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Full text of "Dtsch Zschrft Nervenheilkunde 1900 17"

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Deutsche Zeitschrift fur 
Nervenh eilkun de 


Gesellschaft Deutscher Nervenarzte, 
Deutsche Gesellschaft fur Neurologie 






.No.. 

Boston 

Medical Library, 

19 BOYLSTON PLACE. 



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DEUTSCHE ZEITSCHRIFT 

FOR 

NERVENHEILKUNDE. 


HERAUSGEGEBEN 


VON 

Prof. Willi. Erb 

Director der med. Klinik in Heidelberg. 

Prof. Pr. Schultze 

Director der med. Klinik In Bonn. 


Prof. L. Lichtheim 

Director der med. Klinik in KOnigsberg. 

Prof. Ad. v. Striimpell 

Director der med. Klinik in Erlangen. 


REDIGIRT VON 

A. STROMPELL. 


SIEBZEHNTER BAND. 

Mit 38 Abbildungen im Text und 10 Tafeln. 



LEIPZIG, 

VERLAG VON F.C.W. VOGEL. 

1900. 


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Inhalt des siebzehnten Bandes. 

Erstes und Zweites (Doppel-)Heft 

(an8gegeben am 17. Mai 1900). 

Seite 


I. Aus der I. deutschen medicinischeu Klinik (Hofrath A. Pribram) 
in Prag. 

Pick, Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. (Mit 
3 Abbildungen im Text und Tafel I—III)........ 1 

II. Aus der medicinischen Klinik des Herrn Prof. Strumpell in Er¬ 

langen. 

Hauck, Untersuchungen zur normalen und pathologischen Histo- 
logie der quergestreiften Musculatur.57 

III. Aus der medicinischen Klinik des Herrn Prof. Schultze in Bonn. 

Giese, Ueber eine neue Form hereditiiren Nervenleidens. 
(Schwachsinn mit Zittern und Sprachstorung).71 

IV. von Krafft-Ebing, Ueber infantile familiare spastische Spinal- 

paralyse.87 

V. Aus der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf. 

Nawratzki, Ein Fall von Sensibilitatsstorung im Gebiete des 
Nervus cutaneus femoris externus mit pathologisch-anato- 

mischem Befunde. (Mit Tafel IV).99 

VT. Flatau, Ueber den diagnostischen Werth des Grafe’schen Symptoms 

und seine Erkl&rung. (Mit 2 Abbildungen).109 

VII. Aus der Konigl. medic. Universitatsklinik zu Halle a. S. (Director: 

Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Weber.) 

Hofmann, Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemian- 

asthesie und Hemiplegie. (Mit 6 Abbildungen).117 

VIII. Aus dem hirnanatomischen Laboratorium der nied.-oster. Landes- 
Irrenanstalt Wien. 

Probst, Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischen- 

hirnverletzungen. (Mit 5 Abbildungen).141 

IX. Kleinere Mittheilungen. 

1. Riegel, Ueber die springende Mydriasis.169 

2. Bruns, Bemerkungen zu den Aufsatzen von Brodmann und 

Steinhausen uber Serratuslahmung im vorigen Heft dieser 
Zeit8chrift.171 


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IV 


Inhalt des siebzehnten Bandes. 


Seite 


X. Besprechungen: 

Sachs und Freund, Die Erkrankungen des Nervensystems 
nach Unfallen mit besonderer Berucksichtigung der Unter- 


suchnng und Begutachtung. (Strumpell).174 

Literatur-Uebersicht.176 


Drittes und Viertes (Doppel-)Heft 

(ausgegeben am 12. Juli 1900). 


XI. Aus der Universitatspoliklinik fiir Nervenkranke und dem hirn- 
anatomischen Laboratorium in Zurich (Professor v. Monakow). 
Veraguth, Ueber einen Fall von transitorischer reiner Wort- 

taubheit.177 

XII. Rybalkin, Vertigo auralis hysterica. Zur Frage der Harnveran- 

derungen nach den Anfallen der grande hysteric.199 

XIII. v. Rad, Zur Lehre von der multiplen selbstandigen Gehimnerven- 

neuritis. (Fall von Diplegia facialis combinirt mit Ophthalmo¬ 
plegia externa).209 

XIV. v. Bechterew, Ueber eine Affection der VaroPschen Briicke mit 

bilateraler Labmung der willkurlichen Augenbewegungen, 
Zwangslachen und Zwangsweiuen, sowie fruhzeitiger Atrophie 

der rechtsseitigen Unterschenkelmuskeln.221 

XV. Thom a, Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose. 

(Mit 3 Abbildungen).263 

XVI. Frenkel, Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei 

Tabes dorsalis. (Mit 6 Abbildungen).277 

XVII. MObius, Ueber periodische Oculomotoriuslahmung.294 

XVIII. Aus der medicinischen Klinik zu Bonn. 

Strasburger, Ueber das Fehlen des Achillessehnenreflexes und 

seine diagnostische Bedeutung.306 

XIX. Kleine Mittheilung: 

Oppenheim, Intermittirendes Hinken und neuropathische 

Diathese.317 

XX. Besprechungen: 

1. Raymond, Le^ns sur les maladies du systfeme nerveux 

(Strumpell).319 

2. Hof fa, Die Orthopadie im Dienste der Nervenheilkunde. 

(Strumpell).321 


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Inhalt des siebzehnten Bandes. 


v 


Fttnftes und Sechstes (Doppel-)Heft 

(ausgegeben am 30. August 1900). 

Seite 


XXI. A us dem Laboratorium Prof. H. Oppenheim’s in Berlin. 

Lapinsky, (Jeber acute ischamische Lahmung nebst Berner- 
kungen fiber die Veranderungen der Nerven bei acuter Ischamie. 

(Mit Tafel V).323 

XXII. Ransohoff, Ueber Veranderungen im Centralnervensystem in 

einem Fall todtlicher Blasenblutung. (Mit 4 Abbildungen) 351 
XXIII. Sander, Untersuchungen fiber die Alters veranderungen im 

Rfickenmark. (Mit Tafel VI. VII).369 

XXIV. Petrfcn, Ueber die Verbreitung der Neurasthenic unter ver- 
schiedenen Bevolkerungsklassen. (Nebst kfirzeren symptoma- 
tischen Bern erk ungen). 397 

XXV. Haenel, Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des 

Hirnschenkels. (Mit 3 Abbildungen).413 

XXVI. Aus dem Laboratorium der Universitatsaugenklinik in Wfirzburg 

(Professor v. Michel). 

Bach, Experimented Untersuchungen und Studien fiber den 


Verlauf der Pupillar- und Sehfasern nebst Erorterungen fiber 
die Physiologie und Pathologie der Pupillarbewegung. (Mit 


1 Abbildung im Text und Tafel VIII—X).428 

XXVII. Aus Prof. Koshewnikofrs Klinik (Moscau). 

Nalbandoff, Zur Symptomatologie der trophischen Storungen 
bei der Syringomyelie (Osteomalacie). (Mit 3 Abbildungen) . 468 


XXVIII. Aus der Abtheilung ffir Nervenkranke von Dr. Bregman im isra- 
elitischen Hospital in Warschau. 

Bregman, Zur Klinik der Akromegaiie. (Mit 2 Abbildungeu) 483 


XXIX. Nachtrag: 

Mobius, Ueber periodische Oculomotoriuslahmung.496 

XXX. Besprechungen: 

1. M5bius, Ueber die Anlage zur Mathematik. (Strfimpell). . 497 

2. Lomer, Zur Beurtheilung derSchmerzen in der Gynakologie. 

(Gessner).499 

Literatur-Uebersicht.500 


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APR 30 1900 


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V/ -n— 

Aus der I. deutschen medicinischeiT AlmiE(Hofratli A. Pribram) in Pragl 


Znr Kenntniss der progressiyen Muskelatrophie. 

Von 

Dr. Friedel Pick, 

Privatdocent fur inn ere Medioin and Labor&toriums&ssistent der Klinik. 

(Mit Tafel I—III u. 3 Abbildungen im Text.) 

In der Lehre yon den progressiven Muskelatrophien hat sich in 
dem letzten Decennium ein bemerkenswerther Umschwung voUzogen. 
Wahrend noch 1876 Charcot und Marie die Beschreibung einer An- 
zahl einschlagiger Falle mit den Worten begannen: ,,1/atrophie mus- 
culaire progressive semble devoir de plus en plus se morceler en 
groupes secondaires, dont le nombre s’accroit 44 , hat sich seither, nament- 
lich auf Grand der eingehenden Untersuchungen Erb’s, die Anschauung 
Bahn gebrochen, dass die von den verschiedenen Autoren als selbst- 
standig aufgestellten Krankheitstypen [die infantile Form (Duchenne) 
— die Pseudohypertrophia lipomatosa —, die hereditare Muskelatrophie 
(Leyden-Moebius) —, die juvenile Form (Erb)] zusammengehoren und 
eine klinische Einheit bilden, fttr welche Erb den Namen Dystrophia 
musculorum progressiva eingeflihrt hat. Diese Anschauung ist ziem- 
lich allgemein angenommen, und damit schien in dieser Beziehung ein 
gewisser Abschluss gewonnen, indem der — auf einer Erkrankung der 
Vorderhomganglienzellen beruheuden — spinalen Muskelatrophie die 
Dystrophie als eine prim&re Muskelerkrankung ohne nachweisbare 
Veranderung des Nervensystems gegenfibergestellt und die differential- 
diagnostischen Merkmale beider Affectionen festgelegt wurden. Allein 
diese, namentlich in didactischer Beziehung so willkommene scharfe 
Abgrenzung hat aus verschiedenen Grilnden alsbald Complicationen 
erfahren, zunachst, indem der — wenngleich nicht unbestritten ge- 
bliebene — Versuch gemacht wurde, einer dritten auf Lasion der 
peripheren Nerven beruhenden Form, der neurotischen oder neuralen 
Muskelatrophie (Hoffmann, Sachs) nosologische Selbstandigkeit zu 
sichern. 

Ferner hat sich die scharfe Gegenuberstellung dieser Hauptgruppen 
als zu weitgehend erwiesen, denn es stellte sich heraus, dass den 
klinischen Differentialmomenten keine absolute Beweiskraft zukommt. 

Deutsohe Zeitschr. f. Neryenheilkunde. XVII. Bd. 1 


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2 


I. FiiiEbEL Pick 


So zeigte sich, dass die fibrillaren Zuckungen und dieEntartungsreaotion 
bei chronischem Verlaufe der spinalen Muskelatrophie oft fehlen (Hoff¬ 
mann S. 314), hingegen bei sicheren Dystrophien mitunter vorkommen 
(s. Erb S.252, Wiersma, Hoppe, Oppenheim und Cassirer S. 157, 
Donath),anderentheils lehrten neuere Beobachtungen, dass auch demZeit- 
punktdesBeginns und der FamiliaritatoderHereditat keine ausschliessliche 
differentialdiagnostische Bedeutung zukomme, denn es wurden Falle 
bekannt von spatem Auftreten des Dystrophie, z. B. im 71. Lebensjahre 
(Linsmayer), und von Familiaritat oder Hereditat bei anatomisch 
sichergestellter spinaler Muskelatrophie (Hoffmann (2), Werdnig). 
Diese kurzen Hinweise, welche noch unschwer zu vermehren waren, 
zeigen, dass den einzelnen klinischen Momenten, namentlich soweit 
sie durch das Fehlen eines Symptoms charakterisirt sind, keine exclu¬ 
sive differentialdiagnostische Bedeutung zukommt, und so wird es er- 
klarlich, dass bezttglich der klinischen Stellung eines und desselben 
Falles mitunter zwischen den erfahrensten Autoren Divergenzen vor- 
kommen, wie z. B. Hoffmann den von Oppenheim und Cassirer 
klinisch unter die neurotische Muskelatrophie gerechneten, anatomisch 
als Dystrophie erwiesenen Fall bei genauer Analyse der Symptome 
als klinisch ebenfalls unter Dystrophie gehbrig bezeichnet. 

Neben diesen verschiedenen klinischen Momenten haben sich aber 
auch in anatomischerBeziehungBefunde ergeben,die der schematischen 
Trennung der Dystrophie und spinalen Amyotrophie Schwierigkeiten 
bereiten. Zunachst lehrten verschiedene Untersuchungen, dass auch 
dem mikroskopischen Muskelbefunde keine ausschlaggebende Bedeutung 
zukommt Denn im Gegensatz zu der frtiher so scharfen Gegentiber- 
stellung — wonach der Dystrophie die „einfache“ Atrophie der Muskeln 
mit V erschmalerung, aber erhaltener Querstreifung, so wie Hypertrophie der 
Fasem zukomme, den spinalen Amyotrophien dagegen die „degenerative“ 
Atrophie der Muskelfasern mit scholligem Zerfall derselben —, hat sich ge- 
zeigt dass bei unzweifelhaft spinalen Erkrankungen,wie Poliomyelitis (Mul¬ 
ler, Oppenheim), spinaler Kinderlahmung (Dejerine, Joffroy und 
Achard, Hitzig), Syringomyelie (Schultze, Lewin), hypertrophische 
Fasem vorkommen, und auch bei progressiver Bulbarparalyse sowie 
bei Neuritis (Lewin), ferner bei spinaler Muskelatrophie (Hoffmann) 
die Muskeln das Bild der einfachen Atrophie darbieten konnen, und 
so gelangte in neuester Zeit Loewenthal zu dem Resultat, dass 
„der histologische Muskelbefund nicht zur Sicherung der Diagnose 
geeignet erscheint“. Auch experimentelle Untersuchungen haben ge- 
zeigt, dass nach Nervendurchschneidung nur ,,einfache“ Atrophie zu 
Stande kommt, wahrend die sogenannten „degenerativen“ Verande- 
rungen wahrscheinlich als Folge von Nebenursachen aufzufassen sind 


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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 3 

(Stier). Endlich ergiebt sich aber auch bezflglich des anatomischen 
Befundes am Nervensystem keine ausnabmlose Constanz, derm es giebt 
eine Anzahl von klinisch der typischen Dystrophia entsprechenden 
Fallen, bei welchen die mikroskopische Untersuchung mehr Oder minder 
starke Veranderungen der granen Vordersaulen ergab. Solche Falle 
sind von Erb-Schultze, A. Pick, Kahler, in nenerer Zeit von 
Frohmaier, Heubner, Preisz mitgetheilt worden. Erb lasst in 
seiner grossen Monographic (1, S. 248) die Frage often, ob es sich 
dabei vielleicht nur um secundare Veranderungen handle, wahrend 
Strtmpell bei einem seither mitgetheilten, klinisch nicht sicher ein- 
gereihten Fall mit hochgradiger „einfacher“ Atrophie der Muskeln die 
von ihm erhobene Atrophie der peripheren Nerven und fast aller 
motorischen Ganglienzellen als secundar auffasst, cL h. hinzugetreten 
zu der primar in den Muskelfasem entstandenen Atrophie. Wie schwierig 
und von dem Standpunkte des jeweiligen Beurtheilers abhangig aber 
die Entscheidung in Bezug auf die secundare oder primare Natur 
der in solchen Fallen gefundenen Veranderungen des Nervensystems 
1st, geht'z. B. daraus hervor, dass Hoffmann bezuglich des letzter- 
wahnten StrUmpellschen Falles unter genauer Analyse der klini- 
schen und anatomischen Befunde zu dem entgegengesetzten Schluss 
gelangt, namlich dass es sich nicht, wie Strfimpell meint, um eine 
primare Myopathie, sondem um eine spinale Muskelatrophie (Typus 
Duchenne-Aran) gehandelt habe. Diese Falle von Dystrophie mit 
mehr oder minder starken Veranderungen am Nervensystem einerseits, 
andererseits die oben erwahnten Erfahrungen beziiglich des Vorkommens 
einfacher Atrophie bei Erkankungen des Nervensystems haben in 
neuerer Zeit die Anschauung von der primar myopathischen Natur 
der Dystrophie — auch fUr jene Falle mit anscheinend normalem Be- 
fund am Nervensystem — schwankend gemacht und dazu geftihrt, 
auch fQr diese Form der Muskelatrophie eine neuropathische Genese 
fhr moglich zu erachten, dieselbe also als mikroskopisch sichtbaren 
Effect von functionellen, mikroskopisch bislang unsichtbaren Storungen 
der trophischen Centra aufzufassen (Erb, 1, S. 239). Diese schon fraher 
von Knoll (1), Moebius u. A. geausserte, in neuerer Zeit aber in Folge 
der negativen Sectionsbefunde von Lichtheim, Charcot, Schultze 
etc. zu Gunsten der primaren Myopathie verlassene Anschauung ist 
von Erb neuerdings vertreten und auch von Strampell acceptirt 
worden, der hierfftr auch die so ansprechende, von ihm schon fraher 
zur Erklarung des Aufhorens der Degeneration der Pyramidenseiten- 
strangbahn in der Oblongata bei den sogenannten primaren Degenera- 
tionen aufgestellte Hypothese herangezogen hat, wonach die Folgen 
einer Verminderung der nutritiven Zellkernfunctionen zunachst in den 

1 * 


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4 


I. Friedel Pick 


vom Zellkern entfernteren Gebieten zu anatomisch sichtbaren Verande- 
rungen ffthren wfirden. 

Die vorstehend gegebene Uebersicht fiber die verschiedenen, in 
neuerer Zeit auf dem Gebiete der Muskelatrophien aufgeworfenen 
Fragen zeigt zur Gentige, welche hohe Bedeutung der Untersuchung 
derartiger Falle, namentlich in anatomischer Hinsicht, zukommi Fol- 
gende Punkte sind es, auf welche die Aufmerksamkeit zu rich ten 
sein wird. 

1. Die differentialdiagnostische Werthigkeit der verschiedenen, 
bei den einzelnen Formen zu beobachtenden Symptome (Lebensalter, 
Localisation , fibrillare Zuckungen, EaR, mikroskopischer Muskelbe- 
fund etc.) und insbesondere die Feststellung eventueller Uebergangs- 
formen zwischen den sog. primar myopathischen und den myelopathischen 
Formen. 

2. Die genaueste Untersuchung des Nervensystems, insbesondere 
der Vorderbomzellen, mit den neueren, einen Einblick in feinere Zell- 
structur gestattenden Methoden, so namentlich der von Nissl ange- 
gebenen, die, wie ich aus der Literatur ersehe, bei Fallen von typischer 
Dystrophie noch nicht zur Anwendung gelangte. 

3. Im Falle, dass Veranderungen im Nervensystem gefunden 
werden sollten, eine Entscheidung darfiber, ob dieselben als primar 
oder secundar in Bezug auf die Muskelatrophie anzusehen sind. 

4. Mit Rficksicht auf die oben angeffihrte Theorie von der tropho- 
neurotischen Genese der Dystrophie und die Strfimpell'sche Hypothese 
von dem frfiheren Auftreten der Veranderungen an den vom Zellkern 
entfemtesten Abschnitten eine Untersuchung der motorischen Nerven- 
endigungen in den Muskeln, worfiber bisher, soweit mir bekannt, nur 
eine Angabe von Sacara-Tulbure vorliegt, welche in einem klinisch 
jedoch nichts weniger als klaren Falle Degenerationen der Nerven- 
endigungen beschreibt. 

Von diesen Gesichtspunkten aus soil im Folgenden zunachst fiber 
die Totalsection eines klinisch als spinale Form imponirenden Falles 
berichtet werden, sowie fiber drei weitere, von welchen bei zweien 
durch Muskelexcision frisches Material gewonnen wurde. Ffir die 
Ueberlassung der Falle bin ich meinem hochverehrten Chef, Herrn 
Hofrath Pribram, zu ergebenstem Danke verpflichtet 

Fall I. 

Z. W. 52 Jahre alter Muller aus Wotitz, kam zum ersten Male Ende 
Juni 1893 zur Klinik. Er gab an, friiher nie krank gewesen zu sein, bis 
er vor 2 Jahren plotzlich unter lebhaften* Schmerzen in beiden Knie- und 
Sprunggelenken erkrankte; dabei bestand weder Fieber noch Anschwellung 
der Gelenke. Anfangs konnte Pat. wegen den Schmerzen nicht gehen, als 


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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie. 


5 


diese spater nachliessen, bemerkte Pat. beim Gehen friihzeitiges Ermuden, 
und gleichzeitig magerten die £eine ab; ebenso trat Schwache und Ab- 
magerung der oberen Extremitaten und der Halsmuskeln auf, Schmerzen 
hatte er jedocb in diesen nie. 

Eine Vergrbsserung der Schilddriise besteht seit friihester Kindheit, 
docb war sie friiher nicht so gross; erst im Lauf der Jahre ist sie zur 
jetzigen Grosse berangewachsen, sie hat dem Pat. nie Beschwerden gemacht. 

Pat. hat mehrfach Traumen erlitten, vor 8 Jahren traf ihn die Schaufel 
eines Miihlrades an der Schulter, wonach er eine Zeit lang bewusstlos war; 
vor 3 Jahren fiel ihm ein 75 Kilo schwerer Sack Getreide von der Hbhe 
eines Meters auf den Kopf und Nacken. 

Potatorium und Infection wird negirt. 

Vater des Pat. starb an Magenkrebs, die Mutter nach einem Schlag- 
anfall, seine Frau an Lungenschwindsucht, ein Kind an dem Pat. unbe- 
kannter Krankheit. Ein Bruder und eine Schwester des Pat. leben und 
sind gesund; eine ahnliche Krankheit ist in der Familie, soviel er weiss, 
nicht vorgekommen. 

Status vom 29. VI. 1893. 

Pat. gross, von kr&ftig entwickeltem Knochenbau, geringem Panniculus 
adiposus, Schadel dolichocephal, Pupillen mittelweit, trage reagirend. Schild- 
driise in alien ihren Antheilen massig vergrossert, die cervicalen Lymph- 
driisen tastbar, Zunge rein, feucht, wird gerade vorgestreckt. Nach aussen 
von der r. Mamilla ein gulden grosser papillarer, pigmentirter Naevus, 
auch sonst zahlreiche solche am Stamme. Im Nacken die Wirbel bis zum 
sechsten deutlich tastbar. Sternocleidomastoidei nicht zu tasten, man 
kommt gleich auf die Halsgef&sse und die Querfortsatze der Wirbel. Auch 
sonst die Muskeln an der vorderen und seitlichen Peripherie des Halses 
nicht zu tasten, die an der Ruckseite sehr atrophisch. Der Kopf wird steif 
gehalten, eine Annaherung des Kinnes an die vordere Brustwand ist activ 
nicht mbglich; nach riickwarts sinkt der Kopf weit zuriick bis zur Beriih- 
rung des Riickens (Fig. 1S. 6), kann geradeaus nicht wieder aufgerichtet werden, 
sondern der Pat. stiitzt sich beim Aufsetzen aus der Riickenlage auf die 
Ellbogen und erst nach einer halbkreisformigen Drehung des Rumpfes kommt 
Pat. zum Sitzen, wahrend zugleich unter pendelnden Bewegungen der Kopf 
nach vorne failt und mit deutlichem Ruck wie einschnappend in eine Stellung 
etwas nach vorne von der Mittellinie gebracht wird. 

Deltoides sowie Pectoralis sehr gering ausgebildet, ebenso 
Biceps und die ganze Musculatur des Vorderarms sowie der Thenar und 
Antithenar und der Handflache. Pat. kann die nach vorn gelegten 
Hande bis zur Senkrechten erheben, dies ist jedoch nicht der Fall, sobald 
er sie aus der Seitenlage erheben soli. Ben gen der Finger ist mbglich, 
dagegen nicht das Spreizen derselben; das Strecken geschieht an der 
rechten Hand gut, an der linken wird der Kleinfingerballen nicht voll- 
standig gestreckt. 

Richtet sich Pat. auf, so steht er mit vorgebeugtem Oberkbrper, der 
Kopf failt nach vorn; versucht er sich gerade zu halten, so sinkt er in die 
Kniee. Gang schwankend, sehr breitspurig. 

Sensibilitat normal. 

Reflexe an den oberen Extremitaten verstarkt, an den unteren nur an- 
gedeutet, Bauchreflex nicht deutlich. 


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6 


I. Friedel Pick 


Musculatur an den nnteren Extremit&ten viel besser erhalten, zwar 
schwach, aber keine besondere Atropbie dentlich. An den inneren Organen 
and im Harn nichts Abnormes. 

Das Sensorium dea Pat. frei, die Intelligenz dem Bildungsgrade ent- 
sprechend. 

Die elektrische Untersnchung des Pat ergab bedentende Herabsetzung* 
der Erregbarkeit far den faradischen und galvanischen Strom ohne jegliche 
Umkehr der Zuckungsformel oder tr&ge Zuckung; an der Danmenmnscalatiir 
war bei st&rksten Strom keine Zncknng zn erzielen, aber Starke Schmerzens- 
kusserung, nnd der Pat. wnrde bei wiederbolten Untersuchungen ongebalten 



Fig. 1. 


nnd widersetzte sich der weiteren elektrischen Exploration mit der Begriin- 
dung, dass er bis auf die Beine gesnnd sei. 

Pat. klagte im weiteren Verlanf iiber Schmerzen in den Fiissen beim 
Herumgehen, die bei Bettrahe fehlten; dann schwanden die Schmerzen unter 
galvanischer Behandlnng, es blieben noch Schwache und zeitweises Ameisen- 
laufen in den Fiissen zariick. 

Ende August gab Pat. an, sich leichter aufrichten und besser gehen 
zu kbnnen. Anfang October wurde er entlassen. 

Ein Jahr sp&ter, Mitte October 1894, kam er wieder zur Klinik mit 
bedeutend verschlimmertem Znstande. Er lag meist apathisch mit nach 
hinten gesunkenem Kopfe da, beim Aufsetzen beugt er den Oberkorper stark 
nach vome; die Pupillen zeigten keine deutliche Reaction. Die Nacken- 
musculatur, namentlich links, stark geschwunden, so dass man die Wirbel- 
skule durchtastet. 


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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie. 


7 


Der Kopfnicker fehlt auf beiden Seiten. Platysma erhalten, stark 
aasgepr&gt Cucnllaris vorspringend. Clavicularportion fehlend, Pec- 
toralis maj., Deltoides, Latissimus dorsi, Supra- und Infraspinati beiderseits 
erhalten, aber stark abgemagert. 

Die beiden Schulterbl&tter sind von der Wirbelsaule weit entfernt, das 
linke Schulterblatt nach oben rotirt. 

Der untere Theil des Cucnllaris contrahirt sicb beim Husten sehr 
schwach. Von der Schilddriise gegenw&rtig nur ein Theil des rechten und 
mittleren Lappen zu tasten, der linke ganz feblend. 

Supinator long, beiderseits fast ganz fehlend. 

Das Bewusstsein nicht ganz klar, in der letzten Zeifc ist Pat. schlaf- 
siichtig. Er antwortet tr§ge mit wenigen Worten, unwillig, seine Antworten 
widersprechen sich. sindjedoch im Allgemeinen dem Bildungsgrade angemessen. 
Eine wesentlicheSprachstftrung ist in demSinne vorhanden, dassdieBewegungen 
der Zunge ganz unregelmassig und wie ermiidet erfolgen. Beim Sprechen 
entweicht Luft durch die ‘Nase, und der Kranke ist nicht im Stande ge- 
wisse Laute scharf auszusprechen. K wird wie ein hauchendes H gesprochen. 
Das gutturale Ch der btfhmischen Sprache bringt Pat. nicht deutlich her- 
vor. Zunge nicht auffallend abgemagert, zeigt einzelne fibrill&re Zuckungen, 
die Papillae filiformes sind stark verlftngert. 

Bewegungen des Gaumens erfolgen beiderseits gleich, mimische und Fa- 
cialisbewegungen normal. Sternocleidomastoideus fehlend bis auf einen 
kleinen, kaum von der Fascie zu trennenden Rest. Beim Schlingacte, der 
anstandslos erfolgt, treten weder rechts noch links besondere Muskeln in 
Erscheinung. Contraction des Platysma, Biventer oder Omohyoideus nicht 
zu sehen. Man gelangt bei der Palpation durch die Haut und die darunter- 
liegenden dunnen Schichten unmittelbar auf die Querforts&tze der Hals- 
wirbel, der Kehlkopf ausserordentlich leicht verschiebbar, Brustkorb schmal 
und lang. Die Hande in Affenhandstellung, die Daumen nicht opponirt, Spatia 
interossea stark ausgepragt, Opponens, Abductor und Adductor des kleinen 
Fingers stark geschwunden. Elektrische Reaction derselben nicht auszu- 
losen. Am Vorderarm die Beuge- und Streckmuskeln, aber namentlich die 
ersteren stark atrophirt, so dass der vordere Contour der Ulna deutlich 
sichtbar ist. Oberarmmuskeln abgemagert, jedoch sowohl Biceps als Triceps 
zur Contraction zu bringen. Supinator ist am rechten Arm vollstandig ge¬ 
schwunden, links vorhanden. Tricepsreflex am rechten Arm nicht vorhanden. 
Klopfen auf die Musculatur des Ext. digit, commun. hat Contraction zur 
Folge, dagegen hat Beklopfen des Palmaris, der Fingerbeuger, des Periosts 
keine Contraction zur Folge. Sensibilit&tsstorungen nicht vorhanden. 
H&ndedruck am Dynamometer = 0. 

Untere Gliedmassen stark abgemagert, namentlich die Wadenmusculatur, 
so dass die Fibulae sehr stark vorspringen. Beklopfen des Vastus hat 
keine Contraction zur Folge. Cremaster- sowie Patellarreflexe weder rechts 
noch links auszulosen. Beim Aufsetzen sinkt der Eopf oft nach riickwarts. 
Wirbelsaule gerade. 

Die elektrische Untersuchung in dieser Zeit ergab flir die galvanische 
Erregbarkeit annkhernd normals Zahlen, fur die faradische Starke Herab- 
setzung. 

An den kleinen Handmuskeln vollstkndiges Fehlen der Reaction fiir 
beide Stromarten. 


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8 


I. Friedel Pick 


Im weiteren Verlaufe trat dann eine linksseitige Otitis media mit einem 
Abscess im Nacken auf, Pat. verfiel immer mehr und starb am 19. Nov. 1894. 

Dem Protokoll der am selben Tage im path.-anat. Institut (Hofrath 
Chiari) vorgenommenen Section entnehme ich folgende Daten: 

Der Korper 171 cm lang, von mfissig kraftigem Knochenbau, mager 
blass, Hals lang, Thorax mittellang, flach, Abomen eingezogen. Zahlreiche 
Pigmentnaevi von 3 mm bis 1 cm Durchmesser. 

Weiche Schadeldecken blass, Sch&deldach 54 cm im Horizontalumfang. 
Seine Wand bis 1 cm dick, von mittlerem Diploegehalt, Dura sehr wenig 
gespannt, in ihren Sinus sp&rliches flussiges und postmortal geronnenes Bint. 
Die inneren Meningen fiber der Convexitat des Grosshirns leicht getrfibt, 
odematos, leicht abziehbar und von mittlerem Blutgehalte. 

Das Gehim normal configurirt, feuchter, mfissig blutreich. Seine Win- 
dungen etwas verschmalert, seine Furchen mit entsprechenden Verbreiterungen. 
Seine Ventrikel etwas erweitert, die basalen Arterien mit frischen Blutge- 
rinnseln gefullt. Das Rtickenmark zeigt etwas stfirkere Ftillung seiner 
Geffisse. Seine Querschnitte lassen keine Verfinderung der gewohnlichen 
Zeichnung erkennen. Zwerchfellstand links 4., rechts 5. Rippe, seine Muscu- 
latur l&sst keine Atrophie erkennen. Die Prfiparation der Musculatur er- 
giebt folgenden Befund. Die Mm. sternocleidomastoidei in dtinne bindege- 
webige Strange umgewandelt. Die Mm. omohyoidei, sternohyodei, sterno- 
thyreoidei sowie die Muskeln des Bodens der Mundhohle ziemlich gut erhalten. 
Mm. pectorales majores von ansckeinend normaler Beschaffenheit, minores 
sehr atrophisch. Die Mm. intercostales, serrati antici majores und die 
Bauchwandmuskein gut erhalten. Von den Rtickenmuskeln zeigen sowohl 
die Cucullares als auch die Mm. latissimi dorsi und die erectores trunci hoch- 
gradige Atrophie. An den Extremitaten sind von der Atrophie besonders 
stark ergriffen die Mm. deltoidei. Die Streckmuskeln des Vorderarms, die 
Muskeln der Daumen und Kleinfingerballen und die Mm. interossei sind ge- 
schwunden; ziemlich gut erhalten sind die Mm. bicipites, tricipites und das Caput 
comm, der Beuger des Vorderarms. An den unteren Extremitaten zeigt sich 
in der Wadenmusculatur sehr starke Lipomatose. Die Glut&almuskeln und 
die Muskeln des Oberschenkels sind beiderseits ziemlich gut erhalten. 

Pathol.-anatomische Diagnose: Otitis media suppurativa sinistra, 
subsequente abscessu nuchal. Pneumonia lobul. bilat. Morbus Brightii 
chronic, gradus levioris, Polypus mucosus recti. Hystricismus circumscriptus 
parietis thoracis d. 

Atrophia cerebri grad, levior. Atrophia et Lipomatosis musculorum. 

Bei der Section wurden entsprechende Sttickchen aus den verschiedenen 
Hohen des Rfickenmarks sowie Theile der Grosshirnwindungen in Alkohol 
eingelegt, der Rest in Miiller’sche Flfissigkeit. Ferner wurden zahlreiche 
Nerven und Muskeln in Mtiller'sche Flfissigkeit eingelegt und spater theils 
nach Mar chi behandelt, theils mit Hamatoxylin, Cochenille-Alaun, sowie 
nach van Gieson, Weigert, Pal, letzteres mit nachfolgender Alaun-Carmin- 
farbung geffirbt, wobei mich Herr stud. G. Kobler mit dankenswerthem 
Eifer unterstfitzte. 

Die Rinde der r. Centralwindungen ergab durchaus normalen Be¬ 
fund an den Ganglienzellen. 

Die TJntersuchung des Rfickenmarks an Schnitten aus der Hfihe des 
Cervicalis n, III, V, VI, VII, Dorsalis I, II, HI, VI, X, XII, Lumbalis II, 


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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 9 

V, mit Ammoniakcarmin, Nigrosin, ferner nach Nissl, Weigert, van 
Oieson gefarbt, ergab die weisse and grane Substanz durchans normal, die 
Zellen der Vorderhbmer allenthalben, insbesondere ancb an Nisslpraparaten, 
wohlansgebildet, von anscheinend normaler Zahl, ihre Fortsfttze und Granula 
deutlich zu sehen. Ebenso erwiesen sich vordere nnd hintere Wurzeln normal. 
Die Untersnchnng der Oblongata an Serienschhitten bis hinauf zum oberen 
Olivenende ergab ebenfalls einen ganz negativen Befund. Die Pia der inneren 
Meningen erschien stellenweise etwas verdickt, ebenso die Wand ihrer 
Arterien. Indessen erlangte diese Veranderung nirgends einen nennens- 
werthen Grad. Die Untersnchnng der Nerven ergab folgenden Befnnd. 

N. glossopharyngeus von normalem Anssehen, sowohl der Axen- 
cylinder als Nervenfasem. Anf Langsschnitten stellenweise zwischen den 
Fasern eingelagerte schone Ganglienzellen. In der Scheide des Nerven reich- 
liches Fettgewebe. 

N. vagus durchans normal, ebenso N. hypoglossns, radialis, ulnaris 
nnd median us bis anf etwas starker e Einlagerung von oblongen Kernen inner- 
halb und Fettgewebe zwischen den Nervenbiindeln ebenfalls normal. 

Im N. axillaris zeigte die Mehrzahl der Einzelbundel ebenfalls durch- 
aus normales Verhalten, nnr in einzelnen Bhndeln fanden sich anffallend 
lichte Partien (s. Taf. II n. HI, Fig. 7), bestehend aus einem weitmaschigen Ge- 
webe mit sich nnr blass fkrbenden ovalen Kernen, die, wie es scheint, concentrisch 
nm ein, manchmal anch an der Peripherie gelegenes, sich starker tingirendes 
Gebilde mit kornigem Inhalt angereiht waren, welches stellenweise den Ein- 
drnck eines Gefksschens machte, wahrend an anderen Stellen man den Ein- 
druck einer im Centrum verlaufenden Nervenfaser hat. Diese Gebilde 
liessen sich immer nnr dnrch eine geringe Zahl von Schnitten verfolgen. 
Die Nervenfasem in der Umgebung schienen immer durchans intact im 
Bogen dariiber wegzuziehen. Stellenweise fanden sich in einem Nerven- 
biindel zwei derartige Gebilde, z. B. eines an der Peripherie, eines im 
Centrum. Auf Langsschnitten erwiesen sich diese Gebilde als spindelige, 
moist einem Bindegewebsseptum anliegende Zuge eines weitmaschigen Ge- 
webes mit blassen Kernen. Es handelt sich offenbar urn Renaut’sche 
Korperchen, denen wir auch weiterhin (M. triceps) noch begegnen werden. 

Der N. accessorius dagegen bot ein von den iibrigen Nerven durchans 
verschiedenes Bild. (Taf. II u. Ill, Fig. 4 u. 5.) 

Von den 4—5 Nervenbiindeln, aus denen er am Querschnitt zusammen- 
gesetzt schien, zeigten die kleineren bis auf etwas Vermehrung des Zwischen- 
gewebes keinerlei abnormen Befund. Das grosste Nervenbiindel hingegen 
zeigte zwei Haiften von ganz verschiedenem Anssehen. Die eine, den 
anderen Bundeln zugekehrte, zeigte wohlentwickelte Axencylinder und Mark- 
scheiden, die andere hingegen blieb bei der Weigert'schen Farbung z. B. 
ganz ungefarbt und liess in dem faserigen, ziemlich kernreichen Gewebe 
nnr einzelne schwarzgefarbte Nervenfasem erkennen (Fig. 5). Bei der Ver- 
folgung an Serienschnitten zeigte sich nun, dass an einer bestimmten Stelle 
ein Ast gerade aus diesem Biindel herans sich abzweigte, und zwar von der 
lateralen, degenerirten Haifte aus, und dieser ganze Zweig blieb bei der 
Weigert'schen Farbung gelb und zeigte nur 2—3 gefarbte Fasern am 
Rande, welche auch alsbald aufhorten (Fig. 4). Auf die Bedeutung dieses Be- 
fundes mbchte ich erst spater, bei der Besprechung des Ergebnisses der 
Untersnchnng der Muskeln, eingehen. 


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I. Friedel Pick 


Von den Mnskeln warden 18 von der rechten K5rperh&lfte theils 
an L&ngs-, theils an Qnerschnitten untersucht, and sei hier der hierbei er- 
hobene Befand der Kiirze halber in Schlagworten wiedergegeben. 

Sternocleidoma8toidens. Aensserst reichliches Fettgewebe, da- 
zwischen inselftrmig eine sich ziemlich diffns f&rbende Masse, mit wenig an- 
gedeuteter fibrill&rer Stractor and ziemlich zahlreichen Kernen, ohne die ge- 
ringste Andentnng von Querstreifang. Bei der Marchi’schen Methods 
keinerlei Schwarzfkrbung innerhalb dieser Masse. Gef&sse stellenweise stark 
verdickt. Intramuscul&re Nerven wohlerhalten. Ebenso heben sich die 
Muskelspindeln, namentlich bei Pal-Alauncarminf&rbung, scharf ab von 
der Umgebung, ihre Nervenfasern und Muskelbiindel wohlerhalten. 

Cucnllaris. Wohlerhaltene Mnskelfasern; nnr hie nnd da etwas 
st&rkere Fettentwicklnng in den Septis nnd am die Gef&sse, sowie stellen¬ 
weise st&rkere Einlagerang von Kernen zwischen den Mnskelfasern. In dem 
Pr&parate hie nnd da besonders anffallend grosse nnd intensiv get&rbte 
Muskelquerschnitte, doppelt so gross wie die iibrigen (hypertrophische 
Fasern.) Die intramuscul&ren Nerven normal. 

M. deltoideus. Anffallende Kernvermehrnng innerhalb nnd am Bande 
der Mnskelfasern. Querstreifang dentlich erhalten. An l&ngsgetroffenen 
Fasern die Kerne in Zeilen angeordnet. An den Mnskelfasern hie nnd da 
Andentnng von Spaltnng. An einzelnen Stellen herdweise breite Binds- 
geweb8ziige mit Fetteinlagemng. An den umgebenden Mnskelfasern Qner- 
streifung nicht dentlich. Intramuscul&re Nerven zahlreich getroffen. 
sehr schon bis in die feinsten Verzweignngen gefkrbt. 

Serratus anticns major. Starke Fettgewebswucherung zwischen den 
Fasern. Diese znm Theil anffallend verschm&lert, Querstreifang allent- 
halben gut erhalten, zeigen zahlreiche, in Reihen angeordnete Kerne. Intra- 
muscul&re Nerven gut erhalten, gut gefkrbt. 

Pectoralismajor. Zwischen den Biindeln wohlerhaltener Mnskelfasern, 
die jedoch alle anffallend viel Kernvermehrnng zeigen, sieht man Inseln, 
innerhalb welcher die Mnskelfasern theils verschm&lert, theils abnorm breit 
sind. Stellenweise spaltet sich eine Mnskelfaser bei noch erhaltener Quer- 
streifung, stellenweise nnr noch Bruchstiicke von Mnskelfasern, nmgeben von 
zahlreichen, stark tingirten Kernen. 

Pectoralis minor. Heines Fettgewebe, in parallelen Reihen da- 
zwischen, nnr hie nnd da streifenfdrmig angeordnet, ein sich diffns f&rbendes 
kernarmes Gewebe von welliger Structnr. Gefasse stellenweise verdickt. 
Sparliche, jedoch gut gefkrbte Nervenbiindel. 

Bicep 8. Sehr anffallende Kernvermehrnng in nnd urn die Mnskelfasern. 
Herdwetees Zugrundegehen von Mnskelfasern: Zerfall in L&ngsfibrillen, Ver- 
lnst der Querstreifang, Starke Ansammlung intensiv gefarbter Kerne an 
den Enden der Fasern, neben sehr breiten Fasern einzelne schmale mit 
wohlerhaltener Qnerstreifung, vereinzelte Spaltungen von Fasern, wenig 
Fettgewebe. Intramuscuiare Nerven normal. 

Triceps. Dasselbe Bild wie beim Biceps. Nnr die Differenzen in Bezug 
auf die Breite der Fasern und die Spaltbildungen bedentender, neben- 
einander 120 nnd 12 Mikren. Mitgetroffen in den Schnitten ist ein 
grdsserer Nervenast, dessen Nervenfasern wohlerhalten sind. An einem 
Theil der Schnitte findet sich, wie es scheint, von der Peripherie gegen 
die Mitte zn vordringend, ein stellenweise die H&lfte des Nervenst&mmchens 


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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie. 


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eiimehmende8 lichtes Gebilde, welches ganz dieselbe Structur zeigt, wie die 
oben beim Nervus axillaris beschriebenen Renaut’schen Kbrperchen 
(siehe Taf. II, III, Fig. 6). Dieses Gebilde nur in einem Theil der Schnitte 
nachweisbar, immer ums&umt yon wohlerhaltenen, sich gutfUrbenden Nerven- 
fasera. An hfther oben gelegenen Schicbten nimmt die licbte Partie immer 
mehr an Ansdebnung ab, und alsbald gewinnt der Nerv ein vollstftndig 
normales Aussehen. 

Caput commune flexornm. Starke Kemvermehrnng im Zwischenge- 
webe. Breite Fasern mit verschwundener Qnerstreifang nnd faserigem Ban, 
auffallend scbmale Fasern mit erhaltener Qnerstreifang. Intramnsculare 
Nerven bis in die feinsten Verzweignngen normal. 

Flexor digit communis sublimis. StarkeFetteinlagernng, dazwischen 
Brachstftcke von Mnskelfasern. Qnerstreifang meist nocb gat erhalten, in 
den l&ngsgetroffenen Fasern Starke Kemvermehrnng nnd Spaltbildnng. An 
den quergetroffenen Fasern anffallend eine Sonderung* des Qnerscbnittes in 
einen centralen Theil vom Aussehen gewohnlicher Mnskelfasern nnd einen 
peripheren Sanm yon blftsserer Farbe nnd ktfrniger Beschaffenheit. In den 
Marchi-Praparaten die Mehrzahl der Fasern ohne jegliche Schwarze; in 
anderen hingegen mehr minder reichliche schwarze Kbrnchen, mitnnter selbst 
bei wohlerhaltener Querstreifnng (s. Taf. II, III, Fig. 10). Bei dieser Be- 
bandlnng die oben erwahnte Differenzirung eines peripheren, anscheinend 
mehr protoplasmareichen Antheiles von einem centralen mit gnt erhaltener 
Muskelfaserstructnr deutlich. Intramnsculare Nerven reichlich, meist 
schirn gefarbt. Nur die feinsten Faserchen zwischen den Muskelfasern 
zeigen Liicken, welche die schwarze Farbung nicht angenommen haben. 

Omohyoidens. Reichliche Kernvermehrung zwischen und in den 
Mnskeln, Querstreifnng meist wohl erhalten. In einzelnen Fasern lichte 
Partien ohne Querstreifnng. Bedeutende Differenzen in der Breite der Fasern 
nnd im Reichthum an Kemen. Herdweise Einlagerung von geringen Mengen 
von Fettgewebe. Intramnsculare Nerven stellenweise reichlich, schon 
gefarbt. 

Intercostalis sextus. Reichliche Fetteinlagernng, dazwischen nur 
Bruchstiicke von Mnskelfasern verschiedenster Breite. Auffaserung in Langs- 
tibrillen bei erhaltener Qnerstreifung. Reichliche Vacuolenbildung. Manche 
Fasern enthalten mehrere Vacnolen, welche stellenweise so gross sind, dass 
sie an Fettzellen erinnern. In der Umgebung der Vacnolen der Qnerschnitt 
intensiver gefarbt als an der Peripherie. Auch hier an manchen Quer- 
schnitten peripher ein Saum grannlirter Substanz, im Centrum wohl er- 
haltene Mnskelfasern. An manchen Stellen, wo das Fettgewebe reichlicher 
ist, zwischen demselben nnr noch Reste einer homogenen Substanz 
ohne jede Qnerstreifung. Intramnsculare Nerven reichlich, schbn 
tingirt. 

Gastrocnemius. ReinesFettgewebe, zwischen welchem nnr noch schmale 
Streifen eines faserigen Bindegewebes erhalten sind. Nnr ganz vereinzelt 
linden sich Schlauche, die Bruchstiicke von mnskelahnlichem Ban enthalten 
(Taf. I, Fig. 2 u. 3), innerhalb welcher sich rundliche Kerne linden, oder 
kurze Streifen ausserst schmaler Muskelfasern mit erhaltener Querstreifnng, 
umgeben von dicht gedrangten Kernen. Gefksse stellenweise verdickt. 
Das Fettgewebe in parallelen Reihen angeordnet, Nervenfasern in dem- 
elben nicht zn entdecken. 


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I. Fjuedel Pick 


Extensor digitorum communis pedis. Aeusserst reichliche Kern- 
einlagerung in und zwischen den Muskelfasern. Stellenweise hypertrophische 
Fasern, Querstreifung meist gut erhalten. Intramuscular© Nerven- 
starn me schon gef&rbt. 

Halsstrecker. In einem lockeren Fettgewebe sehr reichliche Brueh- 
stiicke von Fasern, mit theils noch wohlerhaltener Querstreifung, zum Theil 
faseriger und korniger Structur (Taf. I, Fig. 1). Die Gef&sse etwas verdickt; 
intramusculare Nervenfasern bis in die feinsten Verzweigungen gut 
gefkrbt. 

Musculatur der vorderen Bauchwand. Im Ganzen normal, nur 
etwas mehr Kemeinlagerung, sowie stellenweise breitere Fasern mit undent- 
licher Querstreifung. 

Zwerchfell. Reichliche Fetteinlagerung die dazwischen gelegenen 
Muskelquerschnitte von sehr verschiedener Breite, zeigen zahlreiche Vacuolen. 
IntramusculSlre Nerven bis in die feinsten Verzweigungen nachweisbar. 

Rechte Zungenhalfte. Reichliches Fettgewebe; in den bundelweise 
dasselbe durchziehenden Muskelfasern reichliche Kernvermehrung, stellenweise 
auffallend schmale Fasern mit gut erhaltener Querstreifung. Hier auch, 
isolirt im Fettgewebe verlaufend, ausserst zahlreiche, intensiv gef&rbte 
Nervenbiindel. 

Resumiren wir kurz das bisher Gesagte, so fanden wir bei einem 
52 jahr. Manne, der angab, nach vorbergehender vollstandiger Gesund- 
heit vor zwei Jahren unter Schmerzen im Knie nnd Sprunggelenk er- 
krankt zu sein, worauf Schwache der unteren und oberen Extremitaten 
und derHalsmusculatur auftrat, klinisch: Ziemlich starke Atropbie dieser 
Muskeln mitvorwiegendemBefallenseinderSternocleidomastoidei;in mehr 
minder hobem Grade waren abgemagert Thenar und Antithenar, und 
eigentlich war die ganze Musculatur der Extremitaten stark atrophisch. 
Keine Sensibilitatsstorung, Reflexe schwach; keine fibrillaren Zuckungen 
keine EaR. Als Patient nach einem Jahre wieder kommt, constatirt man 
auffallend schlechte Sprache, an der Zunge fibrillare Zuckungen; die 
Atrophie hat zugenommen. Klinische Diagnose: Spinale Muskel- 
atrophie. Anatomische Untersuchung: Ruckenmark intact, ebenso 
das Gehirn und die peripheren Nerven, mit Ausnahme der oben er- 
wahnten Renaut’schen Korperchen im Nervus axillaris und der 
partiellen Degeneration im Nervus accessorius. In den bereits 
makroskopisch zum Theil ganz verfetteten Muskeln ergab die Unter¬ 
suchung „einfache u Atrophie mit Lipomatose und zwar bis zum totalen 
Faserschwund im: Sternocleidomastoideus, Gastrocnemius, Pectoralis 
minor; hochgradige im Serratus anticus major, Flexor digitorum commu¬ 
nis sublimis, Halsstrecker; geringere im Pectoralis major, Zwerchfell, 
rechter Zungenhalfte. In diesen Muskeln neben der Lipomatose auch 
Vacuolenbildung, Spaltung der Fasern und Kernvermehrung in den- 
selben, sowie Hypertrophie einzelner Fasern. Diese letztere Verande- 
rung, ohne Lipomatose und nur in geringem Grade ausgebildet, fand 


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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie. 


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sich in den sonst normalen Mm. cucullaris, biceps r triceps, deltoi- 
deus, omohyoideus, extensor digitorum communis pedis, caput com¬ 
mune flexorum und den Muskeln der vorderen Bauchwand. 

Der Fall bot intra yitam diagnostische Schwierigkeiten. Zu- 
nachstliess dieAnamnese mit ihrem Beginnmit Schmerzen in den unteren 
Extremitaten und der auf wiederholtes Befragen stets wieder- 
kehrenden Ant wort, dass die Schwache und Abmagerung am ganzen 
Korper gleicbzeitig nach den Schmerzen aufgetreten sei, an einen 
polyneuritischen Process denken, der jedoch durch das Fehlen jeglicher 
Sensibilitatsstorung und durch die Ergebnisse der elektriscben Prttfung 
unwabrscbeinlich wurde. Dasselbe war auch gegen die Annahme einer 
neurotischen Muskelatrophie im Sinne Hoffmann’s anzuffthren. 
Gegen Dystrophie schien,mitRiicksichtauf dieanamnestischen Angaben 
tkber die kurze Dauer und den Beginn des Leidens, das Alter des 
Patienten, sowie die recht auffallende Atrophie der kleinen Hand- 
muskeln, das Freibleiben des Cucullaris und die hinzutretende Sprach- 
storung zu sprechen. Gerade diese Symptome waren mit der Annahme 
einer spinalen, auf Erkrankung der V orderhomzellen beruhenden Amyo¬ 
trophic weit besser vertraglich. Dem Fehlen der fibrillaren Zuckungen 
sowie der Entartungsreaction konnte eine ausschliessende Bedeutung 
gegentiber dieser Diagnose nicht zugesprochen werden, denn es liegen, 
wie schon eingangs erwahnt wurde, bereits eine ganze Anzahl sicherer 
Beobachtungen vor, die das gelegentliche Fehlen dieser Symptome bei 
spinalen Amyotrophien beweisen. Schon Erb, der das regelmassige Vor- 
kommen von EaR bei spinaler Muskelatrophie yertrat (d. Ztsch. II, S. 410). 
hat die Moglichkeit ihres Nachweises in Abhangigkeit von dem Stadium 
der Atrophie gebracht, seither sind aber mehrfach klinisch reine Falle 
des Typus Duchenne-Aran mit anatomisch sichergestellter Atrophie 
der Vorderhomzellen mitgetheilt worden, welche nur mehr minder 
starke Herabsetzung der Erregbarkeit, aber keine EaR zeigten, z. B. 
yon Dejerine, J. B. Charcot, Yillers (s. auch Hoff¬ 
mann S. 314, Leyden und Goldscheider S. 608), und eine 
Durchsicht der Tabelle II von Cramer zeigt, dass alle acht in dieser 
Zusammenstellung der Totalsectionen enthaltenen Falle von spinaler 
Muskelatrophie nur einfache Herabsetzung der elektriscben Erregbar¬ 
keit aufwiesen. Aehnlich verhalt es sich mit den fibrillaren Zuckungen 
(s. Leyden-Goldscheider). Hoffmann hat sie in seinen Fallen 
stets vermisst, Dejerine sah sie in dem einen Falle, der sie jahrelang 
gezeigt hatte, verschwinden, ebenso fehlten sie in dem Falle von Polio¬ 
myelitis anterior chronica von Nonne. 

Aus dem Vorstehenden erhellt zur Gentige, dass das Fehlen der 
fibrillaren Zuckungen an der Musculatur (mit Ausnahme der Zunge) 


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I. Friedel Pick 


und der Entartungsreaction nicht absolut gegen spinale Amyotrophie 
spricht; anderentheils liessen der spate Beginn, das hochgradige Be- 
fallensein der Handmuskeln, die endlich hinzutretende Sprachstorung 
die Annahme einer spinalen Muskelatrophie berechtigt erscheinen. 

Dagegen ergab die anatomische Untersuchung Intactheit des 
Rttckenmarks und der weitaus grossten Zahl der peripheren Nerven. 
Der Befund in den Muskeln ahnelt uberaus demjenigen, wie er durch 
die eingehenden Untersuchungen zahlreicher Autoren, insbesondere Erb's, 
als der Dystrophie zukommend bekannt isi Und zwar sehen wir die 
verschiedensten Stadien des Processes vertreten. 

In manchen, sonst noch ganz normal erscheinenden Muskelbfindelchen 
sehen wir vereinzelte, ihre Nachbam um das Doppelte und Dreifache 
des Volumens flberragende Fasem (z. B. Gucullaris). Diese Fasem er- 
scheinen ganz vereinzelt mitten unter solchen normalen Durchmessers; ein 
bfindelweises Auftreten der hypertrophisch en Fasem, wiediesHitzig 
beschrieb und zur Erklarung der Atrophie der anderen Fasem durch 
Raumbeschrankung verwerthete, konnte ich nirgends constatiren. Diese 
hypertrophischen Fasem zeigen ferner ein abweichendes Verhalten 
gegeniiber den normalen, wodurch sie sofort in die Augen springen, 
indem sie sich mit Cochenille-Alaun viel intensiver, dunkler roth farben 
und auch bei der Weigert’schen Markscheidenfarbung den Farbstoff 
intensiver festhalten. Ueber die Genese dieser hypertrophischen Fasem 
ist bis jetzt nichts Sicheres bekannt; es sind auch Zweifel geaussert 
worden, ob sie tiberhaupt ein pathologisches Product darstellen (wenn 
man die weiter unten zu erwahnenden Tafeln von Schaffer durch- 
sieht, ist die Aehnlichkeit der Querschnitte hypertrophischer Fasem 
mit denjenigen von Verdichtungsstellen auffallend), oder nur der 
Ausdruck der durch die gesteigerte Inanspruchnahme der noch 
functionsfahigen Fasem zu Stande gekommenen Activitatshyper- 
trophie sind. Erb hat diese letztere Anschauung abgelehnt: erstens 
mit Rticksicht auf das vereinzelte Vorkommen dieser Fasem unter 
sonst normalen oder schon ganz atrophischen Fasem, zweitens weil 
ein Vorkommen so hochgradiger Verbreiterung und anderer an solchen 
Fasem zu beobachtender Veranderungen (wie Kernvermehrung, Spalt- 
bildung etc.) bei einfacher Gebrauchshypertrophie unwahrscheinlich 
sei, wenngleich, wie er betont, genauere Untersuchungen hieriiber bei 
der letzteren Form bis dahin nicht vorlagen. Seither sind nun dies- 
bezQgliche, sehr genaue Untersuchungen am Sartorius des Hundes 
angestellt worden. Morpurgo constatirte zunachst nach 8—9 wochent- 
lichem Laufen im Tretrade an dem bedeutend vergrosserten Muskel 
keine Vermehrung der Fasern, wohl aber Vergrosserung derselben, 
die jedoch im Mittel nur die Halfte des Durchmessers betrug, wahrend 


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Zur Kenutniaa der progressiven Muakelatrophie. 


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bei der Dystrophie der Muskeln eine Zunnahme des Durchmessers um 
das Drei- bis Yierfache nicht selten ist, Femer ergaben genaue 
Zahlungen der Kerne, dass dieselben bei der Inactivitatshypertrophie 
nicht yermehrt sind. Ihr yereinzeltes Auftreten unfcer ganz normalen 
Fasem in dem tiberhaupt auch sonst normalen Gucullaris scheint 
mir auch f&r die yon £rb genauer begrundete Anschauung zu sprechen, 
dass die Hypertrophie der Fasem das erste Stadium des krankhaften 
Processes darstelle und der Atrophie vorangehe. Im Allgemeinen 
muss man aber sagen, dass die hypertrophischen Fasem in diesem 
Falle nicht sehr zahlreich waren, dagegen finden wir auffallend haufig 
schmale Fasem (12—20 p) mit noch erhaltener Querstreifung. Einen 
zweiten Grad stellen uns Muskeln dar, die bei sonst wohlerhaltener 
Querstreifung der Fasem reichliche Keraeinlagerung im interstiliellen 
Bindegewebe, sowie auffallende Vermehrung der theils randstan digen, 
theils im Centrum gelagerten Muskelkeme erkennen lassen; diese 
sind theils in Reihen angeordnet, theils sieht man, wie durch deren 
Verschmelzung langgezogene Kerne entstehen. Weiterhin fanden sich 
dann Spaltbildungen der Fasem, wie sie von Knoll, Friedreich 
und Anderen beschrieben und seither wiederholt beobachtet wurden. 
Diese Spaltbildungen waren in meinen Praparaten nicht allzu zahlreich, 
wenigstens an Langsschnitten. 

Vacuolen haben sich im Ganzen nur in zwei Muskeln gefunden: 
dem Zwerchfell und den Halsstreckera. Meist liess sich in denselben 
ein Kem und bei tieferer Einstellung noch mehrere solcher erkennen. 
Mitunter waren in einer Faser mehrere Vacuolen zu sehen, von un- 
regelmassigem Contour. Dort, wo dieselben die Faser in der ganzen 
Dicke des Schnittes durchsetzten, hatten sie meist einen kreisformigen 
Contour und waren central gelagert. Gelegentlich sah man eine solche 
umfangreiche Vacuole nur noch von einem schmalen Saum von Mus- 
kelfaser umgeben, und an einer Stelle sah ich in einer solchen Vacuole 
ein Septum, so dass es beinahe den Eindruck machte, als ob hier Fett- 
zellen in eine Muskelfaser eingelagert waren. An Langsschnitten 
durch Muskelfasera in hochgradig veranderten Muskeln sieht man 
mehrfache langsgestellte Spalten (s. Tafel I, Fig. 2), in welchen 
sich Kerne befinden, wie sie Erb als beginnende Spaltbildungen 
abbildet. Stellt man sich durch eine solche Faser einen Querschnitt 
gelegt vor, so muss offenbar ein solcher Spaltraum das Bild einer 
Vacuole geben. Es erinnern solche Bilder stark an eine von Knoll 
und Schultze citirte, sonst aber, wie mir scheint, nicht weiter be- 
achtete Mittheilung von Martini, der bei Pseudohypertrophie einen von 
ihm als serose Faseratrophie bezeichnete Process beschrieb, wobei im 
centralen Theil der Muskelfaser mit einer albuminosen Flttssigkeit ge- 


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I. Friedel Pick 


fullte Spalten entstiinden, durch deren Erweiterung und Vervielfial- 
tigung die Faser aufgezehrt werde. Aus dem Umstande, dass die 
Vacuolen sich nur in zwei Muskeln in grosserer Zahl fanden, geht 
jedoch hervor, dass die Vacuolenbildung keine so hervorragende Rolle 
bei dem dystropbischen Process spielt. 

An den nach Marc hi behandelten Praparaten vom Flexor 
digitorum communis sublimis liess sich an einzelnen Fasern jene 
Schwarzfarbung erkennen, welche als durch Fetttropfchen (s. Tafel 
II u. Ill, Fig. 10) bedingt angesehen wird. Das Vorkommen der- 
artiger Fetttropfchen in Muskeln bei Dystrophie ist zwar bereits von 
Cohnheim, Pepper, Barth und Mtiller, ferner in neuerer Zeit von 
Miinzer sowie Oppenheim und Cassirer beschrieben worden, allein 
die grosse Mehrzahl der Beobachter konnte einen derartigen Befund 
nicht erheben, und vielfach wird das Fehlen fettiger Degeneration als fiir 
die Dystrophie charakteristisch hervorgehoben (Erb, S. 190), da man in 
ihr den Ausdrupk schwererer Veranderungen der Faser sieht, wie sie 
wohl der „degenerativen w , aber nicht der einfachen Atrophie der Muskel- 
faser zukommen. Neuere Untersuchungen mahnen aber zur Vorsicht in 
der Deutung derartiger Schwarzfarbungen in Muskeln bei Osmiuman- 
wendung, indem sie gezeigt haben, dass sich namentlich in den protaplas- 
mareichen Muskelfasem sehr zahlreich mattglanzende Komchen finden, 
die unter verschiedenen Einfltissen (z. B. destillirtem Wasser) eine 
Quellung und Abscheidung einer fettig glanzenden Randschicht erkennen 
lassen, so dass Knoll (3, S. 328) sie als ein Gemenge zweier Substanzen 
ansieht, deren eine Lecithin, die andere ein Fett oder ein von dem 
ersten verschiedenes Lecithin sei. Knoll (2, S. 655) geht von der 
Annahme aus, dass die Schwarzung durch Osmium eine specifische 
Fettreaction sei, und halt an dieser Anschauung auch gegenliber 
Das t re und Mo rat fest, welche die Verfettung bei der Phosphor- 
vergiftung und anderen pathologischen Zustanden als durch Vermehrung 
des Lecithins bedingt erklaren. Er weist jedoch (3, S. 327) auch darauf hin, 
dass das Myelin, welches Gad und Heymans als Lecithin in freiem 
Zustande oder in loser chemischer Bindung bezeichnen, durch Osmium 
geschwarzt wird. Es ist demnach einestheils die Deutung derartiger 
Schwarzfarbung innerhalb der Muskelfasern bei Osmiumeinwirkung als 
fettige Degeneration schon im Allgemeinen nicht ganz sichergestellt, 
anderentheils lieferte anch die Untersuchung ihrer Vertheilung in dem 
vorliegenden Falle Ergebnisse, die eine Auffassung derselben als zum 
Processe der Dystrophie gehorig zweifelhaft erscheinen liessen. 
Diese schwarzen Komchen waren namlich keineswegs in alien 
Fasern desselben Gesichtsfeldes vorhanden, sondern oft nur in ein¬ 
zelnen, und zwar sowohl auf Quer- als Langsschnitten; insbesondere 


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Zur Kenntniss der progressives! Muskelatrophie. 


