konnte nattirlich fragen, warum die cerebrale Atrophie sich
nicht gleichmassig liber alle Muskeln verbreitet, sondem gewisse
Muskelgebiete im Verhaltniss zu anderen starker afficirt, und warum
die Atrophie auch in den namlichen Muskeln nicht gleichmassig sich
verhalt? Hierauf ist zu antworten, dass, wie so oft im Veriaufe
pathologischer Processe, nicht alle Elemente in der namlichen Weise
auf allgemeine Emahrungsstorungen reagiren, dass die einen haufig
zu Grunde gehen, wahrend die anderen unversehrt bleiben. Ausserdem
kann auch die Capillargefassversorgung verschiedener Muskeln eine
sehr ungleiche sein. In Folge dessen wird die Verengerung der
Gefasslichtung verschiedene Gebiete des Capillarnetzes in ungleicher
Weise beeinflussen konnen.
Die schwachste Seite der vasomotorischen Hypothese scheint mir
darin zu liegen, dass ihr in Bezug auf das Vorkommen vasomotorischer
Storungen bei cerebralen mit spastischen Erscheinungen einhergehenden
Atrophien noch keine thatsachlichen Grundlagen zu Gebote standen.
Die Arbeit von Roth und Muratow enthalt, abgesehen von allge-
meinen Erorterungen fiber Vorkommen vasomotorischer Storungen bei
Hemiplegien keine nahere thatsachliche Begrtindung der Hypothese.
In den in dieser Arbeit angefuhrten beiden Beobachtungen ist bei-
spielsweise die Messung der peripherischen Korpertemperatur im
Gebiete der gelahmten Gliedmassen mit keiner Silbe erwahnh
Auch in den spaterhin erschienenen Arbeiten liber die vorliegende
Frage finden wir nach dieser Richtung hin keinerlei bestimmtere An-
gaben. Im Hinblick hierauf habe ich, da mir die vasomotorische
Hypothese von vorneherein die Entstehung der Amyotrophien bei
Gehimaffectionen am besten zu beleuchten schien, in jedem ent¬
sprechenden Falle von Muskelatrophie auf den Zustand der peripheren
Temperatur der gelahmten Gliedmassen besonders achtgegeben und
konnte dabei eruiren, dass thatsachlich in alien Fallen Gliedmassen
Deutsche Zeitscbr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 17
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258
XIV. v. Bechterew
mit frtthzeitiger Atrophie schon in der ersten Zeit nach dem Auf-
treten der Gehirnaffection eine im Verhaltniss zu symmetrischen
Gebieten der anderen Seite mehr Oder weniger deutlich herabgesetzte
periphere Temperatur aufweisen. Erst mit dem Auftreten von Gelenk-
affectionen konnte am Orte des befallenen Gelenkes eine gewisse
Steigerung der peripherischen Temperatur bemerkt werden, die im
Hinblick auf die Entzttndung in der Tiefe eine einfache Erklarung
zuliess. Bei Mangel einer Complication mit Gelenkerkrankungen war
dagegen constant eine, manchmal schon fftr das Geffthl deutliche
Herabsetzung der peripheren Temperatur des afficirten Gliedes zu
beobachten. So bestand auch in dem eingangs dieses Aufsatzes be-
schriebenen Falle deutliche Herabsetzung der peripheren Temperatur
der unteren Extremitat auf der Seite der Muskelatrophie. Hier handelte
es sich offenbar um einen Gefassspasmus, da weder von Stauung, noch
von Oedem, diesen bei veralteten Hemiplegien in den gelahmten
Gliedmassen so gewohnlichen Erscheinungen, nicht die Rede sein
konnte. lch bin also der Meinung, die vasomotorische Hypothese der
cerebralen Amyotrophien erhalte durch die erwahnten Beobachtungen
eine thatsachliche Bestatigung, und es bleibt gleichzeitig, wie mir
scheint, kein Zweifel tibrig, dass das Auftreten von Muskelatrophien
bei Gehimaffectionen mit dem Auftreten von Gefassspasmen in den
afficirten Giiedmaassen in directem Zusammenhange steht.
Da die absteigenden Bahnen aus den vasomotorischen Rinden-
centren durch das Gebiet der Capsula interna und der subcorticalen
Ganglien langs des ganzen Gehirnstammes zum verlangerten Marke
hinziehen, so ergiebt sich, dass cerebrale Affectionen der allerverschie-
dens ten Localisation zur Entwicklung von Muskelatrophieen ftthren
konnen, wie dies auch in unserem Falle bestatigt wird. So sind bei
cerebralen Amyotrophien vorgefunden worden Affectionen im Gebiete
der Himrinde und der subcorticalen Regionen, besonders in den
Centralwindungen (Fall von Bouchard, drei Falle von Quincke,
die Falle von Potella, Eisenlohr u. A.) und sogar in den Schlafen-
windungen (in den letzteren tibrigens gleichzeitig mit einer Affection
des Centrum semiovale; vgl. den Fall von Roth und Muratow),
sodann im Marke des Centrum semiovale (Falle von Charcot,
Babinski u. A.), im Gebiete der inneren Kapsel und der grossen
Ganglien, insbesondere des Thalamus opticus (Fall von Senator,
Borgherini, letzterer Fall ohne Autopsie), im Gebiete des Gross-
hirnschenkels (einer der Falle von Eisenlohr, in welchem gleich¬
zeitig mit dem Thalamus auch ein Theil der Hirnschenkelhaube zerstort
war); endlich im Gebiete der Varolsbrttcke, wie aus dem hier von uns
berichteten Falle hervorgeht. Wenn bei weitem nicht alle Falle mit
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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 259
den soeben namhaft gemachten Localisationen von Muskelatrophie
begleitet werden, so erklart sich dies durch den Umstand, dass auch
Gefassspasmus bei Himaffectionen durchaus keine haufige Erscheinung
darstellh Es ist sehr wahrscheinlich, dass neben einer bestimmten
Localisation der Gehirnaffection auch der Charakter dieser letzteren
bei der Entstehung des Gefassspasmus eine gewisse Rolle spielt, doch
bedarf diese Frage noch weiterer Prftfang.
Was die besonders in verschleppten Fallen manchmal vorhandene
Zellatrophie der Vorderhorner betrifft, so steht diese Erscheinung mit
obiger Hypothese schon deshalb nicht im Widerspruche, weil fur diese
Atrophie besondere Ursachen, die mit der cerebralen Affection zu-
sammenhangen, vorliegen konnen. Hierauf ist auch von W. Roth in
seiner in Gemeinschaft mit W. Muratoff veroffentlichten Schrift
hingewiesen worden. Nach Ansicht dieser Autoren „kann wahre Zell¬
atrophie mit der Muskelatrophie nebenher gehen, aber auch nach der-
selben zur Entwicklung gelangen. Es konnen im ganzen Rttcken-
marke Bedingungen zur Entwicklung von Atrophie der Yorderhornzellen
gegeben sein, wie hohes Alter, und hierzu gesellt sich speciell far die
erkrankte Seite der Hinwegfall willktirlicher functioneller Erregungen
von Seiten des Gehirns und vielleicht auch Fehlen des Retrotonus
(S. Mayer) in Abhangigkeit von Atrophie isolirter Muskelfasern . 41
Mir scheint flberhaupt, der Ursachen zum Auffcreten von Vorderhom-
zellatrophie bei cerebralen Affectionen sind mehr als ausreichend, und
es kann daher dieses Moment keinesfalls far die dargelegte Hypothese
eine Klippe bilden. Im nachsten Zusammenhange steht die Atrophie
der Vorderhomelemente m. E. mit der Inactivitat der gelahmten
Gliedmassen und mit dem Hinwegfall cerebraler Impulse.
Welche Erklarung, fragen wir zum Schlusse, giebt es far die
klinische Analogic zwischen cerebralen und arthropathischen Atro-
phien? Diese Analogie ist eine so auffellende, dass sie, wie wir
sahen, bereits zur Schaffung einer Hypothese gefahrt hat, welcher zu-
folge die cerebrale Atrophie an und far sich nichts Anderes ist, als
eine arthropathische Atrophie, und nicht unmittelbar, in Folge einer
Affection der Nervencentra, sondern im Gefolge des arthropathischen
Processes zur Entwicklung kommt
Die klinische Analogie zwischen den genannten beiden Arten der
Atrophie deutet fraglos auf eine gewisse Verwandtsehaft ihrer Patho-
genese, und aus diesem Grunde muss hier die Pathogenese der arthro¬
pathischen Amyotrophien, wenn auch nur in aller Kfirze, erwahnt
werden. Auf Grundlage einer ganzen Reihe klinischer und experimen-
teller Thatsachen wird gegenwartig der Satz zu begrfinden versucht,
dass die arthropathische Amyotrophie aufzufassen sei als eine reflec-
17*
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260
XIV. v. Bechterew
torische, hervorgerufen durch den Einfluss sensibler Reizung in dem
afficirten Gelenk, welche auf die Nutrition der diesem letzteren be-
nachbarten Muskeln durch Vermittlung des Rtickenmarks einwirkt.
Diese Art der Beeinflussung der Muskelemahrung durch das erkrankte
Gelenk wird vor Allem bewiesen durch die von Valtat begonnenen
und spaterhin von Christin und Kornilow wiederholten Experi-
mente uber Durchschneidung der hinteren Nervenwurzeln. Wie diese
Versuche zur Evidenz beweisen, tritt arthropathische Amyotrophie nur
auf bei Integritat der hinteren Cerebrospinalwurzeln und bleibt aus
bei Durchschneidung dieser Wurzeln. Gestutzt von einer Reihe von
Autoritaten, wie Paget, Brown-S6quard, Vulpian, Charcot und
Raymond erscheint diese Hypothese gegenwartig als die herrschende.
Es giebt aber eigentlich zwei reflectorische Hypothesen. Nach der
einen wirkt die von der Peripherie zum Rtlckenmark gerichtete Er-
regung hier auf die vasomotorischen Centra und ftthrt hierdurch zu
Muskelatrophie. Nach der anderen ruft der von der Peripherie spinal-
• warts fortgeleitete Reiz dynamische Veranderungen in den Zellen der
Vorderhorner des Rtickenmarks hervor und ftthrt so zu Muskel¬
atrophie. Diese letztere Hypothese begegnet trotz ihrer grossen Ver-
breitung den gleichen Schwierigkeiten, welche wir bei Gelegenheit
der Darlegung der dynamischen Theorie der cerebralen Amyotrophien
hervorzuheben Gelegenheit hatten. Mir scheint ttberhaupt, es konnen
gegenwartig dynamische Einflusse zur Erklarung einer Erscheinung
nur in dem Falle geltend gemacht werden, wenn alle ttbrigen moglichen
Erklarungsversuche ausgeschlossen sind. Lasst sich aber die vaso-
motorische Hypothese ohne Weiteres von der Hand weisen? Auch von
solchen, die an der erstgenannten Hypothese festhalten, wird eingeraumt,
dass die vasomotorische Hypothese noch heute eine gewisse Berechtigung
fiir sich hat. 1 )
Schopfer der vasomotorischen Hypothese ist eigentlich Brown-
Sequard. Er fand bei seinen Versuchen, dass Reizung der unteren
Extremitaten, z. B. durch Verbrennung, zur Folge hat Hyperamie
der unteren Theile der Eingeweide, der Nieren, der Harnblase, der
Darme etc. Nach Durchschneidung des Lendenmarkes hingegen
beobachtete Brown-Sequard unter den gleichen Verhaltnissen keine
Hyperamie der Nieren, sondem nur Hyperamie der Blase und des
Mastdarms, da die Centra der hohergelegenen Theile ausgeschaltet
waren. Durch diese und ahnliche Versuchsergebnisse beleuchtet
Brown-Sequard die wichtige Bedeutung der spinalen vasomotorischen
Centra fttr den Zustand der peripheren Korpergefasse. Was die
1) vgl. A. Kornilow, Muskelatrophien etc. Bd. II. S. 24.
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Ueber eine Affection der VaroPschen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 261
arthropathischen Amyotrophien betriflft, so nimmt hier nach Ansicht
von Brown-S6quard die Erregung ihren Ausgangspunkt von dem
irritirten Theile des Nerven, breitet sich in der Richtung zu den
Nervencentren aus und f&hrt auf reflectorischem Wege zu Gefass-
contraction in der einen oder anderen Korperregion und hiermit zu
einer Herabsetzung der Ernahrung.
Gegen diese Hypothese hat z. Z. Vulpian, ein Vorkampfer der
dynamischen Theorie der arthropathischen Amyotrophien, Bedenken
erhoben. Der schwerwiegendste Einwand bestand darin, dass bei
elektrischer Reizung der Vasomotoren die Farbe der Muskeln nur sehr
geringfOgige Veranderungen erleidet. Doch was beweist dies? Ab-
gesehen davon, dass bei der Elektrisation wir die Vasoconstrictoren
von den Yasodilatatoren nicht zu trennen vermogen, ist zur Gentlge
bekannt, dass in der Pathologie unmerkliche Einflusse, wenn sie be-
standig nach einer und der namlichen Richtung hinweisen, sich zu
offenbaren und ansehnlichen Wirkungen summiren konnen.
Die dank der Autoritat Vulpian's fast der Vergessenheit anheim- *
gefallene vasomotorische Hypothese verdient meines Erachtens wieder
an das Licht gezogen zu werden, da sie einer strengen Kritik gegen-
fiber viel stichhaltiger erscheint, als die oben erwahnte dynamische
Hypothese.
Dieser vasomotorischen Hypothese zufolge findet die arthro-
pathische Atrophie, sowie die ihr nahestehenden Atrophien nach Frac-
turen und Luxationen ihre Erklarung durch vasomotorische Storungen,
hervorgerufen durch das Riickenmark mittelst eines Reflexes, dessen
Quelle der Krankheitsprocess im Gelenke, bezw. am Orte der Fractur
darstellt Aehnlich wie bei Amyotrophien in Folge von cerebralen
Affectionen ein durch Vermittlung von Rtlckenmarkszellen angeregter
dauernder Yasomotorenspasmus auftritt, so kann auch in Fallen von
Gelenkaffectionen auf reflectorischem Wege durch Vermittlung von
Rfickenmarksnervenzellen ein vasomotorischer Spasmus zur Entwickelung
gelangen, dessen Quelle jedoch nicht im Centrum, sondera an der
Peripherie sich findet.
So wird uns jene klinische Analogie verstandlich, welche wir oben
zwischen cerebraler und arthropathischer Amyotrophie hervorgehoben
haben.
Nicht unberttcksichtigt bleiben darf in der uns hier beschaf-
tigenden Frage die gegenseitige Wechselwirkung zweier gleichzeitig
wirksamer pathologischer Vorgange. Gesetzt, wir hatten eine cerebrale
Amyotrophie, begleitet von einer Arthropathie des entsprechenden
Gelenkes, so tibt letztere an und fQr sich, als pathologische Gelenk-
affection, secundar auch auf die Muskelernahrung ihren Einfluss aus.
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262 XIV. v. Bfchterew, Ueber eine Affection der Varol’schen Brficke etc.
Denken wir uns auf der anderen Seite den Fall von Muskelatrophie
bei einer cerebralen Hemiplegie, so wird diese Atrophie, indem sie
die Beweglichkeit des Gelenkes beeintrachtigt, an und fttr sich auch
der Entwickelung synovitischer Processe in dem Gelenke Vorschub
leisten konnen.
Es steht also das Auftreten von Amyotrophien bei Cerebral-
affectionen nicht ausschliesslich in Abhangigkeit von der Grundursache
allein, sondern theilweise auch von dem reflectorischen Einflusse der
als Begleiterscheinung sich darstellenden Arthropathie, so zwar ? dass
jene Muskeln, welche bei Arthropathien gewohnlich afficirt erscheinen,
bei cerebralen Paralysen im Verhaltnisse zu anderen Muskeln starker
in Mitleidenschaft gezogen werden und hierdurch die klinische Ana¬
logic zwischen cerebraler und arthropathischer Amyotrophie ihrerseits
noch steigern.
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XY.
Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose.
Von
Dr. £. Thoma,
An8ta]tsarzt in Illenaa.
(Mit 3 Abbildungen.)
Die zur Zeit noch herrschenden Verschiedenheiten in der patho-
logisch anatomischen Auffassung des als multiple Herdsklerose
bezeichneten Krankheitsprocesses lassen es wohl als wttnsenswerth
erscheinen, auch einzelne Falle zu verwerthen, sofern sie fflr die ge-
nauere Untersuchung geeignet sind. Es war mir Gelegenheit geboten,
hier einen Fall yon multipler Sklerose zu beobachten, der 8 Stunden
post mortem zur Section kam und daher auch noch ftir mikroskopische
Zwecke geeignet erschien. Ob wohl, wie bekannt, die klinischen Er-
scheinungen und der Verlauf dieser Krankheit sehr vielgestaltig sein
konnen, so hat sich doch an dem typischen Krankheitsbilde seit
Charcot wenig geandert.
Da der vorliegende Fall nun klinisch nichts Besonderes bietet,
vielmehr als ein typischer bezeichnet werden kann, insofern sammt-
liche Hauptsymptome vorhanden waren, so glaube ich mich in der
Krankheitsgeschichte kurz fassen zu durfen.
Krankengeschichte.
Frau R. H., 29 Jahre alt, erblich nicht belastet und friiher stets ge-
sund (speciell ist Lues auszuschliessen), erkrankte vor ca. 5 Jahren in
Amerika in unmittelbarem Anschluss an ein Wochenbett. — Die ersten
Erscheinungen bestanden ziemlich lange Zeit hindurch nur in Schwindel
und Unsicherheit im Gehen. Allm&hlich nahra die Krankheit zu und bei
der Aufnahme in die Anstalt bestand Intentionszittern, Bradyphasie, Nystag¬
mus, gesteigerte Sehnenreflexe, Fussklonus, beinahe vbllige Unffchigkeit auch
mit Unterstiitzung zu gehen, heftiges Zittern des Kopfes und Rumpfes bei
den geringsten Versuchen sich zu bewegen. Sensibilit&tsstbrungen waren
zu jener Zeit nicht nachweisbar. Psychisch war eine erhebliche Demenz
neben wechselnder reizbarer Stimmung mit viel unmotivirtem zwangs-
m^ssigem Lachen und Weinen vorhanden. Nadi und nach verschlimmerte
sich der Zustand weiter. Es traten Par&sthesien auf. Die Schmerz-
empfindung war ver^lndert. Die Reaction auf Stiche trat verspatet ein,
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XV. Thoua
daftir aber war sie gesteigert. Vor allem aber nahm die spastische
Muskelrigidit&t zu, so dass die Bewegungsfehigkeit ausserordentlich
behindert war. Im weiteren Verlaufe stellten sicb epiieptiforme Kr&mpfe
ein. Urinverhaltung and Blasenkatarrh ftihrten endlicb unter best&ndiger
Zonahme aller Symptome den Exitus herbei, der bei einer terminalen
Fiebersteigerung von 42° (in der Achselhbhle) eintrat.
Autopsie.
Gehirn: Die Dura zeigte nichts besonderes. Das Gehirn war im
Ganzen klein. Das Gewicht betrug 1095. Hierza ist za bemerken, dass
es sicb nm eine kleine Person mit geringer Sch&delkapacit&t handelte. Die
Pia hot, abgesehen von geringer Hyperamie nichts besonderes. Nach deren
Entfernung, die leicht za bewerkstelligen war, zeigten die Windungen
keine Verschm&lerang. Die Consistenz des Gehirns war im Ganzen eine
sehr feste. Beim Durchschneiden fahlte man einen elastischen Widerstand.
Aaf dem Durchschnitt erschien die Rinde nicht verschmftlert. — Bei der
Zerlegang des Gehirns zeigte sich, dass dasselbe von einer Menge sklero-
tischer Herde von graurothlicher oder graablaaer Farbe dorchsetzt war.
Die Anzahl der Herde war nicht za bestimmen, da sie sich aaf mehrere
Handerte belief. Die GrQsse der makroskopisch sichtbaren schwankte von
Stecknadelkopfgrtjsse bis za mehreren Centimetern in der L&ngsaasdehnnng.
Sie betrafen meist die weisse Sabstanz, machten aber vor der Rinde
nicht Halt, sondern gingen an vielen Stellen in dieseiiber. Die zahlreichsten
and grbssten Herde fanden sich in der Medulla, besonders in der Brhcken-
gegend. Ferner in der Umgebang, besonders dem Dach der SeitenventrikeL
Riickenmark: Im Riickenmark sah man die Herde schon aaf der
Oberfl&che darchscheinen. Sie waren nicht so zahlreich wie im Gehirn,
dagegen sehr ausgedehnt in der L&ngsrichtung. Am wenigsten befallen
war das Brustmark, am st&rksten das Lendenmark, wo der ganze Quer-
schnitt sklerotisch degenerirt war. Beilaufig ist noch bemerkenswerth, dass
in der Briickengegend die Pyramidenbahnen fast allein frei waren, wfthrend
im Cervikalmark diese wieder am stftrksten befallen waren. Weit iiber die
Grenzen der Herde hinaus za verfolgende Strangdegenerationen waren
makroskopisch nicht nachweisbar. In den iibrigen inneren Organen fend sich
bei der Patientin, abgesehen von einem Blasenkatarrh nichts besonderes vor.
Mikroskopischer Befund.
Die mikroskopische Untersuchung der zun&chst in Formol fixirten
Stiicke wurde im Wesentlichen nach ftinf verschiedenen Methoden vor-
genommen and zwar: 1. nach Weigert (Markscheidenfarbong), 2. Marchi,
3. van Gieson, 4. Nissl, 5. Weigert (Neurogliaferbang).
Die iibrigen noch verwendeten Farbungen sind nicht erw&hnenswerth,
da sie nichts wesentlich Neues za zeigen im Stande waren. Freilich wire
fiir die Vollst&ndigkeit der Untersachong nach den heutigen Anforderangen
aach noch eine leistungsfehige Fibrillenferbung wiinschenswerth gewesen.
Die versuchte (Held) ergab keine verwerthbaren Resaltate.
Immerhin diirfte man durch Vergleich entsprechender Pr¶te, die
nach den oben erw&hnten Methoden behandelt sind, in einigen Fragen
wenigstens, zu relativ sichern Resultaten gelangen kiinnen.
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Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose.
265
1. Markscheiden: Nach Weigert and Marchi behandelte Schnitte
wiesen zunachst eine, die ganze Ausdehnung der Herde umfassende Mark-
scheidendegeneration auf, die, je naher dern Centrum der Herde, um so
vollstfindiger ist. Der Uebergang in das gesnnde Gewebe war in den
allermeisten Fallen ein allmahlicher, nnr vereinzelte scharfer abgegrenzte
Herde waren zn flnden. Nach der grauen Substanz zu waren die Herde
im Riickenmark nirgends, im Gehira meistens nicht abzugrenzen. Aus
diesem Grnnde, weil die Herde sich nie auf einen Strang beschr&nkten,
sondern seitlich in die Umgebung ubergriffen, waren auch in dem vorliegenden
Falle, wie in den meisten bisher beschriebenen Strangdegenerationen nicht
mit Sicherheit nachznweisen. Zwar schienen z. B. die Hinterstr&nge stellen-
weise degenerirt, es zeigte sich aber, dass die Sklerose anch in die an-
grenzenden Partien hberging. Die Stellen muss ten daher als eigentliche
sklerotische, in der Lkngsrichtung sehr ausgedehnte Herde aufgefasst werden.
An vielen Stellen, keineswegs aber in der Mehrzahl der Falle betraf
die Degeneration der Markscheiden die Umgebung eines Gefasses. In
einigen frischen Herden war ein central liegendes Gefass zweifellos der
Ausgangspunkt der Degeneration. Eine zellige Infiltration schien in
Schnitten die nach Weigert oder von Gieson behandelt waren, an Stelle
der Markscheiden getreten zu sein.
Auch in Neurogliapraparaten ist die Degeneration der Markscheiden
gat sichtbar und gerade hier lasst sich durch die differente Farbung sehr
deutlich das allmahliche Schmalerwerden der Markscheiden bis zur volligen
Zers toning deraelben nach dem Centrum der Herde zu erkennen.
Das Vorhandensein einer fruhzeitigen Markscheidendegeneration, als
einer charakteristischen Erscheinung des ganzen Processes, ist schon lange
erkannt and allgemein bestatigt worden. Fast ebenso allgemein ist fest-
gestellt, dass:
2. Die Axencylinder relativ sehr lange dem Krankheitsprocess
widerstehen. Anch in dem vorliegenden Falle zeigten sich in frischen
Herden die Axencylinder stets erhalten. Nur in den ganz alten Herden
schienen einzelne zu fehlen und die vorhandenen stark verschmalert zu sein.
Dieser Befhnd stimmt mit dem Anderer iiberein, pflegt man doch damit
das Fehlen der Strangdegenerationen zu erklaren, die ja in grdsserer Aus-
dehnong in nicht complicirten Fallen nicht nachgewiesen sind. Russ be-
schreibt unter andern einen solchen Fall.
Ffir die Annahme Popoff's 12 ), dass es sich bei den verschmalerten
Axencylindern am eine Regeneration handle, konnte ich irgend welche
Anhaltspunkte nicht finden. Gerade Marchipraparate, welche ja die in
der Degeneration begriffenen Partien am schfirfsten zeigen, sprechen
dagegen.
3. Gefasse: Gefassveranderungen fanden sich vielfach aber keineswegs
regelmassig. Es fanden sich veranderte Gefasse neben massig verdickten
mit erweiterten perivascularen Raumen. An andern Stellen wieder massig
verdickte Wandungen mit dicht anschliessenden concentrisch darum gelagerter
zelliger Infiltration. Constant schien nur eine Verdickung der Adventitia
and wohl auch eine Vermehrung der Anzahl der Gefasse in ganz alten
Herden zu sein. Ueber die Natur der zelligen Infiltration erfahrt man in
Markscheidenpraparaten nichts sicheres. — In nach Gieson gefarbten
Schnitten, welche die der Gefasswand zugehdrigen Elemente starker hervor-
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266
XV. Thoma
treten lassen, gcheint die Verdicknng der Gefasswand, wo sie hberhaupt
vorhanden war. nnr einen massigen Grad zu erreichen.
Die perivascuiare Zellinfiltration aber trug durchaus den Charakter
der Glia. Zahlreiche Gliakeme und feinste Faserchen von blassrother
Far bung waren darin zu erkennen. Noch deutlicher zeigte sich dies Ver-
halten in Neurogliapr¶ten: ich werde weiter unten darauf zuruck-
kommen.
4. Ganglienzellen: Schon Charcot 2 ) erwfthnte die Veranderungen
in den Ganglienzellen und in den meisten Fallen wurden solche in Form
von Schrumpfung und Pigmentation beschrieben, welche Veranderungen sich
jedoch meist nur auf die alteren Herde beschrankten. Kdppen 9 ) und
Rossolimo 17 ) u. A. fanden die Ganglienzellen sogar unverandert. Wahrend
nun allerdings vanGieson- und Carminpraparate nur innerhalb der alteren
Herde Veranderungen der Ganglienzellen erkennen lassen, zeigten nach
Nissl behandelte Schnitte, dass in unserem Falle alle Ganglienzellen ver-
andert waren. Die Veranderungen waren jedoch keineswegs so hochgradig
und so ausgedehnt, wie sich erwarten liesse, wenn wir es mit einer
primaren Erkrankung derselben zu thun hatten.
Auch diirfen wohl nicht alle Veranderungen gleichmassig beurtheilt
werden.
In den alteren Herden, z. B. der Hirnnervenkerne am Boden der
Rautengrube, fanden sich ziemlich alle Veranderungen, welche als degenerative
angesehen werden. Verlust der Structur der Fortsatze, Randstellung der
farbbaren Substanz, blasiges Aussehen des Kerns, der eine Contur erhait,
Randstellung des Kerns. Auftreten von Vacuolen im Kernkbrperchen.
Endlich vbllige Chromatolyse. In frischen Herden dagegen oder in der
Nachbarschaft derselben, fanden sich die meisten Zellen nur wenig ver-
andert. Spuren von Zerfall der farbbaren Substanz schienen jedoch alle
zu bieten. Dieselben eben beschriebenen Veranderungen zeigten auch die
Rindenzellen innerhalb der Herde. Aber auch an Stellen, welche von der
Sklerose nicht befallen waren, zeigten sich Veranderungen, die ziemlich
diffus uber die ganze Rinde verbreitet waren und in Verlust des Structur
der Zelle und deren Fortsatze, farbbar werden der Zwischensubstanz und
des Kerns bestand, so dass die Zelle schliesslich ein gleichmassig fein-
korniges oder ganz homogenes Aussehen darbot. Der Zusammenhang dieser
letztgenannten Veranderungen mit dem sklerotischen Process diiifte zn
bezweifeln sein, da die Zelldegeneration innerhalb der Herde einen anderen
Charakter tragt und nach dem Centrum derselben zunimmt. Diese gleich-
massigen Veranderungen der Rindenzellen diirften vielleicht auf Rechnung
des in den letzten Tagen vorhandenen sehr hohen Fiebers zu setzen sein.
5. Neuroglia: Nehen den Markscheiden zeigt die anffailigsten Ver¬
anderungen die Neuroglia. Es ist dabei vorauszuschicken, dass die nacb-
stehenden Ergebnisse der Untersuchung sich ausschliesslich auf Befunde
an solchen Schnitten beziehen. die nach der Weigert’schen Gliamethode
behandelt waren. Die Anwendung dieser Farbung diirfte da, wo es sich
um Urtheile iiber das Verhalten der Glia handelt, ein dringendes Erforderniss
sein, da sie als absolut elective Methode sehr klare Bilder giebt und daher
Irrthiimer betreffs der ZugehBrigkeit zur Glia am meisten ausschliesst.
Betrachtet man zunachst altere Herde, so findet sich an der Peripherie
eine ausserordentliche Anhaufung von Gliakernen, die ohne scharfe Grenze
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Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose. 267
in das Normal© iibergeht (vergl. Fig. 3), znweilen auch noch strahlen-
formig zwischen die Nervenfasern eindringt und sich dort allm&hlich ver-
liert. Weiter nach innen in den Herden treten die Zellen mehr zuriick
nnd die Fasern herrschen vor. Gegen das Centrum zn wird der Faserfilz
so dicht, dass er fast homogen anssieht. In den aller<esten Herden scheint
dann die Glia vom Centrum her eine Umbildung zu erfahren.
Wenigstens verh< sich in solchen das Centrum tinctoriell verschieden
gegeniiber der Glia in der Peripherie, sowie der in frischen Herden. Fast
scheint es, als ob in solch alten Herden die Gef&sse bei dieser Ver&nderung
der Glia eine Rolle spielen. Sie scheinen dort auch regelm&ssig vermehrt
und verdickt und zeigen vielfach hyaline Degeneration. In frischen Herden
iiberwiegen stets die Gliakerne gegeniiber den Fasern, auch sind sie viel
zahlreicher als sie in normaler Glia zu sein pflegen. Die Ausgangsstellen
der Gliawucherungen liessen sich nicht an alien Orten mit Sicherheit nach-
weisen, doch liess sich wenigstens eine Anzahl davon feststellen.
Was zun&chst die graue Substanz betrifft, so war es im Riickenmark
besonders eine Stelle, von der aus der Process seinen Ausgang zu nehmen
schien. Dies war die Umgebung des Centralkanals. Dem entsprechend
weiter central der Boden der Rautengrube, iiberhaupt die Umgebung der
Ventrikel. Ferner liessen sich Herde feststellen, die von den Oliven aus-
gingen.
Besonders bei den vom Centralkanal ausgehenden Herden erhielt man
sehr instructive Bilder (vergl. Fig. 3). Die Glia wuchert nach vblliger
Sklerosimng der zun&clist gelegenen Theile der grauen Substanz nach alien
Richtungen weiter, und zwar in den anstossenden Partien der weissen
Substanz der Vorder-, Hinter- und Seitenstr&nge schneller als in der grauen.
Naraentlich die Ganglienzellenhaufen der Vorderhorner scheinen dem Fort-
schreiten des Processes einen Damm entgegenzusetzen, so dass die sklero-
tischen Partien des Vorder- und Seitenstrangs die Vorderhbrner von beiden
Seiten iiberragen.
Des Weiteren schienen Gliawucherungen von der Neurogliahiille des
Riickenmarks auszugehen. Diese letztere war auf bedeutende Strecken
stark verbreitet und von ihr aus dr&ngten sich stellenweise massenhafte
Gliakerne entlang den Septa zwischen die Fasern ein.
In der weissen Substanz fanden sich eine Menge Stellen, wo die
Gef&sse das Centrum bildeten und auch der Ausgangspunkt des Processes
zu sein schienen (vergl. Fig. 1 und 2).
Untersucht man solche perivascul&re Zelleninfiltrationen genaner in
Gliapr¶ten, so zeigt sich, dass es sich nur um Gliazellen handelt. Die
grossen, znweilen Astrocyten ahnlichen Kerne und die sp&rlicher vorhan-
denen Gliafasem lassen sich unmittelbar bis in die G1 iahtille der Ge-
f&sse verfolgen. Eine Zelleinwanderung irgend welcher Art von der
Gef&sswand her bestand in den frischen Herden nicht. Bemerkenswerth
scheinen mir auch solche Stellen zu sein, wo in anscheinend normalen
Gebieten der weissen Substanz, im Riickenmark sowohl als im Gehirn, bei
denen eine Atrophie der Markscheiden noch nirgends zu bemerken war,
sich im Verlaufe eines feinen Gliazuges plbtzlich kleine Anh&ufongen von
Gliakernen fanden, wie sie normaler Weise an solchen Stellen nicht vor-
zukommen pflegen. Diese Stellen durften wohl als kleinste Wucherungen
aufzufassen sein.
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XV. Thoma
Welchen Aufschluss giebt nun der mikroskopische Befund im
vorliegenden Falle tiber das Wesen des pathologischen Processes?
Bekanntlich sind dartiber die Ansichten in Folge der Differenz der
mikroskopischen Befunde sehr getheilt
Von alien Autoren wird nun zwar eine Markscheidendegeneration
und die Gliaverwucherung als das Charakteristische der Erkrankung
angesehen. Wahrend aber die Einen, wie Charcot, 2 ) v. Leyden,
Nothnagel, ,0 ) Erb, Marie, den Process f&r einen chronisch ent-
ziindlichen halten, sehen Andere wieder die Markscheidendegeneration
als das Primare an und nehmen an, dass die Glia erst secundar die
entstandenen Lticken ausflille, so Hess, 6 ) Koppen, 9 ) Fflrstner, 4 )
Storch 19 ) u. A.
Eine dritte Gruppe, Adamkiewiecz, Huber, 7 ) Redlich, 14 )
nehmen eine primare Erkrankung des Nervenparenchyms an.
Ziegler, 24 ) Strtimpell, 20 ) Schtile, 18 ) Probst 13 ) treten ftr
eine primare Erkrankung der Neuroglia ein. Speeiell sieht Ziegler 24 )
in einem angebornen Zustande der Neuroglia, der dieselbe befahigen
soli auf einen Reiz, Intoxication, Trauma, Kalte, durch Wucherung
zu reagiren, die Ursache der Erkrankung.
Eine Reihe von Autoren endlich, Rindfleisch, l6 ) Ribbert, 15 )
Rossolimo, 17 ) Taylor, 21 ) Williamson, 22 ) Popoff, 12 ) sind fiber
den Process selbst zwar zum Theil verschiedener Ansicht, sehen aber
gemeinschaftlich den Ausgangspunkt der Erkrankung in den Gefassen.
Was zunachst die Annahme eines myelitischen Processes betrifft,
so konnte in dem vorliegenden Falle kein Beweis ftir einen solchen
gefunden wurden. Einmal zeigten sich die perivascularen Zellinfil-
trationen, die haufig zum Beweis fur entzfindliche Vorgange beigezogen
werden, als reine Gliaanhaufungen. Secundare Degenerationen, die
bei Myelitis Regel sind, fehlten, da ja, wie oben erwahnt, Ganglien-
zellen und Axencylinder relativ sehr lange bestehen bleiben, wahrend
sie bei Myelitis sehr rasch vollstandig zu Grunde gehen. Gegen ent-
zundliche Vorgange spricht auch das Aussehen der Markscheiden.
Diese erscheinen namlich nirgends gequollen wie bei Myelitis, sondem
stets verschmalert (Cramer). 3 )
Aus demselben Grunde, namlich wegen der Persistenz der Gang'
lienzellen und Axencylinder, ist wohl auch eine primare Erkrankung
des Nervenparenchyms auszuschliessen. Nissl bemerkt flbrigens
hierzu treflFend, dass man von einer Erkrankung des Nervenparenchyms
nicht wohl reden konne, so lange dieses nicht genau bekannt sei.
Genaueres wissen wir aber zur Zeit nur fiber die farbbare Substanz
der Ganglienzellen, wahrend fiber das pathologische Verhalten der
Neurofibrillen, der pericellularen Gitter, mit denen jetzt doch wohl
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Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose.
269
gerechnet werden muss, noch nichts bekannt ist Gerade die Wider-
standsfahigkeit der Axencylinder lasst es wfinschenswerth erscheinen,
fiber das Yerhalten der Neurofibrillen Naheres zu erfahren. Schwie-
riger verhalt es sich mit der Entscheidung, ob wir es mit einer pri-
maren Erkrankung der Markscbeiden zu thun haben.
Thatsachlich ist die augenfalligste Erscheinung, die sich bei der
Untersuchung nach den verschiedensten Methoden immer wieder auf-
drangt, die Degeneration der Markscheiden. Auch in Neuroglia-
praparaten sieht man, wie oben erwahnt, sehr deutlich das allmahliche
Schmalerwerden der Markscheiden nach dem Centrum der Herde
zu. Zugleich damit ist aber auch schon die Glia an Stelle der Mark¬
scheiden getreten. Nirgends ist nachweisbar, dass die Markscheiden
im Schwinden begriffen sind, ehe die Glia wachst. Im Gegentheil
lasst sich schon deutliche Vermehrung der zelligen Gliaelemente an
den aussersten Grenzen der Herde sowohl, als auch in anscheinend
noch gesunden Partien sehen, ehe ein Schwund der Markscheiden zu
bemerken ist Auch konnte ich in dem vorliegenden* Fall keinen
Ajihaltspunkt daffir finden, dass die Markscheidendegeneration der
primare Vorgang set
Das Verhalten der Glia macht vielmehr den Eindruck, dass man
es mit einer activen Proliferation derselben zu thun hat Storch 19 )
erhielt bei seinen Untersuchungen einen anderen Eindruck. Er selbst
aber schrankt seine Befunde bezfiglich der Sklerose dadurch ein, dass
er angiebt, hier nicht fiber genfigend frisches Material verffigt zu
haben.
Im Uebrigen constatirt Storch doch einen gewissen Unterschied
gegenfiber des Tabes. Dieser liegt im Wesentlichen darin, dass bei
Tabes, wie Storch angiebt, langgestreckte Gliafaserbfindel die ge-
schwundenen Nervenfasern ersetzen, die Zellen aber sehr sparlich vor-
kommen. In unserem Fall dagegen stand die Zellproliferation im
Vordergrunde und die Fasern traten zurfick. Wenn femer von ver-
schiedenen Seiten die Paralyse als Beispiel gewahlt wird, um darzu-
thun, dass die Glia das Bestreben habe, die yorhandenen Lficken aus-
zuffillen, so scheint mir der Vergleich nicht gerade glticklich gewahlt.
Einmal hat die Glia bei der Paralyse gerade nicht das Bestreben, in
dem Grade die entstandenen Lficken auszuffillen, wie dies bei der
Sklerose angenommen wird. Das Resultat wenigstens ist dort ein
ganz erheblicher Schwund der Gesammtmasse, wahrend dies hier nicht
der Fall ist Dann aber, und darauf gedenke ich an anderem Orte
zurfickzukommen, ist das ganze Yerhalten der Glia, die Art ihres
Wachsthums verschieden gegenfiber der energischen Proliferation bei
der Sklerose.
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270
XV. Thoma
Wie oben erwahnt, betonen eine Reihe von Autoren, neuerdings
besonders Ftirstner, 4 ) das Ausgehen der Erkrankung von den Ge-
fassen resp. der in denselben circulirenden Schadlichkeit, welche die
Markscheiden in der Umgebung zur Degeneration bringen soil, wess-
halb die Herde haufig um ein centrales Gefass gelagert 9eien.
Wie wir bei der Beschreibung des mikroskopischen Befundes
gesehen haben, finden sich auch in diesem Falle eine Reihe von peri-
Fig. 1.
vascularen Herden, besonders in der weissen Substanz, die aus An-
haufungen von Gliazellen (vergl. Fig. 1 und 2) und Fasern besteheu,
ahnlich wie Alzheimer 1 ) sie bei Arteriosklerose gefunden hat
Bei einer derartigen Gruppirung um ein Gefass liegt es nun aller-
dings am nachsten, jeweils das Gefass dafiir verantwortlich zu machen.
Nun ist aber nicht recht ersichtlich, warum eine in den Gefassen
circulirende allgemeine Schadlichkeit, sagen wir ein Gift, in der Um-
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Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose.
271
gebung eines mit Wandung yersehenen Gefasses, falls es sich nicht
gerade am eine Erkrankang der Gefasswand solbst handeit, starker
geltend machen soli, als in dem Bereich der fiberall ziemlich gleichmassig
▼ertheiltenCapillaren. Vergiftungsversuche wenigstens sprechen doch
mehr far diffuse Veranderangen. Die nicht sehr seltene Lagerung der
Herde um ein Gefass dfirfte vielleicht doch einen andern Grand haben.
Betrachten wir einmal die Yerbreitung des Krankheitsprocesses
in unserem Falle, der desshalb sehr gfinstige Anhaltspunkte hot, weil
Fig. 2.
die Patientin relativ lange am Leben erhalten wurde, und die Krank-
heit in der letzten Zeit rapid sich ausbreitend alle Stadien ihres Ent-
wicklungsprocesses diffus fiber das ganze Centralnervensystem zeigte.
Dazu kommt auch, dass sich die Ursprungsstellen der Herde dabei zum
Theil gut feststellen liessen. In den einzelnen veroffentlichten Fallen
sind die befallenen Partien nun sehr verschieden. Der vorliegende
Fall zeigt, dass es wohl keinen Bezirk des Centralnervensystems giebt,
der nicht befallen werden kann.
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272
XV. Thoma
Pradilectionsstellen sind dagegen vorhanden. Gebunden scheint
mir der Process an das Vorkommen der Glia, nicht aber der Mark-
scheiden zu sein, wahrend andererseits wieder da, wo Markscheiden
vorherrschen, die grossten und anscheinend in rapidester Ausbreitung
begriffenen Herde zu finden sind. Gehen wir von der normalen Ver-
theilung der Neuroglia aus, wie sie Weigert 23 ) in seinem Beitrag
zur Kenntniss der normalen menschlichen Neuroglia angiebt,
und welche ich als bekannt voraussetze, so finden wir, dass sich die
Herde fiberall da zumeist entwickeln, wo normalerweise
die Neuroglia am starksten vertreten ist. Dies scheint auf den
ersten Blick nicht zuzutreffen, da wir ja zahlreiche und grosse Herde
in der weissen Substanz haben, wo die Neuroglia meist nur in dfinnen
Ztigen vorhanden ist.
Es sind aber dabei zwei Factoren zu berticksichtigen. Einerseits
die von Allen constatirte Widerstandsfahigkeit der Nervenelemente
(Ganglienzellen und Axencylinder) gegentiber dem sklerotischen Pro¬
cess, die der Ausbreitung hinderlich ist, in hemmendem Sinne. Ander-
seits die Widerstandsunfahigkeit der Markscheiden, in die Ausbrei¬
tung fordemdem Sinne.
Durch diese beiden, einander entgegen wirkenden Factoren wird
das Verhaltniss wieder zu Gunsten der an Glia Srmeren Stellen ver-
schoben, resp. ausgeglichen.
Es finden sich, wie erwahnt, zahlreiche und alte Herde im Rttcken-
mark, ausgehend von derUmgebung des Centralkanals (vergL Fig. 3),
von der grauen Substanz tiberhaupt, von der Gliahttlle des Rticken-
marks. Ferner fanden sich ausgedehnte Gliawucherungen im Boden
der Rautengrube und in der Umgebung der andem YentrikeL Endlich
auch ausgehend von den Oliven. Lauter Stellen, wo normaler Weise
die Glia stark vertreten ist.
In der weissen Substanz sehen wir die frischen Herde ihren Aus-
gang nehmen von den Gliaztigen zwischen den Nervenfasem, sehr
gerne aber auch von den Gliahtillen der Gefasse, die dort eine
erheblich starkere Gliaanhaufung vorstellen, als die zarten Ztlge
zwischen den Fasern.
Gerade diese, von der Gliascheide der Gefasse in der weissen
Substanz ausgehenden Herde zeigen rasches Wachsthum, weil sie nur
Markscheiden, die leicht zerfallen, zu verdrangen haben. Der ungnn-
stige Factor der geringeren Gliamasse ist also hier durch den rascheren
Zerfall der Markscheiden ausgeglichen. Daher wohl auch die grosse
Ausdehnung der Herde. Anderseits sieht man am Boden der Rauten¬
grube, wo normalerweise reichliche Glia vorhanden ist, diese stark
vermehrt, in breiter Front nach der Tiefe vorrticken. Offenbar aber
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Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose.
273
viel langsamer, denn die zellige Infiltration an der Peripherie der
Herde ist geringer, wodurch wieder Zeit zur Umbildung in Fasern
geboten ist. £s finden sich dann auch in diesen Herden viel mehr
Fasern vor, die zwischen sich die mehr oder weniger degenerirten
Ganglienzellen eingeklemmt enthalten. Die dort liegenden Ganglien-
zelienhaufen setzen eben dem Vordringen der Glia einen erheblichen
Widerstand entgegen.
Fig. 3.
Dementsprechend finden sich auch da, wo zwei ungttnstige Fac-
toren zusammentreffen, wie in der Hirnrinde, namlich wenig Glia
und wenig Markscheiden, dagegen viele Nervenelemente, auch die
wenigsten sklerotischen Herde, so wenige, dass einzelne Autoren zu
der Ansicht kamen, der Process gehe nicht auf die Rinde fiber und
es tbatsachlich zuweilen den Anschein hat, als mache er vor dersel-
ben Halt
Deutsche Zeitscbr. f. Nervenheilkunde. XVII. 8d. 18
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274
XV. Thoma
Endlich ist noch der kleinen Zellenanhaufungen in der weissen
Substanz zu gedenken, die als beginnende Sklerosen angesehen werden
mtissen und wohl aus der letzten Zeit stammen. Alle diese Erschei-
nungen machen in unserem Falle durchaus den Eindruck eines ac-
tiven Yerhaltens der Glia. Die ganze Glia scheint in Bewegung zu
sein. Wahrend sich zuerst die gliareicheren Theile, wie die erwahnten
Stellen in der grauen Substanz, und in der weissen die Gliascheiden
der Gefasse daran betheiligen, kommen spater auch die an Glia armeren
daran, bis zuletzt die Glia fast fiberall zu proliferiren beginnt, wobei
es freilich nicht mehr zur Bildung yon eigentlichen Herden, sondern
nur noch zu kleinen Kernhaufen kommt.
Zusammenfassend lasst sich auf Grand der Untersuchung des vor-
ligenden Falles sagen:
1. Die Erkrankung kann das ganze Centralnervensystem, weisse
und graue Substanz inclusive Rinde befallen.
2. Ein Beweis ftir eine primare Erkrankung der Markscheiden
oder des Nervenparenchyms war nicht zu fin den, vielmehr sind deren
Veranderungen nur secundarer Natur.
3. Die Erkrankung ist an das Vorhandensein der Glia gebunden
und nimmt mit Vorliebe fiberall da ihren Ausgang, wo normaler
Weise schon mehr Glia vorhanden ist. Doch leistet der leichte Zer-
fall der Markscheiden der Ausbreitung in der weissen Substanz
Vorschub.
4. Die Gefasse spielen nur in soweit eine Rolle, als der Process
haufig von deren Gliascheiden ausgeht, welch letztere in der weissen
Substanz eine relativ grosser© Gliamasse reprasentiren.
5. Die Erkrankung ist als eine solche der Glia anzusehen und
stellt einen activen Proliferationsprocess dar.
Ueber die Aetiologie prajudicirt der vorliegende Fall nichts.
Ebensowenig lasst sich mit Sicherheit entscheiden, ob jede Glia in
der beschriebenen Weise erkranken kann, oder ob ein bestimmter
Zustand derselben schon da sein muss. Demnach scheint mir der
vorliegende Fall wegen des Yerhaltens der Glia eher einer Unter-
sttitzung der Ansicht von Ziegler, Strtimpell u. A. zu sein, die
eine angeborene Anlage der Neuroglia voraussetzen, zu der eine
aussere Schadlichkeit hinzutritt, wie solche hauptsachlich Intoxi-
cationen abgeben.
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Zur pathologischen Histologic der multiplen Sklerose.
275
Literatnr;
1. Alzheimer, Verein deutscher Irrenarzte. Versammlung 1896. Neuroglog.
Centralblatt 1896. Bd. 15. Nr. 20.
2) Charcot, Lecons sur les maladies des system nerveux. Paris 1877.
3) Cramer, Beginnende multiple Sklerose u. acute Myelitis. Arch. f. Psych.
188 a XIX.
4) Ffirstner, Ueber multiple Sklerose. Neuroglog. Centralblatt 1895. Nr. 13.
Derselbe, XX. Wanderversammlung d. sddwestdeutechen Neuroglog. in
Baden-Baden 1895.
Derselbe, Ueber multiple Sklerose und Paralysis agitans. Archiv. f. Psych.
Bd. XXX.
5) Goldscheider, Ueber den anatom. Process im AnfangBstad. der multipl.
Sklerose. Zeitschr. f. klin. Med. 1896. Bd. XXX.
6) Hess, Ueber einen Fall von multipler Sklerose d. Centralnervensystems.
Arch. f. Psych. 188a Bd. XIX.
7) Huber, Zur patholog. Anat. der multipl. Sklerose d. RQckenmarks.
Virch. Arch, 1895. Bd. 140.
8) Jolly, Ueber multipl. Hirnsklerose. Arch. f. Psych. 1872. Bd. Ill
9) KSppen, Ueber histol. Verander. d. multipl. Sklerose. Arch. f. Psych. 1886.
Bd. XVII.
10) Nothnagel, Spec. Pathol, u. Therap. Bd. X (Krankh. d. Rfickenmarks u.
d. Medulla) v. Leyden u. Goldscheider.
11) Oppenheim, Lehrbuch d. Nervenkrankheiten. 1898.
Derselbe, Zur Lehre v. d. multiplen Sklerose. Neurolog. Centralblatt
1896. Nr. 1.
12) Pop off, Zur Histologie der disseminiaten Sklerose d. Gehirns u. Rucken-
marks. Neurolog. Centralblatt 1894. Nr. 9.
13) Propst, Zur multipl. Herdsklerose. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde.
Bd. 12.
14) Redlich, Z. Pathol, d. Nervensyst. Arbeiten a. d. Institut v. Obersteiner.
Ref. Neuroglog. Centralblatt 1896. Nr. 12.
Derselbe, Zur Path. d. multipl. Skier. Verein f. Psych, u. Neurol, i. Wien.
Neurol. Centralblatt. 1895. Bd. 14. Nr. 21.
15) Ribbert, Ueber multipl. Sklerose d. Gehirns u. Ruckenmarks. Virch.
Arch. 1882. Bd. 90.
16) Rindfleisch, Histol. Details z. d. grauen Deg. von Gehim u. Ruckenmark.
Virch. Arch. 1863. Bd. 20.
17) Rossolimo, Zur Frage uber d. multipl. Sklerose u. Gliose. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilkunde. Bd. XI.
18) Schule, Beitrag z. multipl. Sklerose d. Gehirns u. Ruckenmarks. Deutsch.
Arch. f. klin. Med. 1870. Bd. VII.
Derselbe, ebda. 1871. Bd. VIII.
19) Storch, Ueber die pathol. anat. Vorgange am Stdtzgerust d. Centralnerven¬
systems. Virch. Arch. Bd. 157. Heft 1—2.
20) Strumpell, Zur Path. d. multipl. Sklerose. Neurol. Centralblatt 1896.
Nr. 21.
18*
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276 Thom:a ? Zur pathologischen Histologie der moltiplen Sklerose.
21) Taylor, Zur path. Anat. d. multipl. Sklerose. Deutsche Zeitschr. f. N erven -
heilkunde 1894. Bd. V.
22) Williamson, The early pathological changes in disseminated sclerosis.
London, Medical Chronicle. Referat. Neurolog. Centralblatt 1894.
28) Weigert, Beitrage zur Kenntniss d. norm&len menschl. Neuroglia. Frank¬
furt 1895.
24) Ziegler, Handbuch d. pathol. Anatomie 1892.
Erklftrang der Abbildungen.
Fig. 1. Perivascularer Herd. Markscheidenfarbung aus dem Gehim.
Fig. 2. Perivasculare Herde aus der Medulla. Neurogliafarbung (Weigert).
Fig. 3. Halite ernes vom Centralkanal ausgehenden sklerotischen Herdes im
Rftckenmark.
a sklerotische Partien.
b normale Partie.
c Gegend des Centralkanals.
d Vorderhom.
Neurogliafarbung (Weigert).
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XVI.
Mechanische Muskelerregbarkeit nnd Sehnenreflexe bei
Tabes dorsalis.
Von
Dr. Frenkel
in Helden (Schweiz).
(Mit 6 Abbildungen.)
Wir wissen, dass das Fehlen der Patellarreflexe eines der con-
stantesten und frfihesten Symptome der Tabes darstellt. Von den
iibrigen, an den unteren Extremitaten auslosbaren Sehnenreflexen
wissen wir nicht vieL Auskunft fiber das Verhalten z. B. des Achilles-
sehnenreflexes erhalten wir selten. Wir wollen gleich bemerken, dass
dieser bei der Tabes ebenfalls constant fehlk Da das Interesse haupt-
sachlich auf das Verhalten der unteren Extremitaten sich concentrirt,
so erhalten wir in der Literatur selten Auskunft fiber das Verhalten
der Sehnenreflexe an den oberen Extremitaten. Jedenfalls werden sie
nicht bei jedem Fall yon Tabes untersuchi Leimbach giebt in seiner
Arbeit vom Jahre 1895 an, dass in den gewohnlichen Fallen der
Tricepsreflex vorhanden ist. 1 )
Seitdem wir uns zur Regel gemacht haben, jeden einzelnen Fall
von Tabes erschopfend zu untersuchen, hat sich nun aus den Ergeb-
nissen von mehreren Hunderten von Kranken aus den verschiedenen
Stadien der wichtige Schluss ziehen lassen, dass das Fehlen der
Sehnenreflexe an den oberen Extremitaten ein constantes
Symptom der Tabes darstellt, ja dass dasselbe constanter
ist, als das Fehlen des Patellarreflexes. Es ist aber nicht allein
constant bei den mittleren und schwereren Formen der Krankheit,
sondem bildet auch eines der frtihesten Zeichen der Tabes. Bei
den schwersten, schweren und mittelschweren Formen, dort, wo die
Ataxie in ihren verschiedenen Graden auftritt, ist uns kein einziger
Krankheitsfall vorgekommen, in dem das Vorhandensein von Reflexen
der oberen Extremitaten notirt ware. Bei zwei Fallen von manifester
aber geringer Incoordination der Bewegungen, bei denen der linke
1) Diese Zeitschrift Bd. VII. S. 495.
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XVI. Frenkel
Patellarreflex vortlbergehend angedeutet gewesen ist, war trotz ge-
nauester Untersuchung kein Reflex an den oberen Extremitaten nach-
zuweisen.
Nachdem wir so fiber die tlblichen Falle orientirfc waren, erschien
es yon grosstem Interesse, die Untersuchung auf das praatactische
Stadium auszudehnen.
Mit Httlfe meines Assistenten, Herrn Dr. Forster, gelang es, drei-
undzwanzig Falle von Tabes auf das Genaueste zu untersuchen, bei
denen trotz absoluter Sicherheit der Diagnose keine Coordinations*
storung zu finden war. Die Ergebnisse sind auf beifolgender Tabelle
angegeben.
Tabelle zur Veranschaulichung der Beziehung zwischen
mechanischer Muskelerregbarkeit und dem Verhalten der
Sehnenreflexe bei Praatactischen.
Nr.
Tricepsreflex
Mechanische Muskel¬
erregbarkeit
Patellarreflex
!• j
, vorhanden
normal
vorhanden
2.
fehlt
gesteigert
vorhanden
3.
vorhanden
normal
gesteigert
4.
fehlt
gesteigert
fehlt
5.
fehlt
normal
vorhanden
6.
vorhanden
normal
vorhanden
7.
fehlt
gesteigert
fehlt
8.
fehlt
gesteigert
fehlt
9.
fehlt
gesteigert
fehlt
10.
fehlt
gesteigert
fehlt
11.
fehlt
gesteigert
fehlt
12.
fehlt
normal
gesteigert
13.
fehlt links; r. vor¬
handen (als Flexion)
links gesteigert;
rechts normal
fehlt
14.
gesteigert
normal
gesteigert
15.
fehlt
gesteigert
vorhanden
16.
fehlt
normal
fehlt
17.
fehlt links; r. vor¬
handen
gesteigert L; r. normal
vorhanden
18.
vorhanden
normal
vorhanden
19. .
fehlt
gesteigert
fehlt
20. 1
vorhanden
normal
vorhanden
21.
fehlt
normal
fehlt
22.
links vorh.; rechts fehlt
normal
fehlt
23.
fehlt
gesteigert
fehlt
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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 279
Lassen wir vorerst die Rubrik ^Muskelerregbarkeit* ausser Be-
trachtung, so finden wir, dass bei unseren 23 Patienten der Patellar-
reflex 11 Mai erhalten gewesen ist. Bei 5 war der Tricepsreflex beider-
seits erhalten, bei 3 weiteren fand derselbe sich nur einseitig, also im
Ganzen hatten nur 8 Patienten ein- oder beiderseitigen Tricepsreflex.
Es resultirt ferner aus der Tabelle, dass diejenigen Eranken aus dem
praatactischen Stadium, welche keine Patellarreflexe aufwiesen, auch
an den Armen keine Sehnenreflexe zeigten, mit einer einzigen Aus-
nahme (Nr. 22), in welchem Falle trotz Fehlen des Patellarreflexes
der linke Tricepsreflex, aber auch nur dieser, erhalten war. Der an-
dere fehlte.
Es lehrt uns aber auch die Tabelle, dass in 3 Fallen, trotz An-
wesenheit des Kniephanomens, an den oberen Extremitaten keinerlei
Sehnenreflexe auszulosen waren. Mit Rticksicht darauf, dass es sich
um gewohnliche nichtcervicale Tabes und zwar in ihrem Anfangs-
stadium handelte, hat dieses Ergebniss jedenfalls seine Bedeutung.
Erganzend sei noch hinzugefftgt, dass ich vor Kurzem 2 neue Falle
beginnender Tabes zu untersuchen Gelegenheit hatte, bei denen eben-
falls die Reflexe an den oberen und unteren Extremitaten yerschwunden
waren und jede Spur von Ataxie fehlte. (Die angegebene Tabelle ist
im Winter 1898/99 angefertigt worden.) Kurz zusammengefasst ergiebt
sich aus unserem Material folgender Satz: In schweren und mitt-
leren Fallen von Tabes fehlen die Reflexe an den oberen
Extremitaten constant. Im Frflhstadium fehlen dieselben bei etwa
70 Proc., wahrend der Patellarreflex in diesem selben Stadium nur
etwa in 50 Proc. fehlt.
Dieses unerwartete Resultat und die oben citirte Angabe Leim-
bach’s deuten schon darauf hin, dass es nothwendig sein wird, sich
fiber die Technik der Untersuchung zu verstandigen. Wahrend namlich
bei der nblichen Prafung des Patellarreflexes unterhalb der Kniescheibe
wegen der anatomischen Verhaltnisse der Hammerschlag mit Sicher-
heit nur die Sehne trifft, so gehort im Gegentheil einige Vorsicht
dazu, um bei der Untersuchung des Tricepsreflexes die Muskelsubstanz
selbst zu vermeiden. Wird diese Vorsicht vernachlassigt, so kann
besonders dann, wenn die Muskelsubstanz etwas weiter abwarts reicht
als gewohnlich, eine Bewegung zu Stande kommen, welche mit dem
von der Sehne ausgelosten Reflex nichts zu thun hat. Dieser Gefahr
einer Verwechslung von idiomuscularer Contraction des Triceps mit
seinem Reflex ist der Untersucher bei der Tabes ganz besonders aus-
gesetzt und zwar, weil eine abnorme Steigerung der mecha-
nischen Muskelerregbarkeit bei der Tabes dorsalis die
Regel ist Dieselbe aussert sich in dem Verhalten der Muskeln
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XVI. Frenkel
gegenttber leichten Schlagen mit dem Percussionshammer, welche
unter normalen Verhaltnissen keinerlei Reaction hervorrufen, bei unserer
Krankheit aber in mehr oder minder intensiver Weise die Muskel-
substanz zur Contraction bringen. Wenn auch eine abnorme Steige-
rung der mechanischen Muskelerregbarkeit nicht absolut constant ist,
namentlich auch nicht so constant wie das allgemeine Fehlen der
Sehnenreflexe, so mttssen wir doch auf Grund einer grossen Reihe von
Untersuchungen diesen Zustand der Musculatur als in der Regel vor-
handen ansehen: er findet sich in alien Stadien der Krankheit. Seit
Jahren Bettlagerige konnen ihn ebenso aufweisen, als eben beginnende
Falle von Tabes. Die Intensitat der Muskelreaction schwankt in
weiten Grenzen, von nur massiger Steigerung liber die Norm bis zu
so hohen Graden, dass schon ein geringer mechanischer Reiz den
Muskel resp. das ganze Glied in springende Bewegung bringt. Be-
merkenswerth ist es, dass wir diese hochsten Grade von mechanischer
Uebererregbarkeit der Muskeln vorzugsweise, ja fast ausschliesslich
an den oberen Extremitaten constatirt haben, und hier namentlich in
leichten Fallen resp. im praatactischen Stadium der Tabes. Besonders
hervorzuheben sind diejenigen Falle, in denen nichts in dem Zustand
des Kranken, besonders keinerlei subjective Beschwerden, auf irgend
eine St&rung der oberen Extremitaten hinwiesen und die vorgenommene
Untersuchung trotzdem neben totalem Fehlen der Sehnenreflexe eine
colossale Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit aufwies.
Wir wollen einen solchen instructiven Fall hier zunachst mittheilen.
Patientin S. ist 48 Jahre alt.
Lues negirt.
Krankheitsbeginn vor 8 Jahren mit heftigen lancinirenden Schmer-
zen in den Beinen, anf&nglich in langen Intervallen, die aber im Laufe
der Jahre immer kiirzer wurden. Niemals Paraesthesien in den Beinen
Oder Armen. Niemals Blasenstorungen, niemals Diplopie, niemals Krisen.
Seit einiger Zeit ira linken Arm Ulnarissensation.
Status.
Kraftige Person. Panniculus adiposus stark entwickelt, besonders an
den Oberschenkeln und am Gesass.
P up i lien stark myotisch, lichtstarr, bei Accommodation verengern sie sich.
Sensibilitat der Haut iiberall intakt, mit Ansnahme eines schmalen
Bandes von 2—3 Finger Breite etwas unterhalb der linken Mamilla, wo
feine Beruhrnngen gar nicht gespurt werden. Ferner werden beiderseits
in der Umgebung der Mamillen, so wie an der Innenseite beider Oberarme
feine Beruhrungen schwacher gefiahlt als an den benachbarten Korperstellen
(relative Hypaesthesie).
Muskel- und Gelenksensibilitat iiberall intakt. Keine
Ataxie, kein Romberg.
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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 281
Reflexe.
Plantarreflex fehlt.
Patellarreflex fehlt.
Achillessehnenreflex fehlt.
Epigasterreflexe vorhanden.
Tricepsreflex fehlt.
Supinatorreflex schwach, aber vorhanden.
Alle anderen Sehnenreflexe der oberen Extremit&ten fehlen.
Fig. la. Fig. lb.
Mnsculatur.
Nirgends Nachweis von Schwftche.
Hypotonie nicht nachweisbar durch den passiven Dehnungsversuch.
Doch fdhlt sich die gesammte Musculatur an der oberen and unteren
Extremity schlaff and welk an.
Mechanische Muskelerregbarkeit.
1. Klopft man mit dem Percnssionshammer a of die Sehne des Triceps
brachii oder hart in deren Umgebnng auf den Knochen des Oberarmes, so
erweist sich, wie gesagt, der Tricepsreflex als abwesend. Sobald man aber
ein wenig nach oben von der Tricepssehne einen nnr leichten Schlag ausiibt,
zieht sich der Triceps dentlich znsammen; je hbher man mit dem Hammer
am Oberarme hinanfgeht, nm je lebhafter wird diese Contraction, derart,
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282
XVI. Frenkel
dass ein leiser Schlag etwa in der Mitte dee Oberarms auf den Muskel
gefiihrt, eine sehr lebhafte Contraction der gesammten Tricepsmusknlatur
auslfist, der Vorderarm springt ffirmlich aufw£rts, gerade wie man dies
beobachtet, wenn die Sehnenreflexe enorm gesteigert sind.
Beklopfen der Beugemuskeln, in der Mitte des Oberarms oder etwas
unterhalb derselben, 15st ebenfalls deutliche Contraction dieser Mnskeln und
eine Beugebewegnng aus, dock ist die Erregbarkeit nicht so lebhaft als
am Triceps.
Wird der Vorderarm, in Mittelstellung zwischen Pronation und Supi¬
nation, ungef&hr im rechten Winkel gegen den Oberrarm gehalten, und
nun auf den Supinator longus, im Bereiche des unteren Abschnittes des
Humerus an dessen Aussenseite, also etwas oberhalb des Epicondylus ext,
ein Schlag gefiihrt, so tritt lebhafte Beugebewegnng des Vorderarms in der
bewussten Stellung ein, gleichzeitig ist die Contraction des Muskels sehr
deutlich.
Noch lebhafter ist die Muskelcontraction, welche man erzielt durch
einen Schlag auf den obersten Abschnitt des Dorsums antibrachii, an der
radialen Kante, also etwas unterhalb des Epicondyl ext. Die Hand
schnellt hierbei formlich aufwarts in Dorso-radialextension (Wirkung des
Extens. carpi radialis). Fast in gleicher Weise erregbar erweist sich die
gesammte Streckmuskulatur am Dorsum antibrachii; etwas unterhalb der
soeben beschriebenen Stelle, etwa an der Grenze zwischen oberem und
mittlerem Drittel des Vorderarmriickens, ruft ein leichter Schlag lebhafte
Extension der Finger hervor, namentlich Zeige- und Mittelfinger schnellen
aufw&rts.
Die Beugemuskulatur am Vorderarm ist ebenfalls durch Beklopfen zur
Contraction zu bringen, doch bedarf es heftigerer Schlage, und die erfolgenden
Fingerbeugungen sind nur wenig ausgiebig.
An der unteren Extremit&t: Beklopfen der Achillessehne in
alien Stellungen erfolglos; lasst man aber die Person mit einem Bein auf
dem Stuhlsitze knien und klopft nun etwas oberhalb der Achillessehne auf die
Wadenmuskulatur, so beobachtet man deutliche Plantarreflexion des Fusses;
und zwar ist diese Bewegung sehr ausgiebig und von deutlich sichtbarer
Contraction des Gastrocnemius begleitet, wenn nur ein leichter Schlag
auf die Wadenmuskulatur, da, wo sie den st&rksten Umfang hat, gefuhrt
wird, und zwar jederseits etwas von der Mittellinie, also direkt auf je
einen der beiden B&uche der Gemelli. Uebrigens erzeugt man auch an
jeder andern Stelle der Wadenmuskeln Shnliche Zuckungen, die nur weniger
lebhaft sind.
An der Vorderfl&che des Unterschenkels erzeugt ein nur leichter
Schlag, nahe der Crista tibiae, im Bereiche des oberen Drittels des Unter¬
schenkels eine lebhafte Dorsalflexion mit Adduction. Also isolirte Wirkung
des Tibialis anticus.
Klopft man dagegen auf die Aussenseite des Unterschenkels, unterhalb
des Capitulum fibulae, im Bereiche des oberen Drittels des Unterschenkels,
so tritt jedesmal lebhafte Peronealwirkung, d. h. vorwiegend Abduction und
Drehung des Fusses urn seine longitudinale Axe nach aussen ein, also
Erhebung des fcusseren Fussrandes.
Eine isolirte Contractionswirkung des Extensor digitor. communis
longus (Dorsalflexion mit Abduction) ist nicht zu erzielen.
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Meehanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 283
Im Bereiche des Oberschenkels sind die Maskeln nicht so lebhaft zu
erregen, was wohl mit der starken Fettentwicklnng daselbst zusammen-
hingt Der Quadriceps antwortet auf starkes Beklopfen mit deutlichen,
aber auf die Stelle des Heizes bschr&nkt bleibenden Contractionen.
Indem wir in Betreff der Pradilectionsstellen fflr die Erregung der
Muskeln auf die folgenden Figuren verweisen, wollen wir auf die oben
gegebeue Tabelle zurflekkommen. In derselben ist unter 23 Fallen
11 Mai Steigerung der mechanischen Erregbarkeit an den oberen Ex-
tremitaten angegeben.
Wir finden feraer dreimal die Angabe, dass der Tricepsreflex nur
einseitig gefehlt hat. In dem einen dieser drei Falle (Nr. 22) ist die
Musculatur normal. In den beiden anderen aber findet sich die gewiss
sehr merkwtirdige Erscheinung, dass die Musculatur eine Steige¬
rung ihrer mechanischen Erregbarkeit gerade auf derjenigen
Seite zeigt, an welcher die Sehnenreflexe fehlen. In den
beiden Fallen (13 und 17) fehlte links der Tricepsreflex und auf der¬
selben Seite war auch die Musculatur mechanisch stark erregbar, in
Nr. 17 sogar in ganz ungemein intensiver Weise. Andererseits ist in
keinem einzigen Falle abnorm starke Muskelirritabilitat gleichzeitig
mit erhaltenen oder gesteigerten Reflexen gefunden worden. Alles
dieses und was wir sonst noch an Fallen mit einseitig vorttbergehend
angedeuteten Sehnenreflexen beobachtet haben, berechtigt zu der Auf-
stellung des Satzes, dass sich die mechanische Erregbarkeit der
tabischen Musculatur umgekehrt verhalt wie die Sehnenreflexe, das
heisst bei erhaltenen Sehnenreflexen normale Muskelerregbarkeit, bei
fehlenden gesteigerte, bei ungleichen dort Steigerung der mechanischen
Erregbarkeit, wo der Reflex herabgesetzt ist.
Im folgenden Fall handelt es sich um eine mittelschwere Tabes
mit Ataxie der unteren und leichter Coordinationsstorung der oberen
Extremitaten.
42 j&hriger Mann (Fig. 2 a u. b), Sehnenreflexe verschwunden, ebenso der
Achillessehnenreflex (zur Untersuchung kniet der Patient auf einem Stuhl).
Beklopft man aber die Musculatur selbst mit leichtem Hammerschlag, so
macht der Fuss eine kr&ftige Dorsalflexion. An den oberen Extremitaten
sind die Sehnenreflexe verschwunden, die muskul&re Erregbarkeit verhalt
sich folgendermassen; Rechter Arm: Etwa 3 cm oberhalb der Olecranon
beginnt die Erregbarkeit, so dass einfacbes Fallenlassen eines kleinen
Percusionshammers nur einen kleinen Ausschlag des Vorderarms hervorruft,
welcher immer starker wird, jemehr wir uns der Mitte des Oberarms nahem.
Beuger des Vorderarms: Leichter Schlag auf die Mitte des Beuger-
wulstes lost eine sehr lebhafte gerade Beugung des Vorderarms ans. Die
Erregbarkeitszone erstreckt sich nach innen bis zum Sulcus longitudinalis
internus, wahrend sie nach oben und unten wenig ausgebreitet ist.
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284
XVI. Frenkel
Etwa 1 cm oberhalb der Cnbitalfalte am &usseren Rande bewirkt ein
leichter Hammerschlag eine mittelstarke isolirte Contraction des Supinator
longus, d. h. isolirte Beugung des Armes in Mittelstellung zwischen Pro¬
nation und Supination.
In einem Dreieck begrenzt von Epicondylus externus humeri, von der
Ellenbogenfalte bis zur Mitte derselben und durch die Mitte des Radius
auf dessen ausserer Kante lost jeder leiseste Schlag mit dem Percusions-
hammer, eigentlich jede Berubrung, ein Aufspringen des Handgelenks in
Extension und Adduction aus (Extensor carpi radialis). Die Muskelbeuge,
sowie die Sehnen treten dabei markant hervor. Ungef&hr im Mittelpunkte
dieses Dreiecks geht die Erregbarkeit so weit, dass einfaches Aufsetzen
Supinator
Ext. carpi rad.
Flexor V + IV
Flexor II + III
der Gummikappe des Hammers geniigt zur Hervorrufung der charakte-
ristischen Bewegung des Handgelenkes. Bemerkenswerth ist dabei, dass
kein anderer Muskel im Bereiche dieses Dreiecks erregbar ist.
Erregbar auf leichten Schlag sind ferner
1. Extensor digiti minimi proprius;
2. Extensor digitorum III et IV;
3. Flexor carpi radialis.
Linker Arm: Der Triceps ist an der Mitte des Oberarms auf der
Hinterseite an gleicher Stelle erregbar wie der rechte und in gleicher
Intensit&t, dergleichen ist der Supinator longus in der Ellenbogenfalte auf
der Aussenkante ebenso stark erregbar wie rechts. Die Excitabilit&t des
Extensor carpi radialis nimmt dieselbe Zone ein wie rechts, ist aber quan-
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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 285
titativ geringer; dahingegen ist die Erregbarkeit far den Mittelfinger er-
heblich grosser als auf der rechten Seite. Es kijnnen ferner auch auf
dieser Seite hervorgemfen werden, isolirte Beugang von Klein- and Gold-
finger, ebenso isolirte Beagnng ffir Zeige- and Mittelfinger.
Wir wollen ferner das Schema der Muskelexcitabilitat geben,
welches eine seit einem Jahrzehnt bettlagerige Tabeskranke im
sogenannten paraplegischen Stadium mit starker Abmagerung aller
Muskeln betrifft (Fig. 3 a u. b). Wir bemerken ausserst lebhafte Contraction
der ganzen Beugemusculatur des Vorderarms bei leisestem Schlag.
Ebenso schnellt die Hand auch schon bei ganz leisem Schlag auf
den extens. carpi radial. Auf der rechten Seite ist der Peroneus
brevis sehr leicht zu erregen. Alles Uebrige ergiebt sich aus der
Betrachtung der Zeichnung, welche mit der vorhergehenden zu ver-
gleichen ist.
Wir wollen noch zu der bei der Tabes regelmassig anzutreffenden
Steigerung der mechanischen Erregbarkeit einige Bemerkungen hinzu-
fftgen. Wir haben gesehen, dass die Intensitatsgrade variabel sind. Was
dieTechnik der Untersuchung betrifft, so demonstrirt sich die Erregbarkeit
im Wesentlichen in zweifacher Weise: 1. durch Schlag mit dem Percus-
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286
XVI. Frenkel
sionshammer auf den Bauch eines Muskels oder einer Muskelgruppe,
wie wir es in den gegebenen Krankengeschichten ausgeffthrt haben.
Klopffc man mit einem gewohnlichen, mit Gummikappe versehenem
Hammer in kurzem Schlag auf den Muskelbauch, am besten auf die-
jenige Stelle, welche sich zur Application des elektrischen Reizes eignet,
so erfolgt eine blitzartige, an den unteren Extremitaten, wie wir
weiter noch sehen werden, manchmal wellenformige Contraction
des Muskels und haufig ein formliches Aufschnellen des betreffenden
Gliedes. Ganz besonders ausgepragt war dieses Verhalten bei den von
Collegen Dr. Forster untersuchten Fallen yon Tabes im praatactischen
Stadium an den oberen Extremitaten. Besonders auffallend am
Triceps, an der Mitte des Oberarmes, etwas weniger in den Beugem
des Oberarmes. Sehr lebhaft aber wiederum an dem Supinator longus
bei Beklopfung seines Wulstes an der Ellenbogenfalte, bei Mittel-
stellung des Armes zwischen Flexion und Extension Pro- und Supi¬
nation. Immer reagirt sehr lebhaft der Extensor carpi radial, meist
auch der Extensor digitorum, yiel weniger die Beuger der Finger.
Von den Muskeln der unteren Extremitaten contrahirt sich der
Quatriceps am leichtesten auf Beklopfen, es kann aber auch Dorsal-
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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 287
flexion des Fusses in lebhaftester Weise zum Ausdruck kommen, wobei
Tibialis und Per oneus-Wirkung gesondert erseheinen.
Regelmassig zu erzielen ist die Plantarflexion des Fusses auf Be-
klopfen der Wadenmusculatur. Bei einigen unserer Patienten erfolgte
auch hierbei Aufschnellen des Fusses. Diese Steigerung der mecha-
nischen Erregbarkeit fend sich auch bei schwersten, seit Jahren unbe-
weglichen Tabeskranken. Die Glutaei und die Beuger sind weniger
stark flberregbar, oft auch gar nicht erregbar gewesen auf Beklopfung.
Es scheint dies an dem dartiber liegenden Fettpolster zu liegen, da
sie durch ein anderes Verfahren, wie wir gleich sehen werden, sehr
wohl zur Reaction gebracht werden konnen, namlich 2. durch Druck
des Muskelbauches zwischen den Fingem oder auch durch blossen
Druck des Fingers auf den Muskel, am haufigsten beobachtet an
der Wadenmusculatur. Kneift man mit dem Daumen, Zeige- und
Mittelfinger kraftig in die Wadenmusculatur, so erfolgt eine aus-
giebige Plantarflexion des Fusses; man sieht und ftthlt gleichzeitig,
wie sich die gesammte Wadenmusculatur contrahirt Die Bewegung
des Fusses geschieht nicht so schnell, wie bei dem Achillesreflex.
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288
XVI. Frenkel
Dies hangt offenbar damit zusammen, dass durch den mechanischen
Reiz zunachst nur an einer circumscripten Stelle, d. h. der Appli-
cationsstelle, die Wulstbildung im Muskel entsteht, die sich dann
yon bier aus deutlich sichtbar fiber die gesammte Muskelgrnppe
ausbreitei Diese mechanische Erregbarkeit der Wade ist bei einer
Anzahl unserer Kranken beobachtet worden, welche sich in den ver-
schiedensten Stadien der Krankheit befunden haben. Femer man
festirte sich die auf Drnck oder Kniff entstehende Contraction sehr
deutlich an der Gesassmusculatur. Auch hier kommt die Fortpflanzung
des Reizes von der Reizstelle aus ganz besonders schon zur Beob-
achtung. Die MuskelbfLndel des Gluteus maximus ziehen bekanntlich
yom Aussenrande des Sacrum und der Fascia lumbo-dorsales schrag
nach unten und aussen zur Fascia lata und zur Tuberositas glutaealis
Kniff man nun bei einigen unserer Patienten mit dem Daumen and
Zeigefinger quer zur Verlaufsrichtung eines der MuskelbfLndel des
Gluteus maximus, so contrahirte sich dieses zunachst, es pflanzte sich
aber alsbald die Contraction wellenartig auf alle anderen MuskelbfLndel
ober- und unterhalb der gereizten Stelle fort, eines nach dem andem
ergreifend, in ausserordentlich charakteristischer Weise. Sowohl die
Schnelligkeit der Fortpflanzung der Contractionen, als auch die Aus-
dehnung derselben Yariirten etwas.
Bei manchen erfolgte statt der wellenartigen Fortpflanzung eine
blitzartige Contraction der gesammten Glutealmusculatur. Bei wenigen
wurde auch im Quadriceps die mechanische Erregbarkeit auf Kniff
beobachtet, welche sich indess nicht viel fiber die Stelle des Reizes
hinaus verbreitete. Bei den untersuchten Fallen im praatactischen
Stadium konnte nur selten deutlich e Wulstbildung an der Reizstelle
constatirt werden, einige Male ira Triceps brachii, welche aber niemals
den ganzen Muskel ergriff.
Abgesehen von dem theoretischen Iuteresse, welches sich an den
Nachweis der mechanischen Uebererregbarkeit der Musculatur und des
constanten Fehlens der Sehnenreflexe an den oberen Extremitaten
knfLpfen muss, liefern uns diese Beobachtungen einen willkommenen
Beitrag zu der an der Tagesordnung stehenden Frage von der Be-
ziehung zwischen Muskelbeschaffenheit und Sehnenreflex. Es kommt
wie es scheiht, die Meinung allmahlich immer mehr zur Geltung, dass
der Tonus der Muskeln und die Intensitat der Sehnenreflexe unab-
hangig von einander sind. Wir wollen auf diese Verhaltnisse, welche
kfirzlich noch in dieser Zeitschrift von Strflmpell in geistvoller
Weise besprochen sind, nicht des Nahern eingehen.
Mechanische Muskel-Hyperexcitabilitat bei fehlenden Sehnenreflexen
finden wir bei der spinalen Kinderlahmung (vergl. Sternberg, „Die
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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 289
Sehnen reflexe u ). In Fallen yon spinaler Kinderlahmung einer oberen
Extremitat waren an der schlaffen atrophischen, aber noch etwas func-
tionsfahigen Musculatur des gelahmten Armes keinerlei Sehnenreflexe
zn erzielen. Dahingegen war die mechanische Erregbarkeit gegenttber
der gesnnden Seite sehr gesteigert; der Percussionsschlag rief an der
Schnlter des gelahmten Armes starke Zuckungen hervor, wahrend anf
der gesunden Seite die Musculatur gar nicht reagirte. Mechanische
Uebererregbarkeit der Muskeln ist ferner gefunden worden bei peri-
pherer Facialislahmung, bei welcher wir jedenfalls das Verschwinden
der Sehnenreflexe annehmen konnen. Es ’kann wohl kein Zweifel
sein, dass es sich wirklich um idiomusculare Erregbarkeit, nicht etwa
um einen Reflex handelt, denn auch bei absoluter peripherer Facialis¬
lahmung mit vSlligem Erloschen der elektrischen Erregbarkeit konnte
durch einen Schlag Zuckung der Gesichtsmnsculatur hervorgerufen
werden. Dass es sich ttbrigens bei diesen Erscheinungen yon muscu-
larer Reizbarkeit, welche sich an der paretischen Gesichtsmusculatur
aussert, nicht wohl um gesteigerte Reflexe handeln kann, geht auch
schon daraus hervor, dass gerade die wirklich reflectorische Erregbar¬
keit der Muskeln am ehesten leidet pnd selbst dort schon aufgehoben
wird, wo die Leitung der willktirlichen Impulse und der elektrischen
Erregbarkeit noch intact bleibt Analogien mit dem Verhalten der
tabischen Musculatur finden wir auch bei der Tetanie. Es werden von den
Autoren bei der Tetanie bald Fehlen der Sehnenreflexe, bald normale,
jedenfalls nicht erhdhte Sehnenreflexe angegeben. Sternberg selbst,
welcher 16 Falle von Tetanie untersucht hat, sagt Folgendes: „Unter-
sucht man ganz. frische Falle von Tetanie, so finden sich nach meinen
Erfahrungen so wohl im Anfange selbst, als in der Zwischenzeit die Sehnen-
.reflexe sehr herabgesetzt Auffallig contrastirt dies oft mit der
gesteigerten mechanischenErregbarkeit derMuskeln. Beklopft
man den Bauch des Biceps bei supinirtemVorderarm, so wird der letztere
kraftig emporgeschleudert, wahrend ein Schlag auf die Bicepssehne
selbst nur eine ganz geringe Zuckung zur Folge hat“ Derselbe Autor
weist auch darauf hin, dass bei hohem Fieber die Sehnenreflexe
schwinden, wahrend die gesteigerte Erregbarkeit bestehen bleibt
Eehren wir nun zur Tabes wieder zurtick, so hatte bekanntlich
Westphal eine Theorie aufgestellt, der zu Folge die Sehnenpheno-
mene auf director Reizung der Muskeln durch die der Sehne ertheilten
Schwingungen beruhen sollen; doch ist nach Westphal diese directe
Reizung nur dann erfolgreich, wenn durch reflectorische Vorgange ein
bestimmter Tonus in der betreffenden Musculatur besteht Er findet
eine Sttltze fftr seine Auffassung in dem Befunde der Tabes dorsalis, wo
die Sehnenreflexe fehlen und Atonie besteht Aus dem oben fiber
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilknnde. XVII. Bd. 19
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290
XVI. Frenkel
das Verhalten der Musculatur Tabischer Mitgetheilten ist aber im
Gegentbeil ersichtlich, dass es gerade die Befunde bei Tabes sind,
welehe gegen die Westphal’sche Auffassung der Sehnenphenomene
als durch directe Muskelreizung bedingte Vorgange spreohen. Denn
Atonie, gesteigerte Muskelerregbarkeit und Fehlen der Sehnenreflexe
finden sich bier zusammen.
Die jetzt vorherrschende Meinung von der Unabhangigkeit von
Sehnenreflex und Muskelzustand, yon der oben die Rede gewesen ist,
scheint auf die Beziehung von mechaniscber Muskelerregbarkeit
und Sehnenreflex bei der Tabes nicht anwendbar zu sein, denn es
wurde auf die eigenthumliche Beobachtung hingewiesen, dass bei un-
gleichem Verhalten der Sehnenreflexe beider Korperhalften der fehlende
Reflex stets mit gesteigerter mechanischer Erregbarkeit desselben
Gliedes associirt ist. Auch was oben von dem Verhalten bei peri-
pherer Facialislabmung und bei Tetanie gesagt wurde, spricht ftlr
eine enge Beziehung von Sehnenreflex und mechanischer Muskel¬
erregbarkeit, welehe Erscheinungen in umgekebrtem Verhaltniss zu
einander stehen, wahrend der Tonus der Muskeln von dem Verhalten
der Sehnenreflexe unabhangig ist
Die festgestellten Beziehungen zwischen Sehnenreflex und mecha¬
nischer Muskelexcitabilitat besagen nun durchaus nicht, dass die letztere
ihre Ursache hat in den Sehnenreflexen. Aber sie beweisen, dass die
mechanische Erregbarkeit der Muskeln ihre Ursache nicht oder we-
nigstens nicht ausschliesslich in dem Zustand der Muskelsubstanz
selbst hat, dass sie vielmehr mit dem Zustande der nervosen Appa-
rate in Beziehung steht, mit denen sie zusammenhangt Nimmt man an,
dass bei der Tabes alle reflectorischen Vorgange im Bereiche
der von der Hinterstrangsklerose befallenen Gebiete geschwacht resp.
verschwunden sind, was der klinischen Beobachtung entspricht, so wird
die Annahme gestattet sein, dass in letzter Linie die erhohte mecha¬
nische Muskelerregbarkeit von dem Wegfall irgendwelcher
uns unbekannter reflectorischer Erregungen bedingt ist Diese
Vorstellung ist sehr wohl vereinbar mit der Auffassung, dass wir es bei
der gesteigerten Muskelerregbarkeit mit einer Alteration der Muskel¬
substanz selbst mit einer Art trophischer Storung zu thun haben. Denn
abgesehen davon, dass wahrscheinlich alle Lebensvorgange von reflec-
torisch libermittelten Reizen abhangen, sind uns trophische Storungen
bei der Tabes dors, bekannte Dinge, ohne dass bei strenger Kritdk
eine andere Ursache als die Hinterstranglasion verantwortlich gemacht
werden konnte.
Diese Betrachtungsweise bahnt einen Weg zum Verstandniss einer
Anzahl eigenthlimlicher Muskelzustande bei der Tabes, fttr welehe bislang
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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 291
eine befriedigende Erklarung ausstand. Zu diesen gehoren: 1. Fibril¬
lar e Zuckungen in bekannter charakteristischer Form, welche wir
haufig bei Tabischen fan den ? in mechanisch tlbererregbaren Muskeln,
ohne dass Muskelschwache sich fand Oder Atrophie Oder dass
degenerative Vorgange irgend welcher Art durch die elektrisehe
Untersuchung hatten nachgewiesen werden konnen. 2. Klonische
Zuckungen. Ausser im Beginn der Krankheit konnen sie in
alien Phasen derselben auftreten, und befallen vorzugsweise die Mus-
culatur der unteren Extremitaten, kommen aber aucb an den oberen
Extremitaten vor; sie konnen continuirlich sein oder anfallsweise auf-
treten, einzelne Muskelgruppen befallen, so dass das Glied stets die
gleiche Bewegung ausflihrt; oder verschiedene Muskelgruppen gleich-
zeitig oder nacheinander, woraus complicirte Bewegungen der Beine
resultiren, welche, wie in einem jAngst beobachteten Falle von schwerster
Tabes, den Kranken in Gefahr bringen, aus dem Bette zu fallen.
3. Die Muskelatrophie. Es kann nicht unsere Absicht sein, die
complicirte Frage der tabischen Muskelatrophie eingehend zu behan-
deln, ebenso wenig soli das Vorkommen echter peripherischer, die Tabes
complicirender Neuritis mit consecutiver Muskelatrophie bestritten
werden, aber andererseits kann die Thatsache nicht aus der Welt ge-
schafft werden, dass die Mehrzahl der bei einem Tabischen auftretenden
Muskelatrophien ihre eigenthftmlichen, sie von andem unterscheidenden
Merkmale hat, von denen wir nur die Localisation in den einzelnen
Muskeln, den ausserst langsamen Verlauf resp. das Stationarbleiben
far Jahre, das Fehlen charakteristischer und constanter elektrischer
Veranderung hervorheben mochten. Schliesslich scheinen uns auch
4. die tabischen Lahmungen eine besondere Kategorie von Ver-
anderungen darzustellen. Auch abgesehen von den haufigen Peroneus-
Paresen, welche wir trotz jahrelanger Dauer unter geeigneter Be-
handlung (Uebung) in wenigen Wochen haben schwinden sehen und
welche auf hypotonischen Zustanden der Muskeln unter Mitwirkung
des Druckes der Decken oder der Schwere des Fusses beruhen (ta-
bische Pseudo-Paresen), kennen wir mehrere Varietaten tabischer
Lahmungen — es bedarf wohl keiner besonderen Erwahnung, dass all
diesen Betrachtungen uncomplicirte Falle von Tabes dors, zu
Grunde liegen — die wir kurz erwahnen wollen. Die acut auf¬
tretenden, bisher gehfahige Tabiker befallenden Lahmungen der Beine
entweder nach starker Muskelanstrengung (einer unserer Kranken
hatte Tags vor seiner completten Lahmung der Beine, die ttbrigens
langsam sich verlor, einen Marsch von 20 Kilometer gemacht), oder
die mehr subacuten eine Periode von Parasthesien und Schmerzen
abschliessenden Paralysen, welche ebenfalls gehfahige, oft noch ganz
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292
XVL Fbenkel
leistungsfahige Tabiker befallen. Diese letzteren Lahmungen sind stets
mit einer starken Verschlechterung derHaut, namentlich der Bewegungs-
empfindung im Vergleich zu dem Zustand vor der Lahmung vergesell-
schaftei Auch sie verschwinden spontan oder unter dem Einflosse
von systematischer Muskelthatigkeit. Sehr eigenthttmlich sind femer
diejenigen Paresen, welche in der Intensitat von Stunde zu Stunde
wechseln, bald verschwinden, bald wieder auftreten, ohne dass irgend
ein Grund diesen Wechsel erklarte.
Was nun die Lahmungen des sogenannten letzten Stadiums der
Tabes dors. betrifft, ohne Atrophie, ohne elektrische Veranderungen,
so beweist die Sicherheit, mit welcher die Anregung motorischer
Innervation Besserung schafft, dass sie einen Symptomencomplex sui
generis bilden, welcher hochstwahrscheinlich mit der absoluten
Anasthesie der Haut, der Gelenke und der Muskeln im Zusammen-
hang stehh
Es scheint uns ungerechtfertigt, die letzte Ursache all der ge-
nannten Alterationen des Muskelsystems wo anders zu suchen, als in
der Erkrankung des Systems der Hinterstrange oder physiologisch
gesprochen in der Erkrankung der recipirenden und reflectirenden
Apparate des Rftckenmarks. Etwaige Storungen der motorischen
Organe des Rftckenmarks, werden folglich als secundare von der
Hinterstrangslasion abhangige aufgefasst werden mtissen, welche zwar
in manchen Punkten analoge, aber doch nicht identische Wirkungen
auf die Musculatur austben, wie die primaren Erkrankungen an dem
motorischen Neuron. Ob diese secundaren Alterationen mit unseren
jetzigen Hilfsmitteln anatomisch nachweisbar sind, ist noch unent-
schieden. Weist uns die Physiologie auf die motorische Vorderhorn-
zelle des Rftckenmarks hin, so dftrfen wir vielleicht in der sicherlich
sehr haufigen Alteration der Structur des Zellprotoplasmas, der Chro-
matolyse, das anatomische Substrat sehen. Es finden sich bei der
Tabes dors, neben ganz normalen' Zellen eine grosse Anzahl mit Yer-
anderung der Grosse und Farbbarkeit der Nissl’schen Granula.
Man nimmt an, dass diese Elemente mit der trophischen Function der
Zelle in Zusammenhang stehen. Jedenfalls ist die Existenz der
tabischen Vorderhomzelle nicht bedroht, denn weder ist ihre Anzahl
vermindert, noch erleidet sie Aenderungen ihrer ausseren Form, wie
wir sie von den atrophischen degenerativen Erkrankungen der Vorder¬
homzelle kennen.