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machte es den Eindruck, als ob sie gerade in hypertrophischen Fasem 
am reichlichsten waren. Da der Flexor dig. commun. nicbt gerade zu 
den starker entarteten Muskeln gehort und in solchen derartige 
Schwarzfarbung fehlte, mochte ich fiber ihre pathologische Dignitat 
kein sicheres Urtheil fallen. 

In den starker entarteten Muskeln (s. Tafel I, Fig. 2) sieht 
man reichliches Fettgewebe, bei dem, namentlich an den Weigertprapa- 
raten, immer die reihenfSrmige Anordnung der Fettzellen hervortritt, 
in welchen ineist schone Drusen blaulicher Krystalle sicbtbar sind; 
dazwischen findet man entweder abgerundete Bruchstttcke von Muskel- 
fasern mit zum Theil erhaltener, zum Theil geschwundener Querstreif- 
ung und reichlichem Kemgehalt. Auf Langsschnitten siebt man mitunter 
die Fasem weithin eingesaumt von beiderseits angereihten Rund- 
zellen, die stellenweise zu grosseren Haufen vereinigt sind, und wenn 
man dann jene Bilder sieht, wo in langgezogenen, kaum mehr an Mus¬ 
keln erinnemden Schlauchen Kerne in Reihen und Haufen angeordnet sind 
(s. Tafel I, Fig. 3), so wird man zu der Vermuthung geleitet, dass diese 
Kerne beim Zugmndegehen der Fasem eine Rolle zu spielen baben, 
etwa nach Art der Osteoklasten — eine Analogie, die mit Bezug auf 
innerhalb der Vacuolen gelegene Zellen bereits Lewin geaussert hat 
(S. 158), der innerhalb dieser Zellen Fragmente der contractilen 
Substanz sah und ftir sie deshalb die Bezeichnung Myophagen vor- 
schlug. Im Gastrocnemius sieht man hie und da langere Stfickchen 
sehr schmaler Fasem mit wohlerhaltener Querstreifung, die der Quere 
nach in Bruchstficke zerfallen sind und mehrere Kerne zeigen; ein Ein- 
geschlossensein dieser Bruchstttcke in Zellen nach Art der vonS. Mayer 
als Sarkolyse bezeichneten Vorgange konnte ich nirgends beobachten. 

Als Endstadium des Processes sehen wir dann (Sternocleido- 
mastoideus, Gastrocnemius) im Fettgewebe Inseln einer sich diffus farben- 
den,homogenen Masse mit nichtsehr zahlreichen,spindelformigen und run- 
den Kernen, welche nirgends mehr Muskelstructur zeigt. Das interstitielle 
Bindegewebe zeigt,wieoben erwahnt,reichlicheKerneinlagerung;gelegentr 
lich finden sich auch breitere Streifen faserigen, welligen Bindegewebes. 

Die Gefasse, namentlich die Arterien, zeigten in den starker fettig 
entarteten Muskeln bedeutende Wandverdickung. Was die intramuscu- 
laren Nerven betrifffc, so waren dieselben meist bis in ihre feinsten 
Verzweigungen bei Anwendung der Weigert’schen und Palschen 
Methode gut gefarbt Bei der Durchsicht zahlreicher, derartig behan- 
delter Praparate ist mir tibrigens aufgefallen, dass dieselben bei, so- 
weit es zu beurtheilen ist, ganz gleicher technischer Behandlung be¬ 
deutende Unterschiede zeigen, indem in manchen Praparaten feinste 

Faserchen zwischen den Muskelfasern in grosserer Anzahl gefarbt 
Deatsohe Zeitscbr. f. Nervenheilkande. XVII. Bd. 2 


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I. Friedel Pick 


erscheinen, wahrend andere Praparate gar keine zeigen. Es mabnt 
dies zur Vorsicht in der Verwerthung negativer Befunde. 

In fast alien Praparaten sieht man, umgeben von einer aus mehr- 
fachen Lagen faserigen Bindegewebes bestehender Scheide, ein Biindel 
vonNervenfasernund neben demselben schmale, deutliche Querstreifung 
zeigende Muskelfasern, welcbe bei Weigert-Farbung wie nmsponnen 
von markhaltigen Nervenfasern erscheinen (Tafel II u. Ill, Fig. 8 u. 11). 
Es sind dies jene merkwftrdigen, von ihren ersten Beschreibern 
Kolliker 1 ) als Muskelknospen, von Ktihne als Muskelspindeln 
bezeichneten Gebilde, deren Deutung trotz der grossen ihnen bereits 
gewidmeten Literatur noch controvers ist. Die Bezeichnung „Muskel- 
spindel* 4 ist vorzuziehen, denn der Name „Muskelknospen“ ist von den 
pathologischen Anatomen seither ftir junge Muskelfasern gebraucht 
worden, wie siebeiRegenerationsprocessennachMuskelverletzungenbeo- 
bachtet werden, unddies kanndann zu Verwecbslungen Anlass geben. So 
hat Erb solche, nach seiner Meinung den letzterwahnten Muskelknos¬ 
pen analoge Bildungen in einem seiner Falle (Erb, S. 185, 186 u. 238, 
Fig. 7 u. 8) von Dystrophie beschrieben; allein offenbar irregeleitet 
durch Erb's Analogisirung mit den Neumann’schen Muskelknospen, 
citirt der Englander Batten diese Befunde Erb's in seiner Zusam- 
menstellung der Literatur der Muskelspindeln, obwohl sie mit diesen 
gar nichts zu thun haben. Auch der Name „neuromusculare Stammchen“, 
welchen Roth 1887 vorschlug, ist nicht pragnant genug, um Irrun- 
gen vermeiden zu lassen. Was nun die Bedeutung dieser Gebilde 
betrifft, gehen die Ansichten der zahlreichen Autoren, die sich mit 
ihnen beschaftigt haben, weit auseinander. Die ersten Untersucher 
(Weismann, Kolliker, Beale, Ktihne) betrachteten sie als in 
Entwicklung begriffene Muskeln, und diese Anschauung ist auch noch 
seither von Bremer (1883), Felix (1888), v. Franque (1890), von 
Thanhoffer (1892) vertreten worden. Dem gegenuber haben andere 
Autoren diese Gebilde als Degenerationsproducte aufgefasst und zwar 
entweder als Resultat physiologischer Rtickbildung (Kraske) oder 
pathologischer Vorgange. Zu letzterwahnter Anschauung, die jetzt 
wohl allgemein aufgegeben ist, gelangten vorwiegend die Untersucher 
neuropathologischer Falle, wenn sie in den Muskeln derselben auf 
derartige, ja sonst wenig beachtete Gebilde stiessen, und so wurden 
sie bei spinaler Kinderlahmung (Eisenlohr), in Muskeln von Phthisikern 

1) Um das ohnehin schon ubergrosse Literaturverzeichniss nicht noch mehr 
auszudehnen, sind von der Muskelspindelliteratur in dasselbe nur diejenigen Ar- 
beiten aufgenommen, die sich mit dem Yerhalten dieser Gebilde bei Dystrophie 
beschiiftigen. Bezuglich der anderen sei auf mein zusammenfassendes Referat 
iiber diesen Gegenstand imCentralblatt fur pathologische Anatomie 1900 verwiesen. 


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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 

(Frankel), bei yerschiedenen acuten und chronischen Krankheiten 
(Millbacher), bei chronischer Myelitis (Babinski) als patbologische 
Befunde beschrieben, und Eichhorst hat bei einem Falle von Alko- 
holneuritis in ibnen den Ausdruck einer die Nervenbiindel durch Ein- 
schnftrung schadigenden Bindegewebswucherung (Neuritis fascians) 
gesehen, was jedoch alsbald von Siemerling richtig gestellt wurde. 
Dartber, dass es sich nicht um patbologische Producte, sondera um 
normale Gebilde handle, ist jetzt wohl kein Zweifel mehr; die Dis¬ 
cussion fiber ihre Bedeutung hat in letzter Zeit neue Nahrung gefun- 
den, seit Kerschner (1888) die Ansicht aufgestellt hat, das die Muskel- 
spindeln sensorischer Natur seien, und zwar als Organe des sogenann- 
ten Muskelsinns, indem sie die Innervationsempfindungen vermitteln. 
Diese Anschauung Kerschner's ist seither zunachst von histologischer 
Seite theils acceptirt(Christomanos und Strossner, v. Ebner), theils 
bestritten worden (Felix, Kolliker, v. Franque), hat dann aber 
auch die Aufmerksamkeit der Neurologen auf diese Gebilde gelenkt 
und so zu theils anatomischen, theils experimentellen Untersuchungen, 
namentlich englischer und italienischer Autoren, gefhhrt. Zunachst hat 
Pilliet (p. 314) die Muskelspindeln bei derUntersuchung pathologischer 
Muskeln (alkoholische Paraplegic, chronischer Rheumatismus und amyotro- 
phische Lateralsklerose) gefunden und mit Rticksicht auf ihre Aehnlich- 
keit mit den Pacini’schen Korperchen als sensible Nervenendi- 
gungen der Muskeln gedeutet, offenbar ohne Kenntniss der Kersch- 
ner’schen Ausftihrungen, auf deren Prioritat Blocq und Mari- 
nesco alsbald hinwiesen (p. 398). Cattaneo (p.346) wies auf manche 
Analogien zwischen den Muskelspindeln und den von Golgi beschrie- 
benen Sehnenspindeln hin, welch* letztere er nach Durchschneidung 
sowohl der vorderen als der hinteren Wurzeln beim Hunde normal, 
nach Durchschneidung des Ischiadicus aber bald verandert fand. 
Trinchese betont, dass die Anschauung, wonach die Muskelspindeln 
Entwicklungsstadien der Muskelfasem darstellen, bislang keineswegs 
bewiesen sei; Ruffini erklarte sie als nervose Organe mit einer be- 
sonderen sensibeln Function, worauf Kerschner seine Prioritats- 
ansprttche geltend machte. Laura Forster (bei Langhans) kam auf 
Grund der Untersuchung eines Falles von 1 Jahr alter puerperaler 
Transversalmyelitis mit Degeneration der vorderen bei intacten hin¬ 
teren Wurzeln zu dem Schlusse, dass dieNerven der Muskelspindeln die 
Axencylinderfortsatze von Ganglienzellen seien, welche ausserhalb 
des Rlickenmarks liegen (Spinal- oder periphere Ganglien) und 
die Muskelfasem derselben ihre trophischen Centren nicht im 
Rfickenmark haben. 0 nan off erhielt nach Durchschneidung der 
vorderen Wurzeln Degeneration einer geringen, nach Exstirpation der 

2 * 


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I. Friedel Pick 


Spinalganglien der Mehrzahl der Nervenfasern der Spindeln. Bei 
hochgradiger Atrophie des tibrigen Markgewebes (amyotrophische 
Lateralsklerose, Syringomyelie) enthalten die Muskelspindeln eine 
grosse Zahl intacter Nervenfasern, dagegen verfallen die Muskelfasern 
derselben bei dieaen Affectionen sowie nach Durchschneidung der vorde- 
renWurzeln der Atrophie; siestehen also unterdem trophischen Einfluss 
der Vorderhorner, ihre Nervenfasern sind aber sensibeL Dagegen fand 
Sherrington, dass die Nerven der Muskelspindeln auch nach herbei- 
geffihrter Degeneration aller motorischen Fasern normales Verhalten. 
zeigen und dem Spinalganglion entstammen. Nach Ischiadicus- 
durchschneidung (150 Tage) waren die Nervenfasern der Spindeln 
ganz geschwunden, an den Muskelfasern derselben war hingegen 
keinerlei Veranderung zu erkennen, sie scheinen also vom Nervenein- 
fluss unabhangiger zu sein, als die gewohnlichen Muskelfasern. Eine 
Beziehung zwischen dem sympathischen Nervensystem und den 
Muskelspindeln besteht nicht. Ebenso verhalten sich die Golgi'schen 
Sehnenspindeln. Bei einem Fotus mit hochgradiger Spina bifida, 
wo keine einzige vordere Wurzel vorhanden war, fand Sh., wie schon 
frfiher 0. v. Leonowa, die Muskelnerven intact. Sh. schliesst seine 
interessanten Auseinandersetzungen mit dem Hinweis darauf, dass 
der Reiz, ffir welchen diese sensiblen Muskelorgane eingerichtet sind, 
mechanischer Natur sei. Eine ahnliche mechanische Vorstellung, bei 
der jedoch der im Innern der Spindel enthaltenen Lymphe eine be- 
deutende Rolle zugewiesen wird, entwickelten L. Forster und Lang- 
hans, sowie Sihler, wahrend Kerschner den Muskelspindeln die 
Vermittlung peripherer Innervationsempfindungen zuschreibt, d. h., 
dass ihre sensiblen Fasern durch den Erregungszustand der motori¬ 
schen Nerven gereizt werden, ohne Intervention eines mechanischen 
Momentes, wie es die Muskelcontraction darstellt. In jttngster Zeit 
hat Batten in zwei Arbeiten fiber das Verhalten der Muskelspindeln 
bei verschiedenen Erkrankungen und nach Durchschneidung des 
Brachialplexus und Ischiadicus berichtet. Er sah 24 Stunden nach der 
Plexusdurchschneidung bereits Veranderungen an den Nerven und den 
in den Muskelfasern gelagerten Zellen der Spindeln auftreten, dagegen 
ist an den Muskelfasern auch noch nach 3 Monaten keine deutliche 
Atrophie zu constatiren; die Querstreifung sah B. auch noch zu dieser 
Zeit, Sherrington sogar 5 Monate nach der Nervendurchschneidung 
wohl erhalten. Horsley sah bei Hunden und Katzen nach Ischia- 
dicusdurchschneidung eine Schrumpfung der Muskelspindeln ohne 
Veranderung der darin enthaltenen Muskelfasern. Was nun das 
Verhalten der Muskelspindeln bei pathologischen Processen, insbeson- 
dere bei solchen mit Zugrundegehen der Muskelfasern, betrifft, so 


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Zur Kenntniss der progressive!* Muskelatrophie. 


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liegen hiernber verschiedene Angaben vor. Wie oben erwahnt, fand 
Onanoff in total atrophischen Muskeln bei amyotrophischev Lateral- 
sklerose und Syringomyelie in den Spindelnerven zahlreiche intacte 
Fasem, die Muskelfasem derselben aber atrophisch. Pilliet empfiehlt 
gerade sonst atrophische Muskeln (multiple Sklerose, Kinderlahmung, 
amyotrophische Lateralsklerose) zum Studium der hierbei wohlerhal- 
tenen Maskelspindeln. Dasselbe betonen fttr ihre Falle (Poliomyelitis, 
Polyneuritis) Blocq und Marinesco. Batten fand sie bei Kinder¬ 
lahmung, progressiver Muskelatrophie und wenig vorgeschrittener peri- 
pherer Neuritis unverandert, bei Tabes fand er in den sonst normalen 
Spindeln Fettdegeneration im Centrum der Muskelfasem, in einem 
Falle von ein Jabr alter Verletzung des Brachialplexus mit comple- 
tem Verlust der Motilitat und Sensibilitat zeigten die Spindeln 
hochgradige Atrophie. Bei Alkoholneuritis fand Siemerling Degene¬ 
ration der Nervenfasern innerhalb der Spindeln, H. Gudden kornigen 
Zerfall der Muskelfasem; Nervenfasern waren in den Spindeln nicht 
nachzuweisen (S. 676 und 697). 

Ueberblicken wir diepatbologischen Befunde bezliglich der Mukel- 
spindeln, so sehen wir, dass dieselben im Allgemeinen mit den ex- 
perimentellen Ergebnissen recht gut vibereinstimmen. Bei Erkrankungen 
des Rflckenmarks, insbesondere der motorischen Neurone (Poliomyeli¬ 
tis etc.) wurden sie meist intact gefunden, entsprechend den Ergebnissen 
der Durchschneidung vorderer Wurzeln (Sherrington), bei Er¬ 
krankungen der peripheren Nerven (Alkoholneuritis, Verletzung des 
Brachialplexus) fanden sich analog den Durchschneidungsversuchen 
(Cattaneo,Sherrington,Batten) Degenerationen der Nerven, weniger 
der Muskelfasem. Von diesen letzteren hob Sherrington hervor, dass 
sie in trophischer Beziehung vom Nerveneinfluss unabhangig waren, 
und ebenso betonen die Untersucher pathologiscber Falle, dass die 
Veranderungen an den Muskelfasem der Spindeln anscheinend erst nach 
sehr langer Zeit auftreten (Batten S. 176, Onanoff). 

Unter diesen Umstanden kommt der Untersuchung der Muskel- 
spindeln gerade bei Dystrophie eine erhohte Bedeutung zu, denn 
-wenn wir horen, das ihre Muskelfasem auch bei Degeneration ihrer 
Nervenfasern entweder normales Aussehen darbieten (nachNervendurch- 
schneidung: Sherrington, Batten) oder erst sehr spat entarten, so 
st es um so interessanter, zu erfabren, wie sie sich bei einer Affection 
verhalten, wo bei intacten Nerven die ttbrigen Muskelfasem zu Grunde 
gehen. Die sparlichen diesbeztiglichen Angaben sind widersprechend: 

Bei dem in manchen Fallen fast vollstandigen Ersetztwerden der 
Muskelfasem durch Fettgewebe treten die scharf umschriebenen 
Muskelspindeln besonders deutlich hervor — Batten fand 17 in 


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I. Friedel Pick 


einem Schnitte — und so wird es erklarlich, dass sie auch hierbei 
als pathologischeProducte angesehen wurden (Santesson). L.Forster, 
Batten und Spiller haben sie in je einem Falle yon Dystrophie 
genauer untersucht und sowohl, was die Nerven als die Muskelfasern 
betrifft, normal gefunden. Entgegengesetzt lauten die Angaben von 
Grtinbaum: in einem Falle von Pseudohypertrophie erschienen in 
dem total lipomatosen Gastrocnemius die Spindeln normal, in anderen 
Muskeln war eine Einlagerung von hyalinem Material in die Spindeln 
und eineVerringerung derZahl derFasern zu constatiren. Er verwerthet 
dies geradezu als Stiitze ftir die primar myopathische Auffassung der Dys¬ 
trophie, indem er auf die oben erwahnten Versuche von Sherrington 
hinweist, wonach bei Degeneration der motorischen Nerven die Spindeln 
keine Veranderungen zeigen. 

In dem oben erwahnten Falle nun waren die Muskelspindeln 
in zahlreichen Praparaten zu sehen, sowohl in normalen Muskeln als 
in pathologischen. In den letzteren traten sie entsprechend den 
eben erwahnten Angaben der Autoren viel deutlicher hervor, sie sind 
meist in den bindegewebigen Spatien zwischen den grosseren Faser- 
btindeln gelegen, die Zahl der in ihnen vorhandenen Muskelfasern 
schwankte zwischen 4 und 9, die entweder in einem kreisformig von 
Bindegewebslamellen umgebenen Raum, theils durch faserige Septa ge- 
trennt, in zwei wieder von einer gemeinschaftlichen Scheide umgebenen 
Abtheilungen lagen. Gewohnlich sieht man auch noch getrennt von den 
auffallend schraalen Muskelfasern ein Nervenstammchen in der Scheide ver- 
laufen (s. Taf. II u. Ill, Fig. 11), dann kommt eine Stelle, wo dieses nicht 
mehr zu sehen ist, dafiir aber erscheinen die Muskelfasern wie umsponnen 
von bei der Weigert’sclien Methode einzelnen schwarzgefarbten Nerven- 
fasern (s. Taf. II u. Ill, Fig. 8). 

Ein Unterschied zwischen dem Aussehen der Muskelspindeln in 
den normalen und atrophischen Muskeln war nicht zu constatiren; 
insbesondere sei hervorgehoben, dass auch in dem ganz durch Fett- 
gewebe ersetzten Sternocleidomastoideus die Nervenbiindel und Muskel¬ 
fasern durchaus normal erschienen; die letzteren zeigten ebenso, wie 
in den normalen Muskeln, deutliche Querstreifung und dieselben Kaliber- 
verhaltnisse. Auch die Zwischensubstanz, in welcher die Muskel- und 
Nervenfasern im Innern der Scheide liegen — theils faseriges Binde- 
gewebe, theils diffus gefarbte Substanz (Langhans nennt sie Mucin 
und fand sie bei Cretinen vermehrt) — zeigte keine Unterschiede, 
insbesondere sah ich die Einlagerung der Fasern in solides Bindegewebe, 
wie sie Langhans nur bei Cretinen gefunden hat, auch hier wieder- 
holt, und scheint mir dieselbe mehr davon abhangig, in welcher Hohe 
ihrer Langsausdehnung die Spindel getroffen ist. Es ergiebt sich also 


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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 


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hieraus, tibereinstimmend mit den Angaben von L. Forster, Spiller 
und Batten und entgegengesetzt zu denen von Griinbaum, dass 
bei selbst totalem Muskelschwund und Lipomatose die Muskelfasem 
in den Spindeln wohlerhalten bleiben. 

Dieser in den betreffenden Praparaten sebr auffallende Befund 
spricht auch dafur, dass diese Fasem tiberhaupt eine Sonderstellung 
gegentiber den tlbrigen Muskelfasem einnebmen, und lasst von den 
verschiedenen Deutungen der Function der Muskelspindeln wohl die 
von Kerschner vertretene, wonach sie sensorische Organe darstellen, 
als die plausibelste erscheinen. Denn waren es in Rttckbildung begriffene 
Fasem, dann ware ihr Intactbleiben bei jahrelang bestehender Atrophie 
der anderen nicbt zu verstehen; dasselbe gilt von der Anschauung, 
wonach es sich um Bildungsmaterial neuer Muskelbiindel handle, wo- 
bei ich noch erwahnen will, dass in den zahlreichen Praparaten der 
verschiedensten Muskeln nirgends auch nur der Anschein eines Ueber- 
ganges der Muskelspindeln in ausgebildetere Muskelbiindel zu sehen war. 
Hier sei auch erwiihnt, dass Morpurgo bei seinen Untersuchungen tiber 
Activitatshypertrophie der Muskeln zu dem Schlusse gelangt, dass die 
Muskelspindeln an dem Process der Activitatshypertrophie keinerlei 
Antheil haben (pag. 553). Dies Alles lasst die Anschauungen, wo¬ 
nach es sich um De- oder Regenerationsgebilde handle, als unannehm- 
bar erscheinen, und so gelangen wir zu dem Schluss, dass das Intact¬ 
bleiben der Muskelfasem in den Muskelspindeln bei hocbgradigster 
Dystrophie fur die Anschauung spricht, welche dieselben als Organe 
sensorischer Natur ansieht, speciell als Vermittler eines Theiles 
der als Muskelsinn zusammengefassten Empfindungsqualitaten. 

Die peripheren Nerven zeigten, wie oben erwahnt, in der tiber- 
wiegenden Mehrzahl durchaus normale Beschaffenheit. Eine Ausnahme 
hiervon macht eigentlich nur der Nervus accessorius, auf den ich 
spater eingehen will. Vorher sei noch der eigenthiimlichen Ge- 
bilde gedacht, die sich im N. axillaris und einem grosseren Nervenaste 
im M. triceps fanden. Diese lichten Partien, bestehend aus einem weit- 
maschigen Gewebe mit sparlichen Kemen, die concentrisch um eine 
eigenthilmliche, sich diffus farbende centrale Masse angeordnet sind, 
fanden sich in kleinerer Ausdehnung, jedoch mehrfach im Axillaris 
(Taf. II u. Ill, Fig. 7). Die Nervenfasem ihrer Umgebung erschienen 
ganz intact, ebenso die in der Umgebung des analogen, etwas grosseren 
Gebildes in dem Aste innerhalb des M. triceps. An dieser letzteren Stelle 
sieht man zwar nur ein solches Gebilde, dasselbe macht aber den 
Eindruck, wie wenn es aus zwei durch eine Scheidewand getrennten 
Halfte bestehen wttrde, deren jede Schichtung um ein selbstandiges 
Centmm erkennen lasst (Taf. II u. Ill, Fig. 6). Diese centrale Masse 


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I. Friedel Pick 


macht des Oefteren den Eindruck, als ob es sich um ein Gefasschen 
handle, allein nirgends ist ein solcher Befund deutlich. Dagegen 
konnte ich an einer Stelle im Centrum des Gebilde im Nervus axil¬ 
laris den Querschnitt einer Nervenfaser sehen, die sich eine kleine 
Strecke weit yerfolgen liess. An Langsschnitten durch den Nerven 
konnte man diese Gebilde als spindelformige, der Peripherie anliegende 
Complexe eines, ich mochte sagen, myxomatosen Gewebes verfolgen. 

Es sind das offenbar diejenigen Gebilde, welche bereits von ver- 
schiedenen Beobachtern gelegentlich beschrieben wurden, sowohl bei 
Thieren als bei Menschen. In neuerer Zeit wurde die Aufmerksam- 
keit auf dieselben dadurch gelenkt, dass Langhans und sein Schuler 
Kopp bei der Untersuchung von Menschen und Thieren nach Kropf- 
ex8tirpation sie in den peripheren Nerven fanden und in Zusammenhang 
mit der Kropfexstirpation und der ihr nachfolgenden Kachexie brach- 
ten, wobei Langhans die histologischen Details genauer studirte 
und eigenthttmliche siegelringformige Zellen Oder mehrkammerige ohne 
Protoplasma innerhalb dieser Gebilde als Blasenzellen beschrieb, die 
er als Abkommlinge der platten Endothelien bezeichnete, welche An- 
schauung auch Finotti und Preisz vertraten. Schultze hat dann 
darauf aufinerksam gemacht, dass Renaut bereits 1881 solche Korper- 
chen in Nerven eines Esels fand und seither eine grossere Zahl von 
Beobachtern analoge Befunde bei Thieren und Menschen theils unter 
normalen, theils unter den verschiedensten pathologischen Verhalt- 
nissen gelegentlich erhoben haben. Namentlich Trzebinsky hat es 
in seiner von Schultze angeregten Dissertation auf Grund der Unter¬ 
suchung des Plexus brachialis von 65 Leichen sehr wahrscheinlich 
gemacht, dass wir es hier mit einer auch unter normalen Verhaltnissen 
vorkommenden Veranderung ohne besondere pathologische Bedeutung zu 
thun haben. Und Schultze meint, dass der von Langhans supponirte 
Zusammenhang mit Kropfexstirpation nicht aufrecht zu erhalten sei. 

Zu derselben Anschauung gelangten dann auch Weiss, Ott und 
Howald, welche unter Langhans* Leitung die peripheren Nerven 
von Hunden untersuchten. In neuester Zeit hat dann Finotti bei 
Untersuchung der peripheren Nerven eines Falles multipler Neurofi- 
brome analoge Befunde erhoben. 

Auch sonst wurden diese Gebilde, wenn man die Nerven in 
pathologischen Fallen einer genauen Untersuchung unterwarf, des Oefte¬ 
ren beschrieben, so z. B. von Preisz in seinen Beitragen zur Anatomie 
der diphtherischen Lahmung, allerdings, ohne dass die betreffenden Be- 
obachter auf ihre ZugehSrigkeit zu den hier besprochenen Gebilden 
aufmerksam wurden. So scheinen nach der Beschreibung die vonNonne 
in einem Muskelast des N. radialis gefundenen und in Fig. 3 abgebildeten 


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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie. 


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zwiebelschalenformigen Korper derartige Gebilde zu sein. Bei Dystrophie 
wurden diese Korperchen auch schon einmal gefunden und zum 
Gegenstand einer eigenen Mittheilung gemacht von Blocq und 
Marinesco, die bei der mikroskopischen Untersuchung der peripheren 
Nerven solche Gebilde fanden und als „Un Systeme tubulaire special 
des nerfs“ mit einer centralen stark gefarbten Masse (wahrscheinlich 
veranderter Nervenfaser) bezeichneten, und die Blasenzellen als Effect 
einer Faltung der bindegewebigen Nervenscheide, ihre Kerne als 
Segmentationsproducte der Axencylinder deuteten. Auch Schultze 
hatte seinerzeit in seinem Falle derartige Gebilde gesehen und als 
obliterirte Gefasse angesehen. Seither ist er dann auf Grund der 
Praparate yon Stadelmann und Trzebinsky von dieser Anschau- 
ung zuriickgekommen und hat die centrale Partie ebenfalls als Nerven¬ 
faser bezeichnet. Fiirstner scheint in einem Falle von Dystrophie 
mit Pseudohypertrophie ein analoges Gebilde gesehen zu haben. Er 
lasst die Entscheidung offen, ob ein Pacini’sches Korperchen oder eine 
besonders hochgradig veranderte Muskelknospe zweiter Kategorie 
vorliege. Bezliglich der centralen Gebilde denkt er an Muskelreste. 

In der centralen Partie konnte ich, wie oben erwahnt, an einer Stelle 
ebenfalls ein Gebilde constatiren, welches ganz den Eindruck einer Nerven¬ 
faser machte und sich eine kurzeStrecke weit verfolgen liess. Renaut 
glaubte diesen Gebilden die Function eines Schutzes des Nerven gegen 
aussere Eindriicke zuschreiben zu mlissen; dies konnte man flir die 
grossen Nervenstamme, soweit sie blossliegen, ja noch gelten lassen, 
wenngleich die Anordnung im Inneren des Nervenblindels, wie ich sie 
gelegentlich sah, nicht sehr daffor spricht Ftir die ganz vom Muskel 
umgebenen Aeste, wie in unserem Falle im Triceps, ware eine solche 
Beziehung nicht zu verstehen. Die von Laughans aufgestellte Be- 
ziehung zur Kropfexstirpation ist von ihm selbst (2, S. 176) fallen gelassen 
worden. Auch die von Rakhmaninoff aufgestellte Anschauung, dass 
es sich um eine Wucherung gewissermassen ex vacuo in Folge von 
Atrophie der Nervenfasern handle, ist, wie schon Blocq und Mari¬ 
nesco bemerken, kaum acceptabl, da sich diese Gebilde in sonst 
ganz normalen Nerven linden, und ich glaube, man wird den eben 
genannten Autoren Recht geben, wenn sie meinen, dass der Zweck 
dieser Gebilde noch aufzuklaren sei, jedenfalls scheint ihnen keine be- 
sondere pathologische Dignitat zuzukommen. 

Was nun den Befund am N.accessorius betrifft, so ist derselbe so 
auffallend und hochgradig, dass er im ersten Moment eigentlich befremdet. 
Die Degeneration am Querschnitt ist eine circumscripte (s. Fig. 5) 
und, wie die weitere Verfolgung der Schnitte zeigt, entspricht die degene- 
rirte Partie zwei fast total degenerirten Aestchen des Nerven (s. Fig. 4). 


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I. Friedel Pick 


Es fragt sich nun, wie haben wir diese Degeneration zu erklaren. 
Da in unserem Falle der Cucullaris gut erbalten und auch die 
Kehlkopffunction normal war, der Sternocleidomastoideus dagegen 
atrophisch ist, wird man dies wohl nur so deuten konnen, dass der degene- 
rirte Ast gerade dem Sternocleidomastoideus entspreche; der Befund 
von intacten Nervenfasern innerhalb dieses Muskels spricbt nicht 
absolut dagegen, denn die erhaltenen Nervenfasern lagen alle an 
oder in Muskelspindeln, sind also wohl als sensorisch anzusehen, 
und Wir wissen ja jetzt durch die Untersuchungen Sternberg's, 
dass die sensiblen Fasern ftir den Sternocleidomastoideus aus dem 
Cervicalplexus stammen und sich erst knapp vor diesem Muskel 
mit den motorischen, welche der Accessorius fiihrt, vereinigen. 
Wir werden also nicht fehlgehen, wenn wir die degenerirte Partie 
des Accessorius mit dem total geschwundenen Sternocleidomastoideus 
in Beziehung bringen, und es fragt sich nur, wie haben wir uns diese 
Beziehung zu denken: Ist die Nervenveranderung das Primare 
und derMuskelschwund dasSecundare oder umgekebrt? Gegen 
die erstgenannte Anschauung spricht erstens der Umstand, dass eine Ur- 
sache ftir die Nervenerkrankung nicht aufzufinden ist, die Untersuchung 
der Accessoriuskerngegend an Serienschnitten liess keinerlei Verande- 
rung constatiren, und zweitens, wenn hier die Nervenlasion das Primare 
und der Muskelschwund das Secundare ware, dann ware es nicht zu 
verstehen, wie in den zahlreichen anderen Nerven, so namentlich der 
Extremitaten, deren zugehorige Muskeln ja auch recht hochgradige 
Veranderungen zeigten, nirgends ein derartiger Befund erhohen werden 
konnte. So werden wir zu der Annahme gedrangt, dass der Muskel¬ 
schwund hier als das Primare anzusehen sei und die Veranderung 
des Nerven als secundar, d. h. als eine Atrophie des Nerven 
durch Schwund des Muskels, ahnlich wie sie nach Amputationen 
wiederholt beobacht wurde. Allerdings ist hierbei meist nur ein 
diffuser Faserausfall uud nicht ein so circumscripter und fast totaler, 
wie in den vorliegenden Nerven beschrieben worden (s. z. B. Grigo¬ 
ri ew); allein es ist zu bedenken, dass es sich bei der Amputation 
immerum gemischte Nerven handelt, wahrendwir es hier mit einem rein 
motorischen zu thun haben. Es ware nun natiirlich sehr wiinschens- 
werth gewesen, liber den Zustand der Zellen des Accessoriuskems 
Genaueres zu erfahren; leider war bei der Section (1894) die Oblon¬ 
gata und das obere Halsmark in Miiller’sche Fliissigkeit eingelegt 
worden, so dass eine Untersuchung der Zellen nach Nissl nicht mehr 
moglich war. An den nach Weigert und van Gieson gefarbten 
Serienschnitten aber war eine Veranderung nicht zu constatiren, 
die austretenden Accessoriusbiindel zeigten wohl hier und da helle 


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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie. 


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Stellen, woselbst sich keine Markscheiden nachweisen liessen, allein 
beztiglich der Zellen der Kerngebiete liess sicb mit diesen Methoden 
gar nichts irgendwie als pathologiscb Anzusehendes erbeben; jedenfalls ist 
eine nennenswerthe Atrophie der Zellen im Accessoriusgebiete ebenso- 
wenig, wie in den grauen Vorderhornern oder den’Kernen der Oblon¬ 
gata, vorhanden. Uebrigens sei bier nebenbei erwahnt, dass nacb den 
Untersuchungen Grigoriew’s die Zellveranderungen erst 4 Jahre 
nach der Ampatation nachzuweisen sind; so lange Zeit war aber in 
unserem Falle nacb der Anamnese gewiss seit Eintritt des vollstandigen 
Scbwundes des Sternocleidomastoidens noch nicht vergangen. 

Es erscbeint also die Auffassung des Faserausfalls im Accessorius 
als Atrophie secundar in Folge des totalen Schwundes des 
Musk els ganz plausibeL Eine analoge Auffassung finden wir auch scbon 
mebrfach beztiglich jener Falle vertreten, die klinisch zur Dys¬ 
trophic gerechnet werden mfissen, und dabei doch mehr wenig 
hochgradige Veranderungen an den grauen Vordersaulen zeigten, 
z. B. beztiglich der Falle von Heubner, Schultze und Erb, 
Kahler, Singer, Frohmaier, und des neuesten Falles von 
Strtimpell. Jedenfalls aber wird dieser Befund keineswegs davon 
abhalten, den mitgetheilten Fall unter die Dystrophie zu rechnen, 
was ja auch beztiglich der eben erwahnten Falle, trotz der Verande¬ 
rungen an den Vorderhornern, von Erb und Strumpell geschehen ist. 

Sind wir demnach zu dem Resultate gelangt, dass es sich in dem 
vorliegenden Falle um eine Dystrophie handle, und besehen wir uns 
von diesem Standpunkte aus einmal das klinische Bild, so zeigen 
sich verschiedene bemerkenswerthe Momente. Zunachst enthalt die 
Anamnese Angaben, die in dieser Beziehung auffallend sind. 

Da haben wir vor Allem die von dem Patienten immer wieder und 
bei zweimaligem Spitalaufenthalt wiederholte Angabe von dem Beginn 
im 50. Lebensjahr. Und doch haben wir eigentlich kein Recht, 
an dieser anamnestischen Angabe allzu viel zu zweifeln, da, wenn das 
Leiden schon friiher bestanden hatte, dem Patienten, der nach seinen 
Angaben stets schwere Arbeiten zu verrichten hatte, dieselben schon 
frtiher erschwert worden waren, wodurch er in arztliche Behandlung 
gef&hrt worden ware, was bis dahin aber nicht der Fall war. 

Ein Auftreten der Dystrophie nach dem 40. Lebensjahr ist bisher, 
soweit ich die Literatur tiberblicke, nur von Landouzy-Dejerine 
(Observation 4:40. Jahr) Erb (S. 82, 89: 45. u. 49. Jahr) und in jtingster 
Zeit von Linsmayer (67. Jahr) beschrieben worden. Es ist also dieser 
Fall ein weiterer Beweis dafttr, dass ein Beginn in so spatem Lebens- 
alter als differentialdiagnostisches Moment zwischen spinaler Amyo- 
trophie und Dystrophie, keine strenge Geltung besitzt. Ferner ist auch 


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I. Friedel Pick 


die Vertheilung der Atrophie nicht die gewohnliche. Auffallig sind 
erstens die Angaben fiber den Beginn an den unteren Extremitaten, di 
starke Atrophie der Musculatur des Thenars und Antithenars, dann 
das relative Freibleiben des Cucullaris bei so starkem Ergriffensein der 
Stemocleidomastoidei. Was den ersten Punkt, den Beginn an den 
unteren Extremitaten, betrifft, so bildet allerdings bei der juvenilen 
Form, und dieser steht ja unser Fall am nachsten, der Beginn an den 
oberen Extremitaten die Regel, und wenn schon frtihzeitig Schwache in den 
unteren Extremitaten vorhanden war, so liess sich meist Hypertrophic der 
Unterschenkelmusculatur constatiren (Beobachtung von Charcot [Mari e 
und Guinon], Hoffmann, Oppenheimer, Erb [Nr. 5und24]). Allein 
wir mfissen bedenken, dass, wenn subjectiv dieErscheinungen zuerst an den 
unteren Extremitaten bemerkt werden, deswegen doch schon auch Atro¬ 
phie an den oberen vorhanden sein kann, ohne dass sie der Patient beson- 
ders bemerkt, wie ich dies auch in einem weiter unten zu erwahnenden 
Falle (IV) beobachtete. Was die starke Betheiligung der kleinen 
Handmuskeln betrifft, so hat ihr Freibleiben bei der Dystrophie im 
Gegensatz zu dem Atrophiren im Beginn bei den spinalen Amyotrophien 
wohl lange Zeit als fiegel gegolten, in neuerer Zeit jedoch auch schon 
einige Einschrankungen erfahren, indem ein starkeres Ergriffensein dieser 
Muskeln bereits in frfiheren Stadien der Dystrophie beobachtet wurde. 
So sehen wir eine Erkrankung der Handmusculatur gleich im Beginne 
in einem der Falle von Landouzy und Dejerine (Observation H), 
dann in dem Fall von Schultze und in dem jtingsten Fall von 
Strtimpell soil ebenso, wie in dem von Landouzy und Dejerine, 
die Fingermusculatur fiberhaupt die erst erkrankte gewesen sein. 
Einen weiteren, von der gewohnlichen Vertheilung bei der Dystrophie 
abweichenden Befund zeigt uns die so hochgradige Atrophie der 
Stemocleidomastoidei bei relativ intacten Cucullares. Ge- 
wohnlich ist das Verhaltniss umgekehrt, indem bei hochgradig atro- 
phischem Cucullaris die Kopfnicker erhalten sind. Dieser Procentsatz 
stellt sich derart, dass sich in der grossen Monographic Erb's unter 
83 Beobachtungen 63 mal Atrophie des Cucullaris erwahnt findet, wozu 
wahrscheinlich noch manche von den 20 Falle zuzurechnen waren, bei 
welch en es kurzweg heisst: typische Localisation. Demgegentiber findet 
sich in sechs Fallen besonders hervorgehoben, dass der Sternoclei- 
domastoideus normal war und nur in zwei Fallen (Beobachtung von 
Erb Nr. 4: Stemocleidomastoidei atrophisch in geringem Grade, Cucul¬ 
lares fast ganz geschwunden, dann Nr. 72 von Lenoir und Besan^on) 
ist Atrophie und in einem Falle (Erb Nr. 2) ist Hypervolumen dieser 
Muskeln erwahnt. Ausserdem fand ich noch Atrophie der Sternoclei- 
domastoidei erwahnt bei Landouzy u. Dejerine (Seite 977), wo bei 


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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie. 


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Fall III die Sternocleidomastoidei als total geschwunden bezeichnet 
Sind, wahrend die Beobachtung II beginnende Atrophie des Sterno- 
cleidomastoideus erwahnt. Dann ist hier noch ein Fall yon Reinhold 
zn nennen, der uberhaupt mit dem vorliegenden in vielen Beziehungen 
tibereinstimmt, denn auch in diesem war der Stern ocleidomastoideus 
stark atrophisch und die Cucullares bis an das Lebensende relativ gut 
erhalten. Ferner bestanden in diesem Falle, analog der Spracbstorung 
in dem unsrigen, Atrophien im Gebiete der mimischen Gesichtsmuskeln, 
des Pharynx, der Kaumuskeln, so dass der Fall seiner Zeit als un- 
gewohnlicher Fall von Bulbarparalyse bereits demonstrirt wurde. Als 
die Patientin 14 Jahre spater zu Grunde ging, fand sich das Nerven- 
system bis auf eine Degeneration im Recurrens intact, in den Muskeln 
dagegen hochgradigste Veranderungen nach Art der Dystrophie. Es 
gehort also demnach eine derartige hochgradige Atrophie der Kopf- 
nicker bei relativ intacten Cucullares zu den weitaus selteneren Loca- 
lisationen der Dystrophie; immerhin zeigen aber mein Fall und die 
angeffthrten Literaturbeispiele, dass die so vielfach angenommene Regel 
von dem Freibleiben der Kopfnicker ebenfalls Ausnahmen erleiden 
kann. Eine Prilfung der Falle, in denen die Umkehr des gewohnlichen 
Verhaltens vorkommt, auf irgend welche gemeinsamen Momente giebt 
kein brauchbares Resultat. Denn die bei Erb mitgetheilten zwei 
Falle sind typische juvenile Formen im dritten Lebensdecennium, und 
nur der Fall von Reinhold und der von mir mitgetheilte unter- 
scheiden sich in wesentlicher Beziehung von den typischen Fallen. 
Noch seltener scheinen die Halsstrecker zu erkranken; diesbezttglicbe 
Angaben habe ich nur in dem neuen Fall von Striimpell gefunden. 
Letzterer citirt auch als einschlagig einen Fall von Bernhardt, der 
ebenfalls Atrophie der Nackenmusculatur zeigte, wegen ausgesprochen 
bulbarer Symptome aber als bereditare spinale Muskelatrophie an- 
gesprochen wurde. In diesen Fallen waren die Sternocleidomastoidei 
normal und der Kopf sank in Folge dessen nach vorn und konnte 
nur mit einer schleudernden Bewegung wieder grade gerichtet werden. 
In meinem Fall waren zwar, wie sowohl Palpation als histologische 
Untersuchung erwies, die Halsstrecker schwer krank, allein die so 
hochgradige Atrophie der Sternocleidomastoidei mit dem Unvermogen, 
den Kopf nach vorne zu bringen, war das auffallendere Phanomen. Ver¬ 
anderungen in der Zunge gehoren wohl auch zu deu Seltenheiten; 
klinisch ist Erschwerung der Zungenbewegungen bei Dystrophie nur 
erwahnt in den Fallen von Oppenheim und Stern, von anatomischen 
diesbezttglichen Funden fand ich nur einen solchen von Berger und 
den oben erwahnten von Reinhold. Indessen zeigt die Durch- 
sicht der diesbezttglichen Literatur, dass functionell noch gar nicht 


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I. Friedel Pick 


verdachtige Muskeln mikroskopisch bereits Atrophie und Lipomatose 
zeigten, so dass eine solche Veranderung wohl ofter vorkommen mag, 
als sie constatirt wird. Allein die Sprachstorung, sowie die Behinde- 
rung der Zungenbewegung mit Andeutung von fibrillaren Zuckungen 
haben noch in anderer Beziebung ihre Bedeutung. Es schien namlich 
bis vor Kurzem eines der deutlichsten Merkmale der Dystrophie zu sein, 
dass, wie Erb sagt, niemals das Auftreten des Symptomencomplexes 
der Bulbarparalyse gesehen werde. Erst in jiingster Zeit hat Hoff¬ 
mann eine Beobachtung veroffentlicht betreffend 2 Zwillingsbruder im 
Alter von 11 Jahren, die er als bulbarparalytischen Typus der Muskel- 
atrophie beschreibt. Dieser klinischen Beobachtung Hoffmann’s 
reiht sich nun mein Fall als auch anatomisch sichergestellte Dystrophie 
mit bulbarparalytischen Symptomen an; Hoffmann giebt an, unter 
Hinweis auf Duchenne's Regeln ftir den infantilen Gesicbtstypus, 
dass auch der bulbare Typus congenital sei oder in den ersten Lebens- 
jahren sich ausbilde und einen descendirenden Verlauf nehme. Vor- 
liegender Fall zeigt, dass die bulbaren Symptome auch bei Dystrophie 
in hohem Lebensalter und bei ascendirendem Verlauf hinzutreten konnen. 

Wir sehen demnach, dass in unserem Falle eine ganze An- 
zahl mei8t klinischer Momente vorhanden ist, die ihn, als Dystrophie 
betrachtet, als Ausnahmsfall erscheinen lassen, und da sich die Dia¬ 
gnose ja hier ganz auf den mikroskopischen Befund mit den so hoch- 
gradigen Muskelveranderungen bei intactem Nervensystem stiltzt, schien 
es mir wtinschenswerth, denselben wo moglich mit demjenigen ver- 
gleichen zu konnen, den typische Falle von Dystrophie darbieten. Und 
so habe ich denn die Gelegenheit benutzt, die mir zwei in letzter 
Zeit an der Klinik beobachtete Falle boten, um die hierbei durch 
Excisionen gewonnenen Praparate zur Vergleichung heranzuziehen. 
Die erste von diesen Beobachtungen betraf ein Geschwisterpaar mit 
den typischen Veranderungen der pseudohypertrophischen Form der 
Dystrophie. 


Fall II. 

Anton K., aufgenommen am 7. XII. 1896. Der jetzt 21 jahrige Patient 
giebt an, seit dem 12. Jahre an Schwache der Beine und nnsicherem Gange 
zu leiden. Gleichzeitig Erschwerung des Aufrichtens aus knieender und 
hockender Stellung; bei letzterem Emporklettern an Knieen und Oberschenkeln. 
Seit 4 Jahren zunehmende Schwache der Arme und Abmagerung bei gleich- 
zeitige? Volumszunahme der Beine und Unterarme. Vater und Mutter ganz 
gesund, zeigen auch bei der Untersuchung nichts Abnormes. Patient ist 
das aiteste von 7 Kindern, von denen noch eins, das 4. Kind, dieselbe Er- 
krankung zeigt. Die iibrigen sind alle gesund. Ich hatte Gelegenheit, das 
3. Kind, einen 15jahrigen Burschen, zu sehen, dessen Musculatur func- 
tionell vollkommen normal ist, wenngleich nur m&ssig entwickelt. Dieselbe 


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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 


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zeigt keinerlei Storting, nur ist der linke Cucullaris starker als der reclite, 
die linke Schulter steht hoher vor als die rechte. 

Status des Patienten A. K. Innere Organe und Hirnnerven normal. 
Patient sehr kraftig gebaut, vermag die Beine nicht zu heben, sondern 
nur mit geringer Kraft in den Knieen zu beugen. Die Streckung der 
Kniee dagegen erfolgt kraftig. Die Bewegungen der Fiisse und Hande 
ganz frei. 

Erheben der Arme unmoglich. Wadenumfang 35 cm, Vorderarme dick 
(26 cm), Oberarme sehr mager. Patient kann sich nicht im Bette allein 
aufrichten oder aus sitzender Stellung langsam niederlegen; er failt wie ein 
Stock nach riick warts. Die Wiilste der Erectores trunci zur Seite der 
Wirbelsaule ganz geschwunden. Atrophische Muskeln: Pectoralis major, 
Deltoideus, Latissimus dorsi, Supra- und Infra-spinatus, Teres m^jor und 
minor, Levator scapulae und Rhomboidei, Triceps, Biceps, Coracobrachialis, 
Brachialis internus, Supinator longus, Extensor digitorum communis, Erector 
trunci, Quadriceps femoris, Adductores femoris, Biceps, Semitendinosus, 
Semimembranosus. 

Hypertrophisch sind: Tibialis anticus, Extensor digitorun com. und 
hallucis, Triceps surae, Tibialis posticus, Flexor digitorum communis et 
halluci8. Die Gesichts-, Hals-, Hand- und Fussmuskeln normal und functions- 
tiichtig. Sensibilitat durchaus normal. Triceps- und Extensorenreflex am 
Vorderarm so wie Patellarsehnenreflex nicht auszuliteen. Bauch- und Cre- 
masterreflex lebhaft. Im weiteren Verlauf vermochte Patient dann sich 
etwas besser aufzurichten und, indem er sich die Fiisse mit den Handen aus 
dem Bett hob, neben demselben fur kurze Zeit aufzustellen. Eine weitere 
Veranderung war nicht zu constatiren. Die elektrische Untersuchung ergab 
bedeutende Herabsetzung der Erregbarkeit in den befallenen Muskeln bis 
zum vollstandigen Erlbschen, ohne jede qualitative Veranderung. 

Am 15. Mai 1899 kommt Pat. wieder zur Klinik. Der objective Be- 
fund ist ungeandert, Atrophie und Hypertrophie im Gleichen, ebenso das 
Unvermbgen, sich allein aufzurichten oder langsam aus sitzender Stellung 
riicklings niederzulegen. Dagegen ist eine bedeutende functionelle Besserung 
zu constatiren, indem Pat. langst der Betten, sich an diesen anhaltend, zu 
zu gehen vermag unter stark lordotischer Haltung. Er giebt an, dass dies 
bei seinem ersten klinischen Aufenthalt nicht moglich gewesen sei. Am 
r. Unterschenkel ein torpides Geschwiir. 

Fall III. 

Anna K., aufgenommen 6. XI. 1896, 13 Jahre alte Schwester des • 
vorigen Patienten; seit 4 Jahren zunehmende Schwache in den Beinen. 
Patientin zeigt das typische Bild der beginnenden Pseudohypertrophie an 
den unteren Extremitaten. Schulter mit Armmusculatur noch durchaus 
normal bis auf fliigelfdrmiges Abstehen beider Schulterblatter. Stark wat- 
schelnder Gang mit deutlicher Lordose. Typisches Emporklettern an den 
Oberschenkeln beim Aufstehen aus sitzender Stellung. Wadenumfang beider- 
seits 36 cm. Sensibilitat normal; starke Herabsetzung der Erregbarkeit an 
den unteren Extremitaten, keine EaR. Bei der neuerlichen Untersuchung 
im Mai 1899 erscheint Pat. bedeutend gewachsen, sie ist jetzt 16 Jahre 
alt, seit 1 Jahr normal menstruirt. Am Schultergiirtel zeigt sich deutliche 
Atrophie der Musculatur, der Handedruck am Dynamometer betragt 10 


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I. Friedel Pick 



Fig. 2. 



Fig. 3. 


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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie. 


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und 8 kg gegen 9 und 7 vor 2V 2 Jahren; die Oberschenkel haben um 1 cm 
im Umfang abgenommen, der der Waden ist dagegen um 1 cm grosser 
(37 cm). Die Lordose beim Stehen hat bedeutend zugenommen; der grosste 
Abstand zwischen einer auf dem Os sacrum errichteten Verticalen und der 
vorgewblbten Lendenwirbels&ule betr&gt jetzt 12 cm gegen 4 im Jahre 1897. 
Auch der Gang der Pat. zeigt in Folge dessen eine Aenderung, indem die- 
selbe nur noch mit den Zehen und Fussballen, gar nicht mehr mit der Ferse 
auftritt, wie dies an nebenstehenden Ichnogrammen deutlich hervortritt. Das 
Aufrichten vom Boden, welches 1896 unter typischem Emporklettern an 
den Oberschenkeln prompt erfolgte, ist jetzt gar nicht mehr mOglich, Pat. 
bringt es garnicht mehr zum Abheben der Arme vom Boden. 

Die vorstehende Beachreibung wird wohl gentigen, um beide Fftlle als 
typische zu betrachten. 

Am 23. L 1897 wurde mit Einwilligung des Patienten dem An¬ 
ton t unter Schleich’scher Anasthesie ein Stfickchen aus dem linken 
Gastrocnemius und Biceps excidiri Glatte Wundheilung. Das Stiick- 
chen aus dem Gastrocnemius erwies sich schon makroskopisch als nur 
aus Fett bestehencL Die Sttickchen wurden theils in Alkohol, theils in 
Mttller eingelegt und nachher mit denselben Methoden wie der erste 
Fall behandelt 

M. gastrocnemius: Fast reines Fettgewebe, nur stellenweise Bruch- 
stiicke von schmalen Muskelfasern mit erhaltener Querstreifung, zahlreiche 
Muskelschl&uche. An den sp&rlichen Muskelfasern keine Kemvermehrung. 
Bedeutende Breitenunterschiede der Fasern. Geffcsse stark verdickt. An 
Weigert-Prftparaten vereinzelte Nervenfasern gef&rbt. In den Marchi- 
Pr&paraten innerhalb der der Muskelfasern keine Fetttropfchen nachzuweisen. 

M. biceps: Starke Lipomatose ? Gef&ssverdickung und Bindegewebs- 
wucherung. Querstreifung nur an einzelnen Stellen der Muskelfasern zu 
erkennen, meist nur L&ngsstreifung, keine Kemvermehrung, vereinzelte 
hypertrophische Fasern. An Marchi-Prftparaten keine Schwftrzung inner¬ 
halb der Muskelfasern. An Weigert-Pr&paraten keine intramusculftren 
Nerven nachweisbar. v 

Die Untersucbung dieser beiden sehr bochgradig erkrankten 
Muskeln ergab das Bild einer einfachen Atrophie der Muskelfasern 
mit Lipomatose, ganz ahnlich wie in den weit vorgeschrittenen Sta- 
dien des ersten Falles. Einen Unterschied bietet eigentlich nur der 
Mangel einer starkeren Kemvermehrung in den noch erhaltenen Mus- 
kelfasem. Dies in irgend einer Weise zu verwerthen, geht jedoch 
kaum an, mit Rticksicht darauf, dass die beiden excidirten Muskeln 
bereits einen hohen Grad der Lipomatose darstellen. 

Fall IV. 

Ende November 1897 kam die damals 27 Jahre alte Josefa St. zur 
Klinik mit der Angabe, vor 8 Jahren einen Ausschlag an den Extremitaten 
und dem Bumpf mit Freibleiben der Vola manus et pedis gehabt zu haben. 

Deutsche Zeitechr. f. Nervenhellkunde. XVII. Bd. 3 


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I. Friedel Pick 


Es bildeten sich erbsengrosse Blasen, die platzten nnd eine grtinlichgelbe 
Fliissigkeit entleerten unter starkem Juckgefuhl; auf Hausmittel soil sich 
der Ausschlag in 2—3 Wochen verloren haben. Im Anschluss daran be- 
merkte Patientin, dass sie die Fhsse nicht dorsal flectiren konnte, was sie 
anf h&ufige Erk&ltungen, da sie anch bei kaltem Wetter iinmer mit blossen 
Fussen hernmgeht, bezieht. Vor 7 Jahren nach einem Falle Eitemng am 
linken Unterschenkel, sonst bis anf zeitweise anftretende Eopfschmerzen stets 
gesund. Vor 14 Tagen Verletzung des rechten Sprunggelenkes, welches 
seit dieser Zeit schmerzhaft ist, weshalb Patientin jetzt ins Spital kommt 
Vater nnd eine Schwester starben an unbekannter Krankheit, Mutter ist 
einem Schlaganfall erlegen. 

Status. Somatisch nnd an den oberen Extremit&ten nichts Abnormes, 
ebenso im Gesicht. An den Fussen beiderseits Equinovarus-Stellnng; die 
Waden vielleicht voluminbser, jedoch die Entscheidung, da Patientin anch 
sonst kr&ftig gebant ist nnd starken Pannicnlns hat, schwer zu treffen; 
Wadennmfang rechts 40, links 42 Centimeter. Typischer Steppergang, mit 
schlaff herabhangenden Fnssspitzen; active Beweglichkeit in den Sprung- 
gelenken aufgehoben, passive normal. Sensibilit&t dnrchaus normal, Patellar- 
reflex fehlend, Banchreflex nnd Reflexe der oberen Extremit&ten lebhaft, 
elektrische Reaction der oberen Extremit&ten nnd Gesichtsmaskeln ergeben 
normale Zahlen. An der Peronealmnscnlatnr bedentende Herabsetznng, 
namentlich fur den galvanischen Strom. Keine EaR. Die Schmerzen in 
den Spmnggelenken liessen allm&hlich nach, so dass Patientin am 15. 1. 
das Krankenhans verliess. Am 13. in. kam sie wieder, mit der Angabe, 
neben der Schw&che in den Beinen anch Schmerzen in den H&nden zu haben, 
die ihr ein l&ngeres Gestreckthalten nnmbglich machen. Ein pathologischer 
Zustand der H&nde war nicht zn erheben. Die Schmerzen liessen bald 
nach, Pat verliess am 1. IV. das Krankenhans. Ein Jahr sp&ter sah ich 
sie wieder, nachdem sie wegen einer Unterleibsaffection anf einer anderen 
Klinik gelegen hatte. Der Wadennmfang hatte etwas abgenommen (rechts 
37,5, links 41 cm). Typische Peroneusl&hmung mit intacter Sensibilit&t 
An den oberen Extremit&ten nichts Abnormes zn sehen, jedoch Klagen iiber 
Schw&che in den H&nden. Dynamometerdmck rechts 13, links 12 kg. Dann 
kam Patientin Anfangs M&rz 1897 abermals znr Klinik, nachdem sie vier 
Wochen vorher ein lebendes, gesundes Kind zur Welt gebracht hatte. Die 
Peroneusl&hmung im Gleichen, der Wadenumfang noch etwas abgenommen: 
rechts 36, links 38,5 cm. Klagen fiber Schw&che in den H&nden, Druck 
der rechten Hand 7, links 8 kg (25. m. 1897). Dabei f&llt jetzt auf, 
dass die Schulter- nnd Handmnscnlatnr abgemagert ist. 

Atrophisch: Deltoidens, vielleicht anch Teres minor, Supra- nnd Infra¬ 
spinatus, deutlich aber die Interossei intemi et externi beider H&nde, 
Adductor nnd Flexor pollicis, Abductor nnd Flexor digit min.; femer Tibialis 
anticus, Extensor digitor. comm. long, et brev. et hallucis. 

Hypertrophisch: Triceps surae nnd Tibialis posticus. Die Hals- 
musculatur, der Pectoralis, Cncnllaris etc. normal. Am Gesicht anffallend 
eine gewisse Unbeweglichkeit der Stirn, etwas tieferes Herabh&ngen der 
oberen Augenlider. In der Mnscnlatnr des Kinns fortw&hrende Zuckungen, 
wie von verhaltenem Lachen oder Weinen. Sensibilit&t normal Bedentende 
Herabsetznng der galvanischen Erregbarkeit im Deltoides, Supinator 1., 
den Extensoren nnd Flexoren der Wirbel nnd den kleinen Handmnskeln. 


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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 


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Vom Nerven aus an der oberen Extremit&t normale Zahlen, bis auf den 
Medianus am Vorderarm; an der nnteren Extremitat Peronealgebiet und 
Wadenumfang unerregbar bei 30 Milliamp&res. An der Oberschenkel- 
mnscolatnr bedentende Herabsetznng der Erregbarkeit. 

8. Mai Druck der rechten Hand 5, der linken 6 Kilogramm. 

Beim ersten Spitalaufenthalt erschien die Diagnose durchaus zweifel- 
haft An den oberen Extremitaten war gar nichts nachzuweisen und 
die Wadenumfange erschienen bei der sonst kraftig gebauten Patientin 
nicbt bedeutend genug, um eine Hypertrophie mit Sicherheit annehmen 
zu lassen. Seither ist durcb das Befallensein der oberen Extremitaten 
und der Andeutung einer Facies myopathica die Diagnose einer Dys- 
trophie wahrscheinlicher geworden. Zur Sicherstellung derselben wurden 
der Patientin am 1. VI. mit ihrem Einverstandniss Sttickchen aus dem 
L Deltoides, Gastrocnemius und Extensor digitorum communis pedis in 
Chloroformnarkose excidirt und nach den oben beschriebenen Methoden 
untersucht. 

M. deltoideus: Wohlerhaltene Muskelbiindel mit spftrlicher Vacuolen- 
bildung, stellenweise hypertrophische Fasern. Vermehrung des interstitiellen 
Bindegewebes und dessen Kerne. 

An March i-Prftparaten keine Schwarzf&rbnng innerhalb der Muskel- 
fasern. Querstreifang wohlerhalten. An W ei ger t-Prftparaten keine intra- 
•muscularen Nerven zu sehen. 

M. extensor digitorum comm.: Aeusserst reichliches Fettgewebe, 
stark verdickte Gef&sse, stellenweise Inseln von welligem Bindegewebe 
mit zahlreichen Kernen. Stellenweise lange Schiauche mit Ueberresten von 
Muskelfasem, ohne Querstreifung und zahlreichen Kernen. Intramusculftre 
Nerven grbsstentheils wohlerhalten, hbchstens stellenweise weniger Fasern, 
als der Breite des Nerven entsprechen wiirde. 

M. gastrocnemius: Reichliches Fettgewebe mit stark verdickten 
Gefassen, darin Inseln zum Theil hypertrophischer Muskelfasem mit Spalt- 
bildung, reichlichen Kernanh&ufungen, die stellenweise die Muskelfasem in 
parallelen Reihen beiderseits flankiren; Querstreifung undeutlich. Ein 
Theil der Schnitte parallel mit der Sehne gefuhrt. In der Nfthe des An- 
satzes derselben zum Theil gut erhaltene Muskelfasem, welche eine 
eigenthiimliche Scheidung in hoher liegende, dunklere, glasig homogene 
Binder und grossere lichte Partien zeigen, die deutliche Langs- Oder 
Querstreifung erkennen lassen (Taf. II u. Ill, Fig. 9). (Weiteres s. unten.) 

An Marchi-Praparaten nichts Abnormes; an den Weigert-Prtpa- 
raten keine gefarbten Nervenstammchen zu sehen. 

Es wird nach dem Mitgetheilten wohl keinem Zweifel unterliegen, 
dass auch der vierte Fall eine Dystrophie darstellt. Allerdings ist 
auch hier das klinische Bild keineswegs das gewohnliche. Denn wir 
sehen mit 19 Jahren das Auftreten von Veranderungen der unteren 
Extremitaten, wie sie etwa der Pseudohypertrophie entsprechen, hier- 
zu kommen dann Erscheinungen der Atrophie an den oberen Extre¬ 
mitaten und endlich Andeutung einer Gesichtsbetheiligung. Besonders 

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I. Friedel Pick 


hervorzuheben ist das relatiy frahe Befallensein der kleinen Hand- 
muskeln und die spate Gesichtsbetheiligung. Ferner der Beginn mit 
typischem Steppergang zu einer Zeit, wo an dem Schultergiirtel gar 
nichts Pathologisches nachzuweisen war. Es stellt der Fall demnach 
eine juyenile Form dar mit Gesichtsbetheiligung, beginnend unter dem 
Bilde der Pseudohypertrophie, aber erst im 19. Lebensjahre. 