Das ftuhzeitige und constante Verschwinden der Sehnenreflexe
an den oberen Extremitaten beweist neben anderen Symptomen, dass
der pathologische Process schon im Beginn sich proximaleren Regionen
bemachtigt, als angenommen wird. Abgesehen von Parasthesien und
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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 293
Schmerzanfallen an den Armen, welche sich aussert haufig bei ein-
gehender Anamnese werden constatiren lassen, kennen wir als con-
stantes Symptom bei Tabes incipiens den hypasthetischen Giirtel
in den oberen Partien des Thorax. Selten wird iiberdies eine hypa-
sthetische Zone am 5. und 4. Finger der Hand und der Ulnar-
seite des ganzen Armes vermisst werden, wenn man darauf bedacht
ist, nicbt allein die absolute Empfindlichkeit auf Bertihrung zu prfifen,
sondem aucb dieselbe mit anderen Hautstellen zu vergleichen. Die
Annahme ist daber unvermeidlich, dass das Lumbalmark und das obere
Brustmark (resp. cervical M.) gleichzeitig ergriffen werden, letzteres
vielleicht sogar etwas frtther in ^Fallen gewohnlicher sogenannter
lumbaler Tabes. Aber zwischen den von diesen Abschnitten ver-
sorgten Gebieten fin den wir ganz intacte Partien am Rumpf.
Nehmen wir hinzu, dass mancbmal Parasthesien und Sensibilitats-
storungen am Hals und Gesicht vorkommen, von den alterirten Gebieten
der oberen Extremitaten ebenfalls durcb ganz normale Zonen getrennt,
so bait die hergebrachte Theorie vom lumbal beginnenden und nacb
aufwarts sich ausbreitenden Process der Kritik nicbt Stand.
Vielmehr muss angenommen werden, dass der tabische Process
schon im Beginn eine Anzahl binterer Wurzeln ergreift, in verschiedenen
Abschnitten des Riickenmarks, zwischen denen sich intacte Wurzeln
in wechselnder Anzahl einschieben. Von der Anzahl und der An-
ordnung det gleichzeitig ergriffenen Wurzeln hangen die klinischen
Erscheinungen ab in ihrer grossen Mannigfaltigkeit in Bezug auf die
Anfangssymptome, die Art des Einsetzens der Erankheit, die Schwere
und den Verlauf derselben.
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XVII.
Ueber periodische Oculomotorinsl&hmung.
Yon
P. J. Mobius
in Leipzig.
Im Jahr 1895, im 4. Hefte meiner neurologischen Beitrage habe
ich eine Uebersicht uber die bis dahin verSffentlichten Falle von
periodisch wiederkehrender Oculomotoriuslahmung gegeben und
kritische Bemerkungen daran geknnpft. Da ich im vergangenen Jahre
eine neue Beobachtung gemacht habe, komme ich jetzt auf den Gegen-
stand zurtlck.
Herr College Lamhofer hatte die Giite, mir am ll.Februar 1899 ein
Sljahriges Dienstmadchen mit linkseitiger Oculomotoriuslahmung zuzu-
8chicken. Die Kranke gab an, ihr Vater sei an der Schwindsucht gestorben,
die Mutter lebe gesund, beide Eltern liaben nie an Kopfschmerz gelitten.
Dagegen klagen zwei Schwestern zeitweise iiber Kopfschmerzen, seien im
Uebrigen gesund, haben besonders nie Augenstorungen gehabt. Ueber and ere
Verwandte konnte die Kranke keine Auskunft geben. Sie selbst sei bis
zum Anfange der 20 er Jahre, abgesehen von den gewohnlichen Kinderkrank-
heiten, nie krank gewesen, babe nie Kopfschmerzen gehabt. Mit 22 Jahren
aber habe sie den ersten Anfall ibres gegenwartigen Uebels erlebt und es
sei seitdem etwa alle 2 Jahre in ganz der gleichen Weise wiedergekehrt
Sie bekam eines Tages heftigen Kopfschmerz, der besonders iiber und hinter
dem linken Auge zu sitzen schien, Uebelkeit und wiederkehrendes Erbrechen.
Am nachsten Morgen war das linke Auge „klein u , im Laufe des 2. Tages
fiel es zu. Kopfschmerz und Erbrechen dauern zwei Tage an, dann folgen
nur noch schwache Schmerzen iiber dem linken Auge. Dieses bleibt etwa
fur 14 Tage geschlossen. Die Zeitangaben der Kranken sind etwas un-
sicher, bald meint sie, der jetzige Anfall sei der vierte, bald, er sei der
fiinfte. Auch die Angabe iiber die Dauer der Augeniahmung hat offenbar
nur annahernde Giltigkeit. Da die Kranke, wie die meisten ihresgleichen,
zur Selbstbeobachtung nicht aufgelegt ist, antwortet sie zogernd und wider-
strebend, z. B. giebt sie auf die Frage nach dem Doppeltsehen sehr un-
sichere Auskunft, sie glaube wohl, dass sie am Ende der Anfalle doppelt
gesehen habe. Zuversichtlich dagegen behauptet sie, dass sie zwischen den
Anfallen ganz gesund gewesen sei, dass das linke Auge dann „ganz gut a
gewesen sei. Diesmal habe der Kopfschmerz am 6. Februar begonnen,
am 7. sei das Auge zugefallen
Die Untersuchung ergab eine to tale und complete Lahmung des
linken Oculomotorius. Das Auge war ganz geschlossen. Das Lid hing, im
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Ueber periodische Oculomotoriuslahmung,
295
oberen Theile faltenlos, wie ein nasses Segel herunter, zeigte unten zwei
dem fireien Rande parallel© Hautfalten, als ob es gewaltsam nach unten
gezogen ware. Beim Querfalten der Stirne bewegte sich das Lid ganz und
gar nicht, obwohl sich der Frontalis gut contrahirte. Oeffnete man das
Auge mit den Fingem, so fUhlte man deutlich Widerstand. Der Augapfel
war nach aussen unten abgewichen, konnte nacli innen und unten nicht
bewegt werden, beim Versuche nach oben zu blicken, trat Raddrehung ein.
Die Pupille war weit und unbeweglich, die Accommodation aufgehoben.
Ausser der Oculomotoriuslfihmung bestand Hypftstbesie des Auges und seiner
Umgebung, die bis zur Mitte der Stirne und der Nase, bis zur Mitte des
Kopfes und bis zum Ohre, bez. bis zur Gegend des foramen infraorbitale
reichte. Auch die Bindehaut war links weniger empfindlich als rechts.
Beruhrung, Stich, Kfilte warden im Bereiche der Hypfisthesie gleichmassig
weniger als in der Umgebung empfnnden. Im Uebrigen waren imBezirke
der Hirnnerven keine Stdrungen aufeufinden. Auch der tibrige Kfirper
schien im Wesentlichen normal zu sein, nur waren die Sehnenreflexe auf-
fallend lebhaft und waren die Arteriae temporalis, carotis, radialis links
weniger deutlich zu fdhlen als rechts; am starksten war der Unter-
schied zwischen beiden Temporales. Das Mfidchen war bei der Untersuchung
sehr angstlich, zuckte bei Berfihrungen znsammen u. s. w. Sie gab an,
diese Beizbarkeit bestehe seit 7 Jahren; damals habe sie mit der linken
Scheitelgegend gegen einen offenen Fensterflfigel gestossen und die Stelle
sei lange sehr schmerzhaft gewesen. Jedoch sei der Unfall, wie sie bestimmt
wisse, erst nach Beginn der Augenkrankheit eingetreten.
Urn eine regelmassige Beobachtung moglich zu machen, unternahm
ich die galvanische B eh and lung.
Am 13. Februar war der Zustand im Gleichen, nur hatte die Hyp-
asthesie abgenommen.
Am 15.Februar entstand durch Frontaliscontraction ein kleinerSpalt
zwischen den Lidern und war eine Spur von Internuswirkung wahrzunehmen.
Die Kranke gab an, sie ffihle von Zeit zu Zeit stechende Schmerzen fiber
dem linken Auge und bezeichnete dabei das Gebiet des Supraorbitalis. Der
Schmerz wecke sie in der Nacht auf, dauere aber nur 1—2 Minuten.
Am 20. Februar war die Lidspalte etwa 3 mm hoeh. Es bestanden
keine Schmerzen mehr. Die Hypfisthesie war ganz gering und beschrfinkte
sich auf das Auge und die nfichste Umgebung. Auch der Unterschied der
Arterien war viel geringer. Am 27. Februar gab die Kranke an, sie habe
wieder einige Schmerzen versptirt. Der Augapfel konnte bis zur Mitte ge-
dreht werden.
Am 3.Mfirz war die Lidspalte links halb so hoch wie rechts. Ein Unter¬
schied zwischen rechten und linken Arterien war nicht mehr wahrzunehmen.
Am 15. Mfirz war die Hypfisthesie ganz verschwunden.
Am 20. Mfirz konnte daslinke Auge bis zum inneren Winkel gedreht
werden. Die Kranke fixirte einen vorgehaltenen Gegenstand mit dem linken
Auge und dabei wich das rechte Auge nach aussen oben ab.
Am 30. Mfirz waren alle Drehbewegungen mfiglich. Pupille und
Accommodation waren wie frfiher. Die Kranke gab nun an, „das Schwarze
im Auge w sei links immer grosser gewesen.
Am 15. April war nur noch die Mydriasis nachzuweisen. Die Kranke
entzog sich nun der weiteren Behandlung.
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XVII. Mobitjs
Nachzutragen ist noch, class College Lamhofer beiderseits normale
Sehsch&rfe und im Angenhintergrnnde nor etwas starke, aber noch physio-
logiscbe Krdmmung and Schlfingelung der Netzh&utgef&sse gefanden hat
Diese Beobachtung hat alle Merkmale, die man zur Diagnose der
periodisch wiederkehrenden Oculomotoriuslahmung verlangen muss,
d. h. es handelt sich um einseitige vollstandige Oculomotoriuslahmung,
die in annahernd regelmassigen, von Kopfschmerz und Erbrechen ein-
geleiteten Anfallen seit der Jugend den Patienten befallt Leider
haben yiele Autoren sich um diese Definition des Syndromes nicht be-
ktimmert, haben yielmehr alle moglichen Beobachtungen von wieder-
holter Augenmuskellahmung zusammengeworfen. Obwohl Manz, ich
u. A. wiederholt vor solcher Ungenauigkeit gewarat haben, verfahren
doch die neueren Autoren zum Theil noch ebenso und es ist nicht zu ver-
wundern, dass ihre Schlussfolgerungen zu wttnschen fibrig lassen. Ich
werde zunachst fiber die Beobachtungen bench ten, die ich in den
Neurolog. Beitragen noch nicht berttcksichtigen konnte, und werde
dabei aiuf die anstossigen Falle hinweisen.
Vorangestellt sei eine Mittheilung L. Chabbert’s (Sur un cas
d'ophtalmoplegie nucleaire transitoire etc. Progr&s med. 3 S. I. 15. 1895).
Ein Geistlicher, der wie seine Mutter seit der Jugend an Augenmigrane
litt, bekam mit 55 Jahren nach gehauften Anfallen Doppeltsehen, dann
erst rechts, spater auch links Ptosis. Gh. fand rechts fast vollstandige,
links unvollstandige Oculomotoriuslahmung ohne Betheiligung der
inneren Muskeln. Ch. selbst beurtheilt den Fall ganz richtig und
spricht von einer Ophtalmoplegie migraineuse, d. h. er nimmt an, dass
die schwere Augenmigrane zu einer Eemlasion Anlass gegeben habe.
Da er aber unter dem Drucke der Charcot’scben Lehre von einem
Uebergange zwischen Migraine ophtalmique und Migraine ophtalmo-
plegique spricht, so ist Verwirrung entstanden, worauf ich spater zu-
rfickkomme.
Auszuscheiden ist der Fall Piero ChiarinPs (La emicrania oftal-
moplegica [paralisi recidivante o periodica dell* oculomotore]. Rif. med. XI.
169—71. 1895): Ein 55 jahriger Fischer hatte vor 6 Jahren nach 4—5 Tage
dauernden Schmerzen in der linken Halfte des Kopfes Intemuslahmung
links bekommen. Diese war bald verschwunden und erst nach 6 Jahren
wiedergekehrt, nachdem Schmerzen im linken Auge (ohne Erbrechen)
vorausgegangen waren. Beim 2. Anfalle wurden nach einigen Tagen
ausser dem Internus auch die anderen Oculomotorius-Zweige befallen.
Auszuscheiden ist die Beobachtung A. Marina's (Ueber multiple
Augenmuskellahmungen u. s. w. Wien, 1896): Unter Schmerzen in der
rechten Gesichtshalfte eintretende Lahmung des rechten Oculomotorius
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Ueber periodische Oculomotoriuslahmung.
297
am 2. Tage nach der Entbindung bei einer 40jahrigen Frau mit Tabes-
symptomen; nach 3 Jahren Wiederkehr der Lahmung im Wochenbette.
Zweifelhaft ist der Fall von Ormerod und Holmes Spicer
(A case of recurrent paralysis of the third nerve with migraine. Lancet,
Dec. 21, 1895), weil „etwas Atrophie der Sehnerven u bestand. Jedoch
ist wahrscheinlich das Bedenken unnothig: 15jahriger Patient; 1. An-
fall im 2. Jahre, seit dem 8. Jahre alle 9—10 Monate ein Anfall links-
seitiger Oculomotoriuslahmung nach schwerer Migrane; in der
Zwischenzeit Parese.
Zweifelsfrei ist der Fall von 6. de Schweinitz (Recurrent ocu¬
lomotor palsy with a case. Boston med. and surg. Journ. CXXXHL
14. 1895: 30jabrige Frau; erster Anfall mit 1 j l 2 Jahren, spater mehr-
mals im Jahre Anfalle von rechtseitiger Oculomotoriuslahmung nach
Migrane; in der Zwischenzeit Parese.
Zweifelsfrei sind die beiden Falle von J. P. Karplus (Zur Kennt-
niss der periodischen Oculomotoriuslahmung. Wiener klin. Wochenschr.
YHI. 50—52. 1895): 1. 37jahrige Frau; seit dem 8. Jahre Anfalle von
rechtseitiger Oculomotoriuslahmung mit Migrane; in der Zwischenzeit
Parese. 2. 43jahrige Frau; seit dem 1. Jahre Anfalle rechtseitiger Oculo¬
motoriuslahmung mit Migrane; in der Zwischenzeit Parese; Tod durch
progressive Paralyse. Die 2. Beobachtung K/s ist durch den anatomi-
schen Befund wicbtig, ich werde spater auf sie zurtlckkommen.
Zweifelsfrei ist der Fall Ballet’s (bei E. d’Alche, De la migraine
ophtalmoplegique. These de Paris, 1896): 37jahriger Mann; seit dem
14. Jahre Anfalle rechtseitiger Oculomotoriuslahmung mit Migrane;
in der Zwischenzeit Parese.
Zweifelhaft ist der Fall 6. Kliatschkin’s (Ein Fall von perio-
disch wiederkehrender Oculomotoriuslahmung. Neurol. Centr.-Bl. XVI.
5. 1897), in dem der Verfasser selbst Malaria diagnosticirt: 15jahriges
Madchen; 3 Anfalle von linkseitiger Oculomotoriuslahmung nach Mi¬
grane; Milzschwellung, Besserung durch Chinin, Aufhoren der Anfalle
nach OrtswechseL
Auszuscheiden sind die beiden Falle Mingazzini’s (La paralisi
recidivante del nervo oculomotorio. Roma, 1897): 1. Oculomotorius¬
lahmung bei einem 59jahrigen Manne; angeblich vor 6 Jahren ein ahn-
licher Zufall. 2. Oculomotoriuslahmung bei einer 27jahrigen, der Sy¬
philis verdachtigen Frau mit Facialis- und Trigeminus-Parese.
Dagegen handelte es sich um echte wiederkehrende Oculomotorius¬
lahmung in dem Falle Sciamanna's, den ich nur aus Mingazzini’s
Darstellung kenne: 20 jahriges Madchen; seit dem 6. Jahre Anfalle rechts-
seitiger Oculomotoriuslahmung mit Migrane; in der Zwischenzeit Parese.
Auszuscheiden ist der Fall J. B. Charcot's (Contrib. a l'Stude
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XVII. Mobius
clinique de la migraine ophtalmoplegique. Revue neuroL V. 8. 1897):
Oculomotorius- und Abducenslahmung links bei einer 31jahrigen Frau,
spater rechtseitige Oculomotoriuslahmung.
Auszuscheiden ist der Fall Bouchaud's (Un cas de migraine
ophtalmoplegique. Presse med. Avril 28, 1897): Oculomotoriuslah¬
mung bei einer 60jahrigen Frau, die frtiher an Migrane litt
Auszuscheiden ist der Fall von Coutouzis (Nouvelle observ. d'un
cas de migraine ophtalmoplegique. Journ. de Med. et de Chir. prati¬
ques, Avril 25, 1897. Ref. in Revue neurol. V. 9. p. 257): Oculomo¬
torius- und Trochlearislahmung nach heftigen Schmerzen bei einem
27jahrigen Manne.
Auszuscheiden ist der Fall von 6. Ahlstrom (On recurrent oculo¬
motor paralysis. Ophth. Rev. XV. p. 177. Ref. im Arch. f. Augenheil-
kunde XXXIV. 4. p. 223. 1897): Wiederholte linkseitige Oculomotorius¬
lahmung bei einem 57jahrigen Manne mit Kopfschmerzen und Nasen-
ausfluss links; Heilung durch Nasenduschen.
Zweifelhaft ist der Fall von Strzeminski (Cas de paralysie ocu-
lomotrice recidivante. Extrait du Rec. d'Ophthalmol. Sept. 1897):
37jahriger Mann, der wie seine Schwester seit der Kindheit an Mi¬
grane litt; erst seit 1895 folgte den Anfallen Oculomotoriuslahmung.
Es ware moglich, dass es sich hier, wie bei Chabbert, um eine
Ophtalmopl6gie migraineuse gehandelt hatte.
Zweifelhaft sind die Falle Schmidt-Rimpler’s (Band XXI des
Handbuches von Nothnagel): 1. Wiederholte Oculomotoriuslahmung
ohne Migrane seit 1885 bei einem 39jahrigen Manne. 2. Wiederholte
linkseitige Oculomotoriuslahmung mit Migrane bei einer 22jahrigen
Frau; Flimmerscotom. Wahrscheinlich ist der 1. Fall auszuscheiden,
im 2. Falle nimmt der Verf. ein zur Migrane hinzutretende Oculomo¬
toriuslahmung wie bei Chabbert an.
Vielleicht hat Haynes echte wiederkehrende Oculomotorius¬
lahmung beschrieben, doch ist das Referat nicht genau genug (Re¬
current ptosis. New-York med. Journ. No. 7, 1897. Ref. i. Neurol.
Centr.-Bl. XVI. 24. p. 1141. 1897).
Ebenfalls vielleicht echt, aber ungenugend beschrieben ist die
wiederkehrende Oculomotoriuslahmung bei M. Giebler (Ueber reci-
divirende Oculomotoriuslahmung. Diss. inaug. Dresden 1897): Link¬
seitige Oculomotoriuslahmung mit Migrane bei einem Knaben. Ziehen
hat spater (Neurol. Centr.-Bl. XVIII. 4. p. 173. 1899) angegeben, dass
bei dem Knaben Giebler’s „eine basale Pachymeningitis haemorrhagica*
gefunden worden sei; die Kernregion wurde nicht untersucht
Zweifelsfrei ist auch der 3. Fall von Karplus (Wiener klin.
Wochenschr. XII. 10. 1899): 62jahrige Frau, die seit der Kindheit
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Ueber periodische Oculomotoriuslahmung. 299
an Anfallen von rechtseitiger Oculomotoriuslahmung mit Migrane
gelitten hatte.
Auszuscheiden ist der Fall von L. Demicheri (Migraine ophtal-
moplegique altemante. La clinique ophtalm. V, 18. 1899): Oculomo¬
toriuslahmung bei einer 64jahrigen Frau, die nach heftigen Schmerzen
erst links, dann rechts auftrat.
Die Arbeit von R. Paderstein (Beitr. z. Casuistik der ophthal-
moplegischen Migrane. Deutsche Ztschr. f. Nervenhlkde. XV. 5 u. 6.
p. 418. 1899) entbalt einen zweifelsfreien und einen zweifelhaften Fall:
1. 18jahriger Jtingling; seit der Kindheit heftige Anfalle von recht¬
seitiger Oculomotoriuslahmung nach Migrane; in der Zwischenzeit
Parese. 2. 20jabriges Madchen mit schwerer, seit der Kindheit be-
stehender Migrane; nach einem besonders heftigen Anfalle partielle
Oculomotoriuslahmung. Man kann im 2. Falle an secundare Lahmung
wie bei Chabbert denken.
Auszuscheiden ist der Fall von Tromner (Ophthalmoplegia in¬
terna bei Migrane ophthalmoplegique. Centr.-Bl. f. Nervenhlkde. Oct.
1899): 38jahrige Wittwe mit Augenmigrane; nach einem heftigen An¬
falle Ophthalmoplegia interior dextra.
Zweifelhaft sind die Falle von H. Wilbrand und A. Sanger
(Die Neurologie des Auges. I. 2. Abth. p. 515. 1900): 1. 8jahriges
Madchen; seit Jahren Anfalle von Schmerzen fiber dem rechten Auge;
nach 8tagigen Schmerzen mit Erbrechen rechtseitige Oculomotorius¬
lahmung; nach 6 Wochen Heilung; nur ein AnfalL 2. 25jahrige
Frau; seit 13 Jahren, nach „ Typhus 4 linkseitige Oculomotorius¬
lahmung; seit 3 Jahren Migrane, bei deren Anfallen die Oculomo-
torius-Parese etwas zunahm.
Das sind die neuen Beobachtungen, soweit sie mir bekannt ge-
worden sind. Man sieht also, dass, bei Lichte betrachtet, nur die
Minderzahl der Falle rechtmassig zur periodischen Oculomotorius¬
lahmung gezahlt werden kann und dass bei Ausscheidung auch der
zweifelhaften Falle nur 6 fibrig bleiben, namlich die 3 Falle von
Karplus, je 1 Fall von de Schweinitz, Ballet, Paderstein.
Halt man sich an die reinen Falle und sieht man zunachst von
der durch Charcot hervorgerufenen Verwirrung ab, so bleibt nach
den neuen Beobachtungen das frfiher von mir entworfene Bild ganz
unverandert. Es ist das leicht im Einzelnen zu zeigen.
Immer beginnt die Krankheit in der Kindheit oder Jugend. Als
obere Grenze kann man etwa das 25. Jahr ansehen. Wir finden also
das Gleiche wie bei anderen Krankheiten, die auf angeborener Anlage
beruhen, und in dieser Hinsicht gleicht die periodische Oculomotorius¬
lahmung auch der Krankheit Migrane. Niemals aber ist Vererbung
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300
XVII. Momus
beobachtet worden. Auch pflegen die Kranken mit periodischer Oculo¬
motoriuslahmung nicht aus Migrane-Familien zu stammen. Bei den
meisten wird angegeben, dass die Eltem nicht an Kopfschmerzen ge-
litten haben. So war es bei meinen Kranken und so war es z. B.
auch bei den 3 Kranken, die Karplus beschrieben hat. Dem gegen-
tiber will es gar nichts sagen, wenn ausnahmeweise das Gegentheil
berichtet wird, denn bei der ungeheueren Haufigkeit der Migrane
kann leicht zufallig ein Migrane-Candidat von der Oculomotorius¬
lahmung betroffen werden.
Die Anfalle beginnen immer mit Kopfsehmerz, der von Erbrechen
oder wenigstens von Uebelkeit begleitet wird, d. h. sie beginnen mit
einem Migrane-Anfalle. Nie handelt es sieh um nenralgische Zufalle
wie bei Trigeminusneuralgie. Die Begel ist, dass die Migrane aufhort,
wenn die Lahmung eintritt, zuweilen aber dauert jene nach dem Be-
ginne dieser noch ein paar Tage an. Als Nebenerschein ungen kSnnen
Schwindel, Speichelfluss, vasomotorische Storungen die Migrane be-
gleiten. Niemals aber ist bei periodischer Oculomotoriuslahmung
Flimmerscotom beobachtet worden, ein Umstand, den ich nachdrficklich
hervorhebe. Wenn auch die Lahmung niemals ohne Migrane eintritt,
so konnen doch die Patienten unvollstandige Anfalle haben, bei denen
es so zu sagen nicht bis zur Lahmung kommt, die also nnr aus der
Migrane bestehen. Aber auch dann tritt nie ein Wechsel der Seite
ein, wie es bei der Krankheit Migrane ausserordentlich oft vorkommt.
Die Dauer der Migrane und die der Lahmung sind sehr ver-
schieden. Jene wechselt von Stunden bis zu Wochen, diese betragt
meist Wochen oder Monate. Zu betonen ist die Haufigkeit langer
Migranezeiten, wahrend bei der Krankheit Migr&ne schwere Anfalle,
die einige Wochen dauern, fast nie vorkommen.
Die Haufigkeit der Anfalle ist ebenfalls sehr verschieden, denn es
giebt Falle, in denen mehrere Anfalle im Jahre vorkommen, und solche,
in denen Jahre zwischen den Anfallen liegen. Immerhin hat jeder Fall
so zu sagen seinen Typus. Mit Unrecht hat man die Bezeichnung
„periodisch“ getadelt. Die periodische Oculomotoriuslahmung ist
genau so gut eine periodische Krankheit wie die Epilepsie, die Mi¬
grane und das periodische Irresein, denn auch bei diesen Krankheiten
ist die Periodicitat nicht grosser.
Die Oculomotoriuslahmung ist einseitig und total In keinem
einzigen der zweifelsfreien Falle ist das andere Auge betheiligt ge-
wesen. Die Beobachtung von Darquier, auf die sich Manche be-
ziehen, ist mit Bestimmtheit auszuscheiden, denn das Alter der Kranken
bei der ersten Lahmung (63 Jahre!), die Art der Schmerzen (elance-
ments ohne Erbrechen), die Verbindung mit Facialislahmung zeigen
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Ueber periodische Oculomotorluslahmung.
301
zur Genttge, dass die Diagnose falsch ist. Feraer ist immer die
Lahmung zu irgend einer Zeit total; Beschrankung auf die ausseren
oder die inneren Maskeln kommt nicht vor.
Auch die neuen Beobachtungen bestatigen meine fr&here Angabe,
dass zwischen den AnfSllen Reste der Lahmung bestehen bleiben und,
dass mit der Zeit die dauernde Lahmung wachst. Die Unterscheidung
Senator’s zwischen rein periodischen und exacerbirenden Lahmungen ist
ganz hinfallig, denn abgesehen da von, dass nicht einmal sein eigener
Fall ein wirkliches Beispiel der ersten Form ist, wtlrde der Nachweis
freier Intervalle gar nichts darthun, wenn die Kranken nicht bis zum
Ende beobachtet worden sind. Zweifellos ist in der grossen Mehrzahl
der Falle zwischen den Anfallen deutliche Parese vorhanden und sollte
sie ja einmal fehlen, so ware damit hochstens ein geringerer Grad der
Krankheit, nicht eine besondere Form gegeben.
Wichtig ist der Nachweis einer Schadigung des ersten Trigeminus-
astes, der auch mir in meinem neuen Falle gelungen ist. Er vermehrt
die Zahl der Grttnde, die for eine basale Lasion sprechen.
Schon 1884 habe ich nachdrflcklich die Ansicht vertreten, dass
der periodischen Oculomotoriuslahmung eine organische Lasion zu
Grunde liege. Alles, was seitdem bekannt geworden ist, hat diese
Ansicht bestatigt und die Autoren, die von hysterischer oder reflec-
torischer Lahmung gesprochen haben, werden wohl jetzt von ihrer
Meinung zurfickgekommen sein. Dagegen ist ein neuer Feind in der
Behauptung Charcot's entstanden, die periodische Oculomotorius¬
lahmung sei eine Abart der Migrane. In Frankreich hat begreiflicher-
weise diese Behauptung viel Anhanger gefunden, neuerdings scheint
man sich aber auch in Deutschland mit der Migraine ophtalmopl£gique
befreunden zu wollen. Ich muss daher diesen Irrthum nochmals be-
streiten. Nach meiner Auffassung ist die Migrane bei der periodischen
Oculomotoriuslahmung eine symptomatische Migrane, wie sie bei
verschiedenen Gehimkrankheiten (Epilepsie, progressiver Paralyse,
arteriosklerotischen Herden) vorkommt; sie muss daher von der Erank-
heit Migrane streng geschieden werden. Wenn bei der letzteren Ocu¬
lomotoriuslahmung vorkommt, so bewirkt die Migrane die Lasion,
wahrend bei der periodischen Oculomotoriuslahmung die Lasion
nicht nur die Lahmung, sondem auch die so zu sagen als Aura vor-
ao8gehende Migrane hervorruffc. Dass die Migrane Augenmuskellah-
mungen verursachen kann, weiss man eigentlich erst durch Chabbert’s
Beobachtung. Wie sie es macht, vrissen wir nicht Charcot stellte
sich vor, bei dem Anfalle seien die Arterien stark zusammengezogen
und es konne dabei gelegentlich zur Nekrose kommen. Dass heftige
Migrane eine Arterienstrapatze bildet, ist nicht zu bezweifeln; man
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302
XVH. Mobxus
konnte denken, dass die Arterien mit der Zeit brQchig werden mochten.
Es ist aber auch moglich, dass die Migrane allein weder zum Gefass-
yerschlusse noch zur Gefasszerreissung ausreicht, dass ihr Anfall nur
bei schon geschadigten Arterien als Gelegenheitursache wirkt Aucb
bei Chabbert’s Patienten ist ein solcber Zusammenhang zu erwagen,
denn obwohl der Patient Geistlicher war, konnte er dock frtiher ein-
mal Unglfick gehabt haben und tiberdem war er ein ziemlich alter
Mann. In anderen Fallen, wie bei der 2. Kranken Schmidt-Rimpler’s
und bei der 2. Kranken Paderstein's, die junge Frauen waren, mfisste
man anderweite Zustande voraussetzeu, vermoge deren der Migraneanfall
zur Lahmung ftihren kann. Immer aber handelt es sich um eine ge-
wohnliche ererbte Migrane, zu der erst im Laufe der Zeit, gew5hnlich
nach sehr schweren und gehauften Anfallen, die Lahmung als Compli¬
cation hinzutritt. In den meisten Fallen der periodischen Oculomotorius-
lahmung aber ist von vornherein, mit dem ersten Anfalle die voile
Lahmung da. Auch in meinem neuen Falle ist dies Verhalten sehr
deutlich und es weist uns darauf hin, dass die Lasion primar die
Oculomotoriusfasem ergreift; die der symptomatischen Migrane zu
Grunde liegende Trigeminusschadigung ist zugleich mit der Oculomo-
toriuslasion gegeben, diese folgt nicht auf jene. Diese Erwagungen
zusammen mit den frflher von mir gegebenen Griinden soil ten, meine
ich, ausreichen, um die periodische Oculomotoriuslahmung von der
Migrane mit Augenmuskellahmung abzuscheiden. Ich gebe zu, dass
in manchen Fallen die Diagnose schwer sein mag, aber die Mehrzahl
der reinen Falle spricht eine deutliche Sprache und praktische Schwierig-
keiten konnen die theoretische Trennung nicht hindera.
Ueber den Sitz der Lasion herrschen noch verschiedene Ansichten.
Anfanglich hielt ich eine nucleare Lasion ftir wahrscheinlich, im Laufe
der Zeit aber habe ich die Bedeutung der ftir eine peripherische,
basale Lasion sprechenden Grtinde anerkennen mtissen. Mit Recht
haben Manz, Mauthner u. A. die Totalitat der Lahmung und ihre
Beschrankung auf eine Seite betont. Dazu kam dann der Nachweis
einer Trigeminuslasion, der wohl zuerst von Vissering geftthrt wurde,
wahrend spater Darkshewitsch, Karplus u. A. ahnliche Befunde
machten. Endlich kommen die beiden Sectionbefunde in Betracht.
Solange nur der Befund von Thomsen-Richter vorlag, konnte man
denken, das in diesem Falle gefundene Fibrochondrom des Oculo-
motorius sei eine Curiositat; manche meinten auch, der schon kranke
Nerv sei als Locus minoris resistentiae Sitz der Wucherung geworden.
Seitdem aber auch Karplus ein Neurofibrom, das die Fasern des
Nerven auseinander getrieben und zum Schwunde gebracht hatte, ge-
funden hat, muss man die Sache doch ernsthafter ansehen. In beiden
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Ueber period! sche Oculomotoriuslahmung.
303
Fallen sind die Kemgegenden untersucht worden. Richter fand
nichts abnormes, Earplus giebt an, dass der rechte (zu dem kranken
Nerven gehorende) Kern etwas armer an Fasem gewesen sei als der
linke, dass die Ganglienzellen beiderseits gleich waren. Es ist wohl
zuzugeben, dass jene Faserarmuth als secundare Veranderung anzu-
sehen ist.
Nehmen wir an, eine gutartige Neubildung am basalen Oculo-
motorius, knrzweg ein Fibroin, sei bei der periodischen Oculuraotorius-
lahmung vorauszusetzen, so werden der Beginn in der Kindheit oder
Jngend und das Bild im Anfalle gut erklart. Denn das Fibrom be-
ruht auf angeborener Anlage (ohne doch eine ererbte Veranderung
zu sein) und ein von ihm ausgehender Reiz mag zugleich die in der
Dura laufenden Trigeminusfasem (Kopfschmerz und Erbrechen), die
Oculomotoriusfasem (Lahmung) und den benachbarten 1. Trigeminus-
ast (Hypasthesie der Stim) schadigen. Aucb versteht man die Parese
zwischen den Anfallen und deren allmahliches Wachsen. Die Schwierig-
keit aber liegt in der Periodicitat Wie kann so ein Ding, so ein
Fibrom jahrzehntelang, in annahemd regelmassigen Abstanden wieder-
kehrende Anfalle machen? Die Autoren, neuerdingsbesonders Karplus,
sagen: durch Storungen der Circulation, also wohl durch anfallweise
wiederkehrende Hyperamie. Aber wie entstehen diese StSrungen?
Karplus erinnert an die mit den Gemfithsbewegungen, der Monat-
blutung, dem Alkoholgenusse verbundene Hyperamie. Gut, aber wenn
ein Kind alle Jabre einen Anfall bekommt oder ein Madcben, wie
meine neue Kranke, alle zwei Jabre einen bekommt, was ist das fttr
eine Art von Hyperamie? Ich gestehe, dass mir die Hyperamielehre
in ihrer Unbestimmtheit nicht annehmbar ist, und sucbe nach einer
anderen Losung. Was wissen wir flberhaupt liber die Ursachen patho-
logischer Periodicitat? Warum besteben die Epilepsie, die Migrane,
das periodische Irresein aus Anfallen? Eigentlich wissen wir gamicbts
und das einzig Brauchbare ist die Hypothese der Explosion. Diese
setzt voraus, dass durch stetige Veranderungen ein Stoff angebauft
werde, der schliesslich auf irgend einen Anlass hin explodirt, wie
etwa ein Mensch, der immer geargert wird, endlich einmal in Wuth
gerath und nachber wieder eine Portion Aerger vertragen kann. Ein
langsam wacbsender Tumor konnte recbt gut den stetigen Reiz ab-
geben und wenn das Fibrom die Oculomotoriusfasern oder das Neuron,
wie man jetzt sagt, durch eine gewisse Zeit gereizt hat, so muss sicb
hier eine Menge leicht zersetzbarer Stoffe (anders kann man sicb die
^Summation der Reize“ nicht denken) angesammelt haben: es kommt
zur Explosion, zur SelbstentzUndung und der rasche Zerfall des frag-
lichen StofiFes bewirkt den Anfall. Genauer gesagt, die Explosion ist
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304
XVII. Mobius
nicht der Anfall, sondem dieser ist die Reaction auf jene, daher von
relativer Dauer. Zur Reaction gehort die ortliche Hyperamie, die so
wieder ihr Recht erhalt. So ungefahr geht es vielleicht
Man kann fragen, ob etwa an anderen Norven ahnliche Syn¬
drome beobachtet worden seien. Ich finde zwei Beobachtungen.
G. E. de Schweinitz (Recurrent abducens palsy. Philad. Polyclinic.
VI. 39. 1897) erzahlt yon einem sonst gesunden Madchen, das mit
1 Jahre unter Fieber, Erbrechen, heftigem Kopfschmerz an recht-
seitiger Externuslahmung erkrankt war. Vollstandige Heilung war
eingetreten, aber im 3. und im 7. Jahre war der Anfall wiedergekehrt
A. di Luzenberger (Paralisi periodica del trocleare con cefalea e
nausea. Manicomio XIII. Ref. im Neurol. Centr.-BL XVII. 2. p. 73.
1898) erzahlt yon einem 29 jahrigen Manne, bei dem zuerst im 13. Jahre
nach einem anstrengenden Marsche in der Sonne ein Anfall recht-
seitiger Migrane mit Doppeltsehen aufgetreten war. Der Anfall war
anfangs alle 8 Tage wiedergekehrt und hatte 1 Tag gedauert. Spater
war er seltener gekommen, hatte aber 15 Tage gedauert In dem yon
L. beobachteten AnfaJle, der 20 Tage dauerte, bestand rechtseitige
Trochlearislahmung. An anderen Himneryen scheint nichts ahnliches
beobachtet worden zu sein; auf jeden Fall haben die wiederkehrenden
Facialislahmungen einen ganz anderen Charakter. Ob es eine Eigen-
thumlichkeit der Augenmuskelneryen ist, dass sie relatiy oft yon gut-
artigen Neubildungen behelligt werden, das muss man vorlaufig dahin-
gestellt sein lassen.
Ein paar Worte muss ich noch sagen fiber die Unterscheidung
der periodischen Oculomotoriuslahmung von anderen Oculomotorius-
lahmungen, die mehrmals auftreten, oder wenigstens auch mit migrane-
artigen Zufallen einhergehen. Halt man sich an die Definition, so
scheiden von vornherein alle Falle aus, in denen die Anfalle erst
nach dem 30. Jahre beginnen, in denen die Migrane fehlt, in denen
nicht einseitige totale Oculomotoriuslahmung besteht Also wird
fiber die meisten Falle, die ich beanstandet habe, gamicht zu reden
sein. Dagegen konnen Tauschungen entstehen, wenn in der Jugend
ein Oculomotorius von der Basis aus beschadigt wird, was am haufigsten
durch Tuberculose geschehen mag. Wenn bei einem bis dahin ge¬
sunden Kinde ohne Fieber, aber unter Kopfschmerz und Erbrechen
einseitige Oculomotoriuslahmung auftritt, so kann man zweifelhaft
sein, ob es sich um den Beginn der periodischen Oculomotorius¬
lahmung oder um basale Tuberculose handelt. Mir ist es so gegangen
bei einem 10jahrigen Madchen: es war gar nichts zu finden, was die
Tuberculose verrieth und erst nach 14tagigem Bestehen der Oculo¬
motoriuslahmung traten anderweite Symptome auf, die die Diagnose
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Ueber periodische Oculomotoriuslahmung.
305
sicher machten. In diesem Falle trat der Tod ein, indessen ist es
sehr wohl mbglich, dass die Tuberculose sich in Schiiben entwickele
nnd vorlaufig eine Oculomotoriuslahmung zurlickgehe. In dem ersten
Falle von Wilbrand und Sanger konnte man wohl an Tuberculose
denken. An der Beobachtung von Weiss haben wir ein Beispiel,
dass die Tuberculose ein der periodischen Oculomotoriuslahmung
sehr ahnliches Bild bewirken kann. Ware hier Migrane vorhanden
gewesen, so ware sogar die Diagnose periodische Oculomotorius¬
lahmung berechtigt gewesen. Die Dura-Reizung kann in einem
anderen Falle da sein und am Ende liefert nur der Verlauf den Be-
weis einer bbsartigen Erkrankung. Aehnliche Schwierigkeiten konnten
durch ein Ameurysma oder durch andere Neubildungen entstehen,
fast immer aber wird der Verlauf aufklaren. Es werden Symptoms
auftreten, die der periodischen Oculomotoriuslahmung fremd sind,
Betheiligung anderer Hirnnerven, Uebergreifen auf die andere Seite
und Anderes. So wie die Sachen jetzt stehen, ist nicht in alien Fallen
eine sichere Diagnose moglich, die Rubrik der zweifelhaften Falle
muss beibehalten werden. Aber man soli das, was zweifelhaft ist,
zweifelhaft nennen. Vorwarts hilft nur die Verscharfung der Diagnose,
d. h. Unterscheidung, wahrend das Zusammenwerfen oberflachlich ahn-
licher Dinge garnicht fordert
Deatsohe Zeitschr. f. NervenheUktwde. XVII. Bd.
20
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xvin.
Aus der medicinischen Klinik zu Bonn.
Ueber das Fehlen des Achillessehnenreflexes nnd seine
diagnostische Bedentnng.
Yon
Privatdocent Dr. J. Strasburger,
Assistent der Klinik.
Ueber den diagnostischen Werth des Westphal'schen Zeichens
herrscht heutzutage kein Zweifel; auf das Fehlen des Achillessehnen¬
reflexes wird hingegen noch verhaltnissmassig wenig geachtet Das
liegt daran, dass hber das Vorkommen dieses Reflexes unter normalen
Verhaltnissen noch immer eine gewisse Unsicherheit herrscht, und dass
man annimmt, er konne, im Gegensatz zum Patellarreflex, bei Ge-
sunden haufiger fehlen. Die statistischen Erhebungen Hber diesen
Gegenstand sind noch nicht zahlreich und weichen in ihren Resultaten
erheblich von einander ab. Die ersten Untersuchungen verdanken wir
Berger 1 ) (1879) und Eulenburg 2 ) (1882). Ersterer untersuchte 1409
gesunde Personen, zumeist Soldaten und vermisste den Achillessehnen-
reflex in 20 Proc. der Falle; ofters konnte er ihn ausserdem nur auf
einer Seite deutlich demonstriren. Die Angaben von Eulenburg
lauten wesentlich ungiinstiger: Unter 124 gesunden Kindern fehlte das
Phanomen in 81,45 Proc.
Zu derZeit, als die genannten Untersuchungen angestelltwurden, war
die Anwendung bahnender Reize noch nicht bekannt. Wir konnen daher
in ihren Resultaten einen Beweis far das haufigere Fehlen des Fussreflexes
nicht erblicken. Aber auch eine neuere Arbeit, welche Plasterer 3 )
(1890) unter Leitung von K. Geigel ausflihrte und die sich fiber
100 Falle erstreckt, kommt zu dem Ergebniss, dass nur in 57 Proc.
derselben ein Achillessehnenreflex zu erzielen war.
Ganz anders lautet das Urtheil von Ziehen 4 ) (1894), welcher die
Verhaltnisse an einem grossen Material studirte. Leider lassen sich
die Zahlen dieses Autors nicht glatt auf normale Verhaltnisse fiber-
tragen; denn die Versuche wurden an Geistes- und Nervenkranken der
psychiatrischen Klinik in Jena ausgeffihri Soweit der Achillessehnen-
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Ueber dasFehlen des Achillessehnenreflexes und seine diagnostiseheBedeutung. 307
reflex vorhanden war, sind sie wohl auch ffir Gesunde beweisend. Die
Falie aber, in denen der Reflex vermisst wurde, kbnnen nur mit Zu-
rfickhaltung yerwerthet werden. Trotz dieser Einschrankung ergiebt
sich bei Ziehen fttr das Yorhandensein des Achillessehnenreflexes ein
sehr viel giinstigerer Procentsatz, als bei den vorhergehenden Unter-
suchern. Der Autor giebt an, dass er im Ganzen fiber etwa 1900 Falie
verffigt. Aus seinen Tabellen ersehen wir, dass 68 mal beiderseitig,
28 mal einseitig, der Achillessehnenreflex fehlte. Alle Falie sind
freilich nicht in die Tabelle aufgenommen worden. Immerhin konnen
wir aus diesen Angaben berechnen, dass der Reflex in 95 Proc. Oder
etwas weniger der untersuchten Falie bestand. Noch gftnstiger
lautete das Resultat, wenn bloss functionelle Psychosen nnd Neura-
sthenie berficksichtigt wurden. Dann ergab sich nach Ausschaltnng
einiger zweifelhafter Resultate, dass nur in 0,3 Proc. der Achilles-
sehnenreflex nicht auslbsbar war. Ziehen nimmt auch an, dass der-
selbe bei Gesunden nur selten fehle.
In der medicinischen Klinik zu Bonn wird seit mehreren Jahren
der Achillessehnenreflex bei alien Erkrankungen des Nervensystems
sorgfaltig geprttft Aber auch bei vielen Nicht-Nervenkranken schenkten
wir ihm Aufmerksamkeit und kamen zu der Ueberzeugung, dass
es normalerweise fast immer nachweisbar isi Wegen der in der
Literatur bestehenden Meinungsverschiedenheiten unternahm ich es,
nnserer Erfahrung fiber diesen Punkt durch einige Zahlen Aus-
druck zu verleihen. Es soli gleich bemerkt werden, dass sie im
Wesentlichen den Ergebnissen von Ziehen entsprechen. Sie bilden
aber nicht bloss eine Bestatigung, sondern auch eine Erganzung seiner
Arbeit, denn die Angaben dieses Autors erstrecken sich doch, genau
genommen, bloss auf Erkrankungen des Nervensystems, und lassen, wie
erwahnt, auf Gesunde nur einen indirecten Schluss zu. Die von mir
gesammelten Falie sollen dazu dienen, diese Lttcke auszuffillen. Ge¬
sunde Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes standen uns aller-
dings auch nicht zur Verfugung, aber der hiesige Krankenbestand
sefczt sich zum grossen Theil aus Personen zusammen, die keinerlei
Nervenleiden aufweisen; und hierin liegt ffir unsere Aufgabe der
Schwerpunkt.
Bei der Sammlung des Materials verfuhr ich in der Weise, dass
alle Patienten, bei denen eine Nervenerkrankung diagnosticirt worden
war, bei Seite blieben. Ferner stellte ich nicht einfach die Befunde
aus den Krankengescbichten mehrerer Jahrgange zusammen, sondern
benutzte nur Prttfungs-Ergebnisse aus der letzten Zeit, in der wir
dem Fehlen des Achillessehnenreflexes erhohte Aufmerksamkeit zu-
gewendet hatten. Es kommt ja hier weniger auf die Grosse der Ge-
20 *
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308
XVIII. Strasburger
sammtzahl, als auf die Sorgfalt der Einzeluntersuchung an. Die Be-
funde an Frauen und einem kleinen Theil der Manner sind von meinem
Collegen G. Kirchgasser mit Sorgfalt aufgenommen und mir freund-
lichst zur VerfQgung gestellt worden.
Wenn schon das Auslosen des Patellarreflexes haufig auf Schwierig-
keiten stosst und gewisse Uebung verlangt, so gilt dies ftir den Fuss-
reflex in noch hoherem Maasse. Es erscheint deshalb erforderlich, die
von uns angewendete Methode zu schildern. Dieselbe ist in Ktirze
schon von Herm Geheimrath Schultze 5 ) in seinem Lehrbuch der
Nervenkrankheiten beschrieben worden.
Wir wahlen zur Untersuchung stets die liegende Stellung und
zwar ftir gewohnlich die Rlickenlage des Kranken. Das betreffende
Bein wird an der Fussspitze erfasst und etwas erhoben. Durch Dor-
salflexion des Fusses erfolgt nun massige Anspannung der Achilles-
sehne, welche zumeist dann erreicht ist, wenn der Fuss mit dem
Unterschenkel etwa einen rechten Winkel bildet Dabei ist der
Unterschenkel gegen den Oberschenkel gestreckt. Eine Beugung im
Kniegelenk, wie sie von den meisten Untersuchem gefordert wird, halte
ich fiir weniger zweckmassig. Es werden hierdurch die Ansatzpunkte
des Muse. Gastrocnemius und Soleus genahert und man erkennt sofort,
dass, um die nothige Anspannung der Acbillessehne zu erzielen, der
Fuss starker dorsalflectirt werden muss; hierdurch bewirkt man, dass
die senkrechte Entfernung der Sehne von den Unterschenkelknochen
geringer wird und sich die oberen Theile der Sehne und das untere
Ende des Muskels in grosserer Ausdehnung der tiefen Muskelschicht
anlegen. Auf diese Weise entsteht aber eine Verkiirzung und Behin-
derung der schwingungsfahigen Theile. Die Nothwendigkeit durch
Beugen im Knie eine Entspannung der Wadenmuskeln vorzunehmen,
liegt tibrigens meist gar nicht vor. Wenn Muskeln in storender Weise
activ innervirt werden, so sind es in der Regel die Antagonisten, wie
man an dem Vorspringen der Sehne des Muse. Tibialis anticus erkennt.
Falls man den Kranken nicht zum Entspannen bringen kann, ist es sehr
vortheilhaft die Bauchlage einnehmen zu lassen. Andere Autoren erreichen
Aehnliches, indem sie die Patienten, wie J. Muskens 6 ) beim Sitzen oder
wie Babinski 7 ) wahrend des Kniens auf einem Stuhl untersuchen.
Besonders letzteres Verfahren giebt auch sehr gute Resultate. Bei
alien diesen Methoden wird allerdings eine Beugung im Kniegelenk
vorgenommen. Was die Spannung der Achillessehne angeht, so eignen
sich mittlere Grade am besten. Indessen ist es erforderlich, im Einzel-
falle die giinstigsten Verhaltnisse auszuprobiren. Auch die Hohe, in
der die Sehne angeschlagen werden muss, wechselt bei verschiedenen
Leuten; jedoch muss man sich httten, nicht zu hoch hinauf zu gelangen
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Ueber dasFehlen des Achillessehnenreflexes und seine diagnostischeBedeutung. 309
and so eine idiopathische Muskelcontraction auszulosen. Da oft ein
ziemlich kraftiger Schlag mit dem Hammer nothig ist, moge man den
letzteren nicht zn leicht wahlen. Zur Erhohung der Treffsicherheit,
drehen wir den Percussionshammer um 180° in seiner Langsaxe und
schlagen die Sehne mit dem Stiele des Hammers an. In schwierigen
Fallen helfen wir uns mit dem Jendrassik’schen Kunstgriff, aller-
dings nicht in seiner ursprfinglichen Form, sondern mit der yon
Bowditsch 8 ) angegebenen Verbesserung. Dieser Autor fand, dass
die hemmende Wirkung der Muskelaction nur ganz kurze Zeit, einige
Zehntel Secunden, anhalt und dann abklingt, ja bei einer Anzabl der
Versuchspersonen sogar in Hemmung ttbergeht. Aus diesem Grunde
ist es erforderlich, den Jendrassik'schen Handgriff auf Commando
ausffthren zu lassen, und unmittelbar hinterher die Sebne zu percu-
tiren. Es ist fiberraschend, dass in Fallen, wo die gewohnlichen Me-
thoden versagen, dieser verbesserte Kunstgriff den Achillessehnenreflex
mit Leichtigkeit zum Vorschein bringen kann. Das Verfahren wurde
in jiingster Zeit noch einmal von Mas kens (1. c.) beschrieben, der
nur die physiologischen Versuche von Bowditsch beobachtete. Es
stammt aber auch in der klinischen Anwendung von diesem Autor
und ist als solches bereits in der bekannten Monographic von Stern¬
berg 9 ) zu finden. Gehen wir nunmehr zu einer Zusammenstellung
unserer Ergebnisse fiber. Bei der Musterung der Resultate, die sich
bloss auf Nervengesunde beziehen sollten, ergab sich zunachst, dass
einige Falle nachtraglich ausgeschaltet werden mussten. Es fehlte
namlich der Achillessehnenreflex bei Personen, die zwar bisher nicht
unter der Diagnose einer Nervenerkrankung geffihrt worden waren,
deren Nervensystem aber, wie sich bei naherem Zusehen ergab, zwei-
fellos pathologisch verandert war. Es gilt dies besonders fur chroni-
sche Potatoren, welche wegen anderweitiger Erkrankungen in unsere
Behandlung getreten waren. Wir vermissten hier den Achillessehnen¬
reflex in drei Fallen beiderseits, in zweien nur auf einer Seite. Die
Patellarreflexe waren bei diesen 5 Patienten vorhanden. Zweimal
fanden wir zugleich ausgesprochene Druckempfindlichkeit der Waden-
musculatur, wie sie bei cbronischen Alkoholikern haufig beobachtet
wird. Denselben Symptomencomplex, nur statt des Fehlens, Ab-
schwachung des Achillessehnenreflexes konnten wir auch anderweitig
wiederholt bei Saufem beobachten. Offenbar liegen hier leichte
Formen von Neuritis vor. Es ist interessant, dass gerade bei diesen
das Gebiet. des Nervus tibialis besonders gerne befallen wird, und
dass der Fussreflex leichter schwindet, als das Kniephanomen. Die
genannten Veranderungen des Achillessehnenreflexes bei chronischen
Alkoholisten hat Ziehen ebenfalls haufig beobachtet. Unsere Falle
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XVIIL Strasburger
beziehen sich wahrscheinlich auf leichtere Formen des Alkoholismus
und sind yielleicht insofern noch lehrreicher. Ausser diesen genannten,
erwiesen sich andere Falle als unbrauchbar fiir unsere Statistik; es
fehlten bei diesen neben den Fussreflexen auch die Patellarreflexe.
Das ubrige Material ist in untenstehender Tabelle angeordnet
Manner
Frauen
Summa
Zahl der untersuchten
Falle
224
141
365
X
a>
vorhanden
220
136
356
33
3
Ih
Nervenkrank-
s
a
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heit nicht
+* nachweisbar
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1
2
Zahlen wir die Patienten mit, bei denen das Bestehen einer Nerven-
krankheit fraglich war, so ergiebt sich fiir das Fehlen des Achilles-
sehnenreflexes: Bei Miinnern 1,8 Proc., bei Frauen 3,5 Proc.; bei
beiden zusammen 2,5 Proc. Nach Abzug der fraglichen Falle finden
wir bei Mannem 0,9 Proc., bei Frauen 2,8 Proc., zusammen 1,6 Proc.
Die als zweifelhaft bezeichneten Befunde sind in Kiirze folgende:
1. Ehrich S. 22. J. Phthisis pulmonum incip. Ach. Refl. links mittel-
stark, fehlt rechts. Bauchdeckenrefl. fehlen, die ubrigen Refl. normal. Der
rechte Fuss beflndet sich in leichter Valgusstellung. Motorische Kraft und
Sensibilit&t normal. Im Alter von 10 Jahren soil eine Gehirnentziindung
bestanden haben (vgl. den analogen Fall bei Ziehen 1. c. p. 655).
2. Anton P. 54 J. Grosser Senkungsabcess in der rechten Leisten-
gegend, der wahrscheinlich von der Wirbels&ule ausgeht. Ach. Refl. fehlt
beiderseits. Im Uebrigen am Nervensystera nichts abnormes zu finden.
3. Frau W. 50 J. Lienale Leukamie. Starke Macies. Plantar- und
Patellarrefl. schwach; Ach. Refl. fehlt rechts. Die ubrigen Refl. mittelstark.
Eine Berechtigung, an der normalen Beschaffenheit des Nerven-
systems im letzteren Falle zu zweifeln, mochte ich aus anatomischen
Untersuchungen von Fr. Schultze 10 ), W. Miiller 11 ) und Nonne 12 )
herleiten, welche bei Leukamie degenerative Veranderungen im Rttcken-
mark, besonders auch in den Hinterstrangen fanden. Klinische Ver¬
anderungen, die auf eine Schadigung des Rttckenmarks schliessen
liessen, sind bis jetzt nicht beschrieben. Wohl aber kennen wir drei
Beobachtungen fiber Leukamie von Eisenlohr ,3 ) t East 14 ) und
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Ueber dag Fehlen des Achillessehnenreflexes und seine diagnostischeBedeutung. 31 1
W. Muller 15 ), welche zeigen, dass sich Lahmungen im Gebiete ver-
schiedener Hirnnerven ausbilden konnten, denen anatomische Ver-
andenmgen in den peripberen N erven, oder im verlangerten Mark zu
Grande lagen. Dass das Fehlen eines Achillessehnenreflexes bei
unseren Kranken nicht zufalliger Natur war, durfte auch durch den
Umstand bezeichnet werden, dass bei einer zweiten im vorigen Jahre
untersuchten 22 Jahre alten Leukamischen Achillessehnen- and Patellar-
reflexe gar nicht, ein Radiusreflex nur undeutlich auslosbar waren,
crime dass sonstige klinische Zeichen eine Krankheit des Nerven¬
systems vermuthen liessen. Starkere Kachexie lag in diesem Falle
nicht vor.
Im Gegensatz zu diesen Beobachtungen fand ich bei Durchsicht
alterer Krankengeschichten von Leukamie, dass in 5 Fallen, welche
Notizen iiber die Fussreflexe enthalten, und in weiteren 6 Kranken-
geschichten, die bloss die Patellarreflexe erwahnen, keine Anomalien
dieser Zeichen bemerkt worden waren.
Nach Besprechung der ohne Weiteres als zweifelhaft gekenn-
zeichneten Falle dflrfte es angezeigt sein, in Kiirze auf die Beob¬
achtungen einzugehen, welche ausser dem Fehlen eines oder beider
Acliillessehnenreflexe sowohl anamnestisch als auch wahrend der
Untersuchung keine Anomalien des Nervensystems auffinden liessen.
1. Heinrich M. 60 J. Peliosis rheumatica. Musculatur und Fettpolster
sehr diirftig. Patellarrefl. beiderseits schwer auslosbar. Ach. Refl. fehlt.
2. Friedrich W. 50 J. Pleuritis exsudativa. Das rechte Kniegelenk
infolge einer Schussverletzung im Kriege ankylotisch. Musculatur kr&ftig
entwickelt. Ach. Refl. rechts sehr schwach, fehlt links.
3. Frau M. 60 J. Carcinoma ventriculi. Musculatur sehr gering. Fett¬
polster geschwunden.
Knie- und Fusssohlenrefl. schwach. Ach. Refl. fehlt.
4. Frau Cl. 63. J. Carcinoma ventriculi. Musculatur und Fettpolster
sehr gering. Patellarrefl. mittelstark. Ach. Refl. fehlt links, rechts sehr schwach.
5. Emma Th. 21. J. Gastroptose, alte Rhachitis. Ach. Refl. links
nicht deutlich. Die iibrigen Reflexe mittelstark, bloss Rachenrefl. fehlt
vollst&ndig.
6. Gertrud Tr. 39 J. Phthisis pulmonum. Starker Plattfhss. Ach.
Refl. links ziemlich lebhaft, rechts fehlend. Die iibrigen Refl. mittelstark.
Wie erwahnt, liessen sich bei diesen, Fallen anamnestisch, wie
durch den Status pr&sens, keine weitere Anomalien des Nervensystems
feststellen: (abgesehen von dem Fehlen des Rachenreflexes bei Nr. 5).
Wir haben sie daher von den vorhin als zweifelhaft bezeichneten
Fallen abgetrennt
Von einer deutlichen Grenze kann aber nicht wohl die Rede
sein, denn an der Hand einer scharferen Kritik darf nur ein kleiner
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XVIII. Strasburger
Theil der Falle als ganzlich einwandsfrei gelten. Dreimal bandelte es
sich um sehr stark reducirte Muskeln, welche an sich das Zustande-
kommen des Reflexes erschweren konnen. Hier kommt hinzu, d&ss
zwei der betreffenden Patienten an Magenkrebs litten. Es ist dies
sehr auffallend, wenn wir uns vergegenwartigen, dass kfirzlich Lu-
barsch 16 ) (das. auf S. 410 die frflhere sparliche Literatnr) bei Carci-
nomen, besonders des Magendarmtractus, — auch bei Abwesenheit
starkerer Anamie — Degenerationen im Rfickenmark fand. Letztere
waren wieder mit Vorliebe auf die Hinterstrange localisirt Ent-
sprecbendes sah Kirchgasser ,7 ) in einem Fall von Magencarcinom.
Die Marchi-Praparate liessen hier yor Allem degenerative Verande-
rnngen in der Wurzeleintrittszone finden. In einem weiteren Fall
muss das einseitige Feblen des Sehnenphanomens bei lebhaftem Reflex
auf der anderen Seite mit Recht Bedenken erregen. Eine derartige
Ungleichheit wlirde bei alien anderen Reflexen sicher nicbt das Pradicat
„normal u erhalten.
Zieben wir das Facit, so darf angenommen werden, dass die vorhin
berechneten Zahlen von 1,6 Proc. im Vergleich zu den thatsachlichen
Verhaltnissen wabrscheinlicb noch zu ungttnstig sind und dass der
Achillessehnenreflex beim normalen Menschen nur recht
selten fehlt. Es ist aber zu berticksichtigen, dass der Reflex haafig
nicbt leicbt erhalten werden kann und alsdann zu seiner Auslbsung
Geduld und Uebung erfordert Ganz so constant wie der Patellar-
reflex scheint er aber nicbt vorhanden zu sein.
Wir haben uns bisher mit dem Verhalten des Fussreflexes unter
normalen Umstanden beschaffcigi Es dtirfte im Anschluss hieran von
Interesse sein, einige Zusammenstellungen fiber das Fehlen des Achilles-
sehnenreflexes bei gewissen Nervenkrankheiten zu geben. Auch hier
kann ich, kraft der Yerschiedenheit unseres Materials, die Angaben
von Ziehen erganzen. Natflrlich liegt es mir fern, die verschiedensten
Erkrankungen, bei denen die Achillessehnenreflexe in ihrem Verhalten
den iibrigen Sehnenphanomenen parallel gehen, unter diesem einen
Gesichtspunkte durchzusprechen. Ich mochte vielmehr zwei Krankheits-
formen herausgreifen, bei denen dem Fehlen des Fussreflexes ein er-
hohtes Interesse zukommt. Es sind dies die Ischias und die Tabes
dorsalis.
Als erster machte Sternberg ,s ) im Jahre 1893 darauf aufinerk-
sam, dass bei Neuralgien des Nervus Ischiadicus der Achillessehnen¬
reflex nicht selten auf der erkrankten Seite fehlt und giebt in seinem
Buche zwei Beispiele flir dieses Verhalten. 1896 beschrieb Babinski 19 )
zwei entsprechende Falle. Unabhangig von diesen Autoren widmete
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Ueber dasFehlen des A chi 11 easebnen reflexes und seine diagnostischeBedeutung. 313
im Jahre 1897 M. Biro 20 ) dem Fehlen des Achillessehnenreflexes bei
Ischias eine ausffihrliche Publication; er konnte das Phanomen 12 mal
unter 156 Krankheitsfallen beobachten, und unterscheidet danach Neu¬
ralgia ischiadica einerseits, Neuritis ischiadica andererseits. In den
zur zweiten Gattung gehorigen Fallen liessen sich nicht selten Muskel-
atrophie und Veranderungen der elektrischen Erregbarkeit nachweisen.
Aach Remak 21 ) erwahnt 1899 bei 4 Fallen yon Ischias neben anderen
degenerativen Veranderungen das Fehlen des Sehnenphanomens. Ueber
die relative Haufigkeit dieses Verhaltens kann der Autor keine An-
gaben machen, da er nicht immer auf das Merkmal achtete.
Es ist klar, dass dem Fehlen des Achillessehnenreflexes bei
Ischias, wenn es irgendwie haufiger zur Beobachtung gelangen sollte,
eine grosse diagnostische Bedeutung zukommt. Es ist eines von den
wenigen objectiven Symptomen dieser Krankheit und kann nicht
fingirt werden. Dem mit der Begutachtung von Unfallverletzten be-
schaftigten Arzt wird ein derartiges Symptom aus diesem Grunde
sehr erwfinscht kommen, um so mehr, als Ischias haufig in der Unfall-
praxis beobachtet und ebenso gern von den Untersuchten nach-
geahmt wird.
Eine weitere bedeutungsvolle Frage, die meines Wissens bisher
noch nicht erortert wurde, lautet, ob das Fehlen des Achillessehnen¬
reflexes bei Ischias die Prognose ffir die Aussichten des Leidens ab-
andert.
Un9er seit mehreren Jahren mit Rticksicht auf das Verhalten
des Achillessehnenreflexes beobachtetes Material dfirfte, wenn auch in
bescheidenen Grenzen, geeignet sein, Aufschltisse in Bezug auf diese
beiden Punkte zu geben. Es sind 37 Falle, fiber deren Verhalten uns
die folgende Tabelle orientiren m6ge.
Achilles-
sehnenreflex
Zahl
der
Falle
Proc.
Geheilt oder
wesentlich
gebessert *
Ud geheilt
oder kaum
gebessert
Durchschnittl.
Dauer der Be-
handl. i.Tagen
Morphiumcur
bei wieviel
Proc.?
vorhanden
22
59
20
2
30
43
abgeschwacht
5
14
4
1
33
33
fehlend
10
27
9
1
41
77
Aus diesen Zahlen ist ersichtlich, dass das Fehlen des Fussreflexes
ein hauflgeres Zeichen ist, als bisher angenommen wurde. Nur in
59 Proc. unserer Falle war der Reflex normal. Hierdurch
dttrfte die klinische Brauchbarkeit des in Frage stehenden Symptoms
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314
XVIII. Strasbtjrger
bewiesen sein. Um prognostische Gesichtspunkte zu gewinnen, theilte
ich die Falle zunachst nach dem Verhalten des Reflexes in 3 Kate-
gorien ein, von denen die 1. normalen, die 2. abgeschwachten, die 3.
fehlenden Fussreflexen entspricht Alsdann rechnete ich fttr jede
Abtbeilung das Verhaltniss der geheilten zu den ungeheilten Fallen
aus und stellte fest, wie viel Tage die durchschnittliche Dauer der
klinischen Behandlung betrug.
Einen guten Wegweiser ftir die Beurtheilung der einzelnen Er-
krankung bot mir die Thatsache, dass wir bei schwereren und hart-
nackigen Fallen eine 14tagige systematisch durchgeffthrte Cur mit
Morphiumeinspritzungen in Anwendung ziehen. Auf diese Weise
lasst sich auch bei nachtraglicher Durchsicht der Krankengeschichten
ein brauchbarer Ueberblick gewinnen.
Unsere Tabelle ergiebt nun, dass von Ischiaskranken mit fehlen-
dem oder abgeschwachtem Achillessehnenreflex etwa ebensoviele der
Heilung zugefiihrt wurden, wie von denen mit beiderseits gleich ent-
wickeltem Reflex. Insofern liess die Prognose also keinen Unterschied er-
kennen. Wir sehen aber weiter, dass bei Gruppe 3 die durchschnittliche
Dauer der klinischen Behandlung !/ 3 mehr Zeit in Anspruch nahm
als bei Gruppe 1 und 2, und dass bei fehlendem Reflex etwa noch
einmal so oft die Anwendung einer Morphiumcur nothig gewesen war,
ais bei den fibrigen Fallen. Die einfache Herabsetzung des Reflexes lasst
eine derartige VerzogerungundErschwerung der Heilung nicht erkennen.
Die zweite Nervenerkrankung, bei der dem Fehlen des Achilles-
sehnenreflexes eine diagnostische Bedeutung zugesprochen werden
muss, ist die Tabes dorsalis. Dass bei dieser Systemerkrankung
gewohnlich nicht nur die Knie-, sondern auch andere Sehnenreflexe
vermisst werden, ist schon seit den frfihesten Veroffentlichungen fiber
diesen Gegenstand bekannt. Es fehlen gewohnlich Patellar- und
Achillessehnenreflexe, oft auch die tiefen Reflexe an den Armen.
Davon soil nattirlich hier nicht die Rede sein. Ich mochte vielmehr
auf die in den letzten Jahren hervorgehobene Moglichkeit eingehen,
dass das Ausbleiben der Fussreflexe unter Umstanden eher bemerkt
werden kann als das WestphaPsche Zeichen, dass wir hierin somit
ein weiteres Symptom ffir die Frtthdiagnose besitzen.
So fand Leimbach 22 ), als er das grosse Erb’sche Material zu-
sammenstellte, unter 100 Fallen von Tabes incipiens 2 mal einseitiges
Fehlen des Achillessehnenreflexes, zu einer Zeit wo die Kniereflexe
noch erhalten waren.
Tumpowski 23 ) beobachtete unter 116 Einzelerkrankungen, bei
normalen Kniephanomen, 5 mal auf beiden, 3 mal auf einer Seite
Fehlen der Fussreflexe, 1 mal Ungleichheit derselben.
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Ueber das Fehlen dee Achillessehnenreflexes und seine diagnostischeBedeutung. 315
Babin ski 24 ) sah 3 entsprechende Falle, und spricht dem Achilles-
sehnenreflex die gleiche diagnostische Bedeutung wie dem Patellar-
reflexe zu.
Endlich erwahnt J. Muskens 25 ) 4 Falle yon Tabes incipiens, in
welchen das Feblen der Achillessehnenreflexe dem Westphal'schen
Zeichen voranging.
Wenn Ziehen 26 ) das gleiche bei 23 Paralytikern fand, so schliesst
sich diese Beobachtung ohne Weiteres den Befunden bei Tabes an.
Dnter unseren Krankengeschichten fand ich 34 Falle bei denen sammt-
liche Sehnenreflexe geprtift worden waren. Ein Verhalten, das uns
interessirt, zeigen folgende.
1. Pat. Refl. normal Ach. Refl. feblen Beginn der Erkranknng vor
lVs Jahren.
2. Pat. Refl. rechts schwach vorhanden, links fehlend. Ach. Refl. feblen.
Beginn der Erkranknng vor etwa 3 / 4 Jahren.
3. Pat. and Ach. Refl. rechts schwach, links fehlend.
4. Pat. Refl. fehlen. Ach. Refl. rechts schwach, links fehlend.
5. and 6.) Pat. Refl. fehlend, Ach. Refl. vorhanden.
Wir finden in diesem Verhalten eine Bestatigung des bisher Er-
wahnten. Gewohnlich sind beide Reflexe fruhzeitig erloschen. Es
kann aber auch vorkommen, dass zunachst nur die eine Art, sei es
der Achillessehnen-, sei es der Patellarreflex, vermisst wird.
Fragen wir uns zum Schluss noch einmal allgemeiner, welche
diagnostische Bedeutung das Fehlen des Achillessehnenreflexes besitzt,
so lautet die Ant wort: Im Princip kommt ihm die gleiche Bedeutung
wie der Abwesenheit des Patellarreflexes zu. Das Zeichen geht aber
leichter als dieser bei verschiedenen, unter Umstanden geringfttgigen
Erkrankungen des Nervensystems verloren, ist, wie auch Ziehen
hervorhebt, ein noch empfindlicheres Reagens. Von diesem Gesichts-
punkte aus besitzt es fiir gewisse Leiden hohere diagnostische Be¬
deutung, als das Westphal’sche Zeichen. Aus demselben Grunde
aber, wegen der grosseren Vieldeutigkeit des Symptoms, muss um-
gekehrt seine absolute Bedeutung fiir die Erkenntniss der Tabes
dorsalis hinter dem Fehlen des Kniereflexes zurtickstehen.
Herrn Geheimrath Schultze spreche ich fflr giitige Ueberlassung
des kliniscben Materials meinen herzlichsten Dank aus.
Literatur.
1) Berger, Centralblatt fur Nervenheilkunde. 1879. S. 73.
2) A. Eulenburg, Neurologisches Centralblatt. 1882. S. 169.
3) S. Plaesterer, Inaug. Dissert. Wurzburg 1890. S. 27.
Digitized by v^,ooQLe
316 xvm. Strasburger, Ueber das Fehlen des Achillessehnenreflexes etc.
4) Ziehen, Deutsche medizinische Wochenschrift. 1894. Nr. 83 u. 34.
5) Fr. Schultze, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 1. Bd. S. 323.
6) J. Muskens, Neurologisches Centralblatt. 1899. S. 1084.
7) Babin ski, Bulletins et m£moires de la soci^te m&licale des Hdpitaux. 1898.
21. Oct.; ref. Neurologisches Centralblatt. 1899. S. 847.
8) Bowditsch, Boston medical Journal. 1888. Nr. 22. ref. Virchow Hirsch.
Jahresbericht 1888 II. S. 86.
9) Sternberg, Die Sehnenreflexe. Leipzig u. Wien. 1893. S. 84.
10) Fr. Schultze, Neurologisches Centralblatt. 1884. S. 195.
11) W. Muller, Inaug. Dissert. Berlin 1895. S. 25.
12) Nonne, Deutsche Zeitschrift fur Nervenheilkunde. Bd. 10 (1897). S. 165.
13) Eisenlohr, Virchows Archiv. Bd. 73 (1878). S. 67.
14) Kast, Deutsche Zeitschrift fiir klinische Medicin. Bd. 28 (1895). S. 87.
15) W. Muller, 1. c. S. 18.
16) Lubarsch, Zeitschrift fur klinische Medicin. Bd. 31 (1878) S. 389.
17) Kirchgasser, Deutsche Zeitschrift fur Nervenheilkunde. Bd. 13 (1898)
S. 98.
18) Sternberg, 1. c. S. 116.
19) Babin ski, Qazette des Hdpitaux. 1896. S. 1462 cit. nach Bemak Neu¬
ritis und Polyneuritis in Nothnagels Handbuch. 1899. S. 127.
20) M. Biro, Deutsche Zeitschrift fur Nervenheilkunde. Bd. 11. 1897. S. 207.
21) Bemak, 1. c. S. 97.
22) Leimbach, Deutsche Zeitschrift fur Nervenheilkunde. Bd. 7. 1895. S. 498.
23) Tumpowski, Ebendas. Bd. 10. 1897. S. 476.
24) Babinski, cit. unter Nr. 7.
25) Muskens, cit. unter Nr. 6. S. 1084.
26) Ziehen, 1. c. S. 670.
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XIX.
Kleine Mittheilnng.
Intermittirendes Hinken und neuropathische Diathese.
Von
H. Oppenheim
in Berlin.
In der vor 2 Jahren in dieser Zeitsehrift erschienenen Abhandlung
uber das intermittirende Hinken, in welcher Erb das bis dahin trotz
Charcot’s wiederholter Darstellung wenig beachtete and wenig gekannte
Leiden dnrch eine ausgezeichnete Schilderung erlauterte, ist von diesem
Antor anch daraof hingewiesen worden, dass in der Aetiologie desselben
die neuropatbishe Anlage eine gewisse Rolle spiele. Wenn Erb
auch mit Char coat u. A. in einer Erkrankong des GelUssapparates die
Gmndlage des Uebels sieht, so verkennt er doch nicht, dass die durch die
Nervosit&t begrhndete Neignng zu vasomotorischen Stdrungen einen
bedentsamen Factor in der Symptomatologie dieser Zust&nde bilden kann.
Immerhin tritt dieses Moment in der Erb’schen Casnistik andBesprechung
in den Hintergrund.
Im Hinblick aaf diese Thatsache scheinen mir meine Erfahrungen anf
dem Gebiet der „Claudication intermittente“ besonders mittheilenswerth.
Seit der Verdffentlichung Erb’s habe ich viersichere Ffclle dieser Art
gesehen, davon 2 erst in den letzten Wochen. In alien 4 waren die Zeichen
der neoropathischen Diathese anfs deatlichste aasgesprochen. Und zwar
handelt es sich bei zwei meiner Kranken am die Erscheinang der ange-
borenen Zehenverwachsang. An beiden Ftissen waren die 2. and 3.
Zehe total bezw. bis zar Endphalanx verwachsen. Ausser dieser Bildungs-
anomalie, die ich relativ h&ufig in Verbindnng mit schweren Neurosen be-
obachtet habe, lag bei dem einen dieser Patienten Asthma nervosum
vor, das seit seiner Jugend bestand, ferner stammte er von Eltem, die
beide an Diabetes gelitten batten.
Die 3. meiner Beobachtnngen — Patient wurde mir von einem
Warschaaer Collegen iiberwiesen — betrifft einen Mann, der selbst an
hysteroepileptischen Anfallen litt, wahrend bei den Ascendenten
Pychosen und Neurosen vorgekommen waren.
In dem 4. Falle handelt es sich urn die Entwickelung des inter-
mittirenden Hinkens bei einem Manne, der von Hans aus stotterte und
spater von Asthma and Schreibekrampf befallen wurde. — Die von
Erb in Anlehnung an Charcot geschilderten Erscheinungen waren bei
alien meinen Patienten deutlich aasgesprochen, zar Gan gran war es aber
nur bei einem gekommen, and ich halte es fiir besonders beachtenswerth,
dass das Leiden bei dem einen schon 5, bei einem anderen schon 15 Jahre
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318
XIX. Kleine Mittheilung.
besteht, ohne dass sich diese schweren Folgezustande aosgebildet hatten,
wahrend es uns in dem einzigen Falle, in welchem wir Gelegenbeit zu einer
langeren Behandlnng batten, gelungen ist. das Uebel wesentlich zu bessern.
Bei der Erdrterung der Frage nach den Beziehungen zwischen dem
in termittirenden Hinken nnd der nenropathischen Diatbese ist be-
Bonders an folgende Momente zu denken. Wir wissen, dass die Neurosen
des Herzens und Gef&sssystems friiher oder spater in materielle Erkrankungen
dieser Gebilde iibergehen konnen. Besonders ist dieser Entstehungsmodus
fur die Arteriosclerose und die verwandten Erkrankungen des Geffcssapparates
jetzt wohl allgemein anerkannt. Fur die Neurosen traumatischen Ursprungs
habe ich diese Transformation durch eine continuirliche Beobachtung schon
vor langer Zeit (vergl. meine Monographie Tiber die traumatischen Neurosen
L Aufl. S. 119, II. Aufl. S. 170/171) feststellen konnen.
Der Gefassapparat der von Haus aus nervbsen Individuen ist also
gegen die ihn treffenden Schadlichkeiten weniger widerstandsfhhig und wird
somit eher von den Affectionen befallen werden, die der „Claudication inter-
mittente 44 zu Grunde liegen.
Ferner ist zu bedenken, dass, wenn sich bei nervosen Individuen eine
Gef&sserkrankung in Folge der Einwirkung anderer Schadlichkeiten ent-
wickelt hat, diese leichter zum Ausgangspunkt der Erscheinungen werden
wird, welche das Wesen des intermittirenden Hinkens ausmachen. Das ist
der Punkt, welchen Erb besonders beriicksichtigt hat
Ein anderer Umstand ist aber bisher wenig beachtet worden, obgleich
er, wie mir scheint, grosse Beachtung verdient Kann das intermittirende
Hinken selbst eine functionelle Neurose, resp. ein Symptom derselben sein?
Giebt es eine vasomotorischeNeurose dieses Charakters, die lange
Zeit oder dauernd besteht, ohne dass es zu einer materiellen Erkrankung
der entsprechenden Gefasse zu kommen braucht?
Ich glaube diese Frage auf Grund meiner eigenen Beobachtungen be-
jahen zu diirfen, ganz besonders im Hinblick auf den Fall, in welchem das
Leiden nun schon seit 15 Jahren besteht. ohne dass sich die schweren
Folgen des Gef&ssverschlusses entwickelt haben. Ich halte es fur moglich,
dass dauernde, wenn auch an Intensitat wechselnde, spastische Zust&nde
in der Musculatur der Arterienwand vorkommen, welche die Beschwerden
des intermittirenden Hinkens hervorrufen. Es ist auch der Yermuthung
Baum zu geben, dass eine angeborene Enge des Gefhsssystems, also eine
wiederum in der Anlage wurzelnde Anomalie, der Entstehung dieser St5-
rungen Vorschub leistet.
Man darf nicht den Ein wand erheben, dass in den anatomisch unter-
suchten Fallen stets Wanderkrankungen der entsprechenden Arterien nachge-
wiesen werden konnten, da sich die Gelegenheit zu diesen Untersuchungen
naturgemass nur in den schwersten Fallen bot.
Wenn man unsere Anschauung acceptirt, darf man auch die Prognose
des intermittirenden Hinkens nicht mehr schlechthin als eine infauste be-
trachten, wie ja auch Erb schon in dieser Hinsicht die Charcot’sche Lehre
modificirt hat.
Dass in keiner meiner Beobachtungen Diabetes vorgelegen hat, verdient
auch bemerkt zu werden.
Eine ausfuhrliche Mittheilung der Beobachtungen, auf welche sich diese
Mittheilung stiitzt, wird an anderer Stelle nachfolgen.
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XX.
Besprechnngen.
1.
Lemons sur les maladies du systeme nerveux par F. Raymond,
recueillies et publics par E. Ricklin. Quatri&me s6rie. Paris,
Octave Doin, 1900. 606 p. Avec 59 figures dans le texte et 2 planches
en couleurs.
Der vierte Band der Raymond'schen Lemons, enthaltend die klinischen
Vortrage aus dem Jahre 1897/98 schliesst sich nach Form und Inhalt seinen
Vorgangern wiirdig an. Der erste Vortrag behandelt zwei mit relativ
gfinstigem Erfolge operirte Falle von Tumoren an der motorischen Gehirn-
rinde. Daran anschliessend bespricht R. die umschriebene Form der tuber-
culfisen Meningitis. Im dritten Vortrage wird die Frage nach dem Vor-
kommen der multiplen Sklerose im Kindesalter erbrtert, im Anschluss an die
Besprechung der Erkrankung eines 6jahrigen Knaben. Die folgenden Vor-
lesungen behandeln die verschiedenen Formen der gekreuzten (alternirenden)
Hemiplegie, die Polio-Encephalitis superior, die chronische progressive Ophthal¬
moplegic und die asthenische Bulbarparalyse. Sodann folgt die Besprechung
einer Reihe von Fragen aus der Lehre von den verschiedenen Formen der
Muskelatrophie (Muskelatrophie bei cerebraler Hemiplegie, bei der Tabes u. a.),
und darauf die Erbrterung mehrerer sehr interessanter Falle von Syringo¬
myelic (Syringomyelic und Tabes, Syringomyelie und Bleivergiftung.) In der
20. und 21. Vorlesung bespricht R. die Affectionen des Conus terminals, in
der 22. und 23. Vorlesung verschiedene Punkte aus der Pathologic der
Polyneuritis, inbesondere die Frage nach dem Vorkommen einer syphilitischen
bez. mercurielleu Polyneuritis. Die letzten Vorlesungen endlich behandeln in
ausffihrlicher Weise verschiedene Falle von traumatischer Hysterie, von
Myoclonie, von juveniler Paralyse (eine Beobachtung bei einem 12 j&hrigen
hereditar-syphilitischen Madchen mit Sectionsbefund) und von kindlichem
Myxoedem.
Schon diese kurze Inhaltsiibersicht zeigt den reichen und werthvollen
Inhalt des vorliegenden Bandes. Dass alle einzelnen Vorlesungen aufs
Neue die grosse persfinliche Erfahrung, die genaue Literaturkenntniss und
das klare kritische Urtheil des Autors aufs Neue beweisen, braucht kaum
besonders hervorgehoben zu werden. Auf alle Einzelheiten der 31 Vortrage
hier nfiher einzugehen, ist nicht mbglich. Nur einen Punkt, den R. in der
22. Vorlesung ausftihrlich erbrtert, mochte ich bei dieser Gelegenheit kurz
zur Sprache bringen. R. beschreibt einen Fall von acut aufgetretener
atrophischer Lahmung beider Beine, bei welchem die Diagnose zwischen
einer acuten Poliomyelitis und einer Polyneuritis schwankte. Im An¬
schluss an fruhere Ausfuhrungen des Ref. betont R, dass die Frage, ob
Poliomyelitis oder Polyneuritis, zum Theil nur ein Wortstreit sei. Die
krankmachende Schadlichkeit wirke auf das ganze peripherische motorische
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320
XX. Besprechungen.
Neuron ein und konne daher gleichzeitig Zelle and peripherischen Nerv,
oder bald den einen, bald den anderen Theil des Neurons zur Atrophie bringen.
Hierzu mochte ich nun Folgendes bemerken.
Bei der gewohnlichen Polyneuritis handelt es sich wohl zweifellos
stets um irgend eine durch Intoxication oder durch Infection entstandene
cheraische Sch&dlichkeit, die vom Blut- bez. Lymphstrom aus, also von
der allgemeinen Circulation aus, auf das Nervensystem einwirkt und
meist gewisse Neurone desselben, vor Allem gewisse peripherische motorische
Neurone sch&digt oder zu vollkommener Degeneration bringt Je nach der
Starke dieser schadigenden Einwirkung, vielleicht aber manchmal aucb je
nach der Natur des einwirkenden Giftes, werden entweder die ganzen
Neurone, d. h. insbesondere die Ganglienzellen selbst oder nur die peri¬
pherischen Auslaufer derselben zur Degeneration bez. volligen Atrophie ge-
bracht. Auf diese Weise entstehen die bekannten h&ufigen „polyneuritischen a
Lahmungen, die fast immer ziemlich ausgedehnt und ausgesprochen sym-
metrisch-bilateral auftreten. Finden sich in solchen Fallen bei der
Autopsie deutliche VerSLnderungen der motorischen spinalen Ganglienzellen,
also nach der iiblichen Terminologie „poliomyelitische“ Veranderungen,
so ist diese Form der „Poliomyelitis a sicher von der „Polyneuritis a nicht
principiell verschieden. Hier behalten meine friiheren und die jetzigen
R.’schen Ausfiihrungen ihre voile Geltung. Etwas anderes ist es aber mit
deijenigen Form der Poliomyelitis, die den klinischen Symptomencomplexen
der meisten Falle von sog. spinaler Kinderiahmung und den seltenen analogen,
bei Erwachsenen auftretenden Erkrankungsfailen zu Grunde liegt. Hier tritt
meist eine mehr oder weniger umschriebene, meist einseitige atrophische
Lahmung auf und die Autopsie ergiebt einen umschriebenen, echt ent-
ziindlichen Herd von verschieden grosser Ausdehnung, meist der Haupt-
sache nach nur in einer Vordersftule des Ruckenmarks. Eine derartige
acute Poliomyelitis kOnnen wir uns nur dadurch entstanden denken, dass
die (wahrscheinlich organisirten) Entziindungserreger als solche durch den
Blutstrom ins Riickenmark eingedrungen sind und daselbst durch ihre direct©
ortliche Einwirkung einen ortlichen Entziindungsvorgang erregt haben.
Dabei braucht es sich gar nicht um eine specifische Art von Entziindungs-
erregern zu handeln; vielleicht sind es die gewohnlichen, an sich gutartigen
Eiterkokken, vielleicht freilich auch eine andere Art von Microben, die unter
gewissen Umstanden ins Riickenmark gelangen und hier eine umschriebene
Entziindung hervorrufen, ebenso, wie sie eine umschriebene Encephalitis
bewirken, wenn sie ins Gehirn gelangen, eine umschriebene Osteomyelitis,
wenn sie irgendwo ins Knochenmark gelangen u. s. w. Auch diese Form der
Poliomyelitis ist eine exogene und hamatogene Erkrankung, aber sie ist doch
als umschriebene ortliche Entziindung principiell von der allgemeinen toxisch-
hamatogeneu Polyneuritis bez. Poliomyelitis zu trennen, die mehr den
Namen einer Degeneration, als einer Entziindung verdient. Die toxische
Polyneuritis und Poliomyelitis kann etwa mit der h&matogenen diffusen, natiir-
lich stets doppelseitig-symmetrischen gewohnlichen Nephritis verglichen
werden, die umschriebene echte Poliomyelitis dagegen dem umschriebenen
einseitigen Nierenabscess.
Ich will durchaus zugeben, dass im eiuzelnen Falle die Unterscheidung,
zu welcher Art der Poliomyelitis derselben etwa zu rechnen sei, ihre grossen
Schwierigkeiten haben kann. An der grunds&tzlichen Trennung jener
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XX. Besprechungen.
321
beiden oben knrz skizzirten Forraen der Poliomyelitis muss aber, glaube
icb t festgehalten werden. Auch die „Neuritis 44 wird ja in die zweiFormen
der allgemeinen Polyneuritis und der umschriebenen einfachen Neuritis
getrennt. Docb ist freilich das Vorkommeu einer in dem Sinne um-
8ehriebenen Neuritis, wie sie als Analogon der umschriebenen echten Polio¬
myelitis gedacht werden kbnnte, iiberhaupt noch nicht sicher festgestellt.
Ob die „chronische Poliomyelitis 44 auch als allgemein hamatogen-toxische
Erkrankung aufzufassen ist, l&sst sich einstweilen noch nicht sicher sagen.
Moglich ist es; doch lassen sich da endogene Krankheitsursachen, wie bei
der echten „spinalen progressiven Muskelatrophie 44 schwer ausschliessen.
Alle diese Fragen erfordern in Zukunft eine genauere Erdrterung. Hier
konnte ich natiirlich die grundsatzlichen Punkte nur kurz andenten.
Striimpell.
Die Orthopadie im Dienste der Nervenheilkunde.. Von Prof. Dr.
Albert Hoffa. Jena, G. Fischer, 1900. 159 S.
In dem vorliegenden Buche theilt H. die Erfahrungen mit, die er bei
der chirurgisch-orthopftdischen Behandlung gewisser Nervenkrankheiten im
Laufe der letzten 13 Jahre gemacht hat. Er zeigt, dass durch eine der-
artige Behandlung in zahlreichen Erkrankungsfailen ausserordentlich gute
Heilerfolge erzielt werden konnen. Die Lecture des Buches ist daher fdr
jeden Nervenarzt anregend und lehrreich, urn so mehr, als H. sich von
alien Ueberschwknglichkeiten und Uebertreibungen fern halt und stets auf
dem Boden ruhiger, wissenschaftlicher Kritik bleibt. Wiederholt betont
er den rein suggestiven Einfluss einzelner Maassnahmen.
Von Einzelheiten sei Folgendes erwahnt. In zwei Fallen von Para¬
lysis agitans wurde durch taglich ausgefiihrte allgemeine Kbrpermassage
leiclitester Art, sowie specielle Massage der befallenen Hande eine ganz
wesentliche Erleichterung fur die Kranken bewirkt. Bei Ischias empfiehlt
H. hauptsachlich Massage und Gymnastik, sowie die unblutige Dehnung des
Nerven. In einem sehr hartnackigen Fall wurde durch einen Schienen-
hnlsenapparat mit Beckengurtel Heilung erzielt. Der citirte Esmarch’sche
Satz, dass 3 / 4 aller Ischiasfalle nach einer guten Dosis Ricinusol heilen,
diirfte bei Neurologen wenig Glauben finden. Bei den Contracturen
alter Hemiplegiker konnte an den Armen nichts ausgerichtet werden, wah-
rend die Gehfahigkeit durch Tenotoraie der Achillessehne und durch Schienen-
bulsenapparate zuweilen erheblich gebessert wurde. In einem Falle totaler
alter Facialislahmung wurde aus cosmetischen Griinden eine Ope¬
ration mit Bildung einer kiinstlichen Nasolabialfalte gemacht. Das Ergebniss
war, wie die beigefugten Photographien zeigen, recht befriedigend. Inter-
essant ist auch die Heilung eines schweren Falles von Accessorius-
krampf auf orthopadisch-mechanischem Wege.
Der grbsste Theil des Buches ist der Behandlung der paralytischen
Deformitaten an den einzelnen Extremitatengelenken gewidmet. Hier spielen
natiirlich die mannigfaltigen Folgezustande der spinalenKinderiahmung
(dass H. dieselbe als Poliomyelitis anterior „chronica“ bezeichnet, ist wohl
Deutsche Zeitschr. f Nervenheilkunde. XVII. Bd. 21
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322
XX. Besprechungen.
nur ein lapsus calami) die Hauptrolle. Alle im einzelnen Falle vorzu-
nehmenden operativen Eingriffe (Sehnendurchschneidung, SehnenuberpAanzung,
kunstliche Versteifung der Schlottergelenke durch die sog. Arthrodese\
ferner die verschiedenen ortkop&dischen Apparate, die Technik der Heil-
gymnastik u. s. w., werden genau beschrieben und durch zahlreiche einzelne
Beispiele und Abbildungen erl&utert. Auch die cerebralen spastischen
Diplegien der Kinder bieten vielfach ein dankbares Feld fur die chirur-
gisch-orthop&dische Behandlung dar, wie H. durch die Mittheilung einer
Reihe lehrreicher Falle beweist. Ebenso wurde zuweilen bei den infantilen
Hemiplegien mit Athetose durch Massage und Heilgymnastik eine be-
friedigende Besserung erzielt. Insbesondere verdienen die guten Erfolge
hervorgehoben zu werden, welche ein methodischer, durch einen erfahrenen
Taubstummenlehrer gegebenen Sprach- und Denkunterricht bezuglich der
Intelligenz und der Sprachstdrung derartiger Kinder hervorrief.
Von Tabes dorsalis warden 23 Falle mit Stiitzkorsetts behandelt.
Wenn Hoff a seine Meinung dahin zusammenfasst, dass es im Wesent-
lichen das Gefiihl der Sicherheit ist, welches die Patienten heilsam
beeinflusst, und dass demnach die Wirkung des Korsetts bei den Tabikern
hauptsachlich eine suggestive ist, so kann ich ihm darin vollkommen zu-
stimmen. Diese unbefangene Urtheilsweise sticht erfreulich ab von den un-
wissenschaftlichen Uebertreibungen gewisser anderer Specialisten. Gute
Dienste leistet, was sicher zuzugeben ist, ein Schienenhiilsenapparat oft bei
der Arthropathia tabidorum. — Verhaitnissmassig kurz behandelt H. unter
HinweissaufanderePublicationen das wichtigeCapitel derspondylitischen
Lahmungen. Das Calot’sche Redressement ist fast vbllig aufgegeben
worden; gute Erfolge erzielte aber H. durch die Entlastung der Wirbel-
saule im Gypsverband. Die operative Behandlung der Wirbelcarieswird
in Deutschland verh<nissm&ssig selten ausgeiibt. In England sollen damit,
wie ich hore, neuerdings gl&nzende Resultate erzielt werden. — Am Schluss
des lehrreichen Buches bespricht H. die Behandlung der progressiven
Muskelatrophie und Dystrophie. Er warnt im Allgemeinen vor dem
Anlegen aller Stiitzapparate und empfieklt nur eine ausdauernde Massage
und Gymnastik. Striimpell.
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XXI.
Aus dem Laboratorium Prof. H. Oppenheim’s in Berlin.