Die jahrelange Beobachtung dieser Falle liess auffallende Ver- 
laufsverschiedenheiten erkennen. Bei dem jangeren Madchen mit 
Pseudohypertrophie war in den zwei Jahren der Pubertatsentwicklung 
eine bedeutende Verschlimmerung eingetreten, ebenso war der Verlauf 
im erstbeschriebenen Fall ein rascher, viel langsamer ist das Fort- 
schreiten der Affection % in dem letzterwahnten Falle juveniler Form, 
und der Bruder des Madchens mit Pseudohypertrophie, bei dem der 
Process schon bis zur Unbeweglichkeit der Beine und des Rumpfes vor- 
geschritten war, liess sogar eine leichte Besserung erkennen, indem 
er bei seinem zweiten Spitalsaufenthalt, nachdem das erste Mai Geh- 
libungen mit ihm gemacht worden waren, die er zu Hause fortsetzte, 
ausserhalb des Bettes stehen und sich langs der Bettreihe, an diese 
anhaltend, bewegen konnte. Da der Patient 21 Jahre alt ist, werden wir 
wohl nicht ein Zuriickgehen der Krankheit, sondern nur eine Kraftig- 
ung der noch nicht veranderten Musculatur bei Stillstehen des Processes 
anzunehmen haben. Ein derartiges Stillstehen des dystrophischen Pro¬ 
cesses fhr langere Zeit ist wohl auch schon sonst gelegentlich be- 
schrieben worden (s. z. B. Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkr. 1897. 
S. 182), hat aber auch deswegen Interesse, weil es in neuerer Zeit mit 
zurErklarungdes Entstehens von Muskeldefecten herangezogenwurde. 
Erb, Stintzing, Damsch und Andere haben solche Defepte insbe- 
sondere der Brustmuskeln beschrieben, welche die anatomische oder 
klinische Untersuchung als nicht congenital entstanden, sondern als 
Theilerscheinung einer Dystrophie auffassen liess. Fttrstner hat bei 
zwei Geschwistern einen Defect des Quadriceps gefunden, von welchen 
der eine Fall Anfange einer Dystrophie zeigte, so dass F. trotz des Be- 
ginnes in frUhester Kindheit die Frage, ob congenitale oder dystro- 
phische Entstehung, offen lasst. Einen solchen Fall, wo ein, soweit 
klinischzubeurtheilenmoglich,totalerQuadricepsdefect mindestens 
seit der Kindheit besteht, dabei aber andere, allerdings geringgradige 
Zeichen far Dystrophie sprechen und diese letztere als Entstehungs- 
ursache auch ftir den Quadricepsdefect annehmen lassen, konnte ich 
in letzter Zeit untersuchen. 

Fall V. 

Alois P., 46 jahr. Diener, seit vier Jahren krank, damals eine schraerz- 
hafte Geschwulst am 1. Fuss, sp&ter eine ebensolche im r. Hiiftgelenk, 


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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie. 


37 


seither Schmerzen im Eiicken. Patient soli schon seit friihester Jugend 
schlecht gehen, ebensolang besteht die Magerkeit der Oberschenkel. Here- 
ditftr nnd familiftr nichts zn erniren. 

Status. Innere Organe und Hiranerven normal, rechtsseitige Skoliose. 

Die Muscnlatur des Schultergurtels deutlich atrophisch, so namentlich 
Mm. deltoideus, rhomboidei, serrat. ant. major, sulpra- nnd infraspinatus, 
biceps. Schnltem flugelformig abstehend. In der Muscnlatur der Scapula, 
dem Biceps und Triceps fibrill&re Zuckungen. Muscnlatur der Vorderarme 
normal. Dynamometer rechts 21, links 18 Kilogramm. Die Oberschenkel 
sehr diinn, weich, vom Quadriceps garnichts zu fuhlen, ihr Umfang in der 
Mitte und iiber den Condylen 30 cm, der der Waden 36 cm. Auch die 
Glutaei und die Adductoren zeigen deutliche Atrophie. 

Die Beine kann Patient bei Flachlage nur miihsam bis zu 30 cm 
Fersendistanz heben, das gebeugte Knie kann er nicht strecken, dagegen 
sind die wohlgeformten Unterschenkel bedeutender Kraftentfaltung f&hig. 
Vom Sitzen auf der Erde Aufrichten unter typischem Emporklettem an den 
Oberschenkeln. Fibrill&re Zuckungen in der Wadenmusculatur. Patellar- 
reflexe nicht auszulosen. Sensibilit&t normal. Die elektrische Untersuchung 
ergiebt hochgradige Herabsetzung der farad, und galvan. Erregbarkeit. 
Keine EaR. 

Wir sehen also in diesem Fall einen fast totalen, in das frtiheste 
Lebensalter zurfickdatirten Quadricepsdefect mit Atrophien anderer 
Muskeln combinirt, welche zwar noch viel weniger weit vorgeschritten 
sind, aber doch die Diagnose einer Dystrophie gestatten. Nun 
sind wohl mehrfach Falle von Entwicklung einer Dystrophie im An¬ 
schluss an vorausgegangene Kinderlahmung (Bisping, Filbry) 
publicirt worden, allein in diesen Fallen hatte die erste Affection 
immer einen hemiplegischen Charakter, und da anderentheils derartige 
Quadricepsatrophien im Verlauf sonst typischer Dystrophie gar nicht 
so selten sind, werden wir wohl nicht fehlgehen, wenn wir ffir 
unseren Fall eine dystrophische Entstehung annehmen; es handelt 
sich hierbei eben um einen sehr chronischen Verlauf mit zeitweiligem 
Stillgtand des Processes, wie ihn ja auch Fall,II unserer Beobach- 
tung zeigte. 


Hier sei auch noch in Khrze auf den eigenthiimlichen Befund 
eingegangen, welchen die Langsschnitte der Muskeln des Falles IV 
darboten, namlich im Verlaufe der Fasern, namentlich an den Enden 
mehr minder zahlreiche quer Oder leicht schrag verlaufende Bander 
von eigenthtimlich glanzender homogener Beschaffenheit und 
dunklerem Farbenton (s. Taf. II u. Ill, Fig. 9). Die Querstreifung der 
Fasern war an den zwischenliegenden normalen Faserpartien deutlich, 
an den homogenen Bandera nicht ausgepragt, dagegen liess sich eine 
Langsstreifung auch an denselben nachweisen. Versehiebung der Mikro- 


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I. Fwedel Pick 


meterschraube liess deutlich erkennen, dass die homogenen Partien hoher 
gelegen sind, als die dazwischen liegenden helleren, wie ihnen auch dort, 
wo sie eine grossere Strecke der Faser einnehmen, am Langsschnitte eine 
leichte Ausbauchung des Contours der Fasern entspricht Was nun 
die Deutung dieser Bilder betrifft, so geben uns die Lehr- und Hand- 
blicher keine gentigende Auskunft 

Die homogene Beschaffenheit und der wachsartige Glanz dieser Bander 
legen zunachst den Gedanken an die bekannte wachsartige Degene¬ 
ration nahe, wie sie Zenker bei Typhus beschrieb, und in der That 
finden wir ja bei der Beschreibung der histologischen Befunde yon 
Muskelatrophien oft genug eine wachsartige Degeneration der Fasern er- 
wahnt (Erb, Friedreich), allein dort bezieht sich diese Bezeichnung 
auf verschmalerte Fasern oder grossere Bruchstucke atrophischer Fasern, 
wiihrend hier die Fasern in Bezug auf Breite und sonstige Beschaffen¬ 
heit ein normales Aussehen darbieten. Ich habe nun daraufhin 
die verschiedenen Abbildungen der Autoren, die sich mit dem mikro- 
skopischen Befund der Muskelatrophien beschaftigt haben, durch- 
gesehen und da finden sich auch gelegentlich Abbildungen, welche unter 
der Bezeichnung einer transversalen Zerkltiftung ahnliche Bilder 
darbieten, so z. B. bei Friedreich Taf. Ill, Fig. G, H und Taf. IV, 
Fig. B, Singer Taf. VI, Fig. 1 und 4. In der That lehrte auch ein 
Vergleich mit den im hiesigen pathologisch-anatomischen Institut 
aufbewahrten Praparaten des Singer'schen Falles, deren Durchsicht 
ich der Freundlichkeit des Herrn Hofrath Chiari verdanke, dass es 
sich bei den letzteren um analoge Veranderungen der Muskelfasern 
handelt, wie in dem vorliegenden Falle. Roth giebt in einer um- 
fassenden Monographic mehrere detaillirte Bilder, welche unzweifel- 
haft analoge Befunde darstellen (Taf. VI, Fig. 3, 5, 6 und 8); wofem 
ich den russischen Text richtig verstehe, deutet er die homogenen 
Partien als eine glasartige Rinde, entstanden durch Zusammenziehung 
der peripheren Schicht der Muskelfasern und Einwirkung des Reagens. 
Diese glasartige Rinde erfahrt Einrisse, wodurch normale Structur 
zeigende quergestreifte Substanz zu Tage tritt; immerhin scheint er 
diese Bilder als pathologische Veranderung anzusehen. Was nun die 
erstgenannte Deutung, namlich Zerfall in Querscheiben, betrifft, 
so scheint mir gegen dieselbe zu sprechen, dass ein eigentlicher Zerfall 
gar nicht zu bemerken ist, es besteht gar keine Continuitatstrennung 
der Fasern, sondern zwischen den homogenen, dunkleren Partien sieht man 
lichtere, anscheinend normale Muskelsubstanz, so dass die Querbander 
im Verlaufe der Faser angereiht liegen wie Knoten in einem Strict 
Auch die an und flir sich nicht ganz klare Auffassung einer durch Con¬ 
traction peripherer Fibrillen und chemische Einwirkung entstandenen 


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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie. 


39 


homogenen Binde mit Einrissen ist insofem nicht passend, als die 
Querbander und lichten Stellen keineswegs durch Einrisse ent- 
standen erscheinen. Auch kann die Muller'sche Fltissigkeit 
allein nicht solche Yeranderungen bewirken, da man sie ja 
doch dann haufiger sehen miisste. So habe ich z. B. bei dem erst- 
beschriebenen Falle, von welchem so zahlreiche Muskeln nach Hartung 
in Mtiller’scher Fltissigkeit untersucht wurden, nirgends ein solches 
Bild erhoben. Diese letztere Thatsache sowie der Umstand, dass der 
Deltoides, von welchem die betreffenden Praparate stammen, ja doch 
nur ein wenig vorgeschrittenes Stadium der Atrophie darbot, lassen eher 
annehmen, dass es sich tiberhaupt nicht um eine pathologische 
Veranderung handle, und ffthren dazu, nachdem die Neuropathologie 
diesbezhglich keine Hinweise giebt, in der normalen Muskelhistologie 
nach ahnlichen Befunden Dmschau zu halten. Und hier linden wir 
in der That in neuerer Zeit unter den Namen Dauercontractionen 
(E x n e r), Schrumpfcontractionen (R o 11 e 11), V erdichtungsstellen 
(Schaffer) Befunde beschrieben, welche, nach den betreffenden Ab- 
bildungen zu schliessen, mit den in Rede stehenden identisch sind. 
lnsbesondere Jos. Schaffer*) hat in einer grossen Arbeit, in welcher 
er die bekannten Untersuchungen von Knoll liber die protoplasma- 
arme und protoplasmareiche Musculatur auch auf den Menschen aus- 
dehnt, derartige Yeranderungen der Muskelfiasern genauer untersucht 
und erortert. Er beschreibt (S. 36—38 etc.) derartige homogene, 
glanzende Strecken mit theils sehr enger, theils nicht sichtbarer 
Querstreifung in verschiedenen Muskeln vom Menschen und weist 

*) Hier sei bemerkt, dass die Tafeln Schaffer’s uber Schrumpfcontrac¬ 
tionen auch noch Bilder zeigen, die an verschiedene von Neuropathologen be- 
schriebene Befunde erinnern. So zeigt seine Figur 41 auf Taf. V auffallende Aehn- 
lichkeit mit dem merkwurdigen Befund Erb’s (Taf. I u. II Fig. 7 a), wo ein 
Bflndel abgeschniirter, offenbar in Spaltung begriffener Fasem von einem schmalen 
kernhaltigen, roth gefarbten und deutlich quergestreiften Band umzogen ist, wie 
wenn das Ganze in einer grosseren Faser lage, aber der Ring schliesst sich nicht 
vollstandig (Erb, 1. c. 185). Ebenso erinnern diese Bilder an die von Munzer 
(Taf. V, Fig. 9) an Muskelfasem von einem amputirten Fuss und auch an exci- 
dirten Muskelstuckchen des Dystrophiekranken Wolf gefundene Erscheinung 
einer concentrischen Langsschichtung der peripheren Muskelfibrillen um die 
centralen. Schaffer erwahnt, dass Batai 11 on solche Bilder bereits beiAmphi- 
bien beschrieb und durch Abreissen der ausseren Fibrillen und Anlegen an die 
centralen unversehrten erklare, ahnlich wie dies Munzer fur seine Praparate 
annahm. Schaffer (S. 66) polemisirt gegen die Erklarung Bataillon’s und meint, 
es handle sich um eine Einschndrungsstelle durch Schrumpfcontraction, um 
welche das Sarcolemm vom oberen Faserabschnitt her in Form einer Manschette 
zuruckgezogen und in Falten gelegt sei, die eine circulare und radiare Streiftmg 
vortauschen konnen. 


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40 


I. Friedel Pick 


darauf hin, dass die bekannten Helligkeitsunterschiede der Fasem auf 
dem Querschnitte von Muskeln auch durch diese Verdichtungsknoten 
bedingt sein konnen. Ein Vergleich seiner Abbildungen, z. B. Taf. II, 
Fig. 14 b und Taf. Ill, Fig. 20, mit meinen Praparaten zeigt die 
Identitat der besprochenen Gebilde. Sch. weist femer darauf hin, dass 
Exner das Auftreten dieser Veranderung an frischen Muskelfasern 
beobacbtet und auch Knoll (II, S. 651) derartige Veranderungen als 
Faserwiilste, entstanden durch die Reaction der gesunden, nicht abge- 
storbenen Muskelfasern auf das H&rtungsmittel, erwahnt, sowie dass viele 
Beobacbtungen pathologischer Anatomen, welche unter dem Schlag- 
wort wachsige Degeneration in der Literatur yorgefunden werden, 
hierher gehoren dtirften. Aehnlich hat Pineles bei der Untersuchung 
der Kehlkopfmuskeln des Pferdes nach Durchschneidung der Nn. 
laryngei solche Querbander beschrieben und abgebildet (Fig. la) und 
dieselben als degenerative Veranderungen gedeutet. Es zeigt sich 
auch hier wieder, ebenso wie oben in der Geschichte der Muskel- 
spindeln und der Renaut'schen Korperchen, wie leicht bei der Unter¬ 
suchung einer Specialfrage die ungentigende Kenntniss seltener, jedoch 
normaler histologischer Verhaltnisse zu Irrungen ftthrt und bei der 
heutzutage ja nicht mehr zu umgehenden Arbeitstheilung den Patho- 
logen als krankhafte Veranderung ansehen lasst, was dem Histologen 
und Physiologen als normal oder Artefact bekannt ist. 

Dass es sich also bei den beschriebenen glanzenden Querscheiben 
nicht um eine pathologische Veranderung handelt, diirfte nach dem 
Vorstehenden klar sein, allein dieselben scheinen auch nicht voll- 
standig normale Contractionsvorgange darzustellen. Exner hat 
bereits darauf hingewiesen, dass diese Contractionen sich nicht wieder 
losen, sondern das Absterben der Fasem begleiten und unter Auspressung 
einer wassrigen Fllissigkeit zu Stande kommen, und Rollett hat ihre 
Verschiedenheit von den normalerweise entstehenden Contractionswellen 
betont und sie mit dem Namen „Schrumpfcontractiouen“ bezeichnek 
Es handelt sich also nach diesen Autoren um Veranderungen, 
welche zwar nur an noch lebenden Muskelfasern durch den 
Einfluss der Reagentien, vorwiegend der Osmiumsaure ent- 
stehen, aber schon den Charakter eines Absterbens an sich 
tragen. Fur diese Auffassung spricht auch mein Befund, denn ich 
sah diese Veranderungen an einem excidirten Muskelstiick, welches 
direct von einem lebenden Individuum in die Hartungsfltissigkeit gebracht 
worden war, nicht aber bei meinem Sectionsfalle. Uebrigens wird es, 
da ja die Contractilitat der Muskelfasern bekanntlich den Tod des 
Individuums einige Zeit iiberdauern kann, uns nicht Wunder nehmen, 
wenn gelegentlich auch bei nicht zu lange nach dem Tode entnommenem 


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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 41 

Sectionsmaterial analoge Veranderungen gefunden werden, wie dies in 
den oben erwahnten Beobachtungen von Singer und von Roth der 
Fall war. In Bezug darauf, dass in den betreffenden Mittheilangen 
von Exner, Rollett, Knoll besonders die Hartungsfliissigkeit (Os- 
miumsaure) als das Zustandekommen derartiger Veranderungen be- 
wirkendes Reagens besprochen wird, sei hervorgehoben, dass in meinem 
Falle, wie auch in denen von Singer und Roth, die Hartung in 
Mtiller'scher Fltlssigkeit erfolgt war. 

Kehren wir nun zu dem eigentlichen Zwecke dieser letzteren 
Untersuchungen an excidirten Muskelstfickchen zuriick, namlich einer 
Vergleichung des histologischen Bildes mit den Muskelver- 
anderungen des erstbeschriebenen Falles, so zeigt sich eine voll- 
kommen gentigende Uebereinstimmung der histologischen Befunde, und 
es durfte wohl keinem Widerspruch begegnen, denselben als Dys- 
trophie anzusprechen. Wohl haben neuere Untersuchungen gelehrt, 
dass der mikroskopische Befund an und ftir sich nichts ftir die Dys- 
trophie Charakteristisches hat, denn, wie schon eingangs erwahnt wurde, 
finden sich sowohl die einzelnen frilher als charakteristisch angesehe- 
nen Details, wie Vacuolenbildung, hypertrophische Fasern*) etc., als 
auch das Gesammtbild der sogenannten „einfachen“ Atrophie bei un- 
zweifelhaft spinalen oder neurotischen Erkrankungen, so wie nach 
Durchschneidung der peripheren Nerven. Allein, wenn der histolo- 
gische Befund an den Muskeln dem der Dystrophic entspricht, der 
des Nervensystems ein so negativer ist, wie in dem vorliegenden Falle, 
werden wir zu dem Schlusse gedrangt, dass derselbe als der Dystro- 
phie angehorig anzusehen ist. 

Unter diesen Umstanden gewinnt derselbe aber eine erhohte 
Bedeutung durch die mannigfachen klinischen Abweichungen 
vom typischen Bilde der Dystrophic, welche intra vitam 
eher eine spin ale Muskelatrophie annehmen liessen. Er zeigt, 
dass mehrere der Symptome, die schulgemass als gegen Dystrophie und 
fttr spinale Muskelatrophie sprechend angesehen werden (Beginn im 
spaten Alter, starkes Befallensein der Handmuskeln, der Sternocleido- 
mastoidei etc.), gelegentlich auch bei Dystrophie vorkommen konnen 
und so die Dystrophie klinisch eine spinale Form der Muskelatrophie 
vortauschen kann. Von diesem Gesichtspunkte aus konnte man ver- 


*) Nebenbei sei hier erwahnt, dass Kerschner und auch Schaffer (S. 89) 
in Muskeln von Embryonen und jugendlichen Individuen sehr grosse, von ersterem 
als Eiesenfasern bezeichnete, Fasern sahen und dass Schaffer (S. 310) in den 
Augenmuskeln eines Justificirten und bei Thieren unter sonst normalen Verhalt- 
nissen reichliche kernhaltige Vacuolen in den Fasern fand, wie schon friiher 
Cramer und Both. 


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42 


I. Friedel Pick 


sucht sein, diesen Fall im Sinne jener eingangs erwahnten Anschau- 
ungen zu verwerthen, durch welche die Lehre yon der primar myo- 
pathischen Natur der Dystrophien wieder scliwankend geworden ist 
Wohl hat es jederzeit Antoren gegeben, welche auch fttr die 
jetzt als Dystrophie zuzammengefassten Krankheitsbilder eine neuro- 
pathische Genese annahmen, so speciell fttr die Pseudohypertrophie 
Knoll (1872) und Mobi us, ferner im Allgemeinen Liebermeister, 
Winkler und van Boon; allein unter dem Eindruck des in der 
ftberwiegenden Mehrzahl der Sectionen ganz negativen mikroskopischen 
Befundes am Nervensystem hat sich seit den Untersuchungen Fried¬ 
reich's und Lichtheim's die Lehre von der primar myopathischen 
Natur dieser Erkrankungen allgemeine Geltung verschafft und ist die 
Differentialdiagnose mit schematischer Scharfe festgelegt worden. In 
neuerer Zeit ist auch hier wieder ein Umschwung eingetreten, indem 
Erb diese Lehre von der primar myopathischen Natur der Dystrophie als 
verfiftht bezeichnet und mehr der Annahme einer neuropathischen Genese 
zuneigt, eine Auffassung, welche seither auch Strtlmpell vertreten hat 
Da, wie schon erwahnt, neuere Untersuchungen mehrfach gezeigt 
haben, dass der histologische Muskelbefund, d. h. die einfache Atrophie 
auch bei sicher spinalen Erkrankungen vorkommt, ist das negativeRe- 
sultat der mikroskopischen Untersuchung desNervensystems 
bei der iiberwiegenden Mehrzahl der Dystrophien der Haupteinwand 
gegen eine solche Anschauung. Demgegeniiber betont Erb (S. 239) 
erstens „die Unzulanglichkeit unserer heutigen mikroskopischen Unter- 
suchungsmethoden, denen schwere, andauemde functionelle Stbrungen 
am centralen Nervensystem unzuganglich sind“. Diese Worte sind 
zwar vor dem bedeutenden Aufschwung geschrieben, welchen die 
Nissl'sche Methode unseren Kenntnissen von dem Bau und den 
Veranderungen der Ganglienzellen gebracht hat, allein sie haben auch 
jetzt noch Geltung behalten, denn jeder mit einschlagigen Untersuch¬ 
ungen Beschaftigte wird zugeben, dass wir die feineren Details eigent- 
lich nur von den multipolaren Vorderhornzellen kennen, wahrend wir 
tiber den Zustand der grossen Mehrzahl der liber den Querschnitt 
der grauen Rfickenmarkssubstanz verstreuten Zellen im gegebenen 
Falle kaum mit Sicherheit etwas auszusagen im Stand© sind. Daftir 
aber, dass Muskelatrophien analoger Art sicher auch durch Erkran- 
kung anderer Theile des Centralnervensystems zu Stande kommen 
konnen, daf&r sprechen die merkwtirdigen Falle von sogenannter fifth- 
zeitiger Muskelatrophie bei der cerebralen Hemiplegie, in welchen die 
grossen Vorderhornzellen intact gefunden werden (z. B. Eisenlohr, 
Borgherini, Steiner). Nach diesem Hinweis auf die keineswegs 
absolute Beweiskraft der negativen anatomischen Befunde ftihrt 


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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 


43 


Erb als sonst noch fttr einen Zusammenhang der Dystrophie mit 
dem Nervensystem sprechend an: die vorwiegende Localication in wahr- 
scheinlich zu einem Innervationscentrum gehorigen Muskelgebieten, das 
gleichzeitige Vorkommen sonstiger nervoser Storungen bei Dystro- 
phikern, das seither auch neuerdings wieder bestatigte (Hoffmann) 
Vorkommen hypertrophischer Fasern oder auch sonst mit dem Befunde 
bei Dystrophie ganz identischer Muskelveranderungen bei unzweifel- 
haft spinalen Erkrankungen und endlich die nicht mehr so ganz 
vereinzelten Falle von typischen Pseudohypertrophien oder sonstigen 
Dystrophien mit mehr minder hochgradigen Veranderungen im Rticken- 
marke, speciell den grauen Vordersaulen, wobei er die Frage aufwirft, 
ob diese letzteren Veranderungen nicht vielleicht secundar waren, 
bewirkt durch die langdauernde functionelle Storung der Zelle. Diese 
verschiedenen Momente flihren Erb zu der Vermuthung, dass die Dys¬ 
trophie von einer functionellen Storung der trophischen Centren ab- 
hange, also eine Trophoneurose sei, und er wirft dann zum Schlusse 
die Frage auf, ob nicht auch eine gewisse Verwandschaft zwischen 
der Dystrophie und der Amyotrophia spinalis bestehen und Uebergange 
zwischen ihnen vorkommen konnten. Auch Strttmpell gelangt bei der 
Besprechung seines oben erwahnten Falles und der einschlagigen 
Literatur zu dem Ergebnisse, dass die zwischen „myopathischer“ und 
„spinaler w Muskelatrophie gezogene Grenzlinie offenbar wieder schwan- 
kend geworden sei, und auf die Schwierigkeiten der Differentialdiagnose 
zwischen diesen beiden Formen haben gelegentlich der Mittheilung 
klinischer Beobachtungen in jtingster Zeit d'Abundo, Schlesinger 
und Bregmann hingewiesen. 

Wir sehen also, dass in neuester Zeit von berufenster Seite die 
streng schematische Scheidung zwischen primar myopathischer und 
spinalerMuskelatrophieaufgegeben und die Ansicht einer neuropathi- 
schen Genese auch fbr die erstere discutirt wird. Fiir diese Anschau- 
ungen ist es nattirlich vonBedeutung, klinischeUebergangsformen 
nachzuweisen, d. h. also einerseits Falle mit dem klinischen Bild der 
Dystrophie und deutlichen Veranderungen des Rtickenmarks, anderer- 
seits aber auch solche, wo die sonst den neuropathischen Muskelatro- 
phien zukommenden Symptome vorhanden sind, die aber durch die 
mikroskopischen Veranderungen der Muskeln und den negativen Befund 
am Nervensystem als der Dystrophie zugehorig erwiesen werden. Es giebt, 
wie bereits erwahnt, eine ganze Anzahl von Fallen der ers ten Art, und ge¬ 
legentlich ist auch dieselbe Beobachtung von dem einen Autor als 
Dystrophie mit secundaren Ruckenmarkveranderungen, von einem 
zweiten als spinale Form gedeutet worden (Strtimpell, Hoffmann). 
Dagegen sind Falle der zweiten Art, wie es scheint, seltener; soweit 


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44 


I. Fbiedel Pick 


ich die Literatur (ibersehe, ware hier zunachst der Fall von Rein- 
hold zu nennen, der intra vitam als Bulbarparalyse imponirte und 
auch als solche seiner Zeit demonstrirt wurde; femer der Fall von 
Oppenheim und Cassirer, der unter Anderem auch partielle EaR 
zeigte und als neurotische Muskelatrophie aufgefasst wurde; in beiden 
Fallen ergab die anatomische Untersuchung des Nervensystems ein 
negatives Resultat bei, der Dystrophie entsprechendem, Muskelbefunde, 
so dass sie von den Untersuchern als primare Myopathien beschrieben 
werden. Diesen beiden Fallen wtirde sich dann mein Fall I anreihen als 
einer, bei welchem das klinische Bild zur Diagnose „spinale M Muskel¬ 
atrophie ftihrte, wahrend ihn die Section als Dystrophie erwies. 

In diesem Sinne konnte also der oben beschriebene Fall I in 
Beziehung zu der Controverse betr. der Scheidung zwischen primarer 
myopathischer und neuropathischer Dystrophie gebracht werden, und 
ich mochte diesbezttglich noch auf ein Moment eingehen, namlich auf 
die Muskelspindeln, die jetzt besonders, wo ihnen sensorische Func- 
tionen zugeschrieben werden, auch von den Neuropathologen ein- 
gehenderer Beachtung gewiirdigt werden sollten. Ich fand im Gegensatze 
zu Grtinbaum, jedoch iibereinstimmend mit Forster, Batten und 
Spiller, dass die in diesen Gebilden enthaltenen Muskelfasem selbst 
in den total atrophischen Muskeln wohl erhalten waren und keinen 
Unterschied gegenfiber der Norm erkennen liessen. 

Nun hat Sherrington nachgewiesen, dass die Nerven dieser Ge- 
bilde auch nach Degeneration aller motorischen Nervenfasem im 
Gegensatze zu den iibrigen Muskelfasem intact bleiben und dem 
Spinalganglion entstammen. Mit Rticksicht hierauf lasst sich also von 
der Dytrophie behaupten: es entarten auch bei derselben die mit 
den motorischenNerven inBeziehung 1 stehenden Fasern; ande- 
rentheils findet sich bei Siemerling die Angabe, dass er bei Phosphor- 
vergiftung auch die innerhalb der Spindeln gelegenen Muskelfasem 
fettig entartet fand. Man konnte also sagen: bei einer sicher primar 
die Musculatur treffenden Noxe, wie es der Phosphor ist, erkranken 
diese Fasern wie die ubrigen, bei der Dystrophie aber wie auch bei 
der spinalen Muskelatrophie (Pilliet,Blocq undMarinesco,Forster) 
bleiben sie intact, wahrend die mit den motorischen Nerven in Be¬ 
ziehung stehenden Fasern zu Grunde gehen, ein Raisonnement, das f&r 
die neuropathische Genese der Dystrophie sprechen wurde. Indessen 
sind diese Befunde doch noch zu sparlich und die ganze Natur dieser 
Gebilde noch zu wenig gekannt, um weitergehende Schlusse zu erlauben. 

Es sei hier aber gestattet, auf einzelne Punkte hinzuweisen, die 
in anderem Sinne mit der in Rede stehenden Frage in Beziehung stehen. 

Wie oben erwahnt, hat Erb (S. 239) gelegentlich der Besprechung 


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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 


45 


der neuropathischen Genese der Dystrophie eine von ihm schon 
frfiher bezfiglich der multiplen degenerativen Neuritis pracisirte An- 
schauung herangezogen, dahingehend, dass die allein sichtbare Ver- 
anderung der Muskeln durch eine mikroskopisch unsichtbare Stoning 
der trophisehen Centren bewirkt sein konne. Strfimpell (S. 500) hat 
diese Moglichkeit vollkommen anerkannt und Thatsachen angeftthrt, 
die daffir zu sprechen scheinen, dass eine Verminderung der nutritiven 
Zellkernfunctionen sich gewissermassen in den entferntesten Provinzen 
(am Ende der peripherischen Nervenfaser) bereits siehtbar bemerklich 
macht, wahrend im Centrum selbst der Mangel noch nicht hervortritt 
Er erwahnt hierbei die leichteren toxischen Lahmungen, sowie die bei 
den primaren Erkrankungen der Pyramidenseitenstrangbahn zu beobach- 
tende Abnahme der Degeneration von unten nach oben zu, welch* letzteren 
Befund er ja bekanntlich schon frfiher in ahnlichem Sinne deutete. 
Yon diesem Gesichtspunkte aus erscheint es zunachst wilnschenswerth, 
die motorischen Nervenendigungen in den Muskeln bei Dys¬ 
trophie zu untersuchen, Diesbeziiglich liegt nur eine Angabe vonMme. 
Dr. Sacara-Tulbure aus Babes’ Institut vor, die bei einem, allerdings 
in vielfacher Beziehung von dem typischen Bilde der Pseudohypertrophie 
abweichenden Falle (s. StrttmpeH's Referat im Neurologischen 
Centralblatt 1896. XY. S. 85) bedeutende Veranderungen an den Nerven¬ 
endigungen constatirte. Sie fand mittelst Vergoldung Schwund der 
Geweihe und Faden in den Endplatten und Proliferation ihrer Kerne. 
Ich habe die Gelegenheit der beiden oben erwahnten Muskelexcisionen 
auch benfitzt, um das hierbei gewonnene frische Material in dieser 
Beziehung zu untersuchen. Zur Anwendung geJangten verschiedene 
der hierfhr empfohlenen Methoden, namlich Vergoldung nach Ranvier, 
Hamatoxylin nach Negro und nach Sihler, sowie Methylenblau 
nach S. Mayer, von welchen die von Ranvier und die von Sihler 
noch relativ die besten Bilder gaben. Das Resultat mochte ich ein- 
fach dahin zusammenfassen, dass keine der angegebenen Methoden 
einen sicheren Schluss fiber das normale Verhalten oder pathologische 
Veranderungen an den Endplatten gestattet, insbesondere erweist sich 
das reichliche Fettgewebe der lipomatosen Muskeln bei der Unter- 
suchung als sehr storend. Wir werden wohl noch eine Verbesserung 
der Methodik abwarten mfissen, ehe wir fiber den Zustand dieser 
Gebilde so Bestimmtes aussagen konnen. 

Die oben erwahnte Strfimpell'sche Hypothese schien mir aber 
noch von einer anderen Seite aus anatomisch controlirbar. Wenn man 
namlich annimmt, dass die Entfernung vom Centrum vonBedeutung 
ffir das Sichtbarwerden der Degeneration sei, dann schien es wfinschens- 
werth, zu erfahren, ob nicht vielleicht auch bei der Waller’schen 


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I. Friedel Pick 


Degeneration zeitliche Unterschiede in Bezug auf das Auftreten der- 
selben an der Peripherie und nahe dem Centrum zu constatiren waren. 
Von einigen Versuchen diesbeziiglich, die ich gerade plante, nahm ich 
Abstand, als ich bei der Durchsicht der Muskelspindelliteratur auf dies- 
beztigliche Angaben von Batten stiess, der in seiner obenerwahnten 
Experimentaluntersuchung fiber die Degeneration der Muskelspindeln 
(1898) auch auf diesen Punkt geachtet hat. Auf Grund von Durch- 
schneidungsversuchen am Brachialplexus von Hunden gelangte er zu dem 
Ergebnisse (S. 400), dass die Degeneration der Markscheide im ganzen 
Verlauf gleichzeitig eintritt und die central gelegenen Theile ebenso 
bald erkranken, als die peripheren; auch f&r den Axencylinder war eine 
solche Differenz nicht zu constatiren. Da sich diese Versuche nur auf 
die peripheren Nerven beziehen, erschien es mir von Interesse, mensch- 
liche Rtickenmarke mittelst der Marchi’schen Methode daraufhin zu 
untersuchen, ob bei cerebralen Hemiplegien Differenzen in der Intensitat 
der Degeneration der Py-Bahnen zwischen Hals- und Lendenmark zu 
finden sind oder solche Unterschiede sich etwa ergeben beim Vergleich 
dieser mit Fallen von tiefsitzenden Querlasionen (Dorsalmark). Auch 
hierbei waren keine zeitliclien oder Intensitatsunterschiede nachzuweisen, 
und es ergiebt sich aus diesen Untersuchungen, dass ein frtiheres Sicht- 
barwerden der Degeneration an den peripheren Partien der Zellauslaufer 
nach Continuitatstrennung nicht nachweisbar ist. Hervorgehoben sei 
jedoch gleich, dass dieses negative Resultat gegen die oben erwahnte 
Hypothese von Erb und Striimpell nicht viel beweist, da die hier¬ 
bei gesetzte Continuitatstrennung jedenfalls etwas Ander&s ist, als die 
supponirte functionelle Lasion (Erb) oder „Verminderung der nutri- 
tiven Zellfunction u (Str&mpell). 

Unter den Momenten, welche neuerlich zur Erorterung der neuro- 
pathischen Genese geffthrt haben, spielen auch eine grosse Rolle jene 
nicht mehr so vereinzelten Falle von Dystrophie, bei welchen 
die anatomische Untersuchung mehr minder starke Ver- 
anderungen des Nervensystems nachweist, indem die vom 
myopathischen Standpunkt aus gebotene Auffassung derselben, als 
secundar durch den Muskelschwund bedingt, Zweifel erweckte. In 
Bezug hierauf erscheint der oben beschriebene Befund eines hoch- 
gradigen circumscripten Faserschwundes im Accessorius von 
Interesse. Wir haben dort gesehen, wie der vollstandige Schwund 
des Sternocleidomastoideus bei relativer Intactheit des Cucullaris dazu 
flihrt, die Degeneration im Accessorius auf den ersteren Muskel zu 
beziehen, und wenn wir nun noch sehen, dass in den so zahlreichen 
tibrigen Nerven, die zur Untersuchung gelangten, nirgends auch nur 
eine Spur einer Degeneration nachzuweisen war, wiewohl die von 


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Zur Kenutniss der progressive!! Muskelatrophie. 


47 


ihnen versorgten Muskeln mehr minder hochgradige Atrophie und 
Lipomatose zeigten, so werden wir, wofern wir iiberhaupt eine Be- 
ziehung zwischen diesen Befunden suchen, zu dem Schlusse gedrangt, dass 
dieser Faserschwund, diese so auffallende Degeneration im Nervus 
accessorius nur als secundare Atrophie aufzufassen ist in Folge 
des Schwundes des Muskels; denn sonst ware es nicht zu verstehen, wie 
in den Nervenstammen der Extremitaten, deren Musculatur ja auch 
hochgradig erkrankt war, nicht einmal Andeutungen einer solchen 
Degeneration nachzuweisen sind. 

Die Annahme einer solchen secundaren Atrophie in Folge totalen 
Muskelschwundes hat ja bei BertLcksichtigung der analogen, nach 
Amputationen gefundenen Veranderungen im Nervensystem nichts 
Befremdendes, und es ist eigentlich eine auffallende Thatsache, dass 
bei den Dystrophien derartige als secundar aufzufassende Veranderungen 
der entsprechenden Nervengebiete nicht haufiger zur Beobachtung ge- 
langen. Schultze (S. 30), der gelegentlich der Besprechung der in 
seinem Falle gefundenen Atrophie der Vorderhomzellen die Frage er- 
ortert, warum eine solche nicht ofter bei der Dystrophie zur Beobach- 
tung gelange, analog wie nach Amputationen, ausserst die ansprechende 
Vermuthung, dass das Erhaltenbleiben der sensiblen und reflectorischen 
Reize von den Muskeln, die bei Amputationen ja ebenfalls wegfallen, 
die Ursache des Intactbleibens der Ganglienzellen bilde. In unserem 
Falle liegt die Erklarung dafor, dass wir diese Degeneration nur im 
Accessorius finden, wohl aber darin, dass der Stemocleidomastoideus 
total und zwar schon langere Zeit geschwunden war, wahrend die meisten 
Extremitatenmuskeln noch nicht so vorgeschrittene Atrophie zeigten. 

Dieser Befund einer nicht gut anders als secundar zu deutenden 
Atrophie im Nerven ist gewiss von Bedeutung ftir die mehrfach er- 
wahnten Falle von Dystrophie mit Veranderungen im Nervensystem. 

Acceptirt man aber diese Auffassung, wie das die Mehrzahl der 
Autoren (s. z. B. Strumpell S. 488) thut, dann stellt die Annahme 
einer neuropathischen Genese der Dystrophie eigentlich einen Circulus 
vitiosus dar, denn diese secundaren, sichtbaren Veranderungen des 
Nervensystems waren danach Folgen der dystrophischen Muskelerkran- 
kung, die ihrerseits abhangt von mikroskopisch unsichtbaren Storungen 
der trophischen Centra im Rtickenmark. 

Hat nun auch schon an und flir sich jede Annahme eines „tro- 
phischen M Einflusses, der tiber Reizzuflihrung und Gefassbeeinflussung 
hinausgeht, for uns etwas Mystisches, so hat es andererseits den Anschein, 
als ob die landlaufigen Vorstellungen fiber den trophischen Ein- 
fluss des Nervensystems auf die Muskeln zu weitgehende 
waren; es mehren sich die Zeichen, welche eher for eine Einschrankung 


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I. Friedel Pick 


dieses Einflusses sprechen. Die Schule sagt: wenn der Muskel nicht 
mehr unter dem trophischen Einfluss des Rtickenmarks steht, dann 
tritt degenerative Atrophie ein, die Muskelfaser zerfallti Nun haben aber 
zahlreiche, auch hier schon erwahnte Untersuchungen gelehrt, dass 
bei unzweifelhaft spinalen Erkrankungen (Poliomyelitis u. s.w. 
[s. Lewin, Hoffmann S. 317]) der Muskel oft nur das Bild der 
einfachen Atrophie zeigt, deren Hauptmerkmal die Verschmalerung 
der Fasera ist, und es liegen auch schon experimentelle Untersuchungen 
vor, welche dasselbe fur die Nervendurchschneidung erweisen 
(s. S. Stier). Es scheint also, dass die directeFolge der Aus- 
schaltung des trophischen nervdsen dSinflusses nur die ein- 
fache Atrophie ist, und das, was wir als degenerative Atrophie 
kennen, immer noch der Ausdruck hinzutretender Complica¬ 
tion en ist. (Worm diese bestehen, ist vorderhand unbekannt, viel- 
leicht handelt es sich hierbei ahnlich, wie dies Strfimpell fur die 
fibrillaren Zuckungen entwickelt hat, um das Hinzutreten abnormer 
Reizvorgange.) Sobald aber die Ausschaltung des Nerveinflusses nur 
die-einfache Atrophie zur Folge hat, dann werden wir sie in ihrem Effecte 
nicht als wesentlich von blosser Inactivitat verschieden ansehen konnen, 
wie ja auch von manchen Autoren die Atrophie nach Neurektomie als 
allein auf Inactivitat beruhend angesehen wurde (s. z. B. Ricker). Der 
Einfluss des Nervensystems auf die Muskelfaser wtirde sich demnach — 
abgesehen von den Vasomotoren — auf die Reizvermittlung beschranken 
und wir werden nicht mehr die Vorstellung festhalten konnen, die in 
den Worten Erb's hervortritt: „Die Muskelfasem stehen in ihren tro¬ 
phischen Verhaltnissen doch wohl in derselben Abhangigkeit vom 
Nervensystem, wie die motorischen Nerven. 1 * 

Gegen diese letztereV orstellung un d ftir eine solche Modification unserer 
Anschauungen scheinen mir auch die merkwiirdigen Befunde zu sprechen, 
die in neuerer Zeit in Bezug auf die embryonale Anlage der Nerven 
und Muskeln an Missbildungen erhoben werden. 0. v. Leo- 
nowa sowie nach ihr Karl und Gustav Petren haben bei der Unter- 
suchung von menschlichen Missbildungen mit Amyelie gefunden, dass 
trotz vollstandigen Fehlens der Vorderhomzellen und der vorderen Wurzeln 
die Muskelfasem eine normale Ausbildung erreicht hatten. Diese Be- 
obachtungen zeigen, dass „die Entwicklung der quergestreifben Muskeln, 
ihr Wachsen und Gedeihen in fraherer und spaterer Fotalzeit von den 
vorderen Wurzeln unabhangig ist u (Leonowa). Mag man den Unter- 
schied zwischen dem fotalen und extrauterinen Leben noch so hoch 
anschlagen, jedenfalls sprechen auch diese Befunde gegen die Anschau- 
ung, dass die Muskelfasem in demselben Abhangigkeitsverhaltniss vom 
Nervensystem stehen, wie die motorischen Nerven. 


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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 49 * 

Auch flir die Controverse fiber dieneuro- Oder myopathische 
Genese der Dystrophie bieten diese merkwfirdigen Befunde ein 
gewisses Interesse, und zwar aus folgendem Grunde. Zu den her- 
vorstechendsten Merkmalen der verschiedenen Formen der Dystrophie 
gehort die Hereditat, Familiaritat und das Auftreten in frtihem 
Lebensalter, so dass der Schluss nahe gelegt wird, dass es sich 
um abnorme Verhaltnisse der Anlage der erkrankten Theile 
handele. Die Freunde einer neuropathischen Genese sind ge- 
neigt, mit Rficksicht auf die zahlreichen anderen Krankheiten des 
Nervensystems auch bei der Dystrophie eine abnorme Veranlagung 
des Nervensystems anzunehraen, deren Effect die Muskelveranderung 
ware. Allein die eben erwahnten Befunde von Leo now a und die 
Petren's zeigen, dass die embryonale Anlage der Muskeln vom 
Nervensystem in weitestem Grade unabhangig ist, und so werden 
wir wohl auch schliessen dfirfen, dass sich auch Abnormitaten dieser 
Anlage unabhangig vom Nervensystem entwickeln konnen. Wir ersehen 
aus dem Vorstehenden, wie allmahlich neuere Untersuchungen zu einer 
Einschrankung der landlaufigen Vorstellungen fiber den trophischen 
Einfluss des Nervensystems auf die Muskeln ffihren, und in- 
dem sie ffir die letzteren eine grossere Unabhangigkeit in trophischer 
Beziehung erweisen, sprecheq' sie ffir die Annahme einer primar 
myopathischen Entstehung der Dystrophie. 

Ueber die Pathogenese der hierbei im Muskel sich abspielenden 
Veranderungen wissen wir eigentlich recht wenig. Die fruheren An- 
schauungen, welche entzttndliche Vorgange annahmen oder Faser- 
schwund als Folge von Compression durch eine Bindegewebswucherung 
ansahen, sind wohl allgemein verlassen zu Gunsten der Annahme einer 
primaren Erkrankung der Muskelfaser; allein wie diese zu Stande 
kommt, ist noch ganz unklar. Die Theorien von der Hypertrophie 
mit nachfolgender Raumbeschrankung (Hitzig) oder von einem longi- 
tudinalen Faserschwund, wie sie Roth entwickelte, haben sich bis 
jetzt noch keine Anhanger erworben; ebenso hat das Bestreben, eine 
Beziehung zwischen der Dystrophie und der Art der Anlage der Mus- 
culatur im Embryo oder dem Gehalte der verschiedenen Muskeln an 
truben und hellen Fasern (Gradenigo, Babinski und Onanoff, siehe 
Schaffer [S. 75]) durch die Thatsachen noch nicht genugende Unter- 
fltfttzung gefunden. Vielleicht haben wir von einer anderen Seite 
aus einen Einblick in diese Verhaltnisse zu erhoffen. Verschiedene 
Untersuchungen haben ergeben, dass die quergestreifte Musculatur zu 
jenen Geweben gehort, in denen fortwahrend Untergang und Neu- 
bildung stattfindet (S. Mayer, Barfurth, Schaffer u. A). Insbe- 
sondere ffir fruhe Entwicklungsstadien (Kaulquappenschwanz) und das 
Deutsche Zeitschr. f. NervenheUkunde. XVII. Bd. 4 


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1. Friedel Pick 


embryonale Leben sind derartige Zerfallsvorgange genauer studirt 
worden, und so existirt schon eine ganze Literatur tiber diese von 
S. Mayer zuerst als Rtickbildungsvorgange erkannten und nacb ihm 
allgemein als Sarkolyse bezeichneten Proeesse. Auch fiir den mensch- 
lichen Embryo sind analoge Befunde durch Schaffer (S. 130) er- 
hoben worden. Ob derartige Rtickbildungen auch in spateren Stadien 
des Lebens vor sich gehen und insbesondere ob sie dann auch den- 
selben Typus einhalten oder andere Formen annehmen, darftber ist noch 
nichts Sicheres bekannt, und deswegen konnen wir vor der Hand nicht 
viel Gewicht darauf legen, dass die Beschreibungen der sarkolytischen 
Befunde bei den Embryonen mit ihrem Zerfall der contractilen Sub- 
stanz in Bruchstlicke dem Bilde der einfachen Atrophie, wie wir 
sie bei Dystrophie finder, keineswegs entsprechen und eher noch 
Aehnlichkeit mit den als „ degenerative “ Atrophie bezeichneten Vor- 
gangen darbieten. Feststpbend ^cli»»t^dagegen die Thatsache zu sein, 
dass im embryo n^^Le Zeit nach der Geburt 

normaler Weise ausp^wge RficS^TTdun^wirgange vor sich gehen, 
zum Theil Hand inJHan^fnptgil^i^y^ngpli] Wie hochgradig diese 
Rfickbildungsvorgang# sein konnen, das zeigtfn die Zahlungsergebnisse 
von Meek an verscKi^d^ben TfifSfea (Kara**, Schaf, Ratte); so land er 
bei Katzchen desselben A S l^Won 9, 20 und 240 Tagen im 
Biceps 83514; 64108; 37830, bei einer 3 Jahre alten Katze sogar nur 
22858 Fasern. 

Wenn wir sehen, dass in friihen Stadien schon normaler Weise 
so hochgradige Rtickbildungsvorgange vor sich gehen, dann drangt 
sich der Gedanke auf, ob es sich nicht bei Processen, die meist in 
so friibe Stadien des Lebens zurfickreichen, nur um eine abnorme 
Steigerung oder Fortdauer solcher Rtickbildungsvorgange 
handelt. Und bei einer Erkrankungsform, wie die Dystrophie, die 
so haufig auf eine abnorme Keimanlage der Musculatur hinweist, 
wird sich dann die Frage erheben, ob diese Storung nicht etwa in 
der Richtung anzunehmen ist, dass die normaler Weise nur in den 
friihesten Stadien sich abspielenden Rtickbildungsvorgange auch spater- 
hin noch fortdauern. 

Andererseits wird von vielen Autoren angenommen, dass mit den 
Ruckbildungsvorgangen auch immer wieder Neubildung von Fasern 
Hand in Hand gehe und, wie oben erwahnt, hat man ja auch den 
Muskelspindeln eine besondere Function hierbei zuschreiben wollen. 
Sicheres scheint mir hieriiber nicht festzustehen, und die oben er- 
wabnten Untersuchungen von Morpurgo, wonach die Yolumszunahme 
der Muskeln bei gesteigerter Leistung nicht auf Zunahme der Zahl 
der Fasern, sondern nur ihrer Dicke beruhe, scheinen nicht daftir zu 


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Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie. 


51 


sprechen; sollte sich aber eine grossere Rolle derartiger Neubildungs- 
vorgange erweisen lassen, dann hatte man sich zu fragen, ob der 
Muskelschwund bei Dystrophie nicht vielleicht nur anf einer Storung 
des Ersatzes der Fasera beruhe, ahnlich wie es Edinger vor Kurzem 
far gewisse Nervenkrankheiten erortert hat. Eine solche Deutung 
hatte den Vorzug, auch fftr die selteneren Falie von Dystrophie in 
spaterem Alter und ohne deutliche Familiaritat anwendbar zu sein. 

Eine auch nur halbwegs befriedigende Antwort auf diese Fragen 
zu geben, ist bei der vor der Hand noch recht sparlichen Kenntniss 
dieser Vorgange beim normalen Menschen nicht thunlich. Wieberechtigt 
es aber ist, solche Fragen anzuregen, ura so mehr, als jene Befunde, die 
ihren Ausgangspunkt bilden, wie mir scbeint, von den Neuropathologen 
bisher viel zu wenig beachtet wurden, das hat erst vor Kurzem 
gerade bei der Erorterung seines hier citirten Falles S triimp ell hervor- 
gehoben (S. 501). 

Jedenfalls scheinen mir meinfe Befunde und die Analyse der ver- 
schiedenen noch zu berQcksichtigenden Momente gegen die neuer- 
dings, namentlich unter dem Eindruck der Neuronenlehre, von com- 
petentester Seite (Erb, Strtimpell) wieder in den Vordergrund ge- 
schobene Auffassung der Dystrophie als Trophoneurose zu 
sprechen und eher aufzufordern, an der primar myopathischen 
Natur derselben festzuhalten. 


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Sacara-Tulbure, Pseudohypertrophie chez un adulte. Revue de m&iecine 1894. 


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Zur Kenntniss der progressiven Muskelatrophie. 


55 


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3) Ueber circumscripte Bindegewebshyperplasien oder Bindegewebs- 
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Siemerling, Ein Fall von Alkoholneuritis mit hervorragender Betheiligung des 
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schrift f. Nervenheilkunde. 1893. III. S. 280. 

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Sternberg, Ueber den ausseren Ast des Nervus accessorius Willisii. Pflfiger's 
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XXIX. S. 288. 1897. 

Strfimpell, Zur Lehre von der progressiven Muskelatrophie. Deutsche Zeit¬ 
schrift f. Nervenheilkunde. III. S. 471. 

Trzebinski, Ueber circumscripte Bindegewebshyperplasien in den peripherischen 
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ViIlers, Un cas d'atrophie musculaire progressive du type Duchenne-Aran. 

Journal medical de Bruxelles. 14. Januar 1897. Neurol. Ctrlbltt. S. 842. 
Werdnig, 1) Zwei frfih infantile hereditare Falle von progressiver Muskelatrophie 
unter dem Bilde der Dystrophie, aber auf neurotischer Grundlage. 
Archiv f. Psychiatrie. XXII. S. 437. 

2) Die frfih infantile progressive spinale Amyotrophie. Ebenda XXVI. 
S. 706. 

Winkler, C., Over atrophie en hypertrophie van spieren. Refer, in Neurolo- 
gisches Centralblatt 1890. S. 23. 


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56 I. Friedel Pick, Zur Kenntniss der progressive!! Muskelatrophie. 


Erkiarnng der Abbildungen auf Tafel I—III. 

Fig. 9 stammt von Fall IV, die ubrigen alle von Fall I. 

Fig. 1. Halsstrecker. Uebersichtsbild. (Text S. 12.) 

Fig. 2. M. gastrocnemius: in der Faser langsgestellte Spalten mit Kemen sicht- 
bar, deren Querschnitt offenbar als Vacuole erscheinen muss. (S. 15.) 

Fig. 3, Aus demselben Muskel. (S. 17.) 

Fig. 4 u. 5. Nervus accessorius Willisii. Umschriebener Faserausfall, der sich 
weiter unten (Fig. 4) auf einen abgehenden Ast erstreckt. (S. 25.) 

Fig. 6. Renaut’sches Korperchen in einem Nervenaste des M. triceps. (S. 23.) 

Fig. 7. Jlenaut’sche Korperchen im Nervus axillaris. (S. 23.) 

Fig. 8. M. pectoralis major. Langsschnitt durch eine Muskelspindel. (S. 22.) 

Fig. 9. M. gastrocnemius(Excision von Fall IV). Verdichtungsknoten bei schwacher 
und starker Vergrosserung. Marchipraparat. (S. 37.) 

Fig. 10. Flexor digg. communis sublimis. Schwarzfarbung in den sonst norraalen 
Muskelfasern. Marchipraparat. (S. 16.) 

Fig. 11. M. sterno*cleido-ma8toideus. Hochgradige Atrophie und Lipomatose. 

Muskelfasern nicht mehr zu erkennen, in ein streifiges Gewebe ver- 
wandelt, dagegen die der Muskelspindeln wohl erhalten. (S. 22.) 


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II. 


Aus der medicinischen Klinik des Herrn Prof. Strumpell in Erlangen, 

Untersuclmngen zur normalen und pathologischen 
Histologie der quergestreiften Musculator. 

Von 

L. Hauck. 

1. Ueber die KaliberyerMltnisse der normalen Muskelfasern. 

Wenn auch in den letzten Jahrzehnten das Gebiet der Histologie 
der quergestreiften Musculatur durch die verschiedensten und ein- 
gehendsten Untersuchungen bereichert wurde, so findet man doch bisher 
einen wichtigen Punkt, namlich die Kaliberverhiiltnisse der 
quergestreiften Muskelfasern, etwas stiefmfitterlich behandelt. 
Untersuchungen, welche im Laufe des vorigen Jahres an der hiesigen 
medicinischen Klinik von W. Lowenthal 1 ) an pathologischen Mus- 
keln angestellt wurden, liessen es wfinschenswerth erscheinen, der 
Frage noch naher zu treten, welchen Veranderungen und insbesondere 
welchen Schwankungen in seiner Faserbreite schon der normale 
Muskel unterworfen sei. Die bisherigen Angaben der Autoren fiber 
diesen Punkt weichen von einander nicht unbetrachtlich ab. Wahrend 
z. B. Toldt, Stohr und Ziegler 15—50 ft als Grenzwerthe angeben, 
findet man bei v. Kolliker 11—67 bei Bowman 40—130 [i und 
bei Schwalbe und Mayeda sogar 9—102 [i als solche verzeichnet. 
Da es nun doch erst dann moglich ist, sich fiber die Werthe in 
pathologischen Fallen ein richtiges Urtheil zu bilden, wenn man fiber 
diejenigen der normalen genau orientirt ist, so soli die vorliegende 
Arbeit zunachst vor Allem dazu dienen, Veranderungen im Dicken- 
durchmesser, welchen die normale quergestreifte Muskelfaser unter 
verschiedenen Verhaltnissen unterliegt, naher zu untersuchen. 

Meine Untersuchungen schliessen sich vor Allem an die Arbeiten 
von Schwalbe und Mayeda, sowie an diejenige von Halban an. 
Viele Ergebnisse, welche von diesen Autoren gewonnen sind, kann 
ich bestatigen. In einigen Punkten bin ich aber auch zu etwas 
anderen Ergebnissen gelangt. Jedenfalls hat sich aber vor Allem aufs 
Neue der wichtige allgemeine Satz bestatigt, dass die Dickenverhalt- 

1) S. diese Zeitschrift. Bd. XIII. S. 106. 


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58 


II. Hauck 


nisse der normalen Muskelfasern von den verschiedensten Verhaltnissen 
abhangig sind. Denn abgesehen davon, dass selbst in einem nnd 
demselben Muskel Schwankungen des Dicken-Durchmessers bis um 
das Ftinffache vorkommen, fin den sich noch viel grossere Schwan¬ 
kungen in verschiedenen Muskeln desselben Individuums und bei 
verschiedenen Individuen ausgepragt. Die Hauptfactoren, die hierbei 
in Betracht kommen, sind, wie schon Schwalbe und Mayeda, sowie 
Halban nachgewiesen haben, Alter, Geschlecht und Ernahrungs- 
zustand des betreffenden Individuums. 

Ehe ich die Ergebnisse meiner Untersuchungen mittheile, sei 
zuvor in Ktirze die Behandlungsmethode der excidirten Muskelstflck- 
chen, welche einem neugebornen, einem 1 ] l 2 -, einem 2 3 / 4 -, einem 4jahrigen 
Kinde, sowie endlich einem kraftig entwickelten erwachsenem Manne 
entnommen wurden, angegeben. 

Die Muskelsttickchen wurden, soweit es moglich war, wahrend 
der Todtenstarre excidirt, hierauf zwei Tage in Mtiller-Formol-Losung 
und einen Tag in Mliller’scher Fliissigkeit gehartet, dann ] ! 2 Tag 
gewassert und in Alkohol von steigender Concentration conservirt. 
Das Zupfen der einzelnen Fasern geschah in Glycerin, und zwar 
wurden bei sammtlichen Versuchen, um moglichst genaue Durch- 
schnittsmaasse zu gewinnen, immer 40—50 Fasern isolirt aus einander 
gezupft und dann mittelst Ocularmikrometer mit Zeis sachem Mikro- 
skop bei Ocular I und Objectiv E gemessen, so dass ein Theilstrich 
= 2,7 [i zu rechnen war. 


Es ergaben sich 

nun folgende Durchschnittswerthe: 


I. Neugeborenes 

Kind. 

Muse 

. deltoideus 

= 8 n 

ri 

pectoralis maior 

— 7,6 „ 

rt 

supinator longus 

= 7,6 „ 

w 

gemellus surae 

= 7,1 „ 

?> 

platysma myoides 

= 7,1 „ 

n 

temporalis 

- 7,1 „ 


biceps brachii 

= 7,0 „ 


soleus 

= 7,0 „ 

n 

orbicularis 

= 7,0 „ 


11. lt^jahriges 

Kind. 

Muse. 

steruo-hyoideus 

= 14,0 [i 


sterno-cleido-mast. 

= 14,0 n 


rectus abdomin. 

= 13,2 „ 


pectoral, major 

= 11,6 „ 


gemellus surae 

= 9,7 „ 


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Untereuch ungen z. nonnalen u. path. Histologie d. quergestreiften Musculatur. 59 


III. 2/ 3 4 jahriges Kind. 

Mqsc. sterno-cleido-mastoid. = 20,8 ft 

„ rectus abdominis = 19,7 „ 

„ gemellus surae = 18,0 „ 

„ adductor magnus = 14,0 „ 

„ stern o-hyoideus = 14,0 „ 

IV. 4jahriges Kind. 

Muse, diaphragma = 23,7 

„ adductor magnus = 17,8 „ 

„ temporalis = 16,4 „ 

„ orbicularis = 15,9 „ 

V. Erwachsener Mensch (40 Jahre alt). 

Muse, gemellus surae = 61,3 4 w 

„ rectus abdominis = 55,7 „ 

„ sterno-cleido-mast. = 45,7 „ 

„ intercostalis extern. = 47,5 „ 

„ biceps brachii = 47,0 „ 

„ temporalis = 37,8 „ 

Leider war es mir nicht moglich, zur Vervollstandigung dieser 
Messungen auch altere Kinder im Alter von 6—14 Jahren zu erhalten. 
Immerhin dfirften die hier angefuhrten Resultate genilgend darthun, 
welchen Einfluss auf das Dickenwachsthum der Muskelfaser das Alter 
hat Denn wahrend beim Neugeborenen die Durchschnittsmaasse sich 
zwischen 7—8 [i bewegen, sind dieselben beim l ] l 2 Jahre alten Kind 
bereits auf 9,7—14 (i gestiegen, bei einzelnen Muskeln also fast um 
das Doppelte. So kann man, wie aus den angeflihrten Maassen er- 
sichtlich ist, ein stetiges Wachsen der Dickendurchmesser der Muskel- 
fasern bis zum 4. Lebensjahre constatiren, was die Annahme zulasst, 
dass dieses Dickenwachsthum, wenn auch in verschiedenem Maasse, bei 
den einzelnen Muskeln anhalt, um beim vollstandig entwickelten und 
ausgewachsenen Menschen sein Maximum zu erreichen. 

Die von mir gefundenen Resultate decken sich so ziemlich mit 
den von Schwalbe und Mayeda, sowie von Halban angegebenen. 
Ganz besonders stimmen sie in einem Punkte, namlich in Bezug auf 
die Maassverhaltnisse beim Neugeborenen, zusammen. Durch meine 
Untersuchungen wird die Angabe der eben erwahnten Autoren be- 
statigt, dass, wa'hrend beim erwachsenen Menschen die ver- 
schiedenen Muskeln ausserordentlich grosse Verschieden- 
heiten in der Grosse ihrer Faserbreite unter einander zeigen, 
beim Neugeborenen fast gar kein Unterschied zwischen den 


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60 


If. Hauck 


einzelnen Muskeln nachzuweisen ist. Auch bewegen sich die 
angefiihrten Durebschnittsmaasse so ziemlich in denselben Grenzen, 
indem Hal ban beim Neugeborenen 7,5—8,1 [i findet, wahrend ich 
selbst 7,0—8,0 [i gefunden habe. 

Der zweite Gesichtspunkt, dem Schwalbe und Mayeda in ihrer 
Arbeit besondere Beachtung schenken, ist der Ernahrungszustand 
des jeweiligen Individuums. Derselbe tibt offenbar einen bedeutenden 
Einfluss auf das Dickenwachsthum der Muskelfaser aus, denn die von 
den genannten Autoren angefiihrten Maasse ergeben zwischen gut und 
schlecht genahrten Individuen ganz bedeutende Schwankungen in der 
Faserbreite. Auch Kunkel hat durch Frosch-Versuche bereits nach- 
gewiesen, dass der jeweilige Ernahrungszustand bei der Entwicklung 
der quergestreiften Muskelfasern eine grosse Rolle spielt, und ist da- 
bei auch zu dem interessanten Resultat gelangt, dass erhebliche 
Aenderungen im Ernahrungszustande bei ganz constanter Lange der 
Muskelfasern sich nur in der Dicke derselben vollziehen. Ein typisches 
Beispiel fur diesen Einfluss des Ernahrungszustandes auf die Muskel¬ 
faser zeigen auch die folgenden Messungen, die ich an flinf verschieden 
gut genahrten mannlichen Leichen angestellt habe. Vom rechten Muse, 
biceps brachii wurde jedesmal ein kleines Stiickchen excidirt, in ganz 
gleicher Weise gehartet und dann das Durchschnittsmaass von 
ca. 45 Fasern festgestellt. Hierbei ergab sich folgendes Resultat: 

I. Bei einem ausserst kraftig gebauten 41jahrigen Monteur (Todes- 
ursache acute hamorrhagische Diathese) = 70,2 

II. Bei einem kraftig entwickelten 35jabrigen Bauern (Todesursaohe 
Peritonitis) = 53,3 fi. 

III. Bei einem kraftig entwickelten 40jahrigen Bauern (Todesursache 

Hamatom der Dura mater) = 47,0 ft. 

IV. Bei einem ziemlich abgemagerten 50jahrigen Handwerker (Todes¬ 

ursache Carcinoma ventricul.) = 36,7 ft. 

V. Bei einem an Marasmus senilis gestorbenen 78jahrigen Greis 
= 29,7 ft. 

Die grossen Unterschiede fallen in die Augen. Es zeigt sich 
zwischen I und II ein Unterschied von 17,4 //, zwischen 11 und III ein 
solcher von 7 und zwischen 1H und IV ein solcher von 10,3 fi . Ganz 
bedeutend ist der Unterschied von I und V, wo er 41 fi, also iiber 
die Halfte des Dickendurchmessers von I betragt. Dieses Resultat 
gestaltet sich noch interessanter, wenn man auch die Faserbreiten- 
Maxima und -Minima vergleicht. Wahrend ich namlich bei I als 
Maximum 102,6 fi und als Minimums 40,5 // fand, ergaben sich ent- 
sprechend bei V 43,2 t u und 16,2 //. Es ist also die diinnste Faser 
von I nur um 2,7 // kleiner als die starkste bei V. 


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Untersuchungen z. normalen u. path. Histologie d. quergestreiften Musculatur. 01 

Durch diese wenigen Beispiele diirfte ira Anschluss an die aus- 
ftihrlichen Arbeiten von Sch walbe-Mayeda und Halban zur GenQge 
dargelegt sein, dass der Breite der quergestreiften Muskelfaser eine 
besondere physiologische Bedeutung zukommt und dass Alter und 
Ernahrungszustand der einzelnen Individuen auf die Kaliberver- 
haltnisse der Fasern von grosstem Einflusse sind. 

Es war nun weiter die Frage zu beantworten, ob die Faserbreite 
nicht auch nach eingetretenem Tode noch Aenderungen unterworfen 
sei. In erster Linie war hier die Tod tens tar re in Betracht zu ziehen, 
welche ftir das Muskelgewebe von grosser Bedeutung ist. Bereits von 
Oppenheim und Siemerling ist nachgewiesen worden, dass in der 
Faserbreite von in vivo und post mortem excidirten Muskelsttickchen 
ganz bedeutende Unterschiede bestehen. Ich versuchte daher das Ver- 
halten des Muskels in den verschiedenen Stadien der Todtenstarre 
etwas naher kennen zu lernen. Ein ganz genaues Resultat wird man 
freilich schwer erreichen konnen, denn erstens tritt, wie durch Unter¬ 
suchungen von Bierfreund festgestellt ist, die Starre nicht gleich- 
zeitig bei alien Muskeln ein — ja es bestehen sogar Zeitunterschiede 
bei verschiedenen Fasern desselben Muskels — und dann ist es auch 
nicht moglich, die Versuche an ein und demselben Muskel zu machen, 
da durch den Zutritt von Tuft die Verhaltnisse sofort eine Aenderung 
erfahren. Doch diirften die folgenden Angaben, nachdem alle zu be- 
obachtenden Gesichtspunkte moglichst beriicksichtigt wurden, wenig- 
stens annahernd den thatsachlichen Verhaltnissen entsprechen. Die 
Dntersuchung geschah in folgender Weise: 

Am 5. Marz Abends 3 / 4 8 starben fast gleichzeitig eine 18jahrige 
Prostituirte A. und ein 23jahriger Dienstknecht B., beide an hoch- 
gradiger Tuberculose. Beide waren in Folge dessen sehr stark abge- 
magert. Sofort nach Eintreten des Exitus letalis wurde beiden ein 
Stfickchen des rechtsseitigen Biceps brachii sowie Quadriceps excidirt 
und sofort in Miiller-Formol-Losung verbracht. Am 6. III. Morgens 
10 h wurde sodann vom linken Quadriceps des B. und am 7. 111. Mit- 
tags ll h vom linken Quadriceps der A sowie vom linken Biceps beider 
Leichen je ein Sttickchen eingelegt. Die Starre war zu dieser Zeit, 
namentlich am Hals, im Erloschen begriffen, im Uebrigen noch vor- 
handen. Man kann also die Messungen bezeichnen als „gegen Ende 
der Starre* 4 angestellt. Die Behandlung der excidirten Muskelstiicke 
war genau dieselbe wie die oben angegebene. Bei der Messung der 
Dickendurchmesser ergaben sich folgende Werthe: 

A. 

Quadriceps vor der Starre = 52,1 // 

Biceps brachii „ „ „ = 36,3 „ 


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62 


II. Hauck 


Quadriceps gegen Ende der Starre = 30,1 // 
Biceps „ ,, ,, „ “ 25,6 r 


B. 

Quadriceps vor der Starre = 44,3 // 

Biceps * * „ = 33,2 „ 

Quadriceps wahrend „ „ = 27,2 „ 

Biceps gegen Ende „ „ = 24,5 „ 

Geht man naher auf die gefundenen Maasse ein, so fallt eine 
recht betrachtliche Differenz zwischen den vor und den nach der 
Leichenstarre entnommenen Muskeln auf. Der Unterschied betragt 
durchschnittlich l j z des direct nach eingetretenem Tode gefundenen 
Werthes. Ein Theil dieser Differenz muss freilich vielleicht darauf 
zurtickgeflihrt werden, dass Unterschiede in der Faserbreite sich bereits 
bei demselben Muskel der rechten und linken Korperhalfte finden, ein 
Punkt, auf den besonders Schwalbe und Mayeda in ihrer Arbeit 
hingewiesen haben. Aber abgesehen davon bleibt immerhin noch ein 
nicht unbedeutender Rest, welcher nur auf die Einwirkung der Todten- 
starre zurfickgefuhrt werden kann. Das Resultat war mir recht iiber- 
raschend. Denn nach den Feststellungen von Bierfreund ist die 
Todtenstarre ein Vorgang, der durch Verktirzung des Muskels, Ab- 
scheidung von Myosin und Kohlensaurebildung charakterisirt ist, also 
durch Factoren, die genau ebenso bei der Contraction des Muskels in 
Kraft treten. Der physikalische und chemische Process bei der Starre 
und bei der Contraction ist annahernd derselbe. In Folge dessen 
hatte man, da nach Ed. Weber bei der Contraction des Muskels 
jede Muskelfaser kiirzer und dicker wird, erwarten sollen, dass die 
Faserbreite wahrend der Todtenstarre ein grosseres Durchschnitts- 
maass aufzuweisen hatte, als vor Eintritt derselben. Statt dessen 
gerade das Gegentheil, eine bedeutende Abnahme des Faser-Volumens! 
Es bleibt u. E. nur die Annahme iibrig, dass die Verschmalerung der 
Fasern eine Folge der Abscheidung und Gerinnung des Myosins ist, 
indem bei diesem Vorgang das Muskel-Serum aus der Faser ausge- 
presst wird. Was das mikroskopische Bild anlangt, so zeigte sich 
in der Structur des Muskels zwischen den vor und wahrend der Starre 
entnommenen Fasern kein deutlicher Unterschied. Langs- und Quer- 
streifung waren deutlich ausgepragt. 

Es sei nun noch das Resultat eines dritten Versuches beigeftigt, 
bei dem es moglicb war, die Muskeln nach vollstandig geldster 
Starre zu excidiren. Die betrefFenden Muskelstiickchen wurden einem 
am 25. Marz Mittags l h an Apoplexie zu Grunde gegangenen, kraftig 
entwickelten 42jahrigem Manne entnommen, und zwar in der Weise, 
dass ebenfalls wieder der Biceps brachii und Quadriceps der rechten 


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UntersuchuDgen z. normalen u. path. Histologic d. quergestreiften Musculatur. 03 


Seite gleich nach Eintritt des Exitus letalis, der linke Biceps am 
gleichen Tage Abends l f 2 S h bei vollstandig ausgepragter, der linke 
Quadriceps nach wieder geloster Starre am 27. III. Morgens 3 / 4 9 h 
excidirt wurden. Als Durchschnittsmaasse fanden sich in diesem Falle 
ftir den 

Biceps brachii vor der Starre = 66,9 [i 

Quadriceps . „ „ „ = 54,0 „ 

Biceps wahrend „ „ = 45,5 „ 

Quadriceps nach „ „ = 51,8 „ 

Wahrend nun beim Biceps die Verhaltnisse annahemd ebenso 
gelagert sind, wie in den Fallen A. und B., gestaltet sich dagegen das 
Resultat bei dem vor der Starre und nach Losung derselben unter- 
suchten Quadriceps ganz anders, indem die Differenz nur 2,2 [i betragt. 
Es scheint also sowohl das Eintreten der Todtenstarre als auch das 
Erloschen derselben auf das Kaliberverhaltniss der quergestreiften 
Muskelfaser einen Einfluss auszutiben. Wahrend der Dauer der Starre 
bleibt aber die Faserbreite unverandert Welchem Factor das Wieder- 
anwachsen des Dickendurchmessers nach geloster Starre zuzuschreiben 
ist, lasst sich nicht sicher sagen. Vielleicht ist das nach Landois in 
Folge starkerer Saurebildung wieder geloste Myosin die Ursache, in¬ 
dem es quellend auf die Faser einwirkt. Mag nun auch eine andere 
Erklarung richtig sein, jedenfalls haben schon diese wenigen Versuche 
von uns zur Gentige bewiesen, dass bei Bestimmungen der Faserbreite 
es von nicht zu unterschatzender Bedeutung ist, ob die Muskeln vor 
Eintritt, wahrend, oder nach Losung der Todtenstarre entnommen wurden. 

Endlich habe ich noch die Frage zu beantworten gesucht: Wie 
verhalt sich die Muskelfaser den Einwirkungen der verschiede- 
nen histologischen Behandlungsmethoden gegentiber? Bereits 
Lowenthal (a. a. 0.) hat diesen Punkt aufgegriflfen, indem er nach- 
wies, dass die Einwirkung von Miiller-Formol-Losung, Zenker'scher 
Fltissigkeit und 0,6 proc. Kochsalzlosung auf die Muskelpraparate eine 
recht verschiedene sei. Ich selbst habe nun nach den Angaben 
Kahlden's achtzehn verschiedene Hartungs- und Conservirungs- 
methoden und ihren Einfluss auf die Breite der Muskelfasern untersucht. 
Die Entnahme der eingelegten Muskelstflckchen geschah dabei, um 
die Versuche moglichst gleichmassig zu gestalten, aus einem einzigen 
Muskel, namlich dem Caput longum des rechten Biceps brachii eines 
kraftig gebauten 47jahrigen Mannes. Um das Eintrocknen durch Zu- 
tritt der Luft moglichst zu verhindern, wurde jedes Stiickchen ftir sich 
an der Leiche excidirt und sofort in die bereitgestellte Fltissigkeit 
gebracht, wahrend der abpraparirte Hautlappen wieder iiber den Muskel 
gezogen wurde. 


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64 


II. Hauck 


Die Todtenstarre war zur Zeit der Entnahme noch yollkommen 


ausgepragt. 

Es ergab sich folgendes Resultat: 

Zenker'sche Losung.= 33,7 fi 

Flemming'sche Losung.= 39,1 „ 

Alkoholhartung. = 40,0 „ 

Erlickysche Fliissigkeit.= 41,6 „ 

Arnold'sche Methode.= 45,9 r 

Ranvier'sche Methode.= 47,2 „ 

10 proc. Formolhartung (33 °/ 0 Alkohol).= 47,2 „ 

Pikrinsaurehartung.= 48,8 „ 

Sublimathartung.= 48,6 „ 

0,1 proc. Osmiumsaurehartung.= 51,3 „ 

Muller’sche Fliissigkeit, aufsteigende Alkoholhartung . . = 51,6 ^ 

Mtiller-Formol-Losung (Mliller’sche Fliissigkeit mit 10 proc. 

Formol-Losung).= 52,1 „ 

Isolirung in 0,6 proc. Kochsalzlosung.= 55,1 „ 

Miiller’sche Fliissigkeit concentrirt.= 57,8 „ 

Miiller’sche Fliissigkeit mit Nachbehandlung in 0,6 proc. 

Kochsalzlosung.= 71,6 „ 


Die in Kalilauge, Chromsaure und 0,01 proc. Osmiumsaure isolirten 
Fasern liessen sich derartig schwer zupfen und messen, dass ein ge- 
naues Resultat nicht zu erzielen war. 

Um dem Ein wan de zu begegnen, dass die Fasern an yerschiede- 
nen Muskelstellen schon an sich auch bei gleicher Behandlung ver- 
schiedene Breite zeigeu, habe ich ausserdem noch Versuche mit Miiller- 
Formol-Hartung angestellt, wobei von vier verscbiedenen Stellen 
desselben Muskels Stiickchen excidirt und in genau gleicher Weise 
behandelt wurden. Bei je 50 gemessenen Fasern fanden sich als 
Durchschnittsmaass folgende Werthe: # 

1. Fasern in der Niihe des Sehnenansatzes = 51,3 [i 

II. Fasern von der Peripherie des Muskels = 51,6 „ 

III. Fasern von der Peripherie des Muskels = 52,7 „ 

VI. Fasern aus dem Centrum des Muskels = 52,7 „ 

Es finden sich hierbei also nur Differenzen von */ 2 —1V 2 P* we lche 
fast selbstverstandlich sind, und es diirfte hierdurch genligend nach- 
gewiesen sein, dass die oben verzeichneten ganz bedeutenden Unter- 
schiede (bis zu 37 ft) zum grossten Theil die Folge der verschiede- 
nen Einwirkung der einzelnen Flussigkeiten auf die Muskel- 
substanz sind. 

Welcher von den einzelnen Methoden nun freilich die Fahigkeit 
zugesprochen werden soli, weder quellend noch schrumpfend auf das 


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Untersuchungen z. normalen u. path. Histologie der quergestreiften Musculatur. 65 

Sarkoplasma zu wirken, durfte ausserst schwer zu entscheiden sein. 
Denn, wenn auch als ziemlich sicher aDgenommen werden darf, dass 
die erstere Wirkung der physiologischen 0,6proc. Kochsalzlosung sowie 
der Mfiller'schen Fltissigkeit, letztere dagegen der Zenker’schen- und 
Flemming’schenLosung zuzuschreiben ist, so lasst sich daraufhin doch 
noch kein bestimmtes Urtbeil aufbauen. Als Durchschnittswerth der 
Resultate sammtlicher angegebenen Metboden ergaben sich 48,6 fi . 
Dies ist genau das mittelst Sublimat- und Pikrinsaure-Hartung er- 
zielte Durcbschnittsmaass. 

Fassen wir alle Ergebnisse nochmals zusammen, so zeigt sich, 
dass ausser Alter und Emahrungszustand des betreffenden Individuums 
anch die Behandlungsmethode der excidirten Muskelstiickchen, sowie 
das Stadium der Todtenstarre, wahrend welchem sie der Leiche ent- 
nommen wurden, fiir Untersuchungen auf dem Gebiete der normalen 
und insbesondere der pathologischen Muskel-Histologie von grosster 
Bedeutung sind. 

2. Einige Beobachtungen fiber den Einflnss von Rube, Bewegung 
und Innervation auf die Husbelfasern. 

Unter genauer Berlicksichtigung der eben angeflihrten Ergebnisse 
babe ich noch einige experimentelle Untersuchungen zur Lehre von 
der Muskelatrophie angestellt. Mir standen zur Verfiigung sieben 
junge Hunde von demselben Wurf. Dieselben dienten zu folgenden 
Versuchen: 

I. Von den sieben am 7. October 1897 geworfenen Tbieren wurde 
dem Hunde A nach 3 Wochen der Muse, gastrocnemius des rechten 
Beines excidirt. 

H. An demselben Tage, dem 27. X. 1897, wurde dem Hunde B 
rechtsseitig der Nervus ischiadicus durchtrennt. 

HI. Hund C erhielt am 30. X. das rechte Bein in einen moglichst 
festen Gypsverband gelegt. 

IV. Hund D wurde am 20. XI. in einen Kafig verbracht, wo er 
sich moglichst ruhig verhalten musste. 

V. Dem Hunde E wurde am 15. XII. die rechte Halfte des unteren 
Brustmarks durchtrennt. Ich gehe auf die Einzelheiten dieses Ver- 
suchs nicht ein, da diese Durchschneidungsversuche am Rtickenmark 
noch weiter fortgesetzt werden sollen. 

VI. Hund F durfte frei umherlaufen und wurde zu moglichst 
rieler Bewegung angehalten. 

VII. Dem Hunde G wurde das rechte Knie- und Fussgelenk durcb 
Injection von Jodtinctur und Chlorzink verodet. 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 5 


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66 


II. Hauck 


Die Section der Hunde und Herausnahme der betreffenden Mus- 
keln erfolgte jedesmal unmittelbar nach der Todtung. Die eingelegten 
Muskelstficke wurden dann genau nach der bereits angegebenen 
Methode iu Mfiller-Formol-Losung gehartet und weiter behandelt 
Aucb wurden bei diesen Versuchen Langs- und Querschnitte ange- 
fertigt und theils zur Bestimmung der Fettbildung mit Osmiumsaure, 
theils mit Hamatoxylin-Eosin gefarbt 

Es mogen nun die Versuche selbst folgen und zwar in der oben 
angeordneten Weise. 


Versuch I. Hand A. 

Die Excision des Mnsc. gastrocnemius wurde am 27. October an dem 
3 Wochen alten Hiindchen vorgenommen; es sollte dieser Versuch vor AUem 
ein Bild iiber die normalen Verhaltnisse der Muskelfaser im friihesten 
Alter bieten. Als Durchschnittswerth ergab sich 6,7 (i. 

Versuch II. Hund B. 

Am 27. October, also ebenfalls nach 3 Wochen, wurde dem Hunde B 
der rechtsseitige Nervus ischiadicus nach seinem Austritt aus dem Foramen 
ischiadicum durchschnitten, und zwar wurde ein etwa 1 cm grosses Stuck 
exddirt, um ein Wieder-Zusammenwachsen der beiden Enden des Nerven 
zu verhindern. Das Thier erhielt sodann einen antiseptischen Verband 
und, abgesehen von einer kleinen und unbedeutenden Eiterung, war die 
Wunde in kurzer Zeit geheilt. Die Folge der Operation war eine Labmung 
des rechten Beines, welches fortwfchrend schlaff herabhing und beim Laufen 
nachgeschleppt wurde. 

Am 25. November wurde in den geiahmten Muskeln sehr deutliche 
elektrische Entartungsreaction festgestellt. Am 11. December wurde das 
Thier getddtet. 

Bei der Section zeigte der Gastrocnemius der rechten Seite im Gegen- 
satz zu dem der linken ein ziemlich verandertes Aussehen. Er hatte eine 
viel hellere und blassere Farbung. Zugleich fiel auch auf, dass der Muskel 
rechts in einem ungemein starken Fettpolster eingebettet lag, was links 
nicht der Fall war. 

Die beiden Gastrocnemii wurden sodann genau an dem Ansatz ihrer 
Sehnen excidirt und gewogen, wobei sich fur den rechten ein Gewicht 
von 4,650 g, fur den linken ein solches von 5,550 g ergab. Entsprechend 
diesem Gewichtsunterschied fand sich auch ein solcher in der Faserbreite, 
indem das Durchschnittsmaass rechts = 8,64 p, links = 14,7 p betrug. 

Bei Betrachtung der Langs- und Querschnitte fiel an dem rechten 
atrophischen Muskel besonders eine starke Vermehrung und Wucherung 
der Zellkerne auf, wahrend eine wirkliche ^Degeneration" der 
Muskelfasern nirgends zu finden war. So zeigte sich die Quer- 
streifung iiberall deutlich erhalten, und auch die von Mantegazza 
beobachtete fettige Degeneration konnte nirgends nachgewiesen 
werden. Es zeigte sich wohl rechts eine viel reichlichere intrafibrillare 
Einlagerung von Fettzellen als links, in den Muskelfasern selbst aber 
konnte eine Verfettung nirgends gefunden werden. 


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Untersuchungen z. normalen u. path. Histologie d. quergestreiften Musculatur. 67 

Eb handelt sich also in diesem Falle, wie aus der Verminderung des 
Muskelgewichtes sowie derjenigen der Faserbreite deutlich ersichtlich ist, 
in Folge der Durchschneidung des zugehorigen Nerven um eine Atrophie 
des Gastrocnemius, aber nur um eine einfache und nicht um eine sogen. 
,,degenerative“, ein Resultat, das sich genau mit dem von S. Stier er- 
zielten deckt, welche ebenfalls bei Ischiadicus-Durchtrennung nur einfache 
Atrophie mit zahlreicher Kernvermehrung constatiren konnte. 

Versuch III. 

In diesem Falle sollte die Atrophie der Muskeln in Folge von Immobi- 
lisirung der Gelenke nachgewiesen werden. Zu diesem Zwecke wnrde am 
30. October Hund C mit seinem rechten Beine in einen Gypssehienenverband 
gelegt. Leider liess sich jedoch der Versuch in der beabsichtigten Weise 
nicht durchfiihren, indem die Verb&nde, obgleich sie in sorgsamster Weise 
mehrmals angelegt wurden, nie linger als einige Stnnden hielten. Selbst 
die st&rksten und vbllig erhftrteten Gypsverb&nde wurden von der alten 
Hiindin stets abgenagt und zerstbrt! Nachdem es auf diese Weise nicht 
mbglich war, zu einem Resultate zu gelangen, entschloss ich mich, am 
29. November zur kiinstlichen Entzimdung und Ankylosirung des rechten 
Knie- und Fussgelenkes. Patella und sammtliche Gelenkbander wurden 
durchschnitten und die Schnittflftchen mit einer 10 procentigen Argentum nitri- 
cum-Losung geatzt. Doch auch dieser Versuch missgliickte! Es trat Ge- 
lenkeiterung und Sepsis ein, und der Hund starb am 6. December. Um 
noch einen Versuch anzustellen, wurde dem Hund VII am 11. December ins 
rechte Knie- und Fussgelenk Jodtinctur injicirt, was nach 2 Tagen 
wiederholt wurde und jetzt auch eine ziemlich vollstandige Ankylose beider 
Gelenke zur Folge hatte. Als dieselbe dann Anfang Januar wieder nach- 
liess, wurde am 7. Januar 1898 nochmals eine 10 procentige Chlorzink- 
Lbsung injcirt. W T ar auch diesmal der Erfolg kein vollstandiger, indem 
das Thier es nach einigen Wochen doch wieder, trotz der Steifigkeit der 
Gelenke, fertig brachte, das Bein zum Laufen zu beniitzen, so kann man 
doch den Versuch als geniigend durchgefiihrt betrachten. 

Das Thier wurde am 3. Miirz getodtet, wobei sich bei der Section 
Folgendes ergab: 

Der Gastrocnemius des 12 Pfund schweren Hundes zeigt sich rechts 
wie links von starker Fettschicht umgeben, auf der rechten Seite jedoch 
in viel grbsserem Maasse. Ueberhaupt zeigte das rechte Bein in seiner 
ganzen Ausdehnung ungemein stark ausgepr&gtes intramuscul&res Fett- 
gewebe. Das Gewicht des excidirten Gastrocnemius ergab 

rechts = 7 i l 2 g, 
links = 17 V 2 „ 

Die Faserbreite . . rechts = 12,6 fc, 
links = 39,9 „ 

Es handelt sich also auch in diesem Falle um eine recht bedeutende 
Atrophie, die als Inactivit&tsatrophie in Folge von Gelenk-Ankylosirung 
anzusehen ist. Die Querstreifung trat iiberall deutlich hervor. Auf den 
L&ngs- und Querschnitten fiel eine iiberaus starke Fettablagerung im inter- 
fascicalEiren Bindegewebe sowohl, wie zwischen den einzelnen Fasern des 
atrophischen Muskels auf. Fettige Degeneration der Fasern selbst war 
nirgends mit Sicherheit nachzuweisen. 

5* 


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68 


II. Hauck 


Versuch IV. Hund D. 

In Folge der Ernahrungsschwierigkeiten konnte dieser Versucli erst 
nach ungefahr 6 Wochen am 20. November begonnen werden. Urn dem 
dazu verwendeten Hunde D jede korperliche Bewegung moglichst einzu- 
schr&nken, wnrde ein K&fig ansgesucht, in welchem er sich zwar gerade 
nocb bequem drehen und wenden konnte, jede andere Bewegung jedoch 
voilst&ndig ausgeschlossen war. Seine Nahrung war genau dieselbe wie 
bei den iibrigen Versuchsthieren, und durfte er bis zum Tage seiner 
Tbdtung, den 3. M&rz, den K&fig nicht verlassen. Das Ergebniss der Section 
war folgendes: 

Kraftig entwickelter Hund mit iiberall stark ausgepragtem Fettpolster, 
das jedoch intramuscular nicht iiber die Grenzen normaler Verhaltnisse 
hinausgeht. Das Gesammtgewicht betragt 10 Pfund 400 g, das des Gas¬ 
trocnemius = HV 2 Si die Faserbreite = 34,1 ft. 

Bei Betrachtung der Langs- und Querschnitte del auf, dass neben 
iiberall deutlich ausgesprochener Querstreifung die Langsstreifung sehr stark 
hervortrat. Anomales war nicht zu bemerken. Die Bedeutung der ge- 
fundenen Zahlen wird sich spater aus dem Vergleich mit den iibrigen 
Messungen ergeben. 

Am 3. Marz wurde Hund F getbdtet, der bis zu diesem Tage frei um- 
herlaufen durfte und dabei zu moglichst vieler Bewegung angehalten 
wurde. Bei der Section fand sich nichts Anomales. 

Sein Gewicht betrug 14 Pfd. 50 g, dasjenige des Gastrocnemius 20 g. 

Als Durchschnittsmaass der Faserbreite ergaben sich 39,4 ft. 


Um nun ein iibersichtliclies Bild iiber das Verhaltniss der Faser¬ 
breite bei den verschiedenen Versuchen zu gewinnen, sollen die er- 
zielten Resultate jetzt noch kurz zusammengestellt werden und zwar 
zuerst, um die Entwicklung in normalen Fallen betrachten zu konnen, 
nur die Durchschnittsmaasse der nicht atrophischen Gastrocnemii. 

Es fanden sich: 

Excision nach 3 Wochen bei Hund 
,, 2 Monaten 


A 

B 

D 

E 

F 

C 


6,7 f 1 
14,7 „ 

34.1 „ 

39.1 „ 
39,4 „ 
39,9 „ 


Man sieht also auch hier, dass die Entwicklung der Faserbreite 
mit zunehmendem Alter proportional fortschreitei Besonderes Interesse 
jedoch verdient die Thatsache, dass bei den vier am gleichen Tage 
getodteten Hunden, mit Ausnahme des im Kafig gehaltenen D, fast 
genau dieselben Dickendurchmesser sich ergaben, indem nur ganz 
minimale Schwankungen bis zu 0,8 (i vorkommen. Dass dieses Resultat 
zum grossen Theil mit auf die genaue Berucksichsigung der im L Theil 
dieser Arbeit angefiihrten Gesichtspunkte zuruckzuflihren ist, darf wohl 
mit Bestimmtheit angenommen werden. Dass die Faserbreite bei 


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Untersuchungen z. normalen u. path. Histologie d. quergestreiften Musculatur. 09 

Hund D um 5 p, also etwa den 8. Theil, hinter derjenigen der tibrigen 
zurticksteht, erklart sich wohl ungezwungen aus seiner Einsperrung 
in den Kafig. Wenn auch von keiner vSlligen Inactivitat der Muskeln 
die Rede sein kann, so handelte es sich doch sicher um eine unge- 
wohnlich geringe Inanspruchnahme und Uebung der Muskeln und 
diese geringere Thatigkeit der Muskeln sprach sich ganz deutlich in 
ihrer geringeren histologischen Entwicklung aus. 

Von den Ergebnissen der tibrigen Versuche hebe ich noch einmal 
besonders hervor, dass das anatomische Bild des in Folge einfacher 
Inactivitat (durch Gelenkankylose) atrophirenden Muskels sich nicht 
wesentlich unterscheidet von dem Aussehen des durch Durchschneidung 
seines motorischen Nerven inactiven und gelahmten Muskels. 

Zum Schlusse sei es mir noch gestattet, meinem hochverehrten 
Lehrer, Herm Professor Dr. v. Striimpell, fiir die Anregung zu den 
mitgetheilten Untersuchungen und die dabei gewahrte Untersttitzung 
meinen verbindlichsten Dank auszusprechen. Ebenso obliegt es mir, 
Herm Privatdocenten Dr. L. R. Mtiller herzlichst zu danken, welcher 
in der liebenswtirdigsten Weise mir bei den einzelnen Versuchen mit 
Rath und That zur Seite stand. Herrn Professor Dr. Hauser danke 
ich ftir die freundliche Ueberlassung des Leichenmaterials. 


Literatur. 

Schwalbe u. Mayeda, Ueber die Kaliberverhaltnisse der quergestreiften Muskel- 
fasern. Zeitschr. ffir Biologie Bd. XXVII. 

J. Hal ban, Die Dicke der quergestreiften Muskelfasern und ihre Bedeutung. 

1893. Anatomische Hefte Bd. IX. 

Kunkel, Studien fiber die quergestreifte Muskelfaser. 

Bierfreund, Ueber die Todtenstarre. Archiv f. d. gesammte Physiologie. Bd. 43. 
Landois, Lehrbuch der Physiologie. 

C. v. Kahlden, Technik der histologischen Untersuchungsmethoden. 

Steinert, Inactivitatsatrophie nach Ischiadicus-Durchtrennung. 

Hoffa, Pathogenese der arthritischen Muskelatrophie. 1892. 

Duplay et Cazin, Recherches expSrimentales sur la nature et la pathogenic 
des atrophies musculaires cons&sutives aux lesions des articulations. 
Scherschewski, Ueber die Fett-Entartung der paralysirten Muskeln. 

Sigl. Stier, Experimentelle Untersuchungen fiber d. Verhalten der quergestreiften 
Muskeln nach Lasionen des Nerven systems. Archiv f. Psychiatrie. Bd. 29. 
W. Lowenthal, Untersuchungen fib. das Verhalten d. quergestreiften Musculatur 
bei atrophischen Zustanden. Deutsche Zeitschrift ftir Nervenheilkunde. 
Bd. XIH. S. 106. 


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70 II. Hauck, Untereuch. z. normal, u. path. Histologie d. quergestr. Muse. u. s. w. 


Kurze Cebersicht der 

Faserbreite: . 

A. Einfluss des Alters. 


I. fieim neugeborenen Menschen. 


Muse, deltoideus .... 

. =8,0 n 

» 

pectoralis major . . 

. = 7,6 „ 

it 

supinator longus. . 

. - 7,6 „ 

it 

gemellus surae . . 

• = 7,1 ,, 

a 

platysma myoides . 

• = 7,1 „ 

a 

temporalis .... 

• = 7,1 „ 

tt 

biceps brachii. . . 

. = 7,0 „ 

a 

soleus. 

• - 7,0 „ 

a 

orbicularis .... 

. = tfi ,, 


II. U^jahriges Kind. 

Muse, sterno-hyoideus . . = 14,0 

„ sterno-cleido-mastoid . — 14,0 „ 
„ rectus abdomin. . . = 13,2 „ 

„ pectoralis major . . = 11,6 „ 

„ gemellus surae ,..«=» 9,7 „ 

III. 2 3 / 4 jahriges Kind. 

Muse, sterno-cleido-mastoid. = 20,8 ft 

„ rectus abdomin. . . «= 19,7 „ 

„ gemellus surae . . . = 18,0 „ 

„ adductor magnus . . = 14,0 „ 

„ sterno-hyoideus. . . = 14,0 „ 

IV. 4jahriges Kind. 


Muse, diaphragma . . . . 

= 23,7 fi 

„ adductor magn. . . 

= 17,8 „ 

„ temporalis. 

- 16,4 „ 

„ orbicularis . . . . 

- 15,9 „ 

V. Erwachsener Mensch, 

40Jahrealt. 

Muse, gemellus surae . . 

= 61,3 ix 

„ rectus abdom. . . 

= 55, / ,, 

„ sterno - cleido-mastoid 

= 45,7 „ 

„ intercostalis extern. 

= 47,5 „ 

„ biceps brachii . . 

= 47,0 „ 

„ temporalis . . . 

= 37,8 „ 


B. Ern&hrungszustand. 

I. ausserst kraftig entwickel- 

terMonteur(T.-U.Scorbut) = 70,2 n 
II. kraftig entwickelt. 35jahr. 

Bauer (T.-U. Peritonitis) = 53,3 „ 
III. kraftig entwickelt. 40jahr. 

Bauer (T.-U. Durahama- 

tom).= 47,0 „ 


gefandenen Resultate. 

IV. ziemlich abgemagerter 50- 
jahr. Handwerker (Car- 

cin. ventic.).= 36,7 fi 

V. 78jahr. Greis (Marasmus 

senil.).= 29,7 „ 

Verwendet wurde der Biceps brachii 
rechts. 

C. Todtenstarre. 

A. 18jahr. Prostitutirte (Phthisis p.) 

Quadriceps r. vor der Starre = 52,1 fi 
Biceps brachii „ „ „ = 36,3 „ 

Quadriceps l.gegen Ended. St. = 30,1 „ 
Bicepsl. gegenEnde der Starre — 25,6 „ 

B. 23jahriger Dienstknecht (Tuberc.) 
Quadriceps r. vor der Starre = 44,3 fi 
Biceps r. vor der Starre . . = 33,2 „ 
Quadriceps 1. Mitte der Starre = 27,2 „ 
Biceps 1. gegen Ende d. St. = 24,5 „ 

C. 42jahr. Mann Apoplexie. 

Biceps brachii r. vor d. Starre = 66,9 fjt 
Quadriceps r. vor der Starre = 54,0 „ 
Biceps 1. wahrend der Starre — 45,5 „ 
Quadriceps L nach d. Starre = 51,8 ., 

D. Behandlungsmethode. 

ZenkePsche Losung ....»= 33,7 ft 

Flemming’sche Losung . . ■= 39,1 „ 

Alkoholhartung.=» 40,0 „ 

Erlicky^che Flussigkeit . . = 41,6 „ 

Arnold’sche Methode . . . = 45,9 „ 

Ranvier’sche Methode . . . = 47,2 „ 

10 proc. Formolhartung . . = 47,2 „ 

Pikrinsaurehartung . . . . = 48,8 „ 

Sublimathartung.= 48,6 „ 

O.lproc.Osmiumsaurehartung = 51,3 „ 

Muller’sche Flussigkeit (mit 
Alkoholhartung) . . . . = 51,6 „ 

Muller-Formol.= 52,1 „ 

0,6 proc. Kochsalz-Losung . = 55,1 „ 

Miiller concentrata . . . . = 57,8 „ 

Muller mit 0,6 proc. Kochsalz- 
Nachbehandlung.— 71,6 „ 

Muller-Formol je 50 Fasem von ein- und 
demselben Muskel gezupfL 

I. Fasem in der Nahe des 

Sehnenansatzes. . . . = 51,3 „ 

II. peripherische Fasern . = 51,6 „ 

III. „ „ • • - 52,7 „ 

IV. centrale Fasem . . . = 52,7 „ 


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m. 


Aus der medicinischen Klinik des Herrn Prof. Schultze in Bonn. 

Ueber eine neue Form beredit&ren Nervenleidens. 

(Schwachsinn mit Zittem und Sprachstorung.) 

Yon 

Dr. 0. Giese, 

Volont&rarzt der Klinik. 

Seitdem Friedreich vor 26 Jahren das so klar gezeichnete Bild 
der nach ihm benannten Krankheit geschaffen, hat das Kapitel der 
hereditar-familiaren Erkrankungen des Nervensystems eine ungeahnte 
Ausdehnung gewonnen. Aber trotz der Fiille von Einzelbeobachtungen 
ist unser Einblick in dies interessante Gebiet der Neuropathologie 
noch von Schleiern verhiillt; nicht nur, dass wir iiber die atiologischen 
Factoren, iiber das eigentliche Wesen vieler hereditaren Affectionen 
so gut wie nichts wissen, auch die klinischen Verhaltnisse vieler Falle 
geben dem Diagnostiker noch manches Rathsel auf. 

Zwolf Haupttypen hereditar-familiarer Nervenkrankheiten hat 
Highier 1 ) vor 3 Jahren aufgestellt, wobei er jedoch das Vorkommen 
zahlreicher Misch- und Uebergangsformen, deren Rubricirung oft un- 
moglich sei, zugeben musste; und die Zahl derartiger Falle ist in 
stetem Wachsen begriffen. Auch die folgenden Zeilen bezwecken 
nicht mehr, als mit einer neuen Spielart familiaren Nervenleidens 
bekannt zu machen. 

Es handelt sich um zwei Geschwister, J. und M. Schl. aus 
Fischeln bei Krefeld; wahrend der jiingere Bruder vom 8. Juni bis 
18. August 1899 in der hiesigen medicinischen Klinik in Behandlung 
war, konnte ich die Schwester nur einmal in ihrem Heimathsort 
unter ungtinstigen ausseren Verhaltnissen untersuchen, womit ich einige 
LUcken in der zweiten Krankengeschichte zu entschuldigen bitte. 

Die beiden Patienten staramen aus einer Familie, in der bislang keine 
Nervenkrankheiten vorgekommen sein sollen. Nur die Grossmutter vftter- 
licherseits sei im Alter etwas „geistesschwach u gewesen. Der Vater war 
Ackerer, ist an Asthma gestorben, die Mutter ist gesund. Blutsverwandt- 
schaft der Eltern liegt nicht vor, auch besteht kein aufftlliger Altersunter- 

1) Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. Bd. IX, 1. u. 2. Hft. 


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72 


III. Giese 


schied. Von Lues oder Potatorium ist in der Anteeedenz nichts nach- 
zuweisen. 

Von den 7 Kinder der Eltern ist eins, das 4., am Scharlach gestorben, 
die beiden aitesten, sowie das 5. und 6. sind gesunde, kraftig entwickelte 
Menschen ohne alle nervosen Erscheinungen, frei von alien Degenerations- 
zeichen. Das 3. und 7. Kind sind unsere Patienten. Die Geburten sind 
sammtlich leicht und ohne Kunsthiilfe von statten gegangen; irgend welche 
Schadlichkeiten wahrend der Graviditat sollen nicht eingewirkt haben. 
Alle Geschwister sind unter den gleichen localen und hygienischen Ver- 
haltnissen aufgewachsen. 

Der jiingere Bruder ist jetzt 25 Jahre alt. Er soli zur rechten Zeit 
gehen und sprechen gelernt und sich in den ersten Lebensjahren durch 
nichts von anderen Kindern unterschieden haben. Doch schon in der Sehule 
liess sein Lernfahigkeit viel zu wiinschen iibrig: bis zum ordentlichen 
Lesen und Schreiben hat er es nie gebracht. Im Alter von ca. 15 Jahren 
beobaclitete die Mutter zum ersten Male bei ihm ein leises Zittern der 
Hande, das in den folgenden Jahren sehr allmahlich zunahm. Auch blieben 
die geistigen Fahigkeiten des Pat. mehr und mehr zuriick. Andere 
Krankheitssymptome wurden zunachst nicht bemerkt; Pat. war kraftigund im 
Stande, grobe Feldarbeit zu verrichten. Mit 19 Jahren wurde er zum 
Militar eingezogen, jedoch nach 4 Monaten wieder entlassen; er will da- 
mals die korperlichen Dienstleistungen noch gut haben ausfiihren konnen, 
vermochte aber den Instructionen nicht zu folgen. 

Vor ca. 1V 2 Jahren soli er einmal einen Krampfanfall gehabt haben; 
er verlor das Bewusstsein, biss sich in die Lippe, der Anfall dauerte etwa 
5 Minuten; Naheres ist dariiber nicht zu eruiren. 

In den letzten Jahren ist die Sprache des Kranken nach und nach 
schwerfallig und undeutlich geworden, besonders seit diesem Friihjahr; 
auch das Zittern wurde in der letzten Zeit starker. Ferner klagt Pat. 
jetzt iiber Unsicherheit des Ganges und Steifigkeit der Beine. Kopf- 
8ckmerzen, Schwindel, Erbrechen haben nie bestanden. Keine Storungen 
von Seiten der Blase und des Mastdarms. 

Status praesens. Pat. ist ein grosser, kraftig gebauter Mann mit 
massig entwickeltem Fettpolster und guter Musculatur. Gesunde Hautfarbe, 
keine Driisenschwellungen; an mehreren Korperstellen Psoriasis-Efflorescenzen. 
Degenerationszeichen sind nicht vorhanden. 

Sensorium frei; Gesichtsausdruck stumpf, miirrisch. Intelligenz sehr 
mangelhaft; Pat. giebt zwar auf Fragen iiber sein Leiden, seine Angehorigen 
u. Aehnl. meist richtige Auskunft, muss sich jedoch immer erst langer be- 
sinnen und ist in seinen Antworten sehr einsilbig, so dass nur wenig ans 
ihm herauszubringen ist. Das Alphabet kann er nicht aufsagen, zahlen 
gelingt leidlich, einfache Rechenaufgaben vermag er nicht zu lijsen. Auch 
das Gedachtniss ist mangelhaft: der Kranke datirt den Anfang seines 
Leidens auf 1 1 2 Jahre zuriick, weiss aber iiber die Zeit seiner Kindheit, 
die Militarzeit etc. ziemlich gut Bescheid. Ueber Ort und Zeit ist er gut orientirt. 

Seine Stimmung ist meist gedriickt, er weint h&ufig ohne geniigende 
Veranlassung, verlaiigt stets nach Hause, unterhait sich nie mit seinen 
Mitpatienten, sondern briitet stumpfsinnig vor sich hin. In seinen Hand- 
lungen wurden keine Abnormitaten beobachtet. Das subjective Krankheits- 
gefiihl scheint ziemlich gross zu sein. 


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Ueber eine Deue Form hereditaren Nervenleidens. 


73 


Am Schadeldach nichts Abnormes. Sehkraft normal. Pupillen sind 
mittelweit, gleichweit, reagiren gut auf Licht und Accomodation. Augen- 
bewegungen nach alien Richtungen frei, kein Nystagmus. Alle actiyen 
Bewegungen der Gesichtsmuskeln werden gut ausgefuht. Die Kaumuskeln 
wirken kraftig. Die Zunge wird gerade herausgestreckt, zeigt sehr starke 
fibrillare Zuckungen. Auch in einzelnen Gesichtsmuskeln besteht ein 
deutliches Zittern und Zucken von wechselnder Intensitat. Besonders ist 
der linke Levator menti und der rechte Masseter befallen, in geringerem Grade 
der Orbicularis oris. Dabei handelt es sich weniger um eigentliches fibril- 
lares Zucken, als vielmehr um ein groberes fascicuiares Zittern oder Beben. 
Meist besteht dasselbe schon in der Ruhe, oft tritt es erst beim Sprechen 
hervor oder wird doch dadurch verstarkt. Der Masseterreflex ist beider- 
seits lebhaft. Bei sehr schwacher Beklopfung des Levator menti erfolgt 
schon starke Contraction desselben, ebenso im Orbicul. oris. Auch bei 
Beklopfen des TrianguL menti contrahiren sich rechts der Levator menti 
und der Orbicul. oris, links nicht. Bei seitlichem Streichen des Gesichtes 
jedesmalige Contraction der Levatores menti. In den iibrigen Gesichts¬ 
muskeln besteht keine mechanische Uebererregbarkeit. 

Die Sprache ist langsam und leise, mit nasalem Beiklang, monoton 
und undeutlich. Es besteht kein Scandiren, kein Silbenstolpern. Die 
einzelnen Buchstaben werden ziemlich gleichgut nachgesprochen, ebenso 
schwierigere Worter. Nur bei langerem Sprechen, z. B. dem Aufsagen 
des „Vaterunser“, wird die Sprache allmahlich immer undeutlicher, schliess- 
lich ganz unverstandlich, dabei von haufigen Athemziigen tbnender Art 
unterbrochen. — Das Gaumensegel hebt sich beim Intoniren gut, scheint 
zu schliessen. Gaumenreflex vorhanden. 

An den sensorischen Nerven keine Ausfallserscheinungen. Sensibilitat 
im Trigeminusgebiet intact. 

Die Wirbelsaule zeigt keine Verkriimmungen. Die Rumpfmusculatur 
ist von normaler Beschaffenheit und Actionsfahigkeit. 

Auch an ^en oberen Extremitaten bestehen keine motorischen Ausfalls¬ 
erscheinungen, die rohe Kraft ist eine massig gute, der Musculatur ent- 
sprechend. Nur macht sich beim Handedruck eine leichte Ermiidbarkeit 
gel tend, die in folgender Yersuchsreihe mit Hiilfe des Dynamometers zum 
Ausdruck kommt: 

1. Versuch: rechts 70 kg, links 50 kg, 

2. » ,50 „ „ 40 „ 

3. „ „ 30 „ „ 30 „ 

4. „ „ 30 „ „ 30 „ 

Es bestehen weder Atrophie, noch deutliche Spasmen. AnbeidenHan- 
den failt, meist schon in der Ruhe, ein deutliches Zittern auf. Dasselbe 
ist nicht ganz rhythmisch, massig frequent, betrifft die ganzen Hande und 
Vorderarme in to to und ist links meist starker als rechts. Die Intensitat 
des Tremor schwankt an den einzelnen Tagen, so dass er manchmal in 
der Ruhe nicht wahrnehmbar ist; doch geniigt dann leichte psychische Er- 
regung, z. B. Sprechen, um ihn sofort, meist zunachst in der linken Hand, 
hervorzurufen. Bei Zielbewegungen wird das Zittern in der Regel beider- 
seits deutlicher. Complicirtere Bewegungen der Hande, wie Zu- und Auf- 
knbpfen, geschehen sehr langsam, mit sorgfaitig darauf gerichteten Augen 
und unter Begleitung vieler dem groben Zittern nahestehender Neben- 


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74 


III. Giese 


bewegungen. Bei geschlossenen Augen geht das Zuknbpfen noch langsamer 
und nnsicherer. 

Radius- und Tricepsreflex beiderseits lebhaft; auch bei Be- 
klopfung der Ulna, sowie directer mechanischer Reizung der Flexoren er- 
hait man leichte Contractionen. 

In den unteren Extremitaten bestehen ebenfalls weder Atrophien, noch 
Paresen, auch lassen sich keine deutlichen Spasmen nachweisen. Der Knie- 
Hackenversuch gelingt sowohl bei offenen, wie bei geschlossenen Augen 
sicher und ohne ausfahrende Bewegungen. In den erhobenen Beinen be- 
steht kein Zittern, Kreise mit den Fhssen kdnnen langsam und gleichmassig 
beschrieben warden. Dagegen macht sich beim Gang regelm&ssig eine be- 
stimmte Storung bemerkbar: wenn der Kranke den linken Fuss aufsetzt, 
kurz bevor er das Knie durchdriickt, giebt er sich jedesmal durch starke- 
res Anspannen des 1. Quadriceps einen Ruck, der ein einseitiges Heben 
des Oberkbrpers bei jedem Schritt zur Folge hat. Auch wird stets der 
rechte Fuss etwas hbher gehoben und das rechte Bein etwas weiter nach 
yorn gesetzt. Bei ruhigem Gang kein Schwanken; doch geschieht Halt- 
machen auf Commando etwas wacklig, der Kranke macht meist noch einen 
kleinen Schritt zuviel. Beim Kehrtmachen verliert er leicht daa 
Gleichgewicht. Langeres Stehen, auch bei geschlossenen Augen, ohne 
Schwanken mbglich; dagegen failt es ihm schwer, auf einem Fuss zu stehen, 
auch ist der Fussspitzenstand etwas wackelnd. 

Die Patellarreflexe sind sehr lebhaft, jedoch von Tibia und Pa¬ 
tella nicht auslbsbar. Achillesreflex mittelstark, kein Fussclonus. Vom Condyl. 
int. femor. aus erhait man beim Beklopfen deutliche Adduction des Beines. 
Die Hautreflexe (Bauchreflex, Cremasterreflex, Fusssohlenreflex) sind mittel¬ 
stark und bdiderseits gleich; beim Streichen derPlanta pedis erfolgt Dorsal- 
flexion der grossen Zehe, besonders deutlich links. 

Die Sensibilitat an Rumpf und Extremitaten ist fur alle Qualitaten 
intact. Auch lassen sich keine Stdrungen des Muskelsinns und dea 
Lagegefuhls nachweisen. Die elektrische Untersuchung ergiebt nichts 
Abnormes. 

Ophtbalmoskop.Befund(PrivatdocentDr.Hummelsheim): Papillen etwas 
hyperamisch, keine Veranderungen des Gefasskalibers. 

Die inneren Organe normal. Urin frei von Eiweiss und Zucker. — 

Wahrend seines lOwbchentlichen Aufenthaltes in der Klinik traten im 
Befinden des Kranken — abgesehen vom Wechsel in der Intensitat des 
Tremors — keine wesentlichen Veranderungen ein. 

Ordination: Prolongirte Bader, Faradisation, Tct. nuc. vomic., 
spater SoL Kali jodat. Das Korpergewicht hob sich von 139 auf 
152 Pfund. 

Der Kranke wird auf seinen Wunsch am 14. Aug. entlassen. Ich sah 
ihn nochmals am 14. Nov. in seinem Heimathsort in ziemlich unverandertem 
Zustand. Nur klagte er jetzt besonders iiber Steifigkeit im linken Bein, 
ohne dass jedoch deutliche Spasmen nachweisbar waren; doch bestand ein. 
leichter Grad von Hypertonie. Das Zittern war besonders in den Ge- 
sichtsmuskeln anhaltend, weniger stark in den Armen. Der Kranke ist 
nach wie vor in Feld und Garten thatig und fiihlt sich kbrperlich 
vbllig wohl. 


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Ueber eine neue Form hereditaren Nervenleidena. 


75 


Ich schliesse hier sofort die Krankengeschichte der alteren 
Schwester an. 

Patientin ist 32 Jahre alt. In der Kindheit soli sie stets gesund 
gewesen sein, znr rechten Zeit gehen nnd sprechen gelernt haben, auch 
waren die geistigen Fahigkeiten angeblich etwas besser als beim Binder. 
In der Schule lernte sie, wenn auch schwer, Lesen nnd Schreihen, nur das 
Rechnen konnte ihr trotz vieler Miihe nicht beigebracht werden. Im Alter 
von 16 Jahren begann die Erkrankung in ahnlicher Weise wie beim Bruder 
mit Zittern in H&nden nnd Gesicht und einer Abnakme der Intelli- 
genz. Auch hier war die Zunahme der einzelnen Symptom© eine ftusserst 
langsame; nur sollen sich bei ihr ziemlich friih eine Steifigkeit und 
Schwerfalligkeit sowohl im Rumpfe wie in den Gliedern bemerkbar ge- 
macht haben, so dass die Kranke allmfihlich die Gewobnheit annahm, active 
Bewegungen auf das Nothwendigste zu beschr&nken. Doch zeigte sich ge- 
legentlich, dass sie alle Bewegungen auszufuhren im Stande war und fiber 
leidlich gute Kraft verfugte. Auch jetzt ist die Mutter der Ueberzeugung, 
dass Pat. „Alles gut bewegen kann, wenn sie nur will a . 

In den letzten Jahren soil die Steifigkeit besonders im Rumpf und Hals 
zugenommen haben, so dass Pat. trotz vielfacher Ermahnungen stets mit 
gebiicktem Kopf und vornuber gebeugtem Rumpf einhergeht. Auch sei der 
Gang unsicher geworden, besonders falle die Kranke sehr haufig nach vorn 
fiber. Sie liegt weniger durch ihre kbrperlichen Gebrechen, als durch ihren 
Gemfithszustand den Ihrigen sehr zur Last: sie soli sehr launisch und 
schwer zu behandeln sein, oft erfolgen Ausbriicbe von Jahzorn, auch ist ihre 
Stimmung sehr wechselnd, sie kommt leicht ins Weinen, lacht dann wieder 
grundlo8. Das Gedachtniss ist angeblich gut, besser als beim Bruder. 
Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen fehlten wilhrend der ganzen Erkrankung; 
nie warden Krfimpfe beobachtet. Blase und Mastdarm functionirten normal. 

Die Menstruation trat erst Mitte der zwanziger Jahre auf, war an- 
fangs unregelmassig, in der letzteren Zeit regelm&ssig. 

Status praesens. Patientin ist kleiner als der Bruder, von krfiftigem 
Knochenbau und sehr gutem Ernfthrungszustand. An der Haut nichts Be- 
sonderes. Keine Degenerationszeichen. Die Intelligenz scheint ungeffihr 
auf derselben Stufe zu stehen, wie beim Bruder, Patientin kann ziemlich gut 
zfihlen, ist aber nicht im Stande, einfachste Additionsaufgaben zu losen. 
Sie ist sehr verschlossen, weint zunfichst heftig, wird aber im Laufe der 
Untersuchung sehr heiter und behalt ein gleichm&ssiges, blodes Lachen bei. 
Der Gesichtsausdruck hat etwas Stieres, Ausdrucksloses. An den Hirn- 
nerven bestehen keine Ausfallserscheinungen. Nur die Augenbewegungen 
scheinen etwas verlangsamt zu sein, und die Endeinstellungen werden nur 
mit Miihe erreicht; am deutlichsten ist diese Storung beim Blick nach oben. 
Die Pupillen sind mittelweit, reagiren gut, Sehscharfe scheint normal zu 
sein; Nystagmus besteht nicht. In den unterenAugenlidern bemerkt man 
ein anhaltendes Zittern, links starker als rechts, das beim Lidschluss 
noch zunimmt. Auch in den Mundmuskeln, besonders in den Levatores 
menti und im ganzen Orbicul. oris besteht ein intensives Zittern und 
Zu cken; dasselbe halt wahrend der ganzen Dauer der Untersuchung in gleicher 
Weise an, ist links starker als rechts und nimmt beim Sprechen, Weinen, 
Lachen noch an Intensitat zu. In den Masseteren ffihlt man beim Zusammen- 


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III. Giese 


beissen der Zahne ebenfalls ein starkes gleichmassiges Zittern. Der Mas- 
seterreflex ist lebhaft. Die Priifang der mechanischen Muskelerregbarkeit 
im Gesicbt ist im Einzelnen durch den Tremor und das anbaltende Lachen 
sehr erschwert, doch ist sie sicher gesteigert. Die Zunge wird grade, aber 
schwerfallig hervorgestreckt, zittert nur wenig; Seitw&rtsbewegungen der- 
selben sehr langsam. Die Sprache zeigt genau die gleichen Storungen wie 
im vorigen. Falle (langsam, naselnd, monoton, verwaschen); nur ist hier 
die Undeutlichkeit noch etwas grosser. — In der Ruhe bemerkt man zeit- 
weise ein deutliches Wackeln des Kopfes. 

Das Auffallendste an der Kranken ist die Korperhaltung, die den 
anamnestischen Angaben vollig entspricht: nicht ein einziges Mai wahrend 
der Untersuchung hebt Pat. spontan den tief gebeugten Kopf empor, und der 
Riicken bleibt andauernd in leicht gekriimmter Haltung. Doch ist sie auf 
energische Aufforderung im Stande, sich leidlich gut aufzurichten, wenn 
auch eine geringe allgemeine Kyphose bestehen bleibt. Bei passiven Be- 
wegungen des Kopfes und der Wirbelsaule bemerkt man eine starkeRigi- 
ditat der Muskeln, die sich jedoch iiberwinden lasst. Eine Steifigkeit der 
Wirbelsaule scheint nicht zu bestehen. An den Armen ist die Muskelstarre 
nur angedeutet, an den Beinen etwas starker. Alle actiyen Bewegungen 
werden ungemein langsam und schwerfallig ausgefuhrt. 

Die motorische Kraft der Schulter- und Armmuskeln ist ziemlich gut, 
nur der Handedruck etwas schwacher als normal; auch scheint leichteEr- 
miidbarkeit zu bestehen. In den ausgestreckten Handen bemerkt man zur 
Zeit keinen deutlichen Tremor, bei Zielbewegungen eine leichte zitternde 
Unsicherheit; dagegen treten bei complicirteren Bewegungen — Zubinden 
der Rockbander etc. — dieselben unregelmassigen zitternden Nebenbewegungen 
auf wie beim Bruder. 

Die Reflexe sind an beiden Armen ausserordentlich lebhaft, auch 
vom unteren Theil der Ulna erhait man starke Zuckung; ebenso reagiren 
die Muskeln sehr leicht auf directe mechanische Reizung. 

Auch an den unteren Extremitaten konnen fast alle activen Bewegungen 
gut ausgefiihrt werden, nur in den linken Mm. peronei besteht eine leichte 
Parese. Uebrigens ist die Kraft in to to am linken Bein etwas schwacher 
als rechts. Links leichter Pes equinus. Patellarreflex trotz der Muskel- 
spannung enorm lebhaft, aber nicht vom Knochen auslosbar. Auch 
Achilles-Reflex sehr lebhaft. Kein deutlicher Patellar- und Fussclonus. 

Bei Zielbe wegungen in den Beinen keine Ataxie. — Beim Gang failt 
zunachst auf, dass die linke Fussspitze am Boden klebt; ferner geht Pat. 
sehr langsam, breitbeinig und schwerfallig, die Knie- und Hiiftgelenke 
werden fast gar nicht gebeugt, sondern das Becken seitlich gehoben, wo- 
durch der Gang etwas Watschelndes bekommt. Fordert man Pat. auf, 
schneller zu gehen, so droht sie sofort nach vom iiberzufallen. Kehrt- 
machen geschieht schwerfallig und etwas schwankend. Stehen ge- 
lingt auch bei geschlossenen Augen gut. 

Soweit die Priifung der Sensibilitat moglich ist, lasst sich keine Storung 
nachweisen. — An den inneren Organen nichts Abnormes. 

Fassen wir kurz das Wesentliche beider Krankengeschichten zu- 
sammen, so sehen wir bei 2 erblich nicht bclastcten , schon in der Jugend 
etwas schwachsinnigen Geschwistern ohne alle erkenntlichen dusscren Ur- 


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Ueber eine neue Form hereditaren Nervenleidens. 


77 


sachen wahrend der Pubertatsjahre ein Krankheitsbild sich entwickeln , das 
sich aus folgendeti allmahlich xunehmenden Erscheinungcn xusammensetxt: 
deuilicher Schwachsinn, langsame , monotone , undeutliche Sprache, unregel - 
mdssiges Zittern der Hande und einxelner Gesichtsmuskeln, das xeitweise 
schon in der Ruhe besteht , bei Bewegungen , besonders complieirterer Art , 
zunimmt , Unsicherheit und Schwanken beim Gauge, Steigerung samml - 
fticfor Reflexe und , besonders bei der schon langer erkrankten Schwester, 
eine allgemeine MuskelsteifiglceiL Auch besteht bei dieser Patientin eine 
leichte Parese der linken Peronei , wahrend beim Bruder die motorische 
Kraft uberall xiemlich gut ist. Die Krankheit ist stetig progressiver Natur , 
sckreitet jedoch nur ausserst langsam fort; bei der Schwester besteht sie 
seit ca . 16, beim Bruder seit 9 Jahren. 

Die grosse Uebereinstimmung der Krankheitsentwicklung sowohl 
wie des jetzigen Befundes kann keinen Zweifel dartlber aufkommen 
lassen, dass wir es in beiden Fallen mit ein- und derselben 
Affection zu thun haben; die vorhandenen Unterschiede sind nur 
graduelle und bestehen in eiuem leichten Plus der Symptome bei der 
alteren Kranken, so dass sie sich durch die langere Krankheitsdauer 
von selbst erklaren. 

Die Betheiligung der Psyche ist in beiden Fallen eine recht er- 
hebliche; wenn es sich auch unserer Beurtheilung entzieht, inwieweit 
die Imbecillitat schon bei den Kindern vorhanden war, so geht eine 
Zunahme wahrend der Erkrankung aus der Anamnese deutlich 
hervor. Auffallend ist bei der Schwester die in den letzten Jahren 
hervortretende starke Alteration des Gemiithszustandes, die sich in 
haufigem Stimmungswechsel, Zornausbriichen etc. aussert; immerhin 
ist auch beim Bruder schon eine Andeutung davon vorhanden. 

Alle iibrigen Krankheitserscheinungen liegen auf dem Gebiet der 
motorischen Sphare, und zwar — dies mochte ich besonders be- 
tonen — handelt es sich nicht um wirkliche Ausfallserscheinungen, 
um eigentliche Lahmungen, sondem vielmehr um abnorme Reiz- 
zustande, um Storungen im normalen Ablauf der Muskelaction. Nur 
bei der alteren Kranken besteht eine leichte Parese der Peronei, sonst 
sind bei beiden alle activen Bewegungen meist sogar mit guter Kraft 
ausffthrbar. 

Hochstens lasst sich eine gewisse pathologische Ermudbar- 
keit in einzelnen Gebieten feststellen, was besonders schon im Dyna¬ 
mometer-Versuch, dann aber auch in der Sprache zum Ausdruck 
kommt. Die letztere zeigt namlich, neben der Langsamkeit und dem 
nasalen Beiklang, ein ganz eigenthiimliches Verhalten, insofern zunachst 
weder beim Nachsprechen einzelner Buchstaben noch auch beim 
Sprechen schwieriger Worter sich eine deutliche An- oder Dysarthrie 


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III. Giese 


kund giebt; erst wenn man die Kranken l&nger hintereinander spre- 
chen lasst, wird die Articulation mehr und mehr verwaschen, die 
Sprache immer undeutlicher, um schliesslich in ein fast unverstand- 
liches Lallen tiberzugehen; zugleich macht sich, auch nur bei langerem 
Sprechen, ein storender Mangel an Exspirationskraft bemerkbar, so dass 
die Kranken gezwungen sind, das Sprechen durch immer haufiger werdende 
tonende Athemztige zu unterbrechen. Es besteht also eine eigenthtim- 
liche Ermtidbarkeit der Sprech- und Athemmuskeln, die, besonders im 
Zusammenhang mit der Ermtidbarkeit der Hande, an das Verhalten 
bei der sogen. astheniscben Paralyse erinnert Bei einer derartigen 
Kranken, die ich vor Kurzem auf der Klinik zu beobachten Gelegen- 
heit hatte, zeigte auch die zunachst vollig gut articulirte Sprache eine 
ganz analoge Sttirung, sobald man Pat. z. B. zahlen liess. Nattirlich 
besteht sonst in unseren Fallen keine Analogie mit der erwahnten 
Affection, doch scheint mir die Thatsache nicht unwichtig, dass das 
Symptom der „Myasthenie“ gelegentlich auch bei anderen organischen 
Affectionen yorkommen kann, so dass man sich htiten muss, zu grosses 
Gewicht darauf zu legen. 