Ueber acute isch&mische L&hmung nebst Bemerkungen fiber
die Verftnderungen der Nerven bei acuter Ischfimie.
Von
Dr. Michael Lapinsky,
Kiew, Ra8sland.
(Hierzu Tafel V.)
Volkmann 27 ) war einer der ersten Klinicisten, die dieser Art
von Erkrankung besondere Aufmerksamkeit zuwandten. Nach der
Meinung dieses Autors sind die in Folge acuter Unterbrechung
der Circulation entstehenden Paralysen auf Rechnung der
Muskelaffection zu setzen; die Nerven spielen seiner Ansicht *
nach dabei keine Rolle. Solche myogene Paralysen werden tiberall
da beobachtet, wo Anamie sich sehr schnell entwiekelt, so z. B. bei
Umschniirung mit dem Esmarch’schen Schlauche, bei festen
chirurgischen Verbanden, bei Zerreissungen oder Contu-
sionen grosser Gefasse und bei Erfrierungen.
Die charakteristische Besonderheit solcher ischamischer
Paralysen besteht in der Contractur, welche immer sehr
frtih, gleichzeitig mit der Paralyse, oder gleich nach Auf-
treten derselben entsteht.
Diese frtthe Contractur unterscheidet eben wesentlich die myogene
von der neurogenen Paralyse. In dem letzten Falle tritt die Contractur
sehr spat ein.
Volkmann selbst flihrt keine Krankheitsgeschichten an, sondern
beschrankt sich nur auf die allgemeine Darlegung seiner Ansichten
beztiglich der ischamischen Paralysen.
Andere Autoren haben diese Lticke hauptsachlich durch casuistische
Mittheilungen ausgefullt.
Die Ischamie in ihren Fallen war auf eine und dieselbe Weise
hervorgerufen, namlich durch Umscbnurung der ganzen Extremitat
„en masse 4 *.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 22
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324
XXI. Lapinsky
Le8er I4 ) hat sieben F&lle veroffentlicht, in denen Paralyse in Folge
eines allzu festen Verbandes entstand.
Die Erkrankung begann in seinen Beobachtungen gewohnlich mit
Schmerzen und Par&thesien der gedriickten Extremit&t, welche dann schnell
odematos wnrde nnd sich verh&rtete. Nach Abnahme des Verbandes zeigto
die Extremitat Contractur und complete Paralyse. Die Befreiung von
der Binde behob nicht die Erkrankung; im Gegentheil das Oedem
nahm noch zu nnd es traten Erscheinungen einer Entziindungs-
reaction ein. All diese Erscheinungen entwickelten sich sehr schnell,
erreichten im Laufe von 2 — 24 Stunden ihren hochsten Grad der Intensit&t,
nm dann sehr langsam wieder abzufallen. Die viele Tage spater nnter-
suchte Sensibilitat der geschadigten Extremitat ergab in alien beschriebenen
Fallen einen normalen Befund. Die elektrische Erregbarkeit der Nerven
wie der Muskeln war dagegen stets verandert. Die faradische Erregbar¬
keit derMuskeln war in alien Fallen vollstandig erloschen, die galvanische
stark herabgesetzt. Die in funf Fallen nntersnchte elektrische Reaction
der Nerven ergab auch eine bedeutende Herabsetznng. Der Antor halt
die Paralyse in seinen Beobachtungen fur eine rein myogene
und nimmt an, dass die Nervenstamme dabei ganz unverandert
geblieben sind.
Hildebrandt 7 ) beobachtete ein Kind, bei dem sich Paralyse und
Contractur der Hand in Folge eines allzu festen Verbandes gebildet hatte.
In dem Berichte linden wir keinen Wink iiber den Befund der Nerven im
geschadigten Kbrpergebiete; der Autor betrachtet aber seinen Fall als
typisch fur myogene Paralyse ischamischen Ursprunges.
Henle 6 ) beschreibt einen Fall von Paralyse des Vorderarmes und
der Hand mit Atrophie der Muskeln und Contractur; es trat dies nach An-
legen eines allzu festen chirurgischen Verbandes ein. Der Autor will die
Drsache der Paralyse nur in der ischamischen Schadigung der
Muskeln sehen. (Die Untersuchung des Nervensystems wird in der Krank-
heitsbesprechung nicht beriihrt.)
Petersen 22 ) spricht von einem Patienten, bei dem sich die Folgen
eines Verbandes (nach Fractur des Radius) in Parese der Extensoren und
in Contractur, wie Paralyse der Flexoren der Hand zeigten. Die Sen¬
sibilitat der kranken Extremitat war an den Fingerspitzen gesunken.
Die motorischen Storungen erklart der Autor allein durch die Paralyse
der Muskeln, die Sensibiliatsstorung schreibt er den Veranderungen des
n. medianus zu, der durch seine Narbe in der Nahe des gebrochenen
Knochens etwas gedriickt wurde. (Wahrend man den Nerv vom Drucke
befreite, fand man, dass die a. brachialis vollkommen zerrissen war!)
Davidsohn 4 ) sak Paralyse der Muskeln des Vorderarmes mit Con¬
tractur der Finger nach Anlegen eines chirurgischen Verbandes am Vorder-
arme (bei Fractur des Radius). Die Sensibilitat des Vorderarmes und der
Hand wurde vom Autor normal gefunden. Die faradische Erregbarkeit der
Nerven, wie der Muskeln, besonders deutlich in den Muskeln des Thenar, waren
herabgesetzt. Der Autor kann sich nicht entschliessen, die Veranderungen
der elektrischen Reaction der Nerven durch die Isch&mie derselben zu er-
klaren, sondern nimmt an, der Nervenstamm werde durch das neugebildete
Gewebe zusammengedrcickt.
Niesen 19 ) in seiner ersten Beobachtung spricht von einer Patientin,
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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungeu etc.
325
der wegen Fractur des processus styloideus radii ein Verband angelegt
wurde. Nach einigen Stunden schon trat' an der Hand Oedem, an den
Muskeln des Vorderarmes Paralyse und an den Fingern Contractur ein.
Nach zwei Monaten wurde die Teraperatur der kranken Hand unternormal,
und die Muskeln derselben leicht atrophisch gefunden. Die m. m. interossei
hatten ibre faradische Erregbarkeit eingebusst. Der Tastsinn war auf dera
Handriicken und auf der unteren Handflache im Bereiche des n. medianus
ganzlich geschwunden.
In dem zweiten Falle dieses Autors handelt es sich auch um eine durch
einen ailzu festen Verband verursachte Paralyse und Contractur der Finger.
Die Untersuchung zeigte, dass die Flexoren auf den elektrischen Strom gar
nicht reagirten. Der Tastsinn und das Schmerzgefiihl der Hand und
der Finger waren im Bereiche des n. ulnaris sehr gesunken.
Der Autor halt die Paralyse in diesen Fallen fur eine rein myogene-
ischamische und erklart die Storungen yon der Seite des Nervensystems
durch eine hypothetische zufailige Lasion oder Quetschung der Nerven-
stamme.
Sonnenkalb 23 ) beobachtete Paralyse der oberen Extremitat als
Resultat eines um den Oberarm ailzu fest gelegten Verbandes. Ausser
der fur solche Falle typischen Contractur stellte der Autor eine tiefe
Anasthesie der kranken Extremitat fest. Die Sensibilitatssttfrung war
so gross, dass, als die gelahnite Hand zufailig verbrannt wurde, nachdem
sie einer starken Hitze (ein heisser Ofen) ausgesetzt war, der Patient
absolut keinen Schmerz davon empfand; noch vier Monate spater konnte
er die starksten faradischen Strome ohne jedes Gefuhl von Unbehagen er-
tragen. Der Autor halt seinen Fall einfach fur ischamische
Muskellahmung.
Zu dieser Gruppe gehbren wohl auch zwei Beobachtungen von
Bernhardt ! ):
Im ersten Falle handelt es sich um ein Weib, das wegen einer
chirurgi8chen Operation an der Hand einen Verband tragen musste. Als
die Patientin nach einiger Zeit den Verband abnahm, bemerkte sie, dass
der Arm ganzlich geiahmt war. Das Beugen und Strecken im EUenbogen-
gelehk, sowie jede Bewegung der Hand, wie der Finger war unmbglich
geworden. Die Untersuchung mit dem elektrischen Strome zeigte weder in
den betroffenen Nerven, noch Muskeln Entartungsreaction. Nach 14 Tagen
trat vollstandige Genesung ein.
Im zweiten Falle beschreibt Bernhardt einen Patienten, bei dem
vollstandige Paralyse aller Muskeln des Vorderarmes und der Hand durch
das Anlegen der Es mar chicken Binde hervorgerufen war. Obgleich nach
Abnahme der Binde diese Extremitat geiahmt blieb, so hatte sich doch die
elektrische Erregbarkeit aller unterhalb der Verbandstelle liegenden Theile
in diesem Falle vollkommen erhalten.
Bernhardt selbst mochte diese Erkrankung beider Falle durch eine
Schadigung der Nervenstamme erklaren.
Sehr interessant sind die Beobachtungen Neugebauers. 20 ) Dieser
Autor legte gesunden Menschen die elastische Esmarch’sche Binde um
die obere Extremitat und bestimmte unter diesen Bedingungen in der¬
selben die elektrische Reizbarkeit, die Leitung der Willensimpulse und
22 *
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326
XXI. Lapinsky
die verschiedenen Sensibilitatsarten. Er kam hierbei zu folgenden
Resultaten:
Schon 15—20 Minuten nacb Anlegen der Binde war die Mdglichkeit
der Willensleitnng in den unterhalb der Binde gelegenen Theil der
Extremitat geschwunden. In dreien von vier Fallen waren auch der Tast-
sinn nnd auch das Schmerzgefubl in demselben Gebiete stark herabgesetzt.
Was die elektrische Reizbarkeit betrifft, so erzeugte ein oberhalb des
Verbandes dem Nerven applicirter elektrischer Reiz koine
Bewegungen der unterhalb der Binde gelegenen Theile. Eine solche
Reizung der Nervenstamme unterhalb der Verbandstelle er¬
zeugte Contraction der Muskeln. Die directe Erregbarkeit der
Muskeln war zuweilen etwas herabgesetzt. Der Autor ist offenbar genei^t,
diese Stbrungen eher auf neurogene als auf myogene Momente
zuriickzufuhren.
Fleury 9 ) machte ahnliche Beobachtungen am Krankenbette; es lag
ihm hauptsachlich daran, den moglichen Einfluss einer localen Anamie
auf die Reflexe zu bestimmen. In seinen Untersuchungen schwanden die
Sehnenreflexe schon 6—14 Minuten nach Anlegen des Esmarch’schen
Bandes. Fleury erklart diese Erscheinung durch die Anamie. Viel-
leicht rechnet er dahin auch die Ischamie der Muskeln und der Nerven¬
stamme (?).
Sternberg 24 ) hat eine grosse Zahl derselben Versuche an Eranken
angestellt. Die Resultate seiner Untersuchung sind folgende:
a) Eine kurz dauernde Einwicklung (4—5 Minuten) nach der
Methode von Esmarch lasst Fussclonus und Achillessehnenreflex un-
beriihrt.
b) Langer dauernde Anamie (etwa 6—10 Minuten) schwacht Fuss-
clonus und Achillessehnenreflex.
c) Dauert die Anamie noch langer (etwa 10—15 Minuten), so
schwindet der Fussclonus ganzlich, der Achillessehnenreflex wird merklich
geringer.
d) Lasst man die Anamie nach dem Verschwinden des Fussclonus
noch einige Minuten dauern, so ist auch der Achillessehnenreflex ganzlich
verschwunden.
Dieses Schwinden der Sehnenreflexe in der anamisirten Extremitat ist
nach Meinung des Autors durch Anamie der Nervenendigungen zu
erklaren.
Das durch Volkmann geweckte Interesse an ischamischen Para-
lysen veranlasste viele Forscher durch exp eri men telle Beobachtungen
dieser Frage naher zu treten.
Leser 14 ) hat seine Untersuchungen an 23 Kaninchen angestellt. Er
umschniirte mit einer Binde eine hintere Extremitat en masse im oberen
Theile des Schenkels und nach 3 Stunden nahm den Verband ab. Unter
der Binde trat eine unwesentliche Abkiihlung des Fusses ein. Die
Extremitat war gelahmt und dabei ganz schlaff; die Pfote schleppte sich
bei den Bewegungen des Thieres passiv hinten nach, die Rflckseite zur
Erde und die Sohle nach oben gewandt Die urn diese Zeit angestellte
Untersuchung zeigt eine leichte Schadigung der Sensibilitat und
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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc.
327
eine Abschw&chung, an einigen Thieren sogar eine voUst&ndige Einbnsse
der directen faradischen Erregbarkeit der Muskeln. Bald traten dann
in der geschadigten Extremitat Reactionserscheinungen anf.
Die Temperatur derselben stieg erheblich in die Hohe. Es
zeigte sick auch bedentende Schwellung nnd 48 — 72 Stunden
nach Anlegen des Verbandes sah man an der Extremitat alle
Anzeichen von Myositis. Die Muskeln warden stark ange-
schwollen, bretthart, rigid and schmerzhaft. Nach 8—14 Tagen
konnten all diese Erscheinangen jedoch vollstandig weichen and eine voll-
standige restitutio ad integrum eintreten. Das Aaftreten der Con-
tractur fiel gewBhnlich mit dem intensivsten Entwicklungs-
grade der Entzundangsreaction in den Muskeln znsammen.
Bei sehr heftiger Entziindungserscheinung wurde eine restitutio ad integrum
gar nicht beobachtet; es trat Contractur der degenerirten Muskeln ein.
Die Reiznng des Nervenstammes der Experimentirextremitat durch
den elektrischen Strom in friiheren Stadien der Lahmung erzeugte eine,
wenn auch nicht erhebliche Contraction der Muskeln; derselbe Strom
erzeugte bei director Einwirkung auf den Muskel keine Contraction desselben.
In einem dieser F&lle hat die spatere Untersuchung mit
dem elektrischen Strom gezeigt: „Dass die Sensibilitat nicht
wesentlich geschadigt, dass dagegen bei director faradischer
Reiznng des m. gastrocnemius auch nicht die Spur einer Con¬
traction ein trat; bei galvanischer Reizung Hessen sich einige erheblich
abgeschwachte Contractionen nachweisen. w (s. 2105.)
In einem Falle erhielt der Autor bei indirecter Reizung keine solche
Contraction der Muskeln, bei der Section zeigte es sich hier aber,
dass der Nerv sehr stark gequetscht worden war und sich in
einen diinnen Faden verwandelt hatte.
Eine Schadigung der Nerven negirt jedoch der Autor in seinen Fallen.
Seine diesbeziiglichen Schliisse griindet er 1. auf die unverandert ge-
bHebene Sensibilitat des paralysirten Beines, 2. auf die in den Muskeln
mehr als in den Nerven ausgepragte Veranderung der elektrischen Reaction.
Derselbe Autor machte auch Beobachtungen an Froschen. Er fiihrte
seine Versuche so aus, dass der N. ischiadicus keinem Druck aus-
gesetzt war. Es wurde vorher durch einen Hautschnitt der erwahnte
Nerv zu Tage gefordert und die Ligatur, die das Bein umschniiren sollte,
unter demselben angelegt. Man erhielt auf diese Weise volistandige
Ischamie, ohne jede Quetschung der Nerven. (Der Autor iiberzeugte sich
davon unter dem Mikroskop.) Die auf diese Weise erhaltene
Ischamie war stets von Paralyse begleitet, doch fehlte jede
Contractur.
Allen soeben dargelegten Fallen der Ischamischen Paralyse haftet,
was ihre Symptomatologie und Diagnostik anbetrifft, eine gewisse Un-
klarheit an.
Wahrend die einen Autoren als typisch ffir die ischamische
Paralyse eine mit derEinbusse der willkiirlichen Bewegungs-
moglichkeit zeitlich zusammenfallende oder auf diese sogleich
folgende Contractur betrachten (Volkmann), haben andere die
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328
XXI. Lapinsky
Contractor erst viele Stunden nach eingetretener Paralyse (Leser,
Versuche an Kaninchen) beobachtet, oder auch ganz schlaffe Paralyse
(Bernhardt) ohne jede Contractur bemerkt (Leser, Versuche an
Froschen).
Nach Ueberzeugung der einen Autoren muss man das typische
Merkmal ischamischer Paralyse in dem vollsandig normalen Ver-
halten des Nervensys tern s sehen(Volkmann, Leser, Hil debran dt,
Henle, Niesen), doch wurden in vielen Fallen der sogenannten ischa-
mischen Paralyse Storungen der Sensibilitat bis zu vollstandigem Er-
loschen der letzteren constatirt(Sonnenkalb, Niesen, Neugebauer,
Leser, Davidsohn), ebenso wurde das Schwinden der Reflexe ge-
sehen (Fleury, Sternberg); es war auch die elektrische Reaction
der Nerven geandert gefunden. (Leser, Niesen, Neugebauer.)
Ganz unverstandlich scheint deshalb die Behauptung, dass die
ischamischen Lahm ungen rein myogenen Charakter haben und dass das
Nervensystem bei Entstehung derselben gar keine Rolle spiele, resp.
keine Schadigung erleiden, jedenfalls werden die Beweise daftir in
Form z. B. mikroskopischer Untersuchungen der Nerven ischamischer
Extremitat nicht erbracht.
H.
Indem ich meinerseits das Bild der ischamischen Paralyse beob-
achten wollte, habe ich versucht, eine locale Ischamie zu erzeugen,
ohne dabei irgend einen Druck auf die Nervenfasern oder
Muskelgruppen des gegebenen Korpertheiles anzuwenden.
Zu diesem Zwecke sind bei zehn Kaninchen die Hauptarterien des
Hinterbeinesunterbunden worden und in derganzennachfolgendenPeriode
wurde auf die Temperatur der Versuchsextremitat, auf die Veriinderung
ihrer Bewegungsvermogen, ihrer Sensibilitat, Reflexe, elektrischer
Erregbarkeit und des Muskeltonus geacbtet und zwar nicht nur zu der
Zeit der Entstehung der Ischamie oder auf der Hohe der letzteren,
sondem auch nach der Entwicklung des collateralen Blutkreislaufes.
Es wurden alien zehn Thieren die a. iliaca communis sinistra (gleich
unter d. bifurcatio), dabei flinf Thieren, ausserdem noch die kleinen
Arterien der Bauchwand (a. epigastrica inf. u. and.) unterbunden. Auf
diese Weise konnte locale Ischamie des Beines hervorgerufen werden,
ohne dass dabei die Nerven und Muskeln einem Drucke oder einer
andersartigen Lasion ausgesetzt waren.
Bei einem Kaninchen blieb der Collateralkreislauf ira Laufe von
funf Tagen aus, in flinf Fallen bildete sich derselbe erst am Ende des
vierten Tages; in den librigen vier Fallen war die Circulation am Ende
des zweiten Tages zum Theile schon hergestellt.
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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc.
329
Das erste Thier wurde (mit tiefer Aethernarcose) am Ende des
fftnften Tages nach Anlegen der Ligatur getodtet; alle librigen Kaninchen
blieben am Leben eine Woche bis vierzebn Tage lang.
In sechs Fallen, wo die complete Ischamie vier bis fiinf Tage gedauert
hatte, erwiesen sich die Erscheinungen als vollstandig analog.
Znr besseren Anschaulichkeit frihre ich hier das iiber die Beobach-
tnngen an einem (IV) Thiere gefuhrte Protokoll an.
12UhrMittags: An den Operationstisch wird ein grosses graues
Kaninchen (Mannchen) gebunden and mit Aether narcotisirt. Die beiden
hinteren Extremitaten sind an der Stelle, wo die befestigenden Schniire sie
umfassen, mit einer dicken Wattenschicht bedeckt worden.
12 Uhr 20 Minnten: Nachdem die Bauchhante nnd -wande durch-
schnitten und die Diinndarmschlingen auseinandergebreitet waren, wurde
die a. iliaca communis sinistra in der Nahe der Bifurcatio aortae gefunden
und mit einem aseptischen Seidenfaden unterbunden. Mit einer ahnlichen
Ligatur wurde die a. epigastrica inferior und die kleinen Arterien der
Bauchwande und der Haut in der linken regio hypogastrica unterbunden.
Die Wunde wurde dann schichtweise zusammengenaht. Die Hautschnitt
wurde dann sorgfaitig desinficirt und mit einem Marlistreifen mit fliissigem
Colodium verklebt.
1 Uhr: Das Thier ist wach.
1 Uhr 10 Minuten: Die linke Extremitat ist kalt. Der Puls derselben
ist nicht zu fuhlen. Hob man das Thier an den Ohren in die H8he, so hing
das linke Bein schlaff herunter. Die passiven Bewegungen sind in alien
Gelenken des betroffenen Beines frei. Willkurliche Bewegungen kSnnen
nur mit den Oberschenkelmuskeln ausgefuhrt werden, doch sind dieselben
ausserst schwach. Beim Laufen schleppt das Thier die Extremitat
hinter sich her; die Pfote beriihrt hierbei die Erde nicht allein mit der
Sohlenseite, sondern mit der Dorsalseite. Die Druck- und Stichschmerz-
haftigkeit hat in der Pfote ganzlich aufgehort. Der Patellarreflex und
Keflex beim Stechen der Sohle und beim Reizen (Kratzen) durch eine
Nadel in der Zwischenzehenspalte ist erloschen. Den Aehillessehnenreflex
erwahnen wir nicht, da ein solcher auch beim vollstandig normalen Kaninchen
schwer auszulbsen ist. Die nicht operirte Extremitat zeigt keine Ab-
weichungen von der Norm.
Faradischer Strom. (Schlitten-Apparat Du Bois Reymond.
2 Elemente LeclanchS v. Hirschmann. Elektrod. 10 cqm.
Linke hintere Extremitat.
N. cruralis
N. obturatorius
N. peroneus
N. tibialis
M. tibialis ant.
M. quadriceps
M. M. adductores
12,0 cm. R. A.
12,0 „ „
10,0 „
13,0 „ „
11,0 „ „
12,5 „
12,5 „ „
Rechte hintere Extremitat.
13,0 cm. R. A.
12,5 n „
13,0 „ „
13,0 „ „
13,0 „ „
12,0 „ „
12,0 „ „
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330
XXI. Lapinsky
Galvanischer Strom. (Hirschmann’s Maschine
40 Element. Rheostat.)
Das linke Bein. Das rechte Bein.
N. cruralis
3,0
M. A.
si
4,0
M. A.IN
N. obturat
3,0
ii
GO
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N. peroneus
4,0
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N. tibialis
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M. tibialis ant
2,0
11
S3
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M. quadriceps
2,5
11
GO
2,5
» 1^
M. M. adductores
3,0
11
w
3,0
„
4 Uhr Nachmittags desselben Tages:
Die hintere Extremitat
der operirten Seite ist kalt and befindet sich im Zustande schlaffer Parese.
Die passive Beweglichkeit derselben ist vollst&ndig unbehindert. Es ist
keine Contractur vorhanden. Die Mnskelgruppen sind vollkommen schlaff;
weich, ihr Tonus ist aufgehoben. Das Schmerzgefuhl and der Dracksinn
sind vollstandig erloscben. Ebenso fehlten der Patellarreflex, der Reflex
bei Reizung mit der Nadel in der Zwischenzehenspalte and der Stichreflex
der Sohle. Die nicht operirte Extremit&t zeigt keine Abweichnngen von
der Norm. Die elektrische Reaction der Muskeln und Nerven beider
Extremitaten ist in demselben Zustande, in dem sie vor drei Stunden war.
8 Ubr Morgens am andernTage: Der Fuss, der Unterschenkel und der
nntere Theil des Oberschenkels der linken Extremist sind ganz kalt, doch nahert
sich die Temperatur in der regio glutaea, naher zum Kreuze und in der plica
inguinalis der Norm. Die Pulswelle ist nirgends zu fuhlen. Das willkiirliche
Bewegungsvermogen ist in dieser Extremitat nach wie vor unmoglich; das Thier
zieht das Bein hinter sich her und beriihrt die Erde mit der Dorsalseite der Pfote.
Die passiven Bewegungen aller Gelenke sind frei und das linke Bein
hangt schlaff herunter, wenn das Thier an den Ohren in die Hbhe gehoben
wird. Einzelne Muskeln sind schlaff und weich, ihr Tonus ist verloren
gegangen. Die Druck- und Schmerzhaftigkeit ist nach wie vor erloschen,
ebenso sind die Reflexe — der Patellarreflex, der Stichreflex, und der
Reflex bei Reizung der Zwischenzehenspalten — geschwunden.
Die willkiirliche und passive Beweglichkeit der normalen rechten
hinteren Extremitat weicht nicht von der Norm ab. Die Druck- und Stich-
schmerzhaftigkeit ist sehr erhbht. Der Patellarreflex und der Reflex bei Reizung
der Zehenspalten ist auch erhoht. Das Beklopfen mit einem Hammerchen auf
die Patellarsehne des linken Beines erzeugt eine clonische Con¬
traction des m. quadriceps des rechten Beines. (Gekreuzter Reflex.)
N. cruralis
N. obturat
N. peroneus bei
N. tibialis
M. quadriceps
M. adductores
M. tibialis ant.
Elektrische Erregbarkeit.
Faradischer Strom.
Das linke Bein.
6,0 cm. R. A. schwache Contraction
6,0
6,0
10,0
6,0
6,0
6,0
•}
” keine Contraction
„ schwache Contraction
„ etwas schwache Contr.
” keine Contraction
Das rechte Bein.
13,0 cm. R. A.^
12,0 „
13,0 „
13,0 „
12,0 „
12,0 „
13,0 „
a
©
O
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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc.
Galvanischer Strom.
331
N. cmralis
N. obturat.
N. peroneus
N. tibialis
M. quadriceps
M. adductores
M. tibialis ant.
M. suralis
10,0 M. A. K. S. Z. > A. S. Z. Schwache Contr. 3,5
10 0 ” } ^° ntrac ^ on j’q
4,0 „ K. S. Z. > A. S. Z. Schwache Contr. 2,0
10,0 „ Schwache Contr. K. S. Z. > A. S. Z. 4,0
it 1 a ” \ keine Contraction
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M. A.\
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N
GO
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Am dritten Tage nach vollzogener Operation 8 Uhr Morgens:
Die linke hintere Extremist ist ebenso kalt wie am Tage vorher. Die Pulswelle
ist nirgends zu fuhlen. Die wilikiirlichen Bewegnngen sind nach wie vor
unmoglich. Die passive Beweglichkeit ist vollstandig frei. Es ist keine Con-
tractur, auch keine Rigiditat zu bemerken. Die Muskeln sind weich. Druck-
und Stichschmerzhaftigkeit fehlt. Ebenso ist es nicht moglich, den Stichreflex
der Sohle und den Reizreflex der Zehenspalte wie den Patellarreflex auszulosen.
Elektrische Erregbarkeit.
Faradischer. Strom.
Das linke Bein. Das rechte Bein.
N. cruralis
6,0
cm. R. A.|
12,0
cm.
R. A.
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O
N. obturat.
6,0
„ „ > keine Contraction
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N. peroneus
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N. tibialis
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ii
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M. quadriceps
6,0
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10,0
ii
ii
M. M. adductores
6,0
„ „ i keine Contraction
10,0
ii
r
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M. tibialis antic.
6,0
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10,0
ii
ii
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Galvanischer Strom.
N. cruralis
15,0 M. A.l
3,5
M. A.
N. obturat
15,0
„ } keine Contraction
3,5
11
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N. peroneus
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5,0
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11
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Contraction
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M. quadriceps
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11
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M. M. adductores
15,0
„ } keine Contraction
4,0
11
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M. tibilis antic.
15,0
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2,5
11
0
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M. suralis
4,0
„ K. S. Z. >• A. S. Z. Contraction
2,5
11
•4a
a
etwas trage.
0
0
Vierter Tag 8 Uhr Morgens: Der Fuss und der Unterschenkel
der linken Extremitat sind ebenso kalt wie am vorhergehenden Tage. Die
Temperatur der regio glutaea links ist hoher ala rechts. Die passiven
Bewegnngen sind vollkommen frei. Muskeltonus ist aufgehoben. Die
active Beweglichkeit, die Sensibilitat, die Reflexe und die elektrische Er¬
regbarkeit des linken Beines sind ebenso geschwunden wie am Tage vorher.
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332
XXI. Lapinsky
Die Sensibilit&t und die Reflexe der rechten Extremit&t sind erhoht
Das Ph&nomen des gekreuzten Reflexes (vom lig. patellae der
linken Seite auf Patellarreflex rechter Seite) ist nicht mehr
vorhanden.
Fiinfter Tag: Die Temperatur der linken Extremit&t ist hbher als
am Tage vorher und n&hert sich der der rechten. Die willkiirliche und
passive Beweglichkeit, die Sensibilit&t, die Reflexe und die elektrischc Er-
regbarkeit sind erloschen.
Die rechte hintere Extremitat ist weniger hyper&sthetisch als am
Tage zuvor.
AchterTag: Die Temperatur beider Extremit&ten ist vollst&ndig gleich.
Die willkiirlicken und passiven Bewegungen, die Sensibilit&t, die
Reflexe und die elektrische Erregbarkeit des linken Beines bleiben in
demselben Zustand wie am vierten Tag.
Die Beweglichkeit, sowie die Sensibilit&t und die Reflexe des rechten
Beines weichen nicht von der Norm ab.
Z e h n t e r T a g: Die Temperatur beider Extrem it&ten ist vollst&ndig gleich.
Die willkiirliche Beweglichkeit des linken Beines ist nach wie vor
geschwunden. Ihre passive Beweglichkeit ist vollkommen frei: es ist keine
Contractur, auch keine Rigidit&t vorhanden. Der Stichreflex der Sohle,
sowie der Reizreflex der Zehenspalte links kflnnen nicht ausgelost werden:
dasselbe gilt vom Patellarreflex. Die Stich- und Druckschmerzhaftigkeit
desselben Beines ist geschwunden.
Die passive und willkiirliche Beweglichkeit des rechten Beines, sowie
die Sensibilit&t und die Reflexe (Haut- und Sehnenreflexe) desselben weichen
nicht von der Norm ab.
Elektrische Erregbarkeit.
Faradischer Strom.
Das linke Bein. Das rechte Bein.
N. cruralis
6,0
cm. R. A.j
12,0
cm.
R. A.
*3
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N. obturat.
6,0
„ „ } keine Contraction
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N. peroneus
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N. tibialis
10,0
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M. quadriceps
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M. tibialis ant.
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6,0
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11
Galvanischer Strom.
N. cruralis
15
M. A.j
3,0
M. A.
N. obturat.
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„ \ Keine Contraction
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N. peroneus
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N. tibialis
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M. quadriceps
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M. tibialis ant.
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11
M. suralis
4,5 „ K. S. Z. < A. S. Z.
1,5
11
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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc.
333
Eine Stunde darauf wurde das Thier durch Aethernarcose getodtet.
Bei der Section zeigt sich die linke hintere Extremist sehr blass. A. cru-
ralis ist leer. V. crnralis leicht gefdllt. Die der A. comes ischii entsprechende
Vene ist sehr gefiillt und zieht sich vom Unterschenkel und der fossa pa-
tellaris fiber die hintere Flfiche des Oberschenkels und weiter hinauf. Die
N. N. cruralis und obturatorius sind auf der Hohe des Unterschenkels etwas
blass und sprfide. N. tibialis und peroneus zeigen keine makroskopische
Verfinderungen. Sttickchen aller dieser Nerven von der linken und rechten
Extremitat werden in 1 Proc. Osmiumsaure und in Flemming’scher Flfissig-
keit fixirt. Stfickchen des M. M. obturatorius, quadriceps und tibialis anticus
werden in Spiritus gehfirtet.
Die mikroskopische Untersuchung ergab Folgendes:
Schwache Vergrfisserung. Langsschnitt. N. obturatorius. Die Farbung
mit Osmiumsaure ist im Allgemeinen sehr blass. Einige Fasern sind
ganz dfinn und fast ungeffirbt. Die Parallelcontur anderer, dickerer und
besser geffirbter Fasern ist durch einzelne spindelfdrmige, ganz unregel-
mfissige Auftreibungen durchbrochen.
Bei starker Vergrosserung zeigt ihre Myelinscheide tiberall das Bild
des Zerfalles in grossere und kleinere Schollen (a. b. s. Tafel V, Zeichn.
Nr. 1); stellenweise ist die Myelinscheide verschwunden.
Die Axencylinder (Farbung mit Saffranin) sind an einigen Stellen gut,
meistens aber matt Oder gar nicht (Zeichn. Nr. 1 c) gefarbt, Auf dem
Querschnitte ist die Zahl der von Osmiumsaure gut geffirbten Fasern sehr
gering (s. Zeichnung Nr. 2 auf Tafel V).
An Saffraninpraparaten sind die Axencylinder tiberhaupt sehr schwer
zu unterscheiden. Einige sind stark angeschwollen. Epi-, Peri- und Endo-
neurium scheinen nicht verfindert zu sein. Nur hier und da sehen die
Kerne des Epi- und Perineurium etwas angeschwollen aus. Die Zahl dieser
Kerne ist nicht vermehrt. Einzelne Bindegewebsfasern der Nervenscheiden
erscheinen etwas angeschwollen und leicht trfib; meistens aber sehen sie
vollkommen normal aus. Es ist sehr moglich anzunehmen, dass der Alkohol,
in welchem die Praparate erhartet warden, die gequollenen Fasern ent-
wassert und in einen dem normalen ahnlichen Zustand gebracht hat.
Vasa Nervorum unterscheiden sich vom normalen Zustande durch nichts
und sind meistentheils leer; nur hier und da trifft man einzelne Blut-
kfirperchen in denselben.
Ebenso sind die N. N. cruralis und peroneus degenerirt.
Weniger ausgepragt sind die Veranderungen am N. tibialis. Bei
schwacher Vefgrfisserung. Dieser Nerv erscheint auf dem Querschnitte
vollkommen normal. Auf dem Langsschnitte sind seine Fasern gut geffirbt.
Sie haben eine regelmassige Contur und erscheinen bei geringer Ver-
grfisserung auch vollkommen normal. Eine starkere Vergrosserung lfisst
jedoch im Myelin kleine, rundliche Krumchen und einen Zerfall in einzelne,
mehr oder weniger unregelmassige Korner erkennen. Die Axencylinder
sind ziemlich gut gefarbt und zeigen wenig Auftreibungen. Die Kerne der
Schwann’schen Scheide erscheinen der Zahl nach gar nicht vermehrt; ihr
Volumen ist etwas vergrossert, doch ist die Schwellung dieser Kerne im
Vergleich mit denselben an den N. N. beroreus obturatorius durchaus gering.
Die Muskelfasern zeigen auf dem Querschnitt eine leicht gerundete
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334
XXI. Lapinsky
Contur, sind etwas verdickt, resp. gequollen. Ihre Kerne sind gequollen
und matt gefftrbt; ihre Zahl ist offenbar unverandert. Auf den Langs-
schnitten ist die Contur einzelner Fasern wellig. Einige von ihnen zeigen
eine so deutliche Langsstreifung, dass sie stellenweise in einzelne Fibrillen
zu zerfallen erscheinen. Die Querstreifung einzelner Muskelfasern ist sehr
deutlich, die anderer weniger deutlich ausgepragt. Eine grosse Zahl der
Muskelfasern sieht aber ganz normal aus.
Die iiber die fiinf anderen Thiere, bei denen der Collateralkreislauf
sich erst am Ende des 4. Tages einstellte, gefiihrten Protokolle stimmen
fast vollstandig mit dem eben angefiihrten iiberein. Der N. tibialis war
auch hier am wenigsten verfindert. Auch der Befund bei mikroskopischer
Untersuchung war, was die Nerven und Muskeln anbelangt, derselbe.
Von diesen funf Fallen wurden am 6. Tage, nach vollzogener Operation,
einem Kaninchen (unter leichter Narkose) die linken N. N. cruralis, obtu-
ratorius, peroneus, M. M. quadriceps, adductores und tibialis anticus bloss
gelegt. Die Reizung dieser N. N. und M. M. hatte im Laufe der vorhergehenden
Tage selbst bei starken Stromen (6,0 cm Rollenabstand beim faradischen
und 15 M. A. beim galvanischen Strome) nicht die geringste Contraction
erzeugt.
Jetzt wurde der N. peroneus durchschnitten und sein peripherischer
Stumpf mit dem elektrischen Strom der friiheren Starke gereizt; wir er-
hielten wieder die friiheren negativen Resultate. Ebenso negativ war auch
die directe Reizung der M. m. tibialis anticus, adductores et quadriceps.
Durch die Reizung des centralen Stumpfes N. peronei im unteren Drittel
des Oberschenkels konnten wir eine Reihe von Schmerzempfindungen er-
zeugen: Das Kaninchen reagirte iiberhaupt und gab Laute von sich.
Aehnliche Reizung der peripherischen Stiimpfe der N. N. obturatoriua
und cruralis erzeugte keine Contraction und eine solche der centralen
Stiimpfe liess beim Kaninchen keine Schmerzempfindungen bemerken.
Bei zwei anderen Kaninchen erzeugte ahnliche am 8. bis 10. Tage
vorgenommene Reizung mit elektrischen StrSmen der centralen Theile der
blossgelegten N. N. peronei, obturatorius und cruralis keine Schmerz¬
empfindungen und eine solche der peripherischen Stiimpfe derselben Nerven
sowie auch directe Reizung der M. M. quadriceps, tibialis anticus, adduc¬
tores rief keine Contractionen hervor.
Anders waren die Erscheinungen in vier Fallen, wo die Ischfimie von
kurzer Dauer war und der Collateralkreislauf sich schon zu Ende der ersten
30 Stunden bildete. Diese schnelle Wiederherstellung der Circulation wurde
nftmlich in den Fallen beobachtet, in denen die a. hypogastrica inferior sinistra
und die anderen Zweige der Bauchwfinde nicht unterbunden worden waren.
Eine Stunde nach der Operation war die linke operirte Extremist
kalt. Die willkiirliche Beweglichkeit in derselben ist geschwunden. Die
passiven Bewegungen waren dagegen vollkommen frei: keine Contractor, keine
Muskelrigiditat. Die Sensibilitat ist ganzlich erloschen; dasselbe gilt vom
Patellarreflex, vom Stichreflex der Sohle und schliesslich vom Reizreflexe
der Zehenspalte.
Die directe wie indirecte elektrische Erregbarkeit ist im Vergleiche
mit dem normalen Beine erheblich gesunken.
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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc.
335
Nach 4 Stunden. Die Temperatur des linken Beines ist nach wie vor
stark herabgesetzt. Ihr Puls fehlt. Die wilikurlichen Bewegungen sind
geschwunden, die passive vollkommen unbehindert. Die Sensibilitat und die
friiher erwfthnten Reflexe sind nach wie vor erloschen. Die elektrische
Erregbarkeit der Nerven und Muskeln erweist sich fur beide Strome herab¬
gesetzt. Bei Reizung beider Extremitaten erfordert das Versuchsbein einen
starkeren Strom, so dass sich fur den faradischen ein Unterschied von 2 cm
Rollenabstand, fur den galvanischen ein Unterschied von 1—1 J / 2 M. A. zeigt.
Das rechte hintere Bein zeigt keine Abweichungen von der Norm.
Nach 8—20 Stunden. Die hintere linke Extremist ist kalt. Der
Puls ist nicht zu fiihlen. Die passive und willkiirliche Beweglichkeit, die
Sensibilitat und die Reflexe haben ihren friiheren Status bewahrt. Die
elektrische Erregbarkeit ist in alien Nerven und Muskeln der operirten
Extremist auf 2—3 cm Rollenabstand fur den faradischen und 1V 2 —2 M. A.
fur den galvanischen Strom herabgesetzt.
Nach 28—30 Stunden. Die Temperatur des experimentirten Beines
n&hert sich der Norm. Im Stande der passiven und wilikurlichen Beweg¬
lichkeit ist keine neue Ver&nderung eingetreten. Die Sensibilitat ist offenbar
besser geworden. Der Patellarreflex sowie der Reizreflex der Zehenspalte
ist nach wie vor erloschen. Die directe sowie indirecte elektrische Erreg¬
barkeit verharrt auf dem friiheren gesunkenen Niveau, in einigen Fallen
aber, am oftesten im N. cruralis und N. tibialis steigt sie jedoch iiber die
Erregbarkeit der rechten normalen Extremitat.
Dritter Tag. Die Temperatur des linken Beines gleicht der des
rechten oder uberragt sie noch. Der Puls am liuken Fusse ist nicht zu
fiihlen. Eine geringgradige, willkiirliche Beweglichkeit links lasst sich
nur an den M. M. glutaeis bemerken. Die passive Beweglichkeit links ist
in alien Gelenken vollkommen frei. Die Sensibilitat des Versuchsbeines ist
gesteigert. Die Haut- und Sehnenreflexe desselben konnen zwar ausgelftst
werden, doch in sehr schwachem Grade. Die elektrische Erregbarkeit der
Nerven und Muskeln des Experimentirbeines ist an den N. N. cruralis und
tibialis erhoht. Die Erregbarkeit der N. N. obturatorius und peroneus ist zwar
niedriger als an dem vorhergehenden Tage, doch ist sie nicht vollig erloschen.
Die Beweglichkeit, Sensibilitat und elektrische Erregbarkeit des nicht
operirten Beines ist normal. Der Patellar- und der Stichreflex dieses Beines
ist erhflht.
Fiinfter Tag. Die Temperatur ist in beiden Extremitaten gleich.
Der Puls ist im operirten Beine nicht zu fiihlen. Diese Extremitat
befindet sich in erheblicher Parese. Eine unbed eutende willkiirliche Be¬
weglichkeit ist nur an den Muskeln des Oberschenkels zu selien. Die
passive Beweglichkeit, die Sensibilitat, die elektrische Reaction und die
Reflexe befinden sich in demselben Status, wie am dritten Tage.
Am 8.—9. Tage. Die Temperatur ist in beiden Extremitaten gleich.
Der Puls ist im experimentirten linken Beine nicht zu fiihlen. Die will¬
kiirliche Beweglichkeit dieses Beines ist ein wenig paretisch. Die Sen¬
sibilitat und die Reflexe sind etwas erhoht. Im Stande der passiven
Beweglichkeit und der elektrischen Erregbarkeit ist keine neue Aenderung
eingetreten.
Zwischen dem 10.—14. Tage tfldteten wir unsere Thiere mittels
Aethemarcose.
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336
XXI. Lapinsky
Bei der Section sahen wir eine erhebliche Bl&sse und eine geringe
Atrophie der Muskelmassen des Versuchsbeines. Die A. cruralis war leer.
Alle sichtbaren Venen waren etwas gefiillt. Die Nervenst&mme zeigten bei
Besichtigung mit unbewaffnetem Auge keine besonderen Ver&nderungen. Fur
die mikro8kopische Untersuchung warden Stiickchen von den N. N. cruralis,
peroneus, tibialis, obturatorius genommen und theils in 1 proc. Osmium-
s&ure, Flemming’s Mischung, theils in 96proc. Spiritus gesetzt.
Unter dem Mikroskop erwies sich ein Theil der Nervenfasern anf
den L&ngsschnitten blass gef&rbt und verschm&lert. Ihre Contur war
stellenweise unregelm&ssig und spindelformig aufgetrieben. Das Myelin
war stellenweise kornig, stellenweise enthielt es die Kliimpchen des Zerfalles
(8. Zeichnung Nr. 3 auf Tafel V). Die Zahl der Schwan’schen Kerne war
nicht vermehrt. Einzelne Kerne hatten an Volumen etwas zugenommen —
ihre F&rbung war etwas diffus. Die Axencylinder stellenweise varicos,
manchmal zerrissen, sehr schwach gefHrbt.
Auf dem Querschnitte war die Zahl der gutgeschw&rzten Fasern im
Vergleiche mit der Norm etwas vermindert. Einzelne Axencylinder sind
aufgequollen. Die Nervenscheiden sind nicht odematos, ihre Fasern sind
nicht angeschwollen; ihre Kerne nicht vermehrt und sehen iiberhaupt ganz
normal aus.
Die Muskelfasern waren etwas verbreitert. Ihre Querconturen waren
rundlich. Die Zahl der Kerne hatte etwas abgenommen. Die Ffcrbung
der Kerne war nicht ganz scharf. Auf den L&ngsschnitten ist die Contur
der Fasern wellig und unregelm&ssig. Die Querstreifung ist wenig aus-
gepr>, die Lftngsstreifung dagegen so stark, dass man in einigen Fasern
von fibrill&rer Auflockerung oder Zerfall sprechen kann.
Recapitulieren wir unsere Beobachtungen, so sehen wir, dass eine
Unterbindung der A. a. iliaca et hypogastrica eine Ischamie der hinteren
Extremitat nach sich zieht, welche eine Zeit dauert und mit einer Reihe
von verschiedenen Beschadigungen des betroffenen Korpergebietes ein-
hergeht.
Das iscbamische Bein wird plotzlich kalt und gelahmt. Schon
im Laufe der ersten Stunden der Ischamie erlischt, die willkiirliche
Beweglichkeit der Versuchsextremitat.
Die passiven Bewegungen werden ganz frei und unbehindert, so
dass das Bein in schlaffer Paralyse verharrt.
Die Sensibilitat fiir BerQhrung und Druck und die Stichschmerz-
haftigkeit schwinden schon zu Ende der ersten Stunde nach Unter¬
bindung der Arterie.
Ebenso schnell gehen auch die Haut- und Sehnenreflexe verloren.
Die elektrische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln sinkt schon
am Ende der ersten Stunde.
Die weitere Entwicklung dieser Erscheinungen hangt von der
Schnelligkeit der Bildung eines neuen Collateralkreislaufes ab.
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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc.
337
Im Falle, wenn sich der Collateralkreislauf spater ungefahr 4—5
Tage nach UnterbinduDg der Arterie bildet, bleiben die Haut- und
Sehnenreflexe, die willktlrliche Beweglichkeit und Sensibilitat geschwun-
den; die elektrische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln, indem sie
immer mehr und mehr sinkt, ist schon am 4. Tage gewShnlich
ganzlich erloschen, mit Ausnahme fftr den N. tibialis, der oft mehr oder
weniger verschont bleibt.
Der am 4.—5. Tage nach vollzogener Operation sich bildende Colle-
ratialkreislauf ubt keinen grossen Einfluss auf die Besserung der patho-
logischen Erscheinungen aus; in den ersten 5—6 Tagen der wieder-
hergestellten Circulation, d. h. in den 9—11 Tagen nach vollzogener
Operation bleibt die Extremitat nach wie vor in schlaffer Paralyse;
ihre Sensibiltat, die Haut- und Sehnenreflexe, die elektrische Reaction
einiger Nerven sind fortgesetzt erloschen. Der elektrische Strom,
an freipaparirten Nervenstammen direct angelegt, ruft weder Muskel-
contraction noch Schmerzempfindungen hervor (mit Ausnahme eines
Falles, wo der N. peroneus noch die Schmerzenleitung besass).
Bei der mikroskopischen Untersuchung werden in alien diesen
Fallen ahnliche Erscheinungen beobachtet. Vasa Nervorum anderten
sich gar nicht. Die Nervenscheiden sind nicht modificirt. Nur einzelne
ihrer Kerne und Fasern sind etwas angeschwollen. Die Myelinscheiden
der meisten Nervenfasem sind zerfallen. Axencylinder sind varicos,
matt gefarbt, an einigen Stellen zerrissen. Die Schwan'schen Kerne
sind stark aufgequollen, namlich da, wo die Nervenfasern am starksten
angegriffen waren. Im Ganzen entwickelt sich eine starke Degeneration
der Nerven in Form von parenchymatoser Neuritis gefunden. (Zeich. 1—2.)
Bildet sich der Collateralkreislauf amEnde oder imLaufe der ersten
dreisig bis vierzig Stunden nach Unterbindung der Arterie aus, so wird
die willktlrliche Beweglichkeit allmahlich hergestellt, wenn auch nur
in bestimmten Muskeln; doch stebt die Kraft ihrer Bewegungen hinter
der der normalen Extremitat zurtick, so dass die ischamisch gewesene
Extremitat sehr paretisch zuriickbleibt. Auch die Sensibilitat ist sehr
bald wieder da, ebenso kommen die Haut- und Sehnenreflexe wieder
zum Vorscbein; letztere sind in der ersten Zeit sogar erhoht, spater
werden sie aber schwach. Die elektrische Erregbarkeit einiger ischa-
mischer Nerven steigert sich, in den andern bleibt sie jedoch herab-
gesetzt
Durch die mikroskopiscbe Untersuchung der Nerven (am 10.—14.
Tage nach vollzogener Operation) werden auch hier Zeichen einer un-
erheblichen Degeneration festgestellt Die Zahl der gut geschwarzten
Nerven ist klein. Das Myelin in ausseren Faserschichten ist kornig
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338
XXI. Lapinsky
verandert und stellenweise in grosse und kleine Krtimchen zerfallen.
Die Schwan’schen Kerne sind, was ihre Zahl und ihre Grosse an-
betrifft, fast gar nicht verandert; nur ihre Farbung ist diffus.
Der Muskelappart der ischamischen Extremitat war, wie schon be¬
merkt, ganz schlaff gelahmt. Eine ischamische Contractur wurde bei
unserenVersuchsthieren kein einzigesMal bemerkt; ebenso blieb auch die
erhohte Resistenz der anamischen Muskeln aus, deren einzelne Bfindel
waren ganz weich, schlaff und schmerzlos: das ZusammendrtLcken der
Muskelgruppen zeichnete sich wenigstens durch keine Empfindlichkeit
aus. Eine Schwellung der Muskelgruppen wurde nicht beobachtet. Directe
Reizung mit dem elektrischem Strome dieser ischamischen Muskeln zeigte
eine herabgesetzte Erregbarkeit in den spateren Stadien der Lahmung.
Unter dem Mikroskope wurden die Muskelfasem gequollen gefun-
den. Stellenweise haben sie die Querstreifung verloren. Ihre Sarcolemm-
keme waren angeschwollen, trtibe und blass gefarbi Stellenweise sahen
aber die Muskeln ganz normal aus. Solche Verander ungen waren bei
kurzer Dauer der Ischamie so wie nach langeren Bestehen derselben
ganz gleich ausgepragt.
Sehr wichtig sind in dem beschriebenen Bilde die frtihen Lahmungs-
erscheinungen. Schon nach einer Stunde finden wir alle klinischen
Zeichen derselben, wieParese, Anasthesie, Erloschensein der Reflexe u.s. w.
scharf ausgepragt
Was die Parese resp. Paralyse der Extremitat anbetrifft, so ist
eine solche aus der localen Schmerzhaftigkeit des Beines und durch
den Wunsch des Thieres, dasselbe zu schonen, sehr schwer zu erklaren.
Bei einer solchen Voraussetzung hatte man ein actives Heranziehen
der Extremitat und zwar so, dass sie den Boden nicht berdhrte, er-
warten mtissen. In Wirklichkeit sehen wir ein schlaffes Herabhangen
der Extremitat, die ausserdem w ah rend der ganzen Zeit am Boden
geschleift wird.
Es ist auch schwierig, die Deutung zuzulassen, als ob die Parese
der Extremitat in der ersten Stunde der Lahmung, von den Eruahrungs-
storungen der Muskeln herrtihre: die directe Reizung derselben mit
dem elektrischen Strom in den ersten Stunden nach Unterbindung der
Arterie zeigt noch ihre normale Fahigkeit zur Contraction. Wir hatten
auch keine Zeichen von der Seite der Muskeln, welche auf eine acute
Myositis in der ischamischen Extremitat hinwiesen. Es war keine
Schwellung da; es sind keine Resistenzvermehrung der Muskelgruppen,
keine Schmerzhaftigkeit beim Drucke und Contractur weder im Anfange
der Lahmung noch spater bemerkt worden.
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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc. 339
Es ist anderseits sehr nattirlich, die frflhe Parese durch die
Functionsstorang der ischamischen Nervenstamme selbst zu erklaren.
Dafur sprechen der Verlust des Muskeltonus, die Weichheit und
Schlaffheit der Musculatur, was gewohnlich bei einer Stoning des
peripherischen Neurons beobachtet wird. Ausserdem bestatigen diese
Voraussetzung auch die fruhe Einbusse des Aufnahme- und Leitungs-
vermogens von Druck-, Beriihrung- und Schmerzempfindungen, Schliess-
lich das Schwinden der Reflexe*) und das Sinken der elektrischen
Erregbarkeit.
Alle diese Momente zeigen auf eine fruhe Stoning der Nerven¬
stamme und lassen ruhig den Schluss zu, dass die Willensimpulse
*) Bei Erwagung deB fruhen Verschwindens der Reflexe muss man folgen-
des bemerken.
Was die Patellarreflexe anbelangt, die schon 3 / 4 Stunde nach begonnener
Ischamie nicht mehr ausgelost werden konnten, so grundet sich bekanntlich das
regelmassige Zustandekommen der Sehnenreflexe auf das Zusammenwirken dreier
Bestandtheile, namlich I) der Muskelsehne, welche den ?om Hammer aus-
gegangenen Reiz in Form einer Vibration aufnimmt, H) einer sensiblen Nerven-
bahn, welche den empfangenen Reiz dem Ruckenmark zufuhrt und HI) einer
motorischen Bahn. Fur das richtige Zustandekommen des Sehnenreflexes eines
bestimmten Muskels ist also ein normaler Zustand der sensiblen und motorischen
Bahn des Reflexbogens und des Muskels selbst erforderlich. Dieser letzte Bestand-
theil muss nicht allein seine Continuitat und Contractionsfahigkeit, sondem auch
die Fahigkeit der Vibration durch den Schlag des seine Sehne treffenden Ham¬
mers besitzen.
Was in unseren Fallen die Muskeln betrifft, so konnte man in An-
betracht dessen, dass in den ersten Stunden nach vollzogener Operation ihre
Contraction bei directer elektrischer Reizung ganz normal vor sich ging, ihre
Muskelfasem nicht fur verandert halten. Wir wissen jedoch nicht, welchen Ein-
fluss die Ischamie auf die Fahigkeit des Muskels, bei Beklopfen des Hammers
in Vibration zu kommen, nehmen konnte. Diese Fahigkeit des Muskels ander¬
seits fur verloren zu halten, wahrend sein Contractionsvermogen fortbesteht, ist
aber kein Grand vorhanden.
Was den motorischen Theil des Reflexbogens anbelangt, so konnen wir das
Lei tun gs vermbgen seiner Nervenfasern fur Reflexinnervationen ebenso behindert
annehmen, wie auch diejenige fur Willensimpulse. Diese letzteren aber konnten
schon in frilhester Periode der Ischamie nicht mehr geleitet werden.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch die sensible Bahn des Reflexbogens
urn diese Zeit schon geschadigt war; dafur wflrde die Einbusse des Schmerz-
leitungsvermSgens sprechen.
Weniger schwierig ist die Deutung des Hautreflexschwundes bei Stich
und Reiz der Zehenspalte. Hier kann man auch mit mehr oder weniger Wahr-
scheinlichkeit die motorische Reflexbahn fur geschadigt halten; von anderer
Seite ist ja das Erloschen der Hautreflexe auch schon durch das Schwinden der
Hautsensibilitat zu erklaren, da die Anasthesie bei unseren Thieren ja sehr fruh
constatirt wurde.
Deutsche Zeitscbr. f. Nervenheilkonde. XVII. Bd. 23
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340
XXL Lapinsky
schon in der ersten Stunde durch die veranderten Nerven nicht
geleitet werden konnen, in Folge dessen kommt diese frtthe Paralyse.
Ueber die Veranderung der Nervenstamme geben uns unsere Be-
obachtungen einen richtigen Aufschluss nur fttr die Periode, welche
mehrere Tage nach der Operation folgt.
Ueber das Verhalten der sensiblen Fasem konnten wir uns
genaueres Urtheil verschaffen, indem wir die centralen Stumpfe
der blossgelegten Nervenstamme unmittelbar reizten. Dabei erwies sich,
wie schon erwahnt, nur bei einem Kaninchen (von dreien) der N.
peroneus schmerzhaffc, die anderen Nerven dieses, wie der anderen
Thiere, hatten ihre Empfindlichkeit resp. Schmerzleitungsvermogen
vollkommen eingebtisst.
Was die motorischen Nervenfasern betrifft,so hat schon Scheffer 25 )
behauptet, dass dieselben intact bleiben, wahrend nur ihre letzten
Endigungen durchIschamie geschadigtwerden. DieseAnsichtScheffer’s
grftndete sich auf der Thatsache, dass die direkte Reizbarkeit der Mu skein
bei Ischamie in seinen Fallen grosser war, als die indirekte.
Es ist jedoch sehr zweifelhaft, ob dieser Erwagung grosse Be-
weiskrafk zuzuschreiben sei. Die neuesten physiologischen Unter-
suchungen von A. Herzen 8b ) zeigen, dass die directe Muskelerregbarkeit
in diesem Falle falsch aufgefasst worden ist und keineswegs durch
frfiheres Absterben der motorischen Platten bedingt ist. Diese Er-
scheinung steht nach der Ansicht Herzen's im Zusammenhang mit
starker Herabsetzung directer Erregbarkeit und Leitungsfahigkeit des
wegen Anamie absterbenden Nerven und hangt vom erhdhten Wider-
stande desselben fQr elektrische Strome ab. In Folge dessen erfolgen
die Contractionen des Muskels nur dann, wenn die Reizung des Nerven
in nachster Nahe vom Muskel geschieht, dagegen bleiben sie aus, wenn
sich eine solche Reizung in weiter Entfemung von dem Muskel voll-
zieht, und dies darum, weil in Folge der herabgesetzten Erregbarkeit
des Nerven die Reize nicht stark genug werden und der Nerv fttr
gewohnliche physiologische Strome auf langeren Strecken vollkommen
gesperrt erscheint. Ganz im Gegentheil geht aus Herzen’s Andeu-
tungen hervor, dass die motorischen Endigungen der Nerven spater als
andere Theile des Nervenstammes absterben. Anderseits bei einfacher
Neuritis z. B., wo zuerst die Nervenfasern des Stammes und nicht die
letzten motorischen Endigungen desselben degeneriren, kann sich die Ent-
artungsreaction eben auch in starkem Sinken der indirecten Erregbarkeit
und in weniger geschwachter directer Erregbarkeit zeigen. Die mikro-
skopische Untersuchung zeigte in unseren Fallen schon am 6. Tage nach
Unterbindung der Arteria eine so erhebliche Degeneration der Nerven¬
fasern, dass wir wirklich keinen triftigen Grund daftir haben, dieselben
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Ueber acute ischamische Lahmung nebet Bemerkungen etc.
341
ftir geschGtzt yon einer schadlichen Beeinflussung seitens der Ischamie zu
halten. Im Gegentheil konnte man daran glauben, dass diese Fasern
schon in den ersten Stunden der Lahmung anatomisch mehr oder
weniger geschadigt waren.
Als nachstliegende Ursache aller dieser erwahnten Yeranderungen
muss man, da die andem moglichen localen Bedingungen wie Trauma,
Hautgangran, Geschwure u. s. w. fehlten, locale Ischamie betrachten.
Die Wirkung der Ischamie ausserte sich unter anderem auch in
Quellung verschiedener Gewebe. Wie gesagt, es sind Mukelfasem, ihre
Kerne, die Kerne derSchwan'schenScheide und die der Nervenscheiden
in gequollenem Zustande gefunden worden. Hochst wahrscheinlich
sollten auch die Bindegewebsbestandtheile der Nervenscheide ange-
schwollen sein, leider wurde diese Yermuthung mikroskopisch nicht
ganz deutlich bewiesen.
Wicbtig ist, dass auch die Schwan'schen Kerne angeschwollen
waren. Ihre Verdickung ist, wie es die Beobachtungen von Meyer
und Ranvier gezeigt haben, ein mechaniscbes Moment, welGhes auf
Myelinscheide und Axencylinder zerstOrend wirkt. Die letzteren Gebilde
werden, indem sie durch stark aufgetriebene Kerne zusammengedrttckt
werden, zur Zerbrockelung und Unterbrechung gebracht, und gleich-
zeitig wird auch die ganze Nervenfaser zerstort
In unseren Beobachtungen ging offenbar die Schwellung der
genannten Kerne der Unterbrechung des Axencylinders und dem Zerfall
der Myelinscheide voraus. Jedenfalls wurden die Schwan'schen
Kerne dort am starksten verdickt gesehen, wo auch Myelin und Axen¬
cylinder auf dem Wege zum Zerfall oder schon in zerbrockeltem Zu¬
stande in grossen und kleinen Schollen aufgefunden wurden, an anderen
Stellen dagegen, wo diese Kerne nicht so stark verdickt waren, zeigten
weder Myelinscheide noch Axencylinder ahnlich starke Veranderungen.
Solche Befunde lassen den Schluss ziehen, dass diese Schwellung
der Kerne, indem sie einerseits ein Symptom des Nervenfasernabsterbens
und ein Zeichen der Reaction auf schadliche Einflttsse darstellt, ander-
seits gleichzeitig auf eine ganz mechanische Weise den Verfall der
Nervenfasern befordert.
Es mag sein, dass der komige Zerfall der ausseren Schichten der
Myelinscheide (bei kurzdauernder Ischamie) durch andere ebenso
mechanische Momente hervorgerufen wird, namlich durch gleich-
massiges Zusammendrticken der Nervenfasern bei zu vermuthendem
Quellen und Anschwellen des Endo- und Perineurium. Es ist endlich
sehr moglich, dass Ischamie auch direct auf die Nervenfasern gewirkt
hat, da die Ernahrung der Nervenfasern bei Blutmangel sehr stark
geschadigt werden soli.
23*
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342
XXI. Lapinsky
III.
Die Resultate unserer Beobachtungen stimmen nicht mit denen
deijenigen Autoren tiberein, die eine Ischamie durch Umschniirung
der ganzen Extremitat en masse hervorgerufen haben.
Beobachtungen von Volk-
mann, Leser, Henle, Hilde-
brandt, Petersen, Davidsohn,
Sonnenkalb und anderen.
Die Temperatur der Extre¬
mitat in der Mehrzahl der Falle
nicht vermerkt; in einigen Fallen
wird sie wahrend der Umschniirung
leicht herabgesetzt gefunden; die
Dauer der Umschniirung nicht
notirt Vom Pulse bei Einsetzen der
Ischamie wird nicht gesprochen.
Die passive Beweglichkeit ist
in alien Fallen (der Fall Bern¬
hardt und Leser ausgenommen)
in Folge der Contractur einiger
Muskelgruppen sehr erschweri
Die Extremitat ist angeschwollen;
Muskeln sind hart und schmerzhaft
beim Drucken.
In den Fallen, wo darnach
gefahndet wurde, erwies sich die
Hautsensibilitat (mit einigen Aus-
nahmen) unverandert.
Beziiglich der Reflexe sind
in der Mehrzahl der Falle keine
Befunde vermerkt. In einigen Fal¬
len (Sternberg, Fleury)schwan-
den die Reflexe schon 6—14Minu-
ten nach Anlegen des Bandes.
In einer geringen Zahl von
Fallen wird ein Sinken der elek-
Eigene Beobachtungen. Falle,
wo collateraler Blutkreislauf 4 bis
5 Tage ausbleibt.
Die Temperatur derVersuchs-
extremitat ist im Laufe des 1. bis
5. Tages stark herabgesetzt. Der
Puls ist in der Versuchsextremitat
im Laufe der auf die Operation
folgenden Periode gar nicht zu
ftihlen.
Die passive Beweglichkeit ist
vollkommen unbehindert im Laufe
der 5—14 Tage der auf die Ope¬
ration folgenden Periode. Schwel-
lung der Extremitat nicht vor-
handen. Muskeln sind weich,
resistenzlos, nicht schmerzhaft.
Die Hautsensibilitat ist schon
eine Stunde nach Entstehen der
Ischamie ganzlich erloschen.
Eine Stunde schon nach Ein-
setzea der Ischamie sind alle Re¬
flexe erloschen.
Mit dem Beginn der Ischa¬
mie fallt die elektrische Erreg-
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Ueber acute ischamische Lahmimg nebst Bemerkungen etc. 343
trischen Erregbarkeit gefunden.
In den anderen Fallen wich sie
nicht yon der Norm ab.
Eine mikroskopische Unter-
suchung der Nervenfasern wurde
nicbt vorgenommen.
I barkeit erheblich oder schwindet
I ganzlich.
Die mikroskopische Unter-
suchung zeigte parenchymatSse
Degeneration der Nervenfasern.
Denselben Unterschied stellen unsere Falle mit kurzer Dauer der
Ischamie dar. Auch hier in den ersten Stunden resp. Tagen der Lah-
mung war die Paralyse eine schlaffe. Keine Spur von Contractur wurde
dabei beobachtet. Die Muskelu haben ihren Tonus verloren, waren
gegen Druck schmerzlos, und weder hart noch angeschwollen. Die
Sensibilitat des ischamischen Korpergebietes und seine Haut- und
Sehnenreflexe waren erloschen. Die elektrische Erregbarkeit der
Nerven und Muskeln war gesunken u. s. w.
Die Verschiedenheitzwischen diesen zwei zu vergleichenden Gruppen
scheint aber noch grosser, weil die Symptomatology der Volkmann-
schen Gruppe ziemlich unbestandig ist und die casuistischen Falle
ihrerseits voneinander abweichen.
Die Ursache eines solch grossen Unterschiedes zwischen diesen
zwei zu vergleichenden Beobachtungsreihen ist mit grosster Wahrschein-
lichkeit in der Aetiologie der LahmungsentwickluDg und deren be-
gleitenden Momente zu suchen.
Ob eine wirklich starke Ischamie in den Fallen der ersten Gruppe
stattfand, ist nicht besonders deutlich. Sind fur das Vorhandensein
einer Ischamie Momente massgebend, wie die Temperatur des betroffenen
Korpertheiles, die Hauptfarbe desselben, die Blutfiille in den Gefassen,
Turgor der Gewebe, so sind in dieser Richtung die Krankeitsgeschichten
resp. die liber die Versuche geftthrten Protokolle und die Berichte ftir
die spatere Periode der Paralyse hochst mangelhaft.
In seinen klinischen Beobachtungen spricht Leser tiber die Tem¬
peratur der paralysirten Extremitat nur in dem Status eines einzigen
Falles. Unter seinen sieben Krankengeschichten wird nur in einem
Falle vom Puls gesprochen, doch kann man aus der kurzen Phrase:
„Puls kaum fiihlbar an der a. radialis a S. 2095) nur den Schluss zieben,
dass die Ischamie nicht wesentlich war, da ja der Puls der a. radialis,
wenn auch undeutlich, doch zu ftihlen war. Dasselbe gilt auch im
Falle von Petersen, der von seinem Patienten: „Radialpuls ist nicht
deutlich zu ftihlen 44 (S. 676) spricht. Von alien tibrigen hier angefuhrten
Autoren (mit Ausnahme Niesen's) ist keine Aufmerksamkeit auf diesen
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XXI. Lapinsky
Umstand gelenkt worden. Ebenso sind keine Hinweise darauf vor-
handen, von welcher Dauer die Ischamie in ihren Fallen anzunehmen war.
In Anbetracht dessen ist es nicht ganz klar, warum die Autoren
die von ihnen erwahnten pathologischen Erscheinungen ausschliesslich
der Ischamie zuschreiben. In den Fallen wenigstens, wo die Binde
nicht fest genug lag, so dass der Arterienpuls noch fUhlbar war, ist es
auch moglich, die local dauemdeStockung des venosen Blutes anzunehmen.
Es ist auch gar nicht auf die starken Circulations- und Blutversor-
gungsschwankungen geachtet worden, welche in der wirklich ischami-
schen Extremitat gleich nach der Abnahme des fest angelegten
Verbandes stattfinden sollte. Zu dieser Zeit erreichen ja, nach Lesers
Experimenten (Seite 340) zu urtheilen, die Schwellung, Harte, Rigiditat,
Schmerzempfindlichkeit und Contractur der Muskeln ihren hochsten
Punkt. Und zu diesem Zeitpunkt, namlich gleich nach Entfernung
der Hindernisse, strbmt das Blut in grosserer Menge in die Gefasse,
deren Wandtonus in Folge von Anamie (Roy-Graham*) und StSrung
der Nervenstamme (Tigerstedt**) — S. 475) aufgehoben ist und
deren Lumen stark erweitert bleibt. Diese frische Blutmasse tragt,
nach Litten 13 ), Heidelberg 8 ), Molitor 18 ), Lorenz 15 ) und A., der
ischamischen Musculatur eine grosse Schadigung, sogar Zerstorung ihrer
Fasern bei und kann eine starke Reaction von der Seite der gescha-
digten Gewebe hervorrufen, was sich durch gesteigerte Temperatur,
.Empfindlichkeit der Muskeln, Schwellung, Harte und in Form von
Contractur aussern kann.
Auch in dem Falle, wo die Binde die Extremitat nicht zu fest
umschniirte, so dass nur der Abfluss des venosen Blutes verhindert
wurde, konnte das stockende venose Blut (nach Lorenz und A.) in der
Musculatur fthnliche Storungen erzeugen.
Es ware sehr schwer, diese letzten Processe in Folge von grossem
Zufluss der frischen Blutmasse und Stockung des venosen Blutes
als ischamischer Natur zu qualificiren.
Man muss ausserdem eine Moglichkeit der traumatischen Schadi¬
gung der Nerven und Muskeln bei den chirurgischen resp. experimen-
tellen Verbande in Acht nehmen. Bei Umschnttrung der Extremitat
en masse, wie es in diesen Beobachtungen der Fall war, entweder
durch irgend eine chirurgische Binde oder durch den Esmarch’schen
Schlauch oder vermittelst einer anderen chirurgischen Einrichtung,
theilt sich der verursachte Druck alien Gebilden des gegebenen Korper-
theiles mit; einerseits entsteht daher acute Ischamie, indem die Gefasse
*) Roy-Graham, Neue Methode den Blutdruck zu messen. Pfluger 7 s
Jirch. 1878. S. 158.
**) Tigerstedt, Physiologie des Blutkreislaufes. Leipzig 1893.
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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc.
345
ihr Lumen plotzlich verlieren, andererseits aber erleiden die Muskeln
und Nerven eine Quetschung. Die Experimente von Leser 14 ), Heidel-
berg 8 ), Volkmann 28 ), habennamlichgezeigt, dassdie zuletzt erwahnten
Korpergebilde bei solchen Umstanden stark ladirt werden konnen; sogar
Continuitatstrennung der Nervenstamme kann dabei vorkommen. Aus
den angeffthrten Untersuchungen Neugebauer's 20 ) geht hervor, dass
auch die nicht allzufest gelegte Binde die Nervenstamme zusammendrfickt
und als Folge davon wird die Leitung der Willensimpulse und der
elektrischen Reizungen durch solche Nerven vollkommen verhindert.
Eine solche Art von Nervendrucklahmung kann also hier auch an-
genommen werden.
So complicirt erscheint die Aetiologie in den Fallen, die den
Volkmann’schen Beobachtungen angereiht sind. Die grosse Mannig-
faltigkeit und Unbestandigkeit der Symptome dieser Gruppe lassen sich
durch die Mannigfaltigkeit der Ursachen erklaren, und hangen wahr-
scheinlich von der Unbestandigkeit der schadlichen Momente ab.
Dagegen ist die Aetiologie der Lahmung bei den Kaninchen
in unseren Beobachtungen einfach; dort war nur die unstreitbare
lschamie vorhanden, deren schadlichem Einflusse alle Lahmungs-
erscheinungen zugeschrieben werden sollten. Jeder Druck auf die
Nerven und Muskeln und andere traumatische Moglichkeiten sind bei
unseren Versuchen vermieden worden. Auch die schadliche Wirkung
des frischen Blutes auf die ischamischen Muskeln fand nur in leichtem
Grade statt, da die Entwicklung des collateralen Kreislaufes entweder
vollkommen ausblieb oder sie nur langsam und allmahlich vor sich
ging; das frische Blut floss in Folge dessen nur in kleiner Menge den
ischamischen Geweben zu und die erwahnte Reaction seitens der Mus¬
keln war deswegen nicht so stttrmisch d. h. gar nicht bemerkbar.
Das sind wahrscheinlich die Griinde, welche den Unterschied
zwischen diesen zwei Reihen von Beobachtungen so evident machen.
Grosse Schwankungen der Blutversorgung und Trauma in der
Yolkmanns-Gruppe heben hauptsachlich die Symptome der Muskel-
storung hervor, und da zu gleicher Zeit die Nervendrucklahmung sich
durch kein anderes Zeichen, als nur durch eine Stoning der moto-
rischen Sphare erkennen lasst, so beherrschen nur die Erscheinungen
der Muskelveranderung das ganze Krankheitsbild.
Im Gegentheil die lschamie bleibt in unseren Beobachtungen sehr
bestandig, verlauft ohne stiirmische Circulationsveranderungen; es fehlen
dabei andere d. h. traumatische Schadigungsmomente und treten hier
zum Vorschein nur Symptome der Nervenstammeaffection hervor.
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XXL Lapinsky
Die Krankheitsbilder unserer Beobachtungen an Kaninchen entr
8prechen mehr der wirklich ischamischen Lahmung, als die in dem
1. Capitel angeftihrten Falle. Diese Experiments lassen ausserdem glauben,
dass die acute ischamische Lahmung gar nicbt ausschliesslich myogener
Natur sei; wenn auch eine Muskelveranderung hier unstreitig vor-
handen ist, sieht man ausserdem auch eine ischamische Affection
der localen Nervenstamme, die unter alien Beziehungen am ersten
Platze steht
Eine ischamische Affection der Nervenstamme ist ttberhaupt durch-
aus zulassig.
Ein solcher Einfluss der acuten Anamie auf die Nervenstamme
lasst sich durch die analogen klinischen und experimentellen Be¬
obachtungen anderer Autoren bestatigen. Die hierher bez&glichen
Falle zeichnen sich durch grosse Einfachheit und Deutlichkeit der
aetiologischen Momente aus. Einerseits lassen sie keinen Zweifel an
dem Bestehen wirklicher Ischamie, andererseits enthalten sie neben
Ischamie keine mechanischen Momente, die ihrerseits einen schadlichen
Einfluss auf die Nerven und Mu skein hatten gewinnen kbnnen (Druck,
Quetschung).
Die hierher gehorigen klinischen Beobachtungen sind schon an
anderer Stelle*) dargelegt worden, man kann sich deshalb hier nur
mit einem kurzen Auszug begntigen.
Die in jenen Fallen von Patry, Leyden, Chvostek, Mankopf,
Langer, Litten, Legroux, Bourgois, Molitor, Dtirr, Schnitzler,
Lap in sky erwahnte Ischamie riihrte her von Embolie, Thrombose,
Lasion der Arterienwand oder Spasmus des Gefasses. In alien dort
angeftihrten Fallen war der Puls der Hauptarterie der Extremitat er-
loschen und das getroffene Korpergebiet ganz kalt geworden. In den
dargelegten Beobachtungen konnte man das Bestehen der Ischamie
klinisch schon in einer sehr frtihen Periode nachweisen. In vielen
Fallen konnte man die gestellte Diagnose durch pathologisch-anatomische
Untersuchung prufen, wobei sich eine vollstandige Sperrung des Ge¬
fasses herausstellte.
Nach eingetretener Ischamie eroffnete sich eine Reihe von Stor-
ungen. Im betroffenen Theile traten Parasthesien und Schmerzen
auf. Die willkiirliche Beweglichkeit der Extremitat wurde schnell ge-
schwacht, um sehr bald ganzlich zu schwinden. Die Extremitat befand
sich dann in completer Paralyse. Die passiven Bewegungen waren indess
unbehindert (Nur in zweien Fallen zeigte sich fur eine kurze Zeit leichter
*) Ueber VeranderuDgen der Nerven bei acuter Stbrung der Blutzufahr.
Dieses Archiv. Bd. XV. S. 364.
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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkuugen etc.
347
Grad yon Contractur. Chvostek, Leyden). Die Sensibilitat war sehr
stark beeintrachtigt; noch im Laufe der ersten Stunde nach eingetretener
Ischamie wurde in den Fallen, wo es verfolgt wurde, eine Herabsetzung
oder anch ein vollkommenes Erloschensein der Sensibilitat gefunden.
Auch die Reflexe konnten da, wo sie untersucht wurden, sehr bald
nicht mehr ausgelost werden. Schon im Laufe von 3 bis 8 Stunden
waren die Haut-, Periostal- und Sehnen-Reflexe erloschen. (Falle
Langer, Lapinsky.)
Die elektrische Reaction der Nerven der betroffenen Extremitat
sank schnell, um sehr bald ganz zu verschwinden.
In f&nf Fallen (Leyden, Langer, Lapinsky, Legroux) bildete
sich sehr bald ein Collateralkreislauf und man konnte dann eine lang-
same, allmahliche Wiederherstellung des raotorischen und sensiblen
Vermogens, der Reflexe und der elektrischen Erregbarkeit wahrnehmen.
In den ubrigen Beobachtungen starben die Patienten noch vor
Bildung eines Collateralkreislaufes oder die Ischamie ftihrte zu localer
Gangran.
In ftinf Fallen, in denen die Ischamie langer als flinf bis sieben
Tage dauerte, konnte eine mikroskopische Untersuchung der Nerven
vorgenommen werden und es zeigte sich dabei parenchymatose Neuritis.
Was die experimentellen Beobachtungen in dieser Richtung be-
trifft, so wurden functionelle Yeranderungen von seiten des Nerven-
sytems bei Ischamie schon von Stannius beobachtet
Dieser Autor unterband bei Kaninchen die a. cruralis und erhielt sehr
bald Parese und Erloschen der Sensibilitat in der experimentirten Extre¬
mitat. Seine Versuche sind indess ein wenig complicirt. Ausser der
a. cruralis unterband er auch die Bauchaorta weshalb neben der Ischamie
der peripheren Nerven, auch eine solche des Riickenmarkes statt hatte.
Weniger complicirt sind in dieser Beziehung die Versuche Scheffers, 25 )
welcher die Aorta an einer Stelle unterband, wo sie nicht mehr an der
Ernahrung des Riickenmarkes theil nimmt. Die Ligatur wurde in seinem
Falle immer gleich oberhalb des Ausgangspunkts der beiden a. a. iliacae
communes angelegt. Schon eine Stunde nach beendigter Operation be-
fanden sich die hinteren Extremitaten in vollstAndiger Paralyse und hatten
jede Sensibilitat verloren. Die directe Reizung der Nervenstamme urn
diese Zeit erwies, dass das Erloschensein der Sensibilitat sich nur auf die
Haut beschrankte; die sensiblen Fasern der Nervenstamme functionirten
noch vollkommen normal und brachten die Schmerzempfindungen dem Thiere
deutlich zum Bewusstsein. Die elektrische Erregbarkeit der motorischen
Nerven erlosch ganzlich schon eine Stunde nach der Operation. Die
directe elektrische Erregbarkeit der Muskeln erhielt sich noch nach der
ersten Stunde der Ischamie; doch schon einige Zeit nach dem endgiltigen
Verschwinden der indirecten elektrischen Reaction erlosch auch die directe
Erregbarkeit der Muskeln. (Die angefiihrten Besonderheiten der sensiblen
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348
XXI. Lapinsky
und motori8chen Functionen erkl&rt der Autor durch Paralyse der feinen
Nervenendigungen in der Haut und in den Muskelfasern. Die Fasern der
Nervenst&mme bleiben nach seiner Ansicht bei Isch&mie ganz unverandert
Durch die Schadigung der letzten Nervenendigungen wird nach Meinung
des Autors gut erkiart, erstens weshalb die Sensibilitat der Haut verloren
geht, wahrend eine Leitung von Schmerzempfindungen noch moglich ist,
und zweitens warum die indirecte elektrische Eeizbarkeit geschwunden 1st,
wahrend die directe noch lange Zeit fortbesteht.)
Zu etwa anderen Schliissen kam Sternberg. 24 ) Dieser Autor legte,
um den Einfluss der Ischamie auf die Reflexe des Kaninchens zu unter-
suchen, eine Ligatnr um die a. cruralis und untersuchte den Stand der
reflektorischen Erregbarkeit der hinteren Extremitat. In einer ganzen
Reihe von Versuchen zeigte es sich, dass schon 10 Minuten nach Anlegung
der Ligatur die Reflexe ganzlich erloschen sind. Auf Grnnd seiner
Experiraente gelangte Sternberg zu dern Schlusse, dass die Ischamie die-
jenigen sensiblen Fasern paralysirt, die am Reflexbogen theilnehmen. (S. 51.)
Diese an Zahl zwar nicht imponirenden klinischen und experimen-
tellen BeobachtungeD bestatigen also die Annahme einer ischamischen
Affection der Nervenstamme in unseren Versuchen.
Beide Reihen der Beobachtungen zeigen, dass der Zustand des
peripheren Nervensystems vom rechtzeitigen Zufluss arteriellen Blutes
abhangt Schon eine kurze Unterbrechung desselben (10 Min. bis
1 Stunde) ist im Stande, grosse Storungen in der Function der Nerven
des betroffenen Korpergebietes hervorzurufen. Das motorische und
sensible Vermogen werden dort gelahmt, die Reflexe sind erloschen.
Die elektrische Erregbarkeit erleidet grosse Storungen, um sogar voll-
standig zu schwinden. Unter dem Mikroskope findet man in solchen
Fallen eine parenchymatose Neuritis.
Schlussfolgerung.
Wird ein Gefass durch eine Ligatur oder durch andere Ursachen
und Einrichtungen gesperrt, die die in der Nahe liegenden Nerven¬
stamme mechanisch nicht schadigen, so kann die dadurch entstandene
acute, mehr als 1 bis 5 Tage dauernde, Stockung der Circulation
eine Lahmung des ischamisch gewordenen Korpergebietes nach sich
ziehen.
Die Affection der motorischen Sphare kann mit schlaffer Paralyse
einhergehen. Die Muskeln konnen weich, nicht rigid und gar nicht
schmerzhaft bleiben. Die Sensibilitat sinkt schnell, um sehr bald
ganzlich zu erloschen. Die Reflexe schwinden. Der elektrische
Strom zeigt eine Herabsetzung oder sogar ein vollstandiges Schwinden
der Erregbarkeit von Seiten der Nerven und Muskeln. Die mikrosko-
pische Untersuchung der Nervenfasern zeigt verschiedene Stadien der
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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc. 349
Degeneration, welche dem Bilde einer parenchymatosen Neuritis
entsprechen.
Solche ischamische Lahmung scheint in den ersten Stunden ihrer
Entwickelung rein neurogen zu sein, bald kommt aber dazu auch
eine Affection der Muskeln.
Der schadliche Einfluss der Ischamie kann ein indirecter und
directer sein. Indirect konnen dabei verschiedene mechanische Momente
entstehen, die auf den Nervenfasern schadlich wirken; acut ange-
schwollene (ischamische) Kerne der Schwan'schen Scheide und auf-
gequollene bindegewebige Elemente der Nervenscheide drttcken die
Nervenfasern zusammen und bringen deren Myelinscheide und Axen-
oylinder zum Zerfall.
Direct kann Ischamie die Ernahrung der Nervenfasern so stark
beeintrachtigen, dass sich eine gewisse Veranderung des Myelins und
<Ier Axencylinder entwickeln kann.
Zum Schluss erftille ich meine angenehme Pflicht, Herrn Professor
Dr. H. Oppenheim meinen tiefsten Dank auszusprechen far seine
liebenswttrdige Gastfreundschaft in seinem Laboratorium.
Literatur.
1) Bernhardt, Neuropathologische Mittheilungen. Arch. f. Psychiat. Bd.XIX.
1888. 8. 515. Fall b. c.
2) Bourgois, Gangrene des membres dans la fi^vre typhoide. Arch. gdn. de
Med. 1857.
3) Chvostek, Ein Fall von ischamischer Lahmung in Folge von Embolie der
a. femoralis. Jahrbuch f. Psychiatr. 1890.
4) Davidsohn, Ueber ischamische Lahmung. Dissertation. Erlangen 1891.
5) Durr, La gangrene complication du cholera. Revue de M£d. 1893.
0) Henle, Ein Fall von ischamischer Contractur. Cntrlblt. f. Chirugie. 1896.
S. 441.
7) Hildebrandt, Ein Fall v. geheilter auf Ischamie beruhender Muskel-
contractur. Deut. Zeitsch. f. Chirurg. 1890.
8a) Heidelberg, Zur Pathologie der quergestreiften Muskeln. Arch. f. exper.
pathol. 1878.
8b) Herzen, A., Une qu&tion prSjudicielle d’electrophysiologie nerveuse II.
Revue Scientifique 1900. 13 Janvier.
9) Fleury, Trepidation 4pileptoide du pied. Revue de M6d6eine. 1884.
10) Lander, Ein Fall v. ischamischer Lahmung durch Embolie einer Armarterie
bewirkt. Jahrbuch d. Wiener k. k. Kranken-Anstalten. 1895.
11) Lapinsky, Ueber Veranderungen der Nerven bei acuter Storung der Blut-
zufuhr. Dieses Archiv. Bd. XV. 1899.
12) Legroux, Art4rite aigue rhumatismalle. Society m6d. des bopitaux. 1884.
13) Litten, Ueber embolische Muskelveranderungen und die Resorption todter
Muskelfasern. Virch. Arch. 1880. Bd. 80.
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350 XXI. Lapinsky, Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc.
14) Leser, Untersuchungen ub. ischamische Muskellahmungen u. Muskel-
contracturen. Vollkman’s Sammlung d. klin. Vortrage. 1884—1886.
15) Lorenz, Ischamische Erkrankung der Muskeln. Nothnagel’s Sammlung. 1898.
16) Leyden, Ueber einen Fall v. Trombose der A. poplitea sinistra. Berl. klin.
Wochenschr. 1890. Nr. 14.
17) Mankopf, Ueb. peripherische ischamische Lahmung. Ctrlblt. f. Nerven-
heilk. 1878.
18) Molitor, Ueb. die mit Zerreissung des A. brachialis complicirten Luxationen
des Ellenbogengelenks u. die dabei vollkommenen ischamisch. Muskel-
veranderungen. Beitr. z. klin. Chirur. 1889. Bd. V.
19) Niesen, Ischamische Muskellahmung u. Muskelcontractur in Verbindung
mit Sensibilitatsstorungen. Deutsch. med. Wochenschr. 1890. S. 786.
20) Neugebauer, Zur Kenntniss der Lahmungen nach elastisch. UmschnQrung
der Extremitat Zeitschr. f. Heilkunde. 1896. Bd. XVII.
21) Pa try, Gangrene des membres dans la fifcvre typhoide. Arch. g6n. de
m4d. 1863.
22) Petersen, Ueb. ischamische Muskellahmung. Arch. f. klin. Chirurg. Bd. 37.
1888. 8. 675.
23) Sonnenkalb, Ein Fall v. ischamisch. Muskellahmung in Verbindung mit
Sensibilitatsst&rung. Deutsch. med. Wochenschr. 1885. 8. 273.
24) Sternberg, Die Sehnenreflexe u. ihre Bedeutung. Wien 1893.
25) Scheffer, Ueb. die Bedeutung der Stenon’schen Versuche. Ctrlbl. med.
Wissensch. 1896. S. 579.
26) Stannius, Untereuchungen ub. Leistungsfahigkeit der Muskeln u. Todten-
starre. Arch. f. physiolog. Heilkunde. 1890.
27) Volkmann, a) Centrlbl. f. Chirurgie. 1881. S. 801. Die ischamische Lah¬
mung. b) Handbuch der Chirurgie. Pitha-Bilroth H. 21. 1882. S. 846.
28) Volkmann, Ueb. die Regeneration des quergestreiften Muskelgewebes.
Ziegler’s Beitr&ge der Anatomie. 1893.
Erkl&rnng der Abbildungen auf Tafel Y.
Fig. 1. Langsschnitt des N. peroneus vom Kaninchen (HI), welches am sechsten
Tage getodtet wurde. Der collaterale Blutkreislauf entwickelte sich am
Ende des vierten Tages. Myelinscheide ist in kleinere (a) und grOssere (b)
Krumchen zerfallen Oder vollkommen verschwunden (c). (Farbung,
Osmiumsaure, 1 Proc.)
Fig. 2. Querschnitt des N. cruralis am zehnten Tage nach Unterbindung A. A.
Iliaca communis et hyppogastrica. Der collaterale Blutkreislauf blieb in
diesem Falle (I) fQnf Tage aus. Die Myelinscheide ist nur an wenigen
Nervenfasern erhalten. Meistentheils ist sie zerfallen oder geschwunden.
(Farbung: Osmiumsaure, 1 Proc.)
Fig. 3. Langsschnitt des N. cruralis am 14. Tage nach Unterbindung der
a. Iliaca communis. Der collaterale Blutkreislauf entwickelte sich bei
diesem Kaninchen (VI) am zweiten Tage. Myelinscheide ist uberall
erhalten; an einigen Fasem ist sie in grosse Krflmchen zerfallen (a).
An anderen ist sie sehr kornig und enthalt feinste staubartige Kfigelchen
an der Oberflache. (Farbung: Osmiumsaure, 1 Proc.)
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XXII.
Ueber Ver&ndenmgen im Centralnervensysteni in einem
Fall todtlicher Blasenblutnng. 1 )
Yon
Dr. Albert Ransohoff,
Assifltenzarzt in Stephansfeld.
(Mifc 4 Abbildungen im Text.)
Der Erkrankungsfall, liber den ich berichten werde, schliesst sich
im aligemeinen jener Gruppe von Rttckenmarksaffectionen an, die zu-
erst von Minn ich 2 ) als Frfihformen der bei pernicioser Anamie voi>
kommenden Strangerkrankungen erkannt worden sind. Zwar waren
schon vorher von Fr. Schulze 3 ) bei Nephritis und Leukamie Ver-
anderungen im Rttckenmark beobachtet worden, die den spater ge-
fundenen bei Anamie jedenfalls sehr ahnlich waren und als deren Ur-
sache der Autor „Emahrungsstorungen im Axencylinder" ansah. Spater
hat dann aber Minn ich an einer Reihe von Fallen pernicioser Anamie
sowohl die bereits von Lichtheim 4 ) beschriebenen vorgeschrittenen
Formen — strangformige Degeneration, z. Th. unter dem Bild der
Hinterseitenstrangsklerose — wie die Frtthformen — multiple frische
Degenerationsherde der Axencylinder in erschopfender Weise ge-
schildert und ihren Zusammenhang klargelegi Yon spateren Be-
obachtern sind dann auch die Veranderungen der grauen Substanz
des Ruckenmarks eingehend studirt worden, so in jttngster Zeit von
Boedeker und Juliusburger, 5 ) vorher schon von Teichmttller 6 )
und von Rothmann. 7 ) Letzterer Autor glaubte sogar in der
Affection der grauen Substanz das ursprflngliche, die Strangdegeneration
veranlassende Moment sehen zu sollen, hat aber neuerdings 8 ) seine
1) Nach einem auf der XXX. Jahresversammlung sudwestdeutscher Irren-
arzte gehaltenen Vortrag.
2) Dt. Zeitschrift fdr klin. Medizin. Bd. 22 u. 23.
3) Neurolog. Central bl. 1884.
4) Verhandl. d. Congresses f. innere Medicin. 1887.
5) Arch. f. Psych. Bd. 30.
6) JDt. Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 8.
7) ibid. Bd. 7.
8) Berl. Gresellsch. f. Psych. Ref. Berl. klin. Woch. 1899. Nr. 35.
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352
XXII. Kansohoff
von anderer Seite nicht getheilte Meinung zurfickgezogen. Eben so
wenig scheint die Hypothese Teichmttller’s, der Blutungen in die
Rfickenmarksubstanz als die Primarerschein ungen anschuldigte, An-
hanger gefunden zu haben.
Dem gegeniiber ist die von Minnich aufgestellte Hypothese, dass
die von ihm mehrfach beobacbtete Veranderung der Gefasswande eine
wesentliche Rolle bei der Entstehung der frischen Herde spiele, von
PetrSn, 1 ) Nonne 2 ), sowie durch zahlreiche, hauptsachlich chronische
Falle betreffende Einzeldarstellungen unterstfitzt worden.
Besonders Nonne verfftgt fiber ein aussordentlich reichbaltiges
Material, das ein weites Gebiet von vereinzelten Degenerationsherden
bis zu ausgedehnter Strangsklerose umfasst.
Im allgemeinen herrscht bei den Autoren die Ansicht vor, dass
die Rfickenmarkserkrankung nicht die Folge der veranderten Blutbe-
schaffenheit, der Anamie sei; es soli vielmehr die eine wie die andere
durch eine gleiche Krankheitsursache, eventuell durch ein hypothe-
tisches Toxin hervorgerufen werden. Dabei hat sich jedoch die ur-
sprttngliche Annahme, dass nur bei der pemiciosen „essentiellen u Anamie
das Rfickenmark betheiligt sei, nicht aufrecht halten lassen; man fand
bald, dass auch bei anderen letalen, sekundaren Anamien (z. B.
nach Nephritis) dieselben Erscheinungen im Rfickenmark auftreten
konnen. Es liess sich dieser Befund mit der erwahnten Toxinhypo-
these wohl noch vereinigen; eine weitere Stfitze derselben sah man
darin, dass sog. einfache Anamien nach Blutungen einen Effekt auf
das Rfickenmark nicht auszufiben schienen. Nonne hebt dies noch
in seiner letzten Arbeit hervor und berichtet gleichzeitig, dass die
Untersuchung des Rfickenmarkes von drei an acuter, resp. chronischer
Blutung zu Grunde gegangenen Personen Erkrankungserscheinungen
nicht gezeigt habe.
Es war mir daher eine Ueberraschung, als ich auf der Suche
nach Ganglienzelldegenerationen des Rfickenmarkes in einem ent-
sprechenden Fall auch auf intensive Axencylinderschwellungen stiess.
Da sich auch im Grosshirn, das bisher von fast alien Untersuchem
vernachlassigt war, Veranderungen fanden, schien mir die Beobachtung
Interesse genug zu bieten, um fiber sie hier zu berichten.
Die Krankengeschichte unserer Patientin liess einen solchen Be¬
fund nicht voraussehen.