Neben dieser eigenthtimlichen Sprachstorung stehen gewisse ab- 
norme Muskelbewegungen im Vordergrunde des Krankheitsbildes. 
Befallen davon sind einzelne Gesichtsmuskeln und die Hande; in letzteren 
zeigt sich zeitweise schon in der Ruhe ein nicht ganz rhythmischer, 
ziemlich schnellschlagiger Tremor yongeringerSchwingungsamplitude; 
an einzelnen Tagen haben Zielbewegungen keinen deutlichen Einfluss 
auf ihn, andere Male wird er dadurch verstarkt, oft muss er ttberhaupt 
erst durch psychische Erregung oder complicirtere Bewegungen her- 
vorgerufen werden. Bei letzteren handelt es sich dann nicht mehr 
um einen einfachen Tremor, sondern man hat den Eindruck, dass sich 
die Sttirung aus 2 Componenten zusammensetzt: einer leichten zitterndem 
Unsicherheit und einzelnen groberen, mehr ausgiebigen Zuckungen. 
Das Ganze errinnert in gewisser Beziehung an den Intentionstremor 
der Herdsklerose, doch ist auch eine Aehnliehkeit mit der Ataxie der 
Tabiker unverkennbar, zumal die Stoning bei geschlossenen Augen 
noch zunimmt 

Etwas einfacher gestaltet sich das Zittern in den Gesichts- 
mukeln: am meisten ahnelt es dem bekannten Tremor bei der Dementia 
paralytica, nur ist es noch grober, weniger einzelne Fibrillen, als ganze 
Muskelztige befallend. — An den Augen konnte niemals auch nur eine 
Andeutung von Nystagmus beobachtet werden, was besonders hervor- 
gehoben zu werden verdient. Auch Strabismus wurde vermisst; die 
einzige Storung am oculomotorischen Apparat war eine Verlangsamung 
und Erschwerung der Blickbewegungen bei der Schwester, ein Sym- 


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Ueber eine neue Form hereditaren Nervenleidens. 


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ptom, das wohl mit der aUgemeinen Muskelrigiditat und der daraus 
resultirenden Bewegungshemmung bei dieser Kranken in Analogie zu 
setzen ist. 

Diese Muskelsteifigkeit, die wir bei dem jfingeren Pat. kaum 
angedeutet finden, hat bei der alteren Schwester einen recht hohen 
Grad erreicht; am meisten sind die Rumpf-, Hals- und Nackenmuskeln 
betroffen, und zwar handelt es sich nicht eigentlich um gewohnliche 
Spasmen, die erst beim Versuch passiver Bewegungen zu Tage treten, 
sondern vielmehr um eine auch in der Ruhe fortbestehende, ziemlich 
starke, gleichmassige ErhShung des Muskeltonus. Die Anomalie wird 
auch von der Kranken selbst sehr storend empfunden und hat zu einer 
Korperhaltung gefuhrt, die ausserordentlich an das Bild der Paralysis 
agitans erinnert; ein Eindruck, der noch verstarkt wird durch die 
Neigung der Pat. beim Gehen nach vornttber zu fallen. Inwieweit 
hieran ausser der fehlerhaften Rumpfhaltung die Unsicherheit des 
Ganges Schuld tragt, muss dahingestellt bleiben. Doch ist die Stdrung 
beim Gehen, das leichte Schwanken und Taumeln beim Kehrtmachen etc. 
bei beiden Kranken, wenn auch nicht gerade sehr ausgepragt, so doch 
deutlich genug, dass man von einer cerebellaren Ataxie leichten 
Grades sprechen kann. 

Eigentliche atactische Bewegungen sind in der RUckenlage in den 
unteren Extremitaten nicht nachweisbar; auch besteht kein Romberg- 
sches Symptom. Wahrend des Ganges tritt aber beim Bruder die 
oben naher beschriebene bestimmte Storung im richtigen Ablauf der 
Muskelaction bei jedem Schritt in die Erscheinung, so dass wir auch 
in den Beinen eine gewisse locomotorische Ataxie nicht leugnen 
konnen. 

Die Lebhaftigkeit derReflexe fibersteigt entschieden das Physio- 
logische, wenn sie auch nicht bis zum Clonus gesteigert sind. Die 
Steigerung ist ausgepragter an den oberen Extremitaten, wie uberhaupt 
bei unseren Kranken die Storungen der motorischen Sphare von oben 
nach unten abnehmen. Besonders gilt dies auch von der mecha- 
nischen Muskelerregbarkeit, die wir an einzelnen Gesichtsmuskeln 
hochgradig verstarkt, auch an den Armen fiber die Norm hinausgehend 
fanden. Dabei sei noch erwahnt, dass diese Steigerung der Erregbarkeit 
sich ungefahr auf dieselben Muskeln beschrankt, die vom Zittern be¬ 
fallen sind. Leider sind die Erfahrungen fiber das Verhalten der 
Muskelerregbarkeit zu gering, als dass sich irgend welche Deductionen 
an dies interessante Symptom knfipfen liessen. 

Sensibilitatsstorungen wurden in beiden Fallen vollig vermisst. — 
Ein epileptiformer Anfall soil beim jfingeren Kranken beobachtet 
worden sein. 


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III. Giese 


Wenn fiir eine hereditar-familiare Erkrankung des Nervensystems 
gefordert wird, dass ein annaherd gleicher Symptomcomplex sich bei 
mehreren Familienmitgliedern entwickelt, dass ferner die Erkrankung 
in dem gleichen Lebensalter einsetzt, und dass alle ausseren Krank- 
heitsursachen vermisst werden, so treffen diese Bedingungen f&r unsere 
Falle zweifellos zu. Versuchen wir nun aber, das Krankheitsbild den 
bekannten Typen hereditarer Erkrankungen einzureihen, so stossen 
wir auf recht erhebliche Schwierigkeiten. 

Um die hereditare Ataxie Friedreich’s ohne Weiteres auszu- 
schliessen, gentigt schon der Hinweis auf die Steigerung der Reflexe 
bei unseren Patienten. Auch mit jenem verwandten Krankheitsbild, 
das Marie als Heredo-Ataxie cerebelleuse bezeichnet hat, besteht 
nur eine leichte Aehnlichkeit. Vor Allem tritt das cerebellar-atactische 
Moment viel zu sehr zuriick in Riicksicht auf die lange Krankheits- 
dauer, wir vermissen ferner die Augenmuskellahmungen, Sehstorung 
u. A., wahrend andererseits die stark entwickelte Demenz nicht zum 
Marie’schen Krankheitsbilde gehort. 

Auch in den weiten Sack der cerebralen Diplegien, von denen 
ubrigensHighier j ) den Morbus Marie nicht streng geschieden wissen 
will, lassen sich unsere Falle nicht stecken. Selbst wenn man mit 
Highier die Entstehung dieses Leidens in spateren Lebensjahren zu- 
lasst, so macht doch die geringe Entwicklung der Lahmungserschei- 
nungen nach einem Verlauf von 9 resp. 16 Jahren eine solche Annahme 
unmoglich. Ferner gehort auch das Zittern nicht zum Bilde der here- 
ditaren Cerebrallahmungen, wenn es auch in einem Falle von Freud 2 ) 
beobachtet wurde. 

Ueberhaupt gewinnt man beiDurchsicht der einschlagigen Literatur 
den Eindruck, dass der Tremor in der Symptomatologie der hereditaren 
Erkrankungen eine nicht sehr hervortretende Rolle spielt. In erster 
Linie zu nennen ware hier der schon seit langem bekannte, aber wenig 
genau studirte essentielle hereditare Tremor, von demBrasch 3 ) 
etwa 30 Falle in der gesammten Literatur verzeichnet fand. Doch 
geht man wohl nicht fehl in der Annahme, das dies Leiden in Wirk- 
lichkeit haufiger ist, wofiir auch die zahlreicheren Beobachtungen der 
letzten Jahre sprechen (Bonelli 4 ), Achard-Soupault 5 ), Labb6 6 ), 


1) 1. c. 

2) Neurol. Centralbl. XIII. Jahrg. No. 15 u. 16. 

3) Deutsche Zeitschr. f. Nervenh. VII. Bd. S. 444. 

4) Rivista di Freniatria. 1897. S. 58. 

5) Gazette hebdomad. 1894. Nr. 32. 

6) Presse medic. 1894. No. 33. 


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Ueber eine neue Form hereditiiren Nervenleidens. 


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Mills 1 )). 2 ) Irgend welche klinischen Charakteristica lassen sich, wie 
schon Brasch betont, ftir das erbliche Zittern nicht anftihren, da 
gelegentlich alle Varietaten desselben an alien Theilen des Korpers 
zur Beobachtung kommen. In emzelnen Fallen war das Zittern ver- 
gesellschaftet mit mehr oder weniger stark ausgepragter psychischer 
Degeneration; besonders zeigt die Beobachtung von Labbe 3 ), familiarer 
Tremor, Demenz und epileptiforme Anfalle bei einer 20jahrigen Frau, 
eine unverkennbare Aehnlichkeit mit unserenGeschwistem; dock fehlen 
Storungen der Sprache und des Ganges. 

Des Weiteren zu berucksichtigen waren hier yereinzelte atypische, 
zum Theil recht complicirte Krankheitsfalle hereditar-familiarer Art, 
die eine theilweise Uebereinstimmung mit unseren Fallen zeigen. So 
beschreibt Bouchaud 4 ) eine „maladie a part" zweier Geschwister yon 
6 und 7 Jahren, bestehend in zunehmender Demenz, Rigiditat der 
Muskeln, langsamer, spaterhin undeutlicher Sprache, Coordinations- 
storungen aller vier Extremitaten und cerebellarem Gang; doch waren 
die Sehnenreflexe herabgesetzt, bezw. fehlend, und es entwickelten sich 
im weiteren Verlauf Seh-, Schluck- und Kaustorungen. Die Autopsie 
ergab als Wesentliches einen Schwund der Markfasern in der Hirn- 
rinde und beiderseitige Pyramiden-Degeneration. 

In Rossolimo’s 5 ) Fallen (3 Geschwister) bestand Tremor der 
Hande, cerebellare Ataxie und erhohte Kniereflexe neben Augenmuskel- 
lahmungen und Muskelhypertrophien. 

Ausfiihrlich beschrieben ferner Pauly und Bonne 6 ) die Kranken- 
geschichte dreier Brtider; bei alien drei kehren als Hauptsymptome 
Nystagmus, langsame Sprache, Tremor der Hande, der bei Gemiiths- 
bewegung zunimmt, spastisch-schwankender Gang und Atrophie des 
N. optic, wieder. Mit Recht betonen die Verfasser die Eigenart dieser Falle. 

Ein dem unsrigen ahnliches Krankheitsbild hat unsNonne 7 ) schon 
1890 kennen gelehrt; nur waren bei den 3 Brtidern auch noch starkere 

1) Neurol. Jahresber. L S. 903. 

2) Ich Bah selbst unter den Patienten der med. Klinik in letzter Zeit zwei 
derartige Hereditarier: in einem Falle bestand bei einem Manne mit sonst ge- 
sundem Nervensystem ein auBgesprochener Intentionstremor Beit der frdhesten 
Kindheit, von dem auch der Vater und ein Bruder in gleicher Weise befallen Bind. 
Der 2. Fall betrifft ein an Dystrophia muscul. progr. leidendes Kind, an dessen 
ausgestreckten Hfinden ein unregelmassiges Zittern besteht, das bei Vater und 
Grossvater in derselben Weise vorhanden gewesen sein soil. 

3) 1. c. 

4) Revue neurol. 1894. Nr. 1. 

5) Neurol. Centralbl. 1898. S. 566. 

6) Revue de'M6d. 1897. 8. 200. 

7) Archiv £ Psychiatrie. XXII. 2. 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 6 


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III. Giese 


intellectuelle Storungen vorhanden, wahrend das Zittern der oberen 
Extremitaten mehr zurucktrat Die eigenthiimliehe „explosive“ Sprache, 
der Nystagmus und die Opticusatrophie bilden die wesentlichen Unter- 
scheidungsmerkmale von unseren Fallen. Anatomisch fand sich eine 
auffallende Kleinheit des ganzen Nervensystems. 

Schliesslich waren hier noch die Falle von Homen 1 ) zu erwahnen, 
die wohl die meiste Aehnlichkeit mit den unsrigen zeigen, jedoch 
leider in ihrer Deutung durch das Bestehen luetischer cerebraler Ver- 
anderungenbeeintrachtigtsind 2 ): es bestand ebenfalls bei 3 Geschwistem 
zunehmende Demenz, undeutliche Sprache, zeitweise Tremor der Hande 
und Arme, Spasmen an den Extremitaten und unsicherer Gang. Die 
Section ergab neben specifischen Veranderungen eine Kleinheit der 
Gehime, Schwund der Tangentialfasem und Gehimverdickungen. 

Aus dieser Zusammenstellung ergiebt sich, dass zwar eine Aehn¬ 
lichkeit unserer Falle mit einzelnen frfiheren Beobach- 
tungen hereditarer Art zuzugeben ist, dass jedoch ein vollig 
tibereinstimmendes Symptomenbild bisher nicht beschrieben 
wurde. 

Zu demselben Resultat werden wir gelangen, wenn wir die Be- 
ziehungen unserer Falle zu den anderen, sonst nicht hereditar auf- 
tretenden Nervenkrankheiten ins Auge fassen. In erster Linie ware 
hier der atypischen Formen der multiplen Sklerose zu gedenken, um 
so mehr, als mehrfach iiber die Moglichkeit einer hereditaren Form 
derselben discutirt worden ist (Dreschfeld 3 ), Pelizaeus 4 ), Eich- 
horst 5 ) u. A.). Doch sind die betreffenden Falle auch in anderer 
Weise gedeutet worden, da es sich nur um klinische Beobachtungen 
handelte. Nur Eichhorst 6 ) konnte anatomisch multiple Sklerose bei 
Mutter und Kind nachweisen, doch zeigt der Befund verschiedene vom 
Autor selbst zugegebene Besonderheiten, so dass „wir bislang nicht 
das Recht haben, ein familiar auftretendes Nervenleiden auf die mul¬ 
tiple Sklerose zu beziehen“ (Oppen heim 7 ). Wenn auch in unseren 
Fallen die Bewegungsstorungen, besonders in den oberen Extremitaten, 
an die multiple Sklerose erinnern, so sprechen doch das Fehlen des 
Nystagmus und der scandirenden Sprache, die geringe Betheiligung 
der unteren Extremitaten, das Fehlen der Spasmen beim jtingeren Bru- 


1) Archiv f. Psychiatrie. Bd. XXIV. 

2) Vgl. Highier, 1. c. S. 56. 

3) Medical Times and Gazette. 1879. 

4) Archiv f. Psychiatrie. Bd. XVI. 

5) Virchow’s Archiv. Bd. 146. 

6) 1. c. 

7) Lehrbuch. S. 260. 


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Ueber eine nene Form bereditaren Nervenleidens. 


83 


der, die starke Entwicklung der Demenz und das eigenthtimliche Zittern 
der Gesichtsmuskeln gegen eine solche Diagnose. 

Eine unverkennbare Aehnlichkeit zeigen unsere Kranken femer 
mit jenen Fallen, deren anatomisches Substrat in einer Sklerose und 
Atrophie des Kleinhirns bestand. Es sei nur auf die Beobach- 
tungen von Schultze 1 ), Redlich 2 ), Kirchhoff 3 ), Huppert 4 ) ver- 
wiesen, in denen sich fast alle unsere Symptome annahernd wieder 
finden. Doch trat in diesen Fallen immer die cerebellare Stoning, be- 
sonders das Taumeln des Ganges, sehr friihzeitig und ausgiebig in den 
Vordergrund, auch bestand des Oefteren Nystagmus. 

Weiterhin ist hier noch jener seltenen und unklaren Krankheits- 
falle zu gedenken, die Westphal 5 ) als „Pseudosklerose w bezeichnet 
hat und deren weitere Kenntniss wir besonders Striimpell 6 ) ver- 
danken. Besonders mochte ich auf die auffallende Analogic unserer 
Falle mit der ersten Beobachtung Westphal’s aufmerksam machen: 
Beginn der Erkrankung im 14. Lebensjabre mit unbestimmten Sym- 
ptomen und Doppeltsehen, 6 Jahre spater fand sich deutlicher Schwach- 
sinn, unvollkommene, niiselnde, nicht gerade scandirende Sprache, 
Zittern des Kopfes, der Zunge, des Unterkiefers, der Mundmusculatur, 
lebhafte Reflexe, Zittern der Arme bei Bewegungen, Steifigkeit und 
Unsicherheit der Beine; dabei erhaltene Motilitat und Sensibilitat und 
Fehlen sonstiger Symptome — also eine fast absolute Uebereinstim- 
mung mit unserem Krankenbefund. Das Leiden war progressiv, die 
Sprache wurde immer unverstandlicher, 9 Jahre nach Beginn der Er¬ 
krankung Tod an Entkraftung. Die Autopsie ergab ausser einer auf- 
fallenden Derbheit der weissen Gehimsubstanz, namentlich in den 
hinteren Partien, nichts Abnormes. Fast* die gleichen Verhaltnisse 
bietet der zweite Fall Striimpell’s (1. c.), nur dass die Ataxie und Parese 
der unteren Extremitaten eine grossere ist; im Uebrigen besteht auch hier 
ein bestandiges Zucken und Zittern in alien Gesichtsmuskeln, beson¬ 
ders in den Orbiculares oculi und den Mundmuskeln, das beim Sprechen 
und Weinen noch verstarkt wird; ferner stockende, undeutliche Sprache, 
eine zitternde Unsicherheit der Arme u. s. w. 

Trotz dieser weitgehenden Uebereinstimmung scheint es mir nicht 
angangig, in unseren Fallen die Diagnose auf eine Pseudosklerose zu 


1) Virchow’s Archiv. 108. 2. 

2) Wiener med. Wochenschr. 1895. Nr. 19. 

3) Archiv f. pBych. XII. 3. Hft. 

4) Ebenda. Bd. VII. 

5) Ebenda. 1883. 

6) Deutsche Zeitschrift f. Nervenbeilk. XII, 2. u. XIV, 5. C. 

6 * 


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84 


in. Giese 


stellen. Zunachst ist ein familiares Auftreten der Erkrankung noch 
nicht beobach tet, wenn auch S t r ti m p e 11 (1. c.) sich fttr die hereditar-luetische 
Aetiologie, von der jedoch bei uns nichts nachweisbar ist, ausgesprochen 
hat. Sodann stimmt der ausserst langsam fortschreitende Charakter 
unserer Falle nicht mit den frtiheren Beobachtungen, wo der Verlauf 
zwischen 3 und 10 Jahren schwankte. Vor Allem aber ist das klinische 
Bild der Westphal’schen Sklerose ein noch viel zu wenig bestimmtes 
und abgegrenztes, als dass es moglich ware, diese Diagnose zu Leb- 
zeiten mit einiger Sicherheit zu stellen, wie denn auch die iibrigen 
bekannten Falle (2. Fall WestphaPs, 1. und 3. Fall StrtlmpelPs, 
Schultze's 1 ) nicht unerhebliche Abweichungen von unseren Krankeu 
aufweisen. Das Gleiche gilt von jenen seltenen Fallen, die man als 
diffuse Hirnsklerose bezeichnet hat, und in die das Krankheitsbild 
der Pseudosklerose wohl zum Theil iibergeht, wie dies schon von 
Striimpell vermuthet und durch die Untersuchungen Meine's 2 ), der 
die sonst nicht erkennbare Hirnsklerose nur an bestimmt behandelten 
Carminpraparaten nachweisen konnte, noch wahrscheinlicher gewor- 
den ist. 

Eine haufige Erkrankung des Centralnervensystems aber, der eben- 
falls eine, wenn auch wohl secundare diffuse Sklerose zu Grunde liegt, 
mflssen wir noch besonders hervorheben: ich meine die progressive 
Paralyse. Dass wir es freilich nicht mit dem typischen, gut abge- 
grenzten Krankheitsbilde dieses Namens zu thun haben, liegt auf der 
Hand; ich brauche nur an den ausserst chronischen Krankheitsverlauf, 
an das normale Verhalten der Pupillen, das Fehlen gewisser psychi- 
scher Veranderungen bei unseren Kranken zu erinnem. Immerhin 
zeigt sich in der Symptomatologie unserer Falle — der zunehmenden 
Demenz, dem eigenthtimlichen Zittern, besonders in der Mundmuscu- 
latur, und der freilich nicht ganz charakteristischen Sprachstorung, — eine 
so grosse Aehnlichkeit mit der progressiven Paralyse, dass man zum 
Mindesten die Moglichkeit analoger anatomischer Veranderungen zu- 
geben muss; und auch klinisch konnte man das Krankheitsbild, wenn 
man will, als eine ausserst langsam fortschreitende progres¬ 
sive Paralyse bezeichnen. 

Betreffs der Einzelheiten der anatomischen Grundlage unserer 
Falle werden wir tiberhaupt kaum fiber Vermuthungen hinauskommen. 
Dass die Grosshimrinde in irgend einer Weise afficirt ist, kann aller- 
dings bei der starken Betheiligung der Psyche als sicher angenommen 
werden. Auch erscheint eine Betheiligung des Kleinhims wegen der 


1) Lehrbuch d. Nervenkrankh. S. 285. 

2) Deutsche Zeitschr. f. Nervenh. XII, 5. u. 6. Hft. 


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Ueber eine neue Form hereditaren Nervenleiuclio. 


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leichten cerebellaren Ataxie wahrscheinlich. Andererseits lasst sich 
eine erheblichere Erkrankung der grauen Vordersaulen bei dem Fehlen 
motorischer Ausfallserscheinungen mit Bestimmtheit in Abrede stellen, 
wahrend eine Pyramidenstrang-Erkrankung als nicht unwahrscheinlich 
anzuseben ist Die moisten Krankheitssymptome aber sind kaum auf 
bestimmt localisirte Veranderungen zurfickzufQhren. Nicht einmal far 
die Sprachstorung lasst sich angeben, ob sie cerebral oder durch einen 
Process in der Kerngegend bedingt ist; und welche Theile des cen- 
tralen Nervensystems far das Zustandekommen des Tremors, der Coor- 
dinationsstorungen und nun gar erst der Steigerung der mechanischen 
Muskelerregbarkeit anzuschuldigen sind, darttber sind die Meinungen 
bekanntlich sehr getheilt Ob nun weiterhin eine einfache Hypoplasie 
einzelner Theile oder des Ganzen, wie im Falle Nonne, vorliegt, ob 
ein Schwund der nervosen Elemente mit entsprechender starkerer Skle- 
rosirung etwa in fleckenweiser Ausdehnung anzunehmen ist, oder ob 
yielleicht nur bestimmte Fasersysteme erkrankt sind, darttber glaube 
ich ebensowenig eine Entscheidung treffen zu konnen, wie mir die 
klinische Einreihung der Falle unter die feststehenden Krankheitsformen 
nicht angangig erscheini 

Suchen wir nun schliesslich uns noch einen Begriff liber die atio- 
logische Seite, liber das eigentliche Wesen unserer Krankheit, zu 
bilden, so tappen wir hier erst recht vollig im Dunkeln! Weder lasst 
sich irgend ein hereditares Moment eruiren, noch kann man ektogene 
Einflftsse far die Entwicklung des Leidens verantwortlich machen. Die 
schon in der Kindheit bestehende psychische Degeneration beweist, 
dass wir es mit einer congenitalen Anlage zu thun haben, aus der 
heraus sich dann in den Pubertatsjahren die fortschreitende nervose 
Entartung entwickelte. Worin aber jene erbliche Disposition besteht, 
wodurch weiterhin die Entwicklung und die Progression des Leidens 
bedingt wird und warum von 9 unter den gleichen Verhaltnissen auf- 
gewachsenen Geschwistern gerade diese 2, die noch dazu durch meh- 
rere gesunde getrennt sind, befallen werden — auf diese Fragen mlissen 
wir beim heutigen Stande unserer Kenntnisse die Antwort schuldig 
bleiben. 

Meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Schultze, spreche ich 
fttr die glitige Ueberlassung des interessanten Krankheitsfalles und die 
freundliche Durchsicht dieser Arbeit auch an dieser Stelle meinen auf- 
richtigsten Dank aus. 


Nach Beendigung dieser Arbeit erschien in der Revue neuroL 
(15. Jan. 1900) eine Veroffentlichung von Trenel, die ein ahnliches 


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III. GIES£, Ueber eine neue Form hereditaren Nervenleidens. 


Krankheitsbild wie das unsrige zum Gegenstand bat. Bei 2 Schwestern 
(50 und 52 Jahre alt), die von blutsverwandten Eltem abstammen und 
in der Kindheit an Krampfen gelitten haben, besteht seit den Puber- 
tatsjahren zunehmende Demenz, Tremor der Arme und des Kopfes, 
langsamer Gang, Steigerung der Sebnenreflexe, trage Pupillenreaction; 
aucb zeigt die Sprache eine gewisse Monotonie und V T erlangsamung, 
und bei einer der Kranken bestand andauerndes fibrillares Zittem in 
einer Gesichtshalfte. Die Uebereinstimmung mit unserer Beobachtung 
ist also eine recht grosse, nur tritt die psychische Storung weit mehr 
in den Vordergrund’: die „demence apathique 44 beider Kranken wird 
in unregelmassigen Intervallen von hochgradigen Erregungszustanden 
unterbrochen; bei der jiingeren Scbwester kommen auch epileptiform© 
Anfalle vor. Trenel legt auch das Hauptgewicht auf die psychischen 
Stbrungen und betont ihre grosse Seltenheit als Complication der 
„spastischen Paralyse 44 , die hier nach seiner Ansicbt in einer forme 
fruste vorliegt. Er sieht in diesen Beobachtungen ein Bindeglied zwi- 
schen den Formen von familiarem Schwachsinn und familiarer spasti- 
scher Lahmung. Unseres Erachtens tritt in diesen Fallen die Aehn- 
lichkeit mit der progressiven Paralyse, besonders auch was die psy- 
chhschen Anomalien angeht, nocb weit mehr als bei unseren Kranken 
in den Vordergrund. 


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IV. 

Ueber infantile famili&re spastische Spinalparalyse. 

Von 

Prof. R. v. Krafft-Ebing. 

Die folgenden Mittheilungen sollen dazu dienen, weitere klinische 
Beobachtungen eines Krankheitsbildes, dessen Bedeutung als eines 
spinalen oder cerebralen noch sehr umstritten ist, in strong objectiver 
Darstellung zu liefern und fiber den Verlauf frtiher mitgetheilter Be¬ 
obachtungen (Wiener klin. Wochenschrift. 1892. Nr. 47), die trotz 
aphoristischer Darstellung wissenschaftliche Beachtung fanden, zu 
berichten. 

Sie reihen sich an die in dieser Zeitschrift mitgetheilten Arbeiten 
von Erb (VI. S. 137), Hochhaus (IX. S. 291) und von Higier (IX, 
H. 1 und 2) einfech an. 

Da das Vorkommen einer spinalen spastischen Paralyse im Sinne 
Erb's und Charcot’s bei Kindern noch durch keine Nekropsie er- 
wiesen ist, da eine solche bei einer an und f&r sich nicht zum Tode 
f&hrenden Krankheit und bei jugendlichen Individuen nur von einem 
Zufall erwartet werden kann, bleibt keine Moglichkeit, in der Aus- 
tragung dieser Streitfrage weiter zu gelangen, als indem man die klinisch 
sich bietenden Falle moglichst genau aufzeichnet, in derErwartung, dass, 
mit ihrer Haufung, Besonderheiten im klinischen Befund und Verlauf 
sich ergeben diirften, welche das Krankheitsbild als ein eigenartiges 
und von ahnlichen Bildem sicher cerebraler Bedeutung unterscheid- 
hares erscheinen lassen. Ein solcher Versuch scheint mir noch etwas 
verfr&ht, weshalb ich mich auf die blosse Mittheilung von an Erb’s, 
Newmark’s, Hochhaus* u. A. Beobachtungen eng sich anschliessen- 
den Fallen beschranke. 

Von dem Bild einer spinalen infantilen spastischen Paralyse waren 
jedenfalls alle diejenigen Falle auszuschliessen, bei welchen die Geburt 
schwierig oder verzogert war; ferner solche mit Zeichen eines friiheren 
Hirnleidens, wobei aber Strabismus oder auch Stottem, da sie nicht 
residuare Zeichen eines solohen zu sein brauchen, sondera auch zufal- 
lige Complicationen darstellen konnen, nicht unbedingter Ausschliessungs- 
grund sein mtissten. Nahestehenden spinalen Krankheitsbildern gegen- 
Uber, mit complicirenden Erscheinungen als Hinweisen auf Degeneration 


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IV. Krafft-Ebing 


noch anderer Gebiete, als die der Seitenstrange, ware die Forderung 
des Nichtvorhandenseins von Blasen- und Sensibilitatsstorungen, sowie 
von Muskelatrophien im Krankheitsbilde festzuhalten. 

Familie K . . . 

Die 3 Kinder, deren Krankheitsgeschichten im Folgenden mitgetheilt 
werden, stammen ans nnbelasteter Familie. Deren Eltem raachen korper- 
lich und geistig einen dnrchans normalen Eindmck. Sie sind nicht bints- 
verwandt. Sie zengten 7 Kinder. Syphilis lftsst sich sicher ausschliessen, 

1. Jacob K., gestorben mitl6*/ 2 Monaten an Diphtheritis. Qatte sich 
bis dahin normal entwickelt. 

2. Heinrich (Fall I), 12 Jahre alt. 

3. Jgnaz, jetzt 10 Jahre alt. Gesund. 

4. Wilhelm, gestorben mit 2 Jahren an Pnenmonie. Hatte keine 
Gangstbrung gehabt. 

5. Alexander, jetzt 8 Jahre (Fall II). 

6. Hans, jetzt 4 Jahre (Fall in). 

7. Anna, jetzt 18 Monate alt. Normale Entwicklung. 

Die Graviditaten and Geburten sind bei s&mmtlichen Kindem normal 
verlaufen. Sie kamen rechtzeitig und ohne Kunsthiilfe zur Welt. Keines 
derselben war asphyktisch gewesen. Ausser bei Heinrich, der mit 8 Tagen, 
angeblich durch eine heisses Bad, einen einmaligen Anfall von Convulsionen 
hatte, waren niemals cerebrale Insulte vorgekommen. Auch von Tranmen 
oder Krankheiten wfthrend der Schwangerschaft wusste die intelligente 
Mutter nichts zu berichten. 

Sftmmtliche Kinder, ausser 2 und 6, konnten schon mit Ende des 
ersten Lebensjahres laufen. 

Fall L 

Bei Heinrich fiel schon im 5. Monat nach der Geburt eine Unge- 
geschicklichkeit der Beine auf. Er begann erst mit 2 Jahren zu sitzen 
und zu gehen und zwar auffallend unbeholfen. Die Gehstorung hat sich 
im Laufe der Jahre zunehmend verschlechtert, besonders im letzten Jahre. 

Er konnte nie zur Schule kommen, lernte aber daheim und bewftltigte 
im 10. Jahre den Lehrstoff der 4. Volksschulklasse. 

Er machte mit 6 Jahren gleichzeitig mit seinem Bruder Alexander 
Diphtheritis durch. Seit dieser Zeit habe seine Gehstbrung sich besonders 
verschlimmert Er soil bis zum 7. Jahre geschielt haben. 

Der Stat. praes. vom 30. Sept. 1899 ergiebt einen dem Alter ent- 
sprechend korperlich entwickelten Jungen. Schadelbildung und Zahne deuten 
auf iiberstandene Rachitis. Der Umfang des Schadels betrftgt 520 mm. 
Die psychische Entwicklung ist eine dem Alter entsprechende. Der Befund 
seitens der Hiranerven ist ein negativer — keine Abblassung der Papillen, 
kem Nystagmus, keine Sprachstbrungen. Seitens der ob. Extr., ausser einer 
leichten Steigerung der tiefen Reflexe, nichts Abnormes. Die Wirbels&nle 
zeigt eine leichte Lordose im Lendentheil. Patient h&ngt mit dem Rumpf 
nach hinten iiber. In sitzender Position ist er in best&ndiger Gefahr nach 
rtickwarts zu sinken und vom Sessel herabzugleiten. Pat vermag nur ganz 
kurze Zeit breitbasig und mit aneinander gelehnten Knieen zu stolen. Er 
ermiidet dabei iiberaus rasch und droht nach riickwarts zu stiirzen. Aus 


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Ueber infantile familiars spastische Spinalparalyse. 


89 


liegender Position vermag er sich nothdiirftig frei anfznrichten. Ira Sitzen 
sind die Beine in stnmpfem Winkel gebeugt nnd aneinander gepresst, die 
Fnsse addncirt nnd volarflectirt. In Rohe zeigen sicb nnr die Wadenmnskeln 
nnd die Adductoren der Oberschenkel rigid. 

Bei passiver Bewegung nnd beim Gehact entsteht spastische Starre in 
den Hdft- and Kniegelenken. Bedentende Herabsetznng der groben Muskel- 
kraft zeigt sich in den.Streckern, Bengern nnd Abdnctoren des Hiiftgelenks, 
den Streckern des Kniegelenks and den Volarflexoren der Fnssgelenke. Ge- 
lfthmt sind die Dorsalflexoren. 

In den Hiift- nnd Kniegelenken ist die active Beweglichkeit theils dnrch 
Schwftche, theils dnrch Starre beschrhnkt. Minimal ist die F&higkeit Fuss 
nnd Zehen plantarw&rts zu bengen. Dorsalw&rts ist diese Leistnng un- 
mftglich. Die Wadenranscnlatnr erscheint danernd in einem Zustand mitt- 
lerer Contractor dnrch L&hmung der Antagonisten, mit leichter Eqninus- 
stellnng der Fiisse. 

Gehen ist nnr moglich mit Untersthtzung, bei nach riickwarts strebendem 
Rnrapf, sich vorschiebendem Becken, einknickenden Hiift- nnd Kniegelenken, 
die aneinander sich reiben, mit sich wblbenden Fhssen, einkrallenden Zehen 
nnd anf den inneren Fnssrand einstellenden Fhssen, die am Boden leicht 
schleifen. 

Das Volnmen der Muskeln der nnt. Extr. ist ein gates, bis anf Schm&ch- 
tigkeit der Wadenmnskeln. 

Die elektrische Prhfung mit dem faradischen nnd galvanischen Strome er- 
giebt bei Pat., gleich wie bei seinen Geschwistern, durchaus normals Reactionen. 

Vasomotorische Sthrungen bestehen nirgends. 

Die Patellarreflexe sind hochgradig gesteigert. Der Achillesreflex 
lhsst sich nicht hervorrufen. Die plantaren Reflexe sind vorhanden, aber 
dnrch die spastische Starre der oberen Gelenke nnd dnrch die L&hmung im 
Fnssgelenk von geringem Effect. 

Sensibilit&t, Blasen- nnd Mastdarmfunction sind tadellos. 

Fall IL 

Alexander, 8 Jahre alt, soli bis zum Ende des 2. Lebensjahres sich 
normal entwickeltjhaben nnd tadellos gegangen sein. Erst in der Recon- 
valescenz von Diphtheritis bemerkte seine Mutter eine allm&hlich uberhand- 
nehmende, sphter schnbweise sich verschlimmernde Gehstomng, die namentr 
lich seit 1898 zngenommen habe. 

Status praesens 24. September 1899. Dem Alter entsprechend ent- 
wickelt, ohne Spnren von Rachitis. Schftdelnmfang 515 mm. Vegetativ ohne 
Befnnd. 

Pat. scheint geistig etwas zurhckgeblieben, hat aber anstandslos den 
Lehrstofi der 1. Volksschulklasse bei hhuslichem Unterricht absolvirt Er 
ist weniger gespr&chig, als seine Geschwister. Die Sprache ist etwas 
8chwerfhllig, langsam, aber dnrchans nicht scandirend. Bei Erregung wird 
sie leicht stotternd. Dieses Stottern soil erst mit 7 Jahren, als Pat. seine 
Milchz&hne verlor, anfgetreten sei. Pat. zeigt nach Entfernnng von massen- 
haften adenoiden Vegetationen ans dem Nasenrachenraum eine bedentende 
Bessernng seiner Sprache. Es besteht bei ihm Strabismus convergens alter¬ 
nant Sonst absolnt keine Sthrnng im Hirnnervengebiet, speciell kein 
Nystagmus, keine Anomalien am Augenhintergrund. An den oberen Extremi- 


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IV. Krafft-Ebing 


t&ten l&sst sich, ausser einer geringfiigigen Steigerung der tiefen Reflexe. 
nichts Abnormes auffinden. 

Pat hat Miihe frei aufrecht zu sitzen. Er sitzt nach vorn iiberge- 
beugt und ist kaum im Stande sich aus der Riickenlage frei aufzurichten. 
Die Bauchdeckenreflexe sind rechts and links gleicb lebhaft entwickelt. 

Wirbels&ule ist ohne Deviation. In der Ruhe sind Ober- nnd Unter- 
schenkel in stumpfem Winkel gegeneinander gestellt, die Fusse in ausgebildeter 
Varoequinustellung, die grossen Zehen ofter in Hyperextensionsstellung. 

Bei activer Bewegung zeigt sich leicht herabgesetzte Muskelkraft in 
den Muskein der Hiiftgelenke, starkere Herabsetzung in den Streckem der 
Kniee nnd der 4 letzten Zehen. den Volarflexoren der Fussgelenke nnd den 
Bengern s&mmtlicher Zehen. Vollstandige Lahmung beiderseits im ganzen 
Peroneusgebiet. 

Bei passiver Bewegung findet sich Rigor in den Adductoren der Ober- 
schenkel, den Extensoren nnd Flexoren der Kniee. Die Varoequinnsstellnng 
der Fusse (Contractur) ist nicht ausgleichbar. 

Stehen nnd Geben ist nnr mit Unterstiitznng moglich. In beiden Fallen 
knickt Pat. in deh Kniegelenken ein. Diese werden aneinander gepresst. Die 
Gelenkbander sind insufficient an der Innenflache der Gelenke, so dass eine 
Andeutnng von X-Fuss entsteht Die Locomotion erfolgt wesentlich durch 
Verschieben des Beckens, wobei die Beine wie Stelzen fungiren nnd Pat. 
ausschliesslich auf der Spitze des Fusses auftritt. 

Die Mnsculatur der Unterschenkel zeigt eine geringe Abmagerung. 
Die Fusse sind leicht cyanotisch, die Patellarreflexe sind hoch gesteigert. 
Achilles- und Plantarreflex sind wegen Starrheit im Fnssgelenk nicht zu 
priifen. Sensibitliat, Blase nnd Mastdarm zeigen ganz intacte Function. 

Fall III. 

Han8, 4 Jahre, soil an Rachitis gelitten haben. Mit 2 Jahren erst 
begann er zu laufen. Man bemerkte schon damals eine Gehstorung, die sich 
seither immer verschlechterte. Geschielt hat das Kind von jeher. Auch die 
Sprache war von Anfang an erschwert, leicht lallend. 

Status praesens vom 24. September 1899: Dem Alter entsprechend 
entwickeltes, gut genfchrtes, lebhaftes, intelligentes Kind. Keine Spuren 
von Rachitismns. Schftdelumfang 500 mm. Sprache etwas schwerfftllig, in 
der Entwicklnng znriickgeblieben, leicht anstossend, aber sicher nicht scan- 
dirend, iiberhaupt nicht von pathologischem Gepr&ge. Strabismus convergens 
alternans. Im Uebrigen Hirnnerven ohne irgend welche Functionssttirnng. 

An den ob. Extr. sehr prompte tiefe Reflexe, sonst kein Befnnd. Hal- 
tung gut. Sitzen, Aufrichten aus der Riickenlage ungestbrt, Wirbel- 
s&ule ohne Deviation. Im Sitzen ist Pat. nnr auff&llig durch aneinander 
gepresste Beine, Varoequinustellung der Ffisse mit dorsalflectirten grossen 
Zehen. 

Die active Bewegung ist im Hiift- und Kniegelenk ungestbrt, in den 
Sprunggelenken fast aufgehoben, in den grossen Zehen sehr gering. Bei 
passiver Bewegung zeigt sich Rigor nur in den Adductoren. Die Sprung- 
gelenke sind fast unbeweglich durch Contractur der Volarflexoren. Die 
grobe Muskelkraft ist in den Streckem und Beugern der Hiift- und Knie- 
gelenke herabgesetzt. 

Beim Versuch allein za stehen, filllt Pat. nach riickw&rts. 


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Ueber infantile familiare spastische Spinalparaiyse. 


91 


Auch das Gehen ist nur mit Untersttttzung moglich. Der Gang ist 
nicht spastisch, insofern Hiift- und Kniegelenke frei beweglich sich. Da 
aber die Strecker dieser Gelenke insufficient sind, erfolgt sofortiges Ein- 
knicken, wenn die KOrperlast auf ihnen rnhen soli. An Spasmus (der Adduc- 
toren) erinnert nur die Neigung zum Ueberkreuzen der Beine. Die Fiisse 
werden gut gehoben, aber Pat. setzt nur die Spitzen derselben auf und ge- 
rilth dabei auf den ftusseren Fussrand. Der Patellarreflex ist sehr gesteigert. 
Der Achillesreflex ist bei der Contractor im betr. Muskelgebiet nicht aus- 
1 os bar. Der Plantarreflex ist erhalten. Trophische und vasoniotorische 
Stdrungen bestehen nicht. Sensibilitfit normal, desgleichen Function von 
Blase und Rectum. 


Epikrise. 

1. In den vorstehenden 3 Fallen handelt es sich sicher um ein 
familiares Leiden, das bei I und III sich schon in den ersten Lebens- 
monaten, bei II erst nach einer Infectionskrankheit (Diphtheritis) ent- 
wickelte und einen progressiven Verlauf aufweist. 

2. Alle atiologischen Bedingungen ftir eine cerebrale Erkrankung 
im Sinne einer sogenannten Little’schen Lahmung fehlen, desgleichen 
die Merkmale der Mitbetheiligung der ob. Extr., des halbseitigen Ueber- 
wiegens der Functionsstorungen der Motilitat, sowie der Stabilitat Oder 
der Besserung der Symptome. 

3. Ausser den Zeichen einer spastischen Spinalparaiyse finden sich 
gewisse cerebrale Functionsstorungen, die, als zum Bild einer spinalen 
Erkrankung nicht gehorig, vorweg eine Besprechung und Deutung 
verlangen. 

Es sind dies geistige Minderwerthigkeit, Strabismus und Storungen 
der Sprache in Fall II und III. 

Die geistige Insufficient erscheint aber nicht als stabile oder 
gar progressive, sondern als verspatete Entwicklung bei allerdings 
nichts weniger als glanzender Veranlagung und wird bei vielen schwach 
veranlagten, besonders bei rachitisch gewesenen Kindern sehr haufig 
gefunden, ohne eine Beziehung auf eine grobe organische Grundlage 
zu gestatten. 

Der Strabismus, welcher bei I bis zum 7. Jahre bestand, bei 
II und III bisher andauert, wird von einer Autoritat (Doc. Bern- 
heimer) als fttr die Frage, ob es sich hier um eine spinale oder cere¬ 
brale Erkrankung handelt, ganz irrelevant bezeichnet und auf vor- 
handenen Astigmatismus und Hypermetropie zuriickgefQhrt. Bemerkt 
muss werden, dass der Augenhintergrund keine pathologischen Ver- 
anderungen aufwies. 

Die Stbrung der Sprache ist eine durch verlangsamte und un- 
geschickte Innervation bedingte, wie sie bei langsam sich entwickelnden 
und weniger gfinstig veranlagten Kindern ganz gewohnlich ist. 


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92 


IV. Krafft-Ebing 


Beschaftigt man sich eingehend mit den betreffenden Kind era, 
lasst man sie dieselben Worte ofters wiederholen, so bessert sich die 
Aussprache. Jedenfalls ist die Sprachstorung regressiv, besserungsfahig, 
was sich besonders bei II aus dem sofortigen Erfolg der Entfernnng 
von adenoiden Vegetationen im Nasenrachenraum zeigte. Eine orga- 
nische, etwa nucleare, bulbare Sprachstorung lasst sich hier bestimmt 
nicht annehmen. Ueberhaupt yollziehen sich alle bulbaren Functionen 
tadellos. 

4. Die sonstigen Functionsstorungen sind ausschliesslich auf eine 
Erkrankung der Pyramidenbahnen beziehbar. 

Sie bestehen theils in Spasmen, theils in Lahmungen der Muscu- 
latur der unt Extr., wobei distal die Lahmungen, proximal die Spasmen 
tiberwiegen. Die 3 Falle weisen nur dem Alter der Erkrankung ent- 
sprechende Intensitatsunterschiede auf. 

Speciell findet sich an Fuss- und Zehengelenken Lahmung der 
Peroneusmusculatur mit antagonistischer Contractur und Entwicklung 
von Pes equinus. An den Knie- und Fussgelenken constatirt man der 
Dauer und dem Grad des Leidens entsprechende Spasmen und Paresen, 
bis zum Verlust der Fahigkeiten des Stehens und Gehens. 

5. Es ergiebt sich daraus die Berechtigung, eine langsam fortschrei- 
tende Degeneration in spinalen Abschnitten der Pyramidenbahnen 
anzunehmen, und die Vermuthung, dass diese von Geburt aus minder- 
werthig veranlagt und gegen Schadlichkeiten (Toxine, functionelle In- 
anspruchnahme) nicht genug widerstandsfahig waren. Die Moglichkeit, 
dass diese Bahnen schon in hoheren Abschnitten oder gar in corticalen 
Centren auf Grund von Entwicklungshemraungen solcher, als distale 
Abschnitte der gesammten corticomuscularen Bahn schwach veranlagt 
waren, kann nicht absolut ausgeschlossen werden, immerhin ware es 
dann sonderbar, dass bios die Fuss- und nicht auch die Armbahn 
betroffen ware. Auch der Umstand, dass es sich in keinem der Falle 
um Frtthgeburt handelte, ware in Betracht zu ziehen. 

Zu denken ware endlich noch an spastische Paralyse durch Druck- 
wirkung eines Hydrocephalus chronicus internus. 

Zeichen eines solchen bieten aber unsere Falle nicht. Wir ver- 
missen den blasigen Schadel mit 600 mm Circumferenz und drhber, 
die Veranderungen am Augenhintergrund im Sinne von Atrophia n. 
optic, oder Stauungspapille, die schwere Schadigung der Intelligenz, die 
Mitbetheiligung der ob. Extr. an der spastischen Paraplegie der unt Extr., 
wenn auch nur in Form von Ataxie, die haufigen Convulsionen, die 
allgemeinen Dystrophien, wie sie die spastische Paralyse durch Hydro¬ 
cephalus zu bieten pflegt 


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Ueber infantile familiare spastische Spinalparalyse. 


93 


Die folgende, aus einer Reihe solcher Falle ausgewahlte Beobach- 
tung moge den klinischen Unterschied von den vorausgehenden 
klarstellen. 

Beob. Spastische Spinalparalyse durch Hydrocephalus chronicus. 

W., 17 Jahre, Sohn eines Bahnwkrters, aufgenommen am 6 . Nov. 1894 
in meiner Klinik, stammt von gesunden Eltern. Graviditat der Matter and 
Gebnrt des Kindes verliefen normal. 2 Geschwister sind voUkommen ge- 
sund. 1m 10. Lebensmonat begann bei W. ohne bekannte Ursache and 
ohne Beschwerde eine fortschreitende Volumzanahme des Kopfes. Pat. 
fing mit 6 V 3 Jahren an die Schule zu besuchen. Er fasste ziemlich gut 
auf, ermiidete geistig rasch und bekam beim Lernen gleich Kopfweh. 

Vom 10. Jahre ab erfolgte Stillstand in der geistigen Entwicklung und 
bei jedem Versuch, zu lernen, so heftiger Kopfschmerz, dass Pat. nicht in 
der Schule bleiben konnte. Um die gleiche Zeit (1887) erfolgte rasche 
Ermftdung der U.-E. beim Stehen und Gehen. Pat. wurde muskelschwach 
and starr in den U.-E. 

Pat. erschien im Stat. praesens mittelgross, krftftig, ziemlich gut ge- 
nahrt. Schadel kugelig aufgetrieben. Umfang 630 mm. Psyche u. Gehirn- 
nervenfunction bis auf erheblichen Schwachsinn ungesttfrt. 

O.-E. ausser leichter Steigerung der tiefen Reflexe, herabgesetzter 
Leistnng in einzelnen Schultermuskeln und leichter Ataxie ohne Befund. 
Speciell keine Spasmen. 

U.-E. Rigiditat und motorische Schwache in einzelnen Hiiftgelenksmuskeln. 

Rigor bei passiven Bewegungen in alien Gelenken. Klassisch paretisch- 
spastischer Gang mit scharrenden Fiissen. Keine Difformitat in den Ge¬ 
lenken. Patellar- und Fussclonus, Sensibilitat intact. Blasen- a. Mast- 
darmfunction ungestort. 


Familie R . . . . 

Die vorausgehenden Falle Heinrich, Alexander, Hans K. erinnern an 
3 in der Sitzung vom 18. Nov. 1892 d. k. k. Gesellschaft der Aerzte in 
Wien 1 ) von mir vorgestellte, einer Familie R. angehSrige Kinder, die ich 
als Typen familiarer spastischer Spinalparalyse bezeichnet hatte. Die Matter 
dieser Kinder, aus unbelasteter Familie, hatte in erster Ehe 2 Sflhne ge¬ 
boren, die gesund blieben. In zweiter Ehe mit einem unbelasteten, nicht 
blutsverwandten Manne hatte sie noch zehnmal ohne Kunsthiilfe geboren. 
Anch in der Graviditat batten sich weder Traumen noch schwere Krank- 
heiten ereignet Von diesen 10 Geburten waren gewesen: 

1 . Knabe. Achtmonatkind. Vom 5.—11. Jahr AnfUlle von nachtlichem 
Aufschrecken. Seithef gesund. 

2. Abortus im 3. Monat. 

3. Hermann, rechtzeitig geboren. Spastische Gliederstarre. 

4. Madcben, ausgetragen. Mit 4 Wochen an Pneumonie nnter Convul- 
sionen gestorben. 

5. Knabe, ausgetragen. Mit 5 Monaten bfter Anfaile von Laryngo- 
spasmus, spater gesund. 


1 ) Wiener klin. Wochenschr. 1892. Nr. 47. S. 681. 


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94 


IV. Krafft-Ebing 


6. Hermine, ausgetragen. Lernte mit 15 Monaten gehen. Normal© 
Entwicklung bis zura 5. Jahr. Damals Morbilli. Im Anschluss Entwick- 
lung spastischer Gliederstarre. 

7. Knabe, ausgetragen, gesund. 

8. Knabe, ausgetragen. Morbilli, Pneumonie, ohne Folgeerscheinungen. 

9. Rudolf, Siebenmonatkind. Seitdem 3. Jahr spastische Gliederstarre. 

Ich hatte Gelegenheit die 3 kranken Geschwister 6 Jahre nach ihrer 

erstmaligen Demonstration neuerlich eingehend zu beobachten. Da sie 
Gegenstand wissenschaftlichen Interesses waren und der Verlauf des Leidens 
nicht unwichtig fur die Beurtheilung der Krankheitsfaile ist, komme ich 
auf sie zuriick, indem ich, den Stat. praesens von 1892 kurz recapitulirend, 
den von Ende Mai 1899 mittheile. 

I. Hermine, 17 Jahre alt. Ungestbrte Graviditat der Mutter, recht- 
zeitig und ohne Kunsthulfe geboren. Normale Entwicklung. Vermochte an- 
standslos mit 15 Monaten zu gehen. 

Im Anschluss an Morbilli mit 5 Jahren zunehmende „Schw&che der 
U.-E., haufiges Fallen*". Zunehmende Steitigkeit der Beine, besonders links. 

Im Status 1892: Sch&del leiclit rachitisch, Umfang 530 mm, Korper- 
lange 137 cm. 

Andeutung von Nystagmus bei extremer Einstellung der Bulbi. Sonst 
keine Stbrung seitens der Hirnnerven. Geistige Entwicklung bei dem 
12jahrigen M&dchen gut. O.-E. ausser leicht auslosbaren tiefen Reflexen, 
ohne Befund. 

Stehen etwas breitbeinig, in den Knieen leicht einsinkend. 

Gang sicher, aber behindert durch wesentlich spastische Erscheinungen 
in Knie- und Fussgelenken. Hiiftgelenke frei von Spasmus. Passiv nur im 
1. Kniegelenk etwas Rigor. 

Gang im Ganzen gehemmt, schlappend, spastisch, mit den Fussohlen 
anstreifend. Neigung zum Ueberkreuzen der Fiisse. Grobe Muskelkraft 
ein wenig herabgesetzt. 

Patellarreflexe bedeutend erhoht. Die Bewegungsstorungen in der 1. U.-E. 
etwas mehr vorgeschritten als rechts. 

Sensibilitat normal. Blase, Rectum intact. 

Status vom 25. Mai 1899: Kraftig gebaute, gut entwickelte Persbn- 
lichkeit. Vegetative Functionen normal, Menses regelmassig, ohne Be- 
schwerden. Ausser leichtem Strabismus convergens alternans und Spur von 
Nystagmus bei extremer seitlicher Einstellung der Bulbi an den Hirnnerven 
keine Abnormitat. Intelligenz sehr gut entwickelt. Hat nie Convulsionen 
oder epilepsieverdachtige Erscheinungen geboten. O.-E. ohne alle Abnor¬ 
mitat (Reflex© nicht in ihrem Bereich gesteigert). Bauchdeckenreflexe nor¬ 
mal. Wirbelsaule ohne Deviation. Voiles Wohlbefinden bis auf Bewegungs- 
storungen an den U.-E. Muskelkraft trotz gutem Volumen etwas herab¬ 
gesetzt, besonders in den Beugern des Hiift-, des Kniegelenks und den 
Dorsalflexoren des Sprunggelenks. Leichte Rigiditat bei passiven Be- 
wegungen in den Fussgelenken, Kniestreckern und in der Wadenrousculatur. 
Im Stehen Hiift- und Kniegelenke leicht gebeugt und Kniee aneinander 
gepresst. 

Gang spastisch-paretisch, mit Verschiebuug des Beckens und anstrei- 
fenden Fusssohlen, aneinander reibenden Knieen, gebeugten Hiift- und Knie- 
gelenken. Beiderseits Patellar- und Fussclonus. Keine trophischen, keine 


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TJeber infantile familiare spastische Spinalparalyse. 


95 


vasomotorischen Stbrungen. Normal© elektrische Reactionen. Sensibilitat 
in alien Qualitaten intact. Blase, Rectum ungestort. 

Der Befund in den letzten Jahren ist somit sehr langsame Progression 
der spastiscben und paretischen Erscheinungen an den Unt.-Extr. proximal- 
warts, mit erheblicher Steigerung der tiefen Reflexe (Fussclonus!). 

II. Rudolf. 12 Jahre. Siebenmonatkind. Bald nach der Geburt Ohren- 
fluss, nie Convulsionen. Lernte mit 18 Monaten geben, ging normal. Be- 
gann mit 3 Jahren ohne vorherige Krankheit die Beine zu schleppen und 
zu schleifen. Pat. im Stat. von 1892 dem Alter entsprechend entwickelt, 
korperlich und geistig. Schadelumfang 530 mm. Hirnnerven functioniren 
normal. An den oberen Extremitaten keine Anomalien. Beim Stehen nur 
breitbeinige Stellung und leichte Unsickerheit. Gang schwerf&llig, breit- 
spnrig, schleppend. Mangelhafte Abhebung der Fiisse vom Boden. Muskel- 
volum und grobe Muskelkraft nicht geschadigt. Beim Liegen keine Stbrung 
im Bewegungsumfang beider U.-E. Patellarreflex erheblich gesteigert. Rein 
Fussclonus. Sensibilitat, Blasen-, Mastdarmfunction intact. 

Status vom 23. Mai 1899. Voiles Wohlbefinden, gute geistige und 
korperliche Entwicklung. Genitalien noch infan til. 

Spuren von Rachitis an Schadel, Zalinen, Schienbeinen. Schadelum- 
fang 545 mm. Leichter Grad von Strabismus divergens altern. An Cere- 
bralnerven sonst keine Abnormitat, ebensowenig an Rumpf und oberen 
Extremitaten. Bauchhautreflex prompt. Pat. kann sich frei aus horizontaler 
Lag© aufrichten. Muskeln der Unterextremitaten etwas schmachtig, aber 
nirgends localisirte Atrophie. Grobe Muskelkraft in alien Gelenken herab- 
gesetzt, besonders aber in Hiiftbeugern, Xniebeugern und Dorsal- und Volar- 
llexoren der Sprunggelenke. Die Kniee etwas schlotterig und nach riickwarts 
iiberstreckbar. Die Fiisse plantarflectirt, die Fusswolbung verschwunden. 
Rigor in Hiift- und Kniegelenken, Fussgelenke davon frei. Stehen mit 
leicht gebeugten Hiift- und Kniegelenken, stark geneigtem Becken, ge- 
kriimmtem Riicken. Die Fersen erreicben nicht den Boden. Gang un- 
beholfen, steif, mit eingesunkenen Knieen, leichter Equinusstellung, an- 
streifenden Vorderfussen und sich vorschiebendem Becken. Elektrische 
Reaction normal. Tiefe Reflexe bis zu Clonus gesteigert. Plantarreflex 
erhalten. Sensibilitat und Function der Sphincteren ungestort. 

Auch in diesem Falle langsame Progression der auf die Unt.-Extr. 
beschrankten Erscheinungen im Sinne spastischer Parese. 

III. Hermann, 21 Jahre. Spatgeburt. Fiel schon in dem ersten 
Lebensjahre dadurch auf, dass er die Beine iibergeschlagen hielt. Mit 
15 Monaten Morbilli und Pneumonie. Seither schwachlich, in der Ent¬ 
wicklung zurflckgeblieben. Rutschte bis zum 5. Jahre auf dem Boden mit 
gestreckten Knieen. Lernte erst mit 5 Jahren stehen und gehen. Er war 
schwach auf den Fiissen, fiel oft um, war aber sonst nicht auffallig beim 
Gehen. Vom 6. Jahre ab zunehmende Schwache der Unt.-Extr. und be- 
ginnende Versteifung derselben, so dass er vom 10. Jahre ab sich an den 
Spielen der anderen Kinder nicht mehr betheiligen konnte. 

Status vom 28. Juni 1892. Die Gehstorung soil seit 5 Jahren nicht 
mehr zugenommen haben. Pat. 15 Jahre alt, kflrperlich und geistig gut 
entwickelt. Schadelumfang 540 mm. Spuren von Rachitis. Zunge weicht 
beim Vorstrecken nach rechts ab. Bei extremer Augenstellung seitwarts 
oder nach oben leichter Nystagmus. Bei aufrechtem Stehen arcukre Kyphose 


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96 


IV. Krafft-Ebing 


der Brust- und Lendenwirbels&ule. Ueberdies leichte Dextroskoliose. Kniee 
leicht gebeugt. Pat. kann sich ohne Unterstutzung aufsetzen. Functionen 
der Ob.-Extr. tadellos. Tricepsreflex gesteigert. 

An U.-E. die Musculatur gut entwickelt bis auf die der Waden. Grobe 
Muskelkraft entsprechend. Nirgends Lahmung, aber Bewegungen im Htift- 
und Sprunggelenk auffallend langsam und von geringer Excursion. Im 
Kniegelenk ist voile Streckung nicht moglich. In diesem, sowie im Hiift- 
gelenk erheblicher, die passive Bewegung sehr behindemder Bigor. Fuss- 
gelenke davon frei. Gang spastisch-paretisch, unbeholfen, schiebend, bei 
leicht gebeugten und starren Hiift- und Kniegelenken, mangelhaft vom Boden 
abgehobenen Fiissen. Dabei best&ndige Neigung der Beine kreuzweise sich 
iibereinander zu schieben. Patellar- und Fussclonus. Intacte Sensibilit&t 
Ungestdrte Blasen- und Mastdarmfunction. 

Status vom 23. Mai 1899. Pat. blieb inzwischen von Krankheiten 
verschont, ist gut gewachsen, intelligent. Spuren von Rachitis. Sch&del- 
umfang 550 mm. Leichter Strabismus converg. alternans. Nystagmus wie 
friiher. Zunge ein wenig nach rechts abweichend. Sonst nichts Abnormes 
im Gebiet der Hirnnerven, ebensowenig an den O.-E., ausser einer Druck- 
atrophie an Muskeln des rechten Daumenballens durch den Griff eines Stockes, 
auf den sich Pat. beim Gehen stutzt. 

Kyphose unver&ndert. Aufrichten aus horizontaler Position nur mehr 
mit Unterstutzung mbglich. Unt.-Extr.: geschweifte Tibiae, leichter Grad von 
Pes planus. Musculatur von geringem Volum, aber nirgends locale Atrophie. 
In alien Muskeln der Hiift- und Kniegelenke starker, passive Bewegung 
sehr erschwerender Rigor, von welchem nur die der Fuss- und Zehengelenke 
frei sind. 

Am st&rksten ist der Rigor in den Adductoren. Die Kniee sind selbst 
in Ruhelage fest aneinander gepresst. In alien Muskeln erhebliche Herab- 
setzung der groben Kraft, besonders aber in denen der Sprunggelenke. Die 
Muskeln der grossen Gelenke ftihlen sich derb an und bei gestreckter Stellung 
sind sie geradezu starr. 

Im Fussgelenk bestehen beiderseits trophische Storungen (Verdickungen) 
und bemerkt man Knarren bei passiver Bewegung. 

Der Gang ist miihsam durch Rigor und Schw&che, mit leicht gebeugten 
und starren Hiiftgelenken und Neigung zum Ueberkreuzen der aneinander ge- 
pressten Kniee. 

Er erfolgt wesentlich durch Vorschiebung des Beckens, wobei die Fusse 
nor als Stelzen dienen. Die Fusssoblen streifen am Boden. Es besteht 
Patellar- nnd Fussclonus. Bauchhaut-, Cremaster- und Plantarreflex normal. 
Elektrische Reaction ohne Abweichung von der Norm. Sensibilit&t, Blase, 
Rectum ohne Stoning. 

Die Progression der spastischen Parese in den letzten 6 Jahren ist 
eine deutliche. 

Die Deutung dieser 3 F&lle bei ihrer Demonstration 1892, im Sinne 
einer Erkrankung des spinalen Abschnittes der Pyramidenbahnen, mttglicher- 
weise ausgehend von einer dorsolumbaren Bildungshemmung, stiess auf Wider- 
spruch (Prof. Ober Steiner), indem diese F&lle der Little'schen Lahmung 
zugesprochen wurden, obwohl vom Vortragenden der Mangel atiologischer 
Momente, das Freibleiben der O.-E., die gleich intensive Erkrankung 
rechts und links, das Fehlen von Symptomen in der ersten Zeit nach der 


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Ueber infantile f&miliare spastische Spinalparalyse. 


97 


Geburt, der progressive, nicht station&re oder regressive Charakter des 
Leidens, die urspriingliche Beschrankung desselben auf Spasmen, bei Fehlen 
von L&hmungserscheinungen gel tend gemacht wnrde. Anch Freud in seinem 
trefflichenBuche(„Die infantile Cerebraliahnmng.“ 1897. S. 259) glanbte diese 
F&Ue als zur Little’schen Krankheit gehorig und somit cerebralen Ur- 
sprungs denten zu miissen, w&hrend Souqnes, Erb, Hochhaus sie fur 
solche spinaler Localisation erkl&rten. Dem Wunsche Erb’s (Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilknnde. Bd. VI. S. 149) nach Publication weiterer der- 
artiger Falle entspreche ich durch folgende nach meiner Meinnng ins Ge- 
biet der familiaren spastischen Spinalparalyse gehorige Beobachtung. 

Beob.... H. L., 9 Jahre alt, mos., normal geboren, aus Galizien, wurde 
am 6. October 1892 auf meiner Klinik aufgenommen. Die Mutter soli 
neuropathisch sein und viel an Cephalaea leiden. Pat. hat 5 Briider und 
1 Schwester. Ein alterer Bruder soli etwa im 5. Lebensjahr in gleicher 
Weise erkrankt sein wie unser Pat. und neuerlick nicht melir gehen kbnnen. 
Pat. versichert, friiher gesund und ebenso gehfahig gewesen zu sein, wie 
die 5 gesund gebliebenen Geschwister. Ohne erkennbare Ursache sei sein 
Gang vor 2 Jahren ungeschickt, schwach, schwerfailig geworden und seither 
sei er immer schlechter gegangen. Schmerzen, Blasen- oder Mastdarm- 
stbrungen habe er nie gehabt. 

Im Status praesens erscheint Pat. seinem Alter entspreckend entwickelt. 
Der Sch&del ist rachitisch-hydrocephal, Umfang 52,7 cm. 

Im Gebiet der Hirnnerven ist keine Functionsstorung nachweisbar. 
Die Intelligenz lasst nichts zu wiinschen iibrig. 

An irgend welchen cerebralen Insulten, Convulsionen und dergl. soli 
Pat. nie gelitten haben. In den Ob.-Extr. l&sst sich ausser einer Steigerung 
der tiefen Reflexe nichts Abnormes constatiren. 

Pat. ist skoliotisch, seine Haltung leicht vorniiber geneigt, das Abdomen 
stark vorgewblbt. Beiderseits Genu recurvatum m&ssigen Grades. 

Freies Stehen, selbst bei breiter Basis, fallt schwer. Romberg negativ. 

Die Unt.-Extr. sind trophisch intact. Der Gang ist unbeholfen, steif, 
mit leicht gebeugtem Hiift- und Kniegelenk. Fuss- und Kniegelenk werden 
dabei steif gehalten und die Vorwartsbewegung gelingt wesentlich nur durch 
Vorschiebung des Beckens. 

Die Fiisse konnen vom Boden nicht abgehoben werden. 

Auch in horizontaler Position ist die active Bewegung durch Steifig- 
keit sehr behindert und in Folge herabgesetzter grober Muskelkraft bald 
vereagend. Bei passiver Bewegung ist kaum Rigidit&t zu bemerken. Die 
Selbstaufrichtung aus horizontaler Lage ohne Zuhiilfenahme der Arme ist 
nicht moglich. 

Die tiefen Reflexe sind sehr gesteigert, ab und zu l&sst sich Fussclonus 
erzielen. 

SensibilitSlt, Blasen- und Mastdarmfunetion intact. 

Pat. verweilte nur wenige Tage auf der Klinik. 

Irgend welche Hinweise auf eine secund&re Bedeutung der spastischen 
Spinalparalyse liessen sich nicht auffinden. 

Bezflglich der Aetiologie der Falle von familiarer spastischer 
Spinalparalyse scheint es mir nicht ohne Werth, auf die Bedeutung 
etwaiger Blutsverwandtschaft der Erzeuger zu verweisen, auf die schon 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilknnde. XVII. Bd. 7 


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98 IV. Krafft-Ebing, Ueber infantile famili&re spastische Spinal paralyse. 

Seeligmtiller (Jahrb. f. Kinderheilkde. 1879. S. 228) bei hereditaren 
und familiaren Formen von Paralyse, spater auch Feer (Jahrb. f. 
Kinderkrankheiten. 1890) aufmerksam gemacht haben. Jenes degene- 
rative atiologische Moment findet sicb aucb in Fallen von Hanshalter, 
Higier (op. cii), femer in Erb’s (op. cit.) Fallen. 

Ich kann es mir nicht versagen, eine Beobachtung hier anzureihen, 
die, wenn sie auch einen Fall von familiarer spast Spinalparalyse bei 
Erwachsenen betrifft, dieses Moment in pragnanter Weise aufzeigt. 

Beob.Herr F., Dr. jur., 37 Jahre, aus Ungarn, consultirte mich am 

18. Juli 1893 wegen eines seit 10 Jahren bei ihm bestehenden langsam 
progressiven „Ruckenmarksleidens“. 

Er bebauptet, dass sein Vater und dessen Binder ein ebensolches 
Leiden gehabt hatten. Aucb in der Generation, welcber er selbst angehbre. 
sei dieses Leiden aufgetreten, insofern ausser ibm einer seiner Briider mit 
24 Jabren und eine Scbwester mit 22 Jabren in identiscber Weise erkrankt 
seien, wfthrend 4 Geschwister von diesem offenbar familiaren Leiden ver- 
schont blieben. 

Er sucht den Grand fdr dieses Familienfibel darin, dass durch 3 Gene- 
rationen in seiner Familie Inzucht stattfand, insofern Urgrosseltern, Gross- 
eltern und Eltern Cousin und Cousine waren. 

Pat. bietet das typische Bild einer spastischen Spinalparalyse. Er bat 
nie an Lues, nocb an einer sonstigen schweren Krankheit gelitten nnd bot 
ira Stat. praesens absolut nicbts, was auf eine secundare functionelle oder 
organische Erkrankung der Seitenstrange einen Hinwsis gestattet hatte. 

Von Seiten des Gehirns und der Hirnnerven boten sich keine St5rungen 
der Function, ebensowenig solcbe im Gebiet des Stammes nnd der Ob.-Extr. 

Das Bild der spastiscben Spinallabmung beschrankte sich anf die 
Unt-Extr. Der Gang war erheblicb erschwert durch Muskelrigidit&t und 
Spannungen, die, je mebr distal, urn so intensiver sicb bemerklich machten 
und auch der passiven Bewegung erhebliche Hindernisse boten. Die Stdrung 
war auf der r. Unt.-Extr. starker entwickelt als auf der L Nur im Be- 
reich der ersteren war die grobe Muskelkraft in massigem Grade herab- 
gesetzt. Musculatur nirgends atrophisch, elektrischer Beftmd normal. Tiefe 
Reflexe in Ob.-Extr. normal, in Unt.-Extr. beiderseits gleich und stark ge- 
steigert bis zur Andeutung von Fussclonus. Sensibilitat. in alien Qnalitaten 
normal. Blase und Mastdarm unbetheiligt. 


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Y. 

(Aus der Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf.) 

Em Fall von Sensibilit&tsstorung im Gebiete des Nervus 
cntaneus femoris extemus mit patMogisch-anatomischem 

Befnnde. 1 ) 

Yon 

Dr. E. Nawratzki, 

Assistenzarzt. 

(Mit Tafel IV.) 

Die Mittheilungen von Bernhardt 2 ) und Roth 3 ) fiber isolirt 
vorkommende Sensibilitatsstorungen am Oberschenkel haben eine ganze 
Reihe von Veroffentlichungen fiber ahnliche Beobachtangen gezeitigt, 
die aber insgesammt nur auf die Ausgestaltung des klinischen Bildes 
Bedacht nehmen. In Betreff der zu Grunde liegenden anatomischen 
Veranderungen ist man bisher fiber mehr als theoretische Erwagungen 
nochnichthinausgekommen. Roth (Lc.)und spaterKalischer 4 )sprechen 
z. B. nur die Yermuthung aus, dass das anatomische Substrat, welches 
bei dieser Krankheit vorausgesetzt werden konne, ein gewisser Grad 
von Para- oder Perineuritis seL 

Es ist mir nun moglich gewesen, bei einem in die stadtische Irren¬ 
anstalt zu Dalldorf aufgenommenen und dort verstorbenen Patienten 
eine Sensibilitatsstorung im Bereiche beider Nervi cut. femor. exterai 
festzustellen und alsdann durch die mikroskopische Untersuchung des 
bei der Obduction entnommenen Materials einen Einblick in den Sitz 
und die Ausdehnung der anatomischen Veranderungen des Nerven zu 
gewinnen. Bei dem Mangel an ahnlichen Befunden dfirfle eine ein- 
gehendere Mittheilung fiber meine Untersuchungen nicht unange- 
bracht sein. 


1) Nach einem am 9. Januar 1899 in der Geeellschaft fur Psychiatrie und 
Nervenkrankheiten zu Berlin gehaltenen Vortrage. 

2) Bernhardt, Ueber isolirt im Gebiete des N. cut. femoris ext. vorkom¬ 
mende Parasthesien. Neurologisches Centralblatt. 1895. S. 242. 

3) Wladimir K. Roth, Meralgia paraesthetica. Berlin 1895. 

4) 8. KaliBcher, Ueber Parasthesien imd Neuralgien an der Aussenseite 
des OberBchenkels. Allg. medic. Central-Zeitung. 1896. S. 574. 

7* 


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100 


V. Nawratzki 


Der am 29. October 1895 aufgenommene, am 3. Januar 1896 ver- 
storbene Patient H. war 80 Jahre alt, von Beruf Schmied. Er soil friiher 
nie krank gewesen sein, hatte nnr als junger Mensch einen Hufschlag gegen 
das Kinn erhalten. Ein Trinker soil er nicht gewesen sein. Von einer 
geschlecbtlichen Infection des Patienten war nichts bekannt geworden. Seit 
ca. 10 Jahren lebte er besch&ftigungslos bei seinem Sohne. Seit October 
1894 wnrde H. wegen multipler Abscesse am Halse znerst in einer chirur- 
gi8chen Poliklinik, sp&ter in einer Klinik behandelt. Wegen aufgetretener 
Zeichen von Geistesstorung wnrde er nach der Abtheilung fttr Geisteskranke 
der koniglichen CharitS verlegt und von dort nach der st&dtischen Irren- 
anstalt uberfuhrt. In psychischer Hinsicht bot Pat. das Bild einer ein- 
fachen Dementia senilis dar. Was den korperlichen Befnnd betrifft, so 
fanden sich am Halse mehrere secernirende Geschwiirsflachen und Fisteln, 
ferner eine starke Arteriosklerose, geringes Oedem des rechten Armes nnd 
beider Unterschenkel, eine linksseitige Hydrocele mkssigen Umfanges. Die 
Patellar-, Fnsssohlen-, Bauch-, Cremaster- und Armreflexe waren beider- 
seits deutlich erhalten. Die Pupillen waren gleich, reagirten auf Lichtein- 
faU. Der Gang war ziemlich sicher, Sprache undeutlich. Ataktische 
Storungen, sowie Blasen- und Mastdarmstorungen fehlten. Urin war frei 
von Alb. und Sacch. 

Wesentliches Interesse beanspruchte in dem Befunde eigentlich nur 
die Sensibilitatsprufung. Diese ergab nun, dass, wkhrend an alien iibrigen 
Korperstellen Beriihrungen deutlich empfunden warden, Pat. an der Aussen- 
seite beider Oberschenkel, und zwar rechts in einer Ausdehnung von 
18 cm oberhalb der Epipliysengrenze bis zu dieser herab, links ca. 15 cm 
oberhalb jener Linie bis zu ihr in einer schmalen Zone, Pinselstriche so 
gut wie gar nicht verspiirte. Bei einzelnen Beriihrungen versetzte er die 
Empfindung nach dem Unterschenkel. Gleichzeitig war das Gefuhl fur 
„warm und kalt“ in jenen Bezirken stark herabgesetzt. Die Schmerz- 
empfindung hatte in ihnen jedoch keine wesentliche Einbusse erlitten. 

Im vorliegenden Falle, in welchem dem Anscheine nach keinerlei 
subjectiven Beschwerden bestanden, wenigstens niemals geklagt wurden, 
konnte also durch die objective Untersuchung eine Sensibilitatsstorung 
nachgewiesen werden, die der von Bernhardt J ) nnd Roth 2 ) beschrie- 
benen entsprach und in einer Herabsetzung des Tast- und Temperatur- 
sinns im Bereiche beider Nervi cut, femor. ext, bestand. 

Patient, bei dem mehrere Tage vor seinem Tode das Yorhanden- 
sein eines doppelseitigen pleuritischen Exsudates von massigem Um- 
fange constatirt werden konnte, starb am 3. Januar 1896 unter den 
Erscheinungen des Collapses. 

Der Obductionsbefund war folgender: Ulcera nonnulla et flstulae 
colli; Abscessus subcostalis lateris dextri; Pericarditis; Atrophia fusca cor¬ 
dis; Arteriosclerosis; Pleuritis exsudativa lateris utriusque; Bronchitis 
diffusa catarrhalis; Atrophia granularis renum. Pachymeningitis externa; 


1) 1. c. 

2) 1. c. 


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Ein Fall von Sensibilitatsstorung im Gebiete des Nervus cut. fem. ext. etc. 101 

Leptomeningitis chronica; Dilatatio ventriculorum lateralium cerebri; 
Ependymitis granularis. 

Mit Riicksicht auf die vorher constatirten Storungen im Bereich beider 
Nervi cut. femor. ext. warden diese im grossen Becken and am Oberschenkel 
bis zu ihrer Vertheilung in der Haut herauspr&parirt und zusammen mit 
dem Riickenmark in Muller’scher Fliissigkeit conservirt. 

Schon bei der Herausnahme beider Nerven fiel eine spindelfbrmige 
Anschwellung derselben in einer Ausdehnnng von ca. 2 cm an ihrer Um- 
schlagstelle auf, d. h. an derjenigen Stelle, an welcher der Nerv aus dem 
grossen Becken unter dem Poupart’schen Bande hinweg auf den Ober¬ 
schenkel tritt und mit welcher er der Spina ossis ilei ant. sup. anliegt. 

Untersucht warden mehrere Stiicke jedes Nerven, die aus dem Nerven- 
stamme oberhalb und unterhalb jener Umschlagstelle entnommen waren, 
ferner letztere selbst in Quer- und Langsschnitten, endlich das Lendenmark. 
Die einzelnen Stiicke warden in Paraffin gebettet; von jedem Blocke wurde 
eine grfissere Anzalil von Schnitten entnommen und grossentheils nach 
Weigert gefarbt. Ausserdem wurden Fftrbungen nach van Gieson, mit 
dem Triacidgemisch, mit Carmin und mit Hamatoxylin und Eosin aus- 
gefhhrt. 

In den Schnitten, welche aus dem unterhalb der Umschlagstelle ge- 
legenen Abschnitt des rechten Nervus cut. femor is ext. stammen, failt der 
ausserordentlich Starke Faserschwund auf. Nur hier und da sind noch 
einzelne Nervenfasern erhalten. 

Das endoneurale Bindegewebe der secundaren Nervenbiindel ist ver- 
mehrt und bildet breite, blasse Bahnen zwischen den degenerirten Nerven- 
fasem. Einzelne in ihm liegende, kleinste Gefasse zeigen verdickte Wan- 
dungen. Die secundaren Nervenbiindel selbst fallen das Perineurium nicht 
immer ganz aus, sondern haben sich vom Rande etwas zuriickgezogen. 

Aehnliche, aber nicht so hochgradige Veranderungen bietet der rechte 
Nerv in seinem oberen Verlauf, oberhalb der Umschlagstelle dar. 

Ein Faserausfall ist auch hier zu constatiren; indess iiberwiegt die Zahl 
der noch erhaltenen Nervenfasern. Man kann in den nach Weigert ge- 
farbten Querschnitten gewissermaassen 3 Zonen unterscheiden, die sich ent- 
sprechend der Menge noch intacter Fasern durch den dunkleren und helleren 
Farbenton von einander abheben. Das endoneurale Bindegewebe ist nicht 
wesentlich vermehrt. Die Nervenbiindel fallen das Perineurium zumeist 
vollstandig aus. 

Die erheblichsten Veranderungen hat der Nerv an seiner Umschlagstelle 
erfahren (vgl. hierzu Fig. 1, Taf. IV). Es ist bereits hervorgehoben worden, dass 
schon makroskopisch die spindelformige Auftreibung und gleichzeitig vor- 
handene Abplattung des Nerven an dieser Stelle aufgefallen war. Die 
mikroskopische Untersuchung ergiebt zunachst eine ganz betrachtliche Ver- 
dickung des Perineurium (Fig. 1 Pn). Das endoneurale Bindegewebe ist 
ausserordentlich stark vermehrt und bildet dicke Balken zwischen den noch 
erhaltenen Nervenfasern, oder durchsetzt in baumartigen Verastelungen die 
secundaren Nervenbiindel. Die in ihm verlaufenden BlutgefUsse haben er- 
heblich verdickte Wandungen. In einem Theil der Biindel fullt die Faser- 
masse das Perineurium nahezu ganz aus, in anderen hat sie sich wiederum 
losgeldst und lasst zwischen sich und der Hull© einen hellen, faserarmen 
Raum bestehen. 


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102 


V. Nawratzki 


Die auffaUendste Erscheinung bilden knospenartige Gebilde, die in ver- 
schiedener Anzahl in jedem Nervenbiindel zwischen die Nervenfasern ein- 
gelagert sind (Fig. 1 und Fig. 3 Kn, Taf. IV). Sie bestehen aus einer seholiigen, 
homogenen Masse, die nicht selten eine Segmentirung erkennen lasst, be- 
ziehnngsweise durch Septa abgetheilt ist, in die Kerne eingelagert sind. 
Eine derbe Kapsel, die sich oft ans mehreren Lameilen zusammensetzt, 
hlillt diese soliden Korper ein. Diese eigenthumlichen Scbollen liegen meist 
der Innenflftche des Perineurium an. In anderen Biindeln sind sie von der 
Peripherie mehr nach dem Centrum gewandert. Um sie herum, sowie auch 
im ftbrigen Nervenbiindel ist ein Faserschwund zu constatiren. Die Unter- 
suchung dieser Massen auf Amyloid mittelst F&rbung batte ein negatives 
fiesultat. 

Eine andere Art von Herden hat sich nur in wenigen Nervenbiindeln 
vorgefunden (vgl. Fig. 3 H). Sie machen bei schwacher Vergrosserung 
den Eindruck, als ware an dieser Stelle des Praparates etwas ausgefallen. 
Bei stftrkerer Vergrosserung erkennt man in ihnen ein sehr lockeres, con- 
centrisch angeordnetes Bindegewebsgeriist mit mehr oder weniger zahl- 
reichen spindelfbrmigen Kernen, das nach dem Centrum hin sich hie und 
da zu einer filzigen Masse verdichtet. 

Die Zahl der ersten Art von Herden ist eine wechselnde. Ich habe 
in einzelnen Biindeln bis zu 7 und mehr solcher Herde z&hlen konnen. Die 
Anzahl der zweiten Art ist weit geringer; von ihr habe ich in einem Biindel 
hochstens 2 gesehen. Zuweilen sind beide Formen in demselben Biindel 
vertreten. 

Die GrOsse der einzelnen Herde ist verschieden. Neben grossen, einen 
nicht unerheblichen Theil des Querschnitts eines Nervenbiindels einnehmenden 
Abkapselungen erblickt man manchmal in demselben Praparat eine kleine, 
kugelige, structurlose, helle, scharf begrenzte Substanz inmitten einer Gruppe 
von Nervenfasern. 

Im linkenNervus cut. fern. ext. ist unterhalb derUmschlagstelle ebenfalls 
ein nicht unerheblicher Faserschwund zu constatiren. Derselbe betrifft haupt- 
‘sftchlich einen etwa 2 / 3 des Querschnitts betragenden, scharf abgegrenzteu Keil. 

Das Perineurium erscheint ein wenig verdickt; das endoneurale Binde- 
gewebe, sowie die in ihm verlaufenden GefUsse zeigen keine wesentlichen 
Veranderungen. 

Oberhalb der Umschlagstelle ist in dem Nervenstamm wohl hie und 
da ein Ausfall von Nervenfasern zu erkennen; jedoch ist dieser sehr gering, 
so dass der linke Nerv in jenem Abschnitte schon mehr einen normalen 
Eindruck macht. 

Die hauptsachlichsten Veranderungen warden wiederum an der Umschlag¬ 
stelle gefhnden (Fig. 1, Taf. IV). Sie entsprechen denen der rechten Seite und 
bestehen in einer Verdickung des perineuralen und endoneuralen Bindege- 
webes, in Gefassveranderungen und Zerfall von Nervensubstanz. Innerhalb 
der einzelnen Nervenbiindel tauchen wieder jene oben geschilderten, eigen- 
thiimlichen Gebilde auf. Auf Langsschnitten bilden dieselben zwischen die 
Faserziige eingebettete, bald wellenfOrmig angeordnete, bald korkzieherartig 
gewundene, homogene, structurlose KOrper, in die spindelformige Kerne ein¬ 
gelagert sind (Fig. 2 Kn). Sie haben verschiedene Lange und durchsetzen 
manchmal als ein einziges, zusammenhangendes, cylindrisches oder spindel- 
formiges Gebilde den ganzen Langsschnitt. In einzelnen dieser Convolute 


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Ein Fall von Sensibilitatsstorung im Gebiete dee Nervus cut fem. ext. etc. 1Q3 


8ind AbBchnorungen erkennbar, die sich durcb ihr helleres Aussehen and 
grogseren Kernreicbtham von den soliden Massen abheben. Was diese eigen- 
thihnlichen Kbrper darstellen and bedeuten, soli an einer sp&teren Stelle 
etwas eingehender besprochen werden. 

Die Untersuchung des Lendenmarks hat aasser einer Bindegewebsver- 
m eh rung m&ssigen Grades in den Hinterstr&ngen, die bei greisen Lenten 
nichts Ungewohnliches ist, grobere Ver&nderungen nicht ergeben. 

Fasse ich die Besonderheiten des eben beschriebenen Falles noch 
einmal kurz zusammen, so erscheint derselbe zunachst nach der klini- 
schen Seite hin in etwas bemerkenswerth, insofem, als derselbe gewisse 
Abweichungen von dem gewohnlichen Verhalten der Bernhardt- 
schen Sensibilitatsstorung aufweist. Dahin gehoren: 1. das Yorkommen 
der Erkrankung bei einem 80jahrigen Manne; 2. das Bestehen der- 
selben ohne subjective Beschwerden. 

Durch die Doppelseitigkeit der Affection reprasentirt der geschil- 
derte Fall ausserdera die seltener vorkommende Krankheitsform. 

Zum Vergleiche mogen hier die Ergebnisse der einschlagigen Mit- 
theilungen von Bernhardt 1 ), Roth 2 ), Nacke 3 ), Freud 4 ), Escat 5 ), 
Kalischer 6 ), v. Luzenberger 7 ), Koster 8 ), Benda 9 ), Adler 10 ), 
Warda 11 ), Shaw 12 ), Donath 13 ), Good 14 ), Traugott 15 ), v. Nar- 


1) 1. c. 2) 1. c. 

3) P. Nacke, Beitrag zu den isolirt auffcretenden Parasthesien im Ge¬ 
biete des Nerv. cut. femoris ext Neurolog. Centralbl. 1895. S. 338. 

4) S. Freud, Ueber die Bernhardt’sche Sensibilitatsstbrung am Ober- 
schenkel. Neurolog. Centralbl. 1895. S. 491. 

5) Escat, Un cas de mgralgie paraesthetique de Roth. Revue neuro- 
logique 1895, refer, im Neurolog. Centralbl. 1896. S. 507. 

6) 1. c. 

7) A. v. Luzenberger, Beitrag zur Aetiologie der Bernhardt’schen Sen- 
sibilitStsstorung am Oberachenkel. Neurolog. Centralbl. 1896. S. 1026. 

8) G. Koster, Ein Beitrag zur Kenntniss der Bernhardt’schen Sensi- 
biHtfitsstdrung am Oberachenkel. Neurolog. Centralbl. 1897. S. 253. 

9) Th. Benda, Zur Parasthesie der Hautnerven am Oberachenkel. Neuro¬ 
log. Centralbl 1897. S. 256. 

10) Adler, Zur Kenntniss der Bernhardt’schen Sensibilitatsstorung. Neu¬ 
rolog. Centralbl. 1897. S. 682. 

11) Warda, Ein Fall von Neuritis des N. cutaneus femoris ext Neurolog. 
Centralbl. 1897. S. 948. 

12) John C. Shaw, Paraesthesia of the external femoral region. New-York 
med. Joum. 1897. Bd. LXY. p. 205. 

13) J. Donath, Ein Fall von Bernhardt-Roth’scher Parasthesie. Wien, 
med. Woch. 1897. S. 1142. 

14) A. Good, Ein Fall von Bernhardt’scher Sensibilitatsstorung am Ober- 
schenkel. Neurolog. Centralbl. 1898. S. 57. 

15) Richard Traugott, Casuistischer Beitrag zur jjBernhardt’schen Sen- 


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104 


V. Nawratzki 


towski 1 ) u. A. kurz angeffihrt werden. Dieselben umfassen ca. 
50 Falle. Aus ihnen geht so viel hervor, dass die Patienten immer 
mit subjectiven Beschwerden zum Arzte kamen. Bald wurde fiber 
stechende und brennende Schmerzen beim Gehen geklagt, bald fiber 
ein Geflihl der Spannung und Taubheit, bald fiber Kriebeln and un- 
angenehme Sensationen. Die Kranken standen meist im mittleren 
Lebensalter. Indess schwanken die Zahlen innerhalb weiter Grenzen, 
zwischen 30 und 64 Jahren. Eine doppelseitige Erkrankung endlieh 
konnte unter den 50 Fallen nur 13mal constatirt werden; 34mal war 
eine Seite befallen. Bei 3 Kranken fehlen genauere Angaben fiber 
den Sitz der Affection. 

Hinsichtlich der Aetiologie der Meralgia paraesthetica herrschen 
noch mannigfache Meinungsyerschiedenheiten. Unter den atiologischen 
Momenten finden sich in der Literatur aufgezahlt: Erkaltung, Intoxi¬ 
cation (Blei, Alkohol), Infection (Typhus, Pneumonie, Lues), endlieh 
mechanische Einfltisse (Trauma, Druck, Ueberanstrengung). Mehr und 
mehr scheint man jetzt den letzteren den Vorrang in der Reihe der 
moglichen Entstehungsursachen dieser electiven Sensibilitatsstorung 
einraumen zu wollen. 

In unserem Falle konnte eine bestimmte Krankheitsursache nicht 
ausfindig gemacht werden. Nur vermuthungsweise konnte man an 
eine Druckwirkung auf beide Spinae denken, vielleicht durch einen 
Leibriemen, wie ihn Leute aus dem Arbeiterstande so haufig zu 
tragen pflegen, zu der als begfinstigendes Moment noch das Senium 
hinzukame. 

Ffir die Annahme einer mechanischen Ursache gewahren aber in 
unserem Falle die pathologisch-anatomischen Veranderungen eine neue 
brauchbare Stfitze. 

Was diese Veranderungen betrifft, welche den klinischen Er- 
scheinungen zu Grunde lagen, so sind sie, wie wir gesehen haben, im 
Nerven derart vertheilt, dass der Hauptsitz der Erkrankung an der 
auf der Spina il. ant. sup. gelegenen Umschlagstelle zu suchen ist. 
Hier sind die grobsten Zerstorungen und Umwandlungen zu sehen. 
Sie bestehen in einer Perineuritis und Neuritis interstitialis et paren- 
chymatosa. Von der Umschlagstelle aus haben sich im weiteren Ver- 
lauf eine starkere absteigende, eine schwachere aufsteigende secundare 
Degeneration im Nerven entwickelt. 


sibilitatsstorung am Oberschenkel“. Monatsschrift f. Psychiatrie und Neurologie. 
1898. Bd. Ill, Heft V, S. 416. 

1) Miecislaus v. Nartowski, Ein Beitrag zur Kenntniss der Bernhardt* 
schen Sensibilitatsstorung. Neurolog. Centralbl. 1898. Nr. 23. 


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Ein Fall von Sensibilitatsstorung im Gebiete des Nervus cut fem. ext etc. 105 


Ueber die eigeDthtimlichen Umbilduugsproducte an den Umschlag- 
stellen der Nerven ist zu bemerken, dass diese Gebilde mit Korpem 
identisch zu sein scheinen, die sich in der Literatur bereits mehrfach 
erwahnt finden und eine verschiedenartige Deutung erfahren haben. 
Langhans 1 ) giebt eine kurze fibersichtliche Zusammenstellung der 
einschlagigen Arbeiten. Nach ihm haben wohl Rump und Varaglia 2 ) 
zuerst die soliden, langlich cylindrischen Einlagerungen gesehen und 
beschrieben, ersterer bei einem Falle von multiplen Neuromen, letzterer 
im Nervus facialis. In demselben Nerven, sowie im Nervus oculomo- 
torius, Abducens und Hypoglossus wurden sie von Oppenheim 3 ) 
und Thomsen 4 ) beobachtet. Beide Autoren neigten der Ansicht zu, 
dass es sich bei diesen Herden nicht um einen speciellen pathologi- 
schen Process handeln konne. Fr. Schultze 5 ) fand sie im Plexus 
brachialis und Nervus ischiadicus und wollte sie als obliterirte Gefasse 
angesehen wissen. 

An gleiche Bildungen erinnern die Angaben von Oppenheim 
und Siemerling 6 ) fiber Yeranderungen, die sie in einem Hautast des 
Nervus ulnaris bei einer tabischen Frau zu beobachten Gelegenheit 
hatten. Rosenheim 7 ) fand ahnliche Einlagerungen in beiden Nervi 
ischiadici, Stadelmann 8 ) im Plexus brachialis, Joffroy und Achard 9 ) 
in den dorsalen Nerven des 2. und 3. Fingers, Arnold 10 ) in einem 
Bfindel der Cauda equina. Eine sehr ausffihrliche Beschreibung jener 
eigenthfimlichen Korper liegfc dann von Trzebinski n ) vor, der sie 
im Plexus brachialis, im N. ulnaris, radialis, cruralis, Plexus sacralis 
zahlreicher Leichen fand. Wenngleich seine Untersuchungen fiber die 
Entwicklung jener Herde nichts Sicheres ergaben, so konnte er immer- 
bin ihre Unabhangigkeit von den Gefassen feststellen. 

Der Einfluss irgend eines bestimmten Leidens auf die Entstehung 
dieser Abkapselungen konnte ebenfalls nicht entdeckt werden. Sie wurden 

1) Th. Langhans, Ueber Yeranderungen in den peripherischen Nerven bei 
Cachexia thyreopriva des Menschen und Affen und bei Cretinismus. Virchow’s 
Archiv f. pathol. Anat. Bd. 128. S. 318. 

2) cit nach Langhans, 1. c. 

3) H. Oppenheim, Ueber einen Fall von chronischer progressiver Bul- 
barparalyse ohne anatomischen Befund. Virchow’s Arch. Bd. 108. S. 522. 

4) R. Thomsen, Ueber eigenthumliche, aus veriinderten Ganglienzellen 
hervorgegangene Gebilde in den Stammen der Hirnnerven des Menschen. Vir¬ 
chow’s Arch. Bd. 1C9. S. 459. 

5) cit nach Langhans, 1. c. 

6) H. Oppenheim und E. Siemerling, Beitriige zur Pathologie der Tabes 
dorsalis und der peripherischen Nerveneikrankung. Archiv f. Psych. 1887. 
Bd. 18. S. 98. 

7) —11) cit nach Langhans, 1. c. 


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106 


Y. Nawratzki 


bei Individuen gefunden, die an den verschiedensten Krankheiten gelitten 
hatten, an chronisehen Gehirn- und Rtickenmarkskrankheiten, an Tuber- 
culose, an Herz- und Gefasserkrankungen, an acuten Infectionskrank- 
heiten u. a. m. Langhans 1 ) selbst erwahnt ausser den schon vor 
ihm von anderen Autoren bescbriebenen soliden, concentrischen Herden 
und Auflagerungen auf das Perineurium noch lockere Herde, femer 
eine Erweiterung der Lymphspalten und Blasenzellen. An der Zu- 
sammengehorigkeit dieser verschiedenen Producte mochte er nicht 
zweifeln. Nach seinen Untersuchungen, die er an 3 Fallen von Cachexia 
thyreopriva und einem Fall von Cretinismus angestellt hat, sind diese 
Nervenveranderungen pathologischer Natur und weisen auf irgend 
einen Zusammenhang mit der Schilddrtise hin. Sie seien „die letzten 
Auslaufer einer Degeneration, deren hochsten Grade in dem Cretinis¬ 
mus sich vereinigen“. Sein Schtiler Howald 2 ) konnte gegen die An- 
nahme einer solchen Verbindung geltend machen, dass er jene Herde 
nicht nur bei einem Cretinen, sondern auch bei einem Individuum 
mit uormaler Schilddriise in grosser Anzahl vorgefunden hatte. Yor 
ihm hatten bereits Weiss und Ott 3 ) diese endoneuralen Wucherungen 
bei Thieren mit normaler Thyreoidea nachgewiesen. Was die Ent- 
stehungsweise und Bedeutung jener Gebilde betrifft, so neigt Howald 4 ) 
am meisten zur Annahme der mechanischen Theorie von Renant hin, 
welcher alle diese endoneuralen Veranderungen als Schutzorgane ftr 
die Nerven angesehen wissen will, indem sie gleichsam Polster fUr die 
Nerven zum Schutz gegen Druck und Zerrung bilden. Uebrigens kann 
sich auch Langhans 5 ) nicht dem Eindruck verschliessen, dass die 
Localisation der Veranderungen durch aussere Verhaltnisse mechanischer 
Art, Zerrungen, beherrscht werde. Eine Einschrankung in der An- 
wendung der Renant’schen Theorie macht Howald (Lc.) insofem, als 
er dieselbe nur flir die Blasenzellen und die in den erweiterten Lymph- 
bahnen befindliche Fliissigkeit gelten lassen will, wahrend er die soliden 
Herde mit Ott als pathologische Erscheinungen auffassen mochte. 

Jene rundlichen, vom Perineurium ins Innere der Nervenbiindel 
dringenden Wucherungen sind noch von Gudden 6 ) in der peripheren 

1) 1. c. 

2) M. Howald, Ueber die topographische Yertheilung der endoneuralen 
Wucherungen in den peripherischen Nerven dee Menschen. Virchow’s Arch. f. 
path. Anat. 1895. Bd. 141. S. 283. 

3) cit. bei Howald, 1. c. 

4) 1. c. 

5) 1. c. S. 358. 

6) H. Gudden, Klinische und anatomische Beitrage zur Kenntniss der 
raultiplen Alkoholneuritis nebst Bemerkungen fiber die Regenerationsvorgange im 
peripheren Nervensystem. Archiv f. Psychiatrie. Bd. 28. 1896. S. 643. 


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Ein Fall von Sensibilitatsstdrung im Gebiete des Nervus cut. fem. ext. etc. 107 


Strecke des N. medianus bei einem an multipler Alkohol-Neuritis zu 
Grunde gegangenen Individuum gesehen und beschrieben worden, 
ohne dass der Autor weitere Erorterungen an diesen Befund ge- 
kniipft bat. 

Aus den Ausffihrungen der eben citirten Autoren geht jedenfalls 
so viel hervor, dass die Frage, ob die in den Nerven beobachteten 
Einlagerungen patbologische Producte oder nonnale Gebilde darstellen, 
immer noch als offene anzusehen ist. 

In dem von mir mitgetheilten Falle dlirften die in den beiden 
Hautnerven gefundenen endoneuralen Veranderungen wohl in einen 
unmittelbaren Zusammenhang mit der Erkrankung des Nerven zu 
bringen sein. Eine annehmbare Erklarung ftir die Natur derselben 
gestattete mir ein Hinweis des Herrn Prof. 0. Israel, dem ich ftir 
seinen freundlichen Rath auch an dieser Stelle meinen Dank aussprechen 
mochte. Nach seiner Bestatigung stellen jene grotesken Gebilde sehr 
wahrscheinlich nichts Anderes dar als sklerotisches Bindegewebe. Das- 
selbe ist durch die Umwandlung des gewucherten endoneuralen Binde- 
gewebes entstanden, nach vorausgegangenem Zerfall und Untergang 
der nervosen Substanz. Die Sklerosirung wlirde nur ein Beweis dafilr 
sein, dass der an der Umschlagstelle des Nerven gefundene, aus einer 
umschriebenen interstitiellen Entzilndung hervorgegangene Herd sehr 
alt ist In den lockeren Herden wlirde man eine weniger weit vorge- 
schrittene Destruction des Nervengewebes zu sehen haben. Bei ihnen 
dtirfte es sich wohl nur um eine einfache Wucherung des interstitiellen 
Bindegewebes handeln. 

Dass der Mittelpunkt der anatomischen Veranderungen an der- 
jenigen Stelle des Nerven gelegen ist, an welcher er dem Druck und 
Zng am meisten ausgesetzt ist, bildet, wie schon betont worden ist, 
einen recht brauchbaren Anhalt ftir die Annahme einer mechanischen 
Schadigung als Ursache der Sensibilitatsstorung. Wunder kbnnte es 
nur nehmen, dass bei der exponirten Lage des Nerven eine Affection 
desselben nicht noch haufiger vorkommt, als dies in Wirklichkeit der 
Fall zu sein scheint Aber einerseits konnen manche Falle ubersehen 
werden, beziehungsweise ununtersucht bleiben, falls keine subjectiven 
Beschwerden vorgebracht werden. Andererseits scheinen mir Unter- 
suchungen an Leichen fiber die Lagerung des Nervus cut. fem. ext 
zum Skelet noch weiteren Aufschluss zu dieser Frage zu geben. 

Die Messungen ergaben folgende Werthe: 


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108 


V. Nawratzki, Ein Fall von Sensibilitatsstorung etc. 


Entfernung des Nervus cut. fem. ext. nach innen yon der 




Spina il. 

ant. sup. 


. bei 11 

Mannern. 

II. bei 10 Frauen. 

Rechts 


Links 

Rechts 

Links 

1. 0 mm 

0 mm 

1. 0 mm 

7 mm 

2. 0 

!1 

35 ,, 

2. 8 „ 

10 „ 

3. 5 


30 „ 

3. 10 „ 

8 „ 

4. 10 


10 „ 

4. 10 „ 

47 „ 

5. 10 

?? 

20 „ 

5. 10 „ 

55 „ 

6. 13 

H 

12 „ 

6. 15 

5 „ 

7. 15 

11 

5 „ 

7. 20 „ 

12 „ 

8. 20 

11 

55 

8. 25 ,. 

45 „ 

9. 30 

?! 

44 „ 

9. 52 „ 

35 „ 

10. 32 

11 

47 „ 

10. 58 „ 

28 „ 

11. 52 

1? 

45 „ 




Die eben angeftihrten Zahlen lehren, dass die Entfernung der Um- 
schlagstelle von der Spina il. ant. sup. nicht nur bei den verschiedenen 
Individuen recht betrachtlichen Schwankungen unterworfen ist, sondem 
auch bei demselben Individuum rechts und links verschieden gross ist. 
Letzterer Umstand, namlich die Verschie^enheit der Lage des Nerven 
bei derselben Person, wtlrde eine plausible Erklarung dafttr gewahren, 
dass die Sensibilitatsstorung oft nur einseitig ist. 

Die Lagerungsverhaltnisse des Nervus cut. fem. ext. konnten 
immerhin den Schluss gestatten, dass, je naher die Umschlagstelle dem 
Knochenvorsprunge lage, der Nerv um so mehr mechanischen Schadi- 
gungen ausgesetzt und damit eine um so grossere Disposition zu sei¬ 
ner Erkrankung geschaffen sei. 

Am Schlusse ist es mir eine angenehme Pflicht, meinem Chef. 
Herrn Geheimrath Dr. Sander, sowieHerm Oberarzt S.-R. Dr. Richter 
ftir die giitige Erlaubniss zur Verwerthung des Materials meinen Dank 
auszusprechen. 


Erklarnng der Abbildungen anf Tafel IV. 

Fig. 1. Quersclinitt der Umschlagstelle des linken N. cut. fem. ext. (W eigert’sche 
Farbung, 30fache Vergr.) Bei Pn erhebliche Verdickung des Penneurium. 
Degeneration in den einzelnen Nervenbundeln. Kn solide Herde, wahr- 
scheinlich aus sklerosirtem Bindegewebe bestehend. G Gefass mit ver- 
dickten Wanden. 

Fig. 2. Langsschnitt aus der Umschlagstelle des linken N. cut. fem. ext. (Wei- 
gert’sche Farbung, 36fache vergr.) Betrachtlicher Nervenschwund. a 
erhaltene Nervenfasern. Kn langs getroffene Herde. 

Fig. 3. Querschnitt der Umschlagstelle aes linken N. cut. fem. ext. (van Gie- 
son’sche Farbung. Mittelstarke Vergr.) Bei Kn solider Herd, bei H 
lockerer Herd. G Gefass mit verdickten Wanden. Pn verdicktes Peri¬ 
neurium. 


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VI. 


Ueber den diagnostischenWerth des GrSfe’schen Symptoms 
und seine Erkiamng. 

Von 

Dr. Georg Flatau, 

Assistent an der Poliklinik fiir Nervenkranke des Herm Prof. H. Oppenbeim. 

(Mit 2 Abbildungen.) 

In letzter Zeit wurde unsere Poliklinik auffallend haufig von 
Kranken aufgesucht, bei denen sich das Grafe’sche Symptom nach- 
weisen liess, ohne dass Basedow'sche Krankheit vorlag. Wir konnten 
auch die von Anderen vielfach hervorgehobene Thatsacbe bestatigen, 
dass bei ausgesprochener Base do w’scher Krankheit das Grafe’sche 
Symptom haufig fehlt. 

Das gab uns Veranlassung einmal zu untersuchen, wie haufig das 
Grafe’sche Symptom bei anderen Erkrankungen gefunden wird und 
dabei die Frage nach dem diagnostischen Werth des Symptoms 
zu prttfen. 

Die Darstellung des Grafe’schen Symptoms, bez. die Prtifung, 
ob ein solches vorhanden ist, geschieht nach Oppenheim (Lehrbucfc 
d. Nervenkrkh.) so: Wird der Patient aufgefordert, den erhobenen Blick 
langsam zu senken, indem der Untersuchende die von dem KrankeA 
zu fhrirende Hand langsam herunterlasst, so folgt das obere Augenlid 
der Bewegung des Bulbus uberhaupt nicht, oder nur unvollkommen 
und es wird der supracorneale Theil der Sklera sichtbar (vergl. auch 
Fig. 1 und 2 S. 110 u. 111). 

Bruns (Neurol. Centralblatt. 92. S. 6) hat bereits hervorgehoben, 
dass in den meistenLehrbuchem eine Coordinationsstorung bei Hebung 
und Senkung des Blickes als Grafe’sches Symptom bezeichnet wird, 
und hat nachgewiesen, dass diese Angabe nicht richtig ist (vergl. auch 
Mobius, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilk. Bd. I. S. 401) und dass 
nur ein Zurtickbleiben des oberen Lides, eine Incoordination bei Sen¬ 
kung des Blickes, vorhanden ist. 

Yon unseren Fallen mochte ich zunachst einige kurze Kranken- 
geschichten geben. 


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110 


VI. Flatau 


1. S., Restaurateur, sucht die Poliklinik auf, weil sich plotzlich eine 
Lahmung des rechten Armes bei ihm eingestellt hat. Die Untersuchung er- 
giebt das Bestehen einer peripheren Radialislfthmung, welche als toxico- 
traumatische (alkoholiscbe) aufzufassen ist. 

Pat. hat auffallend weite Lidspalten (Fig. 1) und exquisites Grife- 
sches Symptom (Fig. 2); doch findet sich kein weiteres Zeichen, das fur 
Morbus Basedowii spricht. Er giebt an, immer sehr grosse Augen gehabt 
zu haben. 

2. Fr. N., 52 Jahre, suchte die Poliklinik nur in Angelegenheit ihres 
Mannes auf. Es fSlllt bei ihr auf: ein starker Exophthalmus, schon in der 

Ruhe ist der obere Skleralrand in 
Ausdehnung von mehreren Millimetern 
sichtbar; Gr&fe’sches Symptom sehr 
deutlich, namentlich links. 

Das Hervortreten der Augen ist 
ihr selbst aufgefallen, sie schiebt das 
sowie die Beeintrachtigung ihrer Seh- 
kraft darauf, dass sie viel zu n&hen 
hat und ihre Augen sehr anstrengt. 
Es fehlt jedes sonstige Zeichen des 
Morbus Basedowii; psychisch ist sie 
leicht erregbar. Der Lidschlag erfolgt 
sehr selten. 

3. Bertha V., 16 Jahre, Arbeiter- 
tochter: Vor 5 Jahren Diphtheritis, 
vorher hftufige Lungenkatarrhe. Nach 
der Diphtherie entwickelte sich all- 
mahlich eine Struma, die jetzt er- 
heblich gewachsen ist. 

Exophthalmus ist nicht vorhanden, 
kein Tremor, keine Tachycardia, keine 
Durchfaile, Schweisse sollen hftufig 
sein. 

Das Grftfe’sche Symptom lSLsst 
sich fast constant hervorrufen. 

4. R., 39 Jahre, Arbeiter. 
Erkrankte am Anfang August 1896 

mit Stichen in der Brust, Kaitegef&hl, Fieber. Seit der Zeit hat er 
Schwkchegefuhl in Armen und Beinen, ist Sngstlich und schreckhaft, depri- 
mirte Stimmung. Schlaf oft gestbrt 

Die Untersuchung ergab keine Zeichen eines organischen Nervenleidens, 
vielmehr musste die Diagnose Neurasthenic gestellt wer.den. 

Am 13. Mai 1899 stellte Pat. sich mit den gleichen Klagen vor, dazu 
kam noch starker Schweiss, Zittern in den ausgestreckten Hftnden, Reiz- 
barkeit 

Ferner fand sich Erweiterung der Lidspalten, deutliches Gr&fe’sches 
Symptom, manchmal auch Tachycardie. 

Bei der ersten Untersuchung konnte man wohl an Morbus Bas. denken. 
musste aber bei weiterer Beobachtung die Diagnose fallen lassen. Es be- 
stand keine Struma, sondern nur eine Hervorwolbung der Trachea, die zu 



* 


Fig. 1. 


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Ueber den diagnostiachen Werth des Grafe'schen Symptoms etc. m 


Anfang als Anschwellung des Mittellappens imponirte, die Tachycardia war 
nur imZustande der Erregung vorhanden nnd auch nor mSssig (Puls 25—28). 

Exophthalmus bestand nicht, aber zeitweise, besonders bei Erregung, 
Erweiterung der Lidspalte. Von den Symptomen blieben nur die Schweisse 
und der Tremor der H&nde iibrig, die als neurasthenische Erscheinungen 
gedeutet werden konnten. 

Die Diagnose Neurasthenie musste auch nach dem weiteren Verlauf 
festgehalten werden. 

5. H., 55 Jahre, Musiker. Hat vor 20 Jahren eine Arthritis gonor- 
rhoica des rechten Fussgelenkes durchgemacht; in seinem Beruf hat er viel 
Nachts zu spielen gehabt, trank re- 
gelm&ssig 10—12 Glas Bier und 
verschiedene Mengen Cognac da- 
zwischen; am Tage war dann die 
Nahrungsaufnahme mangelhaft; we- 
nig Schlaf. 

Jetzt klagt er liber Schmerzen 
im Riicken, besonders im Nacken, 

Steifheit der Wirbelsftule, beson¬ 
ders wenn er nach lftngerem Sitzen 
sich in Bewegung setzen wilL Die 
Schmerzen wechseln in ihrer Locali¬ 
sation und ziehen bis in die Hiiften 
hinein. Fieber besteht nicht, keine 
Urinbeschwerden. 

Pat. ist blass, geht langsam 
nnd schwerfSLllig. Bei der Unter- 
suchung findet sich: Struma, weite 
Lidspalten, Sklera sichtbar. Gr&fe- 
sches Symptom constant und 
ebenso deutlich wie in Fig. 2. In 
den Hftnden leichter vibrirender 
Tremor, keine Schweisse, keine cha- 
rakteristischen Durchf&lle, keine 
vasomotorischen StOrungen, kein Ex- 
ophthalmus. Beide Pupillen eng, Fig 2. 

rechte > linke, Reaction auf Licht 

beiderseits vorhanden, nur links, wo h&ufig Entzftndungen bestanden haben 
sollen, ist sie erst bei kiinstlicher Beleuchtung deutlich nachweisbar. 
Tachycardie bestimmt auszuschliessen. Auf Befragen giebt Pat. an, dass die 
Struma schon seit Jahren, vielleicht von Kindheit an besteht. 

Aus8erdem wurde das Grafe'sche Symptom gefunden bei einem 
Falle von 

1. Bulbarparalyse, 2. Tumor cereberi, 3. Neurasthenie, 4. apo- 
plectischem Insult, 5. Diplegia spastica cerebralis, 6. in je 2 Fallen 
von traumai Neurasthenie und Hysterie, 7. Thomsen’scher Krankheit. 

Bei gesunden Personen wurde es gefunden zweimal bei solchen, 



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112 


VI. Flatau 


die nur als Begleitung anderer Patienten in die Poliklinik kamen. 
Ein Mitassistent und ich selbst konnten es willktirlich hervorrufen. 

Eine statistische Zusammenstellung findet sich bei Sharkey 
(Lancet 1890. II. p. 877). 

Sharkey bespricht zunachst einen Fall, bei welchem sich leichter 
Exophthalmus, Grafe und beschleunigte Herzaction fanden; er halt 
sich nicht ffir berechtigt, hier die Diagnose Morbus Basedowii zu 
stellen; den diagnostischen Werth des Grafe'schen Symptoms halt 
er ffir sehr gering; die Diagnose zweifelhafter Falle von Morbus 
Basedowii kann durch das Grafe'sche Symptom nicht gesichert 
werden. 

In 613 Fallen verschiedenster Art fand er es 12 mal. Auch Sh. 
giebt an, dass Gesunde das Grafe'sche Symptom zeigen und durch 
starres Fixiren willktirlich heryorbringen konnen; dagegen fehlt es bei 
ausgesprochenem Basedow haufig. 

Raymond (Gazette medicale de Paris) fand bei zwei Patienten 
mit Thomsen’scher Krankheit Grafe'sches Symptom. 

Buschan (Realencyklopadie der ges. Heilkunde) giebt an, dass 
das Zeichen bei anderen Neurosen vorkommen kann, wahrend es bei 
Basedow nicht selten fehlt 

Mobius (Neurolog. Centralblatt. 1892. S. 13) fand bei einem 
30jahrigen Kranken mit organischer linksseitiger Hemiparese, bei 
welchem sich ein Zustand grosser Erregtheit durch einen Schreck ent- 
wickelt hatte, die Lidspalten erweitert, so dass ein weisser Streifen 
von etwa 2 mm Breite oberhalb der Cornea sichtbar war. Das 
Grafe'sche Zeichen bestand wie bei einem Basedow-Kranken. 

Mannheim (Der Morbus Gravesii. 1894) fand in 41 Fallen yon 
Morbus Basedowii 6mal Grafe’sches Symptom. 

Passler (Dtsch. Zeitschrift ftir Nervenheilkunde. VI. S. 210) fand 
in 58 Fallen nur 9mal Grafe'sches Symptom; giebt auch an, es bei 
Kranken ohne Basedow gefunden zu haben. 

Arthur Maude (The eyelid Symptoms in exophthalmic, goitre. 
Edinb. med. Journal. N. S. II, 2. p. 138) hat 25 Falle untersucht und 
findet Graf etches Symptom haufiger als Stellwag; er glaubt, dass beide 
Zeichen je nach dem Erregungszustand des Kranken veranderlich sind. 

Schmidt-Rimpler (Nothnagel's Handbuch. 1. S. 374) giebt an, 
dass das Grafe'sche Zeichen in einzelnen Fallen von diagnostischer 
Bedeutung sein konne, es fehlt bisweilen, andererseits kann es sich 
bei Personen zeigen, die nicht an der Krankheit Morb. Basedow, 
leiden. Es giebt nicht wenige, welche besonders in Erregungszustanden 
ihr oberes Lid ungewohnlich stark heben konnen, so dass ein grosser 
Saum der Sklera fiber der Homhaut sichtbar wird; lasst man hier 


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Ueber den diagnostisehen Werth dee Grafe’schen Symptoms etc. 113 

den Blick senken, so bleibt auch bei ihnen das obere Lid 5fbers 
zurfick. 

Wilbrandt nnd Sanger (Neurologic des Auges) haben ebenfalls 
das Grafe’sche Zeichen bei ganz gesunden Personen gefunden, und 
stellten fest, dass es bei Morbus Basedowii nicbt allzu baufig gefunden 
wird, auch Eulenburg [Berl. kl. Wochenschr. 1889. 1—3] halt das 
Grafe'sche Symptom fftr im Ganzen selten. 

Wir selbst fanden unter 30 Fallen 16mal Grafe'sches Symptom. 
Im Ganzen sind die Procentzahlen, die ich in der Literatur gefunden 
babe, ziemlich yerschieden und schwanken zwischen 14 Proc. und 
55 Proc. Grafe’schen Symptoms bei Morbus Basedowii. Aus meinen 
Untersuchungen geht besonders die Thatsache hervor, dass das Grafe- 
sche Symptom bei Gesunden und bei Personen, die nicht an M. B. 
leiden, gar nicht selten yorkommt 

Das geht aus den angeftihrten Krankengeschichten hervor, welche 
sich auf Falle beziehen, in denen die Diagnose M. B. trotz ausgespro- 
chenem Grafe'schen Symptom nicht gestellt werden durfte. 

Im Fall I war ausser der Erweiterung der Lidspalte und Grafe- 
schem Symptom nichts far M. B. Charakteristisches nachweisbar, und 
dieses Zeichen bestand von jeher. 

Im Fall II war neben dem starken Exophthalmus deutliches 
Grafe'sches Symptom vorhanden; doch fehlten alle anderen Haupt- 
nnd Nebensymptome vollstandig und haben sich auch im Laufe der 
Zeit keine weiteren hinzugesellt. 

Im Fall III hatte sich die Struma nach einer Infectionskrankheit 
entwickelt, doch gesellten sich ausser Grafe keine anderen Symptome 
hinzu, welche auf M. B. schliessen liessen. 

Im vierten Falle endlich trat neben der Neigung zu Erweiterung 
der Lidspalte das Grafe’sche Symptom so deutlich zu Tage, dass zu- 
nachst, namentlich da auch Struma, Tachycardie und Schweisse vor¬ 
handen zu sein schienen, die vorher gestellte Diagnose Neurasthenie 
in M. B. geandert werden sollte; erst weitere eingehende Nachunter- 
suchung erwies, dass von den Symptomen nur das Stellwag’sche und 
Grafe’sche Symptom tibrig blieben. Wichtig ist auch hier zu bemerken, 
dass ein Zustand dauernder psychischer Erregtheit bestand. 

Auch im 5. Fall konnte das gleichzeitige Bestehen von Struma, 
Stellwag'schem und Grafe’schem Symptom, Tremor zur Annahme 
ernes M. B. fuhren. Indessen besteht die Struma schon seit der Jugend; 
Tachycardie, Exophthalmus fehlen. Der Tremor entspricht nicht 
dem bei M. B., kann hier vielmehr auf Alkoholismus zur&ckgefahrt 
werden. 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 8 


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114 


VI. Flatau 


Auf Grand des Untersuchungsbefundes wurde die Diagnose auf 
arthritische Processe an der Wirbelsaule gestellt. 

Die 5 Falle haben das Gemeinsame, dass zu einer Reihe von 
Symptomen [Stellwag, Struma, Exophthalmus], die dem M. B. ange- 
horen, sich das Grafe’sche Symptom gesellt, und so ein Bild hervor- 
gerafen wird, das bei fltichtiger Untersuchung als M B. imponirt, 
wahrend eine genauere Prttfung erst die Nichtberechtigung dieser 
Diagnose ergiebt. 

Zu diesen 5 Fallen gesellen sich nun 9 andere, die den verschie- 
densten Gebieten nervoser Erkrankungen angehoren und zwar organi- 
schen und fiinctionellen. 

Es geht aus diesen Beobachtungen ebenfalls hervor, dass das 
Grafe'sche Symptom nicht allein dem Morbus Basedowii zukommt 
und dass es von Gesunden willktirlich hervorgerufen werden kann; 
dieser Umstand ist yon Wichtigkeit ftir die Erklarung des Zustande- 
kommens desselben. An solchen Erklarungsversuchen und an Theo- 
rien, wie diese Dissociation der normalen Mitbewegung zwischen Lidem 
und Bulbus, speciell beim Blicksenken zu Stande kommt, fehlt es 
nicht. Es scheint mir aber, als ob das Grafe’sehe Symptom auf 
verschiedene Weise zu Stande kommen konne, und es ist wahrschein- 
lich, dass es bei Morbus Basedowii anders zu deuten sein wird, als 
bei anderen Nervenkrankheiten und bei gesunden Personen. 

Die Mehrzahl der Autoren scheint geneigt, eine enge Verbindung 
des Grafe’schen Symptoms mit dem Stellwag'schen Symptom (der 
dauernden Erweiterung der Lidspalte) anzunehmen, und jenes aus die- 
sem abzuleiten; namentlich behaupten M obi us und Bruns (1. c.) die 
spastische Natur des Grafe’schen Symptoms; dieselbe gehe aus der 
Tendenz zur Erweiterung der Lidspalte hervor. 

Nach Busch an (1. c.) wird das Grafe'scbe Symptom weder durch 
den Exophthalmus, noch durch einen krampfartigen Zustand des Levator, 
oder durch eine Parese des Orbicularis bedingt, sondern erscheint als 
nothwendige Folge der Neigung zur Erweiterung der Lidspalte, die 
bei Senkung der Fixirlinie uberwunden werden muss. Buschan sagt 
aber nicht, wodurch eben diese Erweiterung der Lidspalte zu Stande 
kommt, welche ja ihrerseits durch Levatorkrampf oder Orbicularis- 
parese bedingt sein kann oder durch Contraction des glatten Lidmus- 
kels. Eulenburg halt es ftir zweifelhaft, ob das Grafe'sche Sym¬ 
ptom von dem Stellwag’schen abgeleitet werden kann, da eines ohne 
das andere vorkommen kann, und ist geneigt, eine Stoning central 
angelegter Coordinationen anzunehmen. 

Sharkey (1. c.) halt es ftir moglich, dass es sich um centrale 
Storangen handelt, namentlich wenn zugleich Seltenheit des Lidschlages 


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Ueber den diagnostisehen Werth des Gr&fe’scnen Symptoms etc. 115 

besteht, glaubt aber eher, dass es sich um eine Schwache des Anta¬ 
gonists (sc. des Orbicularis oculi) handelt, wenn das Stellwag'sche 
Symptom auch yorhanden ist; beim Grafe'schen Symptom, ohne 
Stellwag’sches, ist entweder ein Reizzustand des Levator vorhanden, 
oder des glatten Lidmuskels. Durcb Reizung des Sympathicus konnte 
auch Remak eine Erweiterung der Lidspalte hervorrufen. 

Wilbrand und Sanger haben gefunden, dass in der Literatur 
folgende Theorien fiber die Entstehung des Grafe'schen Symptoms 
aufgestellt werden: namlich dass es zu Stande komme 

1. durch Storungen des Sympathicus, 

2. Storung der betreffenden Reflex- und Coordinationscentren, 

3. durch Einwirkung der erweiterten Orbitalgefasse auf den 
Levator. 

Ferri glaubt, dass die Muskelsubstanz des Levator durch Erwei¬ 
terung der Gefasse manchmal verkfirzt werde und es dadurch zur 
Retraction des Oberlides komme. 

4. Insufficienz des Orbicularis, 

5. Steigerung der Lidheberwirkung. 

Wilbrand uud Sanger schliessen sich im Ganzen der Ansicht 
von Mobius und Bruns an, dass es sich um Erregungszustande der 
Lidheber handelt, glauben aber, dass noch andere mechanische Ver- 
haltnisse mitspielen, welche individual verschieden sind und unter der 
Einwirkung des Exophthalmus mehr oder weniger deutlich hervor- 
treten. Sie weisen darauf hin, dass zwischen Levator palp. sup. und 
Rectus sup. eine Verbindung durch einen Fascienzipfel existirt und dass 
die Faltung der Conjunctivalschleimhaut, in welche die Fascienzipfel 
genannter Muskeln eine Insertion hineinsenden, manchmal weniger, 
manchmal mehr ausgiebig ist. Beim Blick nach unten wird der An- 
satz des Rectus superior nach vom unten gezogen und mit ihm der 
des Levator palp. sup. 1st die Verbindung eine schlaffere, so braucht 
das obere Augenlid der Abwartsbewegung nicht gleich zu folgen und 
so kann die Entstehung des Grafe’schen Symptoms bei normalen 
Individuen erklart werden; tritt durch starkere Fttllung der Orbital¬ 
gefasse der Zustand des Exophthalmus ein, so kann zunachst dadurch 
ein Klaffen der Lidspalte und seltenerer Lidschlag hervorgebracht 
werden (Stellwag). Durch den in Folge des Exophthalmus entstan- 
denen Zug des vorgetretenen Augapfels soli der Tonus des Levator 
noch erhoht werden und so das Zuruckbleiben des Oberlides noch 
verstarkt werden. Die Abhangigkeit des Grafe'schen Symptoms vom 
Exophthalmus geht bei M. B. noch hervor aus Beobachtungen von 
Mobius, welcher meint, dass Exophthalmus, wenn auch in geringem 
Grade, fast immer bei M. B. vorhanden sei, ferner Fitzgerald, wel- 

8 * 


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116 VI. Flatatj, Ueber den diagnost. Werth dea Grafe’schen Symptoms etc. 

cher bei 4 Fallen von einseitigem Exophthalmus nur an diesem Auge 
Grafe’sches Symptom fand, und schliesslich von Hack, in dessen 
Beobachtung das Grafe’sche Symptom zugleich mit dem Exophthal¬ 
mus verschwand (citirt nach Wilbrand und Sanger, „Neurologie des 
Auges“). 

Ffir die von mir beobachteten Falle mit Ausnahme des zweiten muss 
von der Heranziehung des Exophthalmus zur Erklarung des Grafe- 
schen Symptoms abgesehen werden; die von Wilbrand und Sanger 
(1. c.) beschriebenen anatomischen Verhaltnisse gentigen aber zur Er¬ 
klarung der Thatsache, dass das Grafe’sche Symptom auch bei ge- 
sunden Personen vorkommt, und es gelingt, dasselbe willkurlich her- 
vorzubringen. Fttr die Beobachtungen des Grafe'schen Symptoms 
an sonst gesunden Personen muss man sich erinnern, dass bei vielen 
Menschen wahrend des Sprechens, besonders bei etwas erregter Unter- 
haltung, eine Neigung zur Erweiterung der Lidspalte besteht, die nur 
auf eine Erh5hung des Levatortonus zurtickgef&hrt werden kann. 
Untersucht man bei solchen Personen jetzt auf das Grafe'sche Sym¬ 
ptom, so wird man es haufig finden, zugleich aber feststellen konnen, 
dass es zu anderen Zeiten, oft nur kurze Zeit, nachdem man es eben 
nachgewiesen hat, nicht mehr vorhanden ist. Auf den in Folge psy- 
chischer Erregung vermehrten Levatortonus muss das Bestehen des 
Grafe’schen Symptoms auch in den Fallen von Neurasthenic (1. Fall), 
traumatischer Neurose (2 Falle), Hysterie (2 Falle) bezogen werden. 

In dem Falle von Tumor cerebri und dem von Diplegia spastica 
cerebr., die nur einmal untersucht wurden, kann eine ausreichende Er¬ 
klarung nicht gegeben werden. 

Bei dem Falle von Bulbarparalyse wurde sowohl Erweiterung der 
Lidspalte als Grafe’sches Symptom constant beobachtet und, obgleich 
der Lidscbluss nicht abnorm schwach war, ist hier wohl am ehesten 
an eine Schwache des Orbicularis zu denken. 

Aus den vorstehenden Erorterungen glaube ich schliessen zu dtLrfen, 
dass das Grafe’sche Symptom keine wesentliche diagnostische Be- 
deutung hat und dass sein Zustandekommen bei den verschiedenen 
Erkrankungen verschieden zu deuten ist. 

Die Theorie von Mobius und Bruns im Verein mit den von 
Wilbrand und Sanger angegebenen anatomischen Befunden reicht 
fhr die Erklarung in vielen Fallen aus. 


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Aus der K3nigl. medic. Universitatsklinik zu Halle a./S. 

(Director: Qeh. Med.-Rath Prof. Dr. Webeb.) 

Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemi- 
an&sthesie und Hemiplegie. 

Yon 

Assistenzarzt Dr. A. Hofmann, 

z. Z. Oberarzt der Klinik del Herm Prof. Dr. v. Mering. 

(Mit 6 Abbildungen.) 

So bekannt und haufig vorkommend das Bild der Hemianasthesie 
verbunden mit Storungen der specifischen Sinnesorgane derselben Seite 
bei Hysteric ist, so selten sind die Falle, wo in Folge einer organischen 
intracerebralen Erkrankung dieser Symptomencomplex zur Beobachtung 
kommt. Die Mittheilung eines weiteren derartigen Falles erscheint 
deshalb gerechtfertigt, um so mehr, als er einige bemerkenswerthe 
Eigenthttmlichkeiten darbietet und zur Aufklarung einer strittigen 
Frage beitragt. 