1) a) Ref. im Neurolog. Centralbl. 1896. b) Dfc. Zeitschr. f. Nervenheilk.
Bd. 14.
2) a) Arch. f. Psych. Bd. 25. b) Neurolog. Centralbl. 1896. c) und d) Dt
Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 6 u. 12.
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Ueb. VeranderuDgen i. Centralnervensystem i. einem Fall todtl. Blasenblutung. 353
Die 66jfihrige, seit 43 Jahren in Stephansfeld verpflegte imbecile
Anna Wichmann hatte seit langeren Jahren ernste akute Oder chronische
Krankheiten nicht darchgemacht. Ein mfissiger Grad von Sklerose der
Radialarterien wird als pathologisch nicht anznsehen sein. Am 27. Mai 1899
meldet sie dem Arzt bei der Visite, dass sie Bint ans den Genitalien ver-
yerliere; anf Befragen giebt sie noch an, dass sie vor etwa 4 Wochen
schon einmal einen Blntverlast gehabt, aber gewnsst habe, das zn ver-
bergen. Gestern Abend habe dann die Blntung wieder begonnen; fiber die
Herkunft des Blntes weiss sie selbst nichts anszusagen; es wird konstatirt,
dass dasselbe mit dem Urin abgeht. Patient sieht blass ans nnd fUhlt sich
schwach. Sie war bis zn diesem Tage bei vfilligem Wohlbeiinden nnd eine
verhaltnissmfissig rhstige Arbeiterin gewesen.
Alle Versnche, die Blntnng zum Stehen zn bringen, misslangen. Der
Urin, dessen Entleernng nicht behindert war, zeigte danernd starken Blnt-
gehalt. Trotz reichlichster Nabmngsanfnahme ging der Kraftezustand rapid
zurfick. Vom 1. Jnni an wird die Kranke leicht benommen, kann aber
noch dnrch Anrnf oder Beriihmng geweckt werden. Sonstige Stfirungen
yon seiten des Nervensystems traten nicht hervor (eine eingehende, daranf
fahndende Untersnchnng fand allerdings nicht statt). Am 3. nnd 5. Jnni
trat je eine mftssige Temperatnrsteigerung (bis 38,8°) anf. Der Sopor
nimxnt zn, die Kranke lasst nnter sich nnd ist nnr mit Mhhe noch zn
wecken. Am 5. Jnni fanden sich Herzschwache, Oedeme, Ernahrungs-
stfirungen der Haut an den Drnckstellen ein. In der Nacht vom 6./7. Jnni,
also am 11. Tage nach Beginn der Blntung erfolgte der Exitus letalis,
nachdem die wieder normale Temperatur nochmals anf 38,0 0 an-
gestiegen war.
Die 8 h. p. m. vorgenommene Antopsie ergab — ansser nebensfick-
lichen Befunden — starke Anamie aller Organe; eine fast wallnussgrosse,
oberflachlich zerfallene Geschwnlst der Blasenschleimhaut mit localen kleinen
Metastasen, beginnende Lnngenhypostase, keine wesentliche Arteriosklerose.
Besonders haben die Arterien der Hirnbasis durchweg zarte Wandnngen.
Das Centralnervensystem nimmt an der allgemeinen Anamie theil, zeigt im
fibrigen makroskopisch nichts anffallendes. Die Eonsistenz, anch des Rticken-
marks, ist eine gnte.
Der Blasentumor erwies sich als ein papiliares Carcinom.
Vom Rnckenmark wurden 3 kleinere Stiickchen in Alkohol, eine An-
zahl grSsserer nnd kleinerer ans verschiedenen Hfihen circa 14 Tage in
Mftller-Formol gehartet nnd dann nach Einbettung in Celloidin geschnitten.
Leider habe ich es versaumt, die Stticke vor der Einbettung mit Osmium-
sfinre zn behandeln, so dass ich der Marchi’schen Methods entbehren
musste. Im fibrigen habe ich mich folgender Farbemethoden hauptsachlich
bedient: der ThioninfUrbnng nach von Lenhossek znr Darstellnng der
Ganglienzellen; der Glia- nnd Axencylinderfarbung nach Mallory nnd nach
van Gieson; znr Kernfarbung vorzngsweise der Behandlnng mit Alaun-
hamatoxylin nnd verdiinnter Pikrinsaure. Znr Markscheidenfarbnng diente
nach vorausgegangener Chrombeize die PaPsche Methode, sowie die ohne
Chromining vornehmbare Farbnng mit dem Mallory’schen Hamatoxylin-
gemisch.
Die im Gehim erhobenen Befnnde sollen weiter nnten besprochen
werden; ich berichte znnachst im Zusammenhang fiber das Rnckenmark nnd
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354
XXII. Ransohoff
will jene Veranderungen vorwegnehmen, die sich in der grauen Sub-
stanz zeigen.
Dieselben sind sehr verbreitet, aber weder hochgradig, noch irgendwie
charakteristisch. So treten im ganzen Verlanf des Rtickenmarks multiple
kleine und kleinste Blntungen besonders in den Vorderhdrnern, aber anch
in den Hinterhornern auf, wahrend die Umgebnng des Centralkanals an
alien untersnchten Schnitten verschont war. Eine einzige etwas grossere,
makroskopisch nach der H&rtung als dnnkler Pnnkt eben sichtbare fiel im
Halsmark anf. Sie lag hier dem dorsalen Rand des einen Vorderhornes an
and dehnte sich bis in den Processas reticularis aus; anch auf anderen
Schnitten schien diese Gegend die am meisten von Blntungen heimgesuchte
zu sein. Sammtliche Blntungen sind ganz friscb T enthalten nur unver&nderte
rothe Blutkorperchen und lassen eine irgend erhebliche Reaction des Ge-
webes, das sie einfach verdrangt zu haben scheinen, nicht erkennen, weder
durch Degenerationsprocesse, noch durch Kernvermehrung. Stellenweise
liegen zwischen den rothen Blutkorperchen allerdings zahlreiche Rundzellen;
dieselben erweisen sich jedoch fast ausschliesslich als polynuclear, so dass
sie aus dem Blut selbst stammen diirften.
Ganglienzellen und Nervenfasern in der Nachbarschaft der Blntungen
unterscheiden sich in nichts von entfernter liegenden. Veranderungen an den
Fasern der grauen Substanz habe ich iiberhaupt nicht konstatiren konnen.
Auch die Zellen sind zur grosseren H&lfte als normal zu bezeichnen und
zeigen bei Thioninfarbung distinkte und regelm&ssig angeordnete Granula.
Es linden sich jedoch auch iiberall in den Vorderhdrnern regellos zerstreat
mehr oder weniger schwer ver&nderte Ganglienzellen: betrkchtliche Schwel-
lung — bis zu dem doppelten Volum der benachbarten —, Auflosung der
Granula in feine Staubchen in ihren verschiedenen Stadien, Abrundung der
Zellen und wandstandige Kerne sind die zu beobachtenden Veranderungen.
Schrumpfung der Zellen und gleichmassig diffuse Blaufarbung des Proto¬
plasmas habe ich dagegen nirgends gesehen. Wenn ich noch erwahne, dass
die Zellkerne an Hamatoxylinpraparaten vielfach ein verwaschenes Aussehen
zeigen, das Kernkorperchen in ihnen grosser ist, unregelmassig geformt und
zugleich etwas blasser als an anderen Zellen, so sind damit die beobachteten
pathologischen Momente in der grauen Substanz erschopft.
Als ein Charakteristikum der vorliegenden Erkrankung kann wohl
keiner dieser Processe angesehen werden. Kleine Blntungen in die Riicken-
markssubstanz sind bei Circulationsstorungen ja kein seltenes Vorkommniss
und ohne pathologische Bedeutung, wenn sie auch bei den mit Blutdiathese
verbundenen Leiden hfiufiger vorkommen mogen. Die beobachteten Zell*
veranderungen lassen allerdings den Schluss auf eine Ernahrungsstdrang
zu. Das passagere leichte Fieber kann kaum als ihre Ursache betrachtet
werden; da ich sie aber mehrfach auch an anderen Riickenmarken gesehen
habe — so in einem Fall von Skorbut, sowie bei einem fieberlos ad exitum
gekommenen Ileus — lege ich ihnen keine grossere Bedeutung bei. Ich
verzichte daher auf einen Vergleich mit den von Boedeker und Julius*
burger gefundenen tiefergreifenden Veranderungen bei perniciflser Anamie,
wie sie spater auch von Nonne bestatigt worden sind.
In der weissen Riickenmarkssubstanz ergab die Untersuchung
als das wesentliche Moment kleine Herdchen, von denen die grossten an
gefarbten Praparaten schon makroskopisch als blasse Fleckchen auffalleiL
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Deb. Verandenmgen i. Centralnervensystem i. einem Fall todtl. Blasenblutung. 355
Die Herdchen sind sehr zahlreich and werden kanm auf einem Qnerschnitt
vermisst Sie bevorzugen im allgemeinen die Hinterstrange, liegen in den
Vorderstrangen nur in der Nachbarschaft der Fissara longitud. anter., fehlen
ganz nnr in den vorderen Partien der Seitenstrange. Ibre Grosse wechselt
von solchen die nnr ans wenigen Faserqnerschnitten bestehen, bis zu Herden,
die etwa die Halfte der Tiefe der Hinterstrange betreffen. Wo sie nicht
konfluirt sind, ist ihre Form anf dem Qnerschnitt annahernd kreisfbrmig,
anf dem Langsschnitt spindelig, der Hohendnrchmesser iibertrifft dabei die
Qnerdnrchmesser nm das Vielfache.
Ihre topographische Vertheilung ist nnn die folgende:
1. Im Halsmark sind ganz besonders die Hinterstrange in Mitleiden-
schaft gezogen. Hier liegen auch die grossten Herde, die offenbar dnrch
Konflniren benachbarter entstanden sind. Es finden sich dieselben beider-
seits — wenn ancb auf dem einzelnen Querschnitt nnr einseitig — im An¬
schluss an ein grbsseres Septum im
Gebiet der mittleren Wurzelzone.
Gleichzeitig treten kleinere auf, mebr
nach der Spitze der Hinterstrange
zu gelegen, sowie unmittelbar am
Septum medianum und in scheinbar
unregelmassiger Zerstreuung im
ubrigen Theil der Hinterstrange. Eine
Beziehung zu grbsseren Septen lasst
sich an alien daraufhin (eventuell an
Serien) untersuchten feststellen. Nicht
selten sind auf einem Querschnitt
3—4 solcher Herdchen sichtbar.
Daneben sind auch die Seiten-
strange ergriffen, w ah rend ich die Vor-
derstrange im Halsmark nicht bethel-
ligt gefanden babe. Ziemlich betracht-
liche Herde liegen in den Hinterseiten-
strangen, etwa den Pyramidenbahnen
entsprechend, ebenfalls uberall im An¬
schluss an grdssere Septen, und ganz
kleine im Gebiet der Kleinhirnseitenstrangbahnen und des Gowers’schen
Bund els. Diese letzteren sind in besonders scharfer Weise gegen die Urn-
gebung abgegrenzt. Nirgends reichen die Herde bis an die Peripherie des
Marks oder die graue Substanz, sondern sind uberall noch von einer mehr
oder weniger starken Schicht normaler Fasern umgeben. Von der Basis
der Hinterstrange bleiben sie uberall weit entfernt.
2. ImBrustmark sind die Herde im allgemeinen wesentlich kleiner;
die Bevorzugung der Hinterstrange tritt weniger hervor, aach finden sich
schon zahlreich kleine Herde in den Vorderstrangen.
3. Im unteren Brust- und im Lendenmark finden sich sehr zahl-
reiche, aber durchweg nur kleine, nicht konfluirende Herdchen in Vorder-
und Hinterstrangen, nur sparliche in den Seitenstrangen. In den Vorder-
strfingen liegen die Herde fast ausschliesslich in der Nachbarschaft der
Fissur. Nur an einer Stelle konnte ich einen etwas entfernter liegenden
beobachten, der sich ganz scharf auf ein langsgetroffenes Biindel austreten-
Deutsebe Zeltscbr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 24
Fig. 1.
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356
XXII. Raxsohoff
der vorderer Wurzelfasern, ziemlich dicht an der grauen Substanz, beschrftnkt
and za einer spindeligen Anschwellung dieses Bdndelchens geftihrt hat.
Ansserdem fallen in den Vorderstrangen des Lendenmarks, ganz vereinzelt
auch in den Randpartien der Seitenstrftnge noch Herdcben bei schwacher
Vergrossernng ins Auge, die mit den anderen regellos gemischt sind. Sie
beben sich an van Gieson-Pr¶ten als intensiv rothe Fleckchen mit
unregelmassig gestaltetem blasseren Hof von der Umgebang ab.
Eine besondere Beachtung verdient noch das Bild der Hinterstrftnge.
Einerseits linden sich im Lendenmark an 3 verschiedenen H5hen kleine,
mit Pikrofncbsin sich gleichmassig rothfarbende Partien, die im Anssehen
vbllig der gelatinbsen Substanz gleichen. Eine st&rkere Vergrbssertmg er-
giebt, dass sie ans einer gleichmkssigen Grundsubstanz bestehen, in welche
spkrliche sich kreuzende markhaltige Fasem sowie Zellen eingebettet sind,
von denen einige eine spindelige Form and einen grossen blkschenartigen
Kern besitzen, also wohl Ganglienzellen sein dtirften. Eins dieser Fleckchen
liegt dem medianen Septum an, die beiden anderen sind dnrch eine schmale
Fig. 3.
Briicke mit der Basis des Hinterhorns verbnnden, wahrend das median-
warts gerichtete Ende kolbig angeschwollen ist. Die eine dieser zweifellosen
Heterotopien grauer Substanz umschliesst allseitig den Querdurchschnitt
eines wohl erhaltenen markhaltigen Faserbiindels.
Im iibrigen fallen die Hinterstrange gegeniiber den anderen Gebieten
der weissen Substanz durch ein starkeres Hervortreten der Glia auf. Die
grbsseren Sep ten sind verbreitert und enthalten Gefasse, deren Wandungen
verdickt sind, sich zum Theil auch durch intensiveres Roth — ohne Hyalin-
reaction — bei van Gieson’scher Farbung von der Umgebung abheben.
Auch scheint in der Nachbarschaft der Septen die Glia etwas vermehrt zu
sein, hauptsachlich im Goll’schen Strang. Das geschilderte Aussehen en^
spricht besonders dem Halsmark, wahrend im Dorsal- und Lendentheil die
Veranderungen geringer sind. Eine pathologische Bedeutung mbchte ich
denselben nicht zuschreiben. Sie uberschreiten nicht das Mass dessen, was
man haufig am Riickenmark alter Leute zu sehen bekommt.
Histologischer Befund.
Nach dieser Abschweifung kehre ich zur Schilderung der erwahnten
Herde zuriick. Ihr Bild bei starkerer Vergrbsserung ist sehr charakteristisch:
Fig. 2.
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Ueb. Veranderungen i. Centralnervensystem i. einem Fall tddtl. Blasenblutung. 357
sie bestehen aus gequollenen Nervenfasern und zwar sind es haupts&chlich
die Axencylinder, die eine Veranderung erlitten haben. Dieselben sind enorm
vergrbssert and haben ganz groteske Formen angenommen. Ihre Snbstanz
ist mit den gewohnten Reagentien [Pikrofuchsin, Mallory’sches H&ma-
toxylin, auch Alaunhamatoxylin] noch farbbar; sie bleibt jedoch meist blasser
als die benachbarten normalen Fasern. Man ersieht ihr Verhalten am besten
ans Langsschnitten , l ) anf denen man gnt verfolgen kann, wie die geqnollene
Partie nach beiden Seiten hin in den normalen cylindrischen Faden iiber-
geht. Ich erwahne hier auch, dass an den in Alkohol fixirten Stiickchen
die erkrankten Axencylinder in gleicher Weise darstellbar waren. Anf dem
Qaerschnitt zeigen die Qnellangsmassen oft eine Schichtang in Gestalt eines
donkleren Centrums und helleren von der Markscheide nicht immer zu
trennenden Ringes. Vakuolen und brockliger Zerfall sind hie und da zu
sehen, aber seiten.
Dem gegeniiber ist die Affektion der Markscheide betrachtlich geringer
und macht den Eindruck des sekundaren, als sei die Scheide durch den ge¬
quollenen Axencylinder gedehnt, resp. gesprengt worden. An nach Pal
gefarhten Langsschnitten sieht man die Reste des Marks oft als ein zier-
liches schwarzes Netz die Axencylinder umgeben; auf Querschnitten liegen
hie und da noch diinne Ringe in Gewebsmaschen, aus denen der Axen¬
cylinder ausgefallen zu sein scheint. Die Farbbarkeit des Marks ist er-
halten; der hellere Ton der erkrankten Partien bei schwacher Vergrosserung
kommt bei der Markscheidenfarbung durch das Zuriicktreten der Masse des
1) Auf Querschnitten trifft man haufig einzeln liegende gequollene Axen¬
cylinder, wahrend solche auf Langsschnitten sehr sparlich sind; es erklart sich
das durch die langgestreckte Form der Herde; da die Hohenausdehnung der
Erkrankung der einzelnen Fasern auch desselben Herdes eine verschiedene ist,
trifft man isolirte gequollene Axencylinderquerschnitte weit frilher als den com-
pakten Herd; auf Langsschnitten fallt das natiirlich fort.
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XXII. RAN 80 H 0 FF
Marks gegen die der AxencyUnder zu Stande, ebenso wie bei den die
letzteren und die Glia fUrbenden Methoden durch das Ueberwiegen der
blasseren Qnellungsprodukte.
Die Glia erscheint in den Herden nicht betheiligt; ihre feinfaserige
Struktnr tritt iiberall mit wiinschenswerther Deutlicbkeit hervor. Auf das
Verhalten der Kerne komme ich noch weiter unten zuriick. Gliawucherang
besteht nicht.
Das geschilderte dem Grundtypns der Herde entsprechende Bild findet
sich rein nur in kleinen Herden, besonders in den Randpartien der Seiten-
str&nge. Die grosseren Herde zeigen ein etwas anderes, bon teres Aussehen,
das durch eine schubweise Entwicklnng zu Stande gekommen sein durfte.
In ihnen finden sich auf dem Querschnitt schon zahlreiche Liicken, die
entweder gamichts oder eine kaura farbbare krumlig-kbrnige Masse ent-
halten. Strukturen, wie sie z. B. Boedeker und Juliusburger als netz-
fbrmig gezeichnete Zellen nach Marchi in diesen Lucken darstellen konnten,
habe ich mit meinen F&rbungen nicht gesehen. Auf Lftngsschnitten waren
diese Lucken nicht erkennbar; die am weitesten fortgeschrittenen Partien
lassen hier ein sehr gelockertes, von den gef&rbten Massen nicht vbllig
erfulltes, auseinandergedrangtes Gewebe, aber keine leeren Maschen sehen.
Ich mbchte die letzteren daher als durch Ausfall des Inhalts entstandene
Kunstprodukte ansehen.
In der Peripherie der grbsseren Herde zeigen sich femer, w&hrend die
kleineren aus Faserquellungen ziemlich gleicher Intensitat bestehen, reichlich
gequollene Fasern in frischeren Stadien, zum Theil mit nur geringen Ver-
dickungen, auch noch in die umgebenden normalen Fasern eingestreut, sowie
stellenweise zusammenhangende Massen gleichmassig geschwollener Axen-
cylinder.
Eine besondere Besprechung erfordert noch das Verhalten der zelligen
Elemente. Als bemerkenswerth betrachte ich zunachst das Fehlen von
Kbmchenzellen. Da ich die Marchi’sche Methode nicht anwandte, sind
meine Resultate nicht absolut sicher; doch gelang es mir mit den als
specifisch angegebenen Methoden — Behandlung der Schnitte mit Chrom-
saure und Osmiumsaure, sowie nach Busch mit Alaunharaatoxylin und
concentrirter Pikrinsaure — nicht, auch nur vereinzelte Kbrnchenzellen
darzustellen. Hie und da zeigen sich jedoch auch bei anderen Farbungen
Zellen mit grosserem Protoplasmaleib, die vielleicht ihres Fettes durch die
Alkoholbehandlung beraubte Kornchenzellen sein konnten. In irgend be-
trachtlicher Menge fehlen sie jedoch sicherlich. Corpora amylacea sind in
grossen Mengen vorhanden, in den Herden selbst, wie in den Gefassscheiden,
an der Basis der Hinterstrange, in den austretenden Wurzeln u. s. w. Eine
Bedeutung beanspruchen dieselben kaum.
Einkernige Zellen mit wenig oder gar nicht zu erkennendem Proto-
plasma treten jedoch in fast alien Herden in vermehrter Zahl auf. Ein
Theil derselben mag Glia-, vielleicht auch Gefasskerne vorstellen, die
zwischen den blasseren Massen deutlicher hervortreten. Die Mehrzahl durfte
jedoch eine wirkliche Zellinfiltration vorstellen. Sie finden sich bald um
ein kleineres Gefass angeordnet, bald ohne Beziehung zu einem solchen in
wechseinder Zahl, jedoch meist so reichlich, dass schon bei schwacher Ver-
grbsserung die Haufcheu auffallen. Eine Beziehung der Menge zur Grbsse
des Herdes — abgesehen von ihrem Fehlen in den allerkleinsten — besteht
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Ueb. Yeranderungen i. Centralnervensystem i. einem Fall tbdtl. Blasenblutung. 359
nicht, auch liegen sie nirgends im Centrum, sondern mehr oder weniger der
Peripherie an. Neben ihnen und mit ihnen gemischt linden sich manchmal
— nicht immer — kleinste Blutungen. Dieselben bestehen nur aus unver-
Enderten BlutkBrperchen und Bind zwischen den Fasern gelegen, auch wohl
noch zwischen normalen Fasern der Umgebung. Eine Zertrummerung der
nervdsen Elemente durch die Blutung findet auch hier nicht statt.
Eine genaue Durchmusterung der erwfthnten andersartigen Herde in
den Vorderstr&ngen ergiebt, dass auch diese peripher yon gequollenen
Neryenfasern gebildet werden, die jedoch sp&rlich sind und nicht kompakt
zusammenliegen. Ihr Centrum ist jedesmal ein kleines Gef&ss, das yon einer
homogenen Masse erfiillt ist, die sich mit Fuchsin intensiv roth, mit
Mallory’schem Hematoxylin blauschwarz fSlrbt. Urn das Gefkss herum
sind in eine blassere kornige Substanz zahlreiche rothe Blutkdrperchen und
einkernige Zellen eingebettet. Die Zellanheufung wie die Blutung sind in
diesen Herdchen betrftchtlich starker, als in jenen mit starkerer Faser-
degeneration.
In der Literatur ist auf das Vorkommen yon Blutungen bei den
Rtlckenmarkserkrankungen der Anamischen besonders von Teichmuller
Werth gelegt worden, wahrend Minnich sie als unwesentlich be-
zeichnet hatte. Um Missverstandnisse zu vermeiden, will ich noch
pracisiren, dass ich an meinen Praparaten yon einem Einfluss der
Blutungen, jedenfalls von einer wesentlichen Rolle bei Entstehung der
Degenerationsherde mich nicht tiberzeugen konnte.
Ich habe den — vielfach Bekanntes nur bestatigenden — histo-
logischen Befund so eingehend scbildern zu sollen geglaubt, um dem
Vorwurf einer Verwechslung zu entgehen, die in unserem Fall a priori
nicht unwahrscheinlich war. Ich meine eine Verwechslung mit den
ebenfalls von Minnich zuerst geschilderten Befunden der „hydro-
pischen Erweichung". Es ist von Minnich selbst, neuerdings auch
von Petren darauf hingewiesen, dass solche Verwechslungen nahe
lagen und auch schon vorgekommen seien. Ihre Bedeutung liegt
darin, dass nach Ansicht dieser Autoren die hydropische Erweichung
keine echte Degeneration ist und zum Untergang von Nervenfasern
oder zu einer starkeren Functionsstorung nicht ftthrt. Da es im
Krankheitsverlauf zu einem allgemeinen Oedem, wenn auch erst sub
finem, gekommen war, sehe ich mich veranlasst, auf die meiner An¬
sicht nach principiellen Verschiedenheiten zwischen jenem Process und
dem unsrigen noch einmal hinzuweisen.
Ich werde mich an die von Minnich aufgestellten Merkmale
halten. Eine sicht- oder fQhlbare Erweichung des frischen Rttcken-
markes bestand nicht; die Schneidbarkeit des Organs war auch eine
gute (15—25 (i ohne Schwierigkeit). Die bei dem Oedem auftretende
helle Zeichnung in den Hinterstrangen fehlte gleichfalls (allerdings war
in unserem Fall die altere Bichromathartung nicht angewandt worden,
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XXII. RAN 80 H 0 FF
sondem die Combination mit Formol). Sodann ist die Topographie des
Oedems eine wesentlich andere. Die hydropische Erweichung geht von
der Basis der Hinterstrange aus und afficirt in diffuser Weise die
centralwarts liegenden Partien, schreitet in den Vorder- und Seiten-
strangen ebenfalls in ringformiger Weise nach innen vor. Es ist dies
als das auffalligste Charakteristicum dieser Pseudodegeneration gegen-
uber den Frtlhfallen der Rtickenmarkserkrankungen der Anamie hin-
gestellt, welche letzteren nie den ausgesprochen multiplen Herdcharakter
vermissen liessen; dieser tritt ja auch in unserem Fall evident hervor.
Als histologische Erscheinungen des Oedems gelten die Quellung
der Glia und eine besondere Affection der Markscheide, durch die der
Axencylinder erst sekundar und nie in der bei echter Degeneration
vorkommenden Ausdehnung in Mitleidensckaft gezogen wird. Ich
weise demgegenuber darauf hin, dass in unserm Fall in alien Herden
die Axencylinderquellung das am meisten ins Auge fallende Moment
ist. Auch die Glia ist wohl aus einander gedrangt, aber in ihrer
faserigen Struktur unverandert; auch Veranderung der Gliazellen, wie
sie Minn ich beschrieben hat, habe ich nicht gesehen.
Allerdings fanden sich an meinen Praparaten auch Stellen, die
eine grossere Aehnlichkeit mit der hydropischen Erweichung haben;
es sind das die hinteren Wurzeln. Das Gewebe erscheint hier gelockert,
die Fasern von starkerem Kaliber, bei Pal’scher Farbung tiefblau
statt blauschwarz gefarbt; vereinzelt auch ausgesprochen varicdse
Formen. Es erstreckt sich dieses Phanomen auf die im Austreten
begriffenen Wurzelfasern und die eben ausgetretenen in gleicher Weise;
die entfernter liegenden Btindelquerschnitte sind ebenso unverandert,
wie der weitere intramedullare Teil der Fasern. Ich ersehe aus der
Arbeit von Boedeker und Juliusburger, dass dieselben auch nach
Marchi Erkrankungen der hinteren Wurzeln bei ausgebreiteter Degene¬
ration im Rfickenmark gesehen haben. Die Yerfasser sprechen sich
tiber die Bedeutung dieser Erscheinung nicht mit Sicherheit aus, halten
sie aber for degenerativ. Ohne dieser Ansicht irgendwie entgegen
treten zu wollen, muss ich doch anftihren, dass ich in meinem Fall
mich nicht entschliessen konnte, diese von der Degeneration der
Axencylinder in den Herden ganz wesentlich abweichenden Bilder for
pathologisch zu halten. Ich habe ahnliches nicht selten — vielleicht
^ufallig — am Rtickenmark an Marasmus, gleichviel welcher Ent-
stehung, zu Grunde gegangener Individuen gesehen; das die Bttndel
begrenzende Bindegewebe prasentirte sich dabei gleichfalls in Form
„eines gewucherten Walles u . Degeneration noch Marchi fehlte. Wie
diese Bilder zustande gekommen sind, weiss ich nicht zu sagen; jeden-
ialls sind sie keine Analoga zu den Degenerationsherden.
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Ueb. Veranderungen i. Centralnervensystem i. einem Fall todtl. Blasenblutung. 301
Ein weiteres Moment, das ffir die Auffassung der Erkrankung in
Betracht kommen konnte, ware die Complication durch Carcinom.
Nachdem zuerst Oppenheim 1 ) auf das Vorkommen von Myelitis
disseminata bei Carcinomkachexie hingewiesen und Pfeiffer 2 ) fiber
einen einschlagigen Fall berichtet hatte, ist von Lubarsch 3 ) ein
grosses Material systematisch untersucht worden. Lubarsch
kommt zu dem Schluss, dass die von ihm mehrfach beobachteten
degenerativen Veranderungen im Rflckenmark auf 3 Wegen hatten zu
Stande kommen konnen: 1. in manchen Fallen durch Blutveranderungen,
die durch das Carcinom bewirkt waren, 2. bei Magendarmkrebsen
durch Storung des Chemismus dieser Organe, 3. in seltenen Fallen
durch beim Zerfall der Carcinome sich bildende Toxine. Das Vor¬
kommen von Toxinen in nicht zerfallenen Carcinomen halt er ffir un-
wahrscheinlich. Punkt 2 und 3 von den angeffihrten Momenten
konnte ohne weiteres fur die Aetiologie unseres Falles ausgeschlossen
werden. Punkt 1 konnte doch auch nur in Betracht kommen, wenn
irgend welche Zeichen von Kachexie bestanden hatten — was aber
bei unserer Patientin bis zum Eintritt der Blutung nicht der Fall
gewesen war.
Bei Durchsicht der 11 positiven Beobachtungen Lubarschs —
denen sich die anderen Falle in dieser Beziehung vollig anschliessen —
ergiebt sich nun auch, dass alle diese Rfickenmarkserkrankungen bei
kachektischen Individuen aufgetreten waren. Nur in einem Fall be-
stand ein kleines, nicht ulcerirtes Carcinom, mit dem jedoch eine
pemiciose Anamie vergesellschaftet war. Der Autor neigt selbst der
Ansicht zu, dass letztere und nicht das Carcinom als veranlassendes
Moment der Rfickenmarkserkrankung anzusehen ware.
Der Charakter der Affection wird dabei verschieden geschildert; bald
wird von einer disseminirten, bald von einer diffusen Myelitis gesprochen.
Lubarsch hebt hervor: die haufige Mitbetheiligung der hinteren
Wurzeln, die diffuse Verbreitung des Processes „die selbst in einigen
Fallen geringffigigster Degeneration eclatant ist u , und das h&ufige Vor¬
kommen hydropischer Schwellung. Eine solche diffuse Erkrankung
mit besonders intensiver Betheiligung der hinteren Wurzeln hatte
ich fibrigens selbst zu beobachten Gelegenheit (am Rfickenmark eines
an ulcerirtem Magencarcinom verstorbenen Mannes). Histologisch er-
wiesen sich die Processe als evident chronisch; der anfangs vor-
1) Zum Capitel der Myelitis. B. kl. W. 1891.
2) Dt Zeitschr. f. Nervenheilkunde. Bd. 7. Der von P. in dieser Arbeit
angezogene Fall Minich’s wird von diesem zur hydropischen Erweichung ge-
rechnet und dftrfte kaum hierher gehdren.
3) Zeitschr. f. klin. Medicin. Bd. 31.
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362
XXII. Ransohoff
wiegenden Degeneration folgte spater Gliawucherung, ohne dass
es zu entzflndlichen Erscheinangen, speciell Leukocyteninfiltration ge-
kommen ware.
Es dttrfte nach alledem kein Zweifel sein, dass in unserem Fall
ganz anders geartete Veranderungen vorliegen. Besonders das [Jeber-
wiegen der Quellungserscbeinungen fiber die des Zerfalls lasst sie als
ganz acut entstanden erkennen; sie lassen sich also ungezwungen auf
jene acute Storung zurtickzuftihren, die der Blutverlust auch im
Nervensystem hervorrufen musste.
Die Analogie des Befundes mit den Frtlh fallen bei der perniciosen
Anamie ist eine fast vollkommene. Die Unterschiede, die ich als
wesentlich nicht betrachten kann, sind nur die folgenden: Erstens
fehlt die GliawucheruDg und das Bild der sekundaren Strangerkrankung.
Letztere, die ursprflnglich als das wesentlicbste Moment aufgefasst
wurde, ist bald als Folgeerscheinung erkannt und demgemass in
einigen der frflhesten Falle auch vermisst worden. Es ist dieselbe
bei dem supponirten hochstens 10 tagigen Bestehen der Erkrankung,
nattirlich eben so wenig zu erwarten, wie eine Neubildung von Glia-
gewebe. Dass bereits reaktive Vorgange im Zwischengewebe zustande
gekommen sind, zeigt das Yorkommen der Rundzelleninfiltration; zu
weiteren progressiven Processen einer Faserneubildung konnten die-
selben unmoglich schon geftihrt habeu.
Ein zweites abweichendes Moment ware das Fehlen von Komchen-
zellen, die in alien bisher beschriebenen Fallen bald baufig, bald wenigstens
vereinzelt gefunden wurden. Auch das dtlrfte sich durch den Alters-
unterscbied erklaren lassen. Die pemiciose Anamie ist doch immerbin
ein chroniscbes Leiden, so dass auch bei den jtlngsten zur Section
gekommenen Erkrankungen der Process schon einige Wochen be-
obachtet worden war. Fur die vorliegenden Herde kann mit Bestimmt-
heit das Alter als 10 Tage nicht tiberschreitend angegeben werden;
vermuthlich sind sie noch juuger, da die Schadigung durch den ersten
Schub der Blutung fQr ibre Entstehung kaum gentigt baben wird.
Als Zeitpunkt des Auftretens von Komchenzellen in Degenerations-
herden wird von Ribbeck 1 ) etwa der 5. Tag angegeben; ich mbchte
jedoch nicht untemehmen, danacb das Alter der Herde mit einiger
Sicherheit zu betimmen. Ob die infiltrirenden Rundzellen dazu be-
stimmt sind, die Zerfallsprodukte, sobald solcbe aus den ja noch im
Stadium der hypertrophischen Quellung befindlichen Fasern entstanden
sind, in sich aufzunehmen und dadurch zu Komchenzellen zu werden,
ist ebenfalls eine Frage, die ich nicht zu beantworten vermag.
1) Lehrbuch der patholog. Anatomie.
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Ueb. Veranderungen i. Centralnervensystem i. einem Fall todtl. Rlasenblutung. 353
Wahrend fiber die Rtickenmarkserkrankungen bei Anamien bereits
ein grosses Material vorliegt, ist das Verhalten des Gehirns bisher
offenbar vernachlassigt worden. Ich habe in der Literatur nur eine
Arbeit erwahnt gefunden, die anatomische Befunde bringi Es ist die
von Birulja 1 ), die mir leider nur im Referat zuganglich war.
Birulja fand bei der mikroskopischen Untersuchung eines Falles von
pemicibser Anamie im Grosshim an vielen Praparaten kleine Blut-
extravasate; ausserdem waren zablreiche lymphoide Zellen eingesprengt,
die sich aucb in den pericellularen Raumen der Ganglienzellen fanden.
An letzteren sah Birulja Veranderungen in Gestalt von Pigmentan-
haufung, Vascularisation, Schwellung und Abnahme der Tinctionsfahig-
keit durch Carmin. Nonne bespricbt bei Erwahnung der Arbeit
Birulja’s die Wahrscheinlichkeit eines Vorkommens von Verander¬
ungen im Grosshirn bei Anamien, konnte aber weitere anatomische
Befunde nicht beibringen. Doch erwahnt er zwei klinische Beobach-
tungen, bei denen eine Affection des Gehirns anzunehmen war. Aehn-
liche klinische Erscheinungen bei Carcinose, die Oppenheim 2 ) be-
schrieben hat, ergaben keinen objectiven anatomischen Befund.
Leider hatte ich nur wenige Partien des Gehirns aufgehoben,
speciell weder die grossen Ganglien nocb den Hirnstamm, so dass ich
eine systematische Untersuchung nicht vomehmen konnte und fiber
die Ausdehnung des Processes keine Angaben zu machen imstande
bin. Die untersuchten Stttcke entstammten dififerenten Stellen —
Centralwindungen und Stirnhim — beider Hemispharen.
An den in gleicher Weise, wie beim Rfickenmark behandelten
Schnitten erwies sich zunacht die Rinde wenig betheiligt. Vereinzelte
kleine Blutungen, wie sie reichlicher sich in den grauen Saulen des
Rflckenmarkes fin den, waren das einzig bemerkenswerthe. Die Zellen
habe ich nur nach der van Gieson’schen Methode und mit Alaun-
hamatoxylin — sehr verdunnter Pikrinsaure gefarbt. Veranderungen
wie Schwellung u. dgl. traten dabei nicht zu Tage; Pigmentanhaufungen
sind durchaus nicht besonders reicblicb. Ich erwahne auch noch; dass
z. B. die Riesenzellen der Centralwindungen an Hamatoxylinpraparaten
die Granula recht gut hervortreten liessen. Eine Untersuchung nach
Nissl habe ich unterlassen, weil ich fiber die normale Struktur der
Rindenzellen noch nicht genugend Erfahrung besitze; es mag daher nicht
ausgeschlossen sein, dass mir feinere Veranderungen entgangen sind.
Sichere pathologische Erscheinungon finden sich dagegen im
Mark Es sind dies einerseits Blutungen, die etwas alter sein dtlrften,
1 ) Ref. im Neurolog. Centralblatt. 1894.
2) Charity Annalen. 1888.
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364
XXII. Bansohoff
als die gleichen in der Rinde und im Rtickenmark. Sie liegen in der
Adventitialscheide gr6sserer und kleinerer Gefasse. Neben haupt-
sachlich wohlerhaltenen, frischen rothen Blutkorperchen findet man
auch Stellen, an denen dieselben schon zu klumpigen Massen zu-
sammengebacken sind; zu Blutpigmentbildung ist es aber noch
nirgends gekommen. Hie und da zeigen sich auch etwas reichlichere
Kerne in den Blutungen, sowie vereinzelte Zellen von epithelioidem
Charakter, mit grosserem Protoplasmaleib und ziemlich viel Myelin-
tropfen. Eine Reaktion des umgebenden Gewebes, in Zerfall oder
Zellvermehrung bestehend, ist nicht zu konstatiren.
Weit zahlreicher und schon dadurch, dass sie im Gewebe selbst
liegen, wichtiger als diese Blutungen sind nun aber kleine, makrosko-
pisch eben sichtbare (bei Farbungen) Herdchen, die ich als hamor-
rhagische Entzttndungsherdchen bezeichnen mochte. Dieselben liegen
theils in der Nahe der Rinde, vorziiglich aber in den tieferen Mark-
schichten. Sie gleichen fast vollkommen den oben geschilderten kleinen
Herdchen im Vorderstrang des Lendenmarks und stehen sammtlich in
Beziehung zu Gefassen. Bald sieht man ein solches seitlich in den
Herd eintreten; auf geeigneten Schnitten trifft man in der Mitte ein
kleines Gefass, dessen Wand nur schwer erkennbar und dessen
Lumen bis auf eine feine Spalte von einer intensiv gefarbten, homo-
genen Masse erftillt ist Es folgt dann nach aussen wieder eine
blassere, komig-fadige Substanz, in welche zahlreiche Leukocyten und
rothe Blutkorperchen eingebettet sind. Letztere uberwiegen mehr als
im Rtickenmark und bilden stellenweise einen starken peripheren
Wall, eine zellarmere Schicht um das centrale Gefass freilassencL
Eine Yerwechselung mit den oben erwahnten Blutungen ist jedoch
auch hier vollig ausgeschlossen. Die kleinsten Herdchen enthalten
weit sparlicher rothe Blutkorperchen, bestehen vielmehr grosstentheils
aus lymphoiden Elementen. In der Umgebung findet sich leichte
Quellung und Schlangelung der Nervenfasern; jene schwereren
Veranderungen, wie im Rtickenmark, fehlen jedoch. In den Herden
selbst ist von zerfallenen Markscheiden nichts wahrzunehmen (auch
nicht bei Pal'scher Farbung). Ihre Anordnung scheint eine regellose
zu sein; hier und da befinden sie sich an einem directen feinen Seiten-
ast eines grosseren Gefasses; doch gelingt es auch auf Serien nicht
immer Beziehungen zu solchen zu entdecken.
Ob Birulja etwas ahnliches, wie diese Zellenanhaufungen gesehen
hat wage ich allein nach dem Referat nicht zu entscheiden. AnaJogien
finde ich dagegen in den von Oppenheim und Hoppe 1 ) beobachteten
1) Arch. f. Psych. Bd. 25.
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Ueb. Ver&nderungen i. Centralnervensystem i. einem Fall todtL Blasenblutung. 365
theils corticalen, theils subcorticalen miliaren Entztindungsherden bei
Chorea chronica. Doch erwiesen sich in unserem Fall die Herde, be-
sonders durch die frische Blutbeimengung als durchweg acuter Ent-
stehung und jungen Datums. Ruckbildungsvorgange oder Sklerosen,
die auf eine schon langer bestehende Erkrankung hinweisen konnten,
fehlen ganzlich. Die bei der Arteriosklerose nicht selten beobachteten
perivascularen Kemanhaufungen konnen durch die gleiche Ueberlegung
ansgeschlossen werden, wenn man nicht schon die Unversehrtheit der
Basalarterien als beweiskraftig ansehen will. Es bleibt also auch bei diesen
Gehirnherden ausser Zweifel, dass sie als eine Folge einer erst kurz vor
dem Tode entstandenen StSrung, eben des Blutverlustes zu betrachten sind.
Was nun den Mechanismus der Entstehung aller dieser Herde
angeht, so kann dieselbe a priori ohne eine Betheiligung der Blutge-
fasse kaum gedacht werden. Schon die raumlichen Beziehungen, die
fiberall zwischen Gefassen und Herden bestehen, weisen auf die Rolle
jener hin, wie andererseits auch die Analogie mit der pemiciosen
Anamie. Auch bei dieser liegen jedoch die Verhaltnisse noch nicht
ganz eindeutig. Einerseits sind ja vielfach hyaline Veranderungen
der Gefasswande gefunden. Aber es sind doch auch eine Reihe yon
Fallen beobachtet — auch yon Nonne, dem Hauptverfechter dieser
Theorie — bei denen die Gefasse ganz normal waren und doch die
Anordnung der Herde die gleiche, wie bei den anderen. Es bleibt
also fraglich, ob es sich nicht um conjugirte Erscheinungen handelt.
Jene als hyalin zu bezeichnenden Wanderkranku ngen der Gefasse
fehlen in unserem Fall. Im Rtickenmark sind die Gefasswande zwar
gleichmassig verdickt, das Lumen ist oft recht eng; die Struktur der
Wand bleibt aber gut erkennbar. Die Reaction mit dem van Gieson-
gemisch geben sie nicht. Dagegen sind zahlreiche kleinste Gefasschen
— auch Capillaren — mit Kernen besetzt, die wohl auch zu Haufchen
zusammentreten, ohne immer Beziehungen zu Degenerationsherden
zu zeigen. Aehnlich liegen die Verhaltnisse im Gehirn. Kemver-
mehrung an kleinen Gefasschen und Capillaren zeigt sich in gleicher
Weise wie im Rtickenmark. Die grosseren erscheinen vielfach starr-
wandig, mit engen Lumen; die perivascularen Raume erweitert, das
nachstliegende Gewebe faserig und kemarm. Ein Theil dieser Er¬
scheinungen wird wohl einer Schrumpfung bei der Hartung seine Ent¬
stehung verdanken, ein anderer als senil zu betrachten sein. Sicher
pathologisch sind nur die Kernreihen und Haufchen.
Ausserdem sind an einer Stelle der Himrinde eine Anzahl Ge¬
fasse, grosse und kleine, von einem stark lichtbrechenden Hof um-
geben, der mit den gewohnlichen Farbemitteln eine wesentliche Differenz
von der Nachbarschaft nicht zeigt. Weder Fasern, noch Kerne, noch
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366
XXII. Ransohoff
Ganglienzellen scheinen verandert. Bei Behandlung der Schnitte mit
Osmiumsaure farbt sich dieser Hof diffus dunkelbraunlich, ohne dass
sich weitere Details erkennen liessen. Ich bin mir fiber die Bedeutung
dieser Erscheinung nicht klar geworden.
Von wesentlichem Interesse ffir die Rolle der Gefasse erschienen
mir aber die Gehimherdchen und jene entsprechenden kleinen im
Vorderstrang des Lendenmarkes. An diesen liegt ja fraglos eine Ge-
fassverstopfung vor, die auf Gerinnungsvorgangen — analog der
marantischen Thrombose — beruhen mag. Ob die umgebende kornige
Schicht einer Nekrose oder einem albuminosen Exsudat entspricht, ist
kaum zu entscheiden. Dass die Zellen aus dem verstopften Gefass
stammen, ist wohl nicbt wahrscheinlich; ffir plausibler halte ich es,
dass die rothen Blutkorperchen — wie beim Infarkt oder am Rand
einer grosseren Erweichung — aus benachbarten Capillaren in den
aus der Circulution ausgeschalteten Bezirk eingedrungen sind und
dass die lymphoiden Elemente das Resultat einer Reaction des um-
gebenden Gewebes darstellen.
Wie sich die Faserdegenerationen im Ruckenmark zu diesen
Herden verhalten, kann ich nicht mit Sicherheit angeben. Ausgeschlossen
ist wohl, dass sie aus ihnen entstanden sind, da das Zurficktreten der
Kemvermehrung und der Blutung unerklarlich ware. Das Yorkommen
der Gefassverstopfung im Rfickenmark beschrankt sich auf eine Zone,
die insofem unter besonderen Verhaltnissen steht, als sie nur von
den kleinsten direkt von der Peripherie eintretenden Gefasschen ver-
sorgt wird. Dementsprechend findet sich im Vorderstrang wohl ein-
mal ein Zusammenhang zwischen einem grosseren Degenerationsherd
und einem verstopften Gefass. Yergeblich sucht man dagegen auch
auf Serien nach solchen in den tiefer liegenden Herden, in den Pyra-
midenseitenbahnen und im Hinterstrang. Es mfissen hier also doch
wohl andere Vorgange mitgespielt haben, die sich bisher noch unserem
Wissen entziehen, ebenso wie bei der perniciosen Anamie. Ob man
sich dabei ein in der Blutbahn transportirtes Toxin — wie bei dieser
— als schuldiges Agens denkt, oder wie hier die ausserordentliche
Veranderung in der Blutzufuhr und Ernahrung, ist schliesslich nicht
von principieller Bedeutung. Eine nur durch eine Hypothese auszu-
fullende Lficke bleibt in beiden Fallen. Hinzuffigen will ich hier noch,
dass sich die geschilderten Verhaltnisse in die Theorie von der gemein-
samen Ursache der Anamie und der Faserdegeneration jedenfalls nicht
einffigen lassen.
Die Bezeichnung des vorliegenden Processes als Myelitis, resp.
Encephalitis disseminata dttrfte wohl berechtigt sein. Die unter dem
Bild der hamorrhagischen Entzfindung auftretenden Gehim- und ent-
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Ueb. Veranderungen i. Centralnervensystem i. einem Fall todtl. Blasenblutung. 367
sprechenden Rtlckenmarksherde gehoren ja ohne weiteres hierher, wie
gleicherweise die Kemansammlungen an den Gefassen diese Ansicht
untersttltzen. Aber anch die Faserdegenerationsherde entsprechen im
allgemeinen dem Bild, das die Myelitis im ersten Stadium, yor dem
Anfkreten von Komchenzellen zeigt, wenn man vielleicht von der
nattlrlich fehlenden Hyperamie absieht. Selbsverstandlich soli die Be-
zeichnung als Myelitis nur das anatomische Product treffen, wahrend
ich tlber den Charakter der Erkrankung damit ein Urtbeil nicht fallen
will. Ich befinde mich mit diesen Ausfiihrungen in Uebereinstimmung
mit den Ansicbten, die gegenwartig betr. der Herde bei pernicioser
An ami e wohl die herrschenden sind.
Eine weitere Frage ware die nach der etwaigen klinischen Be-
deutung der Herde. Nun hatten ja zwar die Rtlckenmarksherde keine
objektiven Erscheinungen intra vitam hervorgerufen. Vielleicht ware
es einer eingehenden daraach fahndenden Untersuchung gelungen,
doch noch Paresen festzustellen; doch war die Patientin, wahrend
schon vorgeschrittener Sopor bestand, in ihren Bewegungen durchaus
unbehinderi Ebenso fehlten Angaben fiber Parasthesien. Es ist da-
bei aber in Betracht zu ziehen, dass auch die Frtlhfalle der Erkrank-
ungen bei der pemiciosen Anamie klinische Symptome meist noch
vermissen lassen, wahrend sie doch in spaterer Zeit zu schweren
Motilitats- und Sensibilitatsstorungen fuhren. So konnte Nonne in
in seiner letzten Arbeit bei 7 Fallen mit positivem anatomischen Befiind
als einziges objektives klinisches Symptom einmal Fehlen der Knie-
phanome beobachten, ausserdem in 3 Fallen „hartnackige Parasthesien
Andererseits sind Lahmungen nach starken Blutverlusten ja ein
nicht zu selten beobachtetes Vorkommniss. Dass deren Entstehung
auf eine Rfickenmarkserkrankung zurtickzufuhren sein konne, war bis-
her eine Hypothese, der die anatomische Grundlage noch fehlte, wohl
wegen des gewohnlich gtinstigen Ausganges. So finde ich z. B. bei
von Leyden und Goldscheiderangeflihrt, dass diese Lahmungen
wohl hauptsachlich auf hysterischer oder neuritischer Grundlage be-
ruhten; „vielleicht — ich citire hier — handelt es sich aber wirklich
am ischamische Lahmungen oder um Blutungen in oder um die
Nervensubstanz**. Der vorliegende Fall diirfte geeignet sein, diese
anatomische Grundlage zu erweisen und damit die Lticke ausftlllen,
die zwischen diesen Lahmungen und den Erkrankungen bei pernicioser
Anftmie noch bestand.
Es lage femer vielleicht nahe, die schon 6 Tage vor dem Tode
sich bemerkbar machende Benommenheit mit den disseminirten Ent-
1) Erkrankungen des Rflckenmarks und der Oblongata. S. 342.
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368 XXII. Rajnsohoff, Ueber VeraDderungen im Centralnervenaystem etc.
zundungsherden im Grosshim in Zusammenhang zu bringen. Zeigt
doch das Verhalfcen der motorischen Vorderhornzellen des Rttcken-
rnarkes, dass die Ganglienzellen weit weniger von der schweren all-
gemeinen Ernahrungsstorung beeinflusst zu werden brauchen, als die
Nervenfasem. Immerhin sind seiche soporose Zustande ohne anato-
misch erkennbare Ursache doch zu haufige Befunde, als dass gegen
die Theorie von der Ernahrungsstorung der Rinde sich etwas wesent-
liches anftthren liesse. Mit Sicherheit kann daher diesen Gehimherden
hochstens eine Mitwirkung zugeschrieben werden, wie sie in gleicher
Weise auch der diffusenKemvermehrung um dieGefasse zukommen durfte.
Von einer gewissen Bedeutung ist ferner ihre Rolle vielleicbt for
jene Psychosen, zu deren Anamnese — wie z. B. bei Puerperalpsychosen
— Blutungen gehoren. Kommt es ofters nach starkeren Blutrerlusten
zu ahnlichen Erscheliiungen im Gehim — was allerdings erst eine
weitere Untersuchung ergeben mtisste — so werden in diesen Fallen
die Reparationsvorgange, die an den Herden zu erwarten sind, einen
langer dauernden Reiz im Gehim unterhalten, der jedenfalls zu einer
Functionsschadigung das seinige beitragen wird.
Schliesslich mochte ich noch auf das Vorkommen von Heterotopien
im Riickenmark hinweisen. Sie bieten einerseits Interesse als Signum
degenerationis bei einer Imbecillen massigen Grades. Andererseits legen
sie den Gedanken nahe, dass es kein an sich normales, sondero zu
Erkrankungen disponirtes *) Nervensystem war, das in dieser Weise
auf die Storung im Bereich des Gefasssystems reagirte.
Herrn Direktor Dr. Vorster erlaube ich mir auch an dieser Stelle
meinen ergebensten Dank ftir die gtitige Ueberlassung des Materials aus-
zusprechen.
Erkl&rnng der Abbildungen.
Fig. 1. Langsschnitt; Seitenstrang des Dorsal marks, g: Gefass; a: geschwollene
AxencyUnder. Gez. bei Vergrosserung 57. Farbung nach vanGieson.
Fig. 2. Querschnitt; Randpartie des Seitenstrangs im Dorsalmark. c: Septum
mit Gefass; f: normale Fasern; a: geschwollene Axencylinder, z. Th. mit
erkennbaren Markresten; z: zellige Elemente. Gez. bei Vergrosserung 330;
Markscheidenfarbung mit Mallory^chem Hamatoxylin.
Fig. 3. Tiefes Mark der Centralwindungen; Entzundungsherd. g: Gefass; z: klein-
zellige Infiltration und r. Bl. (nur ein Theil derselben ist eingetragen).
Gez. bei Vergrosserung 330; Farbung nach van Gieson.
Fig. 4. Skizzen zur Erlauterung der Vertheilung der (im Verhaltniss etwas zu
gross dargestellten) Degenerationsherde im RQckenmark. a und b: Hals-
mark; c: Len den mark; d: Frontalschnitt durch die hintere Halfte im
Dorsalmark. Bei x in c: Heterotopie. Gez. nach Projectionsbildem.
1) s. Pick, Beitrage zur Pathologie etc. S. 310 ff.
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xxm.
Untersnchungen fiber die Altersyerfinderungen im
Rfickenmark. 1 )
Von
Dr. M. Sander
in Frankfurt &/M.
(Hierzu Tafel VI and VII.)
Dass mit zunehmendem Alter auch im Rlickenmark Krankheits-
processe eintreten, lehrt die tagliche Beobachtung. Wenn bei alten
Leuten Gberhaupt erst das Centralnervensystem schwerer betroffen er-
scheint, stellen sick in der Regel auch einzelne Symptome ein, die auf
Krankheitsprocesse im Rlickenmark hindeuten. Ich erinnere an den
bald ataktischen, bald mehr spastischen Gang alter Leute, an die Ab-
stumpfung der Sensibilitat, an die Storungen der Reflexthatigkeit, an
die Lahmungen der Blasen- und Mastdarmfunctionen, und schliesslich
an die schweren Formen, die bald als Systemerkrankungen, bald mehr
unter dem Bilde einer Myelitis eintreten. So spricht man schon seit
langem von einer senilen Tabes, von einer senilen Paraplegie, man
kennt eine Form combinirter Systemerkrankung im Greisenalter, die
Demange als „Contracture tabetique des atheromateux w bezeichnet hat,
man kennt andere Formen, die sich mehr dem Symptomenkomplex der
Paralysis agitans nahern. Im allgemeinen haben die senilen Erkran-
kungsprocesse des Riickenmarks bisher wenig Beachtung gefunden,
kein Wunder, wenn man beriiGksichtigt, dass es sich hier um Symp¬
tome handelt, die meist erst gegen Ende des Lebens auftreten, in der
Regel keiner Therapie zuganglich sind, und die haufig durch die gleich-
zeitig bestehende Demenz und den allgemeinen Marasmus vollig verdeckt
werden. Dem geringen klinischen Interesse, das diesen Formen bisher
entgegengebracht wurde, entspricht auGh die geringe Ausbeute der
anatomischen Forschung. Wahrend wir durch neuere Untersuchungen,
besonders von Campbell, Binswanger, Alzheimer 2 ) u. a. liber die
1) Nach einem auf der 71. Versammlung „Deutscher Natiuforscher und
Aerzte u in Mdnchen gehaltenem Vortrage.
2) Vergl. Alzheimer, Neuere Arbeiten fiber die Dementia senilis. Sammel-
referat Monatsschrifl fur Psychiatrie und Neurologie. Bd. III.
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370
XXUE. Sander
senilen Degenerationsprocesse des Gehirns eingehend unterrichtet sind
und mehrere, sowohl klinisch als anatomisch gut unterscheidbare Formen
keunen gelernt haben, finden sich liber das senile Rlickenmark nur
wenig Angaben in der Literatur. Demange 1 ) beschreibt im Rficken-
mark von Greisen Pigmentation der Ganglienzellen, peri- und endarte-
ritischeProcesse und perivasculare Sklerosen, durch welche das umgebende
Nervengewebe zum Schwund gebracbt wird. In einzelnen Fallen fand
er auch kleine miliare Erweichungsheerde im Mark. Campbell 2 )
fand im senilen Rfickenmark mit der Marcbi-Methode konstant schwarze
Schollen liber die weisse Substanz yerstreut, besonders auch in den
yorderen und hinteren Wurzeln, starke Pigmentation der Ganglienzellen,
Wucherungen des Stfitzgewebes, besonders in den Seiten- und Hinter-
strangen. Er bringt die Processe mit der Arteriosclerose der Gefasse
in Zusammenhang und beschreibt ausserdem kleinste Erweichungsheerde
und Sklerosen im Bulbus, Stammhirn und innerer Kapsel, die ihrerseits
wieder umfangreiche secundare Degenerationen im Rlickenmark be-
dingen.
Redlich 3 ) beschreibt ebenfalls im senilen Rlickenmark peri- und
endarteritische Processe sowie Anhaufungen yon Glia um erkrankte
Gefasse, besonders liber den Seiten- und Hinterstrangen. Er fand diese
perivasculare Sklerose in einzelnen Fallen von Paralysis agitans beson¬
ders ausgesprochen und ist daher geneigt, dieselbe als einen hierfftr
specifischen Erkrankungsprocess anzusehen, der, falls er im senilen
Rlickenmark auffcrete, auch besondere klinische Erscheinungen hervor-
rufen mlisse.
Fiirstner 4 ) fand in mehreren Fallen von senilem Rfickenmark
Yerdickungen der Gefasswand, besonders der Media, ohne starkere In¬
filtration, ausserdem diffuse Gliavermehrung und plaquesartige peri-
vaskulare Sklerosen, ohne starkere Zerfallprozesse der nervosen Sub¬
stanz. Er betont die Localisation der Veranderungen, besonders fiber
den Seiten- und Hinterstrangen und das Missverhaltniss zwischen diesen
Degenerationsprocessen und den klinischen Erscheinungen,
Nonne 5 ) hat in neuerer Zeit 10 F&lle von senilem Rlickenmark
untersucht. Auch er fand die charakteristischen perivascularen Sklerosen
1) Das Greisenalter. Deutsch von Spitzer. Leipzig und Wien 1887.
2) The morbid changes in the cerebro-spinal nervous system of the aged
insane. Journal of ment. science. 1894.
8) Jahrbucher fur Psychiatrie. Bd. XII.
4) Ueber multiple Sklerose und Paralysis agitans. Archiv ffir Psychiatrie. -
Bd. XXX.
5) Ruckenmarksuntersuchungen in Fallen von pemicioser Anamie etc.
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. XIX.
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Untersuchungen fiber die Altersveranderungen im Rfickenmark. 371
in weniger vorgeschrittenen Fallen besonders ausgesprochen, und meint,
dass der Process der Oliawucherung sekundar eine Schrumpfdng resp.
Erdrfickung der Nervenelemente herbeiffihre. Es handle sich bei den
Nervenfasern stets urn einfach atropische Processe ohne Entzfindungs-
erscheinungen. Er betont die Aehnlichkeit der Degenerationsprocesse
mit denen bei pemicioser Anamie, die ebenfalls in der Umgebnng der
Gefasse ihren Ausgang nebmen. Einige andere hierher gehorige Ar-
beiten welche hauptsachlich die Beziehungen der Paralysis agitans zu
den Altersveranderungen im Rfickenmark betreffen, und die Befunde
der eben erwahnten Autoren nur bestatigen, mochte icb fibergehen,
zumal ich bereits an anderer Stelle *) fiber dieselben berichtet habe.
Ich hatte bereits Gelegenheit, auf der Versammlung der sttdwest-
deutschen Neurologen und Irrenarzte in Baden-Baden im Jahre 1897
fiber die Altersveranderungen des Rfickenmarks und ihre Beziehungen
zur Paralysis agitans mich eingehender zu verbreiten. Ich habe die
damals begonnenen Untersuchungen in den letzten Jahren fortgesetzt
und verffige gegenwartig im Ganzen fiber ca. 30 Falle von senilem
Rfickenmark, die ich nach den neueren Methoden untersucht habe.
Da in fast alien diesen Fallen auch die Hemispharen von anderer Seite
untersucht wurden, in den meisten Fallen auch der Hirnstamm, in
einzelnen die peripheren Nerven, so dfirfte dies Material wohl geeig-
net erscheinen, uns einen Einblick in die senilen Degenerationsprocesse
des Rfickenmarks zu gewahren. Ffir erschopfend kann ich auch diese
Zahl noch nicht ansehen, denn grade die auf dem Boden der Gefass-
degeneration erwachsenen Krankheitsprocesse haben ein so mannigfal-
tiges Aussehen, dass ich glaube, dass auch hier noch andere histolo-
gische Bilder zur Beobachtung kommen. Ein weiterer vollig einwands-
freier Fall von Paralysis agitans stand mir bei der ausserordentlichen
Seltenheit dieses Materials nicht mehr zu Gebote, ich muss mich daher
in Bezug hierauf auf meine frfiheren Befunde beschranken, zumal auch,
soweit mir bekannt, von anderer Seite in der Zwischenzeit nichts neues
dem hinzugeffigt wurde.
Das Alter der untersuchten Falle bewegt sich zwischen 87 und
51 Jahren. Es wird hierbei manchem wunderbar erscheinen, dass man
bei einem Alter von 51 Jahren von einem senilen Rfickenmark sprechen
kann. Ich muss zur Erklarung hierffir etwas vorwegnehmen, worauf
ich weiterhin noch zurfickkomme.
Ein wesentliches Momeut ffir das Zustandekommen aller senilen
Veranderungen bildet die Arteriosklerose der Gefasse. Diese tritt
1) Vergl. Sander, Paralysis agitans u. Senilitat. Monatsschrift ffir Psy-
chiatrie u. Neurolegie. Bd. III.
DeoUche Zeitschr. f. Nervenheilkande. XVII. Bd. 25
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372
XXIII. Sander
bekanntlich nicht immer erst im hoheren Alter auf, sondern unter
dem Einflass gewisser Schadlichkeiten, wobei namentlich die Lues
eine grosse Rolle zu spielen scheint, auch prasenil. Diese frtihzeitige
arteriosklerotiscbe Gefassdegeneration befallt im Gegensatz zu der im
hohern Alter auftretenden, die mebr einen universellen Cbarakter tragt,
vorzugsweise einzelne Organe, darunter nicht selten das Centralnerven-
system. Ich verweise hier namentlich auf die Untersucbungen der
inneren Kliniker, besonders auf die schone Arbeit von Edgreen 1 ) fiber
diesen Gegenstand.
Es wird uns unter solchen Umstanden nicht Wunder nehmen 9
wenn wir in einzelnen Fallen schon sehr frfihzeitig Degenerations-
processe im Rfickenmark vorfinden, die wir sonst erst in weit hoherem
Alter zu sehen gewohnt sind und die wir ihrem Charakter nach nur
als senil bezeichnen konnen.
Was die klinischen Symptome dieser senilen Rfickenmarksver-
anderungen betrifft, so erwahnte ich schon oben, dass dieselben haufig
durch die vorgeschrittene Demenz, die eine genauere Untersuchung
ausserordentlich erschwert, sowie durch den allgemeinen Marasmus
verdeckt werden. Bei anderweitigem Material, ausserhalb der Irren-
anstalten, dfirfte man viel haufiger auch Kranke antreffen, bei denen
die senilen Veranderungen ausschliesslich Oder zum grosstentheil im
Rfickenmark localisirt sind. Hier ist eine genaue Feststellung der
Symptome yiel leichter moglich. Immerhin gelang es in vielen Fallen,
schon intra yitam einen dem spateren mikroskopischen Befunde ent-
sprechenden Symptomencomplex nachzuweisen. Ich kann mich daher
auch der Ansicht von Ffirstner und Nonne, dass selbst schwerere
senile Yeranderungen im Rfickenmark ohne jede Symptome von
Seiten der Motilitat und Sensibilitat verlaufen konnen, nicht vollig an-
schliessen. Insbesondere mochte ich auch die Storungen in der Muskel-
innervation, die sich vorzugsweise beim Gehen und Stehen aussem,
die sog. „Wacklichkeit“ alter Leute, nicht ffir bedeutungslos ansehen.
Meine Untersuchungen lehren mich, dass die schweren Formen seniler
Degeneration vorzugsweise zuerst die Randpartien des Rfickenmarkes
betrefifen, und die hier verlaufenden Kleinhirnbahnen in Mitleiden-
schaft ziehen. Es liegt nahe, die sehr haufig vorhandenen atak-
tischen Storungen mit diesen Herden in Zusammenhang zu bringen.
Auch die Erfahrung, dass bei schwerer Senilitat vorzugsweise
spastische Symptome fiberwiegen, findet durch die mikroskopischen
Befunde hinreichende Erklarung. Die Pyramiden-Seitenstrange sind
ein Pradilektionsort seniler Degenerationsprocesse. Demgegenfiber
1) Die Arteriosklerose. Leipzig, Veit & Co. 1895.
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Untersuchungen fiber die Altersveranderungen im Rfickenmark. 373
tritt die Erkrankung der Hinterstrange weit mehr zurfick und es kann
nicht Wunder nehmen, wenn man namentlich Sensibilitatsstorungen
nur schwer nachweisen kann, zumal bei der oft hochgradigen Demenz
der Patienten. In einigen Fallen konnte das Westphal'sche Phanomen
nachgewiesen werden. Die Storungen in der Blasen- und Mastdarm-
function wird man wohl in erster Linie von den schweren Degenerations-
processen in der grauen Substanz, besonders an den Ganglienzellen,
abhangig machen mfissen. In den Fallen, in denen der charakteristische
Alterstremor besonders ausgepragt war, fanden sich meist schwerere
Erkrankungsprocesse in den Pyramidenbahnen. In 2 Fallen, in denen
nach dem Krankheitsbilde betrachfcliche Degenerationen im Rficken¬
mark yermuthet werden mussten, fanden sich im Gegentheil auffallend
geringe Veranderungen. Es handelte sich beide Mai um Kranke, die
in den letzten Lebensmonaten ziemlich schnell auftretende Spasmen
sammtlicher Extremitaten, dazu Inkontinenz von Blase und Darm be-
kamen. Ich glaube annehmen zu konnen, dass in diesen beiden Fallen,
bei denen auch die Untersuchung der peripheren Nerven nur un-
wesentliche Veranderungen aufwies, der in der Rinde sich abspielende
Degenerationsprocess, der hier besonders hochgradig erschien, fur das
Zustandekommen der Symptome von wesentlicher Bedeutung war.
In folgendem gebe ich eine kurze Uebersicht der von mir unter-
suchten Falle. Ich bemerke dabei, dass ich in dem Auszug aus den
Krankengeschichten im wesentlichen nur die Befunde erwahnt habe,
welche vom Rfickenmark abhangige Functionen betreffen. Bei der
ausserordentlichen Schwierigkeit einer exacten Untersuchung derartig
dementer Patienten wird man auch hier manche Lucke entschuldigen
mfissen. Der mikroskopische Befund bezieht sich ebenfalls nur auf
das Rfickenmark und in einzelnen Fallen auf die peripheren Nerven.
Die Methoden, deren ich mich zur Untersuchung bedient habe,
waren einmal die fiblichen Markscheidenfarbungen (Weigert, Pal,
Wolters) ferner die Methoden nach Marchi, Nissl, die Weigert’sche
Neuroglia-Farbung und die Farbung nach v. Gieson.
Krankengeschichte.
1. Katharine J., 77 Jahre alt, aufgenommen d. 10. VIII. 1897, ge-
storben d. 7. III. 1898.
Anamnese: 1 Jahr vor der Aufhahme Abnahme der geistigen Krfifte,
in der Anstalt fortschreitende Demenz mit Erregungszustfinden.
Status: Pupillen eng, sehr trfige reagirend, Patellarreflexe normal,
kein Fnssclonus, leichtes Zittem der H&nde. Gesichtsmnskeln auffallend
starr und unbeweglich, Sinnesorgane nicht priifbar, Horvermfigen scheint
herabgesetzt, Mobilitftt intact Incontinentia urinae et alvi.
25*
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XXIII. Sander
Sectionsbefund. Verkalkung aller Arterien, sowie der Herzklappen.
Emphysem der Lungen. Fettleber. Arteriosklerotische Schrumpfniere. Pachy¬
meningitis fibrinosa, Oedem der Pia. Leptomeningitis chronica diffusa,
Atrophie des Gehirns. In der Pia spinalis, besonders hber den Hinter-
strangen, zahlreiche Kalkplattchen. Keine Verffcrbung in den Rucken-
marksstr&ngen, grane Snbstanz blutarm.
Mikroskop. Befund. Markscheiden: In der ganzen Peripherie
des Markes bis an die grane Snbstanz heran leicht gelichtet, besonders
iiber den Seiten - nnd Hinterstr&ngen, nach Mar chi vereinzelte Schollen
hber dem Qnerschnitt. Glia am Rande leicht gewnchert, in der granen
Snbstanz dentlich vermehrt. Ganglienzellen massig degenerirt.
2 . Margarethe G., 64 Jahre alt, anfgenommen d. 24. VIII. 1897, ge-
storben d. 23. VI. 1898.
Anamnese: Seit 4 Jahren znnehmende Demenz, seit 1 Jahr Verwirrt-
heitsznstande, zeitweilig unrein.
Status: Pnpillen mittelweit, sehr trage reagirend, anf dem rechten
Auge Strabismus convergens, Patellarreflexe lebhaft. Gang sehr nnsicher
(Gesichtsfeld defekt). Keine Parese, keine grobere Sensibilitatsstbmng. In
den letzten Lebensmonaten spastische Contraktnren der nnteren Extremitaten.
rechterseits starker, Patellarreflexe kanm ansznlosen, fortschreitender Decu¬
bitus, Incontinentia Urinae et alvi.
Sectionsbefund: Arteriosklerose der Aortenklappen, beginnende
Pneumonie im rechten Unterlappen. Fettige Degeneration der Leber und
linken Niere. Hyperamie der rechten Niere. Leptomeningitis chronica
massigen Grades, Erweiterung der Ventrikel, Arteriosklerose der Basis-
gefasse. Riickenmark makroskopisch ohne Veranderungen.
Mikroskop. Befund. Markscheiden in der Peripherie leicht ge¬
lichtet, an vereinzelten Stellen mehr plaquesartig, nach Marc hi vereinzelte
Schollen iiber dem Qnerschnitt, etwas starker in der Peripherie und in den
hinteren Wurzeln, besonders in ihrem intraduralen Abschnitt Glia in der
granen Snbstanz leicht vermehrt, im Mark normal.
3. Helene M., 65 Jahre alt, anfgenommen d. 1. VEI. 1897, gestorben
d. 19. VII. 1897.
Anamnese: Seit 1 Jahr zunehmende Demenz ohne korperliche Er-
scheinungen.
Status: Pnpillen eng, trage reagirend, leichtes Zittern der gespreizten
Hande, Patellarreflexe normal, Motilitat nnd Sensibilitat nicht gestflrt.
Sectionsbefund. Beiderseitige Schmmpftiiere. Struma. Verdickung
der Pia, Erweiterung der Ventrikel, Atrophie des Gehirns, Arteriosklerose
der Basisgefasse. Riickenmark ohne makroskopische Veranderungen.
Mikroskop. Befund. Markscheiden: Leichter Ausfall an der
Peripherie, nach Mar chi diffuse Schollen iiber dem Qnerschnitt, vereinzelt
anch im n. Gruralis und Medianus.
4. Wilhelmine R., 88 Jahre alt, anfgenommen d. 12. XI. 1896, ge¬
storben d. 24. X. 1897.
Anamnese: 1 Jahr vor der Aufhahme beginnende Demenz ohne kSrper-
liche Erscheinungen.
Status: Pnpillen gleichweit, etwas trage reagirend, Patellarreflexe
gesteigert, keine grobe Lahmung der Extremitaten. Sensibilitat nicht
zu priifen.
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Untersuchungen fiber die Altersveranderungen im Rfickenmark. 375
Sectionsbefund. Bronchopneumonia im rechten Unterlappen, Cirrhose
der Leber und Nieren, Cholelithiasis. Pachymeningitis chronica m&ssigen
Grades, circnmscripte Atrophien der Rinde, Arteriosklerose der Basisgeffisse.
Rfickenmark ohne Verfinderungen.
Mikroskop. Befnnd. Markscheiden in der Peripherie stark ge-
lichtet. Glia der granen Snbstanz leicht vermehrt Ganglienzellen hoch-
gradig degen erirt.
5. Wilhelmine &, 83 Jahre alt, aufgenommen d. 6. III. 1896, ge-
storben d. 31. V. 1898.
Anamnese: Im Juli 1895 Schlaganfall. seitdem fortschreitende Demenz
mit Erregungszustanden.
Status: Pupillen nicht different, sehr trfige reagirend, Parese der
rechten Hand, zeitweilig Zuckungen in derselben, beiderseits deutlicher
Tremor. Patellarreflexe normaL In den letzten Lebensmonaten dauernd
unrein.
Sectionsbefund. Myocarditis. Hochgradige Arteriosklerose der
Herzklappen und der Aorta. Arteriosklerotische Schrumpfhiere. Leptome¬
ningitis chronica diffusa, Hydrocephalus externus et internus. Hochgradige
Atrophie der Hirnwindungen. Miliare Erweichungsherde in der Rinde, Er-
weichungslierde im Kopf des Streifenhfigels linkerseits. Rfickenmark im
Querschnitt auffallend schmal, in der Pia spinalis zahlreiche Kalkpiattchen.
Mikroskop. Befunde. Nach Marchi frischeSeitenstrangsdegeneration
einer Seite, der entgegengesetzte Vorderstrang nur undeutlich betroffen.
Schollen in der ganzen Peripherie, an einzelnen Stellen etwas starker,
besonders in den untern Rtickenmarksabschnitten.
6 . Elisabeth R., 83 Jahre alt, aufgenommen d. 13. XI. 1897, ge-
storben d. 26. II. 1898.
Anamnese: Seit 6 Jahren zunehraende Demenz ohne korperliche
Erscheinungen.
Status: Pupillen gleich weit, etwas trfige reagirend, leichtes Zittern
der Zunge und vorgestreckten Hfinde, Patellarreflexe beiderseits lebhaft,
links etwas starker, Gang leicht spastisch, trippelnd, Sensibilitat nicht
zu prfifen.
Sectionsbefund. Atherom der Aorta. Chronische Nephritis, hoch-
gradiger Marasmus, Oedem der Pia, Atrophie der Rinde und des Hemisphfiren-
marks, Arteriosklerose der Basisgeffisse. Rfickenmark ohne Verfinderungen.
Mikroskop. Befunde. Markscheiden: Leichter Ausfall am Rande,
in den unteren Abschnitten starker, Hinterstrange leicht gelichtet, besonders
in ibrem dorsomedialen Theil, nach Marchi vereinzelte Schollen fiber dem
Querschnitt, sowie in den vorderen Wurzeln. Starke Arteriosklerose der
Rfickenmarksgefasse.
7. Heinrich M., 62 Jahre alt, aufgenommen d. 3. XII. 1897, ge-
storben d. 11. VI. 1898.
Anamnese: Seit 5 Jahren zunehmende Demenz, 4 Wochen vor der
Aufhahme erhebliche Verschlimmerung. Ataktischer Gang. Lues festgestellt.
Status: Pupillen eng, R<L, beide sehr trfige reagirend. Leichtes
Zittern der Zunge und ausgestreckten Hande. Patellarreflexe links nicht
auszulosen, rechts angedeutet, Hautreflexe abgestumpft. Sensibilitat unsicher
zu prfifen, jedenfalls erheblich gestort
Sectionsbefund. Beiderseitige Pleuritis. Fettige Degeneration der
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376
XXIII. Sander
Leber. Beiderseitige Pyelonephritis und eitriger Blasenkatarrh. Frischer
Bluterguss im Gebiet des rechten Stirn- und Parietallappens, Verdickung
der Pia, Atrophie der Hirnwindungen, Arteriosklerose der Hirngef&sse.
Graue Degeneration der Hinterstr&nge im Rfickenmark.
Mikroskop. Befund. Totale Degeneration der Burdach’schen und
GolFschen Strange, nach Marchi: Diffuse Schollen in geringer Zabl fiber
dem Querschnitt, etwas starker fiber den Seitenstrangen.
8. Eduard R, 61 Jahre alt, aufgenommen d. 27. X. 1896, gestorben
d. 10.1. 1898.
Anamnese: 6 Jahre vor der Aufnahme zunehmende Demenz, Ver-
schlechterung des Ganges, Seh- und Horvermogens, epileptische AnfUlle mit
yortibergehenden Lahmungen.
Status: L. Pupille < R., beide sehr trage reagirend, beiderseitige
Atrophie der n. optici, Horvermogen beiderseits herabgesetzt, Patellarreflexe
fehlend, starke Ataxie der unteren Extreraitaten. Sensibilitat in Folge der
Demenz nicht sicher zu prtifen.
Sectionsbefund. Katarrhalische Pneumonie, atheromatose Geschwfire
der Aorta, chronische Nephritis. Leptomeningitis chronica diffusa, links
starker als rechts. Hfihnereigrosser frischer Erweichungsherd im rechten
Scheitellappen, hochgradige Atrophie der Windungen der linken Hemi-
sphare, rechterseits weit geringer. Rtickenmark ohne makroskopische Yer-
finderungen.
Mikroskop. Befund. Alte Degeneration der Hinterstrange, nach
Mar chi frische Degeneration in einem Wurzelgebiet beiderseits im Lenden-
mark, bis weit nach obenhin deutlich zu verfolgen. Glia fiber den Hinter-
strfingen gewuchert.
9. Abraham R, 58 Jahre alt, aufgenommen d. 20.1. 1898, gestorben
d. 15. II. 1898.
Anamnese: 3 Jahre vor der Aufnahme linksseitige Lfihmung, welche
nach einem 2. Schlaganfall am Bein bestehen blieb. Seit dieser Zeit fort-
schreitende Demenz.
Statu8: Parese des linken Augenlides, Zunge nach rechts abweichend,
Pupillen deutlich reagirend, nicht different, Patellarreflex beiderseits leb-
haft, linkes Bein beim Gehen nachgeschleift.
Sectionsbefund. Fettige Degeneration der Leber, beiderseitige Schrumpf-
nieren, chronische Cystitis, Vereiterung des perivaskularen Bindegewebes.
Leptomeningitis chronica diffusa, Oedem der Pia, Erweiterung der Ventrikel,
multiple bis erbsengrosse Erweichungsherde in beiden Hemisphfiren, Atrophie
der \Vindungen, arteriosklerotische Degeneration der Basisgeffisse und
feineren Hirngefksse. Ruckenmark ohne deutliche Verfinderungen.
Mikroskop. Befund. Alte Degeneration eines Pyramidenseiten-
stranges.
10. Engelhardt F., 60 Jahre alt, aufgenommen d. 22. X. 1897, ge¬
storben d. 22. VII. 1898.
Anamnese: 10 Jahre vor der Aufnahme Lues (Schanker, Roseola),
2 Jahre spfiter Verschlechterung des Gehvermogens, Schmerzen in den
Beinen, seit 7 Jahren Incontinentia urinae, seit 3 Jahren zunehmende
Demenz.
Status: L. Pupille >> R, beide fast reactionslos, lebhaftes klein-
schlfigiges Zittern des Kopfes und der Hfinde, stark gesteigerte Patellar-
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UntersuchuDgen fiber die Altersveranderungen im Ruckenmark. 377
reflexe, Gang leicht spastisch, unsicher, kein Romberg, deutliche Propulsion,
Sprache lallend und unsicher, Starre der Gesichtsmusculatur, Sensibilitfit
bei der vorgeschrittenen Demenz nur unsicher zu priifen. Nadelstiche
rufen an beiden Unterschenkeln keine Reaction hervor. Andauernd unrein.
Sectionsbefund. Fettige Degeneration der Leber. Allgemeine
Arteriosklerose. Leptomeningitis chronica, Ependymitis granulosa, Arterio-
sklerose der Basisgef&sse. Hydrocephalus externus et internus. Atrophie
der Hirnrinde. Ruckenmark ohne makroskopische Ver&nderungen.
Mikroskop. Befund. Markscheiden. Starker Ausfall in der
Peripherie, am st&rksten in den seitlichen Partien des mittleren und
unteren Brustmarkes, hier auf das Gebiet der Seitenstrfinge tibergreifend.
Plaquesartige Degenerationen ohne Zusammenhang mit der Peripherie in
den untern Rfickenmarksabscbnitten, besonders fiber den Hinterstrfingen.
Sekundfire Degeneration beider Pyramidenseitenstr&nge im Lendenmark,
desgl. der Goll'schen Strftnge im Halsmark. Nach Marchi starkere Schollen-
anhftufung fiber den Hinterstrfingen im Halsmark, besonders in den Goll’schen
Strfingen, sowie in geringem Grade diffuse Schollen fiber dem Querschnitt.
Glia Entsprechend dem Markscheidenausfall stark gewuchert, mfichtige
Randsklerose, plaquesartige Gliawucherungen, perivaskulfire Sklerose. Gang-
lienzellen mfissig stark degenerirt. Hochgradige Degeneration der Rficken-
marksgefUsse ohne Infiltrationen.
11. Theodor M., 67 Jahre alt, aufgenommen d. 7. XI. 1897, gestorben
d. 20. XI. 1897.
Anamnese: Seit 30 Jahren wiederholt in langen Zwischenr&umen
Krankheitszust&nde mit Schwindel, Doppelsehen, Par&sthesien, Ohnmachten,
psychische Reizbarkeit. Auf Quecksilbercur stets volliger Rfickgang der
Erscheinungen. Seit 2 Monaten zunehmende Verschlechterung des Ganges,
Sehstfirungen, Zust&nde von Verwirrtheit.
Status: Pupillen gleichweit, reagiren trfige, linksseitjge Parese, links-
seitiger Lagophthalmus, Sensibilit&t nicht deutlich gestort.
Sectionsbefund. Croupfise Pneumonie. Leptomeningitis und Meningo¬
encephalitis diffusa, rechts st&rker als links, grosser filterer Erweichungs-
herd im rechten Stirnlappen, frischer Erweichungsherd in der rechten Klein-
hirnhemisphfire, Ependymitis granulosa, hochgradige Arteriosklerose der
HirngefiLs8e. Verdickung und Verwachsung der Rtickenmarkshftute im Brust-
und unteren Halsmark, Einlagerung von Kalkplfittchen.
Mikroskop. Befund. Markscheiden: Leichter Ausfall in der
Peripherie, sowie fiber den P. S.- und Hinterstrfingen, am stfirksten in dem
durch meningitische Schwarten comprimirten Brustmark. Nach unten und
oben hiervon leichte sekundfire Degeneration. An einer Stelle im Brust¬
mark gummose Wucherung bis an’s Vorderhom derselben Seite heranreichend.
Glia: Am Rande und in der grauen Substanz deutlich vermehrt. Hoch¬
gradige Arteriosklerose der kleineren und grosseren Rfickenmarksgeffisse.
12. Ludwig W., 70 Jahre alt. Im Siechenhaus gestorben. Intra vitam
keine erheblichen Alterserscheinungen.
Sectionsbefund. Carcinoma Oesophagi, Emphysema pulmonum, starke
Verkalkung der Basisgefasse.
Mikroskop. Befund. Markscheiden am Rande gelichtet, besonders
im Brust- und Lendenmark, nach Marchi diffuse Schollen fiber dem Quer¬
schnitt. Glia entsprechend den gelichteten Partien leicht gewuchert.
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378
XXIII. Sander
13. Ludwig M., 62 Jahre alt, aufgenommen d. 22. IV. 1896, gestorben
d. 1 . m. 1898.
Anamne8e: 4 Woclien vor der Aufnahme Beginn der Erkrankung
mit Vergesslichkeit, Grbssenideen, Erregungszustanden.
Status: Zittem der Zunge and H&nde, Pupillen gleichweit, tr&ge
reagirend, Patellarreflexe lebhaft. Sensibilitftt intact.
Sectionsbefund. Pneumonia catarrhalis dextra, Pleuritis chronica,
Hypertrophia cordis, Leptomeningitis chronica diffusa, Arteriosklerose der
Basisgefasse, Hydrocephalus externus et internus, Ependymitis granulosa.
Riickenmark ohne Verknderungen.
Mikroskop. Befund. Im Brust- und Lendenmark die Mark-
scheiden in der Peripherie bis an die graue Substanz heran gelichtet,
nach dem Band zu starker, nach Marchi diffuse Schollen in geringem Grade
iiber dem Querschnitt, in der Peripherie etwas starker.
14. David S., 76 Jahre alt, aufgenommen d. 10. X. 1875, gestorben
d. 21. X. 1897.
Anamnese: Anfangs periodische Psychose, in den letzten Lebensjahren
zunehmend senil.
Status: Pupillen gleichweit, fast reactionslos, Patellarreflexe kaum
auszulosen, Gang ataktisch, unsicher, Sensibilitat ohne deutliche Stbrung.
Sectionsbefund. Schrumpfung und Verkalkung der Herzklappen,
Hypertrophie des Herzens, beiderseitige Schrumpfnieren. Atrophie des Ge-
hirns, Arteriosklerose der Hirngefasse, geriuge Verdickung der Pia, Er-
weiterung der Ventrikel, Hydrocephalus externus. In der Pia spinalis
kalkige Einlagerungen liber den Hinterstrangen, leichte Verfarbung der
letzteren.
Mikroskop. Befund. Geringe Degeneration der Hinterstrange.
15. Elisabeth K., 85 Jahre alt, aufgenommen d. 12. X. 1896, ge¬
storben d. 19. XI. 1897.
Anamnese: 3—4 Jahre vor der Aulhahme beginnende Erkrankung
mit zunehmender Gedachtnissschwache und korperlicher Hinfailigkeit.
Status: Lebhaftes Zittern des Kopfes und der Hande, bei Bewegungen
zunehmend, keine Lahmungen. Patellarreflexe bei der Anspannung des Pat.
nicht zu priifen. Dauernd unrein.
Sectionsbefund. Beiderseitige Schrumpfnieren, Atrophie des Gehirns,
Verdickung der Pia, Erweiterung der Ventrikel.
Mikroskop. Befund. Markscheiden: Markscheiden allenthalben
leicht gelichtet, am starksten am Rand und liber den Hinterstrangen.
Seitenstrange durchgangig intact. Nach Marchi vereinzelte Schollen.
Glia liber den Hinterstrangen und am Rande deutlich vermehrt, in der
grauen Substanz starke Sklerose, zahlreiche Spinnenzellen. Gang lien-
zellen hochgradig degenerirt, kaum eine einzige Zelle noch als normal
anzusehen, Gefasse stark geschlangelt und erweitert, mit verdickten
Wandungen, einzelne Lumina obturirt.
16. v. K, 60 Jahre alt, aufgenommen d. 28. IV. 1898, gestorben
d. 20. VI. 1898.
Anamnese: Seit 6 Jahren geringere geistige Frische, vor 4 Jahren
vorubergehender Schlaganfall, seit 3 Jahren zunehmende linksseitige Lahmung,
fortschreitende Demenz.
Status: R. Pupille < L. und lichtstarr. fibriliare Zuckungen der her-
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Untersuchungen fiber die Altereveranderungen im Rfickenm&rk. 379
vorgestreck ten Zunge, bei passiven Bewegongen der nnteren Extremitfiten
erhebliche Widerstftnde, Patellarreflexe erbalten, Sprache ataktisch, Stehen
and Gehen unmfiglich. Eingehendere Sensibilitfitsprfifung nicht raoglicb,
Schmerzempfindang iiberall erhalten,
Sectionsbefund. Verdickung der Herzklappen, fettige Degeneration
der Leber nnd Nieren, eitrige Bronchitis mit kleinen pneamonischen Herden.
Athrophie der Rinde and der Thalami optici, Verdickung der Pia, Er-
weiternng der Ventrikel, Arteriosklerose der HirngefUsse, Efickenmark ohne
Ver&nderungen.
Mikroskop. Befund. Markscheiden: Leichter Ansfall fiber den
Seitenstrfingen and am Eande, auf der einen Seite stfirker, auch oberhalb
der Pyramidenkreuzung das gleiche Verhaltniss, an einzelnen Stellen am
Eande plaqnesartiger Ansfall. Nach Mar chi, frischer Zerfall in beiden
Seitenstrfingen, einseitig st&rker, leicht diffuse Schollen fiber dem Quer-
schnitt, frische perivaskal&re Schollenanh&ufungen am Eande. Glia leicht
gewnchert fiber den Seitenstrfingen, in der granen Substanz Spinnenzellen.
Ganglienzellen stark degenerirt, starke Gef&sserkrankung.
17. Andreas M., 67 Jahr alt, aufgenommen d. 28. XII. 1897, ge-
storben d. 19. VI. 1899.
Anamnese: Von jeher etwas nervfis. Beginn der Erkranknng
circa V 4 Jabr vor der Aufhahme mit Eeizbarkeit, Unruhe, Schlaflosigkeit,
Depression.
Status: Pupillen gleichweit, trfige reagirend, Spannungen der Mus-
culatur, z. Th. psychisch bedingt, Patellarreflexe gesteigert, Fussclonus.
Gang stark spastisch nnd unsicher. Dupuytren’sche Contraktnren an den
Fingern. Maskenartige Starre der Gesichtsmuskeln, Glossy skin, hochgradige
Abmagernng der Mnscnlatnr.
Sectionsbefund. Atheromatfise Degeneration der Aorta und Aorten-
klappen, fettige Degeneration der Leber nnd Nieren. Pnenmonische Infiltration
der Unterlappen beider Lnngen, alte Tubercnlose der rechten Lungenspitze.
Verdickung der Pia, leichte Atrophie des Gehirns, Atherom der Basis-
geffisse, Leptomeningitis chronica spinalis im Brust- nnd Lnmbalmark.
Mikroskop. Befnnd. Marchi: Frische Degeneration (leichteren Grades)
der einen Seite und des entgegengesetzten Vorderstranges, in der Pyramide
entsprechend, dazwischen filterer Ansfall. Leicht diffuse Schollen fiber den
Hinterstr&ngen nnd vereinzelt am Eande.
18. Marie N., 65 Jahre alt, aufgenommen d. 9. III. 1899, gestorben
d. 20 . III. 1899.
Anamnese: Beginn der Erkranknng einige Monate vor der Anfnahme
mit Gedfichtnissschwftche, Depression, Kleinheitsideen, znnehmender Unruhe.
Status: Pupillen nicht different, ausgiebig reagirend, Sehnen- und
Hautreflexe normal, Sensibilitfit intact, Gang und Sprache ohne Be-
sonderheiten.
Sectionsbefund. Atherom der Aortenklappen und des Anfangstheiles
der Aorta, rechtsseitige Pleuritis, fettige Degeneration der Leber, beider-
seitige Schrumpfnieren. Leptomeningitis chronica leichteren Grades. Hy¬
drocephalus internns. Euckenmarkssubstanz beim Durchschneiden leicht
knirschend.
Mikroskop. Befund. Marchi. Diffuse Schollen in geringem Grade
gleichmfissig fiber dem Querschnitt verstreut, etwas starker am Eande.
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XXIII. Sander
19. Margarethe W., 66 Jahre alt, aufgenommen d. 26. VII. 1898,
gestorben d. 8. III. 1899.
Anamnese: Beginn der Erkrankung 1 Jahr vor der Aufnahme mit
Gedachtnissschwache, VerstiramuDg, auffallender Stimmungswecbsel, za-
nehmende Unruhe.
Status: Pupillen eng, sehr trage reagirend, die hervorgestreckte
Zunge weicht etwas nach links ab, Patellarreflexe nicht auszulosen, Haut-
reflexe erhalten, Gang spastisch-paretisch, Sprache erst gegen Ende gestort
Sensibilit&t bei der Demenz der Pat nicht sicher zn priifen, jedenfalls
Schmerzgefiihl bedeutend herabgesetzt. Incontinentia urin. et alvi. Gegen
Ende des Lebens Znnahme der Erscheinungen von Seiten des Rhckenmarks
mit schnell fortschreitendem Decubitus.
Sectionsbefund. Atherom der Aorta und Herzklappen. Myode-
generatio cordis. Emphysema pulmonum. Pleuritis adhftsiva dextra, Chole¬
lithiasis, Hydrocephalus internus, Atrophie der Stirn- und Parietallappen.
Atheromatose Entartung der Basisgefhsse. Riickenmarkssubstanz stark
atrophisch und geschrumpft.
Mikroskop. Befund. Markscheiden: Starker Ausfall diffus iiber
dem Querschnitt, an zahlreichen Stellen plaquesartig meist in Form von
keilformigen Herden, welche mit der Basis der Peripherie aufsitzen. Ueber
den Hinterstr&ngen, besonders in den unteren Abschnitten, ebenfalls zahl-
reiche Herde von unregelmassiger Form mit vblligem oder theilweisem
Ausfall der Markscheiden. Nach Mar chi leicht diffuse Schollen iiber dem
Querschnitt, frischer Zerfall iiber den Hinterstrangen, in den unteren Ab¬
schnitten besonders zu beiden Seiten der Medianspalte. Glia. Im Mark
stark vermehrt, an einigen Stellen im Brustmark halbseitig starker, zahl-
reiche plaquesartige und perivaskul&re Sklerosen, besonders am Rande und
iiber den Hinterstrangen, in grauer und weisser Substanz grosse massige
Spinnenzellen. v. Gieson. Hochgradige senile Gef&ssentartung, zahlreiche
Gefasse vollig obturirt. Ganglienzellen in starkem Zerfall begriffen.
20. Jacob M., 74 Jahre alt, aufgenommen d. 7. X. 1898, gestorben
d. 16. III. 1899.
Anamnese: Seit 4 Jahren im Anschluss an einen Unfall Schwindel-
anf&lle. Vor 2 Jahren vorftbergehende Aphasie, zeitweilig verwirrt, plotz-
liche Erregungszust&nde. Seit 2 Jahren Stbrungen in der Bewegung der
Arme und Beine, in letzter Zeit unrein.