Die Krankengeschichte ist folgende: 

J. St., 26 Jahre alt, Bergarbeiter aus Kl.-Sch. in Posen, wurde am 
19. Mai 1899 in die hiesige medicinische Klinik aufgenommen. Seine 
Eltera leben und sind gesund, nur zuweilen leidet die Mutter an Kopf- 
schmerzen. Sechs Geschwister sind gleichfalls gesund. Das erste Kind 
seiner Eltern starb einen Tag nacb der Geburt an unbekannter Krankheit, 
ein anderes im vierten Lebensjahre an einer „Erkaitungskrankheit“, nach- 
dem es Yorber immer gesund gewesen war. Es war dies eines der zuletzt 
geborenen Kinder. Patient ist der zweit&lteste seiner Geschwister, war 
als Kind stets gesund und auch von alien Kinderkrankheiten verschont ge- 
blieben. Seit seinem 14. Lebensjahre half er seinem Vater in der Sch&ferei, 
und will stets sehr mftssig gelebt, nur an Sonntagen Bier in geringer 
Menge genossen haben. Geschlechtliche Infection wird auf das Ent- 
schiedenste in Abrede gestellt. Vor fiinf Jahren, in seinem 21. Lebensjahre, 
fiel er plbtzlich beim Viehffittern im Stalle bewusstlos zusammen, ohne sich 
kQrperlich besonders angestrengt und ohne irgend welches Unwohlsein vorher 
verspfirt zu haben. Er mochte etwa eine Stunde bewusstlos dagelegen haben, 
als ihn sein Vater fand. Mit seiner Hiilfe konnte er, als er das Bewnsst- 
sein wieder erlangt hatte, nach Hause gehen, doch waren der linke Arm 


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118 


VII. Hofmann 


and das linke Bein sehr schwach, das letztere mehr wie der Arm. Ob 
Kr&mpfe in den Gliedem auftraten, vermag er nicht anzugeben. Am n&chsten 
Tage stellten sich Schmerzen in der linken Korperhftlfte ein nnd er be- 
merkte zugleick, dass er aaf dieser Seite nichts fiihlte, dass er Gespr&che 
anf dem linken Ohre schlechter hbrte, anf der linken Zungenh&lfte nichts 
schmeckte nnd dass es ihm „wie ein Schleier vor den Angen lag u . Die 
Parese, in Folge deren er den Arm nor zur halben Horizontalen, das Bein 
noch weniger heben konnte, besserte sich nach 3 Tagen, doch bestanden 
Schwindelgefdhl nnd Schmerzen in der linken Kbrperseite weiter. Nachdem 
er l 1 ^ Monate zn Hause geblieben, machte er 10 Wochen lang in einem 
orthop&dischen Institute in Breslau Uebungen zur St&rkung seiner noch 
immer schwachen linksseitigen Extremit&ten. Im Laufe dieser Zeit ver- 
schwanden die Schmerzen in der linken Kfirperh&lfte fast ganz und anch 
die Paresen besserten sich, Arm und Bein vermochte er jetzt fiber die 
Horizontal zu heben; doch fiel ihm eine Abmagerung der linken Hand auf, 
deren Beginn er nicht mehr genauer anzugeben vermag. In das Eltemhaus 
zurfickgekehrt, verblieb er daselbst zwei Jahre, w&hrend deren er oft ein 
leichtes Schwindelgefuhl und diffuse, besonders rechtsseitige Kopfschmerzen 
in der Stim- und Scheitelgegend verspfirte. Die Schmerzen in der linken 
Korperh&lfte traten nur nach l&ngerem Gehen und Stehen auf. Alsdann 
nahm er eine Stelle als Bergarbeiter in einer Grube an, wo er im ersten 
Jahre ziemlich schwere Arbeit verrichtete. W&hrend er anfangs nur eine 
zunehmende Schw&che in den linken Extremit&ten verspfirte, stellten sich 
nach i l 2 Jahre Schmerzen in beiden Beinen ein, die sich zuweilen zu schmerz- 
haften, krampfartigen Muskelcontractionen steigerten. In Folge dessen 
musste er mehrmals die Arbeit aussetzen, wonach sich die Schmerzen jedes- 
mal besserten, um nach Wiederaufhakme der Arbeit von Neuem aufzutreten. 
Er wurde deshalb bei leichter Arbeit besch&ftigt, doch blieben die Schmerzen 
in der linken Seite jetzt anhaltend, wenn sie sich auch nicht mehr zu 
krampfartigen Zuf&llen steigerten. Vor einem Jahre versuchte er nochmals, 
sich bei schwerer Arbeit zu besch&ftigen, sofort stellten sich aber jene Zu- 
f&lle unter fiusserst starken Schmerzen wieder ein. Am 22. December v. J. 
erreichten sie eine solche Heftigkeit, dass er zu Boden fiel und nach Hause 
getragen werden musste. Es stellte sich auch wieder ein grosses Schw&che- 
geffihl in den linken Extremit&ten ein. Im Krankenhause zu Altdebern 
besserte sich sein Zustand etwas, doch traten sofort wieder heftigere Schmerzen 
au£ wenn er das Bett verliess. Vorubergehend erkrankte er dort noch an 
einem Hautausschlage, der seiner Beschreibung nach ein n&ssendes Ekzem 
war und am Scrotum und Oberschenkel sass, bald aber geheilt wurde. Am 
19. Mai wurde er in die hiesige Klinik aufgenommen. 

Status praesens. Patient ist ein mittelgrosser Mann von leidlich 
gutem Ernfthrungszustande und geringem Fettpolster, dessen Brust- und 
Bauchorgane vollkommen gesund sind. Insbesondere l&sst sich weder am 
Herzen und dem fibrigen Gef&sssysteme, noch an den Nieren etwas Krank- 
haftes nachweisen. Auch Zeichen einer heredit&ren oder erworbenen Lues 
fehlen, nur hinter den beiden Ohren ffihlt man eine kleine, erbsengrosse, 
verschiebbare, wie eine vergrbsserte Mastoidealdrtise erscheinende Ver- 
dickung. 

Seine Klagen bestehen in Schw&cbe und Schmerzen in der ganzen 
linken Kbrperseite und im rechten Beine. 


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Ein Fall cerebraler seusibler und sensorieller Hemianasthesie etc. U9 


Er ist bei freiem Sensorium und antwortet klar und verstandig, wenn 
auch zuweilen etwas langsam, in gebrochenem Deutsch. Sprach-, Lese- nnd 
Schreibstdrungen irgendwelcher Art besteben nicht. Seine Stimmnng ist 
etwas deprimirt, im Verlaufe der weiteren Beobachtung zeigt er sicb leicbt 
znm Weinen geneigt. Er giebt an, dass sein Gedachtniss seit dem Beginne 
seiner Krankheit vor 5 Jahren nachgelassen habe, anch seine F&higkeit, 
Rechenaufgaben auszuftihren, habe gelitten. Er vermag auch nur die aller- 
einfachsten Exempel des kleinen Ein mal Eins zn ldsen. 

Es besteht eine linksseitige totale Anasthesie, Herabsetzung der Function 
der hdheren Sinnesorgane links, Parese and AtropMe der linken Extremit&ten. 

Eine genauere Untersnchung ergiebt Folgendes: 

Kopf nach alien Seiten frei beweglich, auf Beklopfen etwas dififos 
empfindlich, besonders iiber der rechten Stirn- und Scheitelgegend. Die ganze 
linke Gesichtsh&lfte erscheint ein wenig geringer entwickelt, besonders die 
Wangenpartie etwas flacher und die Musculatur am unteren Kieferrand 
etwas diinner wie rechts. Das rechte Ohr misst in seiner Lange und Breite 
7,0 resp. 3,3 cm, das linke 6,6 reap. 3,1 cm. Die iibrigen Maasse des Ge- 
sichts und Schadels sind beiderseits gleich, ebenso Dicke, Farbe und Be- 
haarung der Haut. 

Olfactorius. Rechts werden alle Geruchsqualitaten normal empfunden, 
links werden Geriiche, wie von Campherspiritus, TerpentinSl, Kolner Wasser, 
Asa foetida, Essig gar nicht wahrgenommen. Die Untersuchung des Nasen- 
inneren ergiebt eine normale Schleimhaut. Scharfe Geriiche, wie Ammoniak 
und Acidum acet. glaciale werden links in sehr geringem Grade (Trige¬ 
minus) wahrgenommen, rechts dagegen rufen sie die normale starke Reiz- 
emptindung hervor. Dieser Befund bleibt w&hrend der ganzen Beobachtungs- 
zeit unver&ndert. 

Opticus. Der ophthalmoskopische Befund ist auf beiden Augen ein 
normaler. Bei einer grob orientirenden Untersuchung werden Finger links 
auf 5 m gezfthlt, rechts besteht normale Sehscharfe. Auf dem linken Auge 
concentrische Gesichtsfeldeinengung, rechts normales Gesichtsfeld. Um diesen 
Befund von fachm&nnischer Seite controliren und den Grad der Gesichts¬ 
feldeinengung am Perimeter genau feststellen zu lassen, und um mich zu 
vergewissern, ob dieses auff&llige Ergebniss ein constantes sei, warden 
wiederholte Untersuchungen in der hiesigen K3nigl. Universitatsaugenklinik 
vorgenommen, f&r die ich den Herren Collegen auch an dieser Stelle meinen 
verbindlichsten Dank ausspreche. Die erste von Herrn Dr. Sandmann, 
I. Assistenten der Augenklinik, am 16. Juni vorgenommene Priifung ergab: 
Das ophthalmoskopische Bild normal. Rechts voile Sehscharfe, links an- 
fangs 0,5, die dann durch geeignete Mittel auf 0,9 der Norm gebracht wird. 
Rechts normales Gesichtsfeld, links concentrische Einengung fiir Weiss 
und alle Farben. Sicher keine Hemiopie. Zugleich wollte Patient auf dem 
linken Auge beim Blick nach den Seiten Diplopie, also monoculare, haben, 
was natiirlich nicht der Fall war. Das Ganze mache den Eindruck eines 
nervdsen Augenleidens. Wiederholte Untersuchungen meinerseits ergaben 
stets concentrische Gesichtsfeldeinengung links, rechts normales Gesichtsfeld. 
Eine zweite, 5 Wochen spater vorgenommene Untersuchung seitens des 
Herrn Collegen Dr. Wagner ergab: Rechts normales Gesichtsfeld, links 
concentrische Einengung fur Weiss und alle Farben (s. Fig. 1). Auch 
bei binocularer Aufnahme ergiebt sich dies. Rechts normale Sehscharfe, 


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120 


VII. Hofmann 


links < 0,5. Monocnl&re Diplopie wird nicht mehr angegeben. Eine dritte 
Untersuchung am 8. August verdanke ich Herrn Collegen Dr. Schick: 
Augenhiutergrund normal. Sehsch&rfe rechts 0,6, links 0,3 der Norm. Ge- 
sichtsfeld links ist fUr Weiss nnd alle Farben aufs Aeusserste eingeengt, 
auch rechts zeigt sich heute eine Starke concentrische Einengung. Derselbe 
Befund wird am n&chsten Tage erhoben, doch wird das Gesichtsfeld nach leicbter 
Faradisiruner der Aiuren beiderseits etwas weiter an¬ 
gegeben. (S. Figg. 2 S. 122 u. 123.) Ueber eine vierte 
Untersuchnng am 1. September berichtete mir Herr 
College Dr. Schlodtraann, L Assistent der Augen- 


Grenze fdr Weiss 
81 m 
. Etoth 
w - tfrfa 




Fig. 1. 


klinik: Bei einer eingehenden Untersuchnng des St. habe ich heute gefunden: 
Binocular rait— 0,5 D ist S<0,9. Rechts S<0,8 (augenscheinlich hat er hier 
in Wirklichkeit < 0,9); links S < 0,7. Das Gesichtsfeld des linken Auges ist 
fast normal und erst nach mehrfachen Aufnahmen so angegeben. Die Kreuzchen 
bedeuten die urspriinglichen Angaben (s. Figg. 3 S. 124 u. 125.) Es handelt sich 
entweder um Simulation oder stark herabgesetzte Willenskraft, die erst durch 
Zureden und Suggestion kiinstlich gehoben werden kann. Etwas Patho- 
logisches habe ich nicht gefunden. — Bereits am n&chsten Tage war das 
Gesichtsfeld links wieder stark eingeengt. 

Oculomotorius, Trochlearis, Abducens. Augenbewegungen nach 
alien Seiten mon- und binocular frei, keine Doppelbilder. Keine Ptosis, 


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Em Fall cerebraler sensibler and sensorieller Hemianasthesie etc. 121 


kein Nystagmus. Linke Pupille etwas enger wie die rechte, beide mittel- 
weit, accomodativ and reflectorisch gut reagirend. Keiue hemianopiscbe 
Pupillenstarre. 

Trigeminus. Bei Seitw&rtsbewegung der Unterkiefer keine Stttrung 
in ihrer motorischen Function, dagegen wird der Biss auf ein Holzstbck 
links mit etwas geringerer Kraft wie rechts ausgefiihrt, wahrscbeinlicb aber 
nur wegen Schmerzen, die Patient dabei zwischen Ohr und Jochbogen 
empfindet Die Sensibilit&t der linken Gesichtshalfte ist fur Beriihrung 
vollkommen aufgehoben. Von eiuer scharf in der Mitte des Gesichts iiber 
Stirn, Nase, Lippen und Kinn verlaufenden Linie an besteht starke Hypas- 



Fig. 1. 


thesie, die */ 4 cm nach links in yollst&ndige An&stkesie iibergeht. Vome 
geht diese An^sthesie in die gleicbfalls gefbhllose Zone des Nerv. subcutan. 
colli, nach hinten und oben in die der Nn. auricular, magnus, occipital, 
minor und major iiber. Die An&sthesie betrifft auch die Schleimhaut der 
Zunge, Lippen, Wangen, des Gaumens und Rachens liukerseits, gleichfalls 
in der Mittellinie beginnend. In den tieferen Partieen des Pharynx, der 
Epiglottis und des Larynx ist die Sensibilit&t erhalten. An der Con¬ 
junctiva bulbi ist sie stark herabgesetzt, doch noch etwas vorhanden, der 
Lidreflex erfolgt auf Beriihrung links weniger prompt wie rechts. Keine 
trophischen Stftrungen am Augapfel, norraaler, beiderseits gleicher Feuchtig- 
keitsgehalt der Conjunctivalschleimhaut. Die Schmerzempfindung ist auf 




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122 


VII. Hofmann 


der ftusseren Haut nnd den Schleimh&uten stark herabgesetzt. Kneifen, 
Stechen mit einer Nadel werden nur wenig schmerzhaft empfonden, die 
linke Zungenh&lfte ist selbst far tiefe Nadelstiche unempfindlich. Relativ 
am wenigsten ist die Schmerzempfindung berabgesetzt in der Gegend zwischen 
Nase nnd nnterem Augenlide, w&brend die Scbleimbaat der Nasenscheide- 
wand in ibren oberen Tbeilen sogar schmerzempfindlicher ist wie rechts. 
Temperaturnnterscbiede werden nicht empfonden, Beriihrung mit Eis wird 
gar nicht, mit einem beissen Glase nur als Betastring wabrgenommen. Starke 
Geriiche werden links nnr in geringem Grade empfonden. Die linke Znngen- 
h&lfte empfindet in ibren vorderen Partieen keinerlei Geschmacksqualit&ten, 



Fig. 2. 


desgleicben die hinteren (Nerv. glossopharyngeus.), w&hrend rechts normale 
Verh&ltnisse besteben. Der Feucbtigkeitsgebalt der Mundhohle ist beider- 
seits gleicb, die Geschmacksstbrnngen bestanden wahrend der ganzen Beo- 
bachtungszeit unverandert fort. 

Facialis. Wie bereits erwaknt, ist die ganze linke Wangenpartie 
etwas flacher and weniger entwickelt, and wohl nur aus diesem Grande er- 
scbeint die linke Nasolabialfalte etwas seicbter wie recbts. Die Mundwinkel 
steben beiderseits gleicb bocb. Die willkiirlichen mimischen Bewegungen, 
wie Pfeifen, Spitzen des Mundes, Riimpfen der Nase, werden beiderseits 
gleiclimftssig aasgefubrt, aach der Stiraast fonctionirt beiderseits gleicb. 
Dagegen bleibt bei onwillkiirlichen, nicht za aasgiebigen mimischen Be* 


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Em Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 123 

wegungen, beim L&cheln oder Weinen der linke Mundwinkel in geringem 
Grade, aber deutlich tiefer stehen nnd die linke Nasolabialfalte ist noch 
niehr verstrichen, w&hrend bei starkem Lachen dieser Unterschied zwiscben 
beiden Seiten wieder verschwindet. Die Bewegnngen des Ganmensegels 
beiderseits gleich, dock steht die linke H&lfte etwas bober und erscheint 
schm&ler; die Uvula ist leicht nach rechts geneigt. 

Acusticus. Rechts wird das Ticken einer Taschenubr auf 1 m, links 
auf 10 cm geh5rt. Andere Male hbrt er sie aber wieder auf 20—40 cm. 
Knochenleitung rechts iiberall gut, links wird die Taschenuhr nur am 
Warzenfortsatz ganz leise gehbrt. Der Rinne’sche Versuch beiderseits 
positiv. Bei dem Weber’schen hort Patient die Stiramgabel bei offenem Gehor- 



Fig. 2 . 


gauge beiderseits gleich, bei geschlossenem linken nicht, nur ein Brummen 
und Summon im ganzen Kopfe, bei geschlossenem rechten auf diesem Ohre. 

Glossopharyngeus, Vagus, Accessorius. Geschmacksempfindung 
links vollst&ndig aufgehoben, auch fur die st&rksten Substanzen. Keine 
Schluckstbrungen. Athmung ruhig, 20 pr. Min., desgl. Herzaction 72—80. 
Im Kehlkopf nichts Abnormes, Sensibilit&t des Kehlkopfinnern, der Epiglottis 
und der tieferen Pharynxpartieen beiderseits gleich. Der linke Musculus 
cucullaris zeigt beim Heben der Schultern eine deutliche Schw&che gegeniiber 
dem rechten, wfthrend die Widerstandspriifung der Sterno-cleido-mastoidei 
beiderseits gleich ausf&llt. 


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124 


VII. Hofmann 


Hypoglossus. Die Zunge wird gerade herausgestreckt, zeigt keine 
Atrophie Oder fibrillaren Zuckungen. Keine Storungen beim Kauen, Schlncken, 
Sprechen. 

An der linken Rumpfhftlfte und den linken Extremitftten zeigt sich 
gleichfalls yollkommener Schwnnd des Tastgefiihles. Anch hier verlftuft 
vorne nnd hinten genau in der Mitte eine gerade Linie, von welcber nach 
links eine schmale, etwa j / 4 cm breite Zone stark herabgesetzter Sensibilitat, 
alsdann aber totale An&sthesie folgt. Pinselstriche Oder Beruhrung mit dem 
Finger werden nirgends gefiihlt. Druckdifferenzen werden anch nicbt erkannt, 
nur sehr starker Druck anf die Knocben wird als leichter Drnck empftmden. 



Fig. 3. 


Die Schmerzempfindung der Haut fdr Stecben und Kneifen ist gleicbfaUs 
vollkommen aufgehoben mit Ausnahme einer Stelle des linken Beines. Hier 
findet sich anf der Hinterseite des Ober- nnd Unterschenkels sowie anf der 
Vorderflftche des letzteren vom Knie an ein Bezirk, in dem die Schmerz- 
empfindnng noch erbalten ist, oben in geringerem, an der Fnsssohle in 
bbherem Grade. Der Ortssinn, der nur an diesen Stellen gepriift werden 
kann, ist gleichfalls stark beeintr&chtigt, denn bei den Angaben, wo er ge- 
stochen worden sei, deutet Patient meist handbreit daneben. Der Banmsinn 
ist gleichfalls vollst&ndig geschwnnden. Temperatnrnnterschiede werden 
an keiner Stelle erkannt. Patient verbrannte sich w&hrend seines Anfent- 
haltes in der Klinik eines Tages die linke Hand bis znr Blasenbildung an 


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Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasfchesie etc. 125 


einem heissen Sandsacke, obne sich dessen bewnsst zu werden. Ansserdem 
zeigte die Hand eine Reihe alter, yon Verbrennnngen herrtihrender Narben. 
Der Mnskelsinn ist vollstandig vernichtet, passiv ansgeffihrte Bewegnngen 
der linken Extremitaten werden nicht wahrgenommen, die Lage der Glieder 
nicht erkannt. SelbstverstSndlich ist anch der stereognostische Sinn gftnz- 
lich vernichtet. Die faradocntane Sensibilitat anch for die starksten Strtime 
erloschen, er nimmt nnr die Muskelznckung wahr nnd verspiirt bei Be- 
ruhrnng der Wangen einen sanren Geschmack. 

Patient klagt liber spont&ne Schmerzen, die reissend, stechend nnd 
ziehend in Arm, Bein nnd Rnmpf linkerseits fast andanemd vorhanden 



Fig. 3. 


sind. Anch in Zeiten, wo dieselben sich in geringerem Grade geltend 
machen, besteht ein sclimerzhaft brennendes Gefiihl in den genannten Regionen, 
besonders hanlig nnd heftig in der Gegend der linken Fussknbchel. Einzelne 
achmerzhafte Nervenstamme, Gelenkaffectionen oder schmerzhafte Contrac- 
tnren bestehen nicht, vielmehr sind die Schmerzen an alien Theilen der Extremi- 
t&ten nnd des Rnmpfes vorhanden. Schon bei leicht kiihler Anssentemperatnr 
steigern sich die Schmerzen, er r friert u dann, wie er sich ansdriickt, ohne 
dass er den Temperatnrunterschied wirklich empfindet. 

Anch im rechten Beine verspiirt er Schmerzen, die sich aber im Ver- 
laufe des Nerv. ischiadicns halten. Die Hantsensibilitat ist in diesem Be- 
zirk etwas herabgesetzt. Nachweisliche Atrophie ist nicht vorhanden. 


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126 


VII. Hofmann 


Die motorischen Storungen der linken Seite sind recbt betrfichtliche. 
Der linke Arm wird bis zur halben Horizontalen, das linke Bein nar wenig 
liber die Unterlage emporgehoben. Bewegt man die Extremit&ten weiter, 
so steigern sich die Schmerzen. Beim Gehen hinkt Patient anf dem linken 
Bein, der Gang ist links spastisch-paretisch, das linke Bein wird dabei 
im Knie nicht gebengt; die Fusssohle tritt mit dem fcusseren nnd inneren 
Rande gleichm&ssig anf. Die rohe Kraft im rechten Arme m&ssig gat, in 
den linken Extremit&ten stark herabgesetzt. Recbts driickt Patient 45 k, 
links 1 k mit dem Dynamometer. Contractnren bestehen nicbt, nor zu- 
weilen erscheinen bei passiven Bewegnngen ganz leichte Spasmen. 

Die linken Extremitaten zeigen kleinere Maasse wie rechts. 

Recliter Arm vom Akromion bis zur Spitze des Mittelfingers 80,9 cm 

Linker „ „ „ „ w „ „ „ 79,0 ,, 

Umfang des rechten Armes 15 cm fiber dem Olecranon 28,4 „ 

,, „ linken „ „ „ „ „ 26,1 T , 

,, „ rechten Unterarmes 10 cm unter dem Olecranon 26,5 „ 

„ „ linken „ „ „ „ „ 25,2 ,, 

„ „ rechten „ am Handgelenk 17,4 „ 

„ " „ linken „ „ „ 16,8 .. 

Eine sehr starke Atrophie weist die linke Hand anf, die der bei der 
progressiven Muskelatrophie gleicht. Am starksten vorgeschritten ist die- 
selbe an der Musculatnr des linken Daumenballens, an dessen Stelle sich 
eine tiefe Grube zwischen Daumen und Zeigefinger findet. Die abduci- 
renden, adducirenden und opponirenden Bewegungen des Daumens werden 
nur sehr wenig ausgiebig und mit minimaler Kraft ausgefulirt. Flexion 
des Daumens geschieht in noch geringerem Grade. Auch die Interossei 
sind atrophisch, die Spatia interossea auf Dorsal- und Volarflftche stark aus- 
gepragt, die Vola manus betr&chtlich abgeflacht. Die vier letzten Finger 
werden im 2. Phalangealgelenke fast rechtwinklig gebeugt gehalten und 
ktfnnen activ nur wenig gestreckt werden, auch passiv nicht bis zur Graden. 

Rechter Oberschenkel von d. Spina ant. super, bis zur Spitze 

der grossen Zehe 108,5 cm 

Linker Oberschenkel von d. Spina ant. super, bis zur Spitze 

der grossen Zehe 106,2 „ 

Umfang des rechten Oberschenkels 23 cm iiber dem oberen 

Patellarrande 46,0 „ 

Umfang des linken Oberschenkels 23 cm iiber dem oberen 

Patellarrande 44,1 „ 

Umfang des rechten Unterschenkels 30 cm unter dem unteren 

Patellarrande 31,2 ,, 

Umfang des linken Unterschenkels 30 cm unter dem unteren 

Patellarrande 29,8 ,, 

Umfang des rechten Unterschenkels unmittelbar iiber den 

Knbcheln 20,4 ,, 

Umfang des linken Unterschenkels unmittelbar iiber den 

Knocheln 19,8 „ 

Der linke Fuss zeigt keine Atrophie in der Weise wie die Hand. 

Die linke Glut&algegend erscheint beim Gehen gleichfalls deutlich 
flasher wie die rechte. 


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Em Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 127 

Der Pharynxreflex lftsst sich rechts in normaler Weise ausliteen, links 
tritt er nor bei starkerer Beriihrung anf. Bauchreflexe rechts schwach, 
links fehlend, Cremasterreflex rechts sehr schwach, links fehlend. 

Patellarreflex rechts lebhaft, links sebr gesteigert, Achillessehnenreflex 
rechts nicht vorlianden, links lebhafter Fussclonus, der Fusssohlenreflex 
rechts gering, links sehr gesteigert. 

Die Bicepssmascalatnr des linken Armes zeigt zuweilen einzelne 
Zackungen, kleinere fibrillftre Zncknngen sind fast best&ndig in der atro- 
phischen Danmenballenmusculatnr zu sehen. Die Finger der linken Hand 
fuhren kleine choreaartige Bewegungen aus, indem der kleine Finger bald 
abducirt, die anderen bald flectirt, bald extendirt werden. 

Die elektrische Priifnng mittels des faradischen und galvanischen 
Stromes ergiebt eine normale, beiderseits gleiche Erregbarkeit der Nerven 
und Miiskeln. Nur die Erregbarkeit der atrophischen Daumenballenmuscu- 
latur ist etwas herabgesetzt, entsprechend dem Schwunde der Muskelfasern. 
Die Differenz betragt bei dem faradischen Strome 20 mm Rollenabstand 
gegen rechts. Keine Spur von Entartungsreaction. 

Blasen- und Mastdarmthatigkeit sind ungestort. 

Die Temperatur war eine normale, nur selten kamen abendliche leichte 
Steigerungen bis 37,9 vor. Dagegen zeigte die linke Kflrperhalfte stets 
einige Zehntel Grade weniger wie die rechte. 

Als Beispiel hierfiir mhgen folgende Zahlen dienen. 

Rechts Links 

Morgens Abends Morgens Abends 

4. August. 37,2 37,9 36,9 37,6 

5. August. 87,4 37,5 37,0 37,4 

6. August. 37,4 37,6 37,3 37,4 

Auch in den Nasenlftchern und ausseren Gehorgangen wurden Messungen 
angestellt: 

Rechtes Nasenloch | Linkes Nasenloch 


Morgens 

Abends Morgens 

Abends 

5. August. 37,0 

36,9 36,6 

36,6 

Rechtes Ohr 

Linkes 

Ohr 

Morgens 

Abends Morgens 

Abends 

5. August. 36,9 

37,0 1 36,5 

36,7 


Diese des Oefteren wiederholten, mit genau gehenden Thermometern 
ausgefiihrten Messungen ergaben auf der linken Seiten stets eine Temperatur, 
die hinter der der rechten um 0,1—0,4° zuriickblieb. 

Auch die Feuchtigkeit der Haut war auf beiden Kbrperhaiften eine 
verschiedene, indem die linke stets trockner war. Am deutlichsten zeigte 
sich dieser Unterschied, wenn Patient kiinstlich zum Schwitzen gebracht 
wurde. Wahrend dann auf der rechten Korperhalfte die Schweisstropfen 
scharf bis zur Medianlinie standen, fiihlte sich der Rumpf links nur wenig 
feucht, Arm, Bein und Gesicht aber trocken an. 

Fassen wir das Wesentlichste der yorstehenden Krankengeschichte 
nochmals kurz zusammen: Ein aus gesunder Familie stammender, 
bisher vollkommen gesunder junger Mann von 21 Jabren erleidet 


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128 


VII. Hofmann 


plotzlich in volligem Wohlbefinden einen Schlaganfall, in Folge dessen 
er bewusstlos zu Boden fallt. Nach dem Erwachen bemerkt er eine 
betrachtliche Parese der linken Extremitaten, auch das Geftihl auf der 
ganzen linken Seite ist geschwunden. Auf dem linken Ohre hort er 
nicht mehr so gut wie frtiher, die linke Zungenhalfte schmeckt nicbts 
mehr, liber den Augen, besonders dem linken, liegt es ihm „wie ein 
Schleier“. Zugleich treten lebhafte Schmerzen in der ganzen linken 
Korperhalfte auf. Die Parese bessert sich schon nach drei Tagen, auch 
die Schmerzen lassen allmahlich nach, bald stellt sich aber eine Atro- 
phie der linken Hand ein und die GefQhllosigkeit mit den genannten 
Gehor-, Geschmack- und Sehstorungen bleibt eine dauernde. Wahrend 
er zu leichter Arbeit noch fahig ist, treten bei schwererer sofort 
heftige Schmerzen in der linken Seite auf, die Schwache in den linken 
Extremitaten nimmt zu und es gesellt sich noch eine rechtsseitige Ischias 
zu den tibrigen Beschwerden. Trotzdem versucht Patient immer wieder 
an die Arbeit zu gehen, die Schmerzen steigem sich zu krampfartigen 
Anfallen in den unteren Extremitaten, und er muss sich ins Kranken- 
haus begeben. Flinf Jahre nach dem Beginne der Krankheit findet 
sich eine vollstandige Anasthesie in der linken Korperhalfte ftir Be- 
rlihrung; Druck- und Raumsinn sind yollkommen, Ortssinn fast voll- 
standig geschwunden, Schmerzempfindung nur noch an einzelnen Stellen 
des Beines und des Gesichts vorhanden, wenn auch abgeschwacht, 
Temperatur-, Muskel- und stereognostischer Sinn ganzlich aufgehobeu. 
Andauernde Schmerzen in der linken Korperhalfte, rechtsseitige Ischias. 
Geruch und Geschmack sind auf der linken Seite ganz geschwunden, 
die erstere Storung kommt dem Patienten bei unsererUntersuchung zum 
ersten Male zum Bewusstsein. Wahrend der Verlust dieser Sinne 
links ein ganzlich er und andauernder ist, ist das Gehor- und Sehver- 
mogen links nur stark beeintrachtigt und in seiner Leistungsfahigkeit 
schwankend. Vortibergehend betheiligt sich auch das rechte Auge 
an der Sehstorung, die in Einengung des Gesichtsfeldes mit Abnahme 
der Sehscharfe bei normalem ophthalmoskopischem Befunde besteht. 
Dabei besteht hochgradige Schwache der linken Extremitaten, eine 
leichte Parese des Nerv. facialis bei unwillktlrlichen mimischen Be- 
wegungen und eine Schwache des Musculus cucullaris links. Die 
linke Hand ist stark atrophisch, die Langen- und Umfangsmaasse der 
linken Extremitaten bleiben hinter denen der rechten zurlick, doch 
besteht keine Entartungsreaction. Die Temperatur der linken Korper¬ 
halfte ist niedriger wie die der rechten, ebenso der Feuchtigkeitsgehalt, 
starkerer Schweissausbruch ist auf dieser Seite nicht hervorzurufen. 
In einzelnen Muskeln und an der linken Hand zeigen sich kleine 
Zuckungen und choreaartige Bewegungen der Finger. 


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Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 129 

Bezfiglich der weiteren Krankengeschichte ist nur wenig zu be- 
merken. Bettruhe und warme Einpackungen brachten einige Zeit 
Besserung, spater traten die Schmerzen aber wieder von Neuem heftiger 
auf. Die Ischias besserte sich dauemd. Da kein atiologisches Moment 
fftr die Entstehung der Krankheit zu eruiren war, wurde versuchs- 
weise eine Schmiercur mit Ungt hydrarg. ciner. untemommen 
und Kal. jodai gegeben, indem wir von dem Gedanken ausgingen, 
dass etwa doch eine luetiscbe Gefasserkrankung vorliegen und einem 
Weiterschreiten dieses Processes vorgebeugt werden konnte. Ein Er- 
folg trat, wie zu erwarten war, nicht ein. Yerschiedene Nervina 
brachten auch keine Besserung der Schmerzen. Neben den warmen 
Einpackungen leisteten leichte faradische Strome noch die besten 
Dienste. 

Nach Alledem muss man eine vor funf Jahren stattgehabte 
Blutung in die rechte Hirnhemisphare annehmen. Das Fehlen jedes 
atiologischen Momentes bei der Jugend des Patienten ist bemerkens- 
werth, doch kommen solche Falle immerhin vor. Die Blutung hat 
den hinteren Theil des hinteren Schenkels der inneren Kapsel zer- 
stort und die vor ihm gelegenen motorischen Bahnen in Mitleiden- 
schaft gezogen. Diese Diagnose kann mit Sicherheit gestellt werden, 
da nur die Lasion dieser von Charcot als carrefour sensitif bezeich- 
neten Stelle den geschilderten Symptomencomplex hervorzurufen ver- 
mag. Der Ausfall der verschiedenen Geftlhlsqualitaten war ein so 
hochgradiger, wie er nur in seltenen Fallen beobachtet wurde. Es ist 
anzunehmen, dass der ganzlichen Yernichtung des Musk el-, Tempera- 
tur- und stereognostischen Sinnes, dem Ausfalle des Tastsinns bis auf 
geringe Reste eines stark beeintrachtigten Ortssinns und dem Schwunde 
der Schmerzempfindung bis auf einen kleinen Bezirk hochgradige Zer- 
storungen im Bereiche des hinteren Theiles des lenticulooptischen Ab- 
schnittes der Capsula interna zu Grunde liegen mtlssen. Wie in fast 
alien Fallen dieser Art war auch hier die motorische Bahn mitbetroffen 
und zwar die am weitesten nach hinten liegende fBr das Bein und 
den Arm in hohem Grade, der Muscul. cucullaris nur noch wenig, 
wahrend die noch weiter nach vorne gelegenen Hypoglossus- und 
Facialisfasem intact geblieben waren. Die willkurlichen Bewegungen 
der vom Facialis innervirten Muskeln wurden beiderseits in gleicher 
Weise ausgeffthrt, nur bei unwillkQrlichen, nicht sehr ausgiebigen 
Bewegungen, wie Lacheln, zeigte sich der linke Facialis leicht paretisch. 
Bekanntlich soli nach Nothnagel l ) dieses Symptom auf eine Affec¬ 
tion des Sehhligels hinweisen, ein Satz, der sowohl durch wiederholte 


1) Nothnagel,TopischeDiagnostik. 1879, u. Zeitechrift f.klin.Medicin. 1889. 
Deutsche ZeiUchr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 9 


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130 


VII. Hofmann 


klinischeBeobachtungen,als auch durch das Experiment v.Bechtere w’s 1 ) 
bekraftigt worden ist. Bei dem unverkennbaren, wenn aucb gering- 
gradigen Yorhandensein dieses Symptoms ist man berechtigt, eine 
leichte Lasion des rechten Thalamus opticus anzunehmen, die wahr- 
scheinlicb durch Fernwirkung des unmittelbar angrenzenden, in der 
inneren Kapsel sitzenden Herdes zu Stande kommt 

Trotz des jahrelangen Bestehens des Krankheitsherdes und des 
totalen Ausfalles aller GefQhlsqualitaten waren dauernde, oft erhebliche 
Schmerzen in der linken Korperseite vorhanden, zu denen sich bei 
angestrengter Arbeit auch motorische Reizerscheinungen in Form von 
schmerzhaften, krampfartigen Muskelcontractionen in den Beinen und 
den Armen gesellten. Das Auftreten dieser Schmerzen unmittelbar 
nach dem apoplectischen Anfalle und das Fehlen einzelner schmerz- 
hafter peripherer Nervenstamme, schmerzhafter Gelenkaffectionen und 
Contracturen, die bei Hemiplegikern bekanntlich nicht selten zu Klagen 
Yeranlassung geben, der Charakter der Schmerzen, die nicht allein als 
ein Reissen in den Extremitaten, sondern auch als ein bestandiges 
Brennen in der linken Rumpfhalfte angegeben wurden, beweisen ihren 
cerebralen Ursprung. Unser Fall stellt deshalb einen weiteren Beitrag 
zur Frage der central entstehenden Schmerzen dar. Schon frtlher 
hatten Gowers, Nothnagel und Bernhardt auf die Moglichkeit 
solch central entstehender Schmerzen hingewiesen, wahrend sie anderer- 
seits von Mobius 2 ) bestritten wurde. Die Deutung einer Anzahl der 
nachstehend aufgefiihrten Mittheilungen in dem Sinne, dass es sich 
dabei um Schmerzen gehandelt habe, die durch eine Erkrankung des 
Gehirns ausgelost wurden, ist erst durch eine Arbeit Edinger's 3 ) 
ermoglicht worden, der den sicheren Beweis fQr die Existenz solcher 
central entstehender Schmerzen erbrachte. Es handelte sich um eine 
Person, welche durch rasende Schmerzen, verbunden mit Hyperasthesie 
und Hyperalgesie der Haut zum Selbstmorde getrieben worden war. 
Auch die Falle von Ballet 4 ), Greiff 5 ) und Lauenstein 6 ) zeigten 
neben den Schmerzen Hyperasthesie der betreffenden Glieder. Bei 

1) y. Bechterew, Die Bedeutung der Sehhugel auf Grand von exper. und 
pathol. Daten. Virchow’s Archiv. Bd. CX. 

2) M5bius, Allgemeine Diagnostik der Nervenkrankheiten. 

3) Edinger, Giebt es central entstehende Schmerzen? Dtsch. Ztschr. f. 
Nervenheilkunde. 1891. 

4) Ballet cit. nach Edinger. 

5) Greiff, Zur Localisation der Hemichorea. Arch. f. Psychiatrie. 1883. 
Bd. XIV. 

6) Lauenstein, Zur Lehre von der Hammond^chen Athetose. Dtsch. 
Arch. f. klin. Medic, Bd. XX. 


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Ein Fall cerebraler sensibler and sensorieller Hemianasthesie etc. 131 

Duchek’s 1 ) Kranken bestanden anfangs Schmerzen, dann Hyper- 
asthesie, und Delbanco 2 ) verzeichnet bei einem Patienten Schmerzen 
in den Extremitaten. Schmerzhafte Formicationen bei normaler Haut- 
sensibilitat beobachtete v. Leyden 3 ). In einer weiteren, gleichfalls 
nur aus wenigen Fallen bestehenden Gruppe konnte neben den 
Schmerzen Beeintrachtigung der Sensibilitat constatirt werden. Es 
sind dies die Falle von Biernaki 4 ), Nieden 5 ), Eisenlohr 6 ), Mann 7 ), 
Kolisch 8 ) und Link 9 ), in denen Hypasthesie, und der von Marot 10 ), 
bei welchem vollkommene Anasthesie zu finden war. In den Fallen 
yon Edinger, Biernaki, Greiff und Lauenstein waren Herde 
im Thalamus opticus vorhanden, deren Sitz unmittelbar neben den 
sensiblen Bahnen der inneren Kapsel diesen Reiz ausloste, in den 
anderen fanden sich solche im Pons und in der Medulla, jedes Mai 
aber die sensiblen Bahnen in Mitleidenschaft ziehend. (Jnser Fall, der 
dasBild einer Anaesthesia dolorosa darstellt und nur in dem Marot’schen 
ein Analogon hat, ist um deswillen bemerkenswerth, weil bei ihm die 
Schmerzen auch an Bezirken vorhanden waren, wo alle Geftthlsqualitaten, 
auch die Schmerzempfindung, bis auf den letzten Rest erloschen sind. 
Bei der Constanz der Symptome, die sofort nach dem apoplectischen 
Insulte auftraten und nunmehr unverandert fQnf Jahre bestehen, ist 
es unzulassig, die Erkrankung anderer Bahnen im Gehirn anzu- 
nehmen, als die, die von vorneherein betroffen waren. Er stellt des- 
halb eine schone Illustration zu der Ansicht v. Monakow’s l l ) dar, dass 
kein Grand vorliege, eine Erkrankung (und zwar im Sinne einer 
Reizung) anderer nervoser Regionen als solcher, deren Zerstorung 
Empfindungslahmung bewirkt, anzunehmen, zumal beide, d. h. Reiz- 
und Lahmungserscheinungen, nebeneinander, durch einen Herd be- 
dingt, bestehen konnen. 

1) Duchek cit. nach Nothnagel. 

2) Delbanco, Beitrage z. Symptomatol. u. Diag. der Geschwiilste d. Pons. 
Dissertation. Berlin. 1891. 

3) v. Leyden, Zwei Falle von acuter Bulbarparalyse. Archiv f. Psychiatrie. 

Bd. vn. 

4) Biernaki, Beitrage zur Lehre von central entstehenden Schmerzen und 
Hyperastherie. Dtsch. medic. Wochenschr. 1893. 

5) Nieden, Zusammenhang von Hirn- und Augenaffectionen. Arch. f. 
Augenheilkunde. 1881. 

6) Eisenlohr, Dtsch. med. Wochenschr. 1892. S. 81. 

7) Mann, Casuist. Beitrage z. Lehre v. central entstehenden Schmerzen. 
Berl. klin. Wochenschr. 1892. 

8) Kolisch, Ein Fall von Ponstumor. Wiener klin. Wochenschr. 1893. 

9) Link, Ein Fall von Ponstumor. Arohiv f. Psychiatrie. Bd. XXXI. 

10) Marot cit. nach Nothnagel. 

11) v. Monakow, Gehirnpathologie. S. 364. 

9* 


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132 


VII. Hofmann 


Neben diesen sensiblen Reizerscheinungen bestanden auch solche 
motorischer Art, indem andauernde kleine choreaartige, zuckende Be- 
wegungen in den Fingern der linken Hand, daneben auch Zuckungen 
in der Daumenballenmusculatur und im Musculus biceps zu beobachten 
waren. Die als posthemiplegische Chorea und Hammond'sche Athe- 
tose bekannten Bewegungsstorungen wurden meist in solchen Fallen 
gefunden, wo sich Herde in den Sehhiigeln oder im hinteren Theile 
der inneren Kapsel ergaben, so dass eine Beziehung zwischen einer 
Lasion dieser Qegend und motorischen Reizerscheinungen angenommen 
werden muss. 

Bemerkenswertb war auch die Atrophie der ganzen linken Korper- 
seite, yon der die Hand am starksten befallen war. Bis zu einem 
gewissen Grade handelte es sich dabeium ein einfaches Zuriickbleiben in 
dem Wachsthume, da die Entstehung der Krankheit in das 21. Lebens- 
jahr des Patienten fallt. Die geringen Langenmaasse der Extremitaten 
und des Ohres gegen rechts sprechen dafur. Dagegen differirten die 
Umfangmaasse der rechten und linken Arm- und Beinmusculatur 
zu betrachtlich, als dass man nicht von einer Atrophie hatte reden 
mtissen, und die Beschaffenheit der linken Hand beweist das Vorhanden- 
sein einer solchen. Inactivitatsatrophieen in gelahmten und paretischen, 
wenig gebrauchten Gliedern sind etwas sehr Gewohnliches, erreichen 
aber selten einen hoheren Grad. Zudem hatte Patient trotz der hoch- 
gradigen Schwache seiner linken Extremitaten dieselben immer noch 
zum Arbeiten verwendet. Hier handelte es sich um die immerhin seltene, 
durch ihr rasches Auftreten charakterisirte Atrophie cerebralen Ur- 
sprungs, und auch unser Patient gab an, dass sie schon einige Wochen 
nach dem apoplectischen Insult an der Hand bemerkbar gewesen seL 
Charcot 1 ), Joffroy und Achard 2 ) erklarten diese Atrophie durch 
ein Uebergreifen der Degeneration der Pyramidenbahnen auf die 
Vorderhorner und ihre Ganglien, eine Hypothese, ftir die in neuester 
Zeit wieder Schaffer 3 ) eingetreten ist. Doch fanden Senator u. A-. 
dass sie auch bei gesunden Vorderhomganglien zu Stande kame, und 
man stellte mehrere andere Theorien zu ihrer Erklarung auf. Steiner 4 ) 
glaubte die Ursache in einem Reize auf die Vorderhornganglien er- 


1) Charcot, Leyons sur les localisations dans les maladies du cerveau. 
Paris 1876. 

2) Joffroy et Achard, Contribution & T4tude de l’atrophie musculaire 
chez les h^mipleg. Arch, de med. exp4rim. et d’anatom. 1892. 

3) Schaffer, Zur Lehre der cerebralen Muskelatrophie u.s.w. Monateschr. 
f. Psychiatrie u. Neurologie. 1897. II. 

4) Steiner, Ueber die Muskelatrophie bei der cerebralen Hemiplegic. 
Ztschr. f. Nervenheilkunde. 1893. Bd. III. 


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Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 133 

blicken zu sollen. Borgherini 1 ) nimmt, wie Charcot, eine Lasion 
der trophischen Yorderhomganglien an, die aber auf dem Wege der 
sensiblen Bahn vom Gehim her erfolge. Quincke 2 ) machte den 
Versuch, sie durch den Ausfall trophischer Centren in Folge der Herd- 
erkrankung zu erklaren, und Darkschewitsch 3 ) nimmt Gelenkaffec- 
tionen, die er zuweilen vorfand, als ursachliches Moment an. Gold- 
scheider 4 ) erklart ihre Entstehung so, dass an irgend einer Stelle 
des Nervensystems Lasionen stattgefunden haben, welche die zeitliche 
Continuitat der Erregung, wie sie fQr die Erhaltung der trophischen 
Functionen der Ganglienzellen bez. der Muskeln nothig sind, herab- 
setzen. 

Die Krankheitsherde, welche man bei cerebraler Muskelatrophie 
im Gehim fand, hatten einen sehr verschiedenen Sitz, doch ist man 
nach v. Monakow 5 ) aus der Analyse der ca. 17 bis jetzt vorliegenden 
Sectionsbefunde der etwa 40 Falle betragenden Casuistik zu der An- 
nahme berechtigt, dass corticate Circulationsstorungen im 3. Hauptaste 
der Arter. foss. Sylvii und central im lenticulo-optischen Gefassgebiete 
bei der Genese der cerebralen Muskelatrophie eine hervorragende Rolle 
spielen. Diese Annahme wird nach ihm noch durch den Charakter 
der mit der Muskelatrophie verkniipften hemiplegischen Lahmung, mehr 
aber noch durch das haufige Zusammenfallen der Muskelatrophie mit 
Sensibilitatsstorungen untersttitzt. Er ist der Ansicht, dass eine aus- 
gedehnte Emahrungsstorung (Atrophie) in den Muskeln als Folge eines 
gleichzeitigen Ausfalles (resp. Reduction) yon sensiblen Functionen 
einerseits und von motorischen und vasomotorischen Functionen anderer- 
seits nicht von der Hand zu weisen ist. 

BezOglich der vasomotorischen Storungen bei Hirnaffectionen 
wissen wir nur wenig. Es ist bekannt, dass anfangs die gelahmten 
Glieder oft warmer, spater kiihler sind, sich zuweilen feuchter, ein 
anderes Mai wieder trockner anffthlen, und dass sich auch Storungen 
im Wachsthume der Nagel und Haare u. Ae. einstellen. Ein tieferer 
Einblick in diese Verhaltnisse fehlt uns aber bis jetzt. Immerhin 


1) Borgherini, Ueber die fruhzeitige Muskelatrophie bei der cerebralen 
Lahmung. Dtech. Arch. f. klin. Medic. 1889. Bd. 45. 

2) Quincke, Ueber Muskelatrophie bei Gehimkrankheiten. Dtsch. Arch. f. 
klin. Medic. Bd. 42. — Ueber cerebrale Muskelatrophie. Dtsch. Ztschr. f. Nerven- 
heilkunde. 1893. 

3) Darkschewitsch, Ein Fall von friihzeitiger Muskelatrophie bei einem 
Hemipleg. Neurolog. Centralblatt. 1891. 

4) Goldscheider, Zur allgememen Pathologie des Nervensystems. Berl. 
klin. Wochenschr. 1894. 

5) v. Monakow 1. c. 8. 374. 


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VII. Hofmann 


wurden vasomotorische Storungen und Herabsetzung der Temperatur 
auf der gelahmten Seite, wie sie auch unser Fall aufweist, nichfc selten 
bei Herden im Pedunculus und im hinteren Theile der inneren Kapsel, 
haufiger noch erhohte Temperatur und reichlicherer Schweiss bei 
Lasionen des Thalamus opticus beobachtet. 

Ein besonderes Interesse bietet unser Fall durch das Zu9ammen- 
treffen der Hemiplegie und sensiblen Hemianasthesie mit der Beein- 
trachtigung der Specialsinne derselben Seite. Borsieri 1 ) erwahnte 
schon im vorigen Jahrhundert den Symptomencomplex der Hemian¬ 
asthesie mit AnasthesiederSinnesorgane, spateraberhabenLandouzy 2 ), 
Briquet 3 ) und Charcot 4 ) gezeigt, dass diese halbseitige GefELhls- 
storung eine ffir die Hysterie ungemein charakteristische Erscheinung 
sei. Dieser Satz behalt seine Richtigkeit, wenn auch Magnan 5 ) bei 
Alkoholikem nicht selten Hemianasthesie fand, und Thomsen und 
Oppenheim 6 ) halbseitige sensible und sensorielle Storungen auch 
bei anderen Erkrankungen, wie Epilepsie, Neurasthenic, allgemeine 
Neurosen, in Folge von Kopfverletzungen und allgemeinen Korper- 
erschfitterungen in theils stationarer, theils passagerer Weise constatiren 
konnten. 

Dem gegenttber sind die Falle einer Hemianasthesie mit Bethei- 
ligung der hoheren Sinnesorgane in Folge einer organischen Himer- 
krankung selten. Dieersteu dieser Art beschrieb Ttirk 7 ), dessen Befunde 
durch mehrere Falle Rosenthal’s 8 ) bestatigt wurden. Spater beschrieb 
Charcot 9 ) dasKrankheitsbild der cerebralen Hemianasthesieeingehend. 
Weitere casuistische Beitrage lieferten Jakson 10 11 ), Veyssiere n ), 


1) Borsieri, Inst, pract. Bd. Ill, cit. nach Charcot. 

2) Landouzy, Trait6 complet de Thyst^rie. 1847. 

3) Briquet, Traits clinique et th^rapeutique de Physt6rie. 1859. 

4) Charcot 1. c. et Lemons sur les maladies du systfcme nerveux. Paris 1874. 

5) Magnan, De Palcoolisme, des divers formes du d&ire alcoolique. 1874. 

6) Thomsen und Oppenheim, Ueber das Vorkommen und die Bedeu- 
tung der sensorischen Anasthesie des Centralnervensystems. Arch. £ Psy¬ 
chiatric. 1884. 

7) Turk, Ueber die Beziehung gewisser Krankheitsherde des grossen Ge- 
hims zur Anasthesie. Sitzungsberichte der Kaiserl. Akad. d. Wissensch. 
Wien 1859. 

8) Rosenthal, Wochenblatt der Gesellschaft der Wiener Aerzte. 1870. 
Cit. nach Virchow-Hirsch’s Jahresbericht. 1870. II. S. 47. 

9) Charcot 1. c. 

10) Jakson, London Hospital Reports. Bd. IH. 

11) Veyssifere, Recherches cliniq. et experiment, sur rhemianaesthes. de 
cause c4rebrale. Paris 1874. (13 Falle.) 


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Elio Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 135 


Bernhardt 1 ), Pitres 2 ), Ruissel 3 ), Wuth 4 ), Mliller 5 ), Noth- 
nagel 6 ), Boyer 7 ), Hofmann 8 ), Mathieu 9 ), Kalkhoff 10 ), Ander¬ 
son 11 ), Seguin 12 ), Ferrier 13 ), Hahn u ), Gee 15 ), Her tel 16 ), Morau 17 ), 
Eisenlohr 18 ), Bevoor 19 ), Manteuffel 20 ). Als zweifellos sicher 
stehend ist aus den Sectionsergebnissen dieser Falle die Thatsache 
erwiesen, dass die Zerstorung des hinteren Theiles des lenticulo-optischen 
Abschnittes der inneren Kapsel eine Hemianasthesie der gegeniiber- 
liegenden Seite im Gefolge hat und dass in der Mehrzahl der Falle 
auch motorische Lahmungserscheinungen zu finden sind. Dagegen 
waren die Ansichten getheilt und sind es immer mehr geworden be- 
zQglich des Ausfalles der hoheren Sinnesorgane bei diesem Krank- 
heitsherde. Charcot 21 ) behauptete bekanntlich, dass bei der Lasion 
dieser von ihm als carrefour sensitif bezeichneten Stelle neben einer 
sensiblen Hemianasthesie auch eine Beeintrachtigung aller Specialsinne 
dieser Seite zu Stande kame, und betonte mit besonderem Nachdrucke, 
dass, wie es ihm einzelne Falle unzweifelhaft gezeigt hatten, eine ge- 
kreuzte Amblyopie, d. h. Abnahme der Sehscharfe und concentrische 
Einengung des Gesichtsfeldes auf der der Hirnlasion gegentiberliegenden 
Seite die Folge sei. Dabei sei, wie sein Schiller Lan dolt fand, auch 
das andere Auge fast stets, wenn auch nur in geringem Grade, schwach- 
sichtig. Vulpian, Duretundvor Allem Veyssiere 22 ) bestatigten diese 
Behanptung. Auch zwei autoptisch erhartete Falle von Bernhardt 23 ) 

1) Bernhardt, Berliner klin. Wochenschr. 1875. Nr. 36. 

2) Pitres, Gaz. m&L 1876. (2 Falle.) 

3) Ruissel, Med. Times and Gaz. 1877. 

4) Wuth, Dissertation. Gdttingen. 1877. 

5) Muller, Berliner klin. Wochenschr. 1878. 

6) Nothnagel, 1. c. 

7) Boyer cit. nach Nothnagel. S. 434. 

8) Hofmann cit. nach Schmidt’s Jahrbucher. 1880. 

9) Mathieu, Progrfcs med. 1882. 

10) Kalkhoff, Dissertation. Halle a./S. 1884. 

11) Anderson, Medic. Times. 1885. 

12) Seguin, Journal of nervous and mental diseases. 1886. 

13) Ferrier, The Lancet. 1887. 

14) Hahn, Dissertation. Berlin 1887. 

15) G6e, Barthol.-Hosp. Rep. 1890. 

16) Hertel, Charit6-Annalen. 1890. 

17) Morau, Gaz. hebd. 1891. 

18) Eisenlohr, Dtsch. medic. Wochenschr. 1892. 

19) Bevoor, Lo Sperimentale. 1894. 

20) Manteuffel, Petersburger medic. Wochenschr. 1897. 

21) Charcot, 1. c. 22) Veyssifcre, 1. c, 

23) Muller, 1. c. 


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136 


VII. Hofmann 


und M tiller 1 ) scheinen die Ansicht Charcot's zu bekraftigen. Im 
ersteren bestand neben recbtsseitiger Parese und Anasthesie Blindheit 
des rechten Auges und concentrische Gesichtsfeldeinengung des linken; 
Geruch, Geschmack und Gehor waren nicbt geprttft. Der zweite zeigte 
rechtsseitige Parese und Anasthesie, Amblyopie des rechten Auges, 
Herabsetzung des Gehor-, Geruch- und Geschmackvermogens rechts, 
wahrend links diese Sinnesorgane normal functionirten. Charcot 
nahm an, dass das im Chiasma nery. opt. ungekreuzte Biindel in den 
Vierhfigeln eine Kreuzung erfahre, so dass alle von einem Occipitallappen 
ausgehenden Fasern in das Auge der gegentiberliegenden Seite ge- 
langten. Er trat damit der schon damals als feststehend geltenden 
Meinung entgegen, dass eine durch einen einseitigen intracerebralen 
Herd hervorgerufene Sehstorung eine bilaterale homonyme Hemianopsie 
sei und dass die Sehnervenfasern nur im Chiasma eine Semidecussatio 
eingingen, einer Ansicht, die beute sicber bewiesen isi Aber die 
klinischen Erfahrungen aller anderen Beobachter stimmen darin tiber- 
ein, dass Sehstorungen, die durch eine Lasion des Hinterhauptlappens, 
der Gratiolet’schen Sehfasern, der vorderen Vierhtigel, des ausseren 
Kniehockers, des Sehhtigels, des hinteren Tbeiles der inneren Kapsel 
und des Tractus opticus bedingt seien, stets in Form der bilateralen 
homonymen Hemianopsie auftreten. Auch bei der vulgaren cerebralen 
Hemiplegie stellt sie nach Hauer 2 ) ein haufiges vortibergehendes 
indirectes Herdsymptom dar. Schliesslich bevvies noch v. Bechterew 3 ) 
experimentell, dass durch eine Durchscbneidung der Sehnervenfasern 
zwischen Chiasma und VierhQgeln stets Hemianopsie erzeugt werde. 
Zur Erklarung dieser Meinungsdifferenzen construirte Grasset 4 ) ein 
Schema, nach dem das Faserbiindel, das sich nach Charcot in den 
Vierhtigeln kreuze, sich in seinem weiteren Verlaufe nochmals kreuze, 
und wonach je nach dem Sitze der Lasion in der inneren Kapsel weiter 
vom oder hinten eine gekreuzte Amblyopie oder homonyme Hemianopsie 
zu Stande kame. Die UnnatQrlichkeit dieses rein theoretisch con- 
struirten, durch nichts bewiesenen Schemas liegt auf der Hand. 

Die Charcot'schen Falle stellten somit bis heute ein ungelostes 
Rathsel dar, das um so unerklarlicher war, als man nicht berechtigt 

1) Muller, 1. c. 

2) Hauer, Ueber Hemianopsie als Theilerscheinung des Symptomencom* 
plexes frischer cerebraler Hemiplegien. Prager medic. Wocbenschr. 1888. 

3) v. Bechterew, Ueber die nach Durchschneidung der Sehfasern im 
Innera der Grosshirnhemispharen (in der Nachbarschaflt des hinteren Abschnittes 
der inneren Kapsel) auftretenden Erscheinungen. Neurolog. Centralblatt. 1884. 

4) Grasset, De l’amblyopie croiss^e et de Th&nianopsie dans les lesions 
c6r6br. Nouveau ch^ma du trajet pr4sum4 des fibres optiques. Montpellier me¬ 
dical. 1883. 


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Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 137 

ist, diesem Altmeister neurologischer Forschung eine mangelhafte 
Untersuchung vorzuwerfen. 

Ich war deshalb sehr fiberrascht, als ich bei der erstmaligen Unter¬ 
suchung unseres Patienten einen den Charcot’schen Angaben ganz 
entsprechenden Befund erheben konnte: neben der sensiblen Hemi¬ 
anasthesie eine Storung aller specifischen Sinnesorgane derselben Seite, 
insbesondere eine gekreuzte Amblyopie mit concentrischer Gesichts- 
feldeinengung, wahrend das andere Auge vollkommen normal erschien; 
Hemianopsie fehlte vollstandig. Eine erstmalige Untersuchung in der 
Augenklinik bestatigte diesen Befund, eine zweite nach mehreren Wo- 
chen gleichfalls, doch war die Sehscharfe auf dem linken Auge eine 
andere, eine dritte ergab eine noch hochgradigere Einengung und noch 
schlechtere Sehscharfe links und auch das bis dahin normale Auge 
rechts zeigte concentrische Gesichtsfeldeinengung und herabgesetzten 
Visus. Bei einer weiteren Prtifung erweiterte sich das linke Gesichts- 
feld in derseiben Sitzung fast zur Norm, das rechte war wieder normal, 
so dass der untersuchende Herr College zu dem Schlusse gelangte, dass 
entweder Simulation oder stark herabgesetzte Willensenergie vorlage. 
Die erstere halte ich ftir ausgeschlossen, da ich dem Patienten schon 
von vorn herein seine Invalidisirung zugesichert hatte, und er ein 
durchaus glaubwfirdiger und aufrichtiger Mensch war. Eine herab¬ 
gesetzte Willensenergie als den Ausdruck einer Hysterie aber anzu- 
nehmen, ist nach Lage der Sache nicht gestattet, da die organische 
Natur der ganzen Krankheit fiber jeden Zweifel erhaben und es nicht 
angangig ist, jede nicht plausible Erscheinung als hysterische Eigen- 
thumlichkeit zu deuten. Thomsen und Oppenheim betonten in der 
oben erwahnten Arbeit, dass sie diese sensorische Hemianasthesie und 
beiderseitige concentrische Gesichtsfeldeinengung auch bei anderen 
nervenkranken Personen, nicht allein bei Hysterischen gefunden und 
dass diese dann regelmassig bestimmte psychische Anomalien aufge- 
wiesen hatten. Auch unser Patient zeigte eine stets deprimirte Stim- 
mung und seine Intelligenz hatte abgenommen. Dass es sich um eine 
rein functionelle Storung handelt, ist nach den wiederholten Unter- 
suchungen mit ihrem wechselnden Befunde erwiesen’, und ich glaube 
mit Recht annehmen zu dfirfen, dass sich auch die Falle von Charcot, 
Bernhardt und Muller auf diese Weise erklaren. Denn der unsrige 
gleicht diesen vollkommen, auch bei ihm bestanden die Sehstorungen 
auf einer fast constant zu nennenden Hartnackigkeit in der der Charcot- 
schen cerebralen Hemianasthesie eigenthfimlichen Weise und nur die 
wiederholten Untersuchungen und die auf mehrere Monate sich er- 
streckende Beobachtung konnte das Functionelle der Storung auf- 
decken. 


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138 


VII. Hofmann 


Ebenso, wie man auf Grund anatomischer Untersuchungen und 
kliniscber Beobachtungen die Moglichkeit bestritt, dass ein Herd im 
hinteren Theile der inneren Kapsel Sehstorungen in der von Charcot 
beschriebenen Weise hervorrufen konnte, wurde man auch zweifelhaft 
an der Richtigkeit der Charcot’schen Behauptung beziiglich des Aus- 
falles des Geruches der gegenQberliegenden Seite bei diesen Krank- 
heitsherden, denn die anatomiscbe Forschung ergab, dass die Geruchs- 
bahnen vom Gyrus fornicatus und uncinatus bis zum Tractus olfactories 
den carrefour sensitif gar niebt berGhren. Eher moglich ware sebon 
eine Lasion des Gehors, da seine Bahnen von dem vorderen Ende des 
Gyrus temporalis super, und med. wahrscheinlich zu dem inneren Knie- 
hocker, hinteren VierhGgel und der unteren und lateralen Schleife 
zieben. Von dem intracerebralen Verlaufe der Geschmacksfasem wissen 
wir nur wenig, sie steigen in der Schleifenschicht empor und gelangen 
wahrscheinlich zur inneren Kapsel. 