Status: Pupillen eng, fast reactionslos, Motilit&t der obern Extre-
mitaten bis auf massige Schwache unbeschrankt. Gang unsicher, schwankend,
das rechte Bein wird etwas nacbgeschleppt. Sehvermbgen herabgesetzt
(Hemianopsie?). Patellarreflexe beiderseitig lebhaft, keine deutliche Sensibi-
litatsstbrung. Sprache ataktisch und lallend.
Sectionsbefund. Atrophie der Leber und Milz. Arteriosklerose der
Aorta und Aortenklappen, Arteriosklerotische Schrumpfnieren. Hydrocepha¬
lus extern, et internus, Verdickung der Pia, Arteriosklerose der Basis-
gefasse und feinern Hirngefasse, 2 alte haselnussgrosse Erweichungen an
der Spitze des rechten Occipitallappens. Atrophie des rechten Pulvinar.
Mehrere hirsekorngrosse Erweichungsherde im Fusse der Briicke.
Mikroskop. Befund. Marchi. Frischer Zeiffall in beiden Seiten-
strangen, auf der einen Seite weit starker, in den Pyramiden entsprechend.
Wenig diffuse Schollen. Am Rande einzelne aitere Degenerationsherde.
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Untersuchungen fiber die Altersveranderuugen im Rtickenmark. 3g[
Glia. In weisser und grauer Substanz vermehrt, in letzterer Spinnenzellen.
Nach y. Gieson Starke Geffisserkrankung.
21. Heinrich R., 62 Jahre alt, aufgenommen d. 2. III. 1899, gestorben
d. 13. in. 1899.
Anamnese: Seit '/ 2 Jahr psychisch verfindert, nnbesinnlich, znnehmende
Gedfichtnissscliwfiche, zeitweilig Erregungszustfinde.
Status: Pupillen reagiren prompt, linksseitiger Lidkrampf, Arm-
bewegnngen wenig krfiftig, keine Ataxie, Beinbewegnngen und Gang nicht
gestfirt, Patellarreflexe lebhaft, Schmerzempfindlichkeit herabgesetzt. In¬
continentia urinae.
Sektionsbefund. Pneumonische Infiltration im linken Unterlappen,
fettige Degeneration der Leber. Verdickung der Pia, aucb fiber der Con-
vexitat des Kleinhirns, leichte Erweiterung der Ventrikel, Ependym-Granu¬
lation im IV. Ventrikel. Rfickenmarksubstanz blutreich.
Mikroskop. Befund. Nach Marclii starker filterer Randausfall,
vereinzelte Schollen.
22 . Wilhelm D., 51 Jahre alt, aufgenommen d. 20. IV. 1898, ge¬
storben d. 6. III. 1899.
Anamnese: Vor 2 Jahren Herzklopfen, reichlich Albumen und Hyper-
trophie des linken Ventrikels. Seit 1 Jahr zunehmend vergesslich, zer-
streut, unorientirt. Vor 6 Wochen Anfall mit Zuckungen ohne volligen
Bewusstseinsverlust, seitdem rapider Rfickgang. Schwfiche der Beine.
Status: Pupillen mittelweit, reagiren prompt. Lebhaftes Zittern der
Zunge und vorgestreckten H&nde. Patellarreflexe beiderseits sehr lebhaft,
beiderseits Fussclonus. Bewegung der Arme ataktisch. Gang unsicher,
spastisch, schwankend. Sensibilitfit nicht gestfirt. Zuletzt Incontinentia
urin. et alv.
Sectionsbefund. Hypertrophia cordis, Atherom der Aorta, beider-
seitige Nephritis, Gallensteine. Pachy- und Leptomeningitis chronica diffusa,
cystische Erweichong im rechten Stirnlappen, arteriosklerotische Atrophie
der Hirnrinde. Rtickenmark ohne pathologischen Befund.
Mikroskop. Befund. Nach Marchi frische Degeneration in beiden
Pyramiden-, Seiten- und Vorderstritagen, auf der einen Seite stftrker, in
den Pyramiden entsprechend, frischer Zerfall am Rande des Markes, nach
innen fortschreitend, stellenweise herdartig und deutlich perivaskul&r.
Ganglienzellen stark degenerirt. Glia fiber den Seitenstr&ngen leicht
gewuchert, am Rande des Marks zahlreiche Spinnenzellen. v. Gieson: Ge-
f&sse theils stark erweitert, theils verengt, Wandungen verdickt, stellen¬
weise stftrkere Kernanhfiufungen in der Adventitia.
28. Barbara, H., 80 Jahre alt, aufgenommen d. 2. V. 1898, gestorben
d. 20. VII. 1898.
Anamnese: Beginn der Erkrankung 2 Jahre vor der Aufnahrae mit
zunehmender Unruhe, Vergesslichkeit, fortschreitender Demenz. In den
letzten Monaten mit Urin unrein, Gang und Sehvermfigen zunehmend
schlechter.
Status: Pupillen eng, gleichweit, minimal reagirend, Kniephfinomene
vorhanden, Hautreflexe schwacb, Gang schwerf&llig, trippelnd, beim Stehen
starkes Schwanken des Kfirpers, Sprache lallend, keine Lfihmungserschei-
nungen.
Sectionsbefund: Pleuritis adhaesiva dextra, atheromatfise Entartung
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XXIII. Sander
der Aortenklappen, sowie des Anfangstheiles der Aorta. Atrophie und
fettige Degeneration der Milz, Leber und Nieren. Verdickung der Pia,
Erweiterung der Ventrikel, Atrophie des Gehirns. Atherom der Basis-
gefksse. Dura spinalis stark gefaltet, Pia iiber den Hinterstrangen stellen-
weise leicht getriibt. Riickenmarksubstanz beim Durchschneiden knirschend,
erscheint schon makroskopisch wie geschrnmpft.
Mikroskop. Befund: Markscheiden. Deutliche Lichtung uber
den ganzen Querschnitt, an einzelnen Stellen nach dem Rande zu mehr
plaquesartig, haufig auf einer Schnitthalfte starker. Nach Marchi ver-
einzelte Schollen iiber dem Querschnitt, an einzelnen Stellen perivascniare
Zerfallsherde. In n. ulnaris und radialis vereinzelte Schollen. Glia in
grauer und weisser Substanz dentlich vermehrt, starke perivascniare
Sklerose. Ganglienzellen hochgradig pigmentos entartet, kaum eine
Zelle noch als normal anzusprechen. v. Gieson: Starke Gefassentartung,
namentlich Endarteritis, starke Kerninfiltration der Gefasswande.
24. Lehmann, M., 75 Jahre alt, aufgenommen d. 8. III. 1892, ge-
storben d. 7. VII. 1899.
Anamnese: Seit 3 Jahren Abnahme des Geschaftsinteresses, seit
1 Jahr zunehmende Vergesslichkeit, Schlafsucht, grosse Reizbarkeit. In
den letzten Wochen unrein.
Status: Pupillen mittelweit, trage reagirend, keine grobere Motilitats-
storung, Kniephanomene gesteigert, keine Ataxie, Sensibilitat erhalten. In
den letzten Lebensmonaten zunehmende Spasmen sammtlicher Extremitaten.
Sectionsbefund: Leptomeningitis chronica, leichte Atrophie des
Gehirns, atheromatbse Entartung der Basisgefasse und kleineren Hirn-
gefasse. Leptomeningitis chronica spinalis mit dichter Einlagerung von
Kalkplattchen.
Mikroskop. Befund: Marchi, beiderseitige frische Degeneration in
beiden Pyramiden-, Seiten- und Vorderstrangen, oberhalb der Pyramiden-
kreuzung entsprechend. Auf der einen Seite ist der Degenerationsprocess
etwas frischer und intensiver. Vereinzelte Schollen in geringer Zahl iiber
dem Querschnitt. Einzelne aitere Plaques am Rande. Ganglienzellen
massig stark degenerirt. v. Gieson: Stiitzsubstanz ausserhalb der sekundar
erkrankten Stellen nicht vermehrt, die meisten Gefasse unverandert, einzelne
starker sklerosirt, in deren Umgebung deutliche Gliavermehrung.
25. Emil A., 61 Jahre alt, aufgenommen d. 1. VI. 1899, gestorben
d. 11. VII. 1899.
Anamnese: Beginn der Erkrankung vor circa 2 Monaten mit krankhafter
Verstimmung, Nahrungsverweigerung und hypochondrischen Vorstellungen.
Korperbefund: Pupillenreaction auf Lichteinfall und Accomodation
prompt, Patellarreflex lebhaft, keine Motilitats- und Sensibilitatsstorungen.
Hochgradige Arteriosklerose der grosseren Arterien. In den letzten Wochen
andauernd unrein.
Sectionsbefund: Verdickung und Verkalkung der Aorten und Mitral-
klappen, Atherom der Aorta, cystose Degeneration der linken Niere, Katarrh
des Nierenbeckens, hamorhagische Entziindung der Blasenschleimhaut, Hyper-
trophie der Prostata. Leptomeningitis chronica diffusa, Oedem des Gehirns,
leichte Verdickung der Gehirngefasse. Riickenmark ohne Befund.
Mikroskop. Befund. Marchi: Leichter Randausfall, vereinzelte
Schollen iiber dem Querschnitt.
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Untereuchungen fiber die Altersveranderungen im Ruckenmark. 383
26. August, H., 73 Jabre alt, aufgenommen d. 13.1.1892, gestorben
d. 19. Vm. 1899.
Anamnese: 9 Monate vor der Aufnahme Schlaganfall mit aphasischeu
Erscheinungen ohne Lfihmungen. Seitdem zunehmende Demenz mit Er-
regungszustfinden.
Status: Pupillen mittelweit, nicht different, trfige reagirend, Knie-
phfinomene normal, kein Romberg, Gang nicht gestort, leichtes Zittern der
Hfinde. Keine betrfichtliche Sensibilitatsstorung.
Sectionsbefund: Pleuritis exsudativa sinistra et dextra, Emphysema
pulmonum, Cor bovinum, Hypertrophia et Dilatatio ventric. utriusque, Athe-
rom der Aorten- und Pulmonalklappen, sowie des Anfangstheiles der Aorta.
Leptomeningitis chronica diffusa. Oedema cerebri. Circumscripte Atrophie
im Schlafen- und Stirnlappen. Alte Erweichungsherde. RUckenmark ohne
Veranderungen.
Mikroskop. Befund: Nach Marchi einzelne diffuse Schollen fiber
dem Querschnitt, am Rande filterer Ausfall.
Fassen wir diese soeben beschriebenen Falle naher ins Auge, so
vermissen wir bei fast keinem derselben schwerere arteriosklerotische
Veranderungen an den inneren Organen. Wie schon die klinische
Beobachtung vermuthen liess, fanden sich meist bei der Sektion
Zeichen von Arteriosklerose, besonders an den Pradilektionsstellen
dieser Erkrankung, den Gefassen der Hirnbasis, den Herzklappen und
dem Anfangstheil der Aorta. Die Veranderungen waren viel haufiger
und intensiver, als bei anderen organischen Hirnkrankheiten z. B. bei
der progressiven Paralyse. In weit fiber der Halfte der untersucbten
Falle fanden sich auch Erkrankungsprocesse in den Nieren, meist in
der Form der arteriosklerotischen Schrumpfhiere, bei den schwersten
Formen des senilen Marasmus auch Fettdegeneration der Leber. Es
unterliegt wohl keinem Zweifel, dass diese Veranderungen an den
inneren Organen zu den Erkrankungsprocessen im Nervensystem nur
insoweit in Beziehung stehen, als sie ebenfalls der arteriosklerotischen
Gefassdegeneration ihre Entstehung verdanken.
Keinesfalls kann man annehmen, dass die Veranderungen an den
Korperdrusen, besonders die Schrumpfnieren in einem ursachlichen
Verhaltniss zu den Degenerationsprocessen im Ruckenmark stehen,
wie von einigen Seiten behauptet wurde. Denn gerade bei den
Formen frfihzeitiger Arteriosklerose findet man haufig die schwersten
Degenerationsprocesse im Nervensystem bei verhaltnissmassig geringer
Allgemeinerkrankung. Die Arteriosklerose der inneren Organe kommt
bei den Veranderungen im Nervensystem offenbar nur insofem in Be-
tracht, als sie in vorgeschrittenen Fallen zu einem schweren Marasmus
ffthrt, der jedenfalls auf die Degenerationsprocesse im Rfickenmark
nicht ohne Einfluss bleibt. Die hierdurch bedingten Veranderungen
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384
XXIII. Sander
sind aber geringffigig und stehen in keinem Verhaltniss zu der
Schwere der senilen Processe, wie vergleichende Untersuchungen an
marastischen Individuen in frfiherem Lebensalter zeigen.
Dass fast bei alien untersuchten Fallen schon makroskopisch Er-
krankungsprocesse der Hirnrinde hervortreten, kann bei der Art des
untersuchten Materials nicht wundern. Es handelte sich ja stets um
Kranke, die an Dementia senilis litten, einer Psychose, bei der orgar
nische Hirnveranderungen fast nie vermisst werden. Bei anders-
artigem Material, ausserhalb der Irrenanstalten, dttrfte man viel haufiger
auf Falle stossen, bei denen trotz schwerer seniler Rfickenmarks-
degeneration die Veranderungen der Hirnrinde noch geringffigige sind.
Ich erinnere z. B. an den Symptomenkomplex der Paralysis agitans,
der wohl ebenfalls durch prasenile Degenerationsprocesse im Nerven-
system bedingt ist, zu denen sich erst spater die Rindenerkrankung
hinzugesellt.
Im Gegensatz zu dem meist recht deutlichen Himbefund treten
die mikroskopischen Veranderungen am Rfickenmark auch in den yon
uns untersuchten Fallen erheblich zurttck. In einigen Fallen fand sich
eine leichte Yerdickung der Pia, 2mal fiber den Hinterstragen localisirt,
in einem Falle schwartige Verdickung und Verwachsung der Rficken-
markshaute, die unzweifelhaft luetischer Natur war.
Haufig fanden sich Kalkplattchen in die Haute eingelagert, in
einem Falle so zahlreich, dass das Mark wie in einem Kalkpanzer ein-
geschlossen war. Das Rttckenmark selbst war in mehreren Fallen deut-
lich verschmalert, in einem Falle schon makroskopisch wie geschrumpft.
Auf dem Durchschnitt erschienen einige Male die Seiten- resp. Hinter-
strange leicht grau-verfarbt Diese makroskopisch so geringffigigen
Yeranderungen, die auch andere enttauscht haben, lessen es erklarlich
finden, wenn man dem Rfickenmark in den senilen Degenerations-
processen nur eine geringe Stelle anwies und die im Alter auf-
tretenden Funktionsstorungen lieber mit Processen im Muskelsystem
oder peripheren Nerven in Zusammenhang brachte. Erst eine genaue
mikroskopische Untersuchung lehrt, wie schwer auch das Rfickenmark
im Alter betroffen werden kann.
' Um ein Verstandniss fQr die vorhandenen Degenerationsprocesse
zu gewinnen, mussen wir von den leichten Formen ausgehen, von
denen einzelne wohl noch unter den BegrifF der physiologischen
Senilitat fallen. Fast 2 / 3 der von mir untersuchten Falle kdnnen zu
dieser leichten Form gerechnet werden. Ob das Rfickenmark stets in
hoherem Alter regressive Veranderungen aufweist, lasst sich an meinem
Material nicht entscheiden, es hangt ja dies auch weniger von der
Altersstufe, als von der Schwere der senilen Gefessdegeneration ab.
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Untersuchungen uber die Altersveranderungen im Ruckenmark. 335
Jenseits der achtziger Jahre wird man bei exacter Untersuchung
Degenerationsprocesse im Riickenmark wohl kaum je vermissen.
In den von mir untersuchten Fallen fanden sich fetets, auch im
jungeren Alter, deutliche Veranderungen in der grauen und weissen
Substanz. Die Markscheiden sind schon in den leichtesten Fallen
etwas gelichtet, bald mehr, bald weniger, mitunter auch in einer
Rttckenmarkshalfte oder nur in circumscripten Abschnitten in starkerem
Grade. Ein solcher Querschnitt sieht namentlich im Vergleich zu ge-
sundera Mark im mittleren Alter auffallend hell und faserarm aus.
Erreicht dieser mehr diffuse Ausfall einen hoheren Grad, so erscheinen
die peripheren Theile des Querschnittes mehr gelichtet als die centralen,
so dass man von einem Randausfall sprechen kann. Derselbe tritt
meist zuerst in den periphersten, seitlichen Abschnitten des Markes
auf, und greift nach oben und unten auf das Gebiet des Gowers’schen
Bttndels und der Kleinhirnstrange tiber. Die Hinterstrange und die
vorderen Riickenmarksabschnitte bleiben von diesem Randausfall in
der Regel verschont Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass dieser
starke Zerfall der peripheren Nervenfasern dadurch bedingt ist, dass
dieselben in Folge ihrer Lage bei den von den Gefassen ausgehenden
Emahrungsstorungen am frtihesten unter den unghnstigsten Beding-
ungen stehen. Aus diesem Grunde sieht man auch bei den schweren
Formen circumscripte Degenerationsherde meist zuerst am Rande des
Markes in den seitlichen Abschnitten auftreten. Es handelt sich dabei
um keilformige, zuweilen auch mehr ovale oder stabchenformige
Herde, welche mit breiter Basis der Peripherie aufsitzen, wahrend ihr
spitzeres Ende nach dem Centrum gerichtet ist. Die Spitze des Herdes
ist haufig gegen die Umgebung nicht scharf abgesetzt, sondern geht
in eine langgezogene, faserarme Partie fiber, die sich dem Verlaufe
eines nach dem Centrum ziehenden Gefasses deutlich anschmiegt Im
Bereich des eigentlichen Degenerationsherdes sind die Nervenfasern
meist total ausgefallen, nur Reste von Markscheiden und vereinzelte
Axencylinder sind noch zuweilen erkennbar. Betrachtet man einen
nach Mar chi behandelten Schnitt jener leichteren Form von Senilitat,
so sieht man in der Regel neben ausgefallenen Fasern einzelne tiber dem
Querschnitt diffus verstreute Schollen; ein Zeichen, dass hier ein lang-
sam fortschreitender Zerfallprocess stattgefunden hat Bei Fallen von hoch-
gradigem Marasmus treten diese Schollen zahlreicher auf und ebenso
dann, wenn eine mehrtagige Agone vorhergegangen ist Bei einzelnen
Fallen erscheinen die Schollen in der Peripherie etwas zahlreicher,
hie und da sah man auch eine starkere Schollenanhaufung, die meist deut¬
lich an die Umgebung eines kleinen Gefasses gebunden war. Grossere
frische Degenerationsherde, analog den im Markscheidenpraparat sicht-
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386
XXIII. Sander
baren Herden, konnte ich bei den einfach senilen Formen nicht kon-
statiren, offenbar entstehen auch hier die grosseren Herde sehr lang-
sam und allmahlig. Die Glia ist bei den leichteren Formen sender
Degeneration stets etwas vermehrt, die Randschicht, die einzelnen
Gliabalken sowie der perivaskulare Gliafilz verbreitert. Die Fasern
sind dichter und starker als im normalen Mark, an den einzelnen
Knotenpunkten grobere Spinnenzellen. Die Gliawucberung entspricht
dabei im allgemeinen der Starke des Markscheidenzerfalles und tritt
da besonders hervor, wo derselbe starkere Dimensionen annimmi In
den Fallen, wo das Rttckenmark besonders schwere Degenerations-
processe aufweist, wo zahlreiche Herde auftreten, erreicht auch die
Neuproduktion von Glia einen hohen Grad.
Die im Markscheidenpraparat hervortretenderi Degenerationsherde
prasentieren sich dann nach der Glia-Methode als vollig sklerosirte Partien.
Bei den weniger vorgeschrittenen Graden sieht man deutlich, wie ein
dichter Gliafilz sich in das Gewebe vorschiebt, der entweder von der
Umgebung der Gefasse ausgeht und dann das Bild der perivaskularen
Sklerose darbietet, oder falls der Herd am Rande liegt, auch von der
Randschicht. Gleichzeitig verdicken sich die in der Nahe gelegenen
Gliabalken durch Anlegung neuer Fasern, das Filzwerk wird dichter,
schliesslich resultirt ein sklerotischer Plaques, der sich von den bei
der eigentlichen „Sclerose en Plaques" auftretenden Herden nur durch
seine Lage und Form unterscheidet. Auch an den Glia-Praparaten er-
kennt man deutlich die eigenthllmliche Gestalt der Herde, die meist
ein Dreieck darstellen, das mit breiter Basis der Peripherie aufsitzt,
wahrend die mehr oder weniger abgerundete Spitze nach dem Centrum
gerichtet ist. Innerhalb dieses Herdes ist das Gewebe vollig durch
Glia ersetzt. Von der Spitze setzt sich meist ein schmaler weniger
sklerosirter Streifen nach innen fort, der allmahlig in das gesunde Ge¬
webe auslauffc. Durch zahlreiches Auftreten solcher Herde kommt es
schliesslich zu einer hochgradigen Vermehrung der Stfitzsubstanz, so
dass man geradezu von einer Sklerose des Markes sprechen kann.
In solchen Fallen ist das Mark im Querschnitt erheblich verschmalert,
erscheint schon makroskopisch wie geschrumpft, im Glia-Bild findet
sich neben der herdartigen Sklerose, eine diffuse Wucherung der Stutz-
substanz mit zahlreichen Spinnenzellen, deren dicke, lange Auslaufer
nach alien Seiten das Gesichtsfeld beherrschen. Den starksten Grad
dieser Rfickenmarkssklerose fand ich bei einer 67jahrigen Frau, die
erst einige Monate vor dem Tode schwerere Erscheinungen von seiten
des Rtickenmarks aufwies. (Fall 19.) Hier war sogar im Brustmark
die Stiitzsubstanz in der einen Rfickenmarkshalfte parallel einem
starkeren Markscheidenausfall weit starker gewuchert, als in der anderen,
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Untersuchungen fiber die Altersveranderungen im Ruckenmark. 387
das Mark dem entsprechend auf der einen Seite starker verschmalert,
so dass man geradezu dem Eindruck einer halbseitigen Schrumpfung
gewann. In diesem Falle war durch die in den Hinterstrangen aufge-
tretenen sklerotischen Plaques eine secundare Degeneration in den
Goll’schen und Burdach’schen Strangen verursacht worden, wahrend
ich sonst secundare Degenerationen im Anschluss an diese Herde
nicht konstatiren konnte. Die Glia-Production geht sowohl in den
leichteren wie schwersten Fallen dem Zerfall im Parenchym parallel,
nirgends konnte ich den Eindruck gewinnen, als ob etwa durch die-
selbe direkt, besonders durch die perivaskulare Sklerose, secundar ein
Zerfall im Gewebe hervorgerufen wird. Dass gerade im senilen
Rfickenmark haufig eine so ausserordentlich starke Wucherung der
Stutzsubstanz auftritt, liegt offenbar an dem ausserordentlich langsamen
Fortschreiten desDegenerationsprocesses; wo derselbe ein beschleunigteres
Tempo annimmt, wie bei bestimmten Formen, auf die wir noch zu
sprechen kommen werden, sind die Wucherungsprocesse in der Glia
haufig noch geringftigig und nur durch zahlreichere Spinnenzellen
angedeutet.
In der grauen Substanz des Rfickenmarks finden sich ebenfalls
mit zunehmendem Alter deutliche Veranderungen, besonders an den
Ganglienzellen. Wir finden hier den Process, der als pigmentose
Degeneration der Ganglienzelle schon wiederholt beschrieben worden
ist. Die farbbare Substanz des Zellleibes, die sogen. NissTschen
Granula, verfallen dabei einem Degenerationsprocess, der darin besteht,
dass die einzelnen Schollen in ein fein gekorntes, gelbbraunes Pigment
sich auflosen. Der Process beginnt in der Regel an einem Ende der
Zelle, haufig an der Abgangsstelle des Axencylinders, mitunter auch im
Zellinnern. Der Kern riickt meist schon bei Beginn des Processes an
die Wand der Zelle, farbt sich auffallend dunkel, die Kemmembran
tritt deutlicher hervor, das Kernkorperchen erscheint zuweilen eckig
oder geschrumpft. Der Axencylinderfortsatz farbt sich oft auf weite
Strecken hin auffallend deutlich. Schliesslich schwindet Kern und
Kernkorperchen und von der Ganglienzelle bleibt nur ein gelbbraunes
fein gekorntes Pigment fibrig, das noch lange die urspriingliche Form
der Zelle bewahrt, bis es schliesslich vollig verschwindet, so dass man
dann oft eine der Form der Ganglienzelle entsprechende Lficke im Ge¬
webe erkennt. In einigen Fallen verfallt das entstandene Pigment an-
scheinend einem Resorptionsprocess, so dass ein deutlicher Hohlraum
im Zellinnern entsteht, in dem nur einzelne feine Kornchen noch er-
kennbar sind. Dieser als Vakularisirung zu bezeichnende Vorgang ist
jedoch selten. In anderen Fallen erscheint die Ganglienzelle im Anfangs-
stadium der pigmentosen Degeneration auffallend verbreitert und ge-
Deutsche Zeitschr. f. Nerveahellkunde. XVII. Bd. 26
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388
XXIII. Sander
schwollen, wieder in anderen nimmt sie eine vollig runde Form an,
und wird schliesslich zu einer braunen Pigmentkugel die noch am
aussersten Rande einzelne Haufchen chromatischer Substanz erkennen
lasst. Schliesslich schwinden dieselben und das so entstandene meisfc
dunkelbraun gefarbte kugelige Gebilde ist nur schwer von einem
Corpus amylaceum zu unterscheiden. In einzelnen Fallen sieht man
das von Nissl als Sklerose der Ganglienzelle beschriebene End-
stadium, Zellen mit einem hellgefarbten, wenig differencirtem Zellleib,
Kern und Kemkorperchen auffallend deutlich am Rande hervortretend,
die Fortsatze weithin sichtbar, In anderen Endstadien erscheint die
Ganglienzelle auffallend dunkel, die chromatische Substanz stark farb-
bar, die Granula in einem kaum differencirbaren Klumpen zusammen-
geschmolzen, der ebenfalls stark gefarbte Kern undeutlich her¬
vortretend.
Diese so veranderten Zellen nehmen oft eigenthumliche Formen
an, zeigen z. B. an einem Ende einen breiten, dem lang gezogenen
Zellleib kappenformig aufsitzenden Pigmentherd, so dass das ganze an
das Bild eines Pilzes erinnert.
Diese Veranderungen an den Ganglienzellen, die namentlich in
den Endstadien noch viel mannigfaltiger sind, als ich sie eben ge-
schildert habe, sind selbst in leichtern Fallen schon stark ausge-
sprochen, wobei namentlich das Alter des Individuums eine Rolle zu
spielen scheinh In den beiden Fallen, die fiber 85 Jahre alt waren,
fand sich in der grauen Substanz kaum eine Ganglienzelle, die noch
als normal angesprochen werden konnte, obgleich die klinischen Er-
scheinungen, abgesehen von dem volligen Darniederliegen der Reflex-
thatigkeit von Blase und Darm, nicht sehr bedeutend waren. Diese
senile Degeneration der Ganglienzellen unterscheidet sich qualitativ
nicht von der pigmentosen Degeneration bei anderen chronischen Er-
nahrungsstorungen, z. B. bei pernicioser Anamie, wie ich mich an
zahlreichen Yergleichspraparaten uberzeugen konnte, nur sind hier,
und ebenso bei den Formen frfihzeitiger Senilitat, noch zahlreiche
normale oder erst im Anfangsstadium der Degeneration befindliche
Zellen zwischen den starker erkrankten sichtbar. In vorgeschrittenen
senilen Fallen bieten die in alien Stadien der pigmentosen Degeneration
befindlichen Zellen mit den Formen dazwischen, die bereits abgelaufene
Processe darstellen, ein so charakteristisches Bild, dass man hieraus
ohne weiteres die senile Zelldegeneration erkennen kann.
Die Sttitzsubstanz in der grauen Spinalaxe ist meist leicht ver-
mehrt, in einzelnen Fallen starker. Man sieht dann im Gegensatz zu den
sonst sehr zarten, feinen Fasem, zahlreiche derbe und dicke Strange,
die sich noch haufig durch Zusammenlaufen nach einemPunkt als Auslaufer
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Untersuchungen fiber die Altersveranderungen im Ruckenmark. 389
einer Spinnenzelle erkennen lassen. Den Zellleib der dazugehorigen
Zelle sieht man selten. Die Sklerose der grauen Substanz bleibt im
Allgemeinen in massigen Grenzen und scheint der Starke der senilen
Veranderungen im Mark parallel zu gehen. Sie schien da mehr hervor-
tretend, wo der Degenerationsprocess an denGanglienzellenintensiver war.
Die Veranderungen am Gefassapparat sind der Starke des senilen
Zerfalls entsprechend und besonders bei den schwereren Formen recht
eindeutig. Wir finden dann die kleineren und grosseren Rucken-
marksgefasse, vorwiegend die Arterien in alien Stadien der arterio-
sklerotischen Degeneration. Die meisten Gefasse sind stark geschlangelt,
an zahlreichen Stellen erweitert, an andern hochgradig verengt, so
dass ein Lumen oft kaum noch erkennbar ist Betrachtet man der-
artige sklerotische Gefasse mit starken Systemen, so erscheint die
Adventitia meist nur wenig betroffen, mitunter leicht verdickt, die
Elastica fast stets hochgradig zersplittert und aufgefasert, oft an ein-
zelnen Stellen v&llig durchbrochen. Die Intima ausnahmslos stark
verdickt, zuweilen buckelartig vorspringend. Die Verengerungen des
Lumens sind fast stets durch die Wucherungen der Intima bedingt,
die oft doppelt so dick wie die ttbrigen Gef&sshaute zusammen er¬
scheint. Viele Gefasse sind ausserdem thrombosirt oder lassen wand-
standige Thromben erkennen. In den Fallen, wo es zur Bildung von
eigentlichen herdartigen Degenerationen gekommen ist, sind die Gefass-
veranderungen besonders hochgradig, im Bereich der sklerotischen
Plaques sieht man haufig Gefasse mit obturirtem Lumen. Eine deut-
liche Beziehung der Plaques und perivascularen Sklerosen zu besonders
schwer erkrankten Gefassen ist unverkennbar. Schon nach der Lage
und Anordnung der einzelnen Degenerationsherde kann es keinem
Zweifel unterliegen, dass dieselben durch die Erkrankung des den
betreffenden Bezirk versorgenden Gefasses bedingt sind.
Eine starkere Infiltration mit Randzellen oder Kernen ist bei ein-
fachen senilen Processen weder an den Rfickenmarkshauten noch an
den Gefasswandungen zu erkennen, nur in einem Fall (Fall 23) er-
schienen die Kerne in der Adventitia etwas zahlreicher. Die Kerne
der Sttttzsubstanz sind stets deutlich vermehrt, die Rfickenmarkshaute
zuweilen leicht verdickt, der Centralkanal haufig mit Rundzellen an-
gefttllt, sein Lumen nicht mehr erkennbar. Im Gewebe finden sich
meist zahlreiche Corpora amylacea, mitunter in ganz excessivem Grade.
Durch die Erweiterung der Gefasse, die Schrumpfungsprocesse im
perivascularen Gewebe und den Ausfall von Fasern erhSlt ein solcher
Schnitt von senilen Rfickenmark oft schon makroskopisch ein auffallend
poroses, zerklfiftetes Aussehen, das ihm ein sehr charakteristisches
Geprage verleiht.
26 *
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390
XXIII. Sander
Abweichend von den soeben geschilderten senilen Processen ist
ein anderer Rttckenmarksbefund, der sicb am haufigsten bei den pra-
senilen Formen, mitunter aber auch im hoheren Alter findet.
Wahrend es sich bei der im Alter auftretenden Senilitat fast stets
um ausserst chronisch fortschreitende Processe handelt, bei denen sich
nur selten frische Degenerationsherde nachweisen lassen, sind dieselben
bei dieser Form viel haufiger. Hier findet man nach Mar chi zahl-
reiche frische Zerfallsherde am Rande des Markes, die meist kleiner
sind als die oben bei den senilen Formen beschriebenen, sonst aber
die gleiche Anordnung und Form erkennen lassen. Am haufigsten
findet sich auch hier die Keilform mit breiter der Peripherie aufsitzender
Basis. Die kleinem und kleinsten Schollenanhaufungen sind meist
deutlich um ein Gefass gruppirt, bei den grosseren ist der Zusammen-
bang mit den Gefassen oft nur durch die eigenthfimliche Form und
Anordnung des Herdes nacbzuweisen. Ausser den eigentlichen De-
generationsherden findet sich bei dieser Form auch in der Regel ein
frischer Markscheidenzerfall in der Peripherie mit stark progressiver
Tendenz. Erstreckt sich dieser Degenerationsprocess fiber die langen
Bahnen des Markes, so kann es zu secundaren Degenerationen in den
Pyramidenbahnen und Hinterstrangen kommen, die deutlich von den
am starksten ergriffenen Abschnitten nach auf- und abwarts sich er-
strecken. Durch das Confluiren und Vorwartsschreiten der einzelnen
Herde, durch das gleichzeitige Auftreten secundarer Degenerationen
kommt es schliesslich zu hochgradig destruktiven Processen im Rucken-
mark, die an die schwersten Formen von Myelitis erinnem. Hierzu
gehSren die Falle 10, 16 und 22. In alteren derartigen Fallen sind
schliesslich die Nervenfasern in einer breiteu Zone mit Ausnahme des
Hinterstrangsgebietes fast total ausgefallen, nur an einzelnen erhalten
gebliebenen Inseln kann man noch das Entstehen des Processes aus
Herden erkennen, das Gebiet der Hinter- und Seitenstrange stark
gelichtet, in dem noch weniger erkrankten Gebiete zahlreiche, meist
mit der Peripherie in Zusammenhang befindliche Herde, die radien-
formig nach Innen fortschreiten. In den centraler gelegenen, noch
nicht erkrankten Abschnitten des Markes sieht man vereinzelte runde,
zuweilen auch langlich geformte Herde, die obne jeden Zusammen¬
hang mit den von der Peripherie eindringenden Degenerationsherden
stehen. Entsprechend dem totalen Markscheidenzerfall ist die reactive
Gliawucherung in diesen Fallen sehr bedeutend.
Im Bereich der frischen Zerfallsherde sieht man zahlreiche
Spinnenzellen, in den alteren Fallen ist die ausgefallene Nerven-
substanz durch ein dichtes sklerotisches Gewebe ersetzt, das sich in
derselben Form in die oben am Markscheidenpraparat beschriebenen
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UntersnchuDgen fiber die Altersveranderungen im Rfickenmark. 391
Herde nach innen fortsetzt. Der die Herde ausffillende Oliafilz ist
ausserordentlich dicht, die einzelnen Fasern erscheinen stark ver-
breitert, wie gequollen, und zeigen ein viel groberes Aussehen als im
normalen Mark. Die Neuproduction von Glia geht dabei in derselben
Weise wie ich es bereits bei den leicbteren Formen beschrieben
habe, sowohl von der Umgebung der Gefasse, dem perivascularen
Gliafilz, wie von der schon normaler Weise etwas dichteren Rand-
schicht aus. In den am meisten sklerosirten Partien sieht man schliess-
lich von dem ursprtinglichen Parenchym nur noch hie und da einen
Axencylinder, wahrend die Markscheiden total zu Grunde gegangen sind.
Die Gefasse sind bei diesen Formen meist noch wenig verandert.
Einzelne namentlich nach dem Rande zu liegende Gefasse sind stark
geschlangelt, ihr Lumen an einigen Stellen erweitert, an anderen durch
Verdickung der Intima stark verengh Andere, namentlich kleine
Gefasse scheinen durch Thrombusmassen verstopft oder lassen wand-
standige Thromben erkennen. Am meisten sind die nach der Peripherie
zu liegenden Gefassabschnitte von dem Erkrankungsprocess betroffen,
doch finden sich auch nach innen zu, namentlich in der grauen Sub-
stanz, vereinzelt stark verdickte und verengte Gefasse. Dass es sich
hier um die gleiche Gefassdegeneration, wie bei den senilen Processen
handelt, ist unverkennbar, eine Unterscheidung scheint jedoch dadurch
gegeben, dass wahrend bei den letzteren fast alle Gefasse in mehr
oder minder hohem Grade sklerosirt erscheinen, bei den prasenilen
Formen neben den erkrankten, zahlreiche intacte Gefasse sichtbar sind.
Auch besteht hier eine besondere Neigung zu endarteritischen Pro¬
cessen mit Obliteration des Lumens, was bei der einfach senilen Gefass-
erkrankung weniger hervortritt. Bei einzelnen Gefassen ist die Gefass-
wand auffallend homogeu ohne jede Differenzirung, hier handelt es
sich offenbar um hyalin entartete Gefasse. Die Kerne der Gefasswand
sind meist etwas vermehrt, jedenfalls starker als bei den leichtern
senilen Formen. In den Rttckenmarkshauten finden sich vereinzelt
starkere Anhaufungen von Rundzellen. Die regressiven Veranderungen
an den Ganglienzellen der grauen Substanz sind in diesen Fallen eben-
falls recht bedeutend, doch sieht man hier haufiger noch ganz normale
Zellen zwischen den erkrankten eingestreuh Die Glia der grauen
Substanz zeigt selbst in alteren Fallen nur selten eine leichte Ver-
mehrung im Gegensatz zu der hochgradigen Sklerose im Mark.
Bei dieser Form seniler Erkrankung kommt es auch haufig zu
Degenerationen in den Pyramidenbahnen, die nicht durch den im
Rfickenmark localisirten Krankheitsprocess bedingt sind.
Es handelt sich hier um sekundare Degenerationen im Anschluss
an kleinste Erweichungsherde und Sklerosen im Hemispharenmark
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392
XXI1L Sander
oder Hirnstamm, wie sie bereits von Alzheimer bei der arterio-
sklerotischen Entartung des Gehirns, von Binswanger bei der Ence¬
phalitis subcorticalis beschrieben worden sind. Treten grossere der-
artige Herde im Yerlauf der motorischen Bahnen auf, so muss es
naturgemass zu secundarer Degeneration kommen. Die hierdurch be-
dingte Erkrankung der Pyramidenbahnen ist in der Regel doppelseitig,
entsprechend der beiderseitigen Hirnerkrankung, aber meist in ungleicher
Starke. Auch erscheint der Degenerationsprocess zuweilen auf der
einen Seite frischer. Die Pyramidenvorderstrange sind in der Regel
mitergriffen, von den Seitenstrangen haufig nur einzelne Theile, so dass
man anfangs an corticale Herde denkt Selten findet sich eine so
totale Degeneration, wie nach Blutungen oder Erweichungen in der
inneren Kapsel. Wo die Degenerationen nach aufwarts bis in den
Hirnschenkel verfolgt wurden, konnte man in der That erkennen, dass
dieselbe meist nur einen Theil der Pyramidenbahnen betraf, auch die
Bahnen der Hirnnerven schienen unbetheiligt zu sein. Mitunter sieht
man bei schwereren senilen Formen mit der Marchimethode eine
ausschliesslich auf die Pyramidenbahnen beschrankte leichte Tfipfelung,
von der es den Anschein hat, als ob es sich hier um secundare
Degeneration handelt, welche durch die schwere Rindenerkrankung,
besonders der Centralwindungen bedingt ist. Ein ahnliches Bild
erhalt man zuweilen bei der progressiven Paralyse, die Yertheilung der
Schollen hat hier ein ganz anderes Aussehen als bei den eben beschrie-
benen Degenerationen. Eine geringe Lichtung der Pyramidenbahnen
ohne nachweisbare Herderkrankung findet sich auch sonst haufig im
senilen Rlickenmark, noch haufiger allerdings eine Lichtung der
Hinterstrange. Dieselbe ist jedoch nie so hochgradig wie bei der
eigentlichen Tabes und lasst eine Anordnung nach Wurzelgebieten
nicht erkennen, es handelt sich eben hier stets um endogen entstandene
Formen. Nur die Falle 7 und 8 unserer Tabelle zeigen eine starke
Degeneration der Hinterstrange, doch handelt es sich hier ohne Zweifel
um Tabes, zu der sich spater senile Degenerationen hinzugesellt haben.
Eine Unterscheidung der senilen Degenerationsprozesse von anderen
chronischen Erkrankungen im Rfickenmark dtirfte nicht schwer fallen.
So findet sich bei der progressiven Paralyse zuweilen ein leichter Ausfall
von Markscheiden in der Peripherie, der sich von den senilen Formen
dadurch unterscheidet, dass hier stets eine starkere Infiltration mit Rund-
zellen vorhanden ist, ahnlich den noch zu besprechenden luetischen
Myelitiden.
Schwieriger ist die Unterscheidung bei den durch abnorme Blut^
mischung hervorgerufenen chronischen Ernahrungsstorungen, z. B. bei
pemicioser Anamie. Sowohl die Degeneration der Ganglienzellen wie
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Untersuchungen fiber die Altersveranderuugen im Rfickenmark. 393
der diffuse Ausfall der Nervenfasem kann hier das gleiche Bild dar-
bieten wie bei leichteren senilen Fallen. Die Unterscheidung wird um
so schwieriger, als aucb die Glia in solchen Fallen leicht perivascular
vermehrt erscheint und neben der diffusen Erkrankung einzelne De-
generationsheerde, bestimmten Gefassgebieten entsprechend, auftreten
konnen. Ich kann die diesbezuglichen Befunde einzelner Autoren, be-
sonders die Angaben von Nonne 1 ) auf Grund eigener Untersuchungen
durchaus bestatigen. Nur fiber die Entstehung dieser kleinen perivas-
cularen Degenerationsheerde bei der perniciosen Anamie, die auch kttrz-
lich Ransohoff 2 ) bei einem Fall von Yerblutungstod beschrieben hat,
kann ich Nonne nicht beipflichten. Ich glaube nicht, dass hier eine
die Gefasswand durchdringende schadliche Noxe diese perivascularen
Heerde hervorruft, sondern ich habe mehr den Eindruck gewonnen,
als ob es sich hierbei um kleinste Exsudationen oder Gefassthrombosen
handelt, welche jene Zerfallsheerde bedingen. Die durch die abnorme
Blutmischung hervorgerufene Erkrankung der Gefasswand dttrfte das
Bindeglied abgeben. Bei einigen senilen Fallen habe ich ahnliche
offenbar akut entstandene Degenerationsheerde an Marchi-Praparaten
gesehen, die Gruppirung der Herde um ein im Centrum befindliches
thrombosiertes oder schwer entartetes Gefass war hierbei unverkennbar.
Schwierig ist in einzelnen Fallen die Abgrenzung der senilen Processe
von luetischer Rtickenmarkserkrankung, falls dieselbe ebenfalls erst in
hfiherem Alter einsetzt. Die Unterscheidung ist um so schwieriger, als,
wie bereits betont, grade bei den Formen frfihzeitiger Arteriosklerose
die Lues als atiologisches Moment offenbar eine grosse Rolle spielt. Den
Zusammenhang mfissen wirunshierbeinachThoma, v.Schrotter 3 ) u.a.
in der Weise vorstellen, dass durch die Lues eine Schwachung der
Gefasswand, besonders der Media, hervorgerufen wird, die dann ihrer-
seits zur Erweiterung des Gefasses, zu Kalkeinlagerung, so wie zu
den reactiven Wucherungsprocessen in Intima und Adventitia Veran-
lassung bietet. So kann derselbe Process, der sonst erst meist in
hohem Alter durch die Abuutzung des Gefassapparates oder durch
chronische Ernahrungsstorungen hervorgerufen wird, unter dem Ein-
fluss der Lues schon frtihzeitig einsetzen.
Eine Unterscheidung der prasenilen Arteriosklerose von der lueti-
schen Myelitis ist dadurch gegeben, dass bei der letzteren in der Regel
eine Betheiligung der Rttckenmarkshaute an dem Krankheitsprocess
vorhanden ist. Findet man also eine starke Verdickung oder Verwachs-
ung derselben, oder gar von ihnen ausgehende gummose Processe,
3) 1. c.
2) XXX. Versammlung der sudwestdeutschen lrrenarzte, Frankfurt a/M.
3) Vgl. v. Schrotter, Erkrankuugen der Gefasse, I. Halflte. Wien 1899.
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394
XXIII. Sander
wie in Fall 11 unserer Tabelle, so wird eine differentielle Diagnose
nicht schwierig sein. Ebenso wird man nie yon einer prasenilen
Erkrankung sprecben konnen, wenn eine starke Infiltration der Rflcken-
markshaute oder Gefasswande mit Rundzellen vorhanden ist. Diese
infiammatoriscben Erscheinungen sind stets ein Charakteristicum der
luetischen Erkrankung, sie finden sich bei arteriosklerotischen Processen
nur hochst selten in starkerem Grade. Auch bei Fallen progressiver
Paralyse, die ahnliche Randdegenerationen im Ruckenmark zeigten,
konnte ich, wie bereits erwahnt, stets eine starke Infiltration mit Kernen
nachweisen. Auch die Gefasserkrankung selbst tragt bei Lues anderen
Charakter, es fiberwiegt die Endarteritis mit Yerschluss des Lumens,
wahrend periarteritische Processe und Zerfall der Media weniger hervor-
treten. Immerhin zeigt sich grade hier die nahe Verwandtschaft mit
der prasenilen Arteriosklerose, bei der ebenfalls die Neigung zu schwe-
reren Gefassprocessen fiberwiegt In einzelnen Fallen wird man sich
dahin entscheiden mfissen, dass neben den Zeicheil einer luetischen
Meningomyelitis auch eine deutliche Arteriosklerose vorhanden ist.
Hierzu gehort Fall 11 unserer Tabelle, wahrend es in Fall 10 nach
dem anatomischen Befund nicht moglich ist, bestimmt zu entscheiden,
ob es sich hier um eine abgelaufene luetische Myelitis oder um eine
prasenile Rfickenmarkserkrankung handelt. Nach der Anamnese sind
beide Moglichkeiten vorhanden, die Schwere des Degenerationsprocesses
im Mark sowie die leichte Betheiligung der Rfickenmarkshaute spricht
fttr Lues, das Alter des Kranken, die Art der Gefassdegeneration, der
Mangel jeglicher inflammatorischen Erscheinungen, die Art der Sklerose
mit deutlich perivascularem Charakter ffir Senilitat. Ich mochte trotz-
dem diese Formen, die sich in ahnlicher Weise auch in der Hirn-
rinde wiederfinden, in keiner Weise mit der luetischen Myelitis identi-
ficiren, wohl aber die nahe Verwandtschaft beider Formen betonen. Es
unterliegt keinem Zweifel, dass die Lues bei der prasenilen Degeneration
des Ruckenmarks eine grosse Rolle spielt.
Vergleiche ich die jetzt erhobenen Befunde mit meinem frfiher
beschriebenen Falle von Paralysis agitans, so kann ich auch diesen ohne
Schwierigkeit in die Reihe der prasenilen Rttckenmarkserkrankungen
einfugen. Der Erkrankungsprocess war hier entschieden besonders
schwer und intensiv, so dass er von alien bisher untersuchten Fallen
an erster Stelle steht. Ich glaube auch jetzt noch zu der Annahme
berechtigt zu sein, dass dieser hochgradige senile Degenerationsprocess
mit dem Erankheitsbild in ursachlichem Zusammenhang steht, und dass
nur die Localisation der senilen Sklerose die Symptome der Paralysis
agitans hervorruft. Ich werde allerdings den Sitz der Erkrankung nicht
mehr im Rfickeomark suchen, nachdem ich mich an zahlreichen Ver-
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Untersuchungen uber die Alters veranderungen im Ruckenmark. 395
gleicbsobjecten tiberzeugt babe, dass die Sklerose der grauen Substanz
nur sekundaren Charakter tragt und offenbar durch den Zerfall der
Ganglienzellen und des umgebenden Faserwerkes bedingt ist. Auch
die Veranderungen im Mark fand ich in fast gleicher Starke bei senilen
Fallen ohne Paralysis-agitans-Symp tome. Man wird daber wohl in
erster Linie bei der Paralysis agitans an senile Degenerationsprocesse
denken mftssen, welche sich in den Bahnen oder grauen Kemen
abspielen, die zu den Pyramiden im Hirnstamm in Beziebung treten.
Fasse ich zura Schluss das Ergebniss meiner Untersuchungen kurz
zusammen, so unterscheide ich auf Grund meiner Falle 3 Formen se-
niler Degeneration des Rtickenmarks:
1. Eine leichtere Form mit geringem diffusen Markscheidenausfall,
leicbter secundarer Gliawucherung und geringer Zelldegeneration
(Physiologische Senilitat).
2. Eine schwere Form mit diffusem Markscheidenausfall, Auftre-
ten von Herden, hochgradiger Sklerose und starker Zelldegene¬
ration.
3. Eine baufig schon prasenil einsetzende Form mit acuteren Zer-
fallsprocessen und zablreichen Herden. Diese konnte man analog
der von Alzheimer ftir das Gehirn angewandten Benennung am
ehesten als arteriosklerotische Degeneration des Ruckenmarks be-
zeichnen.
Sammtliche Formen beruhen auf der senilen Gefassdegeneration,
die bei den ersten Formen mehr universell, bei der letzteren mehr
localisirt auftritt. Ftir die Entstehung der in hobem Alter auftreten-
den diffusen Veranderungen dttrfte auch der senile Marasmus von
Bedeutung sein.
Meinem verehrten Chef, Herrn Direktor Dr. Sioli, bin ich ftir die
Ueberlassung der Krankengeschichten und des Materials zu Dank ver-
pflichtet.
Erkiarang der Abbildnngen auf Tafel YI und YII.
(Photographische Aufnahmen nach Original-Praparaten.)
Fig. 1, 2, 3. Querschnitte aus dem Brustmark. Markscheidenfarbung nach
Kulschitzky-Wolters. Zeiss-Objectiv a, Projections-Ocular 2.
Balgauszug 45 cm.
Fig. 1. Praseniles Euckenmark, Fall 22, diffuse Randdegenerationen, einzelne
Herde am Eande, secundare Degeneration der Pyramidenbahnen.
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396 XXIII. Sander, UntereuchuDgen fib. dieAltersveranderungen im Euckenmark.
Fig. 2. PraseDiles Euckenmark, Fall 10, hocbgradige Eanddegenerationen,
radienformiges Fortschreiten nach Innen, Herde fiber den Hinteretrangen.
Fig. 3. Seniles Euckenmark mit diffusem Markscheidenausfall and Herden am
Eande. Fall 19.
Fig. 4. Langsschnitt ernes vom Centrum nach der Peripherie yerlaufenden stark
sklerosirten Efickenmarksgefasses. Schlangelung des Gefasses, Auf-
fasernng der Elastica, starke Wucherung der Intima, die an einigen
Stellen fast zum Verschluss gefuhrt hat (Fall 19). Farbung nach
Weigert. Zeiss, Homogen. Immersion 1,30, Balgauszug 45 cm,
Projections-Ocular 2.
Fig. 5—8. Praparate nach der Weigert’schen Gliamethode.
Fig. 5. Eandpartie aus dem Brustmark von Fall 19, starke Gliawucherung im
Mark, dem Gefassverlauf entsprechend, nach dem Eande hin zu einem
keilformigen sklerotischen Plaques sich verdichtend. Zeiss-Objectiv AA,
Projections-Ocular 2, Balgauszug 45.
Fig. 6. Eine Stelle von Fig. 5 in starker Vergrosserung. Man beachte die
peri vasculare Giiose. Zeiss-Objectiv DD, Projections-Ocular 2.
Fig. 7 und 8. Hocbgradige Eandsklerose, linkerseits starker. Zwei entsprechende
Stellen desselben Querschnittes aus dem Halsmark von Fall 10. Zeiss-
Objectiv AA, Projections-Ocular 2.
Fig. 9—14. Senile Zelldegenerationen. Vorderhornzellen im Lendenmark.
Fall 23. Zeiss, Homog. Immersion 1,30. Projections-Ocular 2.
Fig. 9. Pigmentzerfall der chromatischen Substanz, Uebergang der Zellen in
Kugelform. Die dunkle Zelle hochgradig sklerosirt.
Fig. 10. 2 Zellen in verschiedenen Stadien der pigmentdsen Degeneration, die
rechte Zelle zeigt nur noch schattenhafte Umrisse und netzformige An-
ordnung des Pigments.
Fig. 11. Zelle im Anfangsstadium der Pigmentdegeneration.
Fig. 12. Eesorption des Pigmentes und beginnende Vakuolisirung im Zellinnern.
Fig. 13. Typiache Form der Zellsklerose.
Fig. 14. Sklerosirte Zelle mit Anschwellung und Pigmentzerfall an der Basis
(Pilzform).
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XXIV.
Ueber die Verbreitung der Neurasthenie unter verschiedenen
Bevolkenmgsclassen.
Nebst kiirzeren symptomatischen Bemerkungen.
Von
Karl Petr6n,
Docent an der Universitat in Lund.
„U 6tait int^ressant, que la nSvrose
neurast^nique n’appartient pas — exclu-
sivement & Phommedes classes privil6gi6s,
amolli par la culture, 6puis6 par l’abus
des plaisirs, par des preoccupations
des affaires et Pexc&s des travaux intel-
lectuels. II y a la un pr^jugd que je me
suis bien des fois eflforc4 de combattre,
mais contre lequel il faudra lutter encore,
sans doute, pendant longtemps, car il
parait loin d’etre d£racinfc“ (Charcot 1891).
Betreffs der Frage der Frequenz der Neurasthenie unter den ver¬
schiedenen Bevolkenmgsclassen haben die meisten Autoren sich dahin
ausgesprochen, dass die Krankheit unter dem mit Kopfarbeit be-
schaftigten Theil der Bevolkerung weit ofter als unter den Hand-
arbeitern vorkommt (Vergl. Bouveret, Lowenfeld, Gilles de
la Tourette, Kraft-Ebing, Oppenheim, Erb.) Es giebt sogar
Verfasser, welche das Vorkommen der Neurasthenie unter der Arbeiter¬
bevolkerung fast als eine Seltenheit betrachten: so giebt Hosslin in
Mdllers Handbuch der Neurasthenie an, dass es unter 598 von ihm
beobachteten Fallen nur 6 Arbeiter gegeben hatte.
Andererseits heben doch auch einige Autoren (wie Strttmpell,
Kraft-Ebing, Dercum) hervor, dass Neurasthenie auch unter der
Arbeiterbevolkerung ein gewohnliches Vorkommniss bildet. Besonders
will ich bemerken, wie der Amerikaner Dercum ausdriicklich betont,
dass Neurasthenie unter armen Leuten eben so gewohnlich wie unter
den reichen ist. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich behaupte, dass
die skandinavischen Aerzte im allgemeinen der Ansicht sind, die Neur-
asthenie komme unter der Arbeiterbevolkerung oft vor. Beim ersten
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398
XXiy. Petr^n
skandinavischen Kongress f&r innere Medicin in Gotenburg 1896
wurde die Frage nach dem Vorkommen der Neurasthenie discutirt.
Prof. Holsti berichtete aus Finnland tiber die grosse Frequenz der
Neurasthenie unter sammtlichen Bevolkerungsklassen. Der Norweger
Hansen aus Bergen hatte die Krankheit sehr oft bei den Fischem
an der Ktiste und sein Landsmann Backer unter der Bevblkerung
in den Thalern einer Oebirgsgegend gesehen. Ebenso hatte Henschen
gefunden, dass die Neurasthenie unter den Bauem der schwedischen
Provinz Dalekarlien frequent sei. Ein anderer Landsmann Kulneff
hat an anderem Orte mitgetheilt, wie er unter der Bauembevolkerung
in der schwedischen Provinz Schonen die Krankheit oftmals be-
obachtet habe.
Was meine Erfahrung betrifft, so habe ich in den Jahren
1895—99 285 Falle von Neurasthenie personlich diagnosticirt und
behandelt, von denen 198 aus der korperlich arbeitenden Bevolker-
ung stammten.
BetrefFs der Frequenz der Neurasthenie unter den Arbeitem
herrscht also noch eine auffallende Nichtubereinstimmung zwischen
den verschiedenen Beobachtern; so ist z. B. der Unterschied zwischen
den angeftthrten Ziflfern von Hosslin und den meinigen in diesem
Puncte kolossal. Wie sollen wir diesen Unterschied erklaren? Man
ware vielleicht geneigt, als seine Ursache thatsachliche Unterschiede
zwischen verschiedenen Gegenden anzunehmen. Dass solche Unter¬
schiede wirklich vorkommen, kann ich nattirlich nicht leugnen.
Doch ist es mir sehr unwahrscheinlich, dass die Neurasthenie nicht
tiberall unter der Arbeiterbevolkerung eine gewohnliche Krankheit
sein sollte.
Was zunachst die Ziflfern von Hosslin betrifft, so stammt seine
Erfahrung wahrscheinlich aus einem Privatsanatorium, und es kann
von den ausseren Verhaltnissen abhangen, dass er hier keine
Arbeiter zu beobachten bekommt Ferner mogen wir nicht vergessen,
dass — einer allgemeinen Erfahrung nach — die Patienten mit Neur¬
asthenie nicht so besonders oft in den Kliniken gepfiegt werden,
weshalb die Kliniker vielleicht nicht immer in der Lage sind, die
Frequenz der Krankheit unter der niederen Bevolkerung richtig zu
schatzen. Oflfenbar konnen wir eine zuverlassige vergleichende
Schatzung der Frequenz der Neurasthenie unter den verschiedenen
Classen nur dadurch erreichen, dass wir unter einem bestimmten
klinischen Material ihre relative Frequenz bei verschiedenen Classen
berechnen.
Eine solche Berechnung auszuftthren, habe ich versucht Zu
diesem Zwecke habe ich das gesammte klinische Material aus meinen
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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenie unter verschied. Be volkerangsclassen. 399
Sprechstunden in den Jahren 1895—99 zusammengestellt — soweit ich
Aufeeichnungen dartiber besitze. Der weitaus iiberwiegende Teil dieses
Materials rtthrt yon meiner Wirksamkeit in Badem her (namlich im
Sommer 1895 und 1896 in Ronneby und in den Sommem 1897—1899
in Nybro). Eine Eigenthumlichkeit der Mehrzahl unserer schwedischen
Bader ist, dass sie zum grossen, zuweilen sogar zum grossten Theil
yon Leuten der armeren Klassen, besonders der Bauembevolkerung
frequentirt werden. Ich habe mein Material in drei Classen zu ver-
theilen versucht, welche ich als die hoheren, mittleren und niederen
Stande bezeichnet habe. In den letzteren habe ich die Bauern, die
Industriearbeiter und die Handwerksleute gerechnei Die Abgrenzung
zwischen den zwei anderen Gruppen ist besonders schwierig und zum
Theil etwas willktirlich gewesen. In den mittleren Standen habe ich
Leute wie Yolksschullehrer, Commis, Unteroffiziere u. s. w. gerechnet:
tiberhaupt Leute, welche nicht gerade korperliche Arbeit verrichten.
Weiter habe ich jede Gruppe wieder nach den beiden Geschlechtem
getbeilt, ftir jede der so erhaltenen Abtheilungen sowohl die absolute
Anzahl von Neurasthenie-Fallen als die relative Frequenz der Krank-
heit mitgetheili
Anzahl von Patienten unter
Dazwischen
Falle von
Neurasthenie
|
Ihre Anzahl in
Procent ausgedruckt
Mannem der hoheren
Stande .
226
30
13,3 ,
»» »
mittleren
11 .
159
21
13,2 [ 14,2 Proc.
»»
unteren
11 .
609
90
14,8 t
Weibern „
hoheren
11 .
302
20
6,6 x
» a
mittleren
11 . ... .
244
16
6,6 > 9,7 Proc.
?» it
unteren
n .
940
108
11,4 f
Summa
2478
285
11,5 Proc.
Zu dieser Zusammenstellung mochte man vielleicht zunachst be-
merken, dass eine Frequenz der Neurasthenie von 11,5% sehr gross
ist Daraus kann man jedoch nichts anderes schliessen, als dass
gerade die Pat. mit dieser Kraukheit mich (oder die betreffenden
Bader) verhaltnissmassig oft besucht haben.
Diese Tabelle lehrt uns sofort, dass die Neurasthenie unter dem
betreffenden klinischen Materials bei den Handarbeitem nicht weniger
haufig, als bei den Hirnarbeitem vorgekommen ist. Meine Ziffem be-
staidgen also die Auffassung Charcot's und der oben citirten skan-
dinavischen Beobachter.
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400
XXIV. PetrSn
Was die Frage der relativen Frequenz der Neurasthenic unter
den beiden Geschlechtem betrifft, so sprechen sich mehrere Autoren
dahin aus, dass die Krankheit bei den Mannnem offcer vorkommt, als
bei den Frauen (Althaus, Hosslin, Mtiller, Kraft-Ebing, Erb).
Andererseits behaupten jedoch andere, dass die Krankheit bei den
Frauen fast (Lowenfeld, Binswanger, Levillain) oder sogar eben
so gewohnlich (Mathieu, Dercum) wie bei den Mannera ist. Be-
treffs dieser Frage lehrt meine Zusammenstellung, dass es unter den
Handarbeitem keinen sehr bedeutenden Unterschied zwischen den
beiden Geschlechtem giebt. Das mannliche tiberwiegt jedoch etwas.
Wenden wir uns aber zu den mittleren und hoheren Standen, so habe
ich die Neurasthenic hier etwa doppelt so oft bei den Mannera als bei
den Frauen gefunden. — Ich will noch hinzufugen, dass dies Ergeb-
niss meiner Zusammenstellung mir unerwartet war und mich ziemlich
flberraschte.
Prof. Holsti aus Helsingfors hat mir brieflich folgende hierher
gehorende Ziffern mitgetheilt. In den Jahren 1895—99 hat er in
seinen Sprechstunden 1370 Manner empfangen, welche zum ttber-
wiegenden Theil aus den hoheren Standen stammten. Unter diesen
193 Falle von Neurasthenic (14,1 Proc.). Unter den Frauen (ja auch
hauptsachlich aus den hoheren Standen) waren die entsprechenden
Ziffern 1395, bez. 112 (8 Proc.). Die Uebereinstimmung dieser Zahlen
mit den meinigen in Bezug auf die hoheren und mittleren Stande ist
wahrhafb erstaunlich.
Prof. Holsti berichtet weiter, dass es unter 920 Fallen von
Neurasthenic, welche wahrend einer gewissen Zeit in der medicinischen
Klinik und Poliklinik in Helsingfors beobachtet worden sind, nur
24 Proc. Manner gab. Dieses Material bezieht sich fast ausschliesslich
auf Personen der niederen Stande. Die weitaus grosste Zahl aller
dieser Falle (namlich 702) stammt aus der Poliklinik und ist yon ver-
schiedenen poliklinischen Assistenz-Aerzten beobachtet worden. Deren
Auffassung der Abgrenzung der Neurasthenie kann ja, wie Holsti
bemerkt, ziemlich gewechselt haben, und offenbar muss das von
einer Person beobachtete und folglich mit Sicherheit einheitlich be-
urtheilte Material fiir diese statistischen Fragen weit zuverlassigere
Schlussfolgerungen gestatten. Wenn auch diese aus dem poliklinischen
Material stammenden Ziffern also nicht denselben Werth wie die-
jenigen von Holsti beanspruchen konnen, diirften sie doch daffir
sprechen, dass die Neurasthenie unter der Arbeiterbevolkerung in
Finnland bei den Frauen nicht viel weniger frequent als bei den
Mannera ist.
Es ist mir eine liebe Pflicht, Herra Prof. Holsti fur das liebens-
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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenic unter verschied. BevSlkerungsclassen. 401
wtirdige Entgegenkommen, mit dem er mir diese Ziffern mittheilte
und zu citiren erlaubte, herzlich zu danken.
Wie sollen wir die Ergebnisse dieser Zusaramenstellungen mit
unseren Kenntnissen beztiglich der Aetiologie der Neurasthenie in Ueber-
ein8timmung bringen?
Zunachst richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die von Holsti
und von mir gefundene, weit grossere Frequenz der Krankheit bei
Mannem als bei Frauen unter den hoheren Standen. Allgemein wird
wohl behauptet, dass die anstrengende, forcirte, jagende Arbeit der
Manner, ihr Kampf urns Dasein — oft dtirften wir doch lieber sagen:
ihr Streben im socialen Wettstreite moglichst viel zu erreichen —
eine sehr wichtige Ursache der Neurasthenie unter ihnen ausmacht.
Dieser Auffassung kann ich nur ganz beistimmen. Es dtirfte un-
zweifelhaft sein, dass die Frauen in den besser situirten Standen im
Allgemeinen eine weniger anstrengende Aufgabe als die Manner
haben, tiberhaupt eine ruhigere Existenz ftthren. Desshalb haben wir
das Recht zu erwarten, dass die Neurasthenie bei den Frauen seltener
sei als bei den Mannem. Andererseits konnen zwar die Graviditat,
die Geburt und die Lactation auf das Nervensystem schwachend ein-
wirken. Aus der hier mitgetheilten Erfahrung von Holsti und von
mir, dass die Neurasthenie unter den hoheren Standen bei den
Mannem weit gewohnlicher als bei den Frauen ist, mttssen wir aber
schliessen, dass diese schadlichen, bei den Frauen wirksamen Einflusse
den oben erwahnten Unterschied, der beziiglich der Arbeit und Lebens-
weise zu ihren Gunsten besteht, nicht aufwiegen.
Wenden wir uns aber zu den Handarbeitem, so habe ich die
Neurasthenie hier bei den Mannem nur wenig haufiger als bei den
Frauen gefunden. Die Ursache dazu scheint mir auch nahe zu liegen.
Bei diesem Theil der Bevolkerung haben die Frauen keine bessere
Stellung als die Manner, sondem mussen sich in fast demselben
Maasse wie die Manner mit korperlicher Arbeit anstrengen. In vielen
Arbeiterfamilien durften auch die okonomischen Sorgen die Frauen
mehr treffen, als die Manner. Der sicher vorhandene, bedeutende
Unterschied in der Stellung der Frauen in den hoheren Standen und
bei den Arbeitem bedingt also aller Wahrscheinlichkeit nach die ver-
schiedene Frequenz der Neurasthenie bei ihnen.
Es ist wohl eine allgemeine Auffassung, dass wir nebst der Hereditat
die moderne Civilisation und die von ihr bedingte Veranderung unserer
Arbeit und Lebensweise als die wichtigste unter den entfemteren Ur-
sachen der Neurasthenie zu betrachten haben. Wie oben erwahnt,
habe ich in 5 Jahren 198 Falle der Krankheit unter der Arbeiter- und
Bauernbevolkerung beobachtet. Fast alle diese Falle stammen aus
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XXIV. Petr£n
der Provinz Blekinge und dem angrenzenden (stid5stlichen) Theil der
Provinz Smoland und zwar fast ausschliesslich vom Lande. Ein
kleinerer Theil dieser Falle bezieht sich auf Industriearbeiter, die weit-
aus ttberwiegende Zabl aber auf die Bauembevolkerung. Was die
Verhaltnisse in den betreffenden Gegenden betrifft, so sind sie — so
weit ich beurtheilen kann — von der modernen Civilisation nur wenig
umgestaltet worden. Ich glaube, dass die Bauem hier in der Haupt-
sache in derselben Weise leben wie vor etwa 50 Jahren. Dies gilt
vielleicht am meisten beztiglich gewisser Gegenden von Smoland, aus
denen ich aber eine grosse Reihe Neurastheniefalle beobachtet habe,
so dass ich ohne Zogern die Krankheit hier als eine gewohnliche be-
zeichnen kann.
Folglich konnen wir — meines Erachtens — als die Ursache der
Neurasthenie hier nicht an den Einfluss der modernen Civilisation
denken. Ich habe desshalb geglaubt, es ware von Interesse, eine Zu-
sammenstellung der von mir in einer Reihe von Fallen gefundenen
atiologischen Faktoren mitzutheilen. Schon frtlher hat Hosslin
eine solche statistische Zusammenstellung geliefert. Doch ich glaube,
dass sie sich zum grossten Theil auf Beobachtungen aus den hoheren
Standen bezieht, wahrend mein Material in tiberwiegendem Grade aus
der Bauembevolkerung stammt.
Die Zusammenstellung der von mir nachgewiesenen, wahrschein-
lich hervorrufenden Ursachen der Neurose folgt hier.
In 62 Fallen Trauer in Folge ungltteklicher Familienverhalt-
nisse, des Todesfalles eines Verwandten oder ahnliche personliche
Momente.
In 24 Fallen Unruhe wegen okonomischer Verluste oder Nah-
rungssorgen.
In 5 Fallen eine deprimirende Ursache, die die Kranken nicht
haben angeben wollen.
In 47 Fallen Ueberanstrengung. Nur in der spateren Zeit habe
ich die Art der Ueberanstrengung aufgezeichnet und rtihrte dieselbe
in 15 Fallen von intellektueller, in 9 Fallen von korperlicher
Arbeit her.
In 29 Fallen wurde Influenza als Ursache angegeben. Wenn
auch Influenza unzweifelhaffc zuweilen die hervorrufende Ursache der
Neurasthenie bildet, so glaube ich doch, dass diese Ziffer unsicher
ist, da die Pat bekanntlich dazu geneigt sind, alles Mogliche auf die
Rechnung der Influenza zu schreiben.
In 18 Fallen eine andere acute Infectionskrankheit: besonders
Pneumonie und Febris typhoides, doch auch rheumatische Fieber und
Colitis haemorrhagica. In einem Falle Perityphlitis mit nachfolgender
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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenic unter verscbied. Bevolkerungsclassen. 4Q3
langer, wohl zu langer vom Arzte vorgeschriebener Hungerperiode; in
einem anderen Falle Ulcus ventriculi.
In 21 Fallen Masturbatio oder Excesse in Venere.
In 13 Fallen ein Trauma oder ein Schrecken, wie bei einer Feuers-
brunst oder dergl
In 16 Fallen Partus, am haufigsten zahlreiche und schnell auf
einander folgende. Die Lactation, zu lange fortgesetzt, scheint einen
sehr schadlichen Einfluss ausiiben zu konnen. Zuweilen sieht man
eine Abort weit schadlicher einwirken, als mehrere normale Partus.
In 8 Fallen unmassiger Alkoholgenuss.
In 2 Fallen Fabriksarbeit in starker Hitze.
Wie man findet, steht diese statistische Zusammenstellung in allem
Hauptsachlichen mit deijenigen von Hosslin in sehr guter Ueberein-
stimmung. Dies scheint mir bemerkenswerth, da unseres Material offen-
bar ein so verschiedenes ist, indem sein Material wahrscheinlich aus
den hoheren Standen, dass meinige aber zum grossten Theil aus der
Bauembevolkerung stamm t. In der That, wenn man die Literatur
betreffs der Aetiologie der Neurasthenie durchmustert, ist es auffallend,
wie die Erfahrung aller Beobachter betreffs der wirksamen atiologischen
Momente in allem Hauptsachlichen hbereinstimmh Dieser Umstand
liefert einen sehr wichtigen Grund daffir, dass die Neurasthenie yon
den verschiedenen Beobachtem in derselben Weise abgegrenzt worden
ist Dass dies sich also ausffihren lasst, spricht wieder daftir, dass
die Neurasthenie eine einheitliche, einigermassen gut abgrenzbare Krank-
heit bildet
Meiner Ansicht nach spielen die deprimirenden, psychischen Momente
die grosste Rolle in der Aetiologie der Neurasthenie. Diese Auf-
fassung ist auch von Holsti bei dem erwahnten Kongress in Gothen¬
burg hervorgehoben und auch sonst von vielen Autoren getheilt worden.
Andere Autoren wollen jedoch der Ueberanstrengung mit intellektueller
Arbeit die grosste Bedeutung zuerkennen (Althaus, Gilles de la
Tourette, Mathieu, Dercum). Weiter will ich bemerken, dass
meiner Erfahrung nach die Ueberanstrengung mit korperlicher Arbeit
nur eine geringe aetiologische Rolle spielt; in diesem Puncte dfirften
auch alle Autoren einig sein.
Wenn man die gelieferte statistische Zusammenstellung durch¬
mustert, muss man zugeben, dass die hier genannten, die Neurasthenie
hervorrufenden Ursachen zum grossten Theil von der alltaglichen Art
sind, dass jeder von uns zuweilen im Leben solchen begegnet. Folglich
konnen wir behaupten, dass entfemtere zur Neurasthenie disponirende
ursachliche Momente vorhanden sein mussen. Bezfiglich der Mehrzahl
meiner Falle kbnnen wir — meines Erachtens — den Einfluss der
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 27
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XXIV. Petr£n
schnell sich entwickelnden, modemen Civilisation nicht als diese ent-
femtere Ursache betrachten. Wir mtissen folglich andere disponirende
Ursachen suchen.
Dabei denke ich zunachst an unmassigen Genuss von Alkohol in
den vorhergehenden Generationen. Allgemein angenommen ist, dass
derselbe einen schwachenden Einfluss auf das Nervensystem der Nach-
kommen ausfiben kann.
In Schweden hat fruher, namlich in der ersten Halfte dieses
Jahrhunderts, der Genuss von Branntwein aller gleichzeitigen Zeugnisse
nach einen wahrhaft ungeheuren Umfang gehabt und zwar besonders
in den niederen Standen. Wahrend der Jahre 1824—55 war es durch
das Gesetz erlaubt und in der That eine sehr weit verbreitete Sitte,
dass jeder Bauer Branntwein zu eigenem Gebrauche bereitete. Auch
besass er — nur mit einigen Einschrankungen — das Recht, den Brannt¬
wein zu verkaufen.
Im Jahre 1855 wurde die Gesetzgebung betreffs der Herstellung
und des Verkaufens des Branntweins in durcbgreifender "Weise ver-
andert und die sog. Branntweinbereitung far den Hausbedarf ver-
schwand in wenigen Jahren. Far die Zeit vor 1855 giebt es keine
sicheren statistischen Daten betreffs der Menge des im Lande bereiteten
Branntweins. Immerhin behauptet die officielle schwedische Statistik,
dass die Production des Branntweins nur wenige Jahre vor der Ver-
anderung der Gesetzgebung im Jahre 1855 mehr als doppelt so
gross war, wie unmittelbar nach 1855. Diese Angabe ist nicht eine
einfach subjektive, denn wahrend der ganzen betreflfenden Periode
(1824—55) ist sowohl die Zahl als die Grosse der zur Branntwein¬
bereitung benutzten Kessel gesetzmassig registrirt worden.
Nach 1855 wird unsere Statistik besser, erst fur die Zeit nach 1870
liefert sie jedoch sichere Ziflfem far den Verbrauch von Branntwein
(incl. andere Getranke hohen Alkoholgehaltes). Pro Kopf sammtlicher
Einwohner gerechnet zeigt dieser Verbrauch folgende Ziflfern: namlich
im Durchschnitte far die Jahre 1871—75 : 11,8 Liter; 1876—80 : 10,1 L.;
1881—85:8,0L.; 1886—90:7,1 L.; 1891-95:6,7L.; und 1896—98:7,6L.
Bis 1895 finden wir folglich ein stetiges Sinken der Menge des in
Schweden verbrauchten Branntweins oder der starkeren Alkohol-
getranke. *) Dass die entsprechenden Ziflfern far die Periode 1824—55
1 ) Es ware von Interesae gewesen, den Verbrauch von Branntwein gerade
in den hier betreflfenden Gegenden bestimmen zu konnen. Dies lasst sich doch
in exacter Weise nicht ausfiihren. Die Statistik berichtet zwar fiber die Gebfihr
fur Auaschank des Branntweins in den verschiedenen Regierungsbezirken; daraus
kann man doch nichts sicheres schliessen betreffs des Verbrauches.
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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenic unter verschied. Bevblkerungsclassen. 405
sehr hoch gewesen sind, konnen wir sicber behaupten, obgleich wir
ibre exacte Grosse nicht kennen.
In der Periode des besonders unmassigen Alkoholverbrauches,
namlich in den Jabren 1824—55 haben die Vater und Grossvater
der gegenwartigen Generation gelebi Wir mtissen weiter annehmen,
dass ein so bedeutender Alkoholgenuss, wie der in dieser Zeit sehr oft
vorkommende anf einen Theil der Nachkommen schwachend einwirkt.
Es ist mir deshalb sehr wahrscheinlich, dass der unmassige Alkohol-
genuss frttherer Generationen eine wichtige Ursache der Neurasthenic
bei der betreffenden Bauembevolkerung der Jetztzeit ausmachi Be-
stimmte Beweise flir eine solche Auffassung lassen sich ja kaum dar-
bringen. Jedenfalls babe icb die letzten Jahre, seitdem meine Auf-
merksamkeit auf diesen Punkt gelenkt worden war, bei Fallen von
Neurasthenie, wo ich keine gentigende Aetiologie auffinden konnte,
nach dem betreffenden Umstand gefragt und in diesen Fallen baben
die Pat. auch auffallend oft zugegeben, dass ihre Vater einem un¬
massigen Alkoholgenuss gehuldigt haben.
Weiter mussen wir uns daran erinnern, dass, wenn der enervirende
Einfluss der modemen Zeit sich fiir die hoheren Stande und fiir die
Bevolkerung der grosseren Stadte in schadlicher Weise geltend
macht, dies aber nicht oder nur in geringerem Grade betreffs der
Arbeiterbevolkerung auf dem Lande der Fall ist, so hat dieselbe
moderne Zeit den okonomisch gut situirten hoheren Stande auch ver-
schiedene Vortheile gebracht. Wir haben gelemt, besser zu wohnen;
wir haben grossere Fensterflachen in unseren Zimmern, wir haben
bessere Moglichkeiten fiir und Begriffe von Ventilation bekommen.
Ueberhaupt hat sich die Hygiene unserer Wohnstatten sehr gebessert
Dasselbe trifft aber fttr die Bauembevolkerung in den betreffenden
Gegenden von Smoland und Blekinge kaum oder nur sehr wenig
zu. Ihre Wohnungen sind in den letzten 50 Jahren wahrscheinlich
nur wenig verbessert worden. Abgesehen von den wenig befriedigenden
Wohnungen mfissen wir uns daran erinnern, dass die Nahrung der
Bevolkerung dieser Gegenden, welcbe wahrscheinlich zu den armsten
unseres Landes zahlt, oft in qualitativer Hinsicbt mangelbaft ist, indem
die billigen Kohlenhydrate unverhaltnissmassig tiberwiegen.
Gleich wie die Erfahrung lehrt, dass schlechte hygienische und
diatetische Verhaltnisse eine verminderte Resistenz des Organismus
gegen Tuberculose und verschiedene andere Krankheiten bewirkt, so
liegt es auch sehr nahe anzunehmen, dass sie auch die Resistenz des
Nervensystemes vermindem und folglich dazu beitragen kann, eine
Disposition fQr Neurasthenie hervorzubringen.
Bestimmte Schltisse in diesen Fragen zu erreichen, ist wohl kaum
27*
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406
XXIV. Petr£n
moglich, es scheint mir jedoch sehr wahrscheinlich, dass ivir als die zur
Neurasthenie disponirenden Momente bei der betreffenden Bauembevol-
kerung ubermdssigen Alkoholgermss der fruheren Oenerationen , ungiinstige
hygienische Verhdltnisse und qualitaHv unbefriedigende Nahrung anzti-
sehen haben .
In der betreffenden medicinischen Literatur der letzten Zeit findet
man fast immer die Auffassung vertreten, dass die nervosen Zust&nde
sich in unserer Zeit in einer schnellen Zunahme befinden. Dies trate
besonders durch die zunehraende Zahl einerseits der Psychosen, anderer-
seits der Neurasthenie hervor. In dieser Richtung haben sich &st
alle Autoren, welche die Neurasthenie etwas naher behandelt haben,
ohne Zogern ausgesprochen (Beard, Bouveret, Mtiller, Hosslin,
Mobius, Eichhorst, Oppenheim, Holst, Erb, Granholm). Ja,
es scheint, als ob gewisse Autoren der Ansicht waren, dass die Mensch-
heit unserer Zeit einer schnellen, nervosen Entartung unterworfen sei
(Kraft-Ebing).
Ich kann die Bemerkung nicht zuriickhalten, dass diese jetzt so
oft und iiberall wiederholte Ansicht oft als ein Glaubenssatz aufge-
stellt worden ist, ohne dass man sich die Mtihe gegeben hat, Beweise
dafBr zu liefern. Dass gewisse Gesellschaftsklassen an gewissen Orten
durch ihre Arbeitsart und sonstigen Lebensverhaltnisse gegenwartig
mehr nervos werden, als frtiher der Fall gewesen ist, will ich gem
glauben. Die Beobachtung dieses thats&chlichen Vorkommnisses kann
die erwahnte Auffassung der Autoren erklaren; denn man kann nicht
gem annehmen, dass so viele hervorragende Forscher ohne thatsach-
liche Gr&nde eine bestimmte Auffassung in diesem Punkte ausge¬
sprochen hatten.
Ich betrachte es aber als bisher vollig unbewiesen und bezweifele
auch, dass die Menschheit in unserer Zeit hberhaupt nervoser wird,
dass die Frequenz der Neurasthenie sich iiberall oder im allgemeinen
im Wachsen befindeh Zu diesem oppositionellen Standpunkte bin ich
im Laufe der Jahre durch meine oben mitgetheilte Erfahrung betreffs
der Neurasthenie unter der Bauembevolkerung gekommen. Es scheint
mir namlich zum gewissen Grade rich tig zu sein, wie man oft an-
genommen hat, in der Frequenz der Neurasthenie einen geraden Messer
der Nervositat oder der nervosen Disposition zu sehen.
Oben liabe ich auseinandergesetzt, wie die Neurasthenie meiner Er¬
fahrung nach bei einer Bauern- und Arbeiterbevolkerung, wo das
Leben durch die moderne Kultur nicht wesentlich verandert worden
ist, eine gewohnliche Krankheit bildet Man kann sich deshalb der
Schlussfolgerung nicht verschliessen, dass die Neurasthenie in diesen
Gegenden seit sehr langer Zeit und vermuthlich immer vorgekommen,
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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenie unter verschied. Bevolkerungsclassen. 407
wahrscheinlich auch gewohnlich gewesen isi Da der Alkoholgenuss
frdher viel grosser gewesen ist, liegt es nahe, anzunehmen, dass
die Neurasthenie hier frtther eine grossere Frequenz als jetzt ge-
zeigt hat.
Weiter habe ich gefunden, dass die Neurasthenie bei der Bauem-
bevolkerung in den betreffenden Qegenden gar nicht weniger frequent
ist als in den hoheren Standen und was die Frauen betrifFt, bei jeder
weit ofters vorkommt. Ich glaube nicht, dass die hoheren Stande
in unserem Lande betrefls ihrer Lebens- und Arbeitsweise yon der
modernen Kultur weniger beeinflusst worden sind, als es in den grossen
Kulturlandem der Fall ist. Deshalb muss es mir auch sehr zweifel-
haft sein, ob die modeme Civilisation, trotz alien Veranderungen in
unserem Leben, welche sie bewirkt hat, in unserem Lande wirklich eine
gesteigerte nervose Entartung verursacht habe. In derselben Richtung
hat sich vor wenigen Jahren Wildermuth ausgesprochen und hat
dieser Autor auch mehrere wichtige Grftnde daf&r angefiihrt
♦ *
*
Betreffs der Nosographie der Neurasthenie will ich nur einige
kurze Bemerkungen machen.
Allgemein anerkannt ist, dass die Prognose bei der mehr acuten Ent-
stehung der Krankheit am besten ist Dies kann auch ich nur be-
statigen. Neurasthenie mit scheinbar bltihender Gesundheit habe ich
nur sehr selten und unter den Arbeitem wohl niemals gesehen. In der
Mehrzahl der Falle habe ich gefunden, dass die Krankheit mit einem
mehr oder weniger unbefriedigenden Nutritionszustande verbunden ist.
Besonders in den Fallen von acuter Entwicklung der Krankheit (z. B.
bei Trauer wegen eines Verwandten u. s. w.) beobachtet man oft eine
Abmagerung und zwar zuweilen eine ziemlich bedeutende. Da diese
Falle aber, wie oben erwahnt, im allgemeinen eine gute Prognose
geben, konnen \fir daraus lernen, dass eine Abmagerung an und fttr
sich keine schlechte prognostische Bedeutung besitzt.
Die letzten Jahre haben einige Autoren einen kausalen Zusammen-
hang zwischen Arteriosklerose und Neurasthenie erwahnt (Regis,
Mathien, Darroux, Mirto). Ohne die Frage naher zu erortem,
will ich nur vorlaufig bemerken, dass ich im letzten Jahre, seitdem
meine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gelenkt worden war, ein
paar Falle von Personen im Alter von 50—60 Jahren beobachtet habe,
welche massige Symptome von Arteriosklerose von seiten des Herzens
und der Gefasse darboten. Sie hatten daneben ein ganz charakteristisches
Krankheitsbild von Neurasthenie, ohne dass ich irgend welche der
sonst nachweisbaren, atiologischen Momente auffinden konnte.
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408
XXIV. Petr£n
Als Beispiel theile ich einige Notizen betreffs des einen dieser
Faile mit
K. S. Bauer, 59 Jahre aus H&lleberga, Smoland.
In heredit&rer Hinsicht nichts besonderes zu bemerken. Der Vater dee
Pat. soli Alkohol nicht iibermassig genossen haben. Der Pat. ist friiher
bei guter Gesundheit gewesen, angeblicb in fruherem Leben niemals nervos.
Bedentender Alkobolgenuss wird geleugnet, jedenfalls was die letzten
20 Jahre betrifft. Sorge Oder Kummer mehr bedentender Art soli er nie¬
mals gehabt haben.
Nach Influenza im Friihjahre 1892 (mit 58 Jahren) sind die Symptoms
der Nenrasthenie zum ersten Mai aufgetreten, sp&ter aber wieder znriick-
gegangen; sie sind seitdem jedes Friihjahr wiedergekommen, seit dem Frnh-
jahr 1896 aber nicht mehr zuriickgegangen.
Wahrend der Sommer 1897—1899 bin ich in der Lage gewesen, den
Znstand des Pat. genan zn verfolgen. W&hrend dieser Zeit ist in dem-
selben keine Aendemng eingetreten.
Der Pat. bietet das Bild einer schweren, vbllig entwickelten Nenrasthenie
dar. Schlaf sehr unregelm&ssig nnd mangelhaft, viel Tr&nme, leidet fast
immer an Kopfweh nnd Ohrensansen, die ihn sehr plagen; das Ged&chtniss
angeblich etwas geschw&cht. Die intellektnellen F&higkeiten haben gar
nicht in nachweisbarer Weise gelitten, „die Gedanken wollen jedoch hin
nnd her fahren, iiberall w ; er kann seine Anfmerksamkeit nicht nach Wnnsch
anf einen bestimmten Punct lenken. Er ftihlt sich sehr schwach, leidet
angeblich immer in schrecklichster Weise an Schmerzen nnd Parastesien
im Eticken nnd in den Gliedern, klagt anch uber st&ndige nnd plotzliche
Schweiss- nnd Frost-Anfaile, er kann gar nicht arbeiten, weil er bei jedem
Versnche dazn sofort in Schweiss gerath nnd die Schmerzen dabei schlimmer
werden. Appetit sehr gering, Abfflhrnng sehr trag, lebhafte dyspeptische
Erscheinnngen. Keine deutlichen Erscheinnngen von Ventrikelatoni.
Das Herz nach links etwas vergrSssert, seine Wirksamkeit znweilen,
im Allgemeinen aber nicht nnregelmassig. Der zweite Aortaton deutlich
verstarkt nnd verspatet. Die sichtbaren Arterien, anch Art. radialis ge-
schiangelt. Diese ziemlich rigid, der Pnls hart nnd gespannt. — Der Pat
sah fhr seine Jahre etwas alt ans. Keine Albuminnrie.
Keine Behandlung war im Stande, eine Verandemng des Znstandes zn
bewirken. •
Hier haben wir also einen Fall einerseits mit sicheren Erschein-
ungen von Arteriosklerosis, andererseits mit dem typischen Krank-
heitsbilde einer nicht leichten Neurasthenie, wo keine der sonst nach-
weisbaren atiologischen Momente sich anffinden lasst AuflFallend ist
weiter, theils das hohe Alter (55 Jahre) in welchem die Erscheinungen
der Neurasthenie erst aufgetreten sind; theils die Unwirksamkeit
jeder Behandlung — meiner Erfehrung nach ist es namlich sehr
selten, dass man nicht eine, wenigstens vortibergehende Verbesserung bei
Neurasthenie bewirken kann. Dass die Symptome der Neurasthenie
in einem Falle dieser Art durch die Arteriosklerose bedingt sind, ist mir
sehr wahrscheinlich.
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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenic unter verschied. Bevolkerungsclassen. 409
Noch einen Fall ahnlicher Art erlaube ich mir wegen ge-
wisser Eigenthlimlichkeiten in der Krankengeschichte etwas naher zu
erortem.
Ein 59jahriger Apotheker berichtet, dass er etwa mit 50 Jahren plotz-
lich eines Abends an allgemeinen nervosen Erscheinnngen erkrankt war.
Diese w&ren seitdem in der Hanptsache nnverandert. Das Rrankheitsbild
entsprach einer Neurasthenia praecipue psychica. Leidet oft an Schlaf-
losigkeit und Kopfdruck. Die Beschreibung der Erscheinnngen der psy-
chischen Asthenie der gedruckten Stimmnng und der hochgradigen Energie-
losigkeit war ganz charakteristisch. Die somatischen Symptoms der
Neurasthenie traten dagegen fast vollig zuriick.
Bei diesem Pat war keine Spur der bei Neurasthenie gewohnlichen
atiologischen Moments nachzuweisen. Er gab an, immer sehr ordentlich
gelebt zu haben; er hatte keine okonomische oder sonstige Sorge gehabt,
hatte sich niemals besonders uberanstrengt. Er konnte nicht anders an-
geben als, dass er sich oft liber die Apothekergehiilfen ge&rgert hatte.
Dieser Mann hatte immer bis zu seinem 50. Jahre eine ganz gute Gesund-
heit gehabt.
Keine Behandlung der neurasthenischen Beschwerde hatte etwas wesent-
liches oder bestehendes geleistet. Im Laufe der Jahre hatte er jedoch
mehrere Bader und Nervensanatorien besucht. Nur hatte sich sein Zustand,
seitdem er vor etwa zwei Jahren seine Apotheke verkauft hatte, merkbar
gebessert.
Der zweite Aortaton war etwas accentuirt, der Puls gespannt, doch
waren diese Symptome nur massig entwickelt. Vor einem Monate hatte
dieser Pat. einen Anfall von Bewusstlosigkeit mit nachfolgendem Schwindel,
der einige Tage anhielt, gehabt. Deshalb glaube ich wahrscheinlich eine
Arteriosklerose diagnosticiren zu kdnnen.
Seit etwa einem halben Jahre hat der Pat. zuweilen, besonders des
Tages, oft uriniren miissen. Es giebt kein sonstiges Symptom einer Er-
krankung der Harnorgane und Prof. Borelius, der den Pat. dafUr be-
handelt hat, fasst auch dies Symptom als ein rein nervoses auf.
Dieser Pat., der ein gebildeter und augenscheinlich zuverl&ssiger Mann
ist, berichtet, dass sein Vater, der vorher immer ganz gesund gewesen war,
mit etwa 48 Jahren an vQllig derselben Krankheit erkrankt war. Auch
betreffs des Vaters lftsst sich keine Aetiologie nachweisen, und zwar be¬
sonders gar kein iiberm&s&iger Alkoholgenuss. Der Vater starb mit
67 Jahren an Prostatahypertrophie und nachfolgender Urininfection.
In Bezug auf den Grossvater, der in jungem Alter gestorben war,
konnte der Pat. keine Angaben machen. Sonst keine nervose hereditftre
Belastung.
Sowohl beim Vater als dem Sohne, beide frtiher gesund, hat sich
mit etwa 50 Jahren, ohne jede nachweisbare Aetiologie das Krank-
heitsbild einer Neurasthenia praecipue psychica entwickelt. Die
Krankheit ist in keinen der Falle spater zuriickgegangen. Bei dem
Sohne ist wahrscheinlich eine massige Arteriosklerose vorhanden.
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410
XXIV. Petr£n
Auch in diesem Falle scheint mir die Annahme nahe zu liegen,
dass die neurasthenischen Symptome die Folge der Arteriosklerose
waren.
Auffallend ist die similare Hereditat in dieser Krankengeschichte.
Es ist mir also sehr wahrscheinlich, dass das Erankheitsbild der
Neurasthenie zuweilen durch eine Arteriosklerose des Nervensystems
bedingt werden kann. Nach der Bezeichnung von Dercum wtlrden
wir diese Falle als associirte Neurasthenie, nach derjenigen von Le villain
als „Pseudoneurasthenie“ bezeichnen. Die Frage, ob wir diese Falle
der Neurasthenie im eigentlichen Sinne zurechnen sollen, oder dieselbe
eine andere nosologische Stellung geben, beabsichtige ich hier nicht
naher zu erortern.
Bekanntlich hat Head seit einigen Jahren die bei verschiedenen
Organerkrankungen und auch Allgemeinerkrankungen auftretenden
Hauthyperasthesien studirt. Seine Ergebnisse sind in mehreren Puncten
von Faber bestatigt worden. In Uebereinstimmung mit der seit lange
von C. Lange ausgesprochenen Auffassung nimmt Head an, dass
diese Hyperasthesien eine von den erkrankten Organen hervorgerufene
Reflexerscheinung ist.
Diese Hauthyperasthesien kommen bei Magen- und Darmerkrank-
ungen, wie die Untersuchung von Head und Faber zeigen, oft vor.
Da die Symptome von seiten des Digestionskanales eine grosse Rolle
im Krankheitsbilde der Neurasthenie spielen und da auch die Schmerzen
in diesen Partien eine gewohnliche Erscheinung bei dieser Krankheit
sind, so habe ich mich gefragt, ob diese Hauthyperasthesien am
Rumpfe vielleicht ein konstantes oder wenigstens frequentes Vor-
kommniss bei Neurasthenie bildete, so dass einige von den subjectiven
Symptomen der Krankheit dadurch erklart werden konnten.
Deshalb habe ich eine Reihe von Neurastheniefallen in dieser
Richtung untersuchi Leider umfasst die Untersuchung nur 16 Falle.
Diese sind aufs Geradewohl gewahlt worden, wenn ich Zeit dazu fand.
Die Untersuchung wird in der Weise ausgefuhrt, dass man die Haut
und das Unterhautgewebe mit zwei Fingern an verschiedenen Puncten
sanft aufhimmt und massig drtickt. Hat man ein Gebiet von Hyper-
asthesie angetroffen, geben die Patienten deutlich den Schmerz an.
In dieser Weise muss man die Haut ttberall untersuchen (ich habe in
diesen Fallen nur den Rumpf untersucht). Da die Hyperasthesien
sehr oft die Form von horizontalen Giirteln haben, ist es angemessen,
mit der Untersuchung in einer verticalen Linie fortzuschreiten. Auch
kann man die Untersuchung mit dem stumpfen Ende einer Steck-
nadel ausfhhren, da die Patienten an den hyperasthetischen Partien
Schmerzen angeben.
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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenie unter verschied. Bevolkerungsclassen. 411
Unter den 16 Fallen von Neurasthenie, bei welchen ich am Rumpfe
die hier beschriebene Untersuchung vornahm, war ihr Resultat bei
12 ganz negativ. In 4 Fallen fand ich aber eine Hauthyperasthesie:
namlich einmal im Epigastrium an der rechten Seite und dreimal im
Epigastrium an der linken Seite. In einem der letzterwahnten Falle
hatte die hyperasthetische Zone die von Head und Faber beschriebene
charakteristische Form eines horizontalen Gtirtels langs des halben
Umkreises des Rumpfes. In den 3 anderen Fallen waren nur fleck-
formige Hyperasthesien vorhanden.
Obgleich das von mir untersuchte Material nicht so gross war,
wie es wtinschenswerth gewesen ware, glaube ich doch, daraus schliessen zu
konnen, dass die Hauthyperasthesien am Rumpfe durchaus keine konstante
Erscheinung bei Neurasthenie bilden und dass sie folglich keine unter
den gewohnlichen Symptomen dieser Krankheit erklaren konnen.
Lund, December 1899.
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XXV,
Aus der kgl. psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Halle a/S.
(Prof. Hitzig).
Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des
Hirnschenkels.
Von
Dr. Hans Haenel,
fr. Aseistenten der Klinik, z. Zt. Assistenten am Stadtkrankenbaase in Dresden.
(Mit 3 AbbildungeD.)
Karl Ga., 44jahr. Bergmann aus Mansfeld. Hereditat, frilhere Krank-
heiten werden in Abrede gestellt, speciell die Frage nach geschlechtlicher
Infection und Alkoholmissbrauch verneint. Pat. ist seit 1879 verheirathet,
hat 8 Kinder; 2 sind friih gestorben; Aborte sind bei der Fran nicht vor-
gekommen.
Vor 4 Jahren litt er einmal 4 Wochen lang an Kopfschmerzen und
Erbrechen; andere nervdse Symptome waren mit dieser Erkranknng, die
ohne Folgen zn hinterlassen wieder verschwand, angeblich nicht verbunden.
Vor mehreren Jahren erhielt er einmal bei einer Schl&gerei eine Wnnde
am Kopfe, die, genaht, glatt heilte.
Die jetzige Krankheit begann im Herbst 1898. Die Frau des Pat
bemerkte zuerst, dass der Mnnd schief stand, and zwar yerzog Pat. den-
selben beim Sprechen, Lachen u. s. w. nach rechts; bald darnach wnrde die
linke Hand schwach, so dass er ofters Gegenstande darans verlor; nach
einiger Zeit fing er auch an das linke Bein nachznschleppen. Von Anfang
an bestanden ferner Gefiihlsstorungen in den linksseitigen Extremitaten:
Pat sprach day on, dass seine linke Hand taub wiirde, dass er das Geftihl
habe, als ob er mit dem linken Fnsse anf Gnmmi gehe. Nnr in der ersten
Zeit bestanden massige Kopfschmerzen: Erbrechen, Ohnmachten, Schwindel-
anfalle sind wahrend der ganzen Daner der Erkranknng niemals anfgetreten.
— Ganz allm&hliche Verschlimmernng, so dass Pat bis December 1898
noch seine Arbeit yerrichten konnte.
Dann fiel eine znnehmende Verschlechternng der Sprache anf, indem
besonders die Consonanten nndentlicher warden; zn gleicher Zeit gelegent-
lich Doppelsehen and nnwillkhrlicher Abgang yon Urin nnd Koth. Pat
wnrde trager, schlief anch bei Tage viel. Die „Schwache“ im linken Beine
nahm so zn, dass er znletzt weder stehen noch gehen mehr konnte. Etwa
14 Tage vor der Anfnahme wnrde ein Kleinerwerden der rechten Lidspalte
bemerkt, nnd znletzt fiel das rechte Lied ganz hernnter. Das Gehttr soil
anf dem linken Ohre schon seit langerer Zeit etwas schlechter sein als anf
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f
414
XXV. Haenel
dem rechten. — Kanen und Schlucken, Bewegnngen der rechtsseitigen
Extremitftten sollen stets ungestbrt gewesen sein.
Bei der Aufnahme, die am 3. Februar 1899 erfolgte, wurde folgender
Befond erhoben: Mittelgrosser, mangelhaft gen&hrter, aber kr&ftig gebaater
Mann. Kopf rechts leicht klopfempfindlich. — Der Geruch ist beiderseits
ungestort. — Die Sehschfirfe ist anscheinend normal, ebenso das Gesichts-
feld, soweit der Zastand des Pat. eine Untersnchnng desselben gestattet
Am Angenhintergrnnde keine pathologischen Ver&nderungen.
Die Bewegnngen des linken Anges sind nach alien Seiten frei, nnr
nach oben erreicht dasselbe nicht ganz die Endstellnng. Das rechte Ange
stebt etwas nach anssen yon der Mittellinie abgewichen, es kann nnr Be¬
wegnngen nach anssen ausfuhren. Beim Blick nach links nnd nach oben
treten Doppelbilder anf, hber die aber genanere Angaben von dem Pat
nicht zn erhalten sind. Die Pnpillen sind beiderseits gleich, ziemlich eng,
die rechte reagirt weniger ansgiebig anf Lichteinfall nnd Convergenz als
die linke. Es besteht rechts fast vollkommene Ptosis, das Lid verdeckt
die Cornea zn mehr als zwei Dritteln.
Im Bereiche des N. V. besteht links An&sthesie for feinste Berfihrungen,
das Unterscheidnngsvermftgen fur Spitz nnd Stnmpf ist herabgesetzt Der
linke Mnsc. masseter contrahirt sich beim Beissen schw&cher als der rechte.
Beim Essen bleiben oft Speisereste im linken Mnndwinkel liegen, ohne dass
Pat. es bemerkt.
Die Stirn ist rechts mehr gernnzelt als links, das linke Ange zeigt
eine leichte conjunctivitische Injection, der Mund steht in der Ruhe nach *
rechts verzogen, die linke Nasolabialfalte ist fast verstrichen; beim Blasen
entweicht die Lnft aus dem linken Mnndwinkel, beim Z&hnezeigen tritt
zwar eine dentliche Bewegnng anch der linken Mnndmnskeln anf, dieselbe
l&sst aber nach wenigen Angenblicken wieder nach. Beim leichten Angen-
schluss bleibt links eine kleine Spalte offen, anf Geheiss konnen aber beide
Angen fest zugekniffen werden. Uebrigens ist beim nnwillkiirlichen Mienen-
spiel die Verschiedenheit beider Gesichtsli&lften bei weitem ansgepr>er
als bei anfgetragenen Bewegnngen.
Die Sprache ist nndentlich, yerschwommen, besonders soweit die Labial-
lante in Betracht kommen; aphasische Erscheinnngen fehlen.
Das Gehbr ist links herabgesetzt. Otoskopischer Befnnd normal, die
Priifnng mit Stimmgabeln zeigt, dass eine L&sion im Bereiche des schall-
percipirenden Apparates vorliegt.
Der Geschmack ist anf der linken Znngenh&lfte gestort, meist wird
die Empfindnng r bitter u angegeben.
Die Znnge wird gerade heransgestreckt, ist nach alien Seiten frei be-
weglich, zittert nicht.
Im Unterlappen der linken Lnnge die Erscheinnngen eines hypostatischen
Katarrhs, am Herzen reine T5ne; der Urin frei von Eiweiss nnd Zncker. —
Die Extremit&ten der rechten Seite lassen keinerlei krankhafte Stomngen
erkennen.
Im linken Arm sind alle Bewegnngen miihsam nnd kraftlos, aber
nirgends ganz aufgehoben. Der H&ndedmck ist fhr einen Angenblick ganz
gnt, lasst aber sofort wieder nach. Die Bewegnngen der Finger sind ver-
h%ltnissm&ssig am st^rksten gestbrt. Bei passiven Bewegnngen ist nnr
die vollige Strecknng im Ellbogengelenke nnd die Supination dnrch leichte
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Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des Hirnschenkels. 415
Spasmen gehindert, Contractnren bestehen nirgends; auf Coordinations-
stbrnngen ist wegen der Paresen schwer zn untersuchen, dieselben sind
jedenfalls nicht in hbherem Masse vorhanden. Die Sehnen nnd Periost-
reflexe sind im Vergleich zu rechts erhbht.
Auf eine Mitbetheiligung der Rumpfmusculatur lassen die nnten zu
beschreibenden Gleichgewichtsstorungen schliessen.
An der linken Unterextremit&t ist ebenfalls die Beweglichkeit nirgends
vollig aufgehoben; im Hiiftgelenk kann das Bein fast bis zur vollen Hoke
gehoben werden, f&llt freilich sofort kraftlos wieder zuriick. Eine Dorsal-
flexion des Fusses ist dagegen fast unmftglich, Zehenbewegungen sehr gering;
der Fuss steht dauernd in Varo-equinusstellung. Die Kraft der Plantar-
flexoren ist besser. Der Knie-Hackenversuch wird links mangelhaft aus-
gefiihrt, etwas atactisch, doch ist dies wegen der Paresen schwer zu
entscheiden. Bei passiven Bewegungen stosst man auf einen starken
spastischen Widerstand in den Beugern am Oberschenkel. Sehnen und
Periostreflexe links wie am Arm stark gesteigert, Fussclonus leicht aus-
zulosen.
Pat. liegt im Bett dauernd nach der linken Seite (es wurde sogar
nothig, auf dieser Seite ein # Gitter anzubringen, urn ihn am Herausfallen
zu hindern). Aufrichten geschieht nur mit grosser Miihe, der Rumpf sinkt
dabei nach links urn. Auf die Fusse gestellt, ist Parti, nicht einen Augen-
blick im Stande zu stehen, f&llt sofort, auch bei offenen Augen, nach links
und hinten urn. Gehen ist ebenfalls ganz unmoglich; Pat. bestreitet aber,
bei dieser Untersuchung Schwindel zu haben.
Die Sensibilit&t ist auf der ganzen linken Korperh&lfte herabgesetzt;
passive feine Bewegungen der Finger und Zehen werden zwar bemerkt,
aber nicht beziiglich ihrer Richtung erkannt. Pat. vermag in die linke
Hand gelegte Gegenst&nde bei geschlossenen Augen nicht zu erkennen;
rechts bezeichnet er sie sofort richtig. Die F&higkeit, Gewichtsunterschiede
abzuschatzen, (gepriift mit Hitzigs Kinesiasthesiometer) ist beiderseits
gut: der Unterschied z. B. von 60 und 80 gr wird erkannt.
Psychisch bietet Pat. ausser einem leichten Grade von Benommenheit
keine Besonderheiten.
Die Diagnose wurde auf einen Tumor des rechten Hirnschenkels
gestellt, mit dem Ausgangspunkt in der Schleifenschicht. Mit dieser
Diagnose wurde Pat. auch wiederholt klinisch vorgestellt.
Unter Darreichung von Jodkali trat eine erst schnell, dann langsam
fortschreitende Besserung ein. Die Sprache wurde deutlicher, Pat lemte
wieder stehen und gehen, doch war dabei noch wochenlang die Neigung,
nach links hinten zu fallen, bemerkbar, sp&ter nur noch bei Augenschluss.
Beim Gehen zeigte das linke Bein ausgesprochen spastische und dabei etwas
atactische Bewegungen, Pat. schleifte mit der Fussspitze auf Oder hakte
mit derselben hinter dem rechten Fuss ein. Die Spasmen bei passiven
Bewegungen verringerten sich trotz Fortbestehens der Reflexsteigerung.
Die Beweglichkeit von Hand und Arm besserte sich ebenfalls, doch war
auch hier noch ein geringer Grad von Ataxie bemerkbar. Die Facialis-
parese trat nur noch bei der spontanen Mimik hervor; die Ptosis ging zu-
riick. Das Verhalten der Augen zeigte insofern eine Aenderung, als sich
auch am linken Auge Storungen der Beweglichkeit und nystagmusartige
Erscheinungen einstellten, die Pupillen different werden (links enger als
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416
XXV. Haenel
rechts) und die Lichtreaction rechts verschwand. — Das Korpergewicht
hob sich binnen 7 Monaten um 16 Kilogramm.
Bei seiner Entlassnng am 16. Sept. 1899 bot er folgenden Befnnd*):
Die rechte Lidspalte ist in der Rohe noch etwas enger als die linke,
das obere Lid kann aber activ in voller Ansdehnnng gehoben werden. —
Beim Blick geradeans bemerkt man Strabismus divergens durch Abweichen
des rechten Auges nach aussen, ausserdem gelegentlich am linken Auge
leichte rotatorische Nystagmusbewegungen. Die Adduction des linken Auges
ist normal. Bei der Abduction treten jenseits der Mittellinie lebhafte
Raddrehungen auf, die beim Blick nach rechts fehlen. Die &usserste
Abductionsstellung ist nur miihsam fur Augenblicke unter altemirender
Action der Obliqui zu erreichen. Die Erhebung des Auges in der Mittel¬
linie gelingt nur bis wenig iiber die Horinzontale, bei forcirter Hebung
treten nystagmusartige Bewegungen in horizontaler Richtung auf, zwischen
denen man auch fur Momente Raddrehungen bemerkt. Die Erhebung in
den Diagonalstellungen nach innen und aussen ist behindert. Senkung des
Auges in der Mittellinie ist bis nahe an die physiologische Grenze mbglich,
doch kann die Stellung nicht lange aufrecht erhalten werden und es treten
schnell Ermiidungserscheinungen auf. Bewegungen nach unten-aussen und
unten-innen ziemlich frei, indessen werden auch hier die Grenzstellungen
nicht ganz erreicht.
Am rechten Auge ist die Abduction frei, die Adduction wesentlich be-
schr&nkt, die Hebung nahezu aufgehoben, ebenso die Bewegungen nach
innen-oben und aussen-oben unausfiihrbar. Die Senkung ist etwas weniger
weit als links, aber doch fast bis zur physiologischen Grenze mbglich;
auch hierbei zeigen sich lebhafte, grobscblftgige verticale Zuckungen.
Die associirten Bewegungen sind nach rechts frei, nach links wesentlich
gestbrt, beide Augen bleiben, das rechte weiter als das linke, zurfick. Hebung
der Blicklinie rechts unmoglich, links in ganz geringem Grade vorhanden;
Senkung fast in normaler Ausdehnung, doch zeigt das rechte Auge dabei
eine leichte Ablenkung nach aussen. Convergenz ist nur fiir einen Moment
zu erzielen, bald weicht das rechte Auge nach aussen ab, fixirt auch beim
Verdecken des linken nur unvollkommen wieder.
Eine Erg&nzung der Untersuchung durch Doppelbilder war nicht mog-
lich, da Pat. dieselben schon seit langem zu unterdriicken gelernt hatte.
Die rechte Pupille ist etwas grosser als die linke, mittelweit, auf
Lichteinfall fast vollig reactionslos (nur ein minimales Zucken ist zu be-
merken). Die consensuelle Reaction bei Belichtung der linken Pupille ist
besser, aber nicht normal. Linke Pupille ziemlich eng, reagirt gut. Bei
Convergenz und Accommodation beiderseits Reaction, rechts aber langsamer
und undeutlicher als links.
Auf dem rechten Auge besteht Accommodationsparese: nur noch
ca. 1 D. Accommodation; J&ger III mit +2 D sph. in 30 cm Entfernung
gelesen. Auf dem linken Auge ist die Accommodation intact
Es sind also in ihrer Function gesch&digt: am rechten Auge: hoch-
gradig der R. internus, R. superior, obi. inferior, weniger der R. inferior
und die Binnenmuskeln; am linken Auge: hochgradig der R. externus und
*) Es sind hier nur die Punkte erwahnt, die sich seit der Aufhahme ver-
andert hatten.
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Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des Hirnschenkels. 417
R. superior, weniger der obi. inferior und R. inferior. — Binnenmuskeln,
sowie beiderseits der Obi. superior sind frei.
Herr Dr. Wagner, Assistent an der biesigen Universitats - Augen-
klinik, hatte die Gtite, den Augenbefund nachzupriifen und zu erganzen.
Das Gesicht zeigt noch in sehr ausgepragtem Masse das friiher be-
schriebene Verhalten. Die Sprache ist normal; eine Differenz in der
Innervation der Kaumuskeln ist nicht mehr nachweisbar. Gleichgewichts-
stbrungen sind weder bei offenen noch bei geschlossenen Augen (Romberg-
scher Versuch) mehr zu bemerken.
Der linke Arm wird meist in leichter Beugestellung gehalten, die
Hand dabei supinirt und die Finger in halber Streckung und Spreizung
gehalten. Die normalen Pendelbewegungen beim Gange macht der Arm
nicht mit, dagegen fuhrt er ungleichmassige schwankende Bewegungen aus,
die an Balanciren erinnem, aber in der That kein solches sind, weil Pat.
nicht taumelt Die linke Schulter hangt etwas defer als die rechte. —
Active Bewegungen sind beiderseits in alien Gelenken und nach alien
Richtungen bis zur vollen Excursionsgrbsse ausfuhrbar; nur die voile
Supination ist links noch um ein weniges behindert. Eine Stbrung besteht
noch insofern, als links alle Bewegungen langsamer, ungeschickter und mit
etwas geringerer Kraft ausgefiihrt werden. Eigentliche Ataxie tritt auch
bei specieller Priifung nicht zu Tage. Die passiven Bewegungen sind
iiberall frei; die Sehnen- und Periostreflexe noch erhoht. Gelegentlich
nimmt man an der linken Hand unwillkiirliche Bewegungen wahr, die an
Athetose erinnem.
Active Bewegungen des linken Beines in der Riickenlage sind bis auf
eine Abschw&chung der Dorsalflexion des Fusses frei. Ataxie im Liegen
fehlt. Der Gang ist noch spastisch, dabei Andeutungen von ataktischem
Ausfahren der Bewegungen. Bei passiven Bewegungen noch Reste leichter
Spasmen; die Reflexsteigerung und der Fussclonus bestehen weiter, des-
gleichen die Sensibilit&tsstbrung. Letztere zeigte bei der Entlassung
folgendes Verhalten:
Aufgehoben ist die Empfindung fiir feinste Beriihrungen an den
H&nden, sowie diejenige fiir die Richtung passiver Gelenkbewegungen
an Fingem und Zehen.
Herabgesetzt ist die Empfindung fur Beriihrung, Wftrme und Kfilte,
Nadelstiche sowie die elektromusculare Contractionsempfindung auf der ganzen
linken Korperseite; dieGrenze amRumpf entspricht nicht genau der Mittellinie.
Ungestbrt ist die Empfindung fur passive Gelenkbewegungen in den
grosseren Gelenken, das Vermogen Gewichtsunterschiede abzusch&tzen, und
die Lage der Glieder im Raume zu beurtheilen. Auch die Localisation der
Beriihrungen, sobald sie stark genug sind, um deutlich empfunden zu
werden, ist eine gute, nur an den Fingern werden die einzelnen Glieder
bfters verwechselt.
Einen Massstab fiir die Vertheilung der Hyp&sthesie auf die einzelnen
Gelenkabschnitte ergab die Bestimmung der Tastkreise: Die Zirkelspitzen
wurden als zwei empfunden in einer Entfernung von z. B.
am Zeigefinger
» n
v n
r> n
(volar) rechts 4 mm
„ links 40 „
(dorsal) rechts 6 r
„ links 55 „
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418
XXV. Haenel
am Handrucken
n n
„ Unterarm
n n
„ Oberam
n V
an der Unterlippe
rechts 22 mm
links 40 „
rechts 45 „
links 70 „
rechts 70 „
links 95 „
rechts 3 „
links 11 „
Die Zahlen der rechten KSrperseite stimmen gut mit den als normal
angegebenen Werthen (Landois) hberein.
Das stereognostische Vermogen zeigt sich links erheblich beeintr&chtigt,
beinahe anfgehoben.
Die hauptsachlichsten Punkte der vorstehenden Krankengeschichte
sind die folgenden: Allmahliche Entwickelung einer linksseitigen
Hemiparese mit zu gleicher Zeit sensiblen und motorischen Symptomen
fast ohne alle Allgemeinerscheinungen. Ergriffen werden erst Gesicht,
dann Arm und Bein, nach langerer Zeit auch die Muskeln des rechten
Auges. Bei der Aufnahme: Lahmung sammtlicher vom rechten N. III.
versorgten ausseren Augenmuskeln. Parese des linken N. V. in seinem
motorischen und sensiblen Theil, des N. VII. in alien 3 Aesten,
Schadigung des N. VIII., vielleicht auch des N. IX., Parese des linken
Armes und Beines mit Steigerung der Reflexe und Spasmen, besonders
im Bein. Starke Storung des Gleichgewichts: Umfallen nach links.
Hemihypasthesie fiir fast alle Gefiihlsqualitaten, am starksten aus-
gepragt in den distalen Abschnitten der Extremitaten. — Besserung
der motorischen Storungen. Unverandertes Bestehen der sensiblen
Storungen; Veranderung der Augenmuskelstorungen, indem rechts die
Function der Mm. R. internus, inferior und superior zum Theil wieder-
kehrt, daflir aber die Binnenmuskeln, sowie links die Mm. R. extemus,
superior uud inferior, befallen werden.
Versuchen wir den Krankheitsherd, der die beschriebenen Symp-
tome hervorgerufen hat, zu localisiren, so mtissen wir dabei vor allem
berticksichtigen, dass wir es bei der klinischeu Betrachtungsweise, die uns
hier allein zu Gebote steht, nur mit seinen Wirkungen zu thun ha ben;
da aber jeder krankhafbe Process, besonders im Centralnervensystem,
seine Umgebung in Mitleidenschaft zieht, sei es durch regionare Er-
weichung, secundare Degeneration oder auch nur durch Druck und
daraus entstehende functionelle Storungen, so wird in der Regel der
Herd im anatomischen Sinne kleiner sein, als es der klinische Befund
erwarten lassen miisste. Die folgenden Auseinandersetzungen werden
also unter dieser Einschrankung zu yerstehen sein; wir werden nur
den maximalen Wirkungsbereich umschreiben konnen, in dessen
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Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des Hirnschenkels. 4 x 9
Centrum der eigentliche pathologisch-anatomische Herd zu sucben
sein wird.
Dass es sicb um eine Affection des recbten Hirnschenkels
handeln muss, geht aus dem Bilde der Hemiplegia altemans superior
ohne Weiteres hervor. Ihr Centrum muss dieselbe in der Schleife
haben, denn die sensiblen Storungen traten mit zuerst in den Vorder-
grund und blieben bis zuletzt am constantesten bestehen. Im weiteren
Wachsthum wird sicb derselbe erst nach unten, nach dem Fusse des
Hirnschenkels zu, ausgedehnt und dort in dessen mittleren drei Fiinf-
teln die Pyramidenbahn gescbadigt haben. Dass dabei trotz Lasion
des N. VII in alien drei Aesten der N. XII intact geblieben ist, ist
eine auffallende Thatsache, die sich nur feststellen, aber yorlaufig nicht
erklaren lasst. Beziiglicb der unteren medialen Grenze konnen wir
nur soviel sagen, dass der Herd schwerlich bis in die Ebene der aus-
tretenden IIL-Wurzel reichen kann, weil in diesem Falle das Frei-
bleiben der inneren Augenmuskeln bei der scbweren Schadigung der
ausseren hochst auffallend ware.
Nach oben hat der Herd jedenfalls, wie schon erwahnt, die sen¬
siblen Bahnen in der Schleife geschadigt und femer mit grosser Wahr-
scheinlichkeit den Bindearm resp. dessen Kreuzung und den rothen
Kern. Dafttr spricht die Gleichgewichtsstorung, die schon Curse h-
mann 1 ) und spater Starr 2 ), Eisenlohr 3 ) u. a. auf Lasion dieser
Theile zuruckgefiihrt haben.
Nach medial und oben kommen wir in das Kern- und Wurzel-
gebiet des N. IIL Die Thatsache, dass die Augenmuskeln erst einige
Monate nach dem Beginn der Krankheit befallen worden, spricht f&r
ein langsames Fortschreiten des Processes von einem Centrum, eben
dem Schleifenfelde aus nach bestimmten Richtungen und bietet uns
damit eine gewisse Sicherheit daftir, dass wir es mit einem einheit-
lichen und nicht mit multiplen Herden zu thun haben, was fttr die
weitere theoretische Auseinandersetzung von Wichtigkeit ist. Der
Befund an den Augenmuskeln bei der Aufnahme des Pat war in
localisatorischer Hinsicht insofern von Bedeutung, als man erstens aus
dem fast volligen Freisein des linken Auges — nur die Bewegung
nach oben war um ein weniges beschrankt — ein irgendwie nennens-
werthes Uebergreifen des Processes fiber die Mittellinie ausschliessen
konnte und zweitens in Folge der verhaltnissmassig guten Licht-
reaction der rechten Pupille annehmen musste, dass der Process vor
den vorderen Partien der Kerne und der Wurzeln Halt gemacht habe;
aus den Untersuchungen von Hensen und Volckers 4 ), Bechterew,
Kahler und Pick u. a. wissen wir ja, dass die Binnenmuskeln des
Auges von den vordersten Partien des IIL Kernes aus innervirt werden.
Deutsche Zeitscbr. f. Nervenhetlkunde. XVII. Bd. 28
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XXV. Haenel
Hatten wir also als vordere Grenze des Wirkungsbereiches unseres
Herdes die Ebene der hinteren Commissur — die vordersten Theile
des III. Kernes fallen noch vor dieselbe — festgestellt, so kann uns
das Ergebniss der Gehorsprtifung yielleicbt einen Anhaltspunkt fftr die
obere laterale Grenze geben. Nach Untersuchungen von Flechsig 5 ).
Bechterew 6 ), Onufrowicz u. a. stellt die untere Oder laterale Schleife
ein Glied in der Horbahn dar, die ihre Fasern zum grossen Theil
durch die obere Olive aus dem gegentiberliegenden Trapezkorper be-
zieht; sie scheint in leichtem Grade mit betroffen zu sein.
Von functionell genauer bekannten Gebilden liegt in dem bisher
umgrenzten Bezirke noch die absteigende V.-Wurzel; dieselbe fahrt
nach der allgemeinen Anschauung motorische Fasern der Portio minor
zu; thatsachlich ist sie, wie die anfangs beobachtete Schwache der
linksseitigen Kaumusculatur darthut, mit ladirt worden.
Ueber die hintere Begrenzung der vorliegenden Lasion lasst sich
Vord. Vierhiigel
V. disc.
lat. Schl.
corp. gen. mid.
Schleife
Subst. nigr.
Rot. Kern
N. Ill
Fig. 1.
soviel mit einiger Sicherheit sagen, dass sie nicht tiber die Ebene des
hinteren Vierhiigelpaares hinausreichen kann. Denn in diesem Falle
mtisste sie unbedingt Kern Oder Wurzeln des N. IV geschadigt haben;
derselbe hat aber wahrend der ganzen Dauer der Beobachtung niemals
eine Storung gezeigi
Zur nochmaligen Zusammenfassung und Veranschaulichung des
im Vorhergehenden theoretisch festgelegten Bereiches des Herdes bei
der Aufnahme des Pat. diene das vorstehende Schema. Als Schnittebene
ist ungefahr die Ebene des Uebergangs der Bindearme in den rothen
Kern gedacht
Das dunkel schraffirte Feld entspricht etwa dem postulirten Herde,
die helleren Partien den wahrscheinlich bloss secundar in Mitleiden-
schaft gezogenen Theilen, die vordere und hintere G-renze waren, wie
oben ausgefhhrt, in der Ebene der hinteren Commissur einerseits und
der des hinteren Endes des hinteren Vierhiigelpaares andererseits gegeben.
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Klinischer Beitrag zur Kenntoiss der Erkrankungen des Himschenkels. 42 1
Die weitere Frage wiirde sein, welche Veranderungen der Herd
erlitten haben mag, am die Besserung der Symptome zu erklaren.
Der 8cbwerkranke, hilflose Eindruck, den der Pat, bei seiner Auf-
nahme machte, war hauptsachlich durch seine ganzliche Unfahigkeit,
zu stehen und zu gehen, hervorgerufen und diese war viel mehr eine
Folge der Gleichgewichtsstorung als der Paresen.
Um eine Besserung der Gleichgewichtsstorung hervorzurufen, be-
durfte es aber nicht einmal eines Rttckganges, sondern nur eines Still-
standes des Processes. Denn mittelbar, zu Folge der directen Ver-
bindung des Bindearms mit dem Cerebellum, war jene Storung ein
Kleinhimsymptom: und durch Lucian is 8 ) klassische Thierversuche ist
festgestellt worden, dass selbst bei vollstandiger Abtragung einer Klein-
him-Hemisphare die Storungen nach wenigen Wochen, durch compen-
satorisches Eintreten der anderen Halfte, nahezu oder vollig wieder
ausgeglichen werden konnen. — Der Krankheitsherd brauchte also
nur um wenige Millimeter nach oben zurtickzuweichen und damit den
Hirnschenkelfuss zu entlasten, um im Verein mit dem Ausgleich der
Gleichgewichtsstorung die Gebrauchsfahigkeit von Bein und Arm wieder
soweit herzustellen, wie es bei der Entlassung des Pat. der Fall war.
Nicht ganz so einfach ist das Verhalten der Augenmuskeln zu
erklaren. Die unzweifelhafte Besserung der rechtsseitigen III.-Lahmung
wiirde auf eine Verkleinerung des postulirten Herdes, wie von unten
nach oben, so auch in der Richtung von innen nach aussen hin
schliessen lassen. Dem steht gegentiber das mit dieser Besserung
parallel gehende Auftreten von Bewegungsstorungen am linken Auge,
besonders die Erschwerung der Abduction nach links. Ein Ueber-
greifen des Processes fiber die Rhaphe hinaus auf die III.-Fasern der
linken Seite ist, eben wegen des Freiwerdens derjenigen der rechten
Seite, hochst unwahrscheinlich, auch ware es sehr merkwfirdig, dass
bei der doch sicher symmetrischen Lagerung der Kerne und Fasem bei
einem Vorrticken nach links gerade der R. internus verschont geblieben
sein sollte. Eine andere Betrachtungsweise ist dagegen geeignet, die
Verhaltnisse leichter zu erklaren. Es ist namlich leicht einzusehen,
dass in unserem Falle die ursprtingliche Ophthalmoplegia externa in
eine complicirte associirte Blicklahmung fibergegangen ist, und die
weitere Frage ist, ob wir in der hier in Betracht kommenden Hirn-
region Bahnen kennen, durch deren Lasion eine solche Lahmung her¬
vorgerufen werden kann. Seit Adamfik 9 ) ist man gewohnt, in dem
vorderen Vierhtigelpaar ein „Centrum“ fur die associirte Seitwarts-
wendung der Bulbi zu sehen, wahrend Wernicke und Hunnius 10 )
ein paariges Centrum ffir dieselbe Bewegung in der Nachbarschaft der
VI.-Kerne annahmen. Dazu kommen eine grosse Reihe klinischer Beobach-
28 *
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422
XXV. Haenel
tungen, (Bleuler, u ) Thomsen, 12 ) Seymoor, 13 ) Henoch u. a. m.)
darunter auch einige, z.B. v. Nieden, 14 ) Grafe, 15 ) Eisenlohr 3 ) von
associirter Blicklahmung nach oben Oder unten, die zeigen, dass ftir
diese Blickrichtung ebenso ein „Centrum“ resp. eine gemeinsame
Bahn existiren muss, wie ftir die viel haufiger betroffene Seitwarts-
wendung. Diese Bahn verlauft nach Bleuler 11 ) und Monakow 16 )
in dem Theil der Haube, die etwas lateral von dem Gebiet der
IIL-Kerne liegt und ungefahr von der Formatio reticularis sowie
dem mittleren Mark des vorderen Vierhtigels eingenommen wircL Zum
leichteren Verstandniss der Storungen der Lasion dieses Gebietes sei es
gestattet, hier — mit einigen unwesentlichen Aenderungen — das
Schema zu reproduciren, das Hunnius 10 ) zur Erklarung der associirten
seitlichen Blicklahmung entworfen hat:
Dasselbe erklart sich von selbst: Die Kreuzung der Bahnen mit der
anderen Seite erfolgt, wie Bleuler 11 ) nachgewiesen hat, unmittelbar
hinter dem hinteren Vierhiigelpaare und jedenfalls vor dem vorderen
Rande der Brticke; die Bahn von VI. zum gegenflberliegenden IH. lauft
wahrscheinlich im hinteren Langsbtindel. Ausser den Fasern ftir die
Seitwartswendung sind nun auch gemeinsame Bahnen ftir die associ-
irte Einstellung in andere Blickrichtungen anzunehmen. Eine Lasion
an der Stelle x, — die nicht nur im Schema, sondern auch in Wirk-
lichkeit dem HL-Kera ziemlich nahe liegen muss — wiirde also ausser
der associirten Blicklahmung nach links auch eine solche in mehr oder
weniger hohem Grade nach oben und unten — allein nicht nach rechts —
hervorrufen.
Hiernach wtirde also die Annahme einer kleinen Bewegung des
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Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkraukungen des Hirnscbenkels. 423
Herdes nach vorn und lateral die Veranderung des Augenbefundes un-
gezwungen erklaren. Wie gut eine solche Annahme auch bezflglich
der einzelnen lll.-Kerne mit friiheren Untersuchungen flbereinstimmt,
mag die nachstehende Skizze versinnbildlichen. In derselben sind die
einzelnen Muskeln in der Reihenfolge angegeben, wie sie Hen sen und
Volkers 4 ) bei ihren Reizversuchen am Boden des Aquaeductus
Sylvii gefunden baben; der erste Strich umfasst die Muskeln des
rechten Auges, die bei der Aufnahme, der zweite die, die bei der
Entlassung befallen waren; seine Dicke soil ungefahr der Intensitat
der Lftsion proportional sein.
Aus den bisberigen AusfQhrungen geht h error,
dass der so erbeblichen Besserung in dem Be-
finden des Pat. nur eine ganz minimale Ver-
scbiebung der Lage des Herdes, nicht einmal
eine Verkleinerung desselben zu entsprechen
braucht und wahrscheinlicb auch entspricht Das
Schwinden der Benommenbeit wflrde sich leicht
durcb eine Entlastung des Aquaeductus und da-
durch erfolgte Aufhebung eines vorher gesteigerfcen
intraventricularen Druckes erklaren lassen.
Beztiglich der Natur des vorliegendes Herdes kann man natbrlich
nur Vermuthungen hegen. Die Annahme einer Cysticerc.us- Oder
Echinococcusblase wiirde aus verschiedenen Griinden (lange Dauer
und augenscheinliche Benignitat des Processes, Vorschreiten nach
der einen Seite bei gleichzeitigem Zuriickweichen auf der anderen,
Fehlen aller luetischen oder tuberculosen Erscheinungen am tibrigen
Korper) manches ftir sich haben.
• Muse, ciliar.
• Fphinct. irid.
• R. int.
• R sup
• Levat. palp,
• R. inf.
Fig. 3.
Der vorliegende Fall giebt uns Gelegenheit, noch auf einige
Puncte von allgemeinerem Interesse einzugehen. Auffallend war erstens
das mit dem gewohnlichen Befunde bei Hemiplegien contrastirende
Verhalten der Gesichtsmusculatur: bei den mimischen Affectbewegungen,
beim Lachen, Sprechen etc. blieb die linke Seite fast vollig unbeweg-
lich, wahrend sie bei aufgetragenen, absichlichen Bewegungen, z. B.
beim Zahnezeigen sich eben so gut wie die rechte bewegte. Zur Er-
klarung dieses abweichenden Verhaltens wird man in erster Linie an
den benachbarten Thalamus zu denken haben. Wenn auch dessen
Functionen noch nicht ganz aufgeklart sind, so haben doch die Arbeiten
dariiber, besonders von Bechterew 7 ), soviel ergeben, dass ihm eine
wesentliche Rolle beim Zustandekommen der Ausdrucksbewegungen
zukommh Auch klinische Beobachtungen (Gowers, 18 ) Gayet, 19 )
Rosenbach 20 ) u. a.) stiitzen diese Ansichi Wir miissen uns vorstellen,
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XXV. Haenel
dass die nach abwarts zum N. VII. laufenden motorischen Impulse
auf einem zweifachen Wege zu den Kemen gelangen: einmal direct
durch die innere Kapsel, und zweitens indirect iiber den Thalamus,
und dass die Vereinigung dieser beiden Wege erst im Pedunculus
zustande kommk Dabei ist es leicht veratandlich, dass eine Unter-
brechung der inneren Kapsel die Hauptstrasse zwar unwegsam
macht, den Umweg aber gangbar lasst, wahrend andererseits die Ver-
legung dieses Nebenweges die auf ihm geleitete specielle Bewegungs-
form unmoglich macht, den directen Willkiir-Impuls aber frei passiren
lasst Die oben umschriebenen Grenzen unseres Herdes reichen nun,
wie man sich an Praparaten aus der betr. Gegend leicht iiberzeugen
kann, bis direct an das Pulvinar des Thalamus und dessen Verbindung
mit dem mittleren und tiefen Mark des vorderen Vierhugels, und
eine Schadigung dieser Theile erscheint beinahe unvermeidlich; auch
die in der linken Hand andeutungsweise beobachteten athetoseartigen
Bewegungen deuten darauf hin, dass der Thalamus wohl leicht in
Mitleidenschaft gezogen ist. Durch diese Betrachtungsweise wird das
auffallige, dem gewbhnlichen entgegengesetzte Verhalten der Gesichts-
bewegungen befriedigend erklart
Femer verdient noch das Verhalten der Sensibilitat in unserem
Falle eine besondere Besprechung. Es ist eine oft beobachtete That-
sache, dass bei Rindenlasionen in der Gegend der motorischen Centren
die Storung sich zuerst an den distalsten Theilen der Extremitat
geltend macht, auch wenn die Lasion keine so scharf umschriebene
ist, dass sie allein die Rindencentren flir die Finger oder Zehen be¬
fallen hat. Auch die experimentelle Physiologic hat ein gleiches Ver¬
halten festgestellt (Munk 21 ): die complicirtere Function geht bei
Exstirpation der betr. Rindenpartie am ehesten verloren und stellt
sich am spatesten wieder her. Wernicke 22 ) hat auf dieses Verhalten
besondere hingewiesen und an der Hand der a. a. 0. beschriebene Falle
auch darauf aufmerksam gemacht, „dass die Hautsensibilitat bei
circumscripten Rindenlasionen nach derselben Norm betroffen wird,
wie die Motilitat, d. h. so, dass die Functionsstorung nach den grossen
Gliedabschnitten abgegrenzt wird“. Er erklart dies Verhalten fQr die
„specifische Projectionsweise der Hautsensibilitat in der Rinde. a Seine
Ausfiihrungen treffen ja nun zwar jedesmal, aber offenbar nicht aus-
schliesslich fiir Rindenlasionen zu; auch bei der gewohnlichen cap-
sularen Oder lenticularen Hemiplegie ist es eine alte Erfahrung,
dass diejenigen Muskelgruppen, die vorwiegend zu Sonderbewegungen
im Sinne Munks benutzt werden, also vor allern die Muskeln der
Hande und unter diesen die des Daumens am schwereten geschadigt
werden und am langsten functionsunttichtig bleiben. Dass in gleicher
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Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des Hirnschenkels. 425
Vertheilung auch die Sensibilitat durch infracorticale Herde geschadigt
werden kann, daftir ist unser Fall ein Beispiel. Das Verhalten der
Tastkreise, die relativ, gegenuber der rechten Seite, distalwarts unver-
gleichlich yiel mehr vergrossert sind, als proximalwarts, ferner die
Empfindlichkeit ffcr feine passive Gelenkbewegungen, die Localisation
empfundener Beriihrungen gehen der Intensitat ihrer Storung nach
den motorischen Anfallserscheinungen parallel, d. h. sie nehmen etwa
den Gliedabschnitten entsprechend nach oben hin ab.
Durch die gewflhnlichen Vorstellungen von der Vertretung jeder
Empfindungsqualitat und jedes Muskels oder auch nur jeder functionell
zusammengehorigen Muskelgruppe in bestimmten Fasergruppen und
Bahnen sind diese Verhaltnisse nicht zu erklaren; es ist nicht denkbar,
dass die so verschieden lokalisirten Herde vom Hirnschenkel ab bis
zum Stabkranz und der Rinde, die eine Hemiplegie resp. Monoplegie
verursachen, immer bloss die Fasern fflr die Bewegungen und Em-
pfindungen der Hand und des Fusses bevorzugen und die dicht da-
neben liegenden Fasern fQr die anderen Gliedabschnitte verschonen
sollten. Die Thatsachen nothigen uns, unsere grob-anatomischen Vor-
stellungen von der Thatigkeit des Nervensystems, die seit dem weiteren
Ausbau der Localisationslehre immer mehr vorherrschend geworden
sind, zu Gunsten einer mehr dynamischen Oder functionellen An-
schauungsweise einzuschranken.
Wir konnen uns dabei an eine Theorie von v. Monakow 16 ) halten;
derselbe nimmt an, dass alle zusammengesetzten Bewegungen durch
das Zusammenwirken mehrerer nervoser Componenten von verschiedener
Dignitat, vor allem einer corticalen und einer infracorticalen zustande
kommen; die erstere ware in tiberwiegendem Maasse nur bei den
complicirteren, durch Uebung erworbenen und unter Mitwirkung von
Gedachtniss und Vorstellungen ausgeflihrten Bewegungen im Spiele,
wahrend andere, in der Regel unbewusst ausgefflhrte Bewegungen, wo-
zu besonders die meisten bilateralen geboren, zum grossen Theile durch
die niederen, infracorticalen Componenten geleitet werden. Das differente
Verhalten der einzelnen Korpertheile bei der Hemiplegie ware deshalb
weniger von den Verschiedenheiten des Sitzes der Lasion abhangig,
als von dem praformirten Verhaltnisse, in dem diese Korpertheile
und ihre Functionen in der Rinde einerseits und in den niederen
Theilen des Centralnervensystems andererseits vertreten sind. Da nun
sicher die Hand von alien Korpertheilen die meisten bewussten Be¬
wegungen ausfdhrt und auf die meisten complicirten Functionen im
Laufe des Lebens eingettbt worden ist, — abgesehen von den Sprach-
werkzeugen, flir die ja gesonderte Verhaltnisse bestehen —, so wird
sie auch in der Rinde und in den diese letztere mit infracorticalen
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XXV. Haenel
Stationen verbindenden Systemen durch die meisten nervosen Element*
vertreten sein. Dann ist es auch nicht mehr unverstandlich, dass eine
Lasion, sobald sie iiberhaupt den corticalen Theil des Bewegungs-
apparates — im weiteren Sinne, d. h. unter Hinzurechnung der
cortico-infracorticalen Bahn — schadigt, in der Storung der Hand-
bewegungen am intensivsten zum Ausdruck kommen muss.
Die Uebertragung dieser Anschauung auf die Verhaltnisse bei der
Sensibilitat bereitet keine Schwierigkeiten. Die Vorstellung, dass Em-
pfindungen mit einem verschieden grossen Antheil von Bewusstsein,
d. h. wieder von Empfindung von statten gehen sollen, ist unter Be-
rficksichtigung der verschiedenen Reflexphanomene nicht so paradox,
als es auf den ersten Blick vielleicht erscheint Die andere Vor-
bedingung, die Uebungsfahigkeit, ist bekanntlich auch auf sensiblem
Gebiete in ziemlich hohem Maasse vorhanden, und iiberhaupt ist zu
bedenken, dass die grosse Geschicklichkeit und Bewegungsfeinheit der
Hand ja ohne eine mit der motorischen Ausbildung parallel gehende
Verfeinerung aller sensiblen Functionen undenkbar ware. Es trifft
also fttr die Sensibilitat dasselbe zu, was bezliglich der Motilitat aufge-
stellt wurde: in dem sensiblen Theil der corticalen Componente
mttssen ebenfalls die am feinsten entwickelten Abschnitte der Extre-
mitaten durch die zahlreichsten anatomischen Elemente vertreten sein
und dem zu Folge bei Lasionen stets am starksten betroffen werden.
Sind die hier gemachten Voraussetzungen richtig, dann mttssen
alle cerebralen Sensibilitatsstbrungen, auch die durch subcorticale
Herde hervorgerufenen, den Typus aufweisen, den wir in unserem
Falle von Hirnschenkellasion gefunden haben und den Wernickeals
charakteristisch fttr circumscripte Rindenlasionen aufgestellt hat. Fttr
den ^uskelsinn * 4 ist eine derartige Vertheilung der Storung, „parallel
der Intensitat der Lahmun g u (Vetter ) 2 3 ) auch schon wiederh olt beschrieben
worden, und in letzter Zeit hat sich Dejerine 24 ) ebenfalls mit grosser
Entschiedenheit fttr das Gesetzmassige und Charakteristische dieses
Lahmungstypus bei cerebralen Hemianastliesien ausgesprochen. Dass
dementsprechende Beobachtungen bisher selten sind, liegt wohl einer-
seits daran, dass bei der gewohnlichen Hemiplegie der hinterste Theil der
inneren Kapsel aus den bekannten Griinden in der Regel frei bleibt, und
dass andererseits eventuelle Storungen der Sensibilitat sich lange nicht
so sinnfallig darstellen, wie solche der Motilitat, sondern erst durch ganz
specielle Untersuchungsmethoden aufgedeckt werden mlissen. Jedenfalls
wiirde es aber von grossem Interesse sein und zur Klarung UDserer
Ansichten liber die Thatigkeit des Centraln erven systems beitragen,
wenn in geeigneten Fallen auf diese Verhaltnisse mehr geachtet wiirde.
Um zum Schluss noch einmal das Wesentliche der vorhergehenden
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Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des Himschenkels. 427
Ausfahruugen zusammen zu fassen, so scheint mir die Bedeutung unseres
Falles ausser in der MSglichkeit einer sehr genauen Localdiagnose des
Herdes in der vom Gewohnlichen abweichenden Form der Facialis-
parese und endlich in dem besonderen Verhalten der Sensibilitats-
storung und ihren Beziehungen zu bekannten Lahmungstypen zu
liegen; dadurch mag die Mittheilung des Falles auch ohne einen er-
ganzenden pathologisch-anatomischen Befund gerechtfertigt erscheinen.
Zum Schlusse spreche ich meinem verehrten friiheren Chef, Herm
Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Hitzig, ftir die Ueberlassung des vor-
liegenden Falles meinen ergebensten Dank aus.
Literatur.
1) CurschmanD, Beitrag zur Physiologie der Kleinhiraschenkel. Diss.
Giessen 1868.
2) Starr, A case of alternant hemianalgesia. Med. Record. 1893.
3) Eisenlohr, Zur Diagnose der Vierhugelerkrankungen. Jahrb. d. Hamb.
Staatskrankenanstalten I. 1889.
4) Hensen u. Volkers, Arch. f. Ophthalmologie. XXIV. 1.
5) Flechsig, Leitungsbahnen. Leipzig 1876.
6) Derselbe, Zur Lehre vom centralen Verlauf der Sinnesnerven. Neurol.
Centralbl. 1886.
7) Bechterew, Zur Frage iiber die secundare Degeneration des Himschenkels.
Arch. f. Psych. 19.
8) Luciani, Das Kleinhira. Neue Studien etc. Leipzig 1893.
9) Adamuck. Zur Physiologie des N. HI. Med. Centralbl. 1870. 12.
10) Hunnius, Zur Symptomatologie der Bruckenerkrankungen etc. Bonn 1881.
11) Bleuler, Zur Casuistik der Herderkrankungen in der Briicke etc. Diss.
Bern 1884.
12) Thomsen, Ein Fall von isolirter LahmungdesBlicks nach oben. Arch. f.Ps. 18.
13) Seymour, A case of tumor of pons etc. Brain 1884.
14) Nieden, Associirte Blicklahmung nach oben. Centralbl. f. prakt. Augen-
heilkunde. 1880.
15) Grfife, Grafe-Samisch, Handbuch d. Augenheilk. S. 58.
16) v. Monakow, Nothnagels Handbuch d. spec. Path. u. Ther. Bd. IX. 1.
17) Bechterew, Die Bedeutung der Sehhugel etc. Virch. Arch. 110.
18) Gowers, On slow incoordination from disease of the optic thalamus. Brain I.
19) Gayet, Lesion des p^doncules c6r6braux etc. Arch, de physiol. II. t. 2.
20) Rosenbach, cit. bei Bechterew. Virch. Arch. 110.
21) Munk, Ueber die Functionen der Grosshirarinde. Berlin 1880. S. 37.
22) Wernicke, Zwei Falle von Rindenlasion. Arb. aus der psych. Klinik in
Breslau H. S. 35.
23) Vetter, Ueber die feinere Localisation in der Capsula interna. Samml.
klin. Vortrage begr. v. Volkmann. Neue Folge Nr. 165.
24) Dejerine, De Th&nianaesth^sie d'origine cdr^brale. Semaine m&licale 1899.
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XXVI.
Aus dem Laboratorium der Universitatsaugenklinik in Wtirzburg
(Professor v. Michel).
Experimentelle Untersuchmigeii und Studlen liber den
Yerlanf der Pupillar- und Sehfasem nebst Erortemngen
ftber die Physiologie nnd Pathologie der Pnpillarbewegung.
Von
Dr. med. Ludwig Bach,
Priv&tdocenten nnd wissenschaftlichen Assistenten daselbst.
(Hierzu Tafel VIII-X und 1 Abbildung im Text.)
Die Frage nach dem Verlauf der Seh- und Pupillarfasern ist in
den letzten Jahren wieder von verschiedenen Seiten und was be-
sonders wichtig ist, mit verschiedenen Methoden — Marchi’sche
Methode, Golgi'sche Osmiumbichromatsilbermethode, Ehrlich’sche
Methylenblaumethode — bearbeitet worden.
Betreffs des Verlaufes der Sehfasern wurde in vielen, ja in den
meisten Puncten eine erfreuliche Uebereinstimmung erzielt und man
darf sagen, dass diese Frage, die unseren besten Anatomen und Experi-
mentatoren so unendlich viele Schwierigkeiten bereitet hat, jetzt wohl
bald ihrer definitiven Losung entgegengeht.
Anders liegt die Sache beztiglich der sogenannten Pupillarfasern.
Speciell beziiglich des Verlaufes derselben besteht eine geringe
Uebereinstimmung und zum Theil noch grosse Unklarheit.
Es ist weder der Ort des Beginnes des Pupillarreflexes in der
Netzhaut sichergestellt, noch die Frage gelost, ob es eigene Pupillen-
und Sehfasern giebt, noch die Kreuzungsfrage im Chiasma, noch
der Ort und die Art der Endigung in den primaren Opticus-
ganglien entschieden, noch vor allem iiber die Frage irgend welche
Klarheit gewonnen, welchen Verlauf die Pupillarfasern auf der
Strecke nach dem Reflexcentrum — Halsmark — nehmen.
Bei den im Nachfolgenden mitzutheilenden Untersuchungsergeb-
nissen wird weniger Gewicht gelegt werden auf den Verlauf der Seh¬
fasern, als vielmehr auf den Verlauf der Pupillarfasern, da die
erstere Frage, wie gesagt, bereits viel weiter gefordert ist und meine
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Experimented Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 429
Befunde in den meisten wichtigeren Punkten mit denen der Mehrheit
der Autoren in guter Uebereinstimmung stehen.
Der Beginn meiner eigenen Untersuchungen fiber das vor-
liegende Thema liegt bereits mehr als 3 Jahre zurfick. Einen Theil meiner
Ergebnisse habe ich bei der Ophthalmologenversammlung in Heidelberg
im Jahre 1898 kurz mitgetheilt. Ich zogerte mit der ausftihrlichen Ver-
offentlichung, weil sich im Laufe der Untersuchungen zeigte, dass eine
vergleichende Betrachtung mehrerer Thierarten von Bedeutung ffir die
aufgeworfenen Fragen zu sein schien, weil sich zeigte, dass der von
mir speciell benutzten Marchi'schen Methode doch die einen und
anderen Mangel anhafteten, weshalb zur richtigen Wflrdigung der
Befunde eine grossere Zahl etwas modificirter Versuche, eine mehrfach
zu modificirende Untersuchungstechnik und vor allem eine Reihe von
Controluntersuchungen normaler Gehirne unumganglich nothwendig
erschien.
Des weiteren bin ich neben den experimentellen Untersuchungen
in eine kritische Betrachtung des vorliegenden klinischen
Materiales und der pathologisch-anatomischen Befunde ein-
getreten und habe die hierbei gewonnenen Resultate bereits in einer
Arbeit fiber die Erkrankungen der Vierhfigelgegend und der Zirbel-
drfise (Zeitschrift f. Augenheilkunde, Bd. I, 1899, S. 315) niederlegen
konnen.
Wenn ich auch hoffe, dass durch die nachfolgenden Untersuchungs-
resultate und Studien die uns beschaftigende Frage etwas gefordert
wird, so weiss ich doch, dass noch Vieles weiterer Untersuchung
bedarf, und muss bekennen, dass es mir ein unumgangliches Postulat
scheint, die Frage vergleichend-anatomisch, experimentel], durch
exakte klinische Untersuchungen und vor allem durch mikroskopische
Serienschnittuntersuchungen pathologisch anatomischen menschlichen
Materials weiter zu verfolgen. Wichtig genug ist ja sicher die vor-
liegende Frage und ich hoffe, dass dieser Umstand wesentlich mit dazu
beitragen wird, das Interesse mehrerer Uollegen ffir die Sache wachzurufen.
Eigene experimentelle Untersuchungen.
Bei den im Folgenden mitzutheilenden experimentellen Unter¬
suchungen ging ich in der Regel so vor, dass ich die Hornhaut des
einen Auges und zwar des rechten abtrng und dann den Inhalt des
Bulbus mit einem scharfen Loffel oder Spatel entfernte. Nur vereinzelt
habe ich die Enucleation des Auges vorgenommen. Es schien mir um so
richtiger, die Evisceratio bulbi statt der Enucleatio bulbi vorzunehmen,
als wir sehen werden, dass in den Kerngebieten und den Wurzelbiindeln
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430
XXVI. Bach
der Augenmuskelnerven sich Schollen fanden, die bei Vomahme der Enu¬
cleation eventuell auf Lasion der Nervenbfindel zurtickgeffihrt werden
konnten. Um iibrigens nach dieser Richtung uberhaupt koine Zweifel auf-
kommen zn lassen, babe ick eine Reihe normaler Gehirne untersucht, eine
Untersuchung, die anch aus anderen spftter zu erorternden Griinden noth-
wendig war.
Untersuchungsmethode.
Als Untersuchungsmethode w&hlte ich in einzelnen Fallen die Weigert-
sche Methode, in der weitaus grossten Mehrzahl der Ffille jedoch die
Marchi’sche Methode und zwar wurde hauptsfichlich die von Teljatnik
angegebene Modification derselben (Wissenschaftl. Vers, der Aerzte der
St. Petersburger Klinik ffir Nerven- und Geisteskranke 26. Sept. 1896.
Ref. Neurol. CentralbL 1897, Nr. 11, S. 521) in Anwendung gezogen. Ich
kann diese Modification sehr empfehlen.
Die Marchi’sche Methode hat wie so manche andere Methode be-
kanntermassen einige Mangel und mochte ich in Kiirze bier einige Mit-
theilungen fiber meine Erfalirungen mit dieser Methode machen.
Von allergrosster Wichtigkeit beztiglich der Verwerthung der mit der
Marchi’schen Methode erhobenen Befunde ist es zu wissen, inwieweit auch
im normalen Gehirn schwarze Schollen an den markhaltigen Nerventasem
gefunden werden. Ich muss auf Grund meiner Befunde sagen, dass auch
beim normalen Gehirn, besonders bei der Katze, schwarze Schollen an
einzelnen Stellen in grosser Zahl, vorkommen. Es warden diese Schollen
gefunden an Gehirnen, die unter alien bekannten, fur die Marchi’sche
Methode nothwendigen Cautelen behandelt worden waren. Die meisten der
am normalen Gehirn vorkoramenden schwarzen Pfinktchen und Schollen
sind jedoch mit Leichtigkeit von den sogenannten Degenerationsschollen
zn unterscheiden und bieten sich hier auch fur den nur einigermassen Ein-
gefibten keinerlei Schwierigkeiten. Die meisten der im normalen Gehirn
vorkommenden Schollen sind kleiner, haben in der Regel eine rundliche
Form, ihre Farbe ist eine mehr grauschwarze oder es ist ein leichter Stich
vom Schwarzen ins Br&unliche vorhanden, dahingegen sind die sogenannten
Degenerationsschollen klumpige, meist grossere, von unregelmfissiger Form,
von mehr rein schwarzer Farbe und liegen vielfach in dichten Haufen
beisammen.
Nun giebt es aber auch im normalen Gehirn gewisse Stellen — ich
nenne von den uns hier speciell interessirenden Partien: die Radifirfasern.
die Haubenkreuzung, die Oculomotorius- und Trocheariswurzelbtindel, die
absteigende Wurzel des Nervus quintus, den Oculomotorius- und Trochlearis-
kern, den Pedunculus, die liintere Commissur, das hintere Lfingsbfindel,
wo Schollen vorkommen, die in ihrera Aussehen von den Degenerations¬
schollen sich in Nichts unterscheiden. Es kann an diesen Stellen nur
eventuell die grfissere Zahl von Schollen ffir pathologische Verhaltnisse
sprechen, allein auch in dieser Hinsicht ist eine grosse Vorsicht geboten,
da an vereinzelten Stellen z. B. den Oculomotorius- und Trocbleariswurzel-
bfindeln, sowie im Kerngebiet dieser Nerven sogen. Degenerationsschollen in
grosser Zahl unter normalen Verhfiltnissen vorkommen kfinnen, besonders
ist dies nach meiner Erfahrung bei der Katze der Fall. — Es scheinen sich
nicht alle Gehirne, auch wenn sie ganz frisch sind, gleich gut ffir die
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Experimentelle Untersuchungen und Studien aber den Verlauf etc. 43 1
Marchi'sche Method© zu eignen. Ich erhielt die besten Resultate bei der
Taube, dann kam das Kaninchen, dann der Affe, dann die Katze. Mit aller
Reserve mochte ich im Hinblick auf ein Resultat beim Affen bemerken,
dass ganz jnnge Thiere sich vielleicht weniger gat fur die Marchi’sche
Methode eignen.
Dauer des Versuches.
In der Regel w&hlte ich eine Versuchsdauer von 4 Wochen, in einigen
Fallen von 14 Tagen bis 3 Wochen, bei einigen Versnchen auch einen
l&ngeren Termin und zwar 6 Wochen. Diese l&ngere Versuchsdauer wurde
aus einem ganz bestimmten Grande gewfthlt. Es ist namlich die Ver-
muthung ausgesprochen worden, dass die Pupillarfasern vielleicht
weniger rasch degeneriren konnten als die Sehfasern. Es hat, wie ich
voraufnehmen will, das Untersuchungsresultat keine Stiitze fiir diese Hypo-
these ergeben. Der zweckm&ssigste Termin zur Beendigung des Versuchs
ist ein Zeitraum von 3—4 Wochen.
Ich habe bis jetzt die Evisceratio bulbi an folgenden Thieren ausfuhren
konnen: Taube, Kaninchen, Katze und Affe.
Taube. (Hierzu Fig. 1 auf Tafel IX, X.)
Ich besitze 1 liickenlose Serie durch ein normales Gehirn, 1 Serie vom
Chiasma bis hinter den Trochleariskern von einer Taube, bei welcher
17 Tage zuvor der rechte Bulhus eviscerirt war, weiter 1 Serie vom
Chiasma his zum Halsmark von einer Taube bei welcher 4 Wochen zuvor
der rechte Bulbus eviscerirt worden war. Behandlung nach der von Tel-
jatnik modificirten Mar chi’ schen Methode. S&mmtliche hier zur Be-
sprechung kommenden Serien von der Taube sowohl wie von den anderen
Thieren und dem Menschen sind Frontalschnittserien. Meistens wurde
in der Richtung der austretenden Oculomotoriuswurzelbiindel, d. h. schrag
von hinten (distal) oben nach vom (proximal) unten geschnitten; in
einigen Serien wurde im Hinblick auf die Angaben Bernheimer’s eine
noch mehr schr&g von hinten oben nach vorn unten gerichtete Schnitt-
ebene gewkhlt.
Normal© Taube.
In den Sehnerven, dem Chiasma und den Tractus findet man eine An-
zahl kleiner graubr&unlicher, selten reinschwarzer Punktchen hauptskchlich
von runder oder ovoider Form. Die meisten Schollen fand ich am Isthmus-
btindel des Opticus, also innen oben am Lobus opticus an der Umbiegungs-
stelle der Opticusfasem in dem kurzen horizontalen Schenkel. Daselbst
sehen wir auch etwas grobere, aber nahezu ausnahmslos graubrkunliche,
nicht reinschwarze Schollen.
In den Oculomotoriuswurzelbiindeln, in der austretenden Trochlearis-
wurzel, sehen wir eine grosse Zahl sogen. Degenerationsschollen, in ge-
ringerer Zahl vorhanden und etwas feiner sind sie im Oculomotorius - und
Trochleariskern.
An den iibrigen Partien des Lobus opticus finde ich nur ganz ver-
einzelte, feinste schw&rzliche Punktchen. Ueberhaupt sind bei den mir
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432
XXVI. Bach
vorliegenden Serien von der Taube, die nicht als Degenerationsschollen an-
zu8prechenden Schollen im Vergleich zu den in normalen Kernparthien der
anderen yon mir untersnchten Thiere vorkomraenden Schollen fiusserst
gering an Zahl.
Evisceratio bulbi bei der Taube.
Die Taube wurde 4 Wochen nach dem Eingriff getodtet.
Im gleichseitigen rechten Sehnerven linden sich massenhaft grobe
und auch feinere schvvarze Schollen iiber dem ganzen Querschnitt yertheilt.
Der Sehnerv der entgegengesetzten Seite enthalt nnr ganz vereinzelte
feine br&unlich - schwarze Pfinktchen, die nicht als Degenerationsschollen
angesehen werden konnen.
Im Chi asm a sehen wir eine strohmattenartige Durchflechtung der
Sehnerven; es wechseln daselbst Stellen, die massenhaft Schollen enthalten.
mit solchen die keine enthalten.
Ira gekreuzten (linken) Tractus finden wir ebenso wie im gleich¬
seitigen Sehnerven eine grosse Anzahl von Degerationsschollen uber den
ganzen Querschnitt vertheilt. Im Tractus der gleichen Seite sehen wir
gar keine Degenerationsschollen.
In der Opticusfaserung des gekreuzten Lobus opticus sehen wir
massenhaft Degenerationsschollen, in dem Lobus opticus der gleichen Seite
dagegen gar keine Degenerationsschollen.
Kurz nach der Durchflechtung der Sehnerven im Chiasma geht vom
Tractus ein Zug Opticusfasern ab, die in den Lobus eintreten und in dem-
selben dorsalwfirts ziehen. Eine directe Beziehung dieses Bfindels, welches
in gewisser Beziehung an den Tractus peduncularis transversus beim Kanin-
chen erinnert, mit dem Oculomotoriuskern besteht nicht. — Auf der dorsalen
Seite des Lobus biegt nach der Mittellinie am sogenannten Isthmus die
Opticusfaserung um und zieht eine kurzeStrecke in nahezu wagerechter Richtung
nach aussen, um dann zu enden. Auch von diesen dorsal verlaufenden Opticus¬
fasern aus giebt es keine directe Verbindung mit dem Oculomotoriuskern.
Oculomotorius- und Trochleariskern: In beiden Kernen sehen
wir sowohl auf der Seite des Eingriffs wie auf der entgegengesetzten Seite
eine ziemliche Anzahl grober schwarzer Schollen, auf der Seite des Ein-
griffes sind sie zahlreicher. Vereinzelte feinere Schollen liegen auch in
den dorso-lateralen (Wes tphaP sehen?) Gruppen, gar keine Schollen sehe
ich in den Ed in ger*sehen dorso-medialen kleinen Zellgruppen.
In den Wurzelbtindeln des Oculomotorius, im Stamme des Ocu¬
lomotorius, in der austretenden Trochleariswurzel findet sich eine grosse
Zahl sogenannter Degenerationsschollen vor. In den Oculomotorinswurzel-
bfindeln der gleichen Seite sind die Degenerationsschollen etwas zahl¬
reicher wie auf der entgegengesetzten Seite.
An den Querschnitten des hinteren L&ngsbfindels findet sich eine
Anzahl feiner Schollen.
In der Haubenkreuzung sind ebenfalls feinere schwarze Schollen in
grosser Zahl vorhanden.
Bei einer 2. Taube, bei welcher 17 Tage zuvor die Exenteratio bulbi
vorgenommen worden war, boten sich dieselben Verhfiltnisse, nur war
die Zahl der Degenerationschollen im Opticus etwas geringer.
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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 433
Von der ersten Taube mit der Exenteratio bulbi liegt mir auch ein
Theil der Schnitte vom Aufhoren der Lobi optici bis zum Halsmark vor.
Eine directe Verbindung des Opticus mit dem Halsmark konnte
ich nicbt feststellen.
Kaninchen. (Hierzu Fig. 2 und 3 auf Tafel IX, X.)
Ich besitze 6 nach der Marchi’schen oder nach der von Teljatnik
modificirten Marchi’schen Methode, 1 nach der Weigert’schen Methode
behandelte Frontalschnittserie vom Chiasma bis hinter den Trochlearis-
kem. 2 Marchi-Serien sind Controlserien durch das normale Gehirn, die
5 anderen Serien stammen von Kaninchen, an denen ich theils die Evis-
ceratio bulbi (3mal), theil die Enucleatio bulbi (2mal) vorgenommen hatte
und zwar 4—7 Wochen vor dem Todten des Thieres.
Von dem Gehirn eines Kaninchens, bei dem 5 Wochen vorher die
Enucleatio bulbi vorgenommen worden war, liegt mir eine liickenlose Serie
vom Chiasma bis nahe zum Halsmark vor. — Alle Eingriffe warden auf
der rechten Seite vorgenommen.
Die 4 Marchi-Serien der Kaninchen, bei denen 4—6 Wochen vorher
die Evisceratio oder Enucleatio bulbi vorgenommen worden war, bo ten in
Bezug auf die Befunde keine irgend wichtigen Unterschiede, wes-
halb die Besprechung zusammenfassend erfolgen kann.
Chiasma: Im Chiasma sehen wir theils Stellen mit massenhaften
Degenerationsschollen, theils Stellen, die ziemlich frei davon sind.
Tractus optici: In dem Tractus der entgegengesetzten Seite
sehen wir eine sehr grosse Zahl von Degenerationsschollen ziemlich
gleiclim&ssig fiber den ganzen Querschnitt vertheilt.
Im Tractus opticus der gleichen Seite linden wir ebenfalls Degene¬
rationsschollen, jedoch keinen Vergleich mit der Zahl der Degenerations¬
schollen auf der entgegengesetzen Seite. Die Degenerationsschollen des
Tractus der gleichen Seite linden wir ebenfalls in der ganzen
Lftnge des Tractus fiber den ganzen Querschnitt vertheilt.
Beraerkt sei hier, dass im Nervus und Tractus opticus sowie im
Chiasma des normalen Kaninchenhirnes so gut wie gar keine groberen
Schollen, sondern nur feinere und die meist in geringer Zahl vor-
kommen.
Thalamus: Im Stratum zonale des Thalamus der gekreuzten
Seite findet man eine grosse Zahl von Degenerationsschollen. Diese
Schollen lassen sich bis nahe zur Taenia heran verfolgen. Mit Beginn der
Commi8sura posterior treten die Degenerationsschollen bis fast zur Median-
linie heran.
Im Stratum zonale der gleichen Seite sah ich nur ganz vereinzelte
D egerationsschollen.
Ganglion habenulae: Im Ganglion habenulae fand ich beiderseits
keine Degenerationsschollen.
Corpus quadrigeminum: Mit Beginn der Vierhfigel sieht man die
Degenerationsschollen, die im Thalamus am dorsalen Rande gelegen waren,
von der Oberflfiche etwas abrticken. Wir sehen sie im Vierhfigel in der
sogenannten mittleren weissen Schicht hauptsfichlich, sie reichen bis zum
medialen Rande des Vierhtigels heran. Wir konnen die Degenerations-
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434
XXVI. Bach
8 chollen vom Beginn der Vierhiigel bis iiber den Trochleariskern hinans
verfolgen, sie liegen stets in derselben Zone des Vierhiigels.
Anf der gleichen Seite fand icb im Vierhiigel keine Degeneration.
In einer Serie sab ich einzelne etwas grfissere Schollen, ein Befund, dem ich
keine patbologische Bedentnng zumessen mochte.
Commi8sura posterior: In der Commissura posterior fand ich keine
Degenerationsschollen.
Corpus geniculatum ventrale et dorsale: Anf der gekrenzten
Seite finde icb eine grosse Zabl von Degenerationsschollen, anf der gleichen
Seite dagegen nor vereinzelte.
Tractus peduncularis transversns: Im Tractus peduncularis
transversus der gekeuzten Seite fin den sich Degenationsscbollen in grosser
Zahl. Auf der gleichen Seite sah ich keine.
Radiftrfasern: Vereinzelte feinere und grobere Schollen auf beiden
Seiten. Nur an wenigen Stellen sehen wir etwas mehr grobere Schollen
beisammenliegen. Ganz die gleichen Verhfiltnisse finde ich am
normalen Gehirn.
Eine directe Verbindung von Endigungen der Opticusfasern
(Pupillarfasern) mit dem Oculomotoriuskern, somit eine directe
Reflexubertragung vom Opticus auf den Oculomotoriuskern
besteht beim Kaninchen nicht.
Katze. (Hierzu Fig. 4 und 5 auf Tafel IX, X.)
Verfasser besitzt 9 Frontalschnittserien nach Mar chi oder March i-
Teljatnik bebandelt durch das Mittelhim der Katze. 2 davon sind von
normalen Gehirnen als Controlserien angefertigt. 3 Serien stammen von
verschieden grossen Katzen, bei denen 4 Wochen vorher die Evisceratio
bulbi vorgenommen war. Zwei weiteren Serien liegt eine 6 und 6 ^ wSchent-
liche Versuchsdauer zu Grunde, es war hierbei einmal die Evisceratio bulbi,
einmal die Enucleatio bulbi ausgefuhrt worden. Bel einer Serie war 14 Tage
zuvor, bei einer 3 Wochen zuvor die Evisceratio bulbi ausgefuhrt worden. —
Ausserdem besitze ich eine nach Weigert behandelte Serie durch das
Mittelhim einer Katze, bei welcher 6 Wochen vorher die Enucleation eines
Auges ausgefuhrt worden war.
Als beste Versuchsdauer empfiehlt sich nach den mir vorliegenden
Serien far die Katze eine Zeit von 14 Tagen bis 4 Wochen. 6 Wochen
nachher war die Zahl der Degenerationsschollen bereits eine geringere.
Resultate meiner Untersuchungen nach der Evisceratio oder
Enucleatio bulbi bei der Katze.
Nach der Evisceratio oder Enucleatio bulbi findet man eine Unmasse
grober schwarzer Schollen im gleichseitigen Sehnerven fiber den ganzen
Querschnitt vertheilt. Im Sehnerven der entgegengesetzten Seite sehen
wir nur einzelne, meistens feinere Schollen, wie wir sie auch im normalen
Sehnerven der Controlserien vorfinden.
Im Chiasma finden wir desgleichen eine sehr grosse Zahl grober
Degenerationsschollen.
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Experimen telle TJntersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 435 •
Gar kein Zweifel kann bestehen, dass auch in beiden Tractus eine
grosse Zabl von Degenerationsschollen vorhanden ist. Auf der ge-
kreuzten Seite ist die Zabl der Degenerationsschollen eine grfissere.
Am dichtgedrfingtesten fand ich die Schollen im vorderen und be-
sonders im temporalen Abschnitt des Tractus. Diese letztgenannten
Verhfiltnisse traten deutlicher an Serien von 6 Wochen, bei denen die Zabl
der Schollen im Allgemeinen eine etwas geringere war, als in Serien von
4 Wochen, hervor.
Thalamus: Im Stratum zonale des Thalamus findet sich beider-
seits ein schmales oberflfichlich liegendes Band von Degenerationsschollen.
Die Zahl der Schollen ist auf der dem Eingriff entgegengesetzten Seite
stftrker als auf der gleichen Seite. Im distalen Bereich des Thalamus
der gleichen Seite verschwinden die Degenerationsschollen fast ganz.
Corpus geniculatum externum: Ein Theil der Fasern des Tractus
tritt direct in das Corpus geniculatum externum ein, ein Theil umgreift
zunfichst dasselbe. Die Mehrzahl der im Corpus geniculatum dorsalw&rts
ziehenden Fasern liegt auf der medialen Seite. In einigen Serien finde
ich das Corpus geniculatum externum ziemlich gleichmfissig von Schollen
durchsetzt, in anderen Serien linden sich die Schollen vornehmlich ventral
und medial. Die Verftnderungen linden sich im Corpus geniculatum exter¬
num beiderseits, zahlreicher jedoch auf der dem Eingriff entgegen¬
gesetzten Seite. — Vom medialen unteren Bande des Corpus geniculatum
externum zieht ein schmales Band von Degenerationsschollen eine kurze
Strecke ventralwarts gegen den Pedunculus zu.
Corpus geniculatum internum: Im Inneren des Corpus geniculatum
internum fand ich keine Degenerationsschollen. Bestehen Beziehungen des
Opticus zu dem Corpus geniculatum internum, so kann es sich hier
nur um Fasern handeln, welche am lateralen Bande desselben ihr Ende
linden.
Corpus quadrigeminum: Im vorderen Vierhfigel linden wir beider¬
seits Degenerationsschollen. Dieselben strahlen pinselartig vom vorderen
Vierhfigelarm nach dem Stratum zonale des Vierhfigels aus. Ihr Ende
linden die Degenerationsschollen am medialen Bande des Vierhfigels etwas
oberhalb der Commissura posterior. Sie linden sich stets in derselben
Zone, also auch in derselben Hfihe im Vierhtigeldach. Die Zahl der
Schollen im entgegengesetzten Vierhfigel ist zahlreicher als auf der
gleichen Seite. Beim Durchsehen der Serie verschwinden die Degene¬
rationsschollen auf der gleichen Seite nach dem distalen Bereich zu eher
wie auf der dem Eingriff entgegengesetzten Seite. Im entgegengesetzten
Vierhfigeldach kfinnen wir die distal immer spftrlicher werdenden Schollen
bis an das distale Ende des Ocfilomotoriuskemes verfolgen, auf der
gleichen Seite hfiren sie schon etwas frtiher auf.
Die Zahl der Degenerationsschollen im Vierhfigel der Katze
ist geringer als die beim Kaninchen.
Bogen- und Badifirfasern der Haubenregion: In den Bogen-
und Badifirfasern (Fasern des tiefen Markes, Formatio reticularis) linden
wir, wie bereits erwfthnt wurde, eine Anzahl von sogen. Degenerations¬
schollen. Wir sehen in diesen Fasern solche Schollen bereits vor Beginn
des Ocnlomotoriuskernes bis distal fiber den Oculomotoriuskern hinaus.
Obwohl die Zahl der Degenerationsschollen im Stratum zonale des Vier-
Deutsche Zeitachr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 29
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XXVI. Bach
hiigels (Endigungsstelle der Opticusfasern) auf der Seite des Eingriffes eine
geringere ist wie auf der entgegengesetzten Seite, bemerken wir in der
Zahl der in dem eben genannten Fasersystem enthaltenen Schollen
keinen Unterschied zwischen rechter und linker Seite. Daraus
sowohl, sowie im Hinblick darauf, dass die Zahl der in den Radi&r- and
Bogenfasern vorhandenen Schollen eigentlich eine grossere ist wie in dem
vorderen Vierhiigelarm, im Hinblick ferner darauf, dass wir diese Schollen
in den Radi&rfasern und Bogenfasern in gleicher Weise auch im normalen
Gehirn — wo die Schollen im Stratum zonale des Vierhugels so gut wie
ganz fehlen — vorfinden, glaube ich schliessen zu diirfen, dass keinerlei
Beziehungen zwischen den in den Radi&rfasern und Bogen¬
fasern wahrnehmbaren Schollen und dem Eingriff (Evisceratio
bulbi) bestehen. Es ist mir auch niemals gelungen, einen un-
mittelbaren Zusammenhang der Schollen des genannten Fasern-
systemes mit den Degenerationsschollen resp. mit der Degene-
rationszone in der Schicht der Opticusausbreitung im vorderen
Vierhugeldach nachzuweisen, obwohl liickenlose Serien vor-
liegen, die proximal und distal weit uber die in Betracht kom-
menden Partien hinausreichen. Speciell betonen mfichte ich nock, dass wir
das mediale Ende der Opticusfasern immer im selben Niveau des Vierhfigeldaches
linden, dass nirgends ein Zusammenhang, ein Ineinanderfibergehen
der daselbst vorhandenen Schollen und der Schollen an der
seitlichen Begrenzung des centralen Hfihlengraues nachweis-
bar war.
Oculomotorius- und Trochleariskern, Wurzelfasern dieser
Nerven: Wir sehen in dem ganzen Bereich des Oculomotorius-
und Trochleariskernes beiderseits, ferner in den Wurzelbfindeln
dieser Nerven eine grosse Anzahl zum Theil recht grober Schollen.
Affe. (Hierzu Fig. 6 auf Tafel IX, X.)
Herr College Cofler in Triest hatte die grosse Liebenswfirdigkeit,
ffir mich an 2 Affen die Exenteratio bulbi vorzunehmen, woffir ich ihm
auch an dieser Stelle meinen herzlichen Dank ausspreche. Die Versuchs-
dauer betrug 4 Wochen. — Behandlung des Gehirns nach der von
Teljatnik modificirten Marchi’schen Methode. — Die mir vorliegenden
Frontalschnittserien reichen vom Chiasma bis eine Strecke hinter den
Trochleariskern. Die Schnittrichtung ist bei dem einen Affen eine stark,
bei dem anderen eine weniger stark frontale von hinten oben nach vorn
unten. — Bei dem einen Affen, einem jungen Thiere, gab mir obige
Methode ein nur wenig befriedigendes Resultat, hingegen ist die liickenlose
Serie von dem anderen Affen vollauf befriedigend. Ich hoffe, im Sommer
dieses Jahres gelegentlich anderer Versuche beim Affen noch 1 oder 2 mal
obige Operation ausffihren zu konnen, urn dem Ein wand einer zu geringen
Versuchszahl zu begegnen. Der Grund, weshalb ich meine Befunde beim
Affen schon jetzt mit verwerthe, liegt darin, dass dieselben in vielen
Punkten mit denen Bernheimer’s beim Affen, in nahezu alien Punkten
mit denen Dimmer’s beim Menschen fibereinstimmen.
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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 437
Befund nacb der Evisceratio bulbi.
Der Sebnerv der Seite des Eingriffes ist vollgepfropft mit
Degenerationsschollen. Im Sehnerv der entgegengesetzten Seite sehen
wir nur vereinzelte feinere Schollen.
Im Chiasma sehen wir eine grosse Zahl von Degenerationsschollen.
Das Gleiche gilt fiir beide Tractus. Die Zahl der Degenerations¬
schollen auf der gekrenzten Seite ist eine grossere. Ich finde be-
sonders im Beginn der Tractus mehr Schollen auf der temporalen Seite
des Tractus, docli finden sick dieselben auch fiber den ganzen Tractus-
querschnitt zerstreut und zwar ist dies um so mehr der Fall, je n&her wir an
das Corpus geniculatum externum herankommen. Zwischen den Degenerations¬
schollen sieht man auch die normalen, graugelblichen Fasern in grosser Zahl.
Im Corpus geniculatum externum finde ich beiderseits in der ganzen
Ausdehnung desselben Degenerationsschollen in grosser Zahl. Am zahl-
reichsten sind sie in den medialen und mittleren Partien zu sehen.
Am Corpus geniculatum internum finde ich nur an der Grenze
zum Corpus geniculatum externum Degenerationsschollen.
Von der medialen Partie des oberen Randes des Corpus geniculatum
externum zieht ein schmales Band degenerirter und normaler Fasern zum
vorderen Vierhugelarm, um dort angekommen f&cherformig aus-
zustrahlen. Die Zahl der Degenerationsschollen ist daselbst beiderseits
eine sp&rliche, dieselben sind nur eine kurze Strecke in das oberfl&chliche
Mark des vorderen Vierhfigels zu verfolgen. Einen nennenswerthen Unter-
schied in der Zahl der Degenerationsschollen auf der rechten und linken
Seite fand ich nicht. Eine directe Verbindung dieses Bundels
von Degenerationsschollen mit dem Oculomotoriuskern konnte
ich nicht feststellen, obwohl ich natfirlich wegen der Angaben
Bernheimer’s darauf speciell geachtet babe.
Beziiglich der in den Radifir- und Bogenfasern, in den Oculo-
motorius- und Trochleariswurzelfasern, in der Radix descendens
nervi quinti, in dem Oculomotorius- und Trochleariskem u. s. w.
vorhandenen Schollen finde ich ann&hemd dieselben Verh<nisse wie
beim Kaninchen, d. h. weniger zahlreiche Schollen wie bei der Katze.
Im Stratum zonale des Pulvinar in der Nfihe des vorderen Vier-
hiigelarmes findet sich ebenfalls beiderseits eine Anzahl Degenerations¬
schollen.
Beziehungen zum Corpus Luys und zum Ganglion habenulae konnte
ich nicht feststellen.
Mensch.
Durch die Liebenswurdigkeit des Herm Professor C. Rieger war es
mir auch moglich, die Sehnerven, das Chiasma, die Tractus optici und einen
Theil des Gehirnstammes eines alten Mannes zu untersuchen, der viele Jahre
eine linksseitige Phthisis bulbi und einige Jahre ein Leucoma
adhaerens mit Secundfirglaukom auf dem rechten Auge hatte.
Sehnerv, Chiasma, Tractus optici und primftre Opticusganglien wurden
nach Weigert behandelt, und mfichte ich des Befundes, soweit es hier
interessirt, Erw&knung thun.
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XXVI. Bach
In dem Sehnerven des atrophischen Anges sehe ich nur 2 feine
schwarze F&serchen, die etwas weiter nach dem Bulbus zu zu verfolgen
sind als die v. Mich el*sehen Chiasmaschlingen.
In dem Sehnerv des Bulbas mit dem Leacoma adhaerens and
Secund&rglaukom sehe ich eine partielle Atrophie ohne bestimmte
Localisation; der grossere Theil der Fasern ist normal
Obwohl in dem dem phthisischen Auge zugehorigen Seh¬
nerven nur in der Nfihe des Chiasma noch 2 schwfirzlich ge-
ffirbte Fasern zu sehen waren, weiter nach dem Auge zu aber
keine einzige normale Opticusfaser mehr zu sehen war, fanden
sich in beiden Tractus normale Fasern. Die grossere Zahl der
normalen Fasern fand ich in dem linken Tractus, also auf der entgegen-
gesetzten Seite des Sehnerven mit der partiellen Atrophie. Die
normalen Fasern lagen mit den in der Mehrzahl vorhandenen
atrophischen Fasern untermischt und waren fiber den ganzen
Querschnitt vertheilt. Lateral und vorn sah ich etwas mehr normale Fasern.
Im Stratum zonale des Pulvinar, besonders rechterseits, war
deutliche Atrophie sichtbar.
Eben angedeutet fand sich ein Faserschwund im vorderen Vier-
hfigelarm beiderseits.
Der Befund scheint mir vor Allem deshalb eine grosse Bedeutung zu
haben, weil hier in dem Sehnerven des lange Jahre phthisischen Bulbus so
gut wie keine normale Faser sich mehr fand, dahingegen in beiden
Tractus normale Fasern vorhanden waren.
Wegen des absoluten Mangels normaler Fasern in dem dem Auge
nfiher gelegenen Abschnitte des linken Sehnerven darf wohl angenommen
werden, dass auch die sogenannten centrifugalen Opticusfasem, die ihre
Zellen vornehmlich Oder ausschliesslich im Dach des vorderen Vierhtigels
haben, geschwunden waren, obwohl kein pathologischer Process im Vier-
hfigel sich fand, der diese Thatsache erklfiren konnte.
Zusammenfassung der nach vollstandiger einseitiger
Zerstorung der Netzhaut erhaltenen Befunde.
Was zunachst die Kreuzungsfrage der Sehnervenfasern im
Chiasma anlangt, so fand ich bei der Tanbe eine vollstandige,
bei dem Kaninchen, der Katze, dem Affen und Menschen eine
partielle Kreuzung.
Beim Kaninchen bleibt nach dem Ergebniss der Marchi’schen
Methode nur eine kleine Zahl von Fasern ungekreuzi Ich
finde im Tractus die ungekreuzten Fasern fiber den ganzen Quer¬
schnitt vertheilt. Von einem geschlossenen temporalen unge¬
kreuzten Bttndel kann keine Rede sein.
Bei der Katze bleibt ein grosser Theil der Fasern —
ca. ein Drittel — ungekreuzi Die ungekreuzten Fasern finde ich vor¬
nehmlich an der vorderen und temporalen Seite des Tractus, doch
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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 439
fiberzeugt man sich leicht mittels der Marchi'schen Methode, dass
fiber den ganzen Querschnitt des Tractus sich ungekreuzte
Fasern finden. Je weiter wir bei der Betrachtung von dem Chiasma
uns entfernen und dem Corpus geniculatum externum uns nahern,
um so schoner tritt eine gleichmassige Vertheilung fiber den ganzen
Tractusquerschnitt hervor. Es dfirfte wohl die Annahme der Wirk-
lichkeit entsprechen, dass auch im Sehnerven kein geschlossenes
Bfindel temporal liegender ungekreuzter Fasern existirt. Es
werden in alien Partien der Sehnerven ungekreuzte Fasern sich finden,
wenn ja auch zugegeben werden mag, dass die ungekreuzten Fasern
vornehmlich im temporalen Abschnitt der Sehnerven gelegen sind.
Beim Affen bleibt ebenfalls ein grosser Theil der Sehnerven-
fasern — ca. V 3 — ungekreuzt. Bezfiglich der Lagerung der unge¬
kreuzten Fasern finde ich die Verhaltnisse beim Affen ziemlich analog
denen bei der Katze. Speciell betont sei, dass, wenn auch zu Beginn
des Tractus die Mehrzahl der ungekreuzten Fasern temporal sich
findet, doch in alien Abschnitten des Tractus ungekreuzte
Fasern vorhanden sind.
Auch ftir den Menschen darf ich aus meinen Weigertpraparaten
wohl denselben Schluss ziehen, denn trotzdem der eine Sehnerv so
gut wie gar keine normalen Fasern mehr zeigte, waren in beiden Tractus
normale Fasern in grosserer Zahl zu sehen. Es scheint ausgeschlossen,
dass im vorliegenden Falle die normalen ungekreuzten Fasern als centri¬
fugate Fasern aufzufassen sind.
PrimSre Optlcusganglien: Bei der Taube finden wir die
Ausbreitung der Opticusfasern am Lobus opticus rings herum, strecken-
weise dringen sie ventral und dorsomedial etwas in denselben ein. Zur
naheren Orientirung wolle man die Abbildungen in Kolliker's Hand-
buch der Gewebelehre S. 414, in Edinger’s Vorlesungen S. 146 und
147 sowie meine Abbildung Fig. 1 auf Taf. IX, X nachsehen.
Beim Kaninchen finden wir Endigungen von Opticusfasern im
dorsalen und ventralen Kniehocker, im Pulvinar thalami, im
vorderen Vierhfigel und im proximalen Abschnitt des hinteren
Vierhfigels. Bemerkenswerth halte ich die Thatsache, dass die un¬
gekreuzten Opticusfasern beim Kaninchen sich bis in den Knie¬
hocker und ganz vereinzelt bis in das Pulvinar thalami,
nicht aber bis zum Vierhfigel verfolgen lassen. Es ist dieser
Befund wegen des Mangels der consensuellen Pupillarreaction be¬
merkenswerth.
Bei der Katze finden wir beiderseits Endigungen von
Opticusfasern im Corpus geniculatum laterale, im Stratum
zonale des Pulvinar und im proximalen Vierhfigel. Die Zahl
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440
XXVI. Bach
der Opticu9fasern im Thalamus und Vierhligel ist geringer als beiin
Kaninchen.
Beim Affen finden sich Endigungen von Opticusfasern haupt-
sachlich im Corpus geniculatum laterale, in massiger Zahl im
Stratum zonale des Pulvinar und im vorderen Vierhtigel. Die
Zahl der Opticusfasern im Vierhligel des Affen ist wiederum geringer
wie bei der Katze, des Weiteren finden sich dieselben fast nur im late-
ralen Bezirk, speciell im vorderen Vierhugelarm.
Beim Menschen finde ich die beztiglichen Verhaltnisse analog
denen beim Affen.
Ganglion habenulae: Endigungen von Opticusfasern im Ganglion
habenulae konnte ich nicht nachweisen.
Corpus Luys (Corpus hypothalamicum):
Directe Beziehungen, d. h. Endigungen von Opticusfasern im
Corpus Luys fand ich nicht Ich halte den v. Monakow'schen
und nicht den Bernheimer'schen Standpunkt fftr den richtigen.
Tractus peduncularis transversus: Beim Kaninchen fand
ich nach einseitiger Evisceratio bulbi im gekreuzten Tractus peduncularis
transversus sehr zahlreiche Degenerationsschollen. Einen analogen
Faserzug konnte ich bei der Katze, dem Affen und dem
Menschen nicht feststellen.
Directe Verbindung des Opticus mit dem Oculomotoriuskern.
In Folge der bestimmten Angaben Bernheimer's habe ich
speciell darauf geachtet, ob eine directe Verbindung des Opticus mit
dem Oculomotoriuskern besteht. Es wurde die Versuchsdauer und
die Schnittrichtung verschiedentlich modificirt, um hierliber moglichste
Klarheit zu bekommen. Ich glaube nun in Uebereinstimmung mit
v. Monakow 22 ) Dimmer 8 ) und Anderen mit Bestimmtheit angeben zu
konnen, dass keine directe, sondern eine indirecte Verbindung
des Opticus mit dem Oculomotoriuskern besteht. Ich glaube
mich iiberzeugt zu haben, dass Bernheimer’s 5 ) Angaben auf Be-
obachtungsfehler zurtickzuftihren sind. Bevor ich in* eine genauere
Motivirung meines Standpunktes eintrete, mochte ich bemerken, dass
es mir bei der Durchsicht der Literatur nicht gelungen ist, eine Stfitze
ftir Bernheimer's Angaben zu finden, denn soviel ich sehe, ist an
keiner Stelle ein wirklicher Zusammenhang centripetaler
Bahnen mit centrifugalen, speciell mit motorischen Ganglien-
zellen erwiesen.
Auf Grund der Resultate meiner experimentellen Forschungen bin
ich aus folgenden GrOnden gegen Bernheimer’s Annahme der directen
Verbindung von Opticus und Oculomotoriuskern:
Bei der Taube besteht, wie aus der Zeichnung schon hervorgehen
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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 44 1
dfirfte — ich bemerke, dass meine sammtlichen Zeichnungen natur-
getreu, nicht schematisch sind — auch nicht im entfemtesten die
Moglichkeit, eine solche directe Yerbindung anzunehmen. Ende des
Opticus- und Oculomotoriuskern sind in alien Schnitten der Serie
durch eine ziemlich breite, ganz komchenfreie Zone von einander
getrennt. Auf dem Wege der directen, nachsten Verbindung geht
Qberhaupt gar kein Faserzug vom Opticusende zum Oculomotorius¬
kern hin.
Beim Kaninchen finde ich beiderseits in den Radiar- und
Bogenfasern, tiberhaupt in den Fasern, die das centrale Hohlengrau
begrenzen, die gleichen Schollenverhaltnisse, obwohl bei einseitiger
Evisceratio bulbi die Degenerationschollen des Opticus nur im ge-
kreuzten Vierhtigel sich nachweisen lassen. Auch beim normalen
Kaninchen finde ich in den in Frage stehenden Faserztigen dieselben
Schollen in gleicher Zahl. Es ist stets ein kornchenfreier Zwischen-
raum zwischen den Degenerationsschollen in den aussersten Opticus-
endigungen und den Schollen des tiefen Graues der Haubenregion etc.
vorhanden.
Bei derKatze finde ich in den Radiar- und Bogenfasern, in den
das centrale Hohlengrau begrenzenden Faserzligen etc. auch im no rmalen
Gehirn eine grossere Zahl Schollen. Dieselbe ist grosser als die Zahl
der daselbst beim Kaninchen vorhandenen Schollen. Nach einseitiger
Evisceratio bulbi ist die Zahl der Schollen im gekreuzten Vier-
htigeldach grosser wie im gleichseitigen, die Zahl der Schollen
in den genannten Faserztigen jedoch eine gleiche auf beiden
Seiten. Ein directer Zusammenhang der Degenerationsschollen in
den Opticusfasern mit den Schollen in den Bogen- und Radiarfasern
ist nicht nachweisbar.
Bei dem Affen konnte ich die Degenerationsschollen nur in der
lateralen Halfte des Vierhtigeldaches nachweisen. Ein nennenswerther
Unterschied in der Zahl der beiderseits vorhandenen Schollen bestand
nicht. In den das centrale Hohlengrau begrenzenden Faserztigen, in
den Radiar- und Bogenfasern finde ich eine massige Zahl kleiner
Schollen, nur einzelne grobere Schollen. Ich finde die Degenerations¬
schollen des Vierhtigeldaches stets in derselben Zone desselben und
konnte nirgends einen Zusammenhang dieser Schollen mit den Schollen
in den genannten Faserztigen der Haubenregion nachweisen. Ein
directer Zusammenhang der Opticusfasern mit den Zellen des Oculo-
rnotoriuskemes, ein Endigen von Opticusfasern im Oculomotoriuskern
konnte somit auch beim Affen nicht nachgewiesen werden.
Meine Untersuchungen haben mir keine Anhaltspunkte
ftir die Annahme gebracht, dass die sogenannten Pupillar-
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442
XXVI. Bach
fasern spater degeneriren, wie die Sehfasern. JEs besteht da-
her kein Grund zu der ADnahme, dass in dem von Dimmer 8 ) unter-
suchten menschlichen Gehim die directe Verbindung der Pupillarfasern
mit dem Oculomotoriuskern deshalb nicht festgestellt werden konnte,
weil der Termin fttr die Degeneration der Pupillarfasern ein zu kurzer
war. Dimmer hat ebenso wie v. Monakow 22 ) und ich den Zu-
sammenhaug des Opticus mit dem Oculomotoriuskern nicht nachweisen
konnen, weil er factisch nicht existirt. Bernheimer’s gegentheilige
Angabe beruht auf Untersuchungsfehleru.
Ramon y Cajal 7 ) nimmt bei der Darstelluug seiner Ergebnisse
fiber die Opticusendigungeu, die er mit der Marchi’schen Methode
erhielt, nicht eigens Bezug auf die Frage einer directen Verbindung
des Opticus mit dem Oculomotoriuskern. Es dlirfte die Annahme be-
rechtigt sein, dass auch Ramon y Cajal nichts davon hat constatiren
konnen, denn sonst hatte er der Sache Erwahnung thun mfissen, da
seine Untersuchungen speciell mit der Golgi*schen Methode ergeben
haben, dass die centripetalen Opticusfasern im Stratum zonale des Vier-
htigels endigen und dort ihre Erregung auf andere Zellen fiber-
tragen.
In gleichem Sinne aussert sich v. Kolliker ,5 ). Wer sich genauer
fiber die Art und Weise und den Ort der Endigung der centripetalen
Opticusfasern, den Beginn der centrifugalen Opticusfasern orientiren
will, den verweise ich speciell auf v. Kolliker's Handbuch der Ge-
webelehre und auf Ramon y Cajal’s Arbeit: „Beitrag zum Studium
der Medulla oblongata etc.“ ins Deutsche flbersetzt von J. Bresler,
Verlag von J. A. Barth, Leipzig 1896.
Ich halte mich fiir berechtigt, auf Grund der im Vorstehenden mitge-
theilten eigenen Untersuchungsergebnisse, auf Grund der Mittheilungen
von v. Monakow, Dimmer, v. Kolliker, Ramon y Cajalund Anderen
die Behauptung aufzustellen, dass ebenso wie an anderen Stellen
des Nervensystems ein directer Zusammenhang centripetal
leitender Nerven mit einem motorischen Nerven nicht nach-
gewiesen ist, auch der Nachweis einer directen Verbindung
des Opticus mit dem Oculomotoriuskern nicht erbracht ist,
dass dagegen ziemlich sicher bewiesen sein diirfte, dass nur
eine in directe Verbindung des Opticus mit dem Oculomotorius¬
kern besteht.
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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 443
Studien fiber die yon den prim&ren Opticusganglien zum
Rfickenmark absteigende und yon da zum Oculomotoriuskern
(Ganglion cillare?) aufisteigende Pupillarreflexbahn.
I:
Yon den primaren Opticusganglien, speciell vom Vierhtigel
zum Rfickenmark absteigende Reflexbahn — Reflexcentrum.
Man ist vielfach der Meinung gewesen, auch in neuester Zeit haben
sich Stimmen hervorragender Anatomen daffir ausgesprochen, dass die
in derHaubenregion sichtbaren Bogen- und Radiarfasem ffir dieUeber-
tragung der Opticuserregung in Betracht kamen. Die Zellen dieser Fasem
liegen zum Theil dicht neben den Enden der Opticusfasem und es
ware somit ganz gut moglich, dass die Opticuserregung auf die Zellen
der Bogen- und Radiarfasem uberginge. Ich muss auf Grand meiner
Untersuchungen zugeben, dass vielleicht ein Theil der Bogen- und
Radiarfasem in den Oculomotoriuskern eintritt und daselbst endet,
der weitaus grosste Theil dieser Fasem tritt jedoch nicht in den
Oculomotoriuskern ein, und wir mfissten deshalb annehmen, dass die
Bogen- und Radiarfasem jedenfalls noch anderweitige Functionen zu
erfullen haben, als den Pupillarreflex auszulosen. Kommen diese
Fasem als Hauptbahn zur Auslosung des Pupillarreflexes in Betracht,
dann losen sie den Reflex nicht auf dem kflrzesten Weg aus, sondem
sie ziehen erst nach der Haubenkreuzung im Hirnstamm gegen die
Medulla hin und fibertragen erst im obersten Theil des Ruckenmarks
ihre Erregung indirect auf motorische Elemente.
In meiner Arbeit: „Zur Lehre von den Augenmuskellahmungen
und den Storungen der Pupillenbewegung etc.“ habe ich auf Grand
der Mittheilungen von v. Forster und Rieger 25 ), von Meynert, und
Stilling 16 ), von Exner 16 ), von Rosenthal nndMendelssohn 26 ) und
von G. W olf 29 ), auf Grand von Decapitationsversuchen, die ich angestellt
hatte, die Ansicht ausgesprochen, dass die Vierhfigelgegend nicht das
Reflexcentrum flir die Pupillenverengerung sein konne. In dieser
Annahmewurde ich bestarkt durch Untersuchungen von Gaupp 10 ), die mir
damals leider nicht bekannt waren, durch hohe Ruckenmarksdurch-
schneidungen, die ich an Kaninchen und Katzen vomahm und die ich
nachher noch leben liess, besonders auch durch das Studium der Literatur
der Vierhtigel- und Zirbeldrusenerkrankungen (siehe Nr. 3 des Literatur-
verzeichnisses).
In gewissem Sinne durften die vorstehend mitgetheilten Unter-
suchungsergebnisse auch gegen die Annahme sprechen, dass das
Vierhiigeldach das Reflexcentrum ffir die Pupillenverenge¬
rung ist und zwar aus folgenden Grtinden:
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444
XXVI. Bach
Bei dem Kaninchen, bei dem die Pupillenverengerung auf Licht-
reiz eine wenig ausgiebige ist, sehen wir nach der Evisceratio
bulbi die starksten Veranderungen im Vierhflgeldach auftreten, bei
der Katze, die eine lebhafte und ausgiebige Pupillarreaction be-
sitzt, sind die Vierhtigelveranderungen trotz der doppelseitig auf-
tretenden Schollen viel geringer, noch geringer sind die Veranderungen
beim Affen und Menschen.
Es steht somit die Zahl der zum VIerhflgel hlnzleheiiden
Opticusfasern, die ja doch zur Zeit ausschliesslich als die soge-
nannten Pupillarfasern aufgefasst werden, im umgekehrten Ver-
h<niss zur Lebhaftigkeit der Pupillenreaction.
Die beim Kaninchen und bei der Katze zum Vierhttgel hin-
ziehenden Opticusfasern durften somit wahrscheinlich auch fftr die
Sehfunotion in Betracht kommen. Um so auffalliger ist dann aller-
dings der Umstand, dass beim Kaninchen die wenigen ungekreuzten
Fasern nur bis zum Kniehocker und Thalamus sich verfolgen lassen,
nicht aber bis zum Vierhugel.
Es dlirfte im Hinblick auf diese Thatsache vielleicbt nicht unan-
gezeigt erscheinen, den zum Thalamus ziehenden Opticusfasern in
Bezug auf ihre Function fhrderhin besondere Aufmerksamkeit zu
schenken.
Nachdem ich die gelaufige Annahme, dass das VierhUgeldach als
das Reflexcentrum anzusehen sei, als unbegrtindet bezeichnet, dagegeu
behauptet hatte, dass das Reflexcentrum in den untersten Be-
reich der Medulla oder die oberste Partie des Halsmarkes zu
verlegen sei, war ich in gewissem Sinne nun auch verpflichtet, darnach zu
forschen, welche Faserbahn desHirnstamms alsabsteigender Schenkel
yon den primaren Opticusganglien aus zum Halsmark, welche Bahn
als aufsteigender Schenkel zum Oculomotoriuskern oder Ganglion
ciliare in Betracht zu ziehen sei.
Dass als aufsteigender Schenkel wohl das hintere Langs*
btindel in Betracht kommen konnte, habe ich friiher schon als wahr¬
scheinlich bezeichnet, iiber den absteigenden Schenkel jedoch war
ich zunachst vollkommen ‘im Unklaren und Anfragen bei einigen
mir bekannten Anatomen haben dieses Dunkel nicht zu lichtcn
vermocht.
Durch das Studium der Werke von v. Kolliker 15 ), Edinger 9 ),
v. Bechterew 4 ), v. Monakow 22 ) und einiger neuer Arbeiten bin ich
zunachst zu der Ansicht gekommen, dass am wahrscheinlichsten die
Schleife als absteigender Schenkel der Pupillarreflexbahn in Be¬
tracht kommen diirfte.
Es scheint mir angezeigt, einige Ansichten liber Ursprung und
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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 445
Ende der Schleife, ihre Lagerung im Hirnstamm, speciell
auch fiber ihre Verbindungen mit den primaren Opticus-
ganglien einerseits und dem Rttckenmark andererseits hier
anzufiihren. Ich halte mich hierbei zunachst an das Werk
y. Bechterew’s: „Die Leitungsbahnen im Gehirn und Rfickenmark w .
Die Schleife, welche nach den vergleichend anatomischen Unter¬
suchungen Edinger’s nnd den experimentellen Ergebnissen v. Monakow’s
die secundaren sensorischen Bahnen enthfilt, bildet einen Haupt-
bestandtheil der Haube. Unter Haubenregion versteht man dasjenige
Hirngebiet im Mittelhirn, welches nach oben vom Thalamus opticus, vom
Meynert’schen Biindel und beiden Corpora geniculata, dorsal und medial
von der Vierhiigelplatte und dem centralen Hfihlengrau des Aquaeductus
Sylvii, ventral von der Substantia nigra und weiter caudalwarts von der
Querfaserung des Pons begrenzt wird. Die Haubenregion geht ohne Grenzen
in die Oblongata fiber (Forel).
In der Haube ist die Fortsetzung sfimmtlicher Faserztige
zu suchen, welche im Rfickenmark je ubereinanderliegende Quer-
schnitte grauer Substanz mit einander verkntipfen. Die Fasern
der Hinterstrfinge treten am unteren Winkel der Rautengrube mit den
Kernen des zarten Stranges und des Keilstranges in Verbindung. Aus
den Neuriten der Zellen dieser Kerne entwickeln sich Fasern, welche
grossentheils zur Bildung der hinteren oder oberen Kreuzung (Schleifen-
kreuzung) zusammentreten. Letztere stellt also die cerebrale Fort¬
setzung der Hinterstrfinge vor und besteht sowohl aus Fasern der
Burdach'schen als auch der Goll’schen Kerne.
Es sei hier an die Befunde von Gaupp und G. Wolff erinnert.
Gaupp wies auf Grund eines Materials von 38 Paralytiker-Rtickenmarken
nach, dass immer, wenn Pupillenstarre bestanden hatte, Degenerationen in
den Hinterstangen sich nachweisen liessen, die durchaus denen bei Tabes
glichen, und zwar auch bei Fallen, die im Leben keine sonstigen klinischen
Symptome von Tabes geboten hatten. Umgekehrt h&tten die Falle, welche
nur Seitenstrangdegeneration aufwiesen, intra vitam normalen Pupillen-
befund geboten. Ebenso wie mit den Pupillenstorungen verhalte es sich
mit den Augenmukelstorungen, Opticusatrophie u. s. w. W T o sie vorhanden
waren, bestanden Hinterstrangsverfinderungen.
Wolff fand bei den Paralytikern, welche Pupillenstarre zeigten,
Degeneration in den Hinterstrfingen des Halsmarks, bei den Fallen, wo
der Pupillenbefund normal war, wurde die Degeneration im Halsmark vermisst.
Bei zuktinftigen Untersuchungen von Rfickenmarken von Paralytikern
undTabetikern ware speciell darauf zu achten, wie die alleroberste Partie
des Halsmarks sich bei dem Fehlen der Pupillenverengerung auf Licht-
einfall und umgekehrt bei normaler Pupillenreaction verhfilt. Es ware weiter
auch dieWeite der Pupillen zu beach ten und zu erforschen, ob bei
den Fallen mit spinaler Miosis die Veranderungen schon weiter unten
beginnen und daselbst etwas mehr ausgeprfigt sind als bei den Fallen ohne
spinale Miosis.
Ich fahre nun fort in der Beschreibung der Schleife. Als Schleifen-
schicht bezeichnet man eine Lage von weissen Markfasern, welche die
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XXVI. Bach
Fortsetzung von Fasern bilden, die ans dem Nucleus funiculi cuneati zu-
nftchst in die Olivenzwischenschicht gelangen. Die bereits in der unteren
Briickengegend deutliche Scheibe riickt, wfthrend ihr neue Faserzuge aus
anderen Quellen zufliessen, in der Vierhiigelgegend nach und nach an die
laterals Seite der Haube und bietet daselbst auf Querschnitten die Form
einer medianw&rts offenen Sichel dar. Diese Gestalt bewahrt die Schleife
bis zu den oberen Abschnitten des vorderen Vierhiigels.
In topographischer Beziehung werden in der Schleifenscbicht gegen-
w&rtig verschiedene Theile unterschieden. Hier sei nur bemerkt, dass die
Hauptschleife, der wesentlichste Bestandtheil der Schleifenschicht, sich durch
den gesammten Hirnstamm erstreckt.
Zu der Schleife gesellen sich auch Faserzuge der Vorderseiten-
str&nge, welche in der vorderen Ruckenmarkscommissur sich kreuzen.
Dieselben lassen sich vom oberen Theil des Riickenmarkes bis zum Seh-
hiigel verfolgen.
Es wurde bereits erwllhnt, dass die Schleife auch Bundel enthalt,
welche aus den Hinterstrangen des Riickenmarkes hervorgehen. Diese
Bundel schlagen 2 verschiedene Richtungen ein. Die einen beginnen schon
in der hinteren Vierhiigelgegend l&ngs dem Rande des Hirnschenkels distal¬
warts umzubiegen, worauf sie alsbald mit dem lateralen Schleifenkern (Corpus
parabigeminum), welcher zwischen den beiden Vierhugelpaaren in der
lateralen Haubengegend liegt, in Verbindung treten. Der gross ere
Theil jedocli der aus den Hinterstrangen des Riickenmarkes
stammenden Fasern der Schleife erreicht die laterale Gegend
des vorderen Vierhiigels. Ich erlaube mir hier auf die Abbildungen
567 und 568 des Handbuches der Gewebelehre von Kblliker und die
Abbildung 220 in Edinger’s Vorlesungen zu verweisen. Mit diesen Ab¬
bildungen waren dann die dieser Arbeit beigegebenen Abbildungen, speciell
auch die auf den Affen sich beziehende (Fig. 6) zu vergleichen. Man wird
dann begreifen, dass die Schleife sehr gut als secundare sensorische Bahn
des Opticus in Betracht. kommen kann.
Bemerkt sei hier auch, dass ein Theil der Schleifenfasern die
Meynert’sche Commissur mitbildet und daselbst sich kreuzt.
Auf die directen Beziehungen der Schleife zur Gehirnrinde glaube
ich hier nicht naher eingehen zu sollen, ich erwahne nur, dass eine solche
Verbindung angenommen wird.
Es wird angegeben, dass in der Schleife sowohl aufsteigende wie
absteigende Fasern vorhanden sind. Einige der zum Beweis dieser An-
nahme dienenden pathologischen Falle sollen hier kurz erwahnt werden.
Meyer (Arch. I Psych. Bd.. XVII. 1886) beobachtete nach einer
Affection ventral von den Hinterstrangkernen mit Uebergang auf die
Fibrae arciformes internae Degeneration in der contra-lateralen Oliven-
zwischen- und Schleifenschicht bis hinauf zum vorderen Vierkugel.
Schaffer beschreibt einen Fall von ZerstOrung der Burdach’schen
und Goll’schen Kerne durch einen Tnberkel im rechten hinteren Theil der
Rautengrube. Es fand sich aufsteigende Degeneration der linken Oliven¬
zwischenschicht und Schleife bis hinauf zur Gegend des vorderen Vierhiigels.
Weitere Beobachtungen bitte ich in v. Bechterew’s genanntem Buch
S. 246, 247 und 248 nachzusehen.
Weiterhin linden sich in der Literatur nicht wenige F&lle, wo neben
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Experi men telle Untereuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 447
aufsteigender auch absteigende Degeneration der Schleife be-
obachtet wnrde; zahlreicher noch sind die Ffille, in welchen nur ab¬
steigende Degeneration der Schleifenschicht vorlag.
In einem von v. Bechterew veroffentlichten Falle von syphilitischer
Sklerose sass ein Herd von Hanfkorngrosse unterhalb des hinteren Vier-
hiigels im Gebiete der Schleifenschicht und erstreckte sich theilweise in
die Region der centralen Haubenbahn hinein. Es bestand absteigende
Degeneration dieser Haubenbahn, sowie auf- und absteigende Degeneration
der Schleifenschicht. Die absteigende Faserdegeneration in der Schleife
ging dicht bis zu den atrophischen Hinterstrangkernen, die aufsteigende
reichte von dem vorhin erw&bnten Herd bis zu dem hinteren Abschnitte
des Thalamus.
F&lle von absteigender Degeneration der Schleife sind bereits in grosser
Zahl bekannt. Einige derselben seien bier kurz erwfihnt.
In einem von Hfisel (Arch. f. Psychiatr. XXV. 1893) erwahnten Falle
sass in dem Haubengebiet des rechten Hirnschenkels ein Herd, welcher bis
in die Gegend des hinteren Sehhiigelabschnittes, des Pulvinar und der
inneren Kapsel sich erstreckte. Die Untersuchung ergab unter anderem
Degeneration der Schleifenschicht, von den contralateralen Hinterstrang¬
kernen beginnend, durch die sensible Kreuzung hindurch lfings des Hirn-
stammes bis zur Capsula interna.
In einem Falle, den Henschen 14 ) erwahnt, bestand rechterseits eine
Narbe im fiusseren Theil des vorderen Vierhiigels, die den mittleren Ab-
schnitt der Schleifenschicht in Mitleidenschaft gezogen hatte. In Abh&ngig-
keit von dieser Narbe entwickelte sich absteigende Degeneration der
Schleife, Atrophie der rechten Olivenzwischenschicht, der Fibrae arcuatae
internae und des Nucleus funiculi cuneati linkerseits.
v. Monakow erwahnt in seiner Gehirnpathologie, dass es nach grosseren
Blutergussen in der oberen Brfickenetage zu einer allerdings langsam ver-
laufenden, aber schliesslich mit einer nahezu volligen Vemichtung ihrer
Fasern endigenden secundaren Entartung der Schleife und zwar nicht nur
in aufsteigender, sondern — wenn auch erst nach Monaten — auch in
absteigender Richtung gekommen sei. Im Verlauf von Jahren geht die
absteigende Degeneration auf die Kerne der Hinterstrange der gegenfiber-
liegenden Seite fiber.
Mott 23 ) durchschnitt bei einem Affen die linke lateral© Schleife dicht
fiber dem Pons, zugleich erfolgte eine leichte Lfision des linken Thalamus
opticus, sowie eine schwere des linken unteren Vierhiigels und des Corpus
geniculatum externum. Es fand sich eine absteigende Degeneration der
Schleife, besonders in ihren mittleren Partien, eine solche des Corpus
trapezoides und des Stratum interolivare links, rechts eine solche der inneren
Fibrae uniformes und der Hinterstrangkerne.
Es darf aus den erwahnten und einer Anzahl weiterer Beobach-
tungen gefolgert werden, dass die Schleifenschicht ausser aufstei-
genden Bahnen zweifellos auch eine Anzahl absteigender Fasern be-
sitzt. Welche Theile der Schleife in letzter Hinsicht hauptsachlich in
Betracht kommen, dariiber haben weitere, speciell experimentelle Unter-
suchungen mit der Marchi’schen Methode definitiv zu entscheiden.
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448
XXVI. Bach
Aus Edinger’s Vorlesungen, worin wir viele wichtige, auf ein-
gehenden Untersuchungen beruhende Angaben fiber die Schleife und
deren Beziehungen finden, will ich bier nur einige Bemerkungen fiber
die Schleife im Zusammenhang mit Angaben tiber die vorderen
Vierhiigel citiren.
Edinger sagt, vom Vierhiigeldach sei Folgendes sichergestellt:
Fasern aus dem Opticus, die der Retina entstammen, und Fasern aus
der Sehstrahlung, also vom Occipitallappen her. Es sei bekannt, dass aus
Zellen im Vierhiigeldach Fasern entspringen, die in den Sehnerv gelangen,
und solche, welche sich basalwarts zur Schleife wenden. Ausserdem sei
nachgewiesen, dass in dem mittleren Grau des Vierhugels zahlreiche Zellen
vorhanden sind, deren Axencylinder zum grossten Theil hinab in die
Schleifenschicht gelangen, deren Dendriten sich aber um die feinen End-
pinsel verasteln, welche der Sehnerv in das oberfl&chliche Grau schickt
Das tiefe Mark der Vierhiigel enthalte die aus den Vierhiigeln entspringen-
den und die einmiindenden Fasern der Schleifenschicht.
Zur weiteren Orientirung fiber die Schleife und speciell auch ihrer
Beziehungen zum vorderen Vierhiigel verweise ich ferner auf
v. Kollikers eingehende Untersuchungen, die er in seinem Handbuch
Seite 405 und ff. niedergelegt hat. Wir finden daselbst auch treff-
liche, wesentlich zur Orientirung beitragende Abbildungen.
Auch in Ramon y Cajal’s Abhandlung: „Beitrag zum Studium
der Medulla oblongata, des Kleinhirns und des Ursprungs der Gehirn-
nerven M sowie in seiner Monographic „fiber die Structur des Chiasma
opticum nebst einer allgemeinen Theorie der Kreuzung der Nerven-
bahnen“ findet sich eine Reihe von Angaben, die hier interessiren.
Einige derselben sollen hier Erwahnung finden.
Bei der Besprechung der optischen Bahnen des Thalamus sagt
er (S. 107): „Sie unterscheiden sich in eine oberflachliche und eine tiefe
Bahn. Die oberflachliche tritt aus den oberflachlichen Zonen des Corpus
geniculatum externum und vielleicht aus der Gegend des Stratum zonale
hervor. Diese Bahn gesellt sich zum Theil der Fortsetzung des Tractus
opticus selbst bei und wendet sich, im Pedunculus cerebri angelangt, nach
innen, um in die obere Portion des letzteren einzutreten.
Die tiefe Bahn ist viel wichtiger; sie sammelt die Axencylinder der
tiefen Zellen des Corpus geniculatum sowohl wie des Stratum zonale,
ordnet sich in Bogen mit nach aussen gerichteter Concavitat und tritt in
die centrale optische Bahn ein.
Eine interessante Thatsache miissen wir hier beziiglich der Art, wie
die Opticus-Stabkranzfasern in der centralen Bahn enden, constatiren. Die
Fortsetzung in die Pedunculusfasem findet zuweilen mittels einfacher Um-
biegung statt, ofters aber mittels Bifurcation; der aufsteigende Ast tritt
mit dem centralen Opticusbiindel in das Corpus striatum, der absteigende
zieht mit dem Pedunculus vielleicht bis in die Gegend der Haube hinab;
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Experimen telle Untersuchungen und Studien iiber den Verlauf etc. 449
es diinkt uns nicht nnwahrscheinlich, dass dieselben eine Reflexbabn zwischen
den Sehcentren nnd den motorischen Herden des Auges, des Kopfes und
des Halses bilden. M
Verweisen will ich hier auch auf die Seite 114 und 115 befindlichen
Angaben iiber das absteigende Biindel der Haube, das er vom vorderen
Vierhiigel bis unter die Briicke verfolgte.
Bei der Beschreibung des vorderen Vierhiigelpaares sagt Ramon y
Cajal, dass in dem vorderen Vierhiigel eine Zone von markhaltigen Nerven-
fasern existire, welche aus dem Tractus opticus stammen. Die Fasem
dieser Schicht senden Collateralen aus, theils aufsteigende zum dariiber
liegenden grauen Stratum, theils absteigende, die sich in der centralen
grauen Substanz verzweigen. Er hat diese absteigenden Collateralen sowohl
bei M&usen als bei Kaninchen und Katzen impr&gnirt. Dieselben sind sehr
zahlreich, lang und entspringen aus dem ganzen Gebiet der Opticusfaser-
schicht; sie losen sich in den tiefen Schichten, besonders in dem Stratum
profundum album cinereum (Tartuferi) in ausgedehnte Verzweigungen
auf, welche die optische Erregung den grossen Zellen dieses
Stratum zufiihren. Da einige der letzteren, besonders die
lateral gelegenen, ihre Nervenforts&tze zur Medulla oblongata
senden (absteigendes Biindel des vorderen Vierhiigels), diirften
mittels der erwahnten Collateralen optisch-muscul&re Reflexe
zu Stande kommen konnen, an welchen auch das hintere Lflngsbiindel
betheiligt ware. Auch in dem centralen Hohlengrau enden viele absteigende
Collateralen.
In seiner Abhandlung iiber das Chiasma u. s. w. sagt Ramon y Cajal
von den optischen Reflexbahnen Seite 43 Folgendes: „Bekanntlich gehen
vomLobulu8 opticus der niederen Wirbelthiere sowohl wie vom
vorderen Vierhiigel der S&ugethiere absteigende Bahnen aus,
dazu bestimmt, die Lichteregung auf die motorischen Centren
der Medulla oblongata et spinalis zu iibertragen. Diese Bahnen
bilden 2 Ziige, einen kleinen gleichseitigen und einen ent-
gegengesetzten st&rkeren. Letzterer kreuzt die Mittellinie und in
dem Lobulus der entgegengesetzten Seite angekommen, wendet er sich zum
grossen Theil abwarts, vorzugsweise das absteigende Biindel der Haube
bildend. Es existiren in der That gekreuzte Fasern iiber dem Aquaeductus
Sylvii und ebensolche unterhalb des hinteren L&ngsbiindels.
Wir wollen hier diese optischen Reflexbahnen nicht im Detail erortern;
ihre motorischen Verbindungen sind noch in recht tiefes Dunkel gehiillt.
Es liegt uns nur daran zu zeigen, dass die allgemeine Anordnung dieser
Bahnen mit der Theorie iibereinstimmt. Da n&mlich die fundamentale
Krenzung der Sehnerven und das Vorwiegen der, der Seite der Erregung
entsprechenden Muskelreflexe eine gegebene Thatsache ist, so war zu er-
warten, dass die optische Reflexbahn der entgegengesetzten Seite die homo-
laterale an Bedeutung ubertreffen wiirde, und eben dies ist wirklich der
Fall. Bei den Vertebraten mit panoramischem Sehen, bei welchen jedes
Auge unabh&ngig functionirt (monolaterale Pupillenreation, Mangel der
Convergenz u. s. w.), sind die gleichseitigen optischen Reflexfasern sehr
sp&rlich. E dinger, der diesen Punkt bei den Fischen, Reptilien und
Batrachiem sehr genau studirt hat, beschreibt und zeichnet als gekreuzt
die grosse Mehrzahl der absteigenden, im Lobulus opticus entspringenden
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450
XXVI. Bach
Btindel (Tractus tecto-spinales und tecto-bulbares), nicht zu gedenken der
dorsalen Kreuzung des Tectums, welche yielleicht den absteigenden, in der
ventralen Region dieses Organs nicht gekrenzten Fasern entsprechen kbnnte.
Wir glanben trotzdem nicht, dass, selbst bei den niederen Wirbelthieren,
die homolateralen Fasern ganz fehlen, da das Znsammenwirken gewisser
Angenbewegongen (Erliebung nnd Senknng der Augen, Accommodation
anf Entfernnngen n. s. w.) die bilaterale Contraction einiger Muskeln er-
fordert. u
Wenn auch die voraufgehenden Mittheilungen es wahrscheinlich
machen, dass wir in der Schleife die secundare sensorische
Bahn des Opticus zu suchenhaben, so sinddieDarlegungendoch weit
entfernt, hierflir den Beweis zu erbringen. Weiteren Untersuchungen
ist es vorbehalten,das beziiglich der optischenReflexbahn noch berrschende
Dunkel zu lichten.
Erwahnen will icb hier noch die sehr wohl discutirbare Ansicht
v. Bechterew's, dass die Haubenkreuzung optische Reflexe zu
den Organen der Motilitat leitet. Es wtirde somit schon auf
reflectorischem Wege eine Uebereinstimmung zwischen Gliedmassen-
bewegung und Lichteindriicken herbeigeflihrt Die mit dem vorderen
Vierhtigel in Verbindung stehende laterale Schleife wurde den Organen
der Bewegung gleichzeitig acustische Reize ttbermitteln.
Ich habe bei meinen obigen Ausflihrungen der herrschenden An-
nabme mich angeschlossen, dass hauptsachlich oder sogar ausschliess-
lich die zum vorderen Vierhiigel hinziehenden Opticusfasern als die
optischen Reflexfasem (Pupillarfasern) in Betracht kommen. Nun ist
aber meiner Meinung nach kein strikter Beweis hierflir erbracht und
es ware immerhin moglich, dass auch die zum Thalamus ziehenden
Opticusfasern zum Theil optische Reflexe vermitteln konnen. Es ent-
springen daselbst ebenfalls zahlreiche Schleifenfasern.
H.
Vom Riickenmark zum. Oculomotoriuskern (Ganglion ciliare?)
au&teigende Reflexbabn.
Wahrend wir die von den primaren Opticuscentren nach der Medulla
oblongata oder dem obersten Theil des Halsmarkes absteigende
optische Reflexbahn noch als sehr wenig sichergestellt bezeichnen
mussten, besteht etwas mehr Sicberheit daftir, dass als aufsteigende
Bahn das hintere Langsbiindel in Betracht kommen diirfte. Es
ist von verschiedenen Seiten, auch vom Verfasser, mit Bestimmtheit
angegeben worden, dass zahlreiche Fasern des hinteren Langsbflndels
in den Augenmuskelkernen enden, deren Function wohl kaum eine
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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 45 1
andere sein kann, als die von Zaleitang sensibler Einflfisse vom
Rttckenmark her.
In Folgendem will ich kurz verschiedene Ansichten fiber
das hlntere Lfingsbiindel anffihren.
Ich folge hierbei der Darstellung Ramon y Cajal's, die kurz und
dabei doch ziemlich erschopfend ist. Einige Bemerkungen entnehme
ich der 6. Auflage von Edinger’s Vorlesungen, sowie einer schriftlichen
Mittheilung des Herrn Privatdocenten Dr. A. Tschermak in Leipzig.
Ffir sein liebenswfirdiges Entgegenkommen sage ich Herrn Collegen
Tschermak auch hier meinen verbindlichsten Dank.
Eine eingehende Betrachtung hat v. Kolliker dem hinteren Langs-
bfindel gewidmet, worauf ich zur weiteren Information verweisen will.
Ramon y Cajal sagt: Die physiologische Bedeutung des hinteren
Lfingsbtindels sowie der Ursprung und das Ende seiner Fasern bilden einen
der meist umstrittenen Punkte der Neurologie.
Edinger z. B. betrachtet das L&ngsbtindel als ein System von Fasern,
dazu bestimmt, die motorischen Centren des Sehapparates (Oculomotorius-,
Trochlearis- und Abducenskern) mit den tibrigen motorischen Kernen des
Bulbus rachiticus zu verbinden.
Es ffihrt Bahnen aus der Thalamusgegend ’ und dem Mittelhirn weit
hinab bis zum Riickenmark, nimmt unterwegsT nicht nur vielfach neue
Ztige auf, sondern giebt auch, tiberall besonders an die Kerne der Hirn-
nerven, Collateralen ab. Die frontalsten Ztige stammen nach Edinger
zweifellos aus einer dtinnen Commissur am caudalen Ende der Thalamusbasis.
Von da erheben sich die Btindelchen dorsal warts, um ganz nahe der Median-
linie unter dem centralen Gran am Boden des Aquaeductusanfanges rtick-
wtirts zu biegen. Hier gesellen sich mtichtige Fasernmassen bei, die alle
aus einem grossen Kern stammen, der, vorn im Haubenwulste liegend, bis
in den Thalamus hineinragt.
Spitzka misst dem hinteren Lfingsbtindel die Bedeutung bei, die Seh-
sphtire mit den Ursprungskernen der motorischen Augennerven, sowie mit
denen der Muskeln des Kopfes und des Halses zu verbinden.
Nach Jakowenko, welcher diesen Punkt mittels der Degenerations-
methode studirt hat, soli das Ltingsbtindel kurze Bahnen enthalten, dazu
bestimmt, getrennte Punkte der grauen Substanz mit einander zu ver¬
binden, ausserdem lange, aufsteigende Bahnen vielleicht sensibler Natur.
Obersteiner nimmt an, dass das Lfingsbtindel kurze Bahnen enthfilt,
mittels deren sich von der Medulla bis zum Gehirn alle motorischen Kerne
unter einander verbinden. Vielleicht berge dieser Strang auch directe
motorische Axencylinder, z. B. solche, die in den Kernen des Trochlearis und
Oculomotorius entspringen und nach einem longitudinalen Verlauf sich den
motorischen Wurzeln einverleiben.
Held huldigt in der Hauptsache der Idee, dass dieses Btindel eine
zwischen den optischen und akustischen Centren einerseits und den moto¬
rischen Kernen des Auges andererseits etablirte Reflexbahn darstellt. Nach
diesem An tor enthfilt das hintere Lfingsbtindel ab- und aufsteigende Axen¬
cylinder: die absteigenden stammen aus Zellen, die im vorderen Vierhugel
Deutsche Zeitscbr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 30
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XXVI. Bach
in der Nahe der hinteren Commissur gelegen sind; diese Forts&tze sind
directe und gekreuzte. Im Langsbiindel angelangt liefern sie Collateralen
fur die motorischen Augenkerne and das Deiters’sche Ganglion and setzen
sich schliesslich in den Vorder-Seitenstrang der Medulla fort.
Die Herkunft der aufsteigenden Fasern ist Held unbekannt.
v. Kblliker halt das genannte Biindel fur die Fortsetzung des Vorder-
seitenstranges der Medulla und misst ihm die Bedeutung einer gekreuzten
sensiblen Bahn bei, dazu bestimmt, die spinalen sensiblen Herde mit den
hoher gelegenen motorischen Kernen in Verbindung zu setzen.
Cramer versichert, dass der grosste Theil der Fasern des hinteren
Langsbiindels aufsteigenden Verlauf hat und in dem von Darkschewitsch
angegebenen Herd endet. Nach unten soil dieses Biindel, wie v. Kolliker
und Held angeben, in den Vorderseitenstrang der Medulla sich fortsetzen.
van Gehuchten hat das hintere Langsbiindel bei der Forelle studirt
und betrachtet es als eine motorische absteigende Bahn, deren Ursprungs-
zellen an verschiedenen Punkten der Medulla oblongata und des Mittelhirnes
liegen und deren Axencylinder zahlreiche Collateralen zu den motorischen
Kernen senden sollen.
Mahaim hat nach Exstirpation der motorischen Augennerven
(Gudden’s Methode) einen Theil der Fasern des hinteren Langsbiindels
verschwinden sehen; er halt es deshalb fur wahrscheinlich. dass die ver-
schwundenen Fasern einer zwischen dem sensiblen Endkern des Trigeminus
und dem Oculomotorius bestehenden Associationsbahn entsprechen.
Ramon y Cajal hat seine Studien iiber das hintere L&ngsbiindel
hauptsachlich an Sagittalschnittserien von Mauseembryonen angestellt.
Die Fasern des hinteren Langsbundels, besonders diejenigen, welche
zum Oculomotorius- und Trochleariskern Collateralen senden, werden, bei
der letzten Gruppe motorischer Zellen anlangend, ausserst diinn und enden
mit freien Verzweigungen theils in Edinger’s Kern des hinteren Langs¬
bundels, theils viel spater, mitten im Thalamus opticus.
Die Fasern des hinteren Langsbiindels reprasentiren auf-
steigende sensible Fasern zweiter Ordnung, daneben sollen aber
auch absteigende Fasern im hinteren Langsbiindel vorhanden sein. Des
Weiteren sollen neben den absteigenden sensiblen Fasern in das Langs-
biindel kraftige Axencylinder eintreten, welche ihre Ursprungszellen im
rothen Kern haben. Die sensiblen und sensorischen Ziige des hinteren
Langsbiindels stammen aus dem Deiters’schen Kerne, aus dem Trigeminus
und aus den Zellen der weissen reticuiaren Substanz.
Von diesen sensiblen Faserzugen ist der wichtigste der des Deiters-
schen Ganglions. Aus diesem Ganglion gehen hauptsachlich jene groben
aufsteigenden Fasern hervor, welche zahlreiche Collateralen zu den moto¬
rischen Augenkernen senden.
Die Existenz von Vestibularisfasern zweiter Ordnung im hinteren Langs-
biindel tragt einem den Physiologen wohlbekannten Phanomen Rechnung,
namlich der Erzeugung compensatorischer und associirter Bewegungen der
Augen, wahrend der Kopf und der Korper ihre Gleichgewichtslage andern.
A. Tschermak, der sich mit dem Studium des hinteren Langs¬
biindels eingehend beschaftigt hat (siehe sub 24 des Lit-Verz.), theilte
mir brieflich dartiber Folgendes mit:
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Experimentelle UntersuchuDgen und Studien fiber den Verlauf etc. 453
Bei einzelnen Thieren, speciell bei der Katze, nicht so beim Menschen,
zeigt die Faserlage ventral vom Aquaeductus in der ganzen Ansdehnnng
der Medulla eine sehr dentliche Gliedemng in ein dorsales Bfindel (das
hintere Lfingsbfindel sensn strictiori) und in das von Tschermak be-
sonders beschriebene und benannte pr&dorsale Lfingsbtindel. Beide gehen
in den Vorderstrang fiber. Held hat beide als „Vorderseitenstrangrest
der Mittellinie w zusammengefasst.
Im prfidorsalen Lfingsbfindel unterscheidet Tschermak zwei
Systeme:
1 . Das kreuzende Spinalsystem, aus dem vorderen Paar der Vierhftgel
absteigend bis in das Lendenmark.
2. Das aufsteigende kreuzende Linsenkernsystem, welches aus unbe-
kannter Quelle durch den Hirnstamm in die Commissura hypothal. dorsalis
Forel’s aufsteigt.
Im eigentlichen hinteren Lfingsbfindel steckt eine grosse Zahl
auf- und absteigender Systeme. Sichergestellt sind bisher folgende:
1 . Ein aus dem Rfickenmark in den Hirnstamm aufsteigendes
System, welches u. a. auch an die Augenmuskelkerne sowie an die Formatio
reticularis beiderseits zahlreiche Collateralen abgiebt und bis zur hinteren
Commissar (bezw. bis zum oberen Lateralkem und dem Darkschewitsch-
chen Kern der hinteren Commissur) der Regio thalamica hinaufreicht.
Dieses System kfinnte wohl die von mir angenommene, vom
Rfickenmark aufsteigende Reflexbahn darstellen.
2. Ein aus der Formatio reticularis (unterer, mittlerer, oberer Central-
kern und Lateralkem) stammendes, im hinteren Lfingsbfindel derselben und
auch der Gegenseite bifurcirtes System, dessen absteigende Theilungsfiste
in das Rfickenmark, dessen aufsteigende zu den holieren Abschnitten der
Format, ret. gelangen.
3. Ein im hinteren L&ngsbfindel bifucirtes gekreuztes und ungekrenztes
System aus dem Vestibularendkernlager, speciell aus dem Deiters’schen
Kern, dessen absteigende Theilungs&ste bis ins obere Brustmark, dessen
aufsteigende unbekannt woliin gelangen, jedoch sichere Collateralen an den
Abducenskern, wahrscheinlich auch an den IV. und III. Kern abgeben.
4. Ein kreuzendes, im hinteren Lfingsbfindel der Gegenseite bifurcirtes
Secundfirsystem der Trigeminusleitung, entspringend aus der Subst. gel. V,
unbekannter Endigung.
Aus diesen Mittheilungen dfirfte, wie oben bereits gesagt wurde, mit
grSsster Wahrscbeinlichkeit hervorgehen, dass ffir dieLeitung des Pupil-
larreflexes vom Rfickenmark zum Oculomotoriuskem oder zum Ganglion
ciliare das hintere Langsbfindel mit in erster Linie in Betracht kommt.
Erorterungen fiber die Physiologie und Pathologic derPupillar-
bewegimg. (Hierzu Fig. 7, S. 454 und Schema II auf Tafel VIII.)
In Folgendem will ich an der Hand zweier Schemata die
normalen und pathologischen Verhaltnisse der Pupillar-
reaction erortern. Es wird sich dabei Gelegenheit geben, die
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XXVI. Bach
Richtigkeit der im Vorstehenden niedergelegten Ansichten liber die
Pupillarreflexbahn zu prfifen und auf einzelne Punkte der bestehenden
Differenzen naher einzugehen.
Nehmen wir auf Grund vorstehender Mittheilungen an, dass die
vom Vierhfigel zum Rfickenmark ziehende secundar sensorische Bahn
in der Schleife verlauft oder nehmen wir an, dass die Hauben-
kreuzung hierffir in Betracht kommt, so wird man zunachst fiber die
Kreuzung dieser Bahn frappirt
sein und denken, dass damit die
klinischen Erscheinungen wohl
kaum in Einklang gebracht wer-
den konnen.
Sehen wir zu, wie dem ist, und
beginnen wir bei den einfachsten
Verhaltnissen, bei der nur einsei-
tigen u. zw. gleichseitigenPupillen-
verengerung auf Lichterregung.
Wir wollen uns hierzu desneben-
stehenden Schemas bedienen.
Bei Beleuchtung des rechten
Auges tritt bei einem Geschopf
mit totaler Sehnervenkreu-
zung nur eine Verengerung der
Pupille des belichteten rechten
Auges auf. Nehmen wir wie
bisher an, dass die Sehnerven-
fasern nach der Kreuzung im
Chiasma und der Ausbreitung im
Vwische^^d'en^ 11 'Sphincterkernen". Vierhiigel (Lobulus opticus) in-
III K = Oculomotoriu8kern. IV fl = direct oder direct mit dem
Oculomotoriuskern der gekre^-
(Annahme Bernheimer’s). ind. Verb. = ten linken Seite in Verbin-
d “”8 h * b “
2. sens. Kreuz. = 2. sensorische Kreuzung. bei der Belichtung des rech¬
ten Auges nicht eine Verenge-
rung der rechten Pupille, sondem der linken Pupille zu erwarten,
wenn wir uns nicht der zum mindesten gezwungenen Annahme hingebeu,
dass die zum 1 i n k e n Vierhiigel (Lobulus opticus) gelangten Sehnervenfasern
des rechten Auges in den linken Oculomotoriuskern zwar eintreten,
dessen Zellen aber nicht erregen, sondem lungs der vonBernheimer
angenommenen V erbindungsbrucke zwischen beiden Sphincterkernen hin-
ziehen und lediglich die Zellen des rechten Sphincterkernes erregen.
L. Baibas
R. Baibas
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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 455
Nehmen wir hingegen eine zweite Kreuzung an, dann wird es
nach dem Schema sofort klar und ist selbstverstandlich, dass bei
totaler Sehnervenkreuzung bei Beleuchtung des rechten Auges nur eine
Verengerung der rechten Pupille erfolgt.
Wie steht es mit der Annahme einer Verbindung der beiden
Sphincterkerne?
Bestande wirklich eine so weit gehende anatomische und functio-
nelle Verbindung und Zusammengehorigkeit beider Sphincterkerne.
wie sie von manchen Seiten angenommen wird, dann miissten wir wohl
auch bei Thieren mit vollstandiger Sehnervenkreuzung eine indirecte
Pnpillarreaction wahrnehmen.
Der Einwand, dass bei den Thieren mit totaler Sehnervenkreuzung
die Verhaltnisse im Oculomotoriuskern anders liegen werden, wie bei
Geschbpfen mit partieller Kreuzung, ist nicht so ohne Weiteres als rich tig
anzusehen, denn wir sehen z. B. bei der Taube trotz der lediglich mono-
lateralen Pupillenreaction eine weitgehende Confluenz des vorderen Oculo-
motoriusabschnittes, in den man ja den Sphincterkem zu verlegen pflegt.
Es zeigten uns librigens die Verhaltnisse und Erfahrungen bei der
Taube, wobei ich nach einseitiger Bulbusevisceration doppelseitige
Kernveranderung bekam, dass die Beeinflussung der interioren Muscula-
tur einesjeden Auges von beiden Seiten des Kerngebietes bei derLicht-
reaction der Pupille gar keine Rolle zu spielen braucht. Es besteht
die doppelseitige Beeinflussung der interioren Musculatur vielleicht nur
wegen der immer gemeinschaftlich an beiden Augen erfolgenden
Accommodation und Convergenz. Wir konnten im Hinblick auf die
klinischen Erscheinungen an der Pupille ruhig annehmen, dass dieReflex-
fasern gar nicht auf Zellen im Oculomotoriuskern einwirken, sondem erst
auf die Zellen des Ganglion ciliare, wo ein Ueberfliessen derErregung
von einer Seite auf die and ere nicht mehr erwartet werden kann.
Sehen wir nun weiter zu, ob bei den Geschopfen mit partieller
Kreuzung der Opticusfasern im Chiasma,bei denen neben directer
Lichtreaction der Pupille auch eine indirecte Reaction erfolgt, die
Annahme einer Kreuzung der secundar sensorischen Bahn die Er-
klarung der klinischen Symptome an der Pupille unmoglich macht
oder auch nur erschweri Wir werden sehen, wie ich vorweg be-
merken will, dass das Gegentheil der Fall ist.
Nehmen wir eine zweite Kreuzung derart an, wie sie im beigebenen
Schema 2 (auf Taf. VIII) angegeben ist, nehmen wir ferner an, dass ebenso
wie die grossere Zahl der Sehfasern sich auch die grossere Zahl der Pupil-
larfasern im Chiasma kreuzt, dann kommt inFolge der zweiten Kreuzung
dieses starkere Btindel von Pupillarfasern wieder auf die Seite des
Auges, von dem es ausging. Dies muss ich auch als wahrscheinlich
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XXVI. Bach
bezeichnen, denn nach einer Anzahl von Beobachtungen, die aUerdings
durch eine grossere Reihe systematischer Untersuchungen zu erweitem
waren, glaube ich der Annahme sein zu sollen, dass die directe
Pupillarreaction die indirecte an Starke, an Ausgiebigkeit
nbertrifft Es ist dies eine Annahme, die mit der gelaufigen An-
schauung in Widerspruch steht, deren Richtigkeit mir aber ziemlich
sicher zu sein scheint. Man kann sicb davon bei der Untersuchung
der Pupillarreaction im Dunkelzimmer bei seitlich einfallendem Licht-
kegel und ungleicher Beleuchtung beider Augen leicht iiberzeugen. Ich
mochte hier auch die vielfach zu findende Angabe, dass trotz einseitig
hochgradiger Herabsetzung der Sehscharfe, ja trotz Amaurose. z. B.
bei einseitiger Embolie oder Thrombose der Centralarterie der Netzhaut
sich immer Pupillengleichheit findet, als unrichtig bezeichnen. Jeden-
falls kann ich, um bei dem Beispiel der Thrombose zu bleiben, fhr eine
Anzahl von solchen Fallen, die ich im letzten Jahre daraufhin unter-
suchte, behaupten, dass die Pupille des amaurotischen Auges weiter war
bei gleicher Belichtung der Augen, aber auch bei Herabsetzung der
Sehscharfe aus anderen im Auge oder im Sehnerven liegenden
Ursachen ist die Pupille des schlechter sehenden Auges oft weiter.
Anders liegt die Sache bei Augen, wo bei bestehender Amblyopie
das Auge selbst und der Sehnerv normal befunden werden wie .dies
z. B. bei Schielenden der Fall sein kann. Hier konnte ich mich bei einigen
Fallen, die ich in letzter Zeit daraufhin untersuchte, iiberzeugen, dass
trotz hochgradiger Amblyopie eines Auges die Pupillen gleich sind. Es
konnte dieser Umstand zu der Annahme fiihren, die Ursachen der Amblyo¬
pie des Schielauges n ich t im Auge, sondern in derHirnrinde zu suchen.
Wir hatten sorait in dem Verhalten der Pupillen in manchen Fallen
einen Fingerzeig ftir den Sitz der die Amblyopie bedingenden Storung.
Zur Erklarung der consensuellen Reaction und auch der
Pupillengleichheit huldigt man ziemlich allgemein der Ansicht, dass
eine innige anatomische und functionelle Verbindung beider
Sphincterkerne besteht, dass von den Zellen der Mm. sphincter
pupillae im Oculomotoriuskern immer Reize in gleichem Grade zu
beiden Augen ausgehen. Spricht dagegen schon in gewissem Sinne die
eben erwahnte Thatsache, dass die directe Pupillenreaction die indi¬
recte tiberwiegt, so spricht vor allem gegen eine so innige functionelle
Verbindung der Sphincterzellen die von Anderen und mir selbst be-
obachtete einseitige reflectorische Pupillenstarre. Wir m&ssten,
um diese bei dem Bestehen einer innigen anatomischen und functio-
nellen Zusammengehorigkeit der Sphincterkerne zu erklaren, eine
doppelte Lasion annehmen und zwar an ziemlich weit von einander
liegenden Stellen. Dass diese Erklarung aber eine sehr gezwungene und
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Experimentelle Untersuchungen und Stadien fiber den Verlauf etc. 457
nur sehr schwer acceptable ist, wird besonders derjenige zu ermessen
wissen, der sich mit dem anatomischen Bau des Oculomotoriuskernes
und der Pupillarreflexbahn etwas eingehender beschaftigt hat.
Ich glaube die Annahme als unrichtig erklaren zu dfirfen, dass
sich die consensuelle Reaction aus der Verbindung der
beiden Sphincterkerne ergiebt
Die consensuelle Pupillarreaction tritt mit der partiellen
Sehnervenkreuzung, eventuell mit dem Vorhandensein bifur-
cirter Fasern auf.
Als Ausnahme yon der Regel glaubteman bislang das Kaninchen
bezeichnen zu mfissen.
Ich glaube, meine Befunde geben den Schltissel zur Erklarung
dieser Ausnahme. Meine Befunde geben Denen Recht, welche eine
partielle Kreuzung beim Kaninchen annehmen, sie tragen aber trotz-
dem vielleicht zur Erklarung der nur monolateralen Pupillenreaction bei,
da ich namlich bei meinen Marchi-Praparaten Schollen nur im gleich-
seitigen Tractus und Corpus geniculatura, nur ganz vereinzelt im gleich-
seitigen Pulvinar und gar nicht im Yierhfigel nachweisen konnte.
Man konnte daraus vielleicht den Schluss ziehen, dass beim Kaninchen
einige Sehfasern ungekreuzt bleiben, dagegen alle Pupillarfasern
sich kreuzen. Ich mochte hier des Weiteren der Vermuthung Raum
geben, dass beim Kaninchen vielleicht nur sogenannte bifurcirte Fasern
in den gleichseitigen Tractus kommen. In Bezug auf dieDeutung
der bifurcirten Fasern ware neben anderen Punkten wichtig
zu wissen, ob die Zahl der bifurcirten Fasern bei Thieren
mit totaler Kreuzung vollstandig fehlen, ob die Zahl der
bifurcirten Fasern bei den Thieren, wo wir annehmen, dass
viele Fasern ungekreuzt bleiben, auch in grosser Zahl vor-
handen sind etc.
Erlfiuterung des Schema 2 auf Taf. VIII.
Lfisionsstelle 1. Nehmen wir an, der rechte Sehnerv sei bei 1 voll-
stfindig durchtrennt, so wird die rechte Pupille weiter sein als die linke,
falls die schon gemachten Angaben fiber das Ueberwiegen der directen
Lichtreaction fiber die indirecte auf Richtigkeit berulien. Bei Belichtung des
rechten Anges wird weder die Pupille dieses Auges noch die Pupille des linken
Auges reagiren, hingegen wird sich bei Belichtung des linken Auges sowohl
die Pupille des linken als des rechten Auges verengen. — Verengerung der
Pupillen bei der Convergenz, Sympathicusreaction, Hirnrindenreflex normal.
L&sionsstelle 2. Bei sagittaler Durchschneidung des Chiasma werden
die Pupillen gleichweit sein. Es erfolgt beiderseits sowohl directe als
indirecte (consensuelle) Reaction. Die Verengerung wird weniger ausgiebig
erfolgen als in der Norm. — Die consensuelle Reaction hat nicht ihren
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XXVI. Bach
Grand in der von manchen Seiten angenoramenen Verbindung der Spkincter-
zellen im Oculoraotoriuskern, sondern darin, dass die im Chiasma ungekreuzt
bleibenden Fasern in der zweiten sensorischen Kreuzung grossentheils anf
die andere Seite gelangen, w&hrend nar ein wohl kleiner Theil auf der-
selben Seite bleibt nnd die directe Reaction zn Stande kommen lasst. Eb
besteht Grand zn der Annahme, dass bei sagittaler Chiasmadnrchschneidung
die consensnelle Reaction ausgiebiger ist als die directe. Gegebenen Falles
w&re darauf zn achten. Eigens betont sei, dass. in dem Vorbandensein der
consensnellen Reaction bei sagittaler Chiasmadurchschneidung kein Beweis
liegt fur die Verbindnng der Sphincterkerne. — Da bei sagittaler Chiasma¬
durchschneidung bitemporale Hemianopsie zn erwarten ist, so ware an-
znnehmen, dass die Pnpillenreaction ausgiebiger erfolgt bei Belichtung der
temporalen Netzhauth&lften. Es scheint angezeigt, fiber die Frage der
hemianopischen Pnpillenreaction mit moglichst einwandfreien Methoden
weitere Erfahrungen zu sammeln.
Convergenz- und Sympathicusreaction sowie der Hirnrindenreflex sind
bei L&sionstelle 2 normal.
Lasionsstelle 3. Es besteht rechtsseitige homonyme Hemianopsie.
Zu beriicksichtigen bleibt fur die Tractuslasionen, dass die Verhaitnisse
schematisch dargestellt sind, denn es liegen die ungekreuzten Fasern
nicht zu einem gescblossenen Bundel vereinigt, sondern untermischt mit
den gekreuzten Fasern. Es haben in diesem Punkte die neueren Unter-
suchungen die friiheren Angaben v. MichePs vollauf best&tigt. Es kann
somit keine Rede davon sein. dass bei einer L&sion z. B. nahe dem Corpus
geniculatum, die nur das temporale Drittel des Tractus trifft, nur unge-
kreuzte Fasern l&dirt werden.
Die Pupille des rechten Auges diirfte etwas weiter sein als die Pupille
des linken Auges, da nach friiheren Auseinandersetzungen Grand zur An¬
nahme besteht, dass der grossere Theil der Pupillarfasern im Chiasma
sich kreuzt. — Nach den Angaben der Mehrzahl der Autoren ist hierbei
hemianopische Pupillenreaction vorhanden. Es wiirde danach bei Belichtung
der medialen Netzhauth&lfte des linken Auges die Pupille besonders medial
ausgiebiger reagiren wie bei Beleuchtung der temporalen Netzhautb&lfte.
Bei Belichtung des rechten Auges wiirde die st&rkere Pnpillenverengernng
bei Reizung der temporalen H&lften eintreten. — Wegen der wahrscheinlicb
partiellen Kreuzung in der secund&r sensorischen Bahn ware die consensnelle
Reaction beiderseits auslosbar. — Convergenz-, Sympathicusreaction nnd
Hirnrindenreflexe beiderseits normal.
Lasionsstelle 3a. Je nach Ausdehnung der Erkrankung kann es sein,
dass entweder dieselben Erscheinungen zu beobachten sind wie bei 3, oder
dass nur Hemianopsie auftritt. die Pupillenreaction dagegen nur wenig oder
nicht gestort ist.
L&sionsstellen 4 und 4a. Die linke Pupille wird sowohl bei Be¬
lichtung des linken wie des rechten Auges reagiren. Die rechte Pupille
wird ebenfalls sowohl direct als indirect, wenn anch sehr schwach reagiren.
Es kommen fur die directe Reaction des rechten Auges die im Chiasma und
in der zweiten sensorischen Kreuzung ungekreuzt bleibenden Fasern des
rechten Auges in Betracht. Die indirecte Reaction kommt zu Stande durch
die im Chiasma gekreuzten (blauen) Fasern des linken Auges, von denen
vielleicht ein Theil in der zweiten sensorischen Kreuzung ungekreuzt, d. h. auf
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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 459
der rechten Seite bleiben wird. Es muss natiirlich Gegenstand weiterer Unter-
8 uchungen sein, ob diese zun&chst lediglich theoretischen Ausfiihrungen stimmen.
— Es ist wahrscheinlich, dass die rechte Pnpille etwas weiter ist als die linke.
Convergenz- und Sympathicusreaction, Hirnrindenreflex vorhanden.
L&sionsstelle 4b. Ftir die L&sionsstelle 4b gilt das eben Gesagte,
nur dass hier die rechte Pnpille prompt und die linke Pupillesehr schwach
reagiren wird.
Lasionsstelle 5, 5 a und 5 b. Es besteht rechtsseitige reflectorische
Starre, d. h. die rechte Pnpille ist bei directer und indirecter Lichterregnng
starr. Es ist unterbrochen die im Chiasma gekreuzte Bahn des rechten Auges,
die im Chiasma ungekreuzte Bahn des linken Auges; es sind weiter unter¬
brochen die in der secund&r sensorischen Bahn ungekreuzt bleibenden Fasem
(ungekreuzte Fasern des rechten Auges, gekreuzte Fasem des linken Auges).
Die linke Pnpille reagirt bei Belichtung sowohl des linken als des
rechten Auges.
Bei Lftsion in 5 wird wahrscheinlich die rechte Pnpille weiter sein.
Bei L&sion in 5 a und 5 b kommen verschiedene Variationen in der
Pupillenweite vor, die wahrscheinlich von Mitbetheiligung sympathischer
Fasem (Reizung Oder Lahmung) abh&ngen. In wie weit, oder besser gesagt,
wie hfi-ufig neben den Sympathicusfasern fur die interiore Musculatur des
Auges auch die iibrigen mit dem Auge in Verbindung tretenden sympathi-
schen Fasern hierbei betroffen werden, muss Gegenstand systematischer
Untersuchungen sein. Es soli hier nur erw&hnt werden, dass gelegentlich
die sympathischen Fasern der Lider auff&llig mit afficirt sind, gelegentlich
eine Stfirung derselben zu fehlen scheint.
Die Convergenzreaction kann hiebei lange Zeit vollst&ndig normal sein.
Die Sympathicusreaction wird sich vielleicht verschieden verhalten. Es
sind hieruber erst noch Erfahrungen zu samraeln.
Hirnrindenreflex normal.
Das Sehvermogen kann selbst bei doppelseitiger Affection viele Jahre
normal bleiben. In anderen F&llen tritt schon fruhzeitig Herabsetzung der
Sehsch&rfe in Folge Opticusatrophie ein. Es bestehen ziemlich sicher keine
directen Beziebungen zwischen der reflectorischen Starre und der
Opticusatrophie, sondern nur indirecte, insofern, als die Pupillenstarre
vielleicht auf den Stoffwechsel, Fliissigkeitswechsel im Auge schftdigend
einwirkt. Wir konnen uns vorstellen, dass durch die bei der reflectorischen
Starre ofters vorhandenen Sympathicusstorungen, durch Ver&nderung des
Gefasstonus im Auge leichter sich Giftstoffe, die auf die Ganglienzellen der
Netzhaut sch&dlich wirken, ansammeln konnen, wir kfinnen ferner vielleicht
annehmen, dass die Fortbewegung und Erneuerung der intraocularen Lymph-
flii 88 igkeit wegen des anormalen Pupillenverhaltens gestort ist. Verschieden-
heiten im Bau des Auges so wie andere Factoren, die hier nicht n&her
erortert werden sollen, kfinnten weiterhin von Bedeutung fur das Zustande-
kommen der Sehnerven^trophie sein. Es handelt sich bei diesen Ausfuhrungen
lediglich um eine Hypothese, die mir jedoch mindestens ebenso viel Berech-
tigung zu haben scheint, wie die anderen fiirdieGenese derSehnerven-
atrophie bei Tabes aufgestellten Hypothesen.
LasionsstelleG. Es besteht linksseitige reflectorische Starre, d. h.
es mangelt links sowohl die directe als indirecte Lichtreaction. Im Uebrigen
gilt das ftir 5 a und 5 b Gesagte.
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XXVI. Bach
Ich will hier noch bemerken, dass bei einseitiger reflectoriscber Starre
eigentlich hemianopische Reaction vorhanden sein mtisste, falls wir an-
nehmen, dass die Papillarfasem gleichmfissig fiber die ganze Netzhaut ver-
tbeilt sind, was allerdings noch nicbt bewiesen ist. Die Frage nach dem
Vorhandensein der hemianopischen Reaction wfirde sich besonders in den
wobl seltenen Fallen entscbeiden lassen, wo die eine Pupille reflectorisch
starr ist, wfihrend die Pnpille des anderen Anges noch prompte directe
und indirecte Lichtreaction zeigt.
Lasionsstelle 7. Bekanntlich verlaufen die Wnrzelbtindel des Oculo-
raotorius getrennt bis zur Hirnbasis, erst da vereinigen sie sich zum
Stamme. Es soil die ansgezogene schwarze Linie das Bfindel fur den
M. ciliaris darstellen. Wir hatten bei Zerstornng desselben eine isolirte
Lahmung des M. ciliaris zu erwarten. Die Weite der Pupillen dfirfte
neueren Untersuchungen zufolge hierbei gleich sein, also keine geringe Er-
weiternng der rechten Pupille, wie man bislang annahm.
Lasionsstelle 8. Es soil das punktirte Bfindel das Faserbtindel zum
M. sphincter pupillae darstellen. Bei Zerstornng desselben ist die Pnpille
stark erweitert, direct und indirect lichtstarr, unbeweglich bei der Convergent
also absolut starr. — Auf der rechten Seite des Schemas wurde angenommen,
dass die den Pupillenreflex vermittelnden Fasern gar nicht auf Zellen des
Oculomotori8kernes, sondern direct auf Zellen des Ganglion ciliare einwirken.
Lasionsstelle 9. Es ist die rechtsseitige Sehstrahlung zerstort und
tritt in Folge dessen linksseitige gleichseitige Hemianopsie auf. Der
Pupillarreflex bei Belichtung des Auges ist vollkommen normal. Specieil
bemerkt sei, dass bei solchen Lasionen keine sogenannte hemianopische
Reaction zu erwarten ist, was als differentialdiagnostisches Merkmal
gegenfiber Tractusaffectionen in Betracht kommt. — Bisweilen soil bei
derartigen Herden ein Uebergewicht des gesunden Sympathicus auf der-
selben Seite bemerkbar sein, was sich durch rdthere Gesichtsfarbe, Er-
weiterung der Pupille u. s. w. kundgiebt (y. Monakow). Ganz gesetz-
massige Wirkungen sind jedoch in dieser Hinsicht durchaus nicht ermittelt
Lasionsstelle 10. Der Faserzug mit der Lasionsstelle 10 soli die
Bahn yon der Hirnrinde zum Oculomotoriuskern darstellen, auf welcher der
sogen. Haab’sche Hirnrindenreflex zu Stande kommt. Man versteht darunter
eine Verengerung der Pupille, die eintritt, wenn man bei einem Individuum
lediglich die Vorstellung einer Lichtquelle wachruft; es soil dabei die Be¬
lichtung und Accommodation des Auges gleich bleiben. Dieser Reflex wfirde
bei Lfision 10 fehlen.
Lasionsstelle 11. Bei der Lfision 11 ist die Annahme gemacht,
dass eine Unterbrechung noch hypothetischer sympathischer, wohl in der
Pyramidenbahn verlaufender Fasern erfolgt. Ware die Bahn beiderseits
unterbrochen, so wfirde z. B. die Pupillenerweiterung bei gemfithlichen Er-
regungen ausbleiben.
Lasionsstelle 12. Es ist bei einer Lfision in 12 die Uebertragung
der Hautreize auf den Sympathicus nicht mehr moglich. Die Pupille bleibt
selbst bei starken Hautreizen unbewegt. 1st die Unterbrechung auf die
Partie des unteren Halsmarkes beschrfinkt, so soli Pupillenerweiterung
durch Erregung der Medulla oblongata sowie durch corticale Einfltisse (ge-
mfithliche Erregungen) noch reflectorisch zu Stande kommen konnen. — Bei
Durchschneidung des Sympathicus oberhalb des 8. Cervicalnerven erfolgt
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Experimented Untersuchungen und Studien uber den Verlauf etc. 461
bei Affen und Katzen doppelseitige Pupillenverengerung, bei einseitiger
Lasion auf der zugehorigen Seite. — Es sei hier bemerkt, dass mit dem
7. Cervicalnerven und mit einigen hoheren Wurzelfasern aus dem Sym-
pathicus Fasern in das Riickenmark eintreten, welcbe bei der Innervation
des Auges und der gleichseitigen Gesichtshalfte in Betracbt kommen. Sie
verlaufen in diesem ungekreuzt cerebralwarts. Deshalb macben Unter-
brechungen der 7. Wurzel ebenso wie Riickenmarksdurchtrennungen ober-
balb des 7. Segmentes immer gleicbseitige Miosis, geringe Ptosis und oft
auch Abnabme des Gesicbtsturgors.
Nicbt unerw&hnt will ich weiter bier die Angabe lassen, dass die
reflectorische Pupillenerweiterung auf Reizung sensibler Nerven nicbt durch
den Sympatbicus erfolgt, sondern als eine passive Erweiterung, bedingt durcb
Hemmung des Tonus des N. oculomotorius, anzuseben ist (Braunstein).
Lasionsstelle 13. Durcb eine Lasion des Sympathicus bei 13 wiirde
die Pupillenerweiterung dieser Seite auf Sympathicusreizung vollstandig er-
loschen sein. Es ware die Pupille sehr eng, sie wiirde aber auf Lichtreiz
direct und indirect prompt, wenn aucb weniger ausgiebig reagiren. Aucb
die Verengerung bei der Convergenz wiirde prompt erfolgen. — Ausserdem
bestande geringe Ptosis, eventuell Enophthalmus, Herabsetzung des intra-
ocularen Druckes und Gefasswanderscblaffung.
Lasionsstelle 14. Durch eine Zerstorung des Ganglion ciliare wiirden
die zu den glatten Muskelfasern des M. ciliaris und M. sphincter pupillae
gehSrigen Nervenzellen zerstort Wir hatten danach eine Accommodations-
lahmung, ferner Mydriasis in Folge Sphincterlahmung. Die Pupille ware
bei Lichteinfall und Convergenz unbeweglich. — Wahrscheinlich wiirden
durcb die Zerstorung des Ganglion ciliare auch die Zellen einer Anzahl
sympatbischer Fasern, die zur Gefassmusculatur und zum Musculus dilatator
pupillae ziehen, zerstort. Ob aucb die zum M. palpebralis ziehenden Fasern
dadurch zum Tbeil betroffen werden, ist fraglich. Des Weiteren ware
durch Zerstorung sensibler Nervenastchen eine, wenigstens voriibergehende,
Sensibilitatsstorung am Auge zu erwarten. — Auf der rechten Seite des
Schemas ist vom Oculomotoriuskern aus das zum Ganglion ciliare hin-
ziebende Oculomotoriusbiindel des M. ciliaris als scbwarz ausgezogene Linie
eingezeichnet. — Die noch nicht voll aufgeklarten Beziehungen des Sym¬
pathicus zum Ganglion ciliare sind auf beiden Seiten verschieden ange-
nommen. Es besteht namlich die Moglichkbit, dass ein Theil der sym-
pathischen Fasern im Ganglion endet, ein anderer Theil vorbeizieht. Sehr
wobl moglich ist, wie dies auf der rechten Seite dargestellt ist, dass alle
der Pupillenerweiterung dienenden sympathischen Fasern des Auges in gar
keiner Beziebung zum Ganglion ciliare steben.
Ergebnisse.
Fasse ich zum Schluss die Ergebnisse meiner Studien zusammen,
so sind es kurz folgende:
Bei der Taube besteht eine totale Kreuzung der Sehnerven-
fasern im Chiasma.
Beim Kaninchen, bei der Katze, bei dem Affen und bei dem
Menschen besteht eine partielle Kreuzung der Sehnerven-
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462
XXVI. Bach
faserri im Chiasma, vielleicht handelt es sich theilweise auch nur
um eine Bifurcation von Fasern vor dem Chiasma.
Beim Kaninchen ist die Zahl der ungekreuzten Fasern eine
geringe. In dem Vierhiigel sind keine ungekreuzten Fasern
beim Kaninchen nachweisbar.
Bei der Katze, dem Affen und Menschen betragt die Zahl
der ungekreuzten Fasern circa V 3 der Sehnervenfasern.
Ein geschlossenes temporales Biindel ungekreuzter Fasern
existirt nicht. Meine Befunde stimmen mit v. Michel's Angaben
fiberein.
Die Angaben Bernheimer’s uber eine directe Verbindung
der zum Vierhttgel hinziehenden Opticusfasern mit dem
Oculomotoriuskern konnte ich nicht bestatigen.
Die nur gleichseitige Pupillenverengerung auf Belich-
tung eines Auges bei Geschopfen mit totaler Sehnerven-
kreuzung ist mit den Angaben Bernheimer's kaum vereinbar.
Ebensowenig besteht die von Perlia 24 ) angegebene directe
Verbindung des Tractus peduncularis transversus mit dem
Oculomotoriuskern beim Kaninchen zu Recht.
Es gelang mir nicht, den Tractus peduncularis transversus
bei der Katze, dem Affen und Menschen nachzuweisen. Endigungen
von Opticusfasern im Ganglion habenulae und Corpus subthala-
micum (Corpus Luys) konnte ich nicht feststellen.
Es besteht keine directe, sondern eine indirecte Verbindung
des Opticus mit dem im Halsmark oder der Medulla oblon¬
gata gelegenen Reflexcentrum der Pupille.
Abgesehen von der Kreuzung der Pupillarfasern im
Chiasma besteht noch eine zweite Kreuzung dieser Fasern.
Von klinischen Symptomen spricht daftir speciell die nur
horaolaterale Pupillenreaction nach Netzhautbelichtung bei
Thieren mit totaler Sehnervenkreuzung.
Die Annahme einer innigen anatomischen und functio-
nellen Verbindung der Zellen fdr die Mm.-sphincter pupillae
im Oculomotoriuskern zurErklarung der Pupillensymptome
ist nicht nothwendig.
Als absteigende Pupillarreflexbahn von den primaren
Opticusganglien zu derMedulla oblongata oder demHalsmark
kommt wahrscheinlich die Schleife in Betracht.
Als aufsteigende Pupillarreflexbahn zum Oculomotorius¬
kern oder Ganglion ciliare ist ziemlich sicher das hintere
Langsbiindel anzusehen.
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Experimentelle Untersuchungen and Studien liber den Verlauf etc. 463
Wenn auch die Bearbeitungen unserer Themas speciell in den
letzten Jahren manche Aufklarung gebracht haben, wenn vieUeicbt
auch meine Untersuchungen und Erorterungen wieder eine kleine
Forderung der behandelten Fragen bedeuten wttrden, so bleibt doch
noch sehr Vieles spateren Untersuchungen vorbehalten. — Je mehrlnteresse
ich im Laufe der letzten 9 Jahren den Erscheinungen an der Pupille
entgegengebracht habe, je mehr Gelegenheit, Interessantes zu sehen,
mir das soreiche Material der hiesigen Augenklinik und der psychiatrischen
Klinik, das ich stets in Folge der liebenswfirdigen Aufforderung des
Herrn Professor Dr. C. Rieger untersuchen durffce, bot, umso mehr
wuchs meine Freude und meine Befriedigung bei diesen Untersuchungen,
da immer neue Gesichtspunkte, immer neue, noch zu losende Fragen,
ja immer neue Rathsel auftauchten.
Es ist mit Freuden im Hinblick auf die Diagnostik zu begrtissen,
dass das Interesse an den Pupillenerscheinungen in weiteren Kreisen
in den letzten Jahren erheblich gewachsen ist, dass speciell auch ein
reges Zusammenarbeiten der verschiedenen Disciplinen, besonders
der Neurologen und Ophthalmologen mehr und mehr zu beob-
achten ist.
Literatur.
Auf die Literatur der optischen Bahnen bin ich aua dem Grunde nicht naher
eingegangen, weil dieaelbe in der letzten Zeit von Bernheimer und Dimmer
in ihren sub 5 und 8 verzeichneten Arbeiten eingehender berficksichtigt wurde.
Ich hielt ea, um meine Arbeit nicht allzu umfangreich werden zu lassen, angezeigt,
einfach darauf zu verweiaen.
1) Bach, L., Experimentelle Untersuchungen fiber den Verlauf der Pupillar-
faaern und das Reflexcentrum der Pupille. Bericht fiber die XXVII. Ver-
aammlung der ophthalm. Gesellschaft zu Heidelberg. 1898. S. 98.
2) Derselbe, Zur Lehre von den Augenmuskellahmungen und den StSrungen
der Pupillenbewegung. v. Graefe’s Arch. f. Ophthalm. XLVII. Bd.
2. u. 3. Abth. S. 339 u. 551.
3) Derselbe, Zusammenfassende Darstellung und kritische Betrachtung der
Erkrankungen der Vierhugelgegend und der Zirbeldrfise mit specieller
Berficksichtigung der ocularen Syraptome. Zeitschr. f. Augenheilkunde.
Bd. I. 1899. S. 315.
4) v. Bechterew, W., Die Leitungsbahnen im Gehirn und Ruckeumark.
Deutsch von R. Weinberg. Verlag von A. Georgi. Leipzig 1899.
5) Bernheimer, St., Die Reflexbahnen der Pupillarreaction. v. Graefe’s
Archiv f. Ophth. XLVII. S. 1.
6) Cajal, Ram6n y, S., Beitrag zum Studium der Medulla oblongata, des
Kleinhirns und des Ursprungs der Gehirnnerven. Deutsch von J. Bresler.
Verlag v. J. A. Barth, Leipzig 1896.
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XXVI. Bach
7) Cajal, Ram6n y, S., Die Structur des Chiasma opticum nebst einer all-
gemeinen Theorie der KreuzuDg der Nervenbahnen. Deutsch von J. Bresler.
Verlag v. J. A. Barth, Leipzig 1899.
8) Dimmer, F., Zur Lehre von den Sehnervenbahnen. v. Graefe’s Arch. f.
Ophth. Bd. XLVHI. 3. Abth. S. 473. 1899.
9) Edinger, L., Bau der nervosen Centralorgane. Verlag von F. C. W. Vogel.
Leipzig 1900.
10) Gaupp, Ueber die spinalen Symptome der progressiven Paralyse. Psychiatr.
Abhandl. Herausgegeben von C. Wernicke, 1898. Ref. Neurol. Cen-
tralbl. Nr. 3. 1899. S. 127.
11) Gudden, Leber die Kreuzung der Sehnervenfasern im Chiasma. v. Graefe’s
Arch. f. Ophth. XXV. Bd. 1. u. 4. Abth. 1879.
12) Heddaeus, E., Die Pupillarreaction auf Licht. Verlag v. J. F. Berg-
mann. 1886.
13) Derselbe, Die centripetalen Pupillenfasern und ihre Function. Festschrift
des Vereins der Aerzte des R.-B. Diisseldorf. Verlag v. J. F. Bergmann.
14) Hen sc hen, S. E., Klinische u. anatom ische Beit rage zur Pathologie des Ge-
hirnes. 1.—2. Theil. Upsala, Almqoist u. WikselPs Buchdruckerei. 1892.
1894 u. 1896 Commissionsverlag K. F. Koehler, Leipzig.
15) v. KoHiker, A., Handbuch der Gewebelehre des Menschen. Verlag v.
W. Engelmann. 1896.
16) Landois, L., Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Wien 1887.
17) Leeser, J., Beitrage zur Physiologie der Pupillarbewegung. Inaug.-Diss.
Halle a. S. 1881.
18) Liebrecht, Ueber das Wesen der Pupillenerscheinungen und ihre dia-
gnostische Bedeutung. Deutsche med. W. 1899. Nr. 25 u. 26.
19) Marina, A., Das Neuron des Ganglion ciliare und die Centra der
Pupillenbewegungen. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. XIV.
S. 356. 1899.
20) v. Michel, J., Ueber Sehnervendegeneration und Sehnervenkreuzung. Fest¬
schrift. Wurzburg 1887.
21) Derselbe, Ueber die Kreuzung der Sehnervenfasern ira Chiasma. Bericht
fiber die 24. Vers. d. ophth. Gesellsch. z. Heidelberg. 1895.
22) v. Monakow, C., Gehirapathologie. IX. Bd. I. Theil der speciellen Patho¬
logie und Therapie, herausgegeben von H. Nothnagel. Wien 1897.
Verlag v. A. Holder.
23) Mott, F. W., Unilateral descending atrophy of the fillet, arciform fibres
and posterior column nuclei resulting from an experimental lesion in the
monkey. Brain 1898.
24) Perlia, Anatomie des Oculomotoriuscentrums beim Menschen. v. Graefe’s
Arch. f. Ophth. Bd. XXXV. 4. 1889.
25) Riegel, C. und S. v. Forster, Auge und Rfickenmark. v. Graefe’s Archiv
f. Ophthalmol. XXVII. Bd. Abth. 3.
26) Rosenthal und Mendelssohn, Neurologisches Centralblatt. 1897. Nr. 21.
27) Schmidt-Rimpler, H., Die Erkrankungen des Auges im Zusammenhang
mit anderen Krankheiten. H. Nothna gel’s Specielle Pathologie und
Therapie. XXI. Bd. A. Holder’s Verlag. Wien 1898.
28) Tschermak, A., Ueber den centralen Verlauf der aufsteigenden Hinter-
strangbahnen und deren Beziehungen zu den Bahnen im Vorderseiten-
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Experimentelle UntersuchuDgen und Studien iiber den Verlauf etc. 465
strang. Arch. f. Anatomie und Entwicklungsgeschichte. 1898. IV. u.
V. Heft. Verlag v. Veit & Cie., Leipzig.
29) Wolff, P., Das Verhalten des Riickenmarkes bei reflectorischer Pupillen-
starre. Arch. f. Psychiatrie. Bd. 32. Heft 1. S. 1.
Erkl&rung der Abbildungen auf Tafel IX und X.
Fig. 1. Frontalschnitt durch den Lobus opticus derTaube in der Gegend
des Oculomotoriuskernes. Tr. O. = Tractus opticus. Str. z. — Stratum zonaie.
Isthm. B. d. 0. = Isthmusbundel des Opticus. H. L. = Hinteres Langsbundel.
N. Ill = Nucleus des Oculomotorius. W. b. d. Ill = Wurzelbiindel des
Oculomotorius. Es lassen sich mit Leichtigkeit die Degenerationsschollen von
Tr. O. bis zum Isthm. B. d. O. verfolgen. Auf der anderen Seite waren gar
keine Schollen vorhanden. Die Evisceratio bulbi dextri war 17 Tage vor dem
Todten der Taube ausgefuhrt worden. In N. Ill und in W. b. d. HI sehen
wir ebenfalls eine Anzahl von Degenerationsschollen beiderseits. Auf der Seite
des Eingriffes sind sie etwas zahlreicher. In dem iibrigen Bereich des Lobus
opticus sehen wir vereinzelte feinere Schollen. Eine directe Verbindung der
Degenerationsschollen in der Opticusausbreitung mit dem N. Ill war nirgends
nachweisbar. — 8fache Vergrosserung. — Schnitt 38 der Serie.
Fig. 2. Frontalschnitt durch den vorderen Vierhugel eines Kaninchens
in der Hohe des proximalen Oculomotoriuskernes, bei welchem 4 Wochen
zuvor eine einseitige Evisceratio bulbi vorgenommen worden war. v. V. D. =
Vorderes Vierhugeldach. Bog. u. Bad. f. = Bogen- und Radiarfasern im tiefen
Mark des vorderen Vierhugels und an der Grenze zum centralen Grau. c. Gr. =
Centrales Grau. A. = Aquaeductus Sylvii. N. Ill = Oculomotoriuskern.
W. b. d. IH = Wurzelbiindel des Oculomotorius. H. k. = Haubenkreuzung.
P. p. = Pes pedunculi. Tr. p. tr. = Tractus peduncularis trausversus. Im
Stratum zonaie des vorderen Vierhugeldaches sieht man sofort auf der einen
Seite die schwarzen Degenerationsschollen, auf der anderen Seite fehlen sie ganz
oder sind jedenfalls nicht in grosserer Zahl vorhanden wie am normalen Gehirn.
An den Bogen- und Radiarfasern sieht man beiderseits die gleiche Menge
von Schollen. Es besteht keine directe Verbindung dieser Schollen mit den
Degenerationsschollen in der Opticusausbreitung. An der Grenze des centralen
Graues sieht man hier und da etwas starkere Schollenanhaufungen. Im N. ni
ist beiderseits dieselbe Schollenzahl vorhanden, desgleichen in den W. b. d. IH.
Mit grosser Deutlichkeit treten auf der einen Seite die Degenerationsschollen
im Tr. p. tr. hervor. — Vergrosserung 5:1. — Abbildung aus den Schnitten 59,
61, 72 der Serie zusammengesetzt.
Fig. 3. Frontalschnitt durch den proximalen Theil des hintoren Vier¬
hugels eines Kaninchens, bei dem 4 Wochen zuvor einseitig die Evisceratio
bulbi vorgenommen wurde. Gegend des Trochleariskemes. h. V. D. = hinteres
Vierhugeldach. N. IV = Trochleariskem. B. kr. — Bindearmkreuzung. Die
ubrigen Bezeichnungen wie bei Fig. 2. Wir sehen hier wieder auf der einen
Seite deutlich die Degenerationsschollen im Stratum zonaie des Vierhugeldaches,
auf der anderen Seite sind nur vereinzelte Schollen, wie wir sie im normalen
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XXVI. Bach
Gehirn auch finden. Auch in dieser Gegend des Vierhiigels sehen wir in den
Bogen- und Radiarfasern eine Anzahl Schollen beiderseits. Die Zahl derselben
ist beiderseits ziemlicb gleich. An der Grenze des centralen Graues finden sich
diese Schollen manchmal etwas gehauft. Es besteht nirgends ein directer Zu-
sammenhang mit den Degenerationsschollen des Opticus. Auch im Trochlearis-
kern, im hinteren Langsbundel und besonders in der B. kr. sehen wir Schollen. —
Vergrosserung 5:1. — Schnitt 18 der Serie.
Fig. 4 Frontalschnitt durch den vorderen Vierhugel im Bereich des pro-
ximalen Abschnittes des Oculomotoriuskernes einer Katze, bei welcher
(3 Wochen zuvor einseitig die Evisceratio bulbi vorgenommen wurde.
v. V. D. = vorderes Vierhfigeldach. Bog. u. Rad. f. = Bogen- u. Radiarfasern.
A. d. v. V. = Arm des vorderen Vierhugels. c. Gr. = centrales Grau. A. =
Aquaeductus Sylvii. N. Ill = Oculomotoriuskern. C. g. m. = Corpus genicu-
latum mediale. L. m. = Lemniscus medialis. P. p. = Pes pedunculi. H. kr. =
Haubenkreuzung. W. b. d. Ill = Wurzelbiindel des Nervus oculomotorius.
Wir sehen im Stratum zonale des Vierhugeldaches beiderseits Degenerations¬
schollen, auf der dem Eingriff entgegengesetzten Seite ist die Zahl der Schollen
bedeutender. Ausserdem sehen wir beiderseits in ziemlich gleicher Zahl Schollen
in den Bogen- und Radiarfasern, besonders am Rande des centralen Hohlen-
graues, in dem Kern- und dem Wurzelbiindel des N. oculomotorius. — Ver-
grosserung 5:1. — Schnitt 62 der Serie.
Fig. 5. Frontalschnitt durch den vorderen Vierhugel an der Grenze des
distalen und mittleren Bereiches des Oculomotoriuskernes einer Katze, bei der
6 Wochen zuvor eine einseitige Evisceratio bulbi vorgenommen wurde. Die
Erklarung der Bezeichnungen ist bei Fig. 4 zu ersehen. Die Abbildung giebt
die der Seite des Eingrifies entgegengesetzte Halfte wieder. Die andere Halfte
zeigt dieselben Verhaltnisse, nur sind die Schollen in dem Stratum zonale des
Vierhugeldaches etwas weniger zahlreich. Obwohl die Abbildung einen viel
weiter distal gelegenen Abschnitt wie die Abbildung 4 wiedergiebt, ist auch hier
nichts von einer Verbindung, einem Zusammenhang der Schollen im Stratum
zonale mit den Schollen in den Bogen- und Radiarfasern und den Fasem am
Rande des centralen Graues zu sehen. Auch in dem distalen Bereich des
N. Ill sehen wir noch Schollen, des Weiteren in H. k., vereinzelt im P. p. etc.
Vergrosserung 6:1. — Schnitt 39 der Serie.
Fig. 6. Frontalschnitt durch den vorderen Vierhugel eines Affen, bei
dem 4 Wochen zuvor eine einseitige Evisceratio bulbi vorgenommen wurde. Die
Abbildung bringt die der Seite des Eingrifies entgegengesetzte Halfte. Die
gleiche Seite bietet fast durchweg ganz dieselben Verhaltnisse. C. g. 1. =
Corpus geniculatum laterale. Pulv. = Pulvinar. Tr. = Tractus opticus. Die
ubrigen Bezeichnungen wie bei Fig. 4. Die Degenerationsschollen sind deutlich
im Tractus opticus, im Corpus geniculatum laterale, in dem Verbindungsstuck
zum vorderen Vierhiigelarm und eine Strecke im vorderen Vierhugel zu sehen.
Einige Schollen sieht man auch in den Bogen- und Radiarfasern, in den Fasern
am Rande des centralen Hohlengraus, speciell des Ferneren im Oculomotoriuskern.
Ein Zusammenhang dieser letztgenannten Scholien mit den Degenerationsschollen
des Opticus war nicht zu ermittelu. — Vergrosserung 5:1. — Schiiitt 78 der Serie.
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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 467
Erkl&rnng der Abkttrzungen des Schema II auf Tafel VIII.
Symp. = sympathische Fasern zum Dilatator pupillae. Oil. pup. u. cil.
acc. = Nervi ciliares zum M. sphincter pupillae u. M. ciliaris. G. cil. = Ganglion
ciliare. C. gen. ext. = Corpus geniculatum externum. B. acc. = Wurzelbfindel
des N. oculomotorius, welches die Fasern fur den Accommodationsmuskel ent*
halt. B. sph. = Wurzelbfindel des Nerv. oculom. fur den Sphincter pupillae.
ss. =« Sehstrahlung. F. Acc. u. Pup. = Faserzug von der Hirnrinde zu den
Zellen des M. ciliaris u. M. sphincter pupillae im Nucl. Ill — Haab’sche
Hirnrindenreflexbahn. Ill K. = Oculomotoriuskern. IV H. = Vierhfigeldach.
Refl. b. z. 4 Hugel = centripetale Reflexbahn vom C. gen. ext. zum Vierh.
centripet. B. z. M. sp. — centripetale Reflexbahn vom Vierhugel zur Medulla
spinalis, centrif. Reflexb. — Centrifugale Reflexbahn vom Halsmark zum Oculo¬
motoriuskern od. Gangl. cil. C. m. Refl. C. = Cervicalmark, Gegend des Reflex-
centrums. G. 6.—7. C. u. 1. D. nervenp. = Gegend des 6.—7. Cervicalnerven-
u. 1. Dorsalnervenpaares. G. sp. = Ganglion spinale. G. c. s. = Ganglion
cervicale supremum. Symp. B. = sympathische Bahn von der Hirnrinde zum
Rfickenmark.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd.
31
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XXVII.
Aus Prof. Koshewnikoff’s Klinik (Moscau).
Zur Symptomatology der trophischen Stornngen bei der
Syringomyelie (Osteomalacie). 1 )
Von
Dr. Serge Nalbandoff.
(Mit 3 Abbildungen.)
Das buntfarbige Bild trophischer und vasomotorischer Storungen,
an welchen die Syringomyelie so reich ist, wird immer wieder von
neuen Symptomen dieser Art erganzt. Hierher gehort die von Mari-
nesco beschriebene main succulante und der von Marie bescbriebene
thorax en bateau. Meine Mittheilung hat den Zweck, Ihre Aufmerk-
samkeit auf eine bei Syringomyelie auftretende eigenartige Storung im
Knochensystem zu lenken, welche bisher in der Literatur noch nicht
beschrieben ist. Am 26. Jan. 1899 wurde in die Klinik fur Nervenkrank-
heiten Nikanor Bykoff, 31J. alt, aufgenommen. Klagt tiber Schwache
im linken Arm.
Anamnesis. Eltern des Patienten sind am Leben, und gesund. Vater
55 J. alt, Nichttrinker; Mutter 50 J. alt; von Seiten der Verwandten
nicht 8 Bemerkenswerthes. Mutter hatte 8 Kinder, von denen nur 5 am
Leben sind. Die Uebrigen starben in friiher Kindheit an acuten Krank-
heiten. Patient ist unter den Geschwistern der zweite. Von seiner Ge-
burt erzahlt er laut Angabe seiner Mutter, dass die Entbindung eine
schwere und langdauernde war, da das Kind von grossen Dimensionen war.
Diesem Umstande ist es augenscheinlich zuzuschreiben, dass er mit einer
Kopfgeschwulst (Haematoma) geboren wurde, welche jedoch bald verschwand.
Pat begann zu gehen und zu sprechen vor Ablauf des ersten Lebensjahres.
Von Kindheit an frappirte Pat. seine Umgebung durch seinen m&chtigen
Korperbau. Seine durch Grosse und Kraft sich auszeichnenden H&nde
warden von seinen Altersgenossen als r Barentatzen u bezeichnet. Fussbe-
kleidung musste fur ihn immer besonders bestellt werden.
Vom 8 .—12. J. besuchte Pat. die Schule, folgte dem Unterricht ohne
Miihe. Im Alter von 11—12 J. Schlag auf den Kopf in der Occipital-
gegend der linken Seite. Bewusstlosigkeit im Laufe von 5—10 Min.,
1 ) Mitgetheilt in der neuropathol. und psychiatr. Geseilschaft in Moscau.
19. Nov. 1899.
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Zur Symptomatology der trophischen Storungen bei der Syringomyelie. 409
hemach leichter Schwindel. Bis znm Beginn seiner jetzigen Krankheit
fuhlte sich Pat. vollkommen gesund, gait als Herkules, ging allein anf die
B&repjagd; 22 J. alt wurde er als milit&rpflichtig einberufen, jedoch wegen
privilegirender Familienverh<nisse der Reserve zugez&hlt. Anch hier er-
regte er durch seine Gestalt Aufsehen bei den die Rekrutirung leitenden
Soldaten.
22 J. alt trat Pat. in die Ehe and hatte 5 Kinder, von denen nur 3 am
Leben sind; 2 starben in friiher Kindheit; Ursachen nnbekannt. Bis
23—24 J. fuhlte sich Pat. vollkommen gesund. Seit dieser Zeit jedoch
begann er zn bemerken, dass seine linke obere Extremist, haupts&chlich
Hand und Vorderarm, dicker warden, was besonders nach Arbeit in die
Angen del. Nach einiger Erholungspause nahm das Volnmen wieder et-
was ab; doch blieb sie constant dicker, als die recbte Extremit&t. (Patient
1st nicht linksh&ndig.) In diese Zeit verlegt Pat. anch das Auftreten von
Schw&che and Par&sthesien in dieser Extremist, sie begann zu „tauben u .
Dm dieselbe Zeit (vor 8—9 Jahren) bildete sich am Nagel des dritten
Fingers der linken Hand obne jede ersicbtliche Ursacbe eine Blase and
der Nagel del ab. Besonderen Schmerz fuhlte er nicht. An Stelle des
fruberen Nagels wucbs ein neuer, etwas deformirter, auf. Allm&hlich be¬
gann Pat. wabrzunehmen, dass die Haut der linken Handd&che in absonder-
licher Weise rauh wurde, es bildeten sich sogar Scbwielen, und in diesen
Ritzen, welche zur Bildung kleiner oberd&chlicher Abscess© fiihrten.
Der Beginn der Erkrankung des linken Schultergelenks ist mit
Sicberbeit nicht festzustellen: er gebort einer l&ngst vergangenen Zeit an,
und das, was dariiber mehr oder weniger sicber bekannt ist, beziebt sich
auf den April des Jahres 1896.
Wie dem anch sei, Pat. bemerkte schon ldngst, vor mehreren Jahren,
da88 die Beweglichkeit im Schultergelenk merklich immer mehr abnabm,
wobei jedoch weder Ver&nderungen in der dusseren Configuration, noch
irgendwie erhebliche Schmerzen zu constatiren waren.
Im April 1896 zog sich Pat., wie es scheint, eine Erk<ung zu, als
er leicbtgekleidet an einem kalten und windigen Tage im Felde arbeitete.
Am Abend zeigten sich allgemeine Schw£che, Hitze, Frost, und am fol-
genden Tage musste er das Bett hiiten von einer Infection, wahrschein-
lich typbbsen Cbarakters, ergriffen. Pat. war iiber einen Monat bettldgerig,
und als er sehon zu reconvalesciren begann, bemerkte er, dass sein linkes
Schultergelenk frappant an Umfang zugenommen hatte und die Haut fiber
demselben gespannt, beiss anzufiiblen war und hyperdmisch war. Die
Axillar- und Infraclaviculardriissen waren geschwollen. Pat. fuhlte keinen
stdrkeren Schmerz im Gelenk, doch empfand er im Gelenk eine Art
Stechen oder Stossen, welches sich zuweilen heftig steigerte. Anfangs be-
bandelte Pat. sein Gelenk mit Hausmitteln, als er jedoch keine Besserung
bemerkte, im Gegentheil das Gelenk immer mehr anschwoll, bielt er mit
seiner Behandlung inne. Die Entziindungserscheinungen begannen zuriick-
zugeben, die Gescbwulst wurde etwas kleiner, doch sein AUgemeinzustand
besserte sich nicbt, der Schwdchezustand blieb bestehen. Erst im Sep¬
tember 1896 wandte sich Pat. an drztlicbe Htilfe aus Anlass seines Gelenks.
Der Arzt bemerkte bei Untersuchung des Zustandes der Gelenke da zum
er8ten Male ein Knirschen, welches Pat. vorher niemals wahrgenommen
hatte. Im Krankenhause wurde die erste Incision in der Schultergegend
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470
XXVII. Nalbandoff
gemacht, wobei sich gegen vier Glas einer vom Arzt (nach Angabe von
Pat) als eitrig bezeicbneten Flfissigkeit entleerte. Die Operation war
eine schmerzlose. Pat blieb im Krankenhause etwas fiber eine Woche,
begab sich dann nach Hause, wo er nachher alltfiglich ans der Gelenkhfihle
eine „eitrige“ Flfissigkeit auspresste. Pat erholte sich merklich. Nach circa
drei Monaten heilte die Oeffnnng zn. Nach einiger Zeit begann das Ge-
lenk wieder zn schwellen, nnd 3—4 Monate spfiter brach es vom unter-
halb des Schlfisselbeins anf. Anfs Nene begann eine Flfissigkeit sich ans
dem Gelenke auszusondem, was nnn Monate lang anhielt nnd erst aufhfirte,
als die Oeffnnng vernarbt war. Dieses wiederholte sich im Lanfe der
Jahre 1896 nnd 97 mehrere mal, jedesmal nach einer Panse von einem Monate
oder etwas darfiber, wfihrend welcher das Gelenk sich anfs Nene fhllte.
Dabei setzte Pat. seine Beschfiftignng fort Im Jannar 1898 zog sich Pat.
wieder eine Erk<nng zn, woranf dann das Gelenk in einer Nacht heftig
anschwoll. Pat wandte sich wieder ins Krankenhaus, wo eine zweite.
grfissere Incision der Schnlter vollzogen wnrde, welcbe fast schmerzlos war;
dabei wnrde eine grosse Menge Flfissigkeit entleert Erst im September
des Jahres 1898 heilte die neugebildete Oeffnnng zn, ans welcher w&hrend
der ganzen Zeit ihres Bestehens sich Flfissigkeit, wie es scheint, serosen
Gharakters abgesondert hatte. Im Jnni—Juli gelang es Pat. zwei
Knfichelchen von sehr geringen Dimensionen, welche ans der Wnnde ragten.
heransznziehen; ans letzterer schieden sich gleichfalls sandfihnliche Kornchen
ans. Erst einen Monat spfiter, als die Wnnde verheilt war, ffillte sich
das Gelenk anfs Nene mit Inhalt. Diesmal entschloss sich Pat, selbst
zn operiren; zu diesem Behnf „durchstach“ er mit einem Messer die Ge-
schwnlst an dem Ort, wo sie am meisten flnctuirte, d. h. vorn nnterhalb des
Schlfisselbeins; der Gelenkhfihle entfloss circa 1V 2 Glas milchgelber, fibel-
riechender Flfissigkeit. Die Oeffnnng verheilte schnell. Daranf wiederholte
sich dasselbe, was frfiher vorging: das Gelenk begann sich anfs Nene zn
ffillen. In solchem Znstande gerieth Pat. zn nns. Vor drei Monaten (Ende
October 1898) verletzte sich Pat beim Beschneiden des Nagels am Danmen
der linken Hand den Finger, wobei er jedoch keinen Schmerz ffihlte.
Die Wnnde war nnbedentend nnd Pat. mass ihr keine Bedentnng zn,
setzte seine Arbeit fort nnd nnternahm nichts. Einige Zeit (circa eine
Woche) sp&ter bemerkte er, dass sein Finger zn schwellen begann, sich
rfithete und heiss anznfuhlen war. Die Schwellnng verbreitete sich all-
mfihlich anch anf die anliegenden Bezirke — die Gegend der Emin,
thenaris nnd znm Theil der Handflfiche. Schmerz nnbedentend. Nach
weiteren 1 x / 2 —2 Wochen bemerkte Pat., dass am Nagel, an der Radial-
seite, sich ein Abscess zu formiren begann; der Nagel begann sich abzn-
schalen. In der Voranssetzung, dass sich nnter dem Nagel ein Splitter be-
finde, riss Pat. einen Theil des Nagels ab, einen anderen Theil schnitt er
ab, wobei es ihm jedoch nicht gelang, ein an der Ularseite haftendes
Stiick, dessen Znsammenhang mit dem Nagelbett angenscheinlich nicht
nnterbrochen war, zn entfernen. Die ganze Operation vollzog Pat., ohne
dabei den geringsten Schmerz zn empfinden.
Knrz daranf wnrde die Hant der Badialseite des Fingers, in der
Nfihe des Nagelbetts, dfinn und es bildete sich eine Oeffnnng, ans der Eiter
sich abzusondern begann. Einige Zeit nachher achieden sich 2—3 kleine
Rnfichelchen ans..
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Zur Symptomatologie der trophischen Storungen bei der Syringomyelie. 47 1
Status praesens. Pat. von mittlerem Wuchs, breitschulterig,
macht den Eindrnck eines robnsten Menscben. Beim ersten Blick ersicht-
licb, dass seine linke Hand etwas dicker ist f als die rechte.
Beifolgend ausfahrliche Messangsresnltate:
Abstand vom Boden bis zum Scheitel (Wuchs)
1674
mm
n n
n
„ „ kusseren Gehorgang
1530
n
n n
n
„ „ Proc. acromion.
1377
” I
L&nge des Oberarms
—
1347 mm
rs n
n
„ „ Proc. olecranon
1030
- )
L&nge des Vorderarms
—
242 „
» »
11
„ „ Pr. styloid, radii
788
?1
L&nge der Hand
—
213 „
?i n
„ „ Spitze des Mittelfingers
575
L&nge des Zeigefingers
108
»»
„ ,, Mittelfingers
115
Vom Boden bis
z.
Troch. maj.
847
1
Oberschenkel
—
[ 387 „
n 11 11
?i
Epicond. ext.
460
n I
Unterschenkel
—
1 390 „
n j; »
»
Malleol. ext.
70
>1 i
L&nge des Fasses
280 „
linkerseits rechterseits
Umfang d. Oberarms maxim. (165 mm vom Acromion) 345 mm 328 mm
„ „ Yorderarm „ (150 „ „ Ellbogen) 275 „ 265 „
„ „ Hand im Niveau d. Capital, oss. metacarpi 255 „ 250 „
1 .
F. 2 . F.
3. F.
4.
F. 5.
F.
„ „ Basalphalanx rechts:
85i
mm 87mm
83 mm
77 mm 77
mm
links:
128
5 > ^4 „
90 „
81
„ 77
,, „ Nagelphalanx rechterseits:
83
,, 70 „
70 „
66
.. 63
linkerseits
125
» 73 „
73 „
68
» 68
n
links
rechts
„ „ Oberschenkels (25 cm. von
der
Sp. ant. sup) 522
mm
530
mm
,. „ Unterschenkels maxim.
387
?»
397
„ Fusses (auf d. flbhe d. Unterschenkels)
270
ii
270
i>
„ „ 1 . Fingers (Basalphalanx)
95
95
M
Halsumfang
385
»
—
Brustumfang ( auf d. H5he d. Brustwarzen) 990 „
Querdurchmesser d. Kopfes 156 mm
L&ngsdurchm. „ „ 184 „
Kopfumfang horizontal 577 „
„ vertical 385 „
„ transversal 388 „
Gesichtsl&nge von d. Haargrenze bis Kinn 177 mm
Abstand d. oberen Randes d. Schneidez&hne vom Kinn 47 „
Der Sch&del zeigt einige Formanomalien rechtsseitig deutlicher ausge-
pr>. Ganmen flach and breit. An den Ohren nichts Bemerkenswerthes.
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472
XXVII. Nalbandoff
Volamen des linken Schultergelenks bedeutend vermehrt, besonders
sagittaler Durchmesser. Vom tritt eine Schwellung hervor, welche bei
Palpation fluctuirt (periarticul&rer Abscess). Haattemperatnr an dieser
Stelle erhoht. In der Schultergegend befindet sich eine Narbe in Form
einer bogenfbrmigen Linie (Lange 115 mm), deren mittlere Partie ein-
gezogen and mit den Geweben, welche sie bedeckt, verschmolzen ist Die
Haat ist stellenweise pigmentirt, an einigen Stellen verdickt and schwer
za falten. An verschiedenen Stellen der Scholtergegend and Vorderseite
des Gelenks eingezogene Narben-Stellen friiherer Perforationen der Gelenk-
hbhle. Das snbcatane Bindegewebe zeigt vermehrtes Volamen. Das linke
Schltisselbein steht hbher als das rechte, was besonders am Acromialende
ins Ange f&llt. Bei Palpation des Gelenkes bleibt kein Zweifel, dass das
distale Ende der Spina scapulae, d. h. der Proc. acromial abgebrochen war,
sich gesenkt hat and mit den benachbarten Geweben verschmolzen ist,
was besonders deutlich bei rotatorischen Bewegangen des Oberarmbeins sich
constatiren l&sst. In der Gegend des abgebrochenen Theils der Spina ist
deatlich eine Einsenkang darchzafuhlen. Eine detaillirtere Untersuchang
des Gelenkes ist darch die Fliissigkeitsanh&ufung in demselben erschwert
Willkiirliche, sowie auch passive Bewegangen im Gelenk sind beschr&nkt;
Pat. kann den Arm nur bis Horizontallage anfheben: mechanisches Hinder-
niss. Bei Bewegangen deatliches Knirschen. Mares sind nicht durch-
zufuhlen. Axillar- and Infraclavicalardriisen vergrbssert Die Untersachung
des Gelenkes, sowie die Verdeatlichang einiger pathologischer Erscheinongen
dieses Falles verdanken wir Prof, Spisharny, welchem wir an dieser Stelle
Dank sagen. 1 ) Am linken Arm, namentlich der Streckseite, im Gebiet der
Scholter und des linken Epigastrinm befinden sich Narben von verschiedener
Grbsse — Spuren ehemaliger Blasen, Schorfe and Ambusturen. Im Bereich
der genannten Stellen ist das subcutane Bindegewebe unvergleichlich reicher
entwickelt als rechterseits: die Hautfalten mitsammt dem Unterhautgewebe
sind in diesem Gebiete viel dicker. Mit diesem Factum steht auch die bei
Besichtigung and Messang constatirte Volumenzunahme der linken oberen
Extremit&t in engem Zasammenhang.
Die linke Handflkche ist schwielig verdickt, stellenweise zeigt sie Ritzen.
Der Daumen mitsammt dem umliegenden Bezirk zeigt vermehrtes Volamen;
seine Haat ist stark gespannt, gl&nzend, trocken and roth. Abschappung
der Epidermis; Haattemperatnr erhbht. Der ganze Finger stellt eine
gleichfbrmige Masse von sehr fester Consistenz dar. Bei Druck gelingt
es nirgends, Bildnng von Griibchen hervorzurufen. Bewegangen in den
Articalationes interphalangeae fast gar nicht vorhanden. Das Nagelbett
ist entblbsst. Nageliiberrest am Grande des Nagelbetts. Am ausseren
Winkel des Nagelbetts eine Oeffnung, welche Eiter absondert. Fluctuation
ist nicht merkbar, Druck nicht schmerzhaft. Bei eingehender Unter¬
sachung der Phalangenknochen liess sich feststellen, dass sie etwas
weicher anzufohlen and bis za einem gewissen Grade biegsam waren.
Badioskopiren der linken Hand zum Zweck einer Controlirang obiger Er-
scheinangen (Anfang Febraar) bestatigte auf das Schlagendste unsere Vor-
aussetzung: wir erhielten das Bild aller Knochen der linken Hand, aos-
1 ) Pat. wurde beziiglich der Arthropathie von Pr. Spisharny in der chirurg.
Gesellsch. demonstrirt.
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Zur Symptomatology der trophischen Storungen bei der Syringomyelie. 473
genommen beide Phalangen des Daumens, welche fast ganz fehlten. Die
Badiographie gab folgendes Bild: Im Bereich der Nagelphalanx hatte der
Schatten im Allgemeinen die Form eines Dreiecks, dessen Spitze gegen
das Ende des Fingers gerichtet war. Von den beiden Seiten, welche die
Spitze des Dreiecks bildeten, schien die Ulnarseite etwas starker schattirt.
Unmittelbar nnterhalb des radialen Schenkels liess sich eine Schattirnng
in Form eines kleinen Eeils erkennen, welcher jedoch mit dem ersteren
Schatten ersichtlich nicht znsammenhing. Im Gebiet der ersten Phalanx
war nichts zn vermerken, ansgenommen deren Basis nnd einen schwach
schattirten diinnen Streifen, welcher sich vom radialen Schenkel des ge-
nannten Dreiecks zam Capitalam ossis metacarpi zieht. In der Basalgegend
der ersten Phalanx zeigte sich eine kleine, sehr nndeutliche Schattirnng.
Der erste Mittelhandknochen zeigte, mit Ausnahme des Capitnlum, dessen
Fig. 1.
Contouren undeutlich verwischt waren, keine pathologische Veranderungen.
Am dritten Finger etwas deformirter Nagel.
Nervensystem. Sehen normal. Keine Verengerung des Sehfeldes.
Pupillen gleich gross, reagiren kraftig. Kein Nystagmus. N. facialis zeigt
normale Verhaltnisse. Mm. corrngatores snpercil. sind bestandig etwas
gespannt. Znnge breit nnd knrz, bedeckt beim Heransstrecken kanm die
Mncosa der Unterlippe; weicht dabei nicht von der Mittellinie ab. Linksseitig
an der Znnge nnbedentende fibriliare Zncknngen. Weicher Ganmen normal.
Bede, Schlucken, Kanen normal. Geruch, Geschmack, Gehor normal. Be-
wegnngen von Kopf nnd Bnmpf regelrecht, von ansreichender Amplitude
nnd Starke. An den oberen Extremitaten active sowohl, als passive Be-
wegungen unbehindert nnd von geniigender Amplitude nnd Starke, aus-
genommen nnr das linke Schnltergelenk. Bechte Hand nach Dynamom.
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474
XXVII. Nalbandoff
52 Kilo, linke 50 Kilo. Im Ellenbogengelenk lasst sicli iibernormale Be-
weglichkeit constatiren. Muskelabmagerung nirgends zu constatiren. Die
noch erhaltenen Bewegungen im linken Schnltergelenk sind bis za einem
gewissen Grade geschw&cht. Die elektrische Erregbarkeit der Muskeln der
linken Scbnlterzone erwies sicli bios quantitativ etwas verringert.
Reflexe vom Biceps rechterseits vorhanden, links nicht vorhanden.
Die Bewegungen des linken Beines stehen an Kraft denen des rechten
Fig. 2.
etwas nach. Passive Bewegungen normal. Sohlen-, Achillessehnen- und
Kniereflex linkerseits lebhafter. Cremaster- und Bauchwandreflex nicht
vorhanden. Pat. klagt fiber dumpfen Schmerz in der Gegend des linken
Schultergelenkes. Nervenst&mme bei Drnck nicht schmerzhaft, nicht verdickt
Untersnchnng der Sensibilitat. Die tactile Sensibilitat ist nnr
wenig herabgesetzt, anf der linken Halfte des Kopfes, des Gesichts, des
linken Armes, der Schulter und der linken Brust- und Riickenhftlfte. Vorn
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Zur Symptom&tologie der trophlschen Storcmgen bei der Syringmoyelie. 475
geht die Grenze bis zu einer durch den Proc. xyphoideus gezogenen Linie,
hinten bis zum 10.—11. Brustwirbel. Pat. fUhlt Beriihrung deutlich,
localisirt sie richtig. Die herabgesetzte Schmerzempfindlichkeit beschr&nkt
sich anf dasselbe Gebiet, nnr ist zu bemerken, dass am ganzen Arm bis
zur Schulter hinauf (Gegend des Muse, deltoid.) namentlich an der Badial-
seite vollstandige Schmerzanasthesie herrscht. An der Ulnarseite des
Oberarmes und theilweise Vorderarmes ist Pat gegen Sticb empfindlich,
jedoch nur schwach. Im Gebiet der linken Schulter ist die Sensibilit&t
weniger herabgesetzt. Im Bereiche der linken Brust-, Mcken- und Ge-
sichtshaifte ist die Sensibilit&tsabnahme eine unbedeutende. Die Herab-
setzung der Temperaturempfindlichkeit umfasst dasselbe Gebiet. Unter-
suchung mit extremen Graden. Eine Temp, von + 45° wurde von Pat. an
der ganzen linken oberen Extremit&t als lauwarm empfunden; bei Unter-
suchung mit einer Temp, von + 5° zeigte die Extremist in denselben Grenzen
vollstandige Psychroan&sthesie. An alien anderen Stellen wurden Tempera-
turen von + 45° und -|- 5° von Pat. richtig, entsprechend als heiss und
kuhl bezeichnet, beide jedoch wurden hier weniger intensiv empfunden, als
an den gleichen Stellen der rechten Seite. Untersuchung mit mittleren
Graden: An Gesicht und Brust unterschied Pat. Temperaturdifferenzen
von 2°, an Hals und Schulter — von 5°, am Arm — 14°.
Vasomotorische Storungen. Bei herabhangenden Armen (im Laufe einiger
Zeit) nimmt die linke Hand blauliche Farbung an, welche bei Veranderung
der Lage verschwindet. Schweissabsonderung zeigt nichts Abnormes.
Psychik normal.
Innere Organe gesund. Beckenorgane in Ordnung. Temperatur normal.
Ver lauf. Pat. war in der Klinik vom 26.1. bis zum 14. IV. 99 in Behand-
lung. Schon wenige Tage nach Aufnahme in die Klinik horte d ie Eiterabsonderung
aus der Nagelphalangengegenddes linken Daumens anf und die Oeffnungvernarbte.
Der periarticulare Abscess, welcher sich urn das Schultergelenk hildete,
reifte immer mehr, die Fluctuation wurde starker und die Haut so dtinn,
dass eine kleine Incision zur Erbffnung des Abscesses genugte. Letztere
wurde am 2. II. von Prof. Spisharny ausgeftihrt. Aus der Abscesshbhle
entleerte sich gegen 2 Glas serbs-eitriger Fliissigkeit ohne Geruch und mit
einer grossen Menge fibrinbser Gerinnsel. Die mikroskopische Unter¬
suchung derselhen ergab eine geringe Anzahl Streptokokken. Gelegent-
liches Sondiren der Hbhle ergab Folgendes: Die Abscesshbhle communicirte
mit der Gelenkskapselhohle, so dass nach einigen Manipulationen die Sonde
ungehindert in die letztere gerath. Bei Untersuchung der Gelenkhbhle,
deren Umfang sich als bedeutend vermindert erwies, gleitet die Sonde nir-
gends iiber eine glatte Fiache, wie sie dem Gelenk eigen ist, sondern
stosst iiberall auf Hindernisse in Gestalt kleiner sackformiger Vertiefungen.
Weder freiliegende Kbrper, noch Entblbssung des Knochens waren dabei
zu constatiren. In Snmma blieb kein Zweifel iibrig, dass sowohl die
ganze Gelenkkapsel, als auch die letztere umgebenden Gewebe bedeutend
verdickt waren, und zwar durch in grosser Menge gewuchertes Bindegewebe.
Untersuchung sowie Incision waren vollig schmerzlos; doch die Sonde wurde
von Pat. hei Untersuchung des Gelenks gefuhlt. Der angelegte Verhand war
gegen Abend durchnasst und wurde gewechselt. Temperatur nicht erhoht.
8 . II. Verband abgenommen. Die Schnittstelle war ganz ohne Eiterung
zugeheilt.
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476
XXVU. Nalbandoff
14. II. Zur Controlirung der fiber den Znstand der Phalangenknochen
des Danmens mittelst Badiographie erhaltenen Aufechliisse wurde von Prof.
Spisharny im Gebiete der I. Phalanx des genannten Fingers eine nahezn
perforirende Punction ausgeflihrt. Die Nadel drang nnbehindert dnrch die
Hant nnd das hinter derselben gelegene Gewebe, stiess dann auf ein leichtes
Hinderniss in der Knochensnbstanz der Phalanx, welches sich jedoch bei ge-
ringer Anstrengong seitens des Operirenden ohne Miihe iiberwinden liess.
So bohrte sich die Nadel immer tiefer in die Knochensnbstanz nnd drang
schliesslich ohne erhebliches Hinderniss bis znr Volarseite der Phalanx vor.
Damit war die Bestfttigung erlangt, dass wir es in der That nicht mit Knochen,
sondem einem an dieser Stelle von Kalksalzen freien Gewebe (wenn anch viel-
leicht nicht vollkommen) zn thnn hatten. Die ganze Operation war fiir Pat.
absolnt schmerzlos. Finger verbnnden.
16. II. An den linken Danmen elastischer Verband angelegt Diese Be-
handlnng wurde einen Monat lang fortgesetzt, dann aber unterbrochen, als es sich
erwie8 y dass nnter dem Verbande kleine Ulcerationen sich zn bilden begannen.
Theils nnter dem Einflnss dieser Maassregel, theils wohl anch im Zusam-
menhang mit der Bessernng im Allgemeinznstande des Kranken nahm der
Danmen merklich an Umfang ab, so dass eine am 2. VI. angestellte Messnng
filr die I. Phalanx 115 mm, fiir die II. 100 mm ergab.
Von Zeit zn Zeit wurde der Danmen palpatorisch untersucht, wobei
es sich zeigte, dass die bei den ersten Untersnchnngen constatirte Biegsam-
keit des Knochens allm&hlich zn schwinden nnd die Phalangenknochen
Festigkeit zn gewinnen anfingen.
10./IV. wurde die zweite Badiographie abgenommen, welche Folgendes
ergab: Die Schatten im Gebiete beider Phalangen des linken Danmens waren
diesmal ganz eigenartig vertheilt. Das schattirte Dreieck, welches in der
ersten Badiographie kanm angedeutet war nnd der Nagelphalanx des
Danmens entspricht, trat hier dentlich hervor. Die Knochensnbstanz der
Nagelphalanx zeigte sich beim Vergleich mit dem entsprechenden Abschnitt
der rechten Hand ersichtlich hyperplasirt. Vor dem Schattendreieck, ent-
sprechend dem distalen Ende des Nagelphalangenknochens, war ein Schatten
mit nndentlichen Contouren zn sehen. Hinter dem Dreieck, an der Stelle
der Articnlatio interphalangea, ging der Schatten fast nnunterbrochen ins
Gebiet des ersten Phalangenknochens fiber. Hier legten sich die Schatten,
wenn anch im Ganzen an die Form der ersten Phalanx erinnernd, ausserst
wnnderlich. An der Ulnarseite der Phalanx, dicht an deren Basis, starrten
zwei stalactitenartig schattirte Vorsprfinge, welche iibereinander gelegen,
gegen das Capitnlnm des Mittelhandknochens herabhingen. Innerhalb des
dem Knochen selbst entsprechenden Schattens war an der Badialseite der
Phalanx eine dunklere ringfbrmige Schattimng zn sehen, welche an eine Auf-
treibnng des Knochens erinnerte. Das Capitnlnm des Os metacarpi war jetzt
dentlich nnd scharf begrenzt. Anch die Articnlatio metacorpo-phalangea war
zn sehen.
Wahrend der ganzen Zeit seines Anfenthaltes in der Klinik klagt Pat.
fast bestftndig hber dumpfen Schmerz in der Schultergelenkgegend, woran
er anch zn Hause litt. Wichtig ist der von Pat. selbst constatirte Um-
stand, dass sein Schultergelenk die ganzen 2 ] l 2 - Monate, die er in der
Klinik verbrachte, an Umfang nicht znnahm. r Zu Hause h&tte sich in
dieser Zeit wohl schon etliche Male aus dem Gelenk Flhssigkeit entfernt 4 * —
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Zur Symptomatology der trophischen Stbrungen bei der Syringomyelie. 477
ausserte sich Pat — Dass sicb dieses in der That so verb alt, dafnr kann
ein unl&ngst eingetroffener Brief von ihm als Bestatigong dienen. Pat.
schreibt, dass er kaum seine gewohnliche Banernarbeit wieder anfgenommen
hatte, als das Gelenk wieder zn schwellen begann, nnd einen Monat nach-
her (um den 10. April) dnrchstach er bereits eigenh&ndig die Geschwulst
mit einem Nagel. Ausfluss ans dem Gelenk, schreibt Pat, dauert noch
fort (der Brief ist vom 1. September datirt).
Fig. 3.
Tkerapie. In der Klinik beschr&nkte sich die Behandlung aufHaut-
reize, wie spaniscbe Fliegen, Cauterisation. Innerlich Natr. jodat. Ausser
Besserung des Allgemeinzustandes und subjectiven Wohlbefindens waren
im Zustande des Kranken keine Ver&nderungen zu constatiren.
Indem wir nun zur Analyse des gegebenen Falles iibergehen, ge-
denken wir keineswegs alle interessanten Einzelheiten desselben ins
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478
XXVII. N ALB AN DOFF
Auge zu fassen. Die Besprecbung des Gelenkleidens unterlassen wir
ganz in der Absicht, dasselbe in einer besonderen Arbeit za erSrtern,
beschranken uns also auf den Hinweis, dass unser Patient einen Fail
von Macrosomia totalis darstellt.
Der Schwerpunkt unserer Mittheilung ist der Process am Daumen
der linken Hand. Wir haben hier einen Fall volligen Verschwindens
der Kalksalze aus den Knochen der Daumenphalangen vor uns, das
sowohl klinisch, als radioskopisch constatirt ist; dann aber deren all-
mahliche Wiederumbildung in osteoides Gewebe, welches jedoch un-
regelmassig und fiberschttssig abgelagert ist. Womit haben wir es non
hier zu thun und wie ist dieser ganze Process zu erklaren?
Pathologische Process© in den Knochen, welche mit einem Ver-
schwinden der Salze aus den letzteren einhergehen, ftihren in der Patho-
logie den Namen Halesteresis. Dieser Process wird bei den verschiedenen
Krankheitsformen in hoherem oder geringerem Grade angetroffen,
am deutlichsten ist er jedoch bei der Osteomalacie ausgesprochen.
Nach den jlingsten Arbeiten fiber diese Krankheitsform zu urtheilen
(vergl. Vierordt, in dem Sammelwerke von Nothnagel) sind die
Anschauungen fiber die pathologische Anatomie der Osteomalacie als
noch nicht ganz feststehend zu betrachten.
Doch wollen wir zwei Momente dieser Krankheit naher ins Auge
fassen: das Bild ihrer hochgradigsten Entwicklung und das Stadium der
Regeneration in relativ schwach ausgepragten Fallen von Osteomalacie.
Es gilt als Regel, dass in Fallen hochgradiger Osteomalacie die
aussere Rindenschicht des Knochens sebr lange dem Erweichungs-
process Widerstand leistet, wobei sich um denselben eine dfinne, feste
Schale bildet. Wenn der Process noch weiter geht, so „wird die er-
weichte, gallertartige Innenmasse im Wesentlichen vom verdickten Periost
wie in einem hautigen Sack zusammengehalten“, (Vierordt).
Bei diesem Zustande kann von einer Regeneration des Knochens
natfirlich nicht die Rede sein.
Regeneration des Knochens tritt gewohnlich bei Stillstand des
Krankheitsprocesses ein, in Fallen, wo er relativ schwach ausgepragt ist,
und vollzieht sich selbstverstandlich in den am meisten afficirten
Theilen, d. h. in den centralen, regelrecht, wobei sich jedoch ein weit
compacteres und festeres Gewebe bildet als bei normalen Verhaitnissen.
Was sehen wir bei unserem Kranken?
Der Krankheitsprocess, welcher, nach der Radiographie zu ur-
theileu, in fast volliger Entkalkung der Phalangenknochen seinen
Ausdruck gefunden, war in diesem Falle zu weit vorgeschritten, bis
hart an die Grenze, jenseits welcher keine Regeneration der ge-
schwundenen Knochensubstanz mehr eintritt; nichtsdestoweniger tritt
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Zur Symptomatology der trophischen St5rungen bei der Syringomyelic. 479
ein Moment ein, wo in das osteoide Gewebe sich Kalk einzulagem
beginnt, doch ist die Ablagerung eine irregulare: sie geht von der
Peripherie aus und fuhrt zu dberschiissiger Knochenbildung.
Die Zusammenstellung dieser Facta macht die Diagnose einer
klassischen Osteomalacie in unserem Falle unzulassig. Wir hatten
einen wenig bekannten, eigenartigen Process vor uns, welcher der
Osteomalacie nur annahernd ahnlich sah.
Da ich nicht die Moglichkeit habe, Ihnen zum Vergleich von
Osteomalacie afficirte Knochen zu prasentiren, will ich mich darauf
beschranken die von Gocht in seinem Leitfaden der Radioskopie ge-
machte Beschreibung von Photographien anzufiihren. Letzterer be-
schreibt in Ktirze eine Radiographic des oberen Endes vom Ober-
schenkelbein eines an Osteomalacie gestorbenen Kranken. Die histo-
logisch-anatomische Untersuchung ergab eine tiefgreifende Veranderung
des Knochen; fast vollige Zerstorung desselben im Centrum und Zer-
fall des compacten peripherischen Theils in einzelne dunne Fasem.
Beim Radiographiren gab dieser Knochen keinen Schatten. Ein zweiter
Fall von Radioskopie der Knochen bei Osteomalacie gehort GobeL
Letzterer verfolgte dabei den Zweck einer Untersuchung der Callus-
bildung und des Zustandes der Bruchenden bei einer Kranken, welche
im Laufe von 5 Jahren zehn Fracturen der oberen Extremitaten liber-
standen hatte und ersichtlich an Osteomalacie liti Zum Erstaunen
des Autors gab der Knochen keinen Schatten, wahrend in den librigen
Knochen der oberen Extremitaten eine ausserst originelle Vertheilung
der Schatten zu beobachten war: beschattet erwiesen sich nur die
peripheren Theile der Knochen, und auch diese ungleich schwacher, als
bei normalen Verhaltnissen; das Centrum war vollkommen hell. Leider
ist dieser Fall ausserst kurz beschrieben.
Die zweite Frage, welche wir uns vorlegten, war die nach der
Entstehung des Processes.
Aus der Anamnese war bekannt, dass dem Verschwinden der
Kalksalze aus den Knochenphalangen Abscessbildung in denselben
und consecutive phlegmonose Entzlindung vorhergegangen waren.
Diese Umstande liessen einen Zusammenhang zwischen den beiden Er-
scheinungen vermuthen.
Das Studium der pathologischen Anatomie der chronischen ent-
zlindlichen Processe in den Knochen, sowie der Radiographien dieser
Processe, welche uns von Dr. Sabaschnikoff in liebenswiirdigster
Weise zur Verfligung gestellt waren, gaben jedoch ein negatives
Resultai Bei alien chronischen Processen destruirt gewohnlich der
Krankheidsherd das afficirte Gebiet mit Bildung eines Knochen-
geschwlirs Oder Knochenfrasses, neben welchem Schwund der Knochen-
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480
XXVII. Nalbandoff
substanz, Osteoporose, sich vollzieht. Die Radiographie eines solchen
Processes giebt ein vollkommen mit demselben ttbeinstimmendes Bild.
Eine zweite Vermuthung, welche sich uns aufdrangte, war fol-
gende: Ob nicht die chronische phlegmonose Entzlindung bei den an
Syringomyelie Leidenden einen eigenartigen Verlauf nimmt, wobei das
Krankheitsbild entsteht, welches wir bei unserem Kranken constatiren?
Aber auch diese Voraussetzung bestatigte sich nicht.
Aus der Praparatencollection der chirurgischen Hospitalklinik von
Prof. L. L. Lewschin hatte ich dank seiner freundlichen Erlaubniss
die Moglichkeit, die aputirte obere Extremitat einer Kranken, bei
welcher wir Syringomyelie diagnosticirt hatten, zu erhalten. Patientin
wurde mit ausgedehnter phlegmonoser Entztindung der Hand, tief-
greifender Zerstorung der Articulatio brachio-carpea, Nekrose der
Carpalknochen und einer Masse Fistelgange in die Klinik aufge-
nommen. Der Process zog sich schmerzlos an die drei Monate hin.
Die Radiographie der amputirten Extremitat, welche Dr. Sawosfc-
janoff so liebenswtirdig war abzunehmen, gab folgendes Bild: Tief-
gehende Zerstdrung des Brachio-Carpalgelenks und der Carpalknochen.
Die Contouren der Gelenkenden an den Vorderarmknochen er-
schienen auffallend verandert, wie zerfressen. Die Contouren der
Knochen des Carpus, mit Ausnahme von zweien, welche ihrer Lage
nach dem Os triquetrum und dem Os pisiforme entsprachen, waren in
einem Gesammtschatten, der sich jedoch von dem Schatten der weichen
Gewebe abhob, verschmolzen. Ein ebensolcher verschwimmender
Schatten liess sich in der Basalgegend der Metacarpusknochen con¬
statiren, wobei jedoch nicht bios die Contouren, sondem auch die
Knochen selbst zu unterscheiden waren. Kurz, an den Basalenden
der Ossa metacarpi hatten wir es nicht mit einem volligen Ver-
schwinden der Kalksalze aus den Knochen, sondern mit einer Osteo¬
porose zu thun ; welche augenscheinlich mit dem phlegmonosen Process
in Zusammenhang steht. Der Schatten des Os triquetrum und des Os
pisiforme ist ein recht intensiver. *)
Die Betrachtung des anatomischen Praparats best&tigte aufs Beste
alles, was wir an der Radiographie constatirt hatten: das Brachio-
carpalgelenk war stark destruirt und bildete eine mit Eiter und Ge-
websdetrit geftillte Hohle. Die Gelenkenden der Vorderarmknochen
waren des Knorpels beraubt und zeigten eine rauhe, unebene Flache.
In die Geschwiirshohle ragte von der Seite der Metacarpalknochen ein
entblosstes und augenscheinlich nekrotisirtes Knochelchen hinein —
das Os triquetrum, welches, kaum angertihrt, herausfiel, also mit den
1) Die Radiographie wurde in der Gesellschaft demonstrirt.
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Zur Symptomatology der trophischen Storungen bei der Syringomyelie. 481
anterliegenden Geweben ganz und gar nicht zusammenhing. Unter
diesem Knochelchen befand sich das rareficirte Os pisiforme. Die
iibrigen Knochen der ersten Reihe des Metacarpus waren nicht vor-
handen. Von den Knochen der zweiten Reihe des Metacarpus hatte
am meisten das Os multangulum majus gelitten. Von demselben war
nur das mit dem ersten Metacarpalknochen in Gelenkverbindung be-
findliche Sttick erhalten. Das Gelenk war erhalten, obgleich es ersicht-
lich gelitten hatte: starke Trtibung des Knorpels. Die des Knorpels be-
raubten und rareficirten Os multangulum minus, capitatum et hamatum
liegen frei in der Hohle des Brachio-carpalgelenks. Ihre gegen die
Knochen des Metacarpus gerichteten Gelenkflachen sind statt des
Knorpels mit Eiter und Detritus des nekrotisirten Knorpelgewebes be-
deckt. Dasselbe muss von den (carpo-metacarpalen) Gelenkflachen der
vier letzten Mittelhandknochen gesagt werden. Die Basen der Mittel-
handknochen erscheinen rareficirt, jedoch in geringerem Grade, als die
erhaltenen Knochen der Handwurzel.
So konnten wir denn, auf dem letzten Falle basirend, bei unserem
Kranken zwei Erscheinungen: die vorhergegangene phlegmonose Ent-
zflndung und den an den Knochen der Phalangen w&hrend seines
Aufenthaltes in der Klinik beobachteten Process, durchaus nicht mit
einander in Zusammenhang bringen. Der letztere Process war allem
Anschein nach als ein isolirter aufzufassen; auch wenn er, was ja
schliesslich moglich ist, mit dem vorhergegangenen phlegmonosen
Process zusammenhing, so war jedenfalls dieser Zusammenhang ein
entfernter, mittelbarer, reflektorischer.
Den Versuch einer exacten Erklarung der von uns beobachteten
Erscheinungen mflssen wir aufgeben und uns auf einige diesbezugliche
Erwagungen beschranken, welche uns mehr oder weniger annehmlich
erscheinen. Im Jahre 1895 erschien im Archiv flir Physiologie eine
Arbeit von Hallion et Comte, in welcher sie von der Veranderung
des Blutumlaufs in den Hautcapillaren unter dem Einfluss aller mog-
lichen Reize Mittheilung machen und eine auffallende Umkehrung der
gewohnlichen Reaction der Gefasse bei einigen Fallen von Syrin¬
gomyelie anflihren. Wahrend normal auf Hautreize die peripherischen
Gefasse mit Contraction reagiren, wird bei einigen Fallen von Syrin¬
gomyelie das Entgegengesetzte — Dilatation der Gefasse — beob-
achtet. Eine solche Storung lasst sich nach Ansicht der Autoren
durch Erkrankung des reflectorischen vasomotorischen Bogens an der
einen oder anderen Stelle desselben erklaren. Er fragt sich nun, ob
wir nicht in unserem Falle dasselbe haben? Zweifellos handelt es sich
bei unserem Kranken gleichfalls um eine deutlich ausgepragte Be-
theiligung der Vasomotoren an dem Process, und zwar der Vaso-
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482 XXVII. Nalbandoff, Zur Symptom a t ologie der trophischen Storungen etc.
motoren, welche eine vermehrte Blutzufuhr sichern; daffir sprachen, ausser
der myxodematosen Anschwellung des Fingers, dieErscheinungenerhohter
Hauttemperatur. Unter solchen Umstanden diirfte es von Interesse sein,
eine Hypothese zu erwahnen, welche zur Erklarung der Entstehung von
Osteomalacieangeflihrtwird,derHypothese vonRin dfleisch, welcher das
Verschwinden derKalksalze aus denKnochen mit einer vermehrten Blut-
ansammlung in dem Venensystem des Knochens in Verbindung stellt, wo-
durch iiberschtissigeKohlensaure producirt wird, welche dieKalksalze I5st.
Zum Schluss wollen wir noch ein paar Worte ilber das Interesse
dieses Falles beiftigen. Von den Processen in den Knochen, welche bei
Syringomyelie spontane Fracturen und Arthropathien bedingen, ist
uns nur wenig bekannt. Wie ist es zu verstehen, dass nach Fractur
einer Extremitat, welche bei einer ganz gewohnlichen Bewegung ein-
trat, sich, freilich nach langerer Zeit als normal, an der Bruchstelle
Callusbildung vollzieht, welche den Bruch vollkommen consolidirt.
Wie ist der Widerspruch zu Ibsen, der im Vorhandensein zweier
Processe in demselben Knochentheil — der Brlichigkeit und der con-
solidirenden, mehr als ausreiGhenden Callusbildung — steckt? Wir
glauben, dass unser Fall bis zu einem gewissen Grade die intime
Seite der pathologischen Processe, welche sich bei Syringomyelie in
den Knochen abspielen, beleuchtet und den Weg zu einem wenigstens
aunahemden Verstandniss des obengenannten Widerspruchs andeutet
Der bei spontanen Knochenbrtichen bei Tabes von Regnard mittelst
chemischer Analyse bewiesene Zustand von Osteomalacie entspricht
dem, was wir an der ersten Radiographie bei unserem Kranken sehen.
Die zweite Radiographie entspricht der ttberschtissigen unregelmassigen
Knochensubstanzproduction, wie sie bei der Callusbildung sich vollzieht
Es ist mir eine angenehme Pflicht, Herrn Prof. A. Koshewnikoff.
fUr die Erlaubniss, den gegebenen Fall zu benutzen, meinen tiefge-
fiihlten Dank auszusprechen.
Literatur.
As tie. Le thorax en bateau de la Syriugomyelie. Th&se de Paris 1897.
Gobel, Osteomalacie mittels Rontgenstrahlen zu diagnosticiren. Deut. med.
Woch. 1897. Nr. 17.
Gocht, Lehrbuch der Rontgenuntersucliung. Stuttgart 1898.
Hanot, Osteomalacie. Lehrbuch d.Patholog.undTherapie v.Brouardel(Rus.). 1S9S.
Hal lion et Comte, Sur les reflexes vaso-moteurs bulbo-medullaires dans
quelques moladies nerveuses. Arch, de phys. norm et path. 1898. N. 1.
Marinesco, G. Main succulente et atrophie musculaire dans la syring. Thfes*
de Paris. 1897.
Regnard, Note sur la composition chimique des os dans l’arthropathie des
ataxiques. Gazette medicale de Paris. 1S80. N. 6.
Vierordt, Rhachitis und Osteomalacie. Spec. Pathol, et Therap. von Nothnagel
Wien 1896.
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XXVIII.
Aus der Abtheilung flir Nervenkranke von Dr. Bregman im israelitischen
Spital in Warschau.
Znr Klinik der Akromegalie.
Von
Dr. med. L. E. Bregman,
Primararzt.
(Mit 2 Abbildungen.)
In der neurologischen Literatur des letzten Jahrzehnts nimmt die
Akromegalie einen hervorragenden Platz ein. Noch mehr, als bei
anderen neu entdeckten Krankheitszustanden wachst hier in rascher
Folge die Zahl der publicirten Einzelbeobachtungen. Die im Jahre 1897
erschienene ausgezeichnete Monographic von Sternberg *) stlitzte sich
auf 210 Falle, in den folgenden zwei Jahren sind zum Mindesten je
weitere 20—30 Falle beschrieben worden. Es hat dies wohl weniger
in der Haufigkeit der Krankheit seine Begrtindnng, die Akromegalie
gehort sicher zu den seltener vorkommenden Erkrankungen, als in
dem Umstande, dass ihre Diagnose, sobald sie einmal den Aerzten als
besondere neurologische Form bekannt geworden war, Angesichts
der auffalligen ausseren Erscheinungen ungemein leicht wurde. Wir
konnen wohl annehmen, dass ein grosser Bruchtheil aller vorkommen-
den Falle zur Veroffentlichung gelangt, um so mehr, als das Leiden dank
seiner Seltenheit nnd MerkwtLrdigkeit das allgemeine Interesse in
hohem Maasse zu fesseln im Stande ist und — trotz der so vielfachen
Bearbeitung — Vieles daran noch rathselhaft geblieben ist
Die erste Frage, die sich allerseits aufdrangt, ist die nach dem
Zusammenhang der abnormen Wachsthumsvorgange mit
einer Erkrankung der Hypophysis 1 ) cerebri. Wahrend einer-
seits die sich mehrenden Obductionsfalle mit einer nahezu stereotypen
Regelmassigkeit Veranderungen der genannten Drftse aufweisen, werden
andererseits mancherlei Bedenken gegen einen directen causalen Zu¬
sammenhang geaussert Es werden zunachst die nicht gar so spar-
1) Stern burg, M., Die Akromagalie. Specielle Pathologie und Therapie
von H. Nothnagel. Bd. VH. 2. Halfte.
Deutsche Zeitschr. f. NervenheilkuDde. XVII. Bd. 32
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484
XXVIII. Breoman
lichen Falle angefuhrt, wo trotz des Bestehens von Hypophysisver-
anderungen kein akromegalisches Wachsthum eingetreten war (Wolf,
Bryce-Baedles, Packard, Handford, Levy, Burr, Hunter
u. A.). Falls eine Storung der Drtise wirklich die Ursache der abnormen
Grossenzunahme der Korperrenden ausmacht, ist das Vorkommen der-
artiger Falle schwer zu begreifen, um so mehr, als in der Mehrzahl
derselben die Erkrankung der Hypophysis weder der In- noch der
Extensitat nach hinter den bei Akromegalie gefundenen Veranderungen
zurttckblieb und als auch die Qualitat der Erkrankung nichts fur
Akromegalie Specifisches bietet, Es sollen ferner die Falle Bertick-
sichtigung finden — hierher gehort auch der weiter unten zu be-
schreibendeFall—, in denen irgend welche fur einen Hypophysis-
tumor charakteristischen Symptome (Symptome des gesteigerten
Hirndrucks, Chiasmasymptome) im klinischen Bilde vollkommen
fehlten. Es ware freilich nicht begrlindet, daraus den Schluss zu
ziehen, dass die Hypophysis normal geblieben sei, denn es kann, wie
z. B. im Falle von Linsmayer 1 ) die Drtise erkrankt und dennoch
nicht vergrossert sein, oder, wie Sternberg betont, der Tumor wachst
in einer derartigen Richtung, nach unten in die Keilbeinh5hle, dass er
weder allgemeinen Hirndruck, noch speciell einen Druck auf das
Chiasma auszutiben vermag. Immerhin wirkt aber ein derartiger
mangelhafter Parallismus zwischen der Akromegalie und den Symptomen
eines Hypophysistumors, sowie auch das nicht selten zu beobachtende zeit-
liche Vorangehen der Wachsthumsstorungen, worauf Striimpell 2 )
aufmerksam macht, mit Bezug auf das vorausgesetzte Causalitatsver-
haltniss wenig uberzeugend und es ist die vom letztgenannten Autor
ausgesprochene Meinung, dass es sich hierbei vielmehr um coordinirte Er-
scheinungen handele, sehrwohl zuberticksichtigen. Die eigentlicheUrsache
der Akromegalie bildet nach Striimpell eine abnorme endogene
Veranlagung des Korpers, welche einerseits zu den pathologischen
Wachsthumsvorgangen und zur Veranderung der Hypophysis, anderer-
seits aber zu mancherlei constitutionellen Anomalien (Glykosurie,
sexuelle Storungen) fiihrt. Ob diese abnorme Veranlagung direct in
die Gewebe, oder in die Korpersafte, oder etwa in das Nervensystem,
den in der Trophik des Korpers die leitende Rolle flihrenden Theil,
zu verlegen ist ; dartiber aussert sich Striimpell nicht. Die letztere
Moglichkeit dtinkt uns als die wahrscheinlichste, zumal ja auch die
begleitenden Symptome, sowohl die Glykosurie als die sexuellen
(1 Linsmayer, L., Ein Fall von Akromagalie. Wiener klinische Wochen-
schrift. 1894. S. 294.
2) Striimpell, Ein Beitrag zur Pathologie nnd pathologischen Anatomic
der Akromegalie. Deutsche Zeitschrift fur Nervenheilkunde. Bd. XL S. 51.
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Zur Klinik dor Akromegalie.
485
Storungen, gleichfalls von Veranderungen des Centralnervensystems
abhangig sein konnen. Ob die in manchen Fallen — so auch in dem
weiter unten folgenden — neben dem abnormen Grossenwachsthum
beobachtete Muskelatrophie spinalen Ursprunges, oder, wie Manche
wollen, interstitiell-neuritischen Ursprunges ist, ist noch nicht ent-
8cbieden, die erstere Annahme ist f&r uns die wahrscheinlichere.
Bevor wir jedoch auf weitere Einzelheiten eingehen, moge die
Bescbreibung des von uns beobachteten Falles, der mir die Veran-
lassung zu den obigen Ausffthrungen gab, folgen.
Jos. Ossia, 44 J. alt, wurde am 28. VII. 99 auf die Nervenabtheilung
aufgenommen.
Der Vater des Pat., 64 J. alt, ist bis auf rheumatiscbe Knie-
schmerzen vollkommeu gesund. Die Mutter leidet an Durchfall. Von
8 Geschwistern — 5 Tbchter, 3 Sohne — ist Pat. der Reihe nach der
zweite. Seine um 2 Jahre jiingere Schwester hat seit jeher sehr dicke
Daumen, im Uebrigen ist sie gesund, sie ist von niedrigem Wuchs.
Pat. entwickelte sich als Kind vollkommen gut, lernte fleissig. Auch
bei ihm waren beide Daumen, ahnlich wie bei seiner Schwester, von der
Kindheit auf nngewohnlich gross und dick. Mit 18 Jahren trat er als
Arbeiter in eine Weberei ein und hatte mit dem linken Fusse eine schwere
Maschine in Bewegung zu setzen; in Folge dessen bekam er nach
l 1 ^ Jahren starke und sehr hartn&kige Schmerzen in der linken Ges&ss-
haifte. Trotzdem er die Fabrik verlassen hatte, dauerte es circa 2 Jahre,
bis er seine Gesundheit zuriickgewann. Vor 5—6 Jahren begab sich Pat.
nach Amerika; er hatte daselbst als Colporteur schwere Lasten — bis
zu 3 Pud — auf der linken Schulter zu tragen und musste nicht selten
damit belastet auf hohe Berge steigen. Schon bald fuhlte er sich durch
diese Beschaftigung sehr geschw&cht und nach 2 Jahren, als er sail, dass
er ihr nicht gewachsen sei, ging er wieder nach Europa zuruck. Er hatte
sich in dieser Zeit so sehr ver&ndert, dass seine Frau ihn nicht wieder er-
kannte. Seine Gesundheit hat er seitdem nicht wieder erlangt, die allge-
meine Kftrperschw&che schritt allmahlich weiter, jetzt ist fur ihn sogar
l&ngeres Gehen beschwerlich: er empfindet dabei Athembeschwerden sowie
Schmerzen in den Leisten. Die linke Kbrperhaifte ist vom Beginne
und auch jetzt in hoherem Grade geschwftcht. Seine Potenz nahm in
den letzten Jahren erheblich ab. Schon seit langerer Zeit wird Pat. durch
starken Durst gequalt, vermag aber nicht bestimmter das Auftreten dieses
Symptoms anzugeben. Die Vergrbsserung seiner Hande und Fiisse
habe noch vor seiner Reise nach Amerika, vor circa 10—12 Jahren
begonnen. Vor einem Jahr trat plotzlich, ohne irgend eine bekannte Ur-
sache, eine Anschwellung in der Umgebnng des rechten Auges
auf; dieselbe war schmerzlos, dauerte circa 2 Wocben. Die Untersuchung
seines Harns, vor 4 Monaten zum ersten Mai ausgeftihrt, ergab einen be-
deutenden Zuckergehalt. Vor 1 Monat ging seine Sehkraft rapid zu-
riick. Trotz aller Symptome war Pat. bis zuletzt als Waldh&ndler be-
schaftigt, verblieb fast immer ausserhalb des Hanses, ernahrte sich unzweck-
massig und war den ungiinstigsten Wetterverhalt-nissen ausgesetzt.
Pat. raucht viel, trank Schnaps und Bier in massiger Quantitat, seit
32*
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486
XXVIII. Breeman
einigen Monaten aber auf Befehl der Aerzte nicht mehr. Seit der Ent-
deckung von Zncker im Harn, antidiabetisches Regime (nicht ganz stricte).
Heine venerische Erkrankung, kein Trauma, vom Militardienst befreit gewesen.
Seine Frau gebar 3 S5hne: der alteste, 14 Jahre alt, ist mager, aber
gesund. Der zweite starb vor 1 Jahr an Typhus, war gleichfalls mager, aber
gut entwickelt und gesund. Der jiingste, 4 Jahre alt (geboren schon
nach der Riickkehr aus Amerika) ist ein kraftiger, gut entwickelter Knabe
mit ebensolchen grossen
Daumen, wie sie der Vater
hat, auch soli bei ihm schon
lange grosser Durst bestehen.
(Leider war es mir nicht m6g-
lich, den Knaben zu Gesicht zu
bekommen, da Pat. aus einem
entfernten Orte im Gouver-
nement Grodno stammt).
Status praesens. Pat.
ist vom krafdgem Korperbau,
anscheinend guter Emahrung.
Kbrperlange 171 cm, K5r-
pergewicht 210 Pfund (rus-
sische). Auf den ersten Blick
fallt die ungewohnliche
Grbsse des Gesichts, der
Hande und Fusse auf. Im
Gegensatz zum vergrbsserten
Gesicht ist die Stirn niedrig
und schmal, mit stark ausge-
pragten (auch in der Ruhe),
schrag nach oben und links
verlaufenden Falten. Gesicht
ausdruckslos, schlaff, Blick
triibe; die linke Lidsp<e
weiter als die rechte; Lage
der Bulbi normal. Im rechten
oberen Lid ein kleines har-
tes Geschwulstchen (Fibrom?).
Augenbrauenbbgen stark
hervorgewblbt; die Augen-
brauen stehen (in der Ruhe)
sehr hoch, senken sich bedeu-
tend beim Zusammenziehen,
wobei sich auch die Stirn
glattet. Augenbewegungen normal, keine Diplopie. Sehscharfe sehr ver-
mindert, besonders rechts, kann nur mit Mtihe die allergrossten Buchstaben
in nachster Nahe lesen. Pupillen gleich, mittelweit, reagiren gut auf Licht,
sowohl direct als auch consensuell, bei der Accomadotion verengt sich die
linke besser. Gesichtsfeld normaL
Die Nase ist unfbrmig verdickt, besonders an der Basis sehr breit,
aber auch der Nasenriicken stark verbreitert. Die Jochbeinbbgen treten
Fig. 1.
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Zur Klinik der Akromegalie.
4S7
sehr vor, die Gegend des Oberkiefers erscheint daher eher eingezogen, die
Haut liegt hier gut dem Knochen an. Die Ohren nicht vergrbssert,
aber stark abstehend. Der Unterkiefer sehr vergrbssert, verdickt und
nach vorne vorragend. Die Lippen dick, gleichsam ektropionirt so dass
sowohl an der oberen als an der unteren das Lippenroth zu seben ist.
Die Unterlippe scheint etwas vorzustehen.
Die Zunge im Ganzen nicht bedeutend vergrbssert, weicht mit der
Spitze stark nach links ab; die linke Zungenh&lfte hochgradig atro-
pbisch mit tiefen Quer- und L&ngsfarchen und starkem fibrill&ren Zittern;
die Oberfl&che der Zunge auf der linken Seite trockener Und rbtber
als rechts.
Die Z&hne wurden seit drei Jabren scblecht, fielen yon selbst heraus
oder liessen sich mit Leicbtigkeit und schmerzlos herausziehen. Die
untere Zahnreihe steht urn einige mm yor der oberen. Zahnfleisch
atrophisch, derartig, dass die Wurzeln mancher Z&hne sichtbar werden.
Einige Zbbne wackeln.
Pat. bffnet und schliesst den Mund, zeigt die Z&hne gut, zu pfeifen ist
er nicht im Stande. Das Gehbr auf dem linken Ohre etwas schlechter als
auf dem rechten: Uhr links in 2 cm, rechts in 12 cm Entfernuiig.
Gaumen, Rachen normal. Schlucken gut. Pat. klagt fiber Trocken-
heit im Munde und im Halse. Seine Stimme ist laut, rauh, wie
heiser.
Der Kopf leicht nach vorne geneigt, scheinbar zwischen die Schultern
eingedriickt. Der Hals sehr kurz. Der Brustkasten sehr gross, sowohl
im frontalen als auch im sagittalen Durchmesser, nach unten zu verbreitert
er sich noch mehr. Die Rippen sehr breit. Die Schliisselbeine treten
stark vor, sind sehr breit und dick, verlaufen mehr schr&g nach oben und
aussen; das linke Schliisselbein ist noch dicker als das rechte, namentlich in
seinem akromialen Theile. Die Fossae supraclaviculares sind vertieft. In den
Muskeln des Schultergiirtels deutliche Atrophie, namentlich in den
Mm. supra- et infraspinati, daher die Fossae supra- et infraspinata
sehr stark vertieft; auf der linken Seite die Atrophie st&rker, die M. deltoides
dagegen zeigen guten Ern&hrungszustand.
Ober- und Vorderarme ann&hernd normal, ihr Volum nicht vergrossert.
Dagegen sind die H&nde durch ungewbhnliche Grbsse ausgezeichnet, auch
die Finger sind sehr gross: sowohl die H&nde, als auch namentlich die
Finger sind in der Querrichtung noch st&rker vergrbssert als in der
L&ngsrichtung. Die Pulpa der letzten Phalangen verdickt, die N&gel
breit und kurz; die Nagelphalanx des Daumens ist nahezu kugelig, der
Nagel selbst halbmondfbrmig; die Grundphalanx ist bedeutend schm&ler.
Thenar und Hypothenar gut entwickelt, ihr Tonus etwas herabgesetzt. Die
Haut der Vola manus ist so weit vergrbssert, dass bei Streckung der
Finger ihre Falten nicht verschwinden. Die Ver&nderungen an beiden
H&nden symmetrisch.
Im dorsalen Theile der Wirbels&ule starke bogenfbrmige Kyphose,
dagegen die Lordose des Lendentheiles schwach ausgebildet. Percussion
der Wirbels&ule nirgends schmerzhaft.
Geschlechtsorgane gut entwickelt. Beckengiirtel, Ober- und Unter-
schenkel normal. Die Knochel sehr verbreitert. Fiisse sehr gross, die
Zehen verl&ngert und sehr breit.
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488
XXVIIL Bregman
Grundphalanx
Durch genaue Messung erhielten wir folgende Zahlen:
Kopfamfang (durch Glabella und Prom, occipitalis) = 61,0 cm
Von Glabella bis zur Prominentia occipitalis l&ngs der Sagittalnaht = 35,0 „
Nasenbreite an der Basis = 6,0 „
XJnterkieferbreite (von einem Winkel bis zum anderen) = 14,0 „
Umfang des Oberarmes in der Mitte (rechts = links) = 28,0 „
Vorderarmes in der Mitte (rechts = links) = 24,5 „
„ am Handgelenk = 20,0 „
Nagelphalanx des Daumens rechts = 10,2 „
„ links = 9,8 „
„ rechts = 8,5 „
„ links = 8,6 „
zweiten Fingers rechts = 9,0 „
„ „ links = 8,4 „
fimften „ rechts = 8,0 „
,, w j» » » « links = 7,4 „
L&nge des dritten Fingers (rechts = links) = 9,8 „
Umfang des Oberscbenkels 18 cm fiber der Patella rechts = 44,5 „
„ „ ,, 18 ,, ,, „ „ links = 45,0 „
„ „ Unterschenkels, maxima]er, rechts = 35,0 „
„ „ „ „ links = 36,7 „
„ in der H5he der Malleoli rechts = 28,0 „
„ „ „ „ „ „ links = 29,0 „
L&nge des Fusses vom Calcaneus his zum Ende der grossen
Zehe (rechts = links) = 30,0 „
L&nge des Fusses vom Calcaneus bis zum Ende der kleinen
Zehe (rechts = links) = 25,0 „
Umfang der Nagelphalanx der grossen Zehe (rechts = links) = 12,5 „
L&nge der grossen Zehe bis zum Khpfchen des Metacarpal-
knochens rechts = 7,5 „
L&nge der grossen Zehe bis zum Khpfchen des Metacarpal-
knochens links = 7,7 „
Umfang der Grundphalanx der zweiten Zehe rechts = 6,3 „
„ „ „ ,, „ „ links = 6,5 „
Die grobe Kraft der Muskeln iiherall herabgesetzt, in den links-
seitigen Extremit&ten erheblich geringer als in den rechtsseitigen. Der
Dynamometer (Mathieu) zeigt rechts 75, links 65. Der linke Arm wird
nicht so gut erhoben als der rechte. Pat. kann nicht rasch gehen, im All-
gemeinen ermtidet ihn das Gehen sehr und er nimmt mit Vorliebe die
horizontale Lage ein. Auf dem rechten Beine kann er stehen, auf dem
linken dagegen nicht. Romberg negativ.
Der Muskeltonus iiberall herabgesetzt. Knieph&nomen (auch bei
Jendrassik) beiderseits schwach, Achillessehnenreflex nicht ausl5sbar. Fuss-
8ohlenreflex beim Kitzeln abwesend, beim Stechen schwach. Cremasterreflex
rechts m&ssig, links schwdcher, Bauchreflexe ra&ssig.
Die Untersuchung mit dem elektrischen Strom ergab in den
Schultergfirtelmuskeln herabgesetzte Erregbarkeit, namentlich im M. in¬
fraspinatus (bei maximalen Strbmen sehr schwache Zuckungen). Keine
deutliche EaR, jedoch im Deltoideus A u. Z = KSZ.
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Zur Klinik der Akromegalie.
489
Die Sensibilitftt zeigte sich anf der linken Gesichtshftlfte in
der N&he des Ohres deutlich herabgesetzt (besonders das Schmerzgef&hl),
im Uebrigen war objectiv keine Storung nachweisbar, subjectiv gab
Pat. an, dass er anf der linken Kbrperhftlfte die Kftlte weniger gut
empfindet.
Anf der linken Kopfseite stftrkere Hantabschnppnng nnd sp&r-
Fig. 2.
licheres Haar: lant Angabe des Pat. begann die Abschnppnng nnd der
Haaransfall vor einigen Monaten.
Die Herzdampfung vergrdssert, bis znr dritten Rippe, bis znr Linea
mamillaris sinistra. Herzstoss stark, diffus in der ganzen Herzgegend
sichtbar. Tone rein. Puls 96, mittlerer Spannung, Arterie weich. Athmnng
regelmftssig, abdominal.
Das t&gliche Harnqnantnm vermehrt, ca. 4 Liter. Der Harn yon
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490
XXVIII. Bregman
strohweis8gelber Farbe, durchsichtig, reagirt saner, enth< (Dr. Sterling)
Zucker: 3^2 Proc.; feste Bestandtheile 44,17 (in 1000 ccm) bei einem
spec. Gewicht 1019; Harnstoff 27,0 g; Chloride vermehrt, Phosphate ver-
mindert, Spnren von Indican; kein Eiweiss. Im sehr spfirlichen Niederschlag
waren enthalten hauptsachlich Krystalle von oxalsaurem Kalk, wenig
Urate, einzelne Lenkocyten, ziemlich viele Plattenepithelien (von den
Harnwegen).
Die ophthalmoskopische Untersnchung (Dr. Muttermilch) zeigte
folgenden Befund.
Rechtes Ange: Sehnervenpapille hyperfimisch, Venen erweitert. Im
verkehrten Bilde zur Seite der Papille zwei Blutaustritte: einer hat die
Grhsse eines Stecknadelkopfes, der andere viel grosser (etwa 1 qcm), fiber
dem ersten. Retina in der ganzen Umgebnng der Papille stark geschwollen,
von grauer Farbe; an der Stelle der Macula lutea eine grosse Zahl kleiner
weisser Flecke, die an manchen Stellen auch zu grosseren Flecken
conflniren.
Visas = 20/200. Hypermetropia , / 24 .
Linkes Ange: Die Papille and Retina in ihrer Umgebnng wie im
rechten Ange, nach aussen von der Papille (im verkehrten Bilde) einige
kleine Blutaustritte. An der Macula lutea dieselben Ver&nderungen
wie rechts.
Visas = 20/200. Hypermetropia 1 / 24 .
Die Radiogramme der Hand und des Gesichts, ausgefuhrt in meinem
Rfintgenlaboratorium, bieten ein sehr charakteristisches Bild: wir sehen,
dass die Vergrdsserung der Hand zum Theil die Folge einer Vergrosserung
der Knochen ist, die nicht einmal sehr hochgradig ist, hauptsfichlich aber
auf einer enormen Entwicklung der Weichtheile beruht; der L&ngs-
durchmesser der einzelnen kleinen Knochen ist in geringerem Maasse ver-
grdssert als der Querdurchmesser; die Verdickung der Knochen betrifft
hauptsfichlich die Diaphysen, an den letzten Phalangen sind auch die
Epiphysen stark aufgetrieben; die Verdickung ist ziemlich gleichm&ssig,
eine deutliche Unregelm&ssigkeit des Contours — Exostose — findet sich
nur an der ersten Phalanx des dritten Fingers; die Entfernung zwischen den
Gelenkenden der einzelnen Phalangen und namentlich den ersten Phalangen
und den Metacarpalknochen ist vergrdssert.
Es handelt sich urn einen der ausseren Erscheinung nach typischen
Fall, in welchem die Diagnose Akromegalie fiber alle Zweifel erhaben
ist. Das abnorme Grossenwachsthum der Korperenden
war durchaus charakteristisch, der eigenthfimliche Gesichts-
typus flir Jeden, der auch nur eine gute Abbildung eines Akromegalie-
kranken gesehen hat, unverkennbar. Wie in den meisten Fallen war
der Gesichtsausdruck schlaff, apathisch. Die auffallende Ver-
langerung des Gesichts, die enorme Entwickelung des
Unterkiefers, das Vorstehen der unteren Zahnreihe, das
starke Hervorragen der Jochbeinbogen, wodurch die Wange
gleichsam wie eingezogen erschien, das Hervorgewolbtsein der
Augenbrauen durch die starkere Entwicklung der oberen Rander
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Zur Klinik der Akromegalie.
491
der Orbita und die wohl dadurch bedingte starke Faltung der
Stirn seien noch einmal besonders hervorgehoben. Der Schadel-
amfang war zwar bedeutend vergrbsserh Typisch war der kurze
Hals, der scheinbar zwischen die Schultern eingedrUckte
Kopf, der ungewohnlich breite und weite Brustkasten, mit stark
vorspringendem Sternum, die Kyphose im Brusttheil der Wirbel-
saule, die verlangerten und verdickten Schltissselbeine, die
enorm grossen Hande und Fiisse bei verbaltnissmassig normalem Volum
der Arme und Schenkel.
Die Hande und Finger waren zwar auch in der Langsrichtung,
hauptsachlich aber in der Querrichtung gewachsen, entsprechend dem
type massif von Marie; 1 ) es scheint dies das h&ufigste Verhalten zu
sein, wahrend der type long desselben Autors bei der echten Akro¬
megalie wohl selten angetroffen wird. Wie das beigefttgte Rontgo-
gramm zeigt, sind an der Verdickung in erster Linie die Weich-
theile betheiligt, wahrend die Knochen in geringerem Grade ge¬
wachsen sind; es deckt sich dieser Befund mit denen von Schultze, 2 )
Marinesco, 3 ) Edel, 4 ) Sternberg 5 ) und Schlesinger 6 ) u. A.
Die Verdickung der Knochen betrifft vorztiglich die Diaphysen,
nur an den letzten Phalangen waren auch die Epiphysen aufgetrieben;
die Verdickung war ziemlich gleichmassig; Osteophyten konnten nur
an einer Stelle constatirt worden.
Die Verdickung der Haut an der Hand liess sich, wie es auch
Strtimpell bemerkt hatte, daran erkennen, dass beim Strecken der
Finger die Fatten der Vola manus sich nicht glatteten, sondern ziem¬
lich dicke Wlilste bestehen blieben. Dagegen war die Haut im Ge-
sicht vom stark vorspringenden Jochbeinbogen zum vergrosserten Unter-
kiefer ziemlich stramm gespannt, dem Knochen (Oberkiefer) an-
liegend, derarfc, dass die Wange eher eingezogen zu sein schien.
Ein ungewohnliches Symptom ist die starke Hautabschuppung
und vermehrter Haarausfall auf der linken Kopfhalfte. In den
meisten Fallen von Akromegalie blieben die Haare unverandert (vergl.
Sternberg S. 49), in wenigen waren sie verdickt und vermehrt.
1) Marie, Sur deux types de deformation des mains dans Facromegalie.
Bull, et memoires de la Society des H6pit. de Paris. 1896, 1. Mai.
2) Schultze, Die Hand der Akromegalischen in der Beleuchtung durch
Rontgenstrahlen. Niederrh. Gesellsch. f. Nat. in Bonn. 1896, 10. Febr.
3) Marinesco, Etude des mains d’acromegaliques au moyen des rayons
du Rontgen. 0. R. de la Soc. de Biologie. 1891.
4) Edel, Rontgenbilder bei Akromegalie. Neurol. Centralblatt. 1897. S. 95.
5) Schlesinger, Neurologisches Centralblatt. 1897. S. 596.
6) Sternberg, 1. c.
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492
XXVIII. Bregman
Haarausfall beobachtete nur Doogson 1 ), Es ist hervorzuheben, dass
der Haaraasfall in unserem Falle dieselbe Seite betraf, anf welcher
auch andere Storungen, yon denen waiter unten die Rede sein wird,
yorherrschten.
Zur Kategorie der vasomotorischen Symptome gehort wohl
die bei unserem Kranken freijich bios anamnestisch erhobene An-
schwellung um das rechte Auge. Dieselbe trat plotzlich auf, war
durcbaus schmerzlos und schwand nach Verlauf yon zwei Wochen.
Aehnlich vorttbergehende Anschwellungen wurden yon mehreren Autoren,
Erb, 2 ) Sternberg, 3 ) Fratmich, 4 ) Jorgo 5 ) im Anfangsstadium des
Leidens beobachtet, im Falle St rum pell's 6 ) bildeten sie eine Prodo-
malerscheinung, die um yiele Jahre dem Auftreten der Akromegalie
yorausging.
Die Glykosurie, die allgemeine Korperschwache und leichte
Ermttdbarkeit, die Abnahme der Potenz gehoren zu den be-
kannten Symptomen unseres Leidens. Ebenso wurde auch die Hyper-
trophie und Dilatation des Herzens, die Abnahme der
Patellarreflexe schon von Vielen gefunden und beschrieben.
Sehr bemerkenswerth dagegen ist bei unserem Kranken die ziemlich
stark ausgedrdckte Schwache der einen — der linken — K5rper-
halfte, yerbunden mit einer geringen, feist nur subjectiv nachweis-
baren Geffthlsabstumpfung (besonders f&r Kalt). Eine deutliche ob¬
jective Sensibilitatsstorung fand sich nur im Gesicht, in der Umgebung
des linken Ohres.
Auf der gleichen Seite konnte eine hochgradige Atrophie der
Zunge constatirt werden: dieselbe wich mit der Spitze stark nach
links ab, die linke Zungenhalfte zeigte tiefe Quer- und Langsfurchen
und starkes fibrillares Zittem und im Vergleich mit der rechten Halfte
eine starke Volumsaboahme, wahrend die Gesammtgrosse der Zunge
nicht erheblich verandert war. Das gewohnliche Verhalten bei Akro¬
megalie ist bekanntlich das, dass die Zunge an der Vergrosserang der
Korperenden theilnimmt, in manchen Fallen war sie sogar in dem
1 ) Doogson, Harvejan Society of London 1896, March 5. The Lancet
1896. I. p. 772.
2) Erb, Naturhist. med. Verein in Heidelberg. Mdnch. med. Woch. 1894.
S. 544.
8 ) Sternberg, Beitrage zur Kenntniss der Akromelagie. Zeitschr. f. klin.
Med. XXVH. 1894. S. 25.
4 ) Fratmich, Ein Fall von Akromelagie, Allg. med. Zeitung. 1892.
S. 405 u. 1893 S. 451.
5) Jorgo, Contributions & l’4tude de l’Acromegalie. Archivio di Psichi-
atria. 1894. Vol. XV. p. 412.
6 ) StrUmpell, 1. c. S. 68.
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Zur Klinik der Akromegalie.
493
Maasse vergrossert, dass flir sie in der Mundhohle kein genugender
Platz sich fand. Trotz dieser Vergr&sserung ergab die mikroskopische
Untersuchung nicht selten yerschiedenartige Degenerations- und Atro-
phiezustande der Muskelfasern. Eine makroskopisch sichtbare, zumal so
stark ausgesprochene Atrophie einer Zungenhalfte wie in unserem
Falle wurde in keinem der mir zuganglichen Falle beobachtet und
wird auch in den bezttglichen Monographien nicht erwahnt.
Dagegen wurden atrophische Zustande an der Korper-
musculatur schon yielerseits beobachtet und namentlich von Du*
chesneau, 1 ) der sie mit der progressiven Muskelatrophie verglich,
grundlich studirt. In unserem Falle war die Atrophie am deutlichsten in
den Schulterblattmuskeln und zwar gleichfalls starker auf der linken
Seite; damit yerband sich eine 1 sehr bedeutende, bis auf ein Minimum
reducirte, Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeii
Dass Erscheinungen einer Hirngeschwulst und speciell einer Er-
krankung der Hypophysis yollkommen fehlten, habe ich schon in der
Einleitung erwahnt: der Kranke hatte nie Kopfschmerzen, das Ge-
sichtsfeld zeigte keine nachweisbare Storung, es bestand keine Stauungs-
papille. Dagegen fanden sich im Augengrunde Veran derun gen, wie
sie meines Wissens bei Akromegalie noch nicht beschrieben wurden:
zahlreiche weisse Flecke, namentlich in der Gegend der Macula lutea,
Blutextravasate, graue Verfarbung der Retina, venose Hyperamie der
Retina und der Sehnervenpapille, kurz das Bild einer Retinitis,
wie sie laut Ausspruch des Augenarztes vornehmlich bei Albuminurie
beobachtet wird. Da wir jedoch trotz wiederholter Untersuchungen
kein einziges Mai Eiweiss im Harn nachweisen konnten (auch keine
Cylinder), dflrfen wir wohl diesen ungewohnlichen Befund auf die
Glykosurie zurttckf&hren, bei welcher eine ahnliche Erkrankung der
Netzhaut, wenn auch seltener (vergL Fuchs, Lehrbuch der Augen-
heilkunde. S. 439) angetroffen wird.
Kurz noch einmal unseren Fall zusammenfassend, handelt es sich
um einen Fall von Akromegalie, welcher ausgezeichnet ist
1. durch das Fehlen von Symptomen einer Hirngeschwulst und einer
Hypophysiserkrankung;
2. Glykosurie und diabetische Retinitis;
3. hochgradige Atrophie der linken Zungenhalfte und Atrophie der
Muskeln des Schultergttrtels, namentlich der M.-supra et infra-
spinati (links starker);
1) Duchesneau, Contribution & l’6tude anatomique et clinique de
l’acromegalie et en particulier d’une forme amyotrophique de cette maladie.
Thfese de Lyon. 1891.
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494 XXVIII. Bregman
4. leichte Parese der linken Korperhalfte mit unbedeutenden Sensibili-
tatsstbrungen (besonders im Oesicbt). Haarausfall auf der linken
Kopfhalfte.
Wenn man alle diese Symptome zusammenhalt, so gewinnt man
wohl kaum den Eindruck, dass eine Erkrankang der Hypophysis die
primare Ursache derselben vorstellen konne. Es ist viel wahrschein-
licher, dass eine Affection des Nervensystems vorliegt, welche alle ge-
nannten Erscheinungen und nicbt minder auch* das abnorme GrSssen-
wachsthum der Korperenden verschuldet.
Wie steht es um die Aetiologie unseres Falles?
Pat. beschuldigt schwere korperliche Arbeit und namentlich
das Tragen schwerer Lasten auf der linken Schulter bei beschwer-
lichem Bergsteigen. Es kann nicht geleugnet werden, dass dieses
Moment einen schadigenden Einfluss ausiiben konnte, die vorherrschend
auf der linken Seite localisirte Muskelatrophid konnte sogar als Stutze
dafttr angeftthrt werden. Dass dies aber die eigentliche Ursache des
Leidens sein soli, ist durchaus unwahrscbeinlich. Pat. giebt selbst an,
dass die Vergrosserung seiner Extremitaten bereits vor 12 Jahren,
also noch vor seiner Beise nach Amerika und der anstrengenden
Thatigkeit daselbst begonnen babe. Ferner aber baben wir in der
Anamnese noch einen anderen wicbtigen Hinweis darauf, dass es sich
um eine abnorme Veranlagung des Korpers handelt
Laut Angabe des Pat. zeichnete er sich seit der Kindheit durch
die ungewohnliche Grosse seiner Daumen aus; die gleiche Anomalie
finde sich bei seiner um zwei Jahre jlingeren und im Uebrigen gesund
gebliebenen Sch wester, so wie bei seinem jflngsten, nunmehr vier Jahre
alten Kinde.Wenn diese Angaben richtig sind, woran zu zweifeln
kein Grund vorhanden ist, so haben wir einen angeborenen (famili-
aren) partiellen Riesenwuchs (Makrosomie, Makrodaktylie) vor
uns, aus dem sich bei unserem Pat. die Akromegalie herausgebildet
hat Die nahen Beziehuugen zwischen dem allgemeinen Riesenwuchs
und der Akromegalie sind schon lange bekannt. Nach der Berech-
nung Sternberg's 1 2 ) sind"20 Proc. aller Akromegalen Riesen und
40 Proc. aller Riesen werden nachtraglich akromegaliscb. Von
mancher Seite, so besonders von Brissaud, 3 ) wurde auf Grund dessen
1) Ob bei dem Kinde, das angeblich grossen Durst zeige, andere Krank-
heitserscheinungen vorliegen, kann ich nicht bestimmen, da es mir unmoglich
war, den Knaben zu Gesicht zu bekommen.
2) Sternberg, Akromegalie und Riesenwuchs. Zeitschr. f. klin. Medicin.
XXVII. S. 104.
3) Brissaud et Meige, Gigantisme et Acromegalie. Journ. de M4d. et
Chir. 1895. p. 49.
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Zur Klinik der Akromegalie.
495
die Identitat beider Vorgange behauptet, „die Akromegalie sei der
Eiesenwuchs des in seiner Entwicklung yollendeten Individuums, der
Riesenwuchs die entsprechende Wachsthumsstorung der Entwicklungs-
periode“. Dem widerspricht aber, wie Sternberg richtig betont, dass
der Riesenwachs keine eigentliche Krankheit ist, dass die Riesen
vielmebr ihr Leben lang vollig gesnnd bleiben konnen. Dagegen ist
die Akromegalie ein emster Krankheitszustand, begleitet von ver-
schiedenartigen anderen Symptomen, welche langsam fortschreitend,
das Individuum zu Grunde richten. Ob es auch, wie Strtimpell
vermuthet, einen akromegaliscben Habitus, als blosse Wachsthums-
anomalie oline complicirende Krankheitssymptome, giebt, muss einst-
weilen dahingestellt bleiben. Jedenfalls aber erscheint die Thatsache
von grosser Bedeutung, dass die Akromegalie^ sich auf dem Boden
angeborener Wachsthumsstorungen entwickeln kann und zwar nicht
nur aus allgemeinen Abweichungen des Korperwachsthums, wie der
Riesenwuchs (auch der Zwergwuchs zeigt bei manchen Cretinen gewisse
Beziehungen zur Akromegalie), sondern auch, wie hier gezeigt wurde,
aus partiellen Storungen, der partiellen angeborenen Makrosomie.
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XXIX.
Nachtrag
zur Arbeit „Ueber periodische Oculomotoriusl8hmung“ von P. J. Mobius
in Leipzig im 3./4. Heft dieses Bandes.
Am 3. Juli kam die anf S. 294 bescbriebene Kranke mit completer link-
seitiger Oculomotoriusl&hmung von Neuem zu mir. Vor 3 Tagen hatte sie
nach einem heftigen Aerger wieder Kopfschmerzen and Aagenschmerzen
links bekommen, hatte alle paar Stunden erbrechen miissen. Oestern ist
das Aage zngefallen. Die Erscheinongen waren wie friiher, nor ist die
lin&seitige Hyp&sthesie sehr gering, and es sind die Unterschiede der
Arterienweite weit weniger stark als friiher. Aach sollen die Schmerzen
diesmal nicht so heftig gewesen sein. In der Zwischenzeit hat die Pat.
sich wohlbefanden, nor ist das Schwarze im linken Auge immer gross
geblieben and sie hat mit diesem Auge „etwas bleicher u gesehen.
Die L&hmung ging diesmal rascher zuriick, schon am 18. Juli war die
Ptosis beseitigt. Am 15. August war alles wieder normal bis auf Starke
Mydriasis.
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XIX.
Besprechnngen.
1.
P. J. MBbius, Ueber die Anlage znr Mathematik. Mit 51 Bildnissen.
Leipzig, J. A. Barth. 1900. 331 Stn.
An die Lectiire des vorliegenden Baches werden die meisten medi-
cinischen and wohl noch mehr die mathematischen Leser mit einem gewissen
Misstrauen gehen. Zwar weiss Jeder, der die friiheren Schriften des Vert
kennt, dassAlles, was Mb bins schreibt, aus einem scharfsinnigen, unab-
h&ngigen Denken entspringt, daher ein dnrcbans originelles Gepr&ge zeigt
und in stets fesselnder, zuweilen gl&nzender Form dargeboten wird. Allein
die vorliegende neneste Stndie des Verf. bertihrt ein von der Wissenschaft
scheinbar bereits so vbllig iiberwundenes Gebiet, dass der Versuch einer Neu-
belebnng desselben zun&chst gewiss bei den meisten Lesem ein bedenkliches
Kopfschiitteln erregen wird. Handelt es sicb doch am nichts Anderes, als
nm die Wiedererweckung der l&ngst todt geglanbten Gairscben „Phre-
nologie“, jener Lehre, von der wir jetzigen Aerzte und Pbysiologen bis-
her kanm mehr gewusst haben, als die spasshafte Erinnerung an einen
kahlen Modellkopf in irgend einem Schaufenster, bemalt mit einer Unzabl
abgezirkelter Felder und beschrieben mit den Namen aller moglichen Ta-
lente, Tugenden und Laster.
Wer so von vornherein mit spottischem Unglauben an das Buck
herantritt, dann empfehle ich vor Allem zuerst den „Anhang“ (S. 197—331)
zu lesen, in dem Mbbius einen kurzen, aber ftusserst interessanten Ueberblick
iiber das Leben, die Personlicbkeit und die wissenschaftlichen Leistungen
Franz Joseph Gall's (geb. 1758 in Tiefenborn bei Pforzheim, gest. 1828
bei Paris) giebt. Man ersieht hieraus, dass Gall durchaus nicht der ver-
schrobene Sonderling war, fiir den man ihn vielfach gehalten hat, sondera
ein echter Forscher von klarem Verstande und nhchtemem Thats&chlich-
keitssinn, der in seinen Anschauungen und Kenntnissen von der Anatomie
und Physiologie des Nervensystems alien seinen Zeitgenossen weit voraus
geeilt war. Es ist bewunderungswiirdig, iiber wie viele, erst sp&ter allge-
mein anerkannte Thatsachen Gall bereits vollst&ndig richtige Ansichten
ge&ussert hat. Seine Zeitgenossen haben ihn vielfach bekftmpft und ange-
feindet. Heute wissen wir, wie oft er Recht hatte und seine Gegner Unrecht.
Auch uber die Phrenologie Gall's werden wir heute, selbst wenn
wir die meisten einzelnen Schlussfolgerungen Gall’s ftir irrthiimlichhalten,doch
wesentlich anders urtheilen miissen, als man es bis vor 30—40 Jahren gethan
hat. Wir miissen den Grundgedanken, dass jede individuelle Eigenart des
geistigen Lebens und Konnens unmittelbar mit einer individuellen besonderen
Beschaffenheit des Gehiras zusammenh^ngt, unbedingt als wahr anerkennen.
Ebensokannes im Allgemeinen keinemZweifelunterliegen, dass die Grbsse und
die ftussere Beschaffenheit des Schftdels (die ftussereKopfform) bis zu einem ge-
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498
XXX. Besprechungen.
wissen Grade von der Beschaffenheit des Gehirns abhangig ist. Weit schwie-
rigerzn entscheiden sind aber die beiden sich daran anschliessenden Fragen,
ob diese besondere Beschaffenheit des Gehirns aach im Einzelnen einen
erkennbaren anatomischen Ausdruck findet nnd in wie weit sie uber-
haupt an eine uraschriebene Stelle des Gehirns gebnnden ist Die erste
dieser Fragen ist natiirlich nnr auf dem Wege der Beobachtong zu ent-
scheiden; die andere fiihrt nns zur Nothwendigkeit einer genanen Analyse
der einzelnen Charaktereigenthiimlichkeiten nnd „Talente“ des Menschen.
Je einfacher nnd „einseitiger“ die betreffende Eigenschaft oder Thatigkeit
des Geistes ist, nm so mehr diirfen wir sie anch als gebnnden an eine um-
schriebene Stelle des Gehirns erachten. Es ist daher sicher ein berechtigtes
wissenschaftliches Vorgehen von Mb bins, bei der Nachprfifhng der
Gall’schen Lehren nicht sofort die ganze Mannigfaltigkeit der Gaben nnd
Eigenheiten des Geistes, sondern zun&chst nnr ein einziges nnd zwar ein
mbglichst eng nngrenzbares, einseitiges Talent znm Gegenstand der Unter-
snchnng zn machen. Als solches w&hlte er die „Anlage zur Mathematik“.
In scharfsinniger Weise werden die Besonderheiten dieses beim Menschen
verh<nissm&ssig seltenen Talentes (auf 20. Schuler der hbheren Gymna-
sialklassen kommt hbchstens einer, dem man rathen konnte, Mathematik zn
stndiren) erbrtert, dnrch zahlreiche Beispiele wird das Angeborensein dieses
Talentes nnd seine Unabh&ngigkeit von anderen Geistesfthigkeiten darge-
than. Es ist nach der Gall’schen Terminologie eine Grundkraft nnd
eignet sich daher besonders gnt zur Prufung der Frage, ob dem ausge-
sprochenen Vorhandensein des mathematischen Talentes das Vorhandensein
eines besonderen mathematischen Organes entspreche. Gall hatte
das „Organ des Zahlensinns“ in demjenigen Theile des Stirnhirns gesncht,
welcher auf den am meisten lateralen Theil der Daches der AngenhQhle
anfliegt, in einer Fnrche oder Einsenknng, die von vorn nach hinten zieht.
Nun kommt der dritte nnd entschieden bedenklichste Pnnkt der Gall-
schen Lehre. Der nmschriebenen ungewohnlichen Entwicklnng des be-
treffenden Gehirntheils (des eigentlichen „ Organs “ fiir das Talent) soil eine
ausserlich am Schadel (bez. Eopf) erkennbare Bildnng entsprechen. 1st
nfimlich die oben genannte Gehirnpartie besonders stark entwickelt, so
wird nach Gall der ftnssere Theil des Daches der Orbita dnrch sie herab-
gedriickt, der art, dass die ftussere Halfte des oberen Randes der Augen-
hbhle zn einer Geraden wird, die schrag von oben innen nach nnten
anBsen zieht. Oft wird anch der laterale Theil der Orbita zngleich nach
anssen geriickt, so dass der Proc. zygomaticns oss. frontis seitlich vorspringt
nnd eine besonders stark entwickelte „Stirnecke u entsteht.
Diese Angaben Gall’s hat Mbbins an einer Reihe von Kbpfen leben-
der Mathematiker, an zahlreichen, mit grbsstem Fleiss gesammelten Bildern
nnd Bhsten nachgeprhft nnd dnrchaus bestatigt gefunden! Den Ans-
fuhmngen Gall’s fiigt M. noch drei Anmerknngen hinzn: 1. Die Natnr
variirt die Form starker, als es nach Gall’s Beschreibnng scheinen mbchte.
2. Das mathematische Organ ist in der Regel links starker entwickelt
3. Das mathematische Organ besteht znm Theil in einer Verdicknng der
Weichtheile. Die beiden ersten dieser Satze sind dnrchans plansibeL Der
letzte erweckt freilich a priori wiedemm betrachtliches Zweifeln — ganz
abgesehen von der nnpassenden Terminologie. Das ^mathematische Organ u
als solches kann nnr im Gehirn seinen Sitz haben nnd nicht in den Weich-
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XXX. Besprechungen.
499
theilen. Die st&rkere Entwicklung der Weichtheile (Haut, Fettpolster)
fiber dem betreffenden Organ ware nicht gerade unerkiarlich, giebt aber
docb mindestens zn starken Bedenken Anlass.
Uebrigens stehe ich vollstandig auf dem Standpunkt, dass alles aprio-
ristische Kritisiren nichts niitzt und man unbefangen die Thatsachen
sammeln und genan priifen soil. Dass ich von den Mobius’schen Angaben
aber das ftusserlich am Schfidel erkennbare mathematische Organ voll¬
standig hberzengt bin, kann ich nicht sagen, wohl aber, dass sich die von
Gall hervorgehobenen Eigenthiimlichkeiten sehr oft in tiberraschender Weise
bei mathematisch Begabten linden. Ich habe dies anch bei einigen von
mir selbst gemachten gelegentlichen Beobachtnngen bestatigt gefunden.
Jedenfalls sollte man die von Mfibius nen gegebenen Anregnngen nicht
einfach bei Seite liegen lassen, sondern weiter verfolgen and nachprfifen.
Al8 das Hanptverdienst des vorliegenden Baches betrachte ich es, erstens
einem vielfach verkannten Manne die verdiente Stellung in der Wissen-
schaft wiedergegeben, sodann aber auf einen neuen Weg der individual-
psychologischen Forschnng hingewiesen zn haben, der mindestens ebenso
anssichtsreich erscheint, wie manche anderen Methoden der modernen „exacten
Psychologic 44 . Selbst wenn man dem Verf. in vielen Einzelheiten nicht
wird beistimmen kdnnen, wird man ans der Lecture seines Buches doch
Neues und Interessantes lernen und reiche Anregung zn weiterem Nach-
denken and Beobachten finden. Es ist nicht unmdglich, dass in der Gal 1-
Mbbias’schen Betrachtungsweise die Keime fur eine sp&tere Entwicklung
der Anthropologic liegen, die wir jetzt noch kaum ahnen kbnnen.
Striimpell.
2 .
R. Lomer (Hamburg), Znr Beurtheilung des Schmerzes in der Gynakologie.
J. F. Bergmann, Wiesbaden 1899. 82 Stn.
Es ist ein zweifelloses Verdienst Lomer’s, dnrch diese Schrift dar-
gelegt zn haben, wie h&uflg es vorkommt, dass Frauen wegen rein hyste-
rischer Beschwerden gyn&kologisch hehandelt und sogar eingreifenden
Operationen unterworfen werden. Sehr hftufig finden sich bei Frauen um-
schriebene hyperfisthetische Stellen in den Bauchwandungen, die lehhafte
Beschwerden hervorrnfen nnd dann haufig auf ein thatsftchlich nicht be-
stehendes Leiden der Geschlechtsorgane bezogen werden. Meist lassen sich
in derartigen Fallen hysterische Stigmata nachweisen. Charakteristisch ist
namentlich das psychische Verhalten der Kranken („ Furor operari“, Ueber-
treibung n. s. w.), sowie oft die Verschlimmerung der Klagen im Ajnschluss
an psychische Eindrucke. Mitunter lassen sich anch — meist gering-
fiigige — gynakologische Leiden nachweisen, die dann als Agents provocateurs
der latenten Hysterie gewirkt haben. Meist ist aber der Befund an den
Geschlechtstheilen ein regelrechter. Die hyperasthetischen Hautzonen finden
sich am hftufigsten in der Ovarialgegend; durch die combinirte Unter-
suchung and besonders dnrch Kneifen der Haat kbnnen dann die geklagten
Schmerzen sofort ausgelbst werden. Neben dem Nachweis hysterischer
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilknnde. XVII. Bd. 38
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XXX. Besprechungen und Literatur.
Stigmata beweist auch der h&ufig sehr rasche Erfolg der Therapie (Sugges¬
tion, Galvanisation, Eisenpraparate) die hysterische Natur des Leidens.
Lomer berichtet eine grSssere Reihe ansfiihrlicher Krankengeschichten von
Fallen, die zum Theil sehr eingreifenden Operationen ohne jeden Erfolg
unterworfen worden waren und in denen durch die genannte Therapie eine
rasche Heilung oder Besserung des Zustandes erreicht wurde.
Im zweiten Theile der Arbeit, den Lomer selbst als einen Versuch
bezeichnet, werden die Schmerzen bei gynakologischen Erkrankungen im
Allgemeinen besprochen und dabei die Intensitat der Schmerzen, ihre
Qualitat, ihr Ausstrahlen nach entfernteren Korpergegenden genau erortert.
Lomer theilt die einzelnen Schmerzen in traumatische, contractile, ent-
zundiiche, neuralgiforme und hysterische Schmerzen ein. Nach dieser Ein-
theilung geht Verf. dann die Schmerzen an den einzelnen Abschnitten der
weiblichen Geschlechtstheile durch. An alien einzelnen Abschnitten sind
die als Hyperasthesien sich aussernden hysterischen Schmerzen geeignet,
wirkliche Erkrankungen vorzutauschen.
Wenn das Buch auch geschrieben ist, urn den Gynakologen auf das
„ungemein h&ufige Vorkommen“ dieser hysterischen Schmerzen an den
weiblichen Geschlechtstheilen aufmerksam zu machen, so wird doch auch
der Nervenarzt vieles fiir ihn Interessante in dem Buche finden.
A. Gessner-Erlangen.
Literatur.
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Ein Vortrag. Munchen, E. Reinhardt. 32 S.
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Derselbe, Ideen zu einer Enqugte uber die Unersetzlichkeit der Mutterbrust.
Munchen 1900. G. Hirth’s Verlag. 64 S.
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C. Mar ho Id. 1900. 63 S.
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docbnt Dr JANSEN, Berlin. Dr Bax JOSEPH, Berlin. Dr R. ISAAC, Berlin. Prtvatdocemt Dr LA KHR,
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