Erwagen wir, dass sich in unserem Falle die Sehstorungen als 
rein functionelle herausgestellt haben, dass Geruchsstorungen auf Grund 
einer organischen Erkrankung der fraglichen Gegend nach unseren 
heutigen anatomischen Kenntnissen nicht moglich sind, dass die Mog¬ 
lichkeit auch beziiglich der Geschmacks- und Gehorstorungen nur eine 
sehr zweifelhafte ist und dass die Function dieses letzteren Organs 
an einzelnen Tagen eine schwankende war und Besserungen und Ver- 
schlechterungen zeigte, so ist der Ein wand, den Wilks 1 ) und Wernicke 2 ) 
schon vor Jahren den Charcot 7 schen Behauptungen machten, als 
durchaus richtig zu bezeichnen. Der erstere bestritt, dass es sich bei 
den sensorischen Hemianasthesien durch Verletzung des carrefour sen¬ 
sitif um eine anatomische Lasion der betreffenden Bahnen handele, 
hielt sie vielmehr nur fiir eine functionelle Storung, ohne aber Beweise 
hierflir zu erbringen. Wernicke nahm beziiglich der Sehstdrungen 
eine Herabsetzung der Lichtempfindlichkeit, der Erregbarkeit desNervus 
opticus an. Derselben Ansicht war v. Bechterew 3 ), der bei einem 
Kranken nach einer Schussverletzung der Medulla oblongata neben 
anderen Symptomen auch eine Anasthesie der rechten Gesichtshalfte 
und eine Beeintrachtigung aller specifischen Sinne derselben Seite con- 
statiren konnte. Eine Erklarung fur diesen auffallenden Befund gab 


1) Wilks, On hemianaesthesia. St. Guy’s Hosp. Rep. XXVI. 

2) Wernicke, Lehrbuch der Gehirnkrankheiten. 1881. Bd. I. S. 254. 

3) v. Bechterew, Ueber die ^Vechselbeziehungen zwischen der gewohn- 
lichen und sensoriellen Anasthesie (Functionsabnahme der Sinnesorgane) auf 
Grund klinischer und experi men teller Daten. Neurolog. Central blatt. 1894. — 
Durch Verwunduug des yerlangerten Markes verursachte Lahmung. Zeitschrift 
f. Nervenheilkunde. 1896. 


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Ein Fall cerebraler sensibler und sensorieller Hemianasthesie etc. 139 

ihm ein schones Experiment. Er durchschnitt einem Hunde die auf- 
steigende Trigeminuswurzel im verlangerten Marke und sah darauf 
Anasthesie des Gesichts, aber auch das SehvermSgen, der Geruch, Ge- 
schmack und das Gehor auf dieser Seite waren gestort, ohne dass bei 
der Autopsie diese Hirnnerven irgendwie ladirt waren. Als Grund ftlr 
diese Erscheinung mmmt er Nutritionsstorungen dieser Sinnesorgane 
an, da die Ernahrungsverhaltnisse nur dann yollkommen normale seien, 
wenn ihre sensibel-motorischen Nervenapparate sicb im normalen Zu- 
stande befanden. Er glaubt, dass vor Allem vasomotorische Storungen 
eine Rolle spielten, die die Perceptionsfahigkeit der einzelnen Sinnes¬ 
organe und die Leistungsfahigkeit ihrer Hiilfsmusculatur berabsetzen. 
Auch die mangelhafte Tastempfindung spiele eine Rolle. Er fasst seine 
Ansicht in folgende Worte zusammen: „Die Ursache also, weshalb die 
sich auf die Sinnesorgane ausbreitende Anasthesie Schwachung ihrer 
Function und die sogenannte sensorielle Anasthesie nach sich zieht, 
ist unserer Meinung nach hauptsachlich in der Ischamie der Organe 
und dem mangelhaften Anpassungsvermogen ihres Gefasssystems be- 
zliglich ausserer Reize, theilweise aber auch in einer weniger vollkommen 
anpassenden Thatigkeit der Muskeln in den Organen, in welchen sich 
solche vorfinden (Gehor, Gesicht) und endlich in unmittelbarer Schwa¬ 
chung der speciellen Function derjenigen yon diesen Organen, deren 
Empfindung (wie z. B. Geschmacks- und Geruchsempfindung) nicht 
als streng von Tastempfindungen und vom Allgemeingeftihl differenzirt 
gelten konnen, zu suchen.“ 

Einen hiermit ganz im Einklange stehenden Fall theilt Higier 1 ) 
mit, wo bei apoplectiformer einseitiger Bulbarparalyse eine sensorielle 
Hemianasthesie neben der Trigeminusanasthesie bestand und bei wel- 
cher die Seh- und Gehorsstorungen durch den Sitz des Krankheitsherdes 
nicht zu erklaren waren. 

Auch der dritte der Ttirck’schen Falle muss hier noch angefQhrt 
werden: Der Patient zeigte rechtsseitige Hemiplegie, die spater zurhck- 
ging, intensive Anasthesie derselben Seite, Abnahme des Seh-, Geruchs- 
und GeschmacksvermSgens derselben Seite. Die cutane Sensibilitat 
besserte sich etwas, auch das Sehen mit dem rechten Auge wurde 
betrachtlich besser, nach einigen Tagen verschlechterte es sich wieder. 
Diese Schwankungen sprechen auch fhr eine functionelle Storung, ihr 
ZusammentreflFen mit Veranderungen der Hautsensibilitat flir die Richtig- 
keifc der v. Bechterew'schen Ansicht. 

Unser im Vorstehenden ausfiihrlich mitgetheilter Fall beweist also, 


1) Higier, Wie verhalten sich die Specialsinne bei Anasthesie des Ge- 
sichtes? Ztschr. f. Nervenheilkunde. 1898. Bd. IH. 


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140 VII. Hofmann, Em Fall cerebraler sensibler u. sensor. Hemianasthesie etc. 

dass es sich bei dem Charcot’schen Krankheitsbilde der cerebralen 
Hemianasthesie nicht um eine organische Lasion der im hinteren Theile 
der inneren Kapsel verlaufenden Sehnervenfasem, sondem um einen 
functionellen Schwachezustand handelt, der vorwiegend auf dem Auge 
der anasthetischen Seite besteht, vortibergehend aber auch das andere 
befallen kann, und auch bezuglich der Gehorsstorung macht er einen 
solchen wahrscheinlich. Den Zusammenhang dieser functionellen Std- 
rung mit der Anasthesie des Trigeminus zeigt uns das v. Bechterew- 
sche Experiment, bei dem alle hoheren Sinnesorgane nach Durch- 
schneidung des Quintus beeintrachtigt waren. Es ist deshalb der 
Schluss berechtigt, dass auch die Storungen des Geschmacks- und Ge- 
ruchsvermogens nur diesen Charakter tragen, um so mehr, als in der 
That betrachtliche vasomotorische Veranderungen und deutliche Tern- 
peraturunterschiede auf der anasthetischen Seite vorhanden waren. 


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VIII. 


Aus dem himanatomischen Laboratorium der nied.-09t Landes- 

Irrenanstalt Wien. 

Zur Anatomie and Physiologie experimenteller Zwischen* 

hirnverletzungen. 

Von 

Dr. Moriz Probst, 

Voretand dee Laboratoriams. 

(Mit 5 Abbildungen.) 

Unsere Kenntnisse fiber die Zusammengehorigkeit des Sehhfigels 
mit der Qrosshimrinde basiren fast ausschliesslich auf den feinen expe- 
rimentellen und pathologisch-anatomischenUntersuchungenMonako w’s, 
der die Sehhttgelantheile nach experimentellen partiellen Rindenab- 
tragnngen und bei pathologischen Defecten des Grosshims eingehend 
studirte. 

Die bisherigen Kenntnisse fiber den Stabkranz des Sehhfigels waren 
die, dass man dickere Bfindel aus der inneren Kapsel durch die Lamina 
medullaris lateralis einstrahlen sah, die nach Kolliker den grossten 
Theil des Stabkranzes des Sehhfigels darstellten. Hierbei kreuzen sich 
die8e Faserbundel in verschiedener Richtung unter spitzen Winkeln 
und bilden so einen dickeren Streifen, der aus einer medialen dunkleren 
und einer helleren, zwischen dieser und der inneren Kapsel gelegenen 
Zone besteht Hierauf zerfallen diese Faserbtindel, indem sie weiter 
medianwarts verlaufen, in viele feine Bfindelchen, die nach und nach 
im Innem des lateralen Kerns sich verlieren. Die Gegend, wo die 
groberen Bfindel liegen, stellt nach Kolliker an frischen Theilen 
einen weissen, an Weigert’schen Praparaten dagegen einen dunklen, 
gebogenen Faserzug dar, der seines eigenthfimlichen netzformigen Aus- 
sehens halber auch den Namen Gitterschicht erhalten hat, unter wel- 
chem Namen keine besondere, von der Lamina medullaris lateralis 
versehiedene Lage zu verstehen ist 

Genauer bezeichnet dringen aus alien Theilen der inneren Kapsel 
Markstrahlen in den Sehhfigel ein, und bezeichnet man dieselben, je 
nach den verschiedenen Gegenden, mit verschiedenen Namen. In das 
vordere Ende des lateralen Kerns treten zwischen dem Kopf des 


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142 


VIII. PR0B8T 


Nucleus caudatus und dem Linsenkem zahlreiche Faserbiindel aus 
dem Stirnlappen ein, welche als sogenannter v ordererStiel desSehhttgels 
somit den yorderen Theil und das Knie der inneren Kapsel zu durch- 
laufen haben. 

In die laterale Seite des lateralen Kerns treten aus dem hinteren 
Schenkel der inneren Kapsel zahlreiche Markstrahlen, die aus dem hin¬ 
teren Theile des Stirnlappens und aus dem Parietallappen abstammen, 
welche Kolliker als lateralen oder parietalen Stiel des Sehhtigels 
bezeichnet. 

Der hintere Theil des lateralen Thalamuskems grenzt im Pulvinar 
lateral warts hinter dem Linsenkern an weisse Substanz, welche mit 
der Markmasse des Occipitallappens und des Schlafelappens zusammen- 
hangt, und finden sich auch hier Einstrahlungen aus diesen Him- 
gegenden in den Sehhugel, die occipitaler und temporaler Stiel 
heissen. 

Ausserdem finden sich noch Einstrahlungen von der ventralen Seite 
her in den Thalamus, die jedoch nicht nur in den lateralen, sondern 
auch in den medialen Kern des Thalamus statthaben und den unteren 
oder ventralen Stiel des Sehhiigels bilden. 

Von dem lateralen Kern wird im Bereich des Pulvinar auf hori- 
zontalen Flachenschnitten oberflachlich ein grosserer Bezirk deutlich 
abgegrenzt, aus dem medianwarts der Arm des yorderen Vier- 
hfigels hervorgeht, wahrend lateralwarts der Tractus opticus mit 
starken Biindeln in der Fortsetzung der Lamina medullaris lateralis 
denselben umsaumt und in ihn einstrahli 

Auf die Fasem des Tractus opticus und die cerebrale Sehstrahlung, 
den Fornix, die Linsenkernschlinge, das Btindel von Meynert und 
Vicq d’Azyr und die Stria medullaris lasse ich mich hier nicht 
ein, da ich in einer spateren Arbeit darauf zurtickkommen werde. 

Kolliker lasst nun die grosse Mehrzahl der Fasem des Stab- 
kranzes des Sehhtigels im Thalamus opticus mit freien Ausl&ufera 
enden und meint auch, dass hochstwahrscheinlich neben diesen vom 
Parietallappen des Centrums stammenden Fasem auch diejenigen des 
Frontallappens im Stilus anterior thalami und diejenigen des Unter- 
lappens frei im Thalamus opticus endigen, dagegen die Fasem der 
cerebralen Opticusbahn im Sehhfigel entspringen. Kolliker lasst 
also die Fasem des Sehhiigelstabkranzes in der Hirarinde entspringen 
und im Sehhiigel enden mit Ausnahme der cerebralen Opticusbahn, 
und es erschien ihm auffallend, dass gegenfiber der grossen Zahl von 
zuleitenden Bahnen, die im Sehhiigel enden, relativ nur eine geringe 
Zahl ableitender solcher sich nachweisen liess, und zwar nur eine, 
namlich die cerebrale Opticusbahn, die eine allerdings grosse Bedeutung 


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Zur Anatomie und Physiologic experimenteller Zwischenhirnverletzungen. 143 

beansprucht, wahrend die im Ganglion habenulae entspringenden Fasem 
und die centrifugale Tractus opticus-Bahn nur eine untergeordnete 
Rolle spielen sollen. 

Gudden hat gefunden, dass der SehhQgel nach frfth erworbenen 
Grosshirndefecten schrumpft, doch hat erst Monakow diese Thatsache 
in glanzender Weise fiir die Beantwortung der Frage nach der allge- 
meinen Organisation der Verbindungen des Grosshims mit den tibrigen 
Hirntheilen ausgentitzt. Da die Httlfsmittel der normalen Anatomie 
beschrankte sind, so musste zur Erforschung der Verbindungen des 
Zwischenhims zum Thierexperiment gegriffen werden und zum Ex¬ 
periment, wie es die Natur in pathologischen Fallen des Menschen 
darbietet. 

Monakow fand nun gleich Gudden, dass nach Grosshirnabtra- 
gimg bei jungen Thieren verschiedene, infracorticale graue Massen 
secundar yerktimmern, dass also die Entfernung einer Grosshimhemi- 
sphare nicht nur eine Eliminirung von Elementen innerhalb der abge- 
tragenen Masse, sondem auch eine wesentliche Mitversttlmmelung von 
Neuronen mit sich bringt, deren Zellenleib in anderen und eventuell 
weit entfernten Hirntheilen liegt, deren Nervenfortsatze aber in das 
Grosshim ziehen, und die durch die Operation zur volligen Inactivitat 
verurtheilt werden. Der Abtragung einer Grosshirnhemisphare ent- 
spricht also eine wesentliche Schadigung eines ganzen Complexes von 
Neuronen, von denen nur einzelne Abschnitte in das grob anatomisch 
begrenzte Grosshirn reichen und die grosstentheils zum Besitz der 
Producte anderer Himblaschen gehoren. Monakow nennt nun solche 
ausserhalb des Grosshims liegende, mit letzterem aber eng verkntipfte 
Neuronencomplexe, die ohne Mitwirkung des Grosshims gar nicht 
oder nur mangelhaft in Action treten konnen, und die nach Ausschal- 
tung dieses total oder partiell verktimmem mttssen, Grosshirn- 
antheile. 

Mit Rticksicht auf die secundaren Veranderungen nach Grosshim- 
rindenabtragungen unterschied Monakow Neuronencomplexe, die nach 
operativemEingriff selbst nachMonaten nicht beeintrachtigt werden (meist 
directe Producte des Mittel-, Hinter- und Nachhiras, sowie des eigent- 
lichen Medullarrohrs), feraer Neuronencomplexe, die ohne Grosshim 
nicht existenzfahig sind und schon wenige Wochen nach der Operation 
degeneriren, und die er directe Grosshirnantheile nennt. Ausser- 
dem fand Monakow Neuronencomplexe, die durch Wegfall einer 
Hemisphare theilweise verkiimmem, so dass deren Elemente ihre nattir- 
liche Form partiell einbttssen und vor Allem eine Volumsreduction 
erfahren; diese nennt Monakow indirecte Grosshirnantheile. 

Der Sehhttgel erfahrt nach Grosshimabtragung eine hochgradige 


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144 


VIII. Probst 


Volumsverminderung, die durch Degeneration der Ganglienzellen be- 
dingt wird. Nicht beeintrachtigt werden das Ganglion habenulae, das 
Meynert’sche Bfindel, die Taenia thalami und das centrale Hohlen- 
grau. Als indirecte Grosshirnantheile stellten sich die ventraien 
Kerngruppen des Sehhttgels, sowie der mediale Kern des Corpus 
mamillare heraus. Directe Grosshirnantheile sind die vorderen Seh- 
httgelkerne (ant. a und ant. b), die medialen Kerngruppen (med. a, med. b 
und med. c), das Pulvinar, der hintere Kern, der laterale Kern (lat a 
und lat b). 

Der laterale Kern des Corpus mamillare und die Zona incerta 
nehmen eine vermittelnde Stellung zwischen directen und indirecten 
Grosshirnantheilen ein, wahrend der Luys’sche Korper ein directer 
Grosshimantheil ist 

Ein sehr wichtiges Verhalten bietet bei totalen Grosshirndefecten 
die Lamina medullaris externa dar, indem sie bei sehr ausge- 
dehnter Degeneration des Sehhiigels und totaler Resorption der inneren 
Kapsel zum Theil erhalten bleibt und nur eine sehr erhebliche Vermin- 
derung des Kalibers ihrer Fasem aufweist. 

Im Mittelhirn fand Monakow das Grau der Formatio reticu¬ 
laris, das mittlere Grau des vorderen Zweihtigels als vom Grosshirn 
vollig unabhangig. Die Substantia nigra und das oberflachliche Grau 
des vorderen Zweihtigels stellten sich als directe Grosshirnantheile 
heraus, wahrend der rothe Kern und der hintere Zweihtigel sich als 
indirecte Grosshirnantheile entpuppten, ebenso wie die Haubenstrahlung, 
die Haubenfascikel FOrel's, die Schleifenschicht und der Arm des 
hinteren Zweihtigels. 

Der directe Grosshimantheil des Hinterhirns ist die graue Sub- 
stanz der Brttcke, der indirecte Grosshimantheil der gekreuzte Bracken- 
arm und die gekreuzte Kleinhirnhemisphare. 

Unabhangig vom Grosshirn sind das Grau der Formatio reticu¬ 
laris, die grauen Geflechte um die Raphe und oberhalb der Schleifen¬ 
schicht, der Trapezkern, die oberen Oliven, die Bogenfasern, das Corpus 
trapezoides, das Mark der oberen Oliven, die innere Abtheilung des 
Kleinhirnstiels und sammtliche hier entspringende Hirnnerven nebst 
ihren Keraen. 

In der Medulla oblongata lassen sich nach Monakow keine 
directen Grosshirnantheile mit Sicherheit nachweisen. Die mediale Ab¬ 
theilung des Burdach’schen Kerns und die caudale des GolPschen 
Kerns zeigen einfache atrophische Veranderungen oder Sklerosirung 
nach Grosshiraabtragung, ebenso der Kern in den Processus reticulares 
des Cervicalmarks. 


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Zur Anatomie und Physiologic expcrimenteller Zwischenhimverletzungen. 145 

Monakow weist aach mit Recht auf die Wechselbeziehung zwi- 
schen Hirnmantel und directen Grosshimantheilen hin und ftihrt aus, 
dass bei Thieren mit schlechter Entwicklung des Grosshirnmantels, 
wie Selachiern, Teleostiem und Reptilien, nach den bisherigen Kennt- 
nissen einzelne der directen Grosshirnantheile sehr ktimmerlich ent- 
wickeit sincL Die Grosshirnantheile des Zwischenhirns (Kerne des 
Sehhttgels) fehlen hier, und besteht das Grau des Zwischenhirns nur 
aus dem Ganglion habenulae und centralen Hohlengrau, also Gebilden, 
die durch eine Grosshirnabtragung bei hoheren Saugern nicht beein- 
trachtigt werden. Forel machte darauf aufmerksam, dass die Ent¬ 
wicklung der Sehhtigelkerne vollig Schritt halt mit der Entwicklung 
der Grosshirnhemispharen. 

Monakow erwahnt auch, dass die indirecten Grosshirnantheile, 
z. B. der vordere Zweihugel (Lobus opticus), in der Thierreihe abwarts 
viel machtiger entwickelt sind, als bei hoheren Saugern, und legt den 
Gedanken nahe, dass diese Regionen, wenigstens das Dach des Mittel- 
hirns, eine Vereinigung dessen darstellen, was bei hoheren Saugern 
theils in der Rinde des vorderen Zweihtigels (Grosshirnantheile), theils 
in der Rinde des Occipitallappens getrennt liegt, dass also die mit dem 
vorderen Zweihtigel in Verbindung tretenden Ganglienzellen der Occi- 
pitalrinde sich mit den zugehorigen Grosshimantheilen des vorderen 
Zweihtigels im Mittelhirndach eng vereinigt vorfinden. Als Beispiel 
ftihrt Monakow die Thatsache nach Steiner an, dass Knochenfische 
nach Grosshirnabtragung noch fahig bleiben, das Gesehene psychisch 
zu verwerthen, und dass die Rolle des vorderen Zweihtigels mit der 
Zunahme der Entwicklung der Occipitalrinde stetig abnimmt, ebenso 
wie die raumliche Ausdehnung desselben, und dass als Vermittler ftir 
das psychische Sehen das Corpus geniculatum externum in der Thier- 
reihe aufwarts an Bedeutung stetig zunimmt. 

Monakow ftihrt auch die entwicklungsgeschichtliche Verwandt- 
schaft des Grosshirns mit dem Sehhtigel an, indem das secundare 
Yorderhim aus dem primaren, d. h. aus dem Zwischenhirn, durch Aus- 
sttilpung der vorderen Wand des letzteren hervorgeht, und stellt die 
Yermuthung auf, dass die Neuroblasten derjenigen Gebilde, die er mit 
dem Namen Grosshirnantheile bezeichnet hat, nach vorausgehender 
Differenzirung — ahnlich wie die Neuroblasten der spinalen Ganglien- 
leiste in das Medullarrohr — in den Grosshirnmantel hineinwachsen 
und erst durch diesen Vorgang in den Besitz des Grosshirns gelangen. 

Monakow hat # nun in grundlichster Weise durch Abtragung 
umschriebener Rindenabschnitte beim Kaninchen, bei der Katze und 
beim Hunde die dazugehorigen directen und indirecten Grosshirnan¬ 
theile genauer zu erforschen versucht und fand dabei, dass jedem 
Deutsche Zeitsohr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 10 


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146 


VIII. Probst 


Sehhtigelabschnitt (Kern, Kerngruppe) ein besonderer Rindenbezirk zu- 
gehtirt, welcher die Ernahrung jenes beherrscht, und dass die Gross* 
hirnoberflache in eine Reihe von Zonen zerlegt werden kann, in denen 
ganz verschiedene Rindenabschnitte vertreten sind. Als Zone far den 
medialen Kern (med. a) fand er die Zone J von Mnnk (Rumpfregion) 
entsprechend, far med. b die Zone H (Nackenregion). Die Zone des 
vorderen ventralen Kerns (vent, ant) entspricht der Vorderbeinregion D, 
die Zone des medial-ventralen Kerns (vent, b) entspricht der Hinterbein- 
region C, die Zone des central-ventralen Kerns (vent a) der Kopfregion 
E; die Zone des lateral-ventralen Kerns (vent c) liegt im vorderen 
Drittel der ectosylvischen Windung nnd fallt theilweise mit der Kopf¬ 
region E zusammen; die Zone der vorderen Kerngruppe (ant a, ant b, 
ant c) liegt im ersten Ftinftel der suprasylvischen Windung, im 
Feld F, die Zone des vorderen lateralen Kerns (lat. ant) liegt im vordersten 
Abschnitt des Gyrus coronarius und fallt theilweise ebenfalls in die 
Munk’sche Kopfregion. Die Zone des dorsal lateralen Kerns (lat a) 
entspricht dem zweiten Ftinftel (von vorn gerechnet) der suprasylvischen 
Windung, die Zone des ventral-lateralen Kerns (lat b) nimmt das zweite 
Ftinftel (von vorn) der ecto-lateralen und suprasylvischen Windung 
ein, die Zone des hinteren Kerns liegt im hinteren Drittel der ecto¬ 
sylvischen Windung, im Feld G von Munk; die Zone des Pulvinars 
nimmt das dritte Ftinftel des Gyrus suprasplenius und ectolateralis ein, 
die Zone des Corpus geniculatum externum fallt mit der Munk’schen 
Sehsphare zusammen und nimmt ca. die drei eaudalen Ftinftel der 
ersten und zweiten ausseren Windung ein. Die Zone des inneren Knie- 
hockers liegt im Gyrus compositus post und vielleicht auch im hinteren 
Schenkel der Sylvi’schen Windung und fallt zum grossen Theil mit 
der Horsphare von Munk zusammen; die Zone des Corpus mammil- 
lare muss in das Gebiet des Uncus und des Ammonshorns verlegt 
werden. 

In richtiger Erkennung der Thatsachen betont Monakow auch, 
dass je einem Rindenfeld mindestens zwei verschiedene und zwar in 
der Regel in entgegengesetzter Richtung verlaufende Projectionsfaser- 
kategorien entstammen, beziehungsweise in denselben endigen intissen. 

Monakow fand auch beim Menschen auf Grund von elf patho- 
logischen Fallen, dass jedem Sehhtigelabschnitte eine correspondirende 
Windungsgruppe, welche die Leistung desselben beherrscht, zugewiesen 
ist, und zwar ebenso, wie in den experimentellen Fallen beim Thiere. 

Beztiglich des Ursprungs der Fasern fand Monakow nach Ab- 
tragung von umschriebenen Rindentheilen, dass der Entartungsprocess 
von der Faser direct auf die Zelle ubergreift, und dass somit die 
meisten dem Sehhugel entstammenden Stabkranzbundel directe Fort- 


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Zur Auatomie und Physiologic experimenteller Zwischenhirnverletzungen. 147 


4 


a 


setzungen der Sehhtlgelzellen sind, welche blind in der Grosshimrinde 
endigen. 

Monakow kam anf Grund jahrelanger, exacter, mtihevoUer 
Arbeiten zn diesen glanzenden Ergebnissen, die nns eine Grandlage 
f&r alle weiteren Forschungen geben. j 

Um die oben geschilderten Verbindungen des Zwischen- 
hirns weiter zu erforschen, habe ich mich einer anderen ex- 
perimentellen Operationsmethode und einer anderen Farbe- 
technik bedient. Wahrend Monakow dureh uraschriebene 
Abtragung yon Rindenfeldern bei Kaninchen, Katzen und 
Hunden zum Ziele zu kommen suchte, ging ich das 
Zwischenhirn selbst operativ an, indem icb bei Hunden, 

Katzen und Igeln theils circumscripte Verletzungen im Zwi¬ 
schenhirn erzeugte, ohne andere Himpartien zu verletzen, 
theils circumscripte Rindenabtragungen yollftihrte und die 
secundaren Degenerationen, die auf diese Lasionen hin ent- 
standen, auf ltickenlosen Serienschnitten nach der Farbung 
von Marc hi mit Osmiumsaure untersuchte. 

Um exacte, circumscripte Lasionen des Zwischenhims 
zu erzeugen, habe ich die Methode mit der Hakencantile 
zu Stande gebracht, wodurch bei einiger Uebung die Ver- 
letzung anderer Hirntheile vermieden wird. Die Haken- 
canhle (Fig. 1) besteht aus der Cantile a, in welche der 
Stahldraht b hineinpasst, der sich beim Vorschieben aus 
der Cantile rechtwinklig abbiegt, c und d sind Klemmen mit 
Stellschrauben; durch die Klemme c wird die Tiefe des 
Einstiches markirt, durch die Stellklemme d wird die Rich- 
tung des rechtwinklig abgebogenen Hakens markirt, und 
zugleich bietet diese die Handhabe zum Hineindriicken und 
Herausziehen des Stahldrahtes. Der Stahlhaken wird beim 
Gebrauch des Instrumentes in der Cantile verborgen, indem 
man bei der Klemme d anzieht; hierauf wird das Instru¬ 
ment bei x gefasst, in das Gehirn eingestochen bis zu der 
durch die Klemme c markirten Hohe; dann wird der Stahl¬ 
haken vorgeschoben, indem man bei der Klemme d den 
Stahldraht in die Cantile hineindrtickt. Die Schraube der 
Klemme d giebt die Richtung des Stahlhakens an. Nun kann einfach 
das Instrument gehandhabt werden, indem man die ganze Hakencantile 
ein wenig emporzieht oder eine zirkelformige Drehung macht, wie es 
eben der Operateur wtinschh Die Lange, wie weit der Stahlhaken 
nach dessen Vorschieben aus der Cantile herausschauen soil, wird durch 
Verschieben und Feststellen der Klemme d bewirkt. 

10 * 


J 

Fig. 1. 


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148 


VIII. Probst 


Es ist dies ein einfaches Instrument, durch welches circumscripte 
Lasionen im Hirnstamm, Kleinhim und Grosshirn gesetzt werden k5nnen, 
sowie auch durch Einsetzung verschiedenartiger Drahte mit Leichtig- 
keit Halbseitendurchschneidungen der Medulla oblongata, des Pons, 
des Sehhttgels etc. ausgefiihrt werden konnen. 

Um mit diesem Instrument Verletzungen zu erzeugen, ist es 
nicht einmal immer nothwendig, den Schadel regelrecht zu txepa- 
niren, sondem es gentigt fQr manche Operationen oft nur eine einfache 
Oeffnung, die mit dem Drillbohrer oder dem Stachel des Trepans allein 
gemacht wird. 

Fig. 2 und 5 zeigen Lasionen, wie sie mit dem obigen Inst rumen te 
gemacht wurden. 

Monakow liess seine Versuchsthiere mehrere Monate for die 
Atrophiemethode leben und untersuchte das Gehim an Serienschnitten 
nach Carminfarbung. 

Ich habe bei meinen Versuchen fast ausschliesslich die Osmiumsaure- 
farbung nach March i angewendet, welche, wenn man die Fehler derselben 
zu vermeiden weiss, die besten Resultate liefert Eine retrograde Degene¬ 
ration war nie aufgetreten. Die Thiere wurden nach der Operation meist 
2 bis 4 Wochen am Leben gelassen. Wahrend des Lebens wurden die Er- 
scheinungen, welche die Operation erzeugte, sehr genau Tag fur Tag be- 
obachtet und notirt, und bevor die Thiere getodtet wurden, wurden die 
Rindenzonen freigelegt und die faradische Rindenerregbarkeit geprftft, und 
gesehen, inwiefem die Verletzung des Zwischenhims etc. abnorme Ver- 
haltnisse schuf. Es wurde die Erregbarkeit der motorischen Zone links 
und rechts verglichen bei schw&chsten Stromen und bei starkeren, femer 
beobachtet, wie die Zuckungen in den Extremitaten stattfinden und 
schliesslich, wann epileptische Anfalle auszulosen waren und wann nicht 

Ich habe bisher bei 21 Thieren umschriebene und grossere Seh- 
hiigelverletzungen gesetzt und habe das Gehirn aller dieser Thiere auf 
liickenlosen Serienschnitten nach Osmiumsaurefarbung geschnitten. 
Ausserdem habe ich Rindenabtragungen vorgenommen und in der 
gleichen Weise behandelt. Fiir die Technik der Marchi'schen Farbung 
habe ich einige Apparate construirt, so dass sicher lfickenlose 
Serienschnitte gemacht werden konnen: unter anderen einen Schneide- 
apparat zum Zerlegen des Gehirns in planparallele Scheiben, Netze 
zum Auflegen dieser Scheiben in der Osmiumsaurelosung etc. 1 ) 

Ausser den Rindenabtragungen und den experimentellen Ver¬ 
letzungen im Sehhugel, habe ich yiele Halbseitendurchschneidungen 

1 ) Probst, Experimentelle UntersuchuDgen fiber die Schleifenendigung, 
die Haubenbahoen, das dorsale Laogsbfindel und die hintere Oommissur. Archiv 
ffir Psychiatrie u. Nervenkr. Bd. 33 H. 1. S. 6. 


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Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhirnverletzungen. 149 


im Pons, in der hinteren Zweihugelgegend zur Constatirung des Faser- 
verlaufes im Sehhtigel unternommen und auch bei diesen Thieren 
wurde vor der Todtung die Rindenerregbarkeit in obigem Sinne geprQfk 

Die obige Methode zur Erzeugung von Lasionen des Zwischen- 
hirns habe ich angewendet — da es bisher noch keine Methode zur Er¬ 
zeugung circumscripter Lasionen im Sehhtigel gab —, ohne dass andere 
Hirntheile erheblich mit verletzt wurden. Die Methode durch Ein- 
spritzung von Chromsaure ist sowohl zur exacten Erforschung der 
Physiologie als der Anatomie der Sehhtigel nicht verwerthbar, da, ab- 
gesehen von den Allgemeinwirkungen der Chromsaure, diese beim 
Einspritzen in den Sehhtigel auch in andere Hirntheile Qbergeht 
(Ventrikel, innere Kapsel, vorderer Zweihugel etc.). Es wurden auch 
bei den Versuchen, die bisher mit Chromsaureinjection gemacht wurden, 
die Gehime nie anatomisch-histologisch untersucht, sondern nur die 
physiologische Wirkung beobachtet. 

Im Folgenden will ich von einigen Versuchen berichten, die ich, 
wie oben angegeben, durchgefQhrt habe. Ich habe bei diesen Ver¬ 
suchen die verschiedenen Kerne des Thalamus theils isolirt, theils zu- 
sammen mit anderen zerstort und die Verbindungen dieser einzelnen 
Kerne mit der Grosshimrinde studirt und den Bezirk der Grosshirn- 
rinde genau umschrieben, mit welchem die einzelnen Kerne des Seh- 
hfigels zusammenhangen. Wenn ich nun einen bestimmten Kern des 
Sehhttgels zerstorte, so degenerirten die von diesen Zellen entspringenden 
Nervenfasern. Diese durch die Marchi’sche Farbung deutlich kenn- 
baren degenerirten Fasern wurden nun zur Hirnrinde genau verfolgt 
und das Einstrahlungsgebiet in die Grosshimrinde festgestellt. 

Freilich muss man bei diesen Zerstorungen einzelner SebhQgel- 
kerae auf Fasera RQcksicht nehmen, welche vielleicht einfach den 
Sehhtigel durchsetzen und eigentlich weiter caudalwarts herkommen. 
Wenn also solche Fasern durch die Lasion verletzt werden, so konnen 
diese ebenfalls centripetal zur Rinde degeneriren, ohne dass sie im 
Sehhtigel entspringen. Solche Fasera von den Hinterstrangkernen, vom 
Kleinhirn, vom Pons, vom rothen Kern etc. hatte man annehmen 
konnen, dass sie den Sehhtigel einfach durchziehen und in die Gross- 
himrinde einstrahlen. Um diese Frage vorher zu entscheiden, habe ich 
die zahlreichen Praparate, die ich herstellte, diesbeztiglich durchstudirt. 
Ich habe zahlreiche Experimente an Katzen und Hunden mit Halb- 
seitendurchschneidungen des RQckenmarks, der Medulla oblongata, 
der Brticke, der hinteren Zweihtigelgegend durchgefQhrt und die Ge- 
hirne und den Stamm an lUckenlosen Serienschnitten nach Osmium- 
saurefarbung geschnitten, so dass mir zur Entscheidung dieser Frage 
wohl die Praparate von 40 Thieren vorlagen. 


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150 


VIII. Pbobst 



Ich kann das diesbezdgliche Resultat dieser Versache kurz zu- 
sammenfassen, wenn ich sage, dass in keinemFalle eine aufstei- 
gende Degeneration von Fasern weiter, als bis in die grossen 
subcorticalen Ganglienmassen zu verfolgen war. Namentlich 
giebt es aber ganz sicher keine directe aufsteigende Degeneration von 
den Hinterstrangkernen zur Grosshirnrinde, wie das neuerdings wieder 
behauptet wurde. 

Es enden also sowolil die Schleifenfasern als die Hauben- 
fasern, als die vom Kleinhirn kommenden Fasern im Seh- 
hugel, und es finden also hier die Umschaltungen der von der Peri¬ 
pherie centripetal geleiteten Erregungen statt, theils zum Grosshirn, 

theils zum Klein- 
him, theils zum 
rothen Kern und 
von hier peripher- 
warts. 

Ich werde auf 
diese zahlreichen 
Versuche einzeln 
naher eingehen, 
wenn ich gelegent- 
lich darttber be- 
richten werde. 

Im Folgenden 
will ich nun auf 
experimentelle La- 
sionen der medial 
ventralen Kern- 
gruppe des Seh- 
htigels eingehen 
und von diesen Ex- 
perimenten zwei 
Falle herausheben, 
welche die Verbin- 
dung dieser Gegend mit der Grosshirnrinde illustriren sollen; zunachst. 
liber einen Versuch mit einer Verletzung, wie sie Fig. 2 zeigt. 

Bei einer erwachsenen Katze wurde nach der oben geschilderten Ope- 
rationstechnik eine L&sion im medial-ventralen caudalen Sehhiigelabschnitte 
gesetzt, indem dieselbe knapp dorsal vom rechten Corpus mammillare aus- 
ging und in frontal-dorsaler Richtung die medialen Theile des rechten 
Sehhugels verletzte. Das Corpus mammillare ist von der Verletzung nicht 
getroffen. Durch die L&sion wurde die medialste Spitze des sensenformigen 
Kerns vent, b zerstort, ferner das median davon gelegene Hohlengrau, 


C.g.e. 


C.c. 


ventb 


CL 

Fig. 2. 


g.h. 


MB 

V 

oH 

KTh 

BV 


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Zur Auatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhirnverletzongen. 151 


ferner wurde das Meynert’sche Biindel and das Vicq d’Azyr’sche Btindel 
darchschnitten und die medialste Spitze des Kerns med. b ein wenig tangirt, 
ferner einige medialst gelegene Fasern der frontalen Haubenstrahlung. Am 
caudalsten Ende der L&sion war auch das Haubenbiindel des Corpus mam- 
millare bei seinem Aufsteigen aus dem Corpus candicans darchschnitten 
worden und konnte auch dessen Degeneration studirt werden. Wie weit 
die L&sion dorsal reicht, zeigt Fig. 2 . 

Ich habe also eine circumscripte, kleine Lftsion gesetzt etwa im mitt- 
leren Verlaufe des Meynert’schen Biindels, die lateral den Kern vent, b 
in seinen medialsten Antheilen und gegen die Mitte zu das centrale 
Hohlengrau zerstbrte. 


Von dieser L&sion aus konnte ich nun eine streng umschriebene Bahn 
zur Hirnrinde verfolgen, 
ohne dass sonst irgend 
welche Fasern im Gross- 
hirn degenerirt gewesen 
wftren. 

Die degenerirten 
Fasern zogen von der 
LSsionsstelle im medial- 
ventralen Theil des Ker¬ 
nes vent, b weiter in der Fasc - 8Ubc - 
Richtung, wie das dor- 
sale Mark der Regio sub- 
thalamica, und waren c.c. 
nicht streng zu scheiden 
von den Fasern dieses. Wo 
nun die Hirnschenkel- 
schlinge auftritt, wenden 
sich die Fasern etwas 
ventralw&rts und biegen 
auf dem Wege der Lamina 
medallaris externa des 
Sehhugels in die innere 
Kapsel ein. Dort, wo 
der Pedunculuskern 
proximal zu Ende geht, 
durchqueren diese Fasern 
den ventralen Theil der 
inneren Kapsel, indem sie theils im Bogen dorsal vom Pedunculuskern, theils 
ventral von dem proximalen Ende dieses herumziehen; sie kommen dadurch 
zum Theil auch in jenes Gebiet zwischen Linsen- und Pedunculuskern 
zu liegen, welches die Hirnschenkelschlinge inne hat. Die degenerirten 
Fasern kommen dann nach Durchquerung des ventralen Theiles der inneren 
Kapsel in der Gegend der vorderen Commissar knapp an die mediale Seite 
der Linsenkernglieder zu liegen, und die Richtung dieser Fasern scheint in 
die Linsenkernglieder zu gehen. Das ist aber nur anscheinend der Fall. 
Die Fasern gehen keine grobere Verbindung mit dem Linsenkern ein, son- 
dern ziehen im lateral-ventralen Antheil der inneren Kapsel weiter hirn- 
wUrts. Die dorsalsten Antheile des Linsenkerns werden theils von den 



X 

Li 


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152 


VIII. Peobst 


F&8ern durchzogen, theils ziefaen sie knapp an der medialen Seite des 
Linsenkerns waiter, wie es Fig. 8 zeigt 

Diese Lage behalten nun die Fasern in der inneren Kapsel bei nnd 
ziehen hier weiter frontalw&rts. Nach dem Verschwinden der Linsenkem* 
glieder kommen sie etwas lateraler zu liegen nnd strahlen dann in die 
Windung ein, wie es Fig. 4 veranschaulieht. Die Degenerationsproducte 
sind etwa bis zum Gennari’schen Streifen zu verfolgen. Die Windung, 
in welche diese degenerirten Fasern eintreten und ausstrahlen, ist das vor- 
derate frontale Ende der vierten Aussenwindung. 

Am frontalen Pol der Katze liegt an Stelle der ersten Aussenwindung 
der Gyrus sigmoideus, die zweite und dritte Aussenwindung enden lateral 
davon mit einem Windungszug, Gyrus coronarius, in dem sie sich vereinigt 

haben. Zwischen diesem und 
dem Gyrus orbitalis reicht der 
Windungszug, der sich zum 
Theil aus der dritten und vier¬ 
ten Aussenwindung zusammen- 
setzt und in eine spitze Win¬ 
dung ausgezogen vorne endet. 
Hier nun strahlen die geschil- 
derten degenerirten Fasern ein. 
wie es Fig. 4 zeigt. 

Durch diesen Befund 
ist eine Verbindung 
sichergestellt, welche 
den medial-ventralen 
caudalen Antheil des 
Zwischenhirns mit dem 
x frontalen Ende der vier¬ 
ten resp. dritten Aussen¬ 
windung verbindet. Der 
Zellkorper dieser Neurone 
liegt also im Zwischenhirn, 
und die Nervenfaser endet 
blind in der obigen Windung. 
Der Hauptantheil dieser Zell¬ 
korper, die in dieser Art ihre 
Nervenfasem gegen die Grosshirnrinde senden, dtirfte wobl im Kern vent, 
b zu suchen sein. Sicher ausschliessen kann ich freilich nicht, ob nicht 
auch Fasern von den anderen verletzteu Ganglienzellen und Nervenfasern 
dabei eine Rolle spielen, namentlich, ob nicht vom Mittelhirn her 
einige Fasern des dorsalen Markes der Regio subthalamica in dieser 
Weise verlaufen. Weiter caudal, etwa vom hinteren ZweihQgel, kommen 
sie sicher nicht her, wie es meine oben ausgeflihrten Durchschneidungs- 
versuche in dieser Gegend beweisen. Ausser der medialen Spitze von 



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Zur Anatomie and Physiologie experi men teller Zwischenhimverletzungen. 153 



vent, b war auch etwas der medialste Antheil von med. b bertihrt worden, 
und konnten auch, allerdings nur zum Theil, die Ganglienzellen dieser 
Gruppe mit in Frage kommen. 

Weiter konnte noch das centrale Hohlengrau und das Grau liber 
dem rechten Corpus mamillare in Betracht kommen. Darauf werde 
ich noch zurtickkommen. 

Was nun die Degenerationsverhaltnisse des Meynert’schen Btin- 
dels anbelangt, so konnte ich auch in diesem Falle, wie ich es schon 
frtiher einmal ausgeftthrt habe, nachweisen, dass es, durchscbnitten, einer- 
seits zum Ganglion habenulae hin degenerirt, andererseits aber auch 
zum Ganglion interpedunculare, dass es also sowohl auf- als ab- 
steigende Fasern enthalt. 

Das Vicq d’Azyr'sche Blindel degenerirte nach seiner Durch- 
schneidung oberhalb des Cor- n Cg e. B ^ t u 

pus mammillare aufwarts 
zum Kern ant. a und endete 
dort mit feinen ausstrahlenden 
Degenerationen, in dem diese 
an der ventralen und lateral- 
dorsalen Seite am meisten an- 
gehauft sind und einen form- 
lichen Saum um diese Theile 11 
des Kerns bilden. 

Jene Fasern des dorsalen 
Markes der Regio subthala- 
mica, welche verletzt waren, 
degenerirten frontalwarts und 
endeten im ventralen Kernla- 
ger des Thalamus zum Theil 
im Kern med. b und med. c. 

Ein grosser Theil der Fa- p 

sern des dorsalen Marks der Fig. 5. 

Regio subthalamica kommt 

nach anderen Versuchen von mir vom Kleinhim her und zwar durch 
den Bindearm. Ich komme anderweitig darauf naher zu sprechen. 1 ) 

Ich mochte hier noch auf die Fasern der Forel'schen Commissur 
zu sprechen kommen, welche im obigen Falle auch degenerirt waren. 
Ich habe die Fasern der Forel’schen Commissur bei meinen zahlreichen 
Durchschneidungsversuchen durch die BrQcke in vielen Fallen 
zur Degeneration gebracht und komme auf diese ausfQhrlicher in 
einer spateren Arbeit zu sprechen und will sie hier nur kurz erwahnen. 


1 ) 1 . c. 


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154 


VIII. Probst 


Monakow lasst die vordere Haubenkreuzung Ganser's oder 
Forel’sche Kreuzung aus wenigen Btindeln bestehen, welche aus der 
Zona incerta (ventralerTheil) stammen und das central©Hohlengrau durch- 
setzen and divergirend im Tuber cinereum der gekreuzten Seite aufsteigen. 

Kolliker schreibt darliber, dass er ttber das weitere Verhalten 
dieser Commissura hypothalamica anterior keine weiteren Aufschlasse 
geben konne, als diejenigen, die seiner Fig. 686 zu entnehmen sind, 
welche zeigt, dass dieselbe lateral von der Fornixsaule dorsal warts 
verlauft und dann in den anderen, in derselben Richtung verlaufenden 
Faserbfindeln (der Ansa lenticularis, dem Hilus inferior thalami und 
dem dorso-central verlaufenden Abschnitte der Stria medullaris thalami) 
sich verliert. 

Bechterew schildert die ForePsche Commissur als Fasciculus 
tuberis cinerei. Die ziemlich starken Elemente dieses Btindels verlaufen 
unter dem Boden des dritten Ventrikels von einer Seite zur anderen, 
von der Mittellinie aus facherformig auseinanderweichend. Caudal- 
warts umgehen sie den Fornix vorwiegend von innen her und verlieren 
sich sodann an den vorderen Absehnitten des rothen Kerns. Die ven- 
traleren Fasern ziehen nach aussen, um sich noch im Gebiete des 
Tuber cinereum unter dem Boden des Ventrikels mit solchen der 
anderen Seite zu kreuzen, gesellen sich an dem medialen Rande des 
Hirnschenkels zu der Meynert’schen Commissur und erreichen mit 
letzterer, ventral vom Hirnschenkel weiterziehend, den ventralen Theil 
des Linsenkerns. Bechterew fand nach Thalamuslasionen, dass sich 
die degenerirten Fasern von der Lasionsstelle gewohnlich beiderseits 
von den Fornixschenkeln abwarts zu dem Boden des dritten Ventrikels 
begeben, die Mittellinie tiberschreiten und schliesslich mit Elementen 
der Meynert’schen Commissur zur ventralen Seite des Linsenkerns 
streben, wo sie sich dem Blicke entziehen. 

Tschermak will nach seinem Befunde bei einer Katze schliessen, 
dass die Einstrahlung der ForePschen Kreuzung in den Linsenkern, 
speciell in den Globus pallidus eine allem Anscheine nach vollstandige sei. 

Den Befund Tschermak’s kann ich nicht bestatigen, sondern 
ich bin zu anderen Resultaten gekommen. 

Es liegen mir fiinf Falle vor, wo die ForePsche Kreuzung deut- 
lich einseitig degeuerirt ist. Nach Halbseitendurchschneidungen in 
der Brticke degeneriren Fasern in der Nahe des medialen Antheiles 
der Schleife frontalwarts, und gelangen lateral-ventral vom rothen Kern 
zum dorsalen Mark der Regio subthalamica. Von hier aus treten dann 
die Fasern ventralwarts in das Tuber cinereum, wie es Bechterew 
schildert, gelangen zurMeyner t’schen Commissur der anderen Seite, gehen 
aber hier nicht zum Linsenkern, sonderndurchbrechen von unten her 


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Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhimverletzungen. 155 


den Fuss der inneren Kapsel, durchqueren diese in schiefer Richtung 
und treten in die Gitterschicht des Sehhtigels ventral vom 
Corpus genicnlatum externum ein und zersplittern sich hier. 

Ich komme fibrigens auf diese Fasem noch anderwarts zu sprechen 
und will hier nur betonen, dass ihre Einstrahlung nicht in den Linsen- 
bem erfolgt, sondern in den Sehhflgel der anderen Seite, und dass 
diese Fasem von der Brficke herkommen. 

Ich kann hier noch fiber ein anderes Btlndel berichten, welches von 
der Lasionsstelle dorsal vom rechten Corpus mammillare aus in caudaler 
Richtung degenerirte, das mit dem Verlauf des Haubenbfindels des 
Corpus mammillare der Autoren ttbereinstimmt. 

Kolliker berichtet fiber das Vicq d’Azyr*sche Bfindel und 
das Haubenbfindel von Gudden, dass man von diesen zwei Bfindeln 
nach den bisherigen Daten annehmen mttsse, dass das Gudden*sche 
Haubenbfindel im Ganglion tegmenti profundum von Gudden ent- 
springe, wahrend von dem Vicq d*Azyr’schen Bfindel bisher uner- 
mittelt war, wo dasselbe herkomme und ende. Kolliker hat 1895 
bereits das Vicq’ d*Azyr*sche Bfindel im Nucleus dorsalis thalami 
mit freien Endigungen ausgehen sehen, welche Beobachtung fast gleich- 
zeitig Ramon verofFentlichte. Kolliker war es nicht moglich, das 
Bfindel von Vicq d'Azyr bis ins Corpus mammillare hinein zu ver- 
folgen und erklarte, dass dasselbe sich immer an einer gewissen Stelle 
verlor und mit dem Haubenbfindel vereinigte. Diese eigenthttmliche 
Thatsache hat auch Gudden mehrfach angedeutet. 

Ramon fand bei jungen Mausen, dass die Fasern des Vicq 
d’Azyr*schen Btindels und diejenigen des Haubenbfindels aus gemein- 
samen Stammfasem hervorgehen, die, nach dem sie aus der dorsalen 
Seite des Corpus mammillare herausgetreten sind, sofort unter an- 
naherad rechtem Winkel sich theilen und den einen Ast in das eine, 
den anderen in das andere Bfindel senden. Ramon vermuthet, dass 
alle Zellen des Ganglion mediate des Corpus mammillare solche Stamm¬ 
fasem abgeben. 

Kfilliker fand nun auf Golgi*schen Praparaten von Mausen, 
Ratten und Kaninchen, dass die Faserbfindel, die von der gemeinsamen 
Fasermasse, zu welcher das Vicq d'Azyr’sche und Haubenbfindel 
dorsal sich vereinen, in das Corpus mammillare ein treten, in diesem 
auf lfingere Strecken als starkere und schwachere Bfindel sich erhalten 
und schliesslich, pinselformig zerfahrend, mit ungetheilten und unver- 
astelten Fasern sich verlieren, ein Verhalten, das voll beweist, dass alle 
diese Fasem im Corpus mammillare von Zellen entspringen. 

Ramon sah bei der Maus im Allgemeinen den Ast, der in den 
Fasciculus Vicq d*Azyr einging, etwas starker, als den anderen; 


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156 


VIII. Probst 


beim Kaninchen ist gerade das Umgekehrte die Regel. Kolliker 
schliesst sich nun den Beobachtungen Ramon y Cajal’s an und nennt 
das Stammbtindel Fasciculus mammillaris princeps, das sich in die 
beiden Auslaufer Fasciculus thalamo-mammillaris und Fasc. tegmento- 
mammillaris theilt. 

Die Fasem des Stammbtindels des Corpus mammillare entspringen 
nach Kolliker von den Zellen des Ganglion mediale. Was den Ver- 
lauf und die Endigungen des Fasciculus tegmento-mammillaris betrifft, 
so stimmt Kolliker mit Gudden insofern tiberein, dass auch er die 
Bfindel, die Gudden zeichnet, als Fortsetzungen desselben ansieht und 
von einem Uebergang in den Fasciculus longitudinalis dorsalis nichts 
Sicheres zu beobachten im Stande war. Sowie das Ganglion Guddenii 
profundum auftritt, werden diese Btindel undeutlich und enden jeden- 
falls grosstentheils nach Kolliker in diesem Ganglion, welche En- 
digung eine freie ist. 

Auch an Sagittalschnittserien der Regio hypothalamica und des 
Zwischenhirns des Menschen kam Kolliker zu demselben Resul- 
tat, wie bei der Maus und dem Kaninchen, dass der Fasciculus tha- 
lamico-mammillaris und Fasc. tegmento-mammillaris zu einem Faser- 
systeme gehSren, und dass hochstwahrscheinlich die eine Abtheilung 
dieses Systems, namlich der Fasciculus tegmento-mammillaris, in das 
dorsale Langsbtindel iibergeht und einen wesentlichen Bestandtheil des¬ 
selben bildet. 

Ich habe nun nach der oben geschilderten Verletzung dorsal vom 
rechten Corpus mammillare, wobei das hier verlaufende Bundel von 
Vicq d’Azyr und das Haubenbfindel des Corpus mammillare durch- 
schnitten waren, den Verlauf dieser und die Degenerationsrichtung 
genau verfolgen konnen. Das Resultat einer Durchschneidung des 
Vicq d’Azyr’schen Biindels dorsal vom Corpus mammillare ist, dass 
dasselbe zum Kern ant. a aufsteigend degenerirt, aus mittelfeinen Fasern 
besteht und sich namentlich im ventralen und lateralen dorsalen Theil 
des Kerns ant. a aufsplittert. Es besteht demnach zum grossten 
Theile aus zum Kern ant. a aufsteigenden Fasern. 

Was nun das Haubenbfindel des Corpus mammillare betrifft, so 
konnte ich auch den Zug dieser Fasern durch die distincte Degenera- 
tionsfarbung mit Osmiumsaure verfolgen. Sie gelangen von der Ver- 
letzungsstelle an die laterale Seite des dorsalen Langsbtindels, wo dieses 
aus dem tiefen Kern der hinteren Commissur entspringt, und behalt 
diese Stelle auch im weiteren Verlaufe bei. 

Im weiteren Verlaufe werden Fasern abgegeben namentlich dort, 
wo der rothe Kern auftritt. Wo die dorsale Langsbfindelformation in 
der bekannten Form auftritt, liegen die Fasern knapp lateral davon. 


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Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhimverletzungen. 157 


Beim Trochleariskern angelangt, werden lateral Faserchen entsendet 
in die Substantia reticularis. Caudal vom Trochleariskern schlagen die 
Fasem eine ventrale Richtung ein und verlieren sich sammtlich in der 
Substantia reticularis derselben Seite. 

Es degeneriren also die Fasem dieses Bfindels abstei- 
gend und sie enden mit Aufsplitterungen in der Substantia 
reticularis der hinteren Zweihfigelgegend. 

Wenn ich nochmals auf die oben geschilderte Lasion des Zwischen- 
hirns eingehe, so waren zerstort zunacbst die mittlere Lage des cen- 
tralen Hohlengraus medial vom Meynert’schen Biindel, die mediale 
Spitze des Kerns vent, b und ein wenig der dort angrenzende Kern 
med. b; ferner war die dorsal vom rechten Corpus mammillare gelegene 
graue Substanz in kleinem circumscripten Umfange zerstort und zu- 
gleicb das Vicq d’Azyr’sche Biindel und das Haubenbiindel des 
Corpus mammillare. 

Wie verhalten sich nun diese Biindel und Kerngruppen beztiglich 
der Resultate Monakow’s nach Rindenabtragungen? Das Meynert- 
sche Bundel und das centrale Hohlengrau bleiben nach Grosshirnrinden- 
abtragungen ganz unbeeinflusst. Die ventralen Kerngruppen und der 
mediale Kern des Corpus mammillare sind nach Monakow indirecte 
Grosshirnantheile; sie erkranken also secundar nach Grosshimrinden- 
abtragungen, indem die Ganglienzellen alle Uebergange von der Volums- 
reduction bis zur volligen Sklerose zeigen. Eine vermittelnde Stellung 
zwischen directen und indirecten Grosshirnantheilen nehmen der laterale 
Kern des Corpus mammillare und die Zona incerta ein. 

Es kann also nach den Befunden Monakow’s das centrale Hohlen¬ 
grau ausgeschlossen werden, dass es directe Verbindungen zur Gross- 
himrinde entsendet. Das Meynert’sche Biindel und das Vicq 
d’Azyr'sche Biindel kommen hier nicht in Betracht. Das Grau der 
Zona incerta war nicht verletzt worden, nur das Grau dorsal vom 
rechten Corpus mammillare und die medial-ventrale Spitze des Kerns 
vent, b und einige medial gelegene Fasem des dorsalen Markes der 
Zona incerta. 

Ich kann also mit grosser Wahrscheinlichkeit schliessen, dass die 
Neurone der oben geschilderten degenerirten Zwischenhirnrinden- 
bahn ihre Zellkorper in dem medial-ventralen caudalen Sehhugel- 
kera haben. 

Ich komme nun auf die physiologischen Wirkungen der oben ge¬ 
schilderten Lasion. Welchen Effect hatte die Verletzung des Zwischen- 
hirns und die Ausschaltung der oben geschilderten degenerirten Neurone? 

Gleich nach Vollzug der Operation, die das rechte Zwischenhirn be- 
traf, drehte das Thier stark den Kopf nach rechts and begann nun fort- 


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158 


VIII. Probst 


w&hrend in einem Kreis nach rechts zu gehen. Trotz der Hindernisse, die 
am Boden liegen, macht die Katze zwangsweise die Bewegnng nach rechts 
im KreiBe; bekommt sie einmal auf der rechten Seite die Maner als Hinder- 
niss fur ihre rechtsseitigen Kreisbewegungen, so streicht sie mit dem Kbrper 
der Maner entlang, iiberdreht sich aber bald im Kreise nach rechts, nm 
ihre Man&gebewegnng nach rechts wieder anfznnehmen. Wenn sie die 
linke hintere Extremist in die Hbhe hebt, treten hier und da ganz leichte 
clonische Zncknngen anf. Nach einer halben Stnnde vennag sie schon 
anf den Sessel und von da anf den Tisch zn kommen, verfehlt jedoch den 
letzteren nnd fftllt herab. 

Die Katze will mit dem Kopfe sich nach links wenden, bringt es aber 
trotz aller Miihe nicht zn Stande. Nach einiger Rnhe beginnt sie wieder 
im Kreise nach rechts zn gehen. Sie geht an der Wand, als ob sie die- 
selbe beschnnppern wollte. Immer wieder stbsst sie an die ihr entgegen 
stehenden, nnangenehmen Hindernisse, nm dem scheinbaren Zwange, im 
Kreise nach rechts zn gehen, nachznkommen. Dnrch die Hindernisse kommt 
sie in die nnbeqnemsten Lagen, fhhrt aber trotzdem immer wieder denselben 
Weg nach rechts ans. Im Manerwinkel schant sie empor, tiberall herum- 
snchend, als ob sie sich orientiren wollte. 

Die Pnpillen reagiren; die Katze sieht, Hort nnd ftihlt; die Znnge ist 
gerade. Der Mnskeltonns ist hberall ein gnter; bei den Extremit&ten ge- 
halten, zieht das Thier fest an, knnrrt. 

Nach fhnf Viertel Stnnden f&ngt das Thier plbtzlich an, zwangsweise 
im Kreise nach der entgegengesetzten Seite zn gehen. Die Kreis- 
bewegnng nach links ist aber lange nicht so arg, als die frhheren Kreis¬ 
bewegungen nach rechts. Die Kreisbewegungen nach links danern nur 
knrze Zeit an. Das Thier geht dann unruhig herum, sucht umher. 

Nach einigen Stnnden haben diese Kreisbewegungen vollst&ndig auf- 
gehbrt und das Thier geht ganz gut. 

Auch die n&chsten Tage zeigt die Katze keine Sensibilitatsstbrungen, die 
Reflexe sind alle vorhanden, die Pnpillen reagiren. Sie liegt raeist beim 
warmen Herde nnd schl&ft, fletscht die Z&hne und knnrrt zornig, wenn man 
sie angreifen will. Auch im weiteren Verlaule zeigt sie keine Besonderheiten. 

Die physiologischen Versuche, die sich bisher auf Sehhiigellasionen 
bezogen, wurden ohne nachfolgende anatomischeUntersuchung gemacht. 
Es ist aber eine unerlassliche Bedingung, zumindestdie Verletzungs- 
stelle an ltickenlosen Serienschnitten zu studiren, da man sonst nie 
sichere Riickschliisse zieben kann. Solche Untersuchungen sind aller- 
dings sehr zeitraubend, da das ganze Qehirn in Serienschnitte zerlegt 
wird;ab^r nur diephysiologisch-anatomischeUntersuchung auf dieser Basis 
bietet eine gesicherte Grrundlage, auf welcher weitergebaut werden kann. 

Ich werde in spateren Arbeiteu noch alle die diesbezuglichen ein- 
zeln genau durchgepriiften Falle zusammenfassend wiedergeben und 
die gemeinsamen Resultate physiologischer und anatomischer Art, 
welche Verletzungen des Zwischenhirns bieten, schildern. 

Nach der oben geschilderten circumscripten Verletzung und den 
oben geschilderten, sich daran anschliessenden Degenerationen, welche 


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Zur Anatomie und Physiologie experimen teller Zwischenhirnverletzungen. 159 

letzteren darauf schliessen lassen, dass diese Bahnen nach der Lasion 
zum Ausfall gebracht wurden, machten sich also bei dem Thiere durch 
ftnf Viertel Stunden zwangsweise Kreisbewegungen nach rechts gel- 
tend, die sich dann far kurze Zeit in schwachere zwangsweise Kreis- 
bewegnngen nach links verwandelten. Nach einigen Stnnden waren 
keine groberen Storungen mehr nachweisbar. 

Die Erscheinnngen, welche die tibrigen zahlreichen Yersuchsthiere 
mit nachfolgender anatomischer Untersnchung boten, werde ich noch 
schildern. 1 ) Manche der Symptome sind besser bei Hunden, manche 
besser bei Katzen zu Tage getreten. 

Die Rindenreizversuche, die yor der Todtung des Thieres gemacht 
wurden, ergaben in diesem Falle, wo die Lasion die medial-ventrale 
caudale Zwischenhirnpartie betraf, keine abnormen Verhaltnisse. Die 
Zuckungen der Extremitaten waren sowohl von der linken als rechten 
motorischen Zone auslosbar und waren gleich; ebenso konnte auf bei- 
den Seiten ein epileptischer Anfall erzielt werden. 

Unvollstandige und einseitige Zerstorungen der Sehhtigel haben 
nach Longet’s, Schiffs und Nothnagel’s Versuchen Einfluss auf 
die Stellung des Kopfes und der oberen Extremitaten. Die Muskeln 
der Wirbelsaule drehen dieselben so, dass der Kopf nach der Seite des 
unverletzten Sehhtigels gewendet ist, wahrend an der Seite des unzer- 
storten Sehhtigels zugleich die Beuger der oberen Extremitat, an der 
mit dem zerst5rten Sehhtigel gleichseitigen oberen Extremitat jedoch 
die Strecker contrahirt werden. Doch haben diese Forscher die uner- 
lassliche Durchforschung der Lasionsstellung an Serienschnitten unter- 
lassen, die Lasion mit Zerstorung anderer Hirntheile gemacht Oder mit 
Chromsaureeinspritzungen gearbeitet 

Die zahlreichen widersprechenden Ansichten fiber den Sehhtigel 
sind darauf zurttckzufahren, dass das Zwischenhim nicht anatomisch 
genau im oben erwahnten Sinne studirt wurde. Die Lasionen, welche 
die einzelnen Forscher setzten, waren durchaus nicht gleich, es waren 
bei den einzelnen Versuchen die verschiedensten Antheile des Sehhtigels 
verletzt worden und allgemein als Sehhtigelverletzungen geschildert; in 
den meisten Versuchen wurden aber auch andere Hirntheile mit ver¬ 
letzt. Dieser Fehler ist nur durch genaue anatomische Schilderung 
der Lasion an der Hand von Serienschnitten und der Schilderung der 
von hier ausgehenden secundaren Degenerationen moglich. 

Luys halt den Sehhtigel far eine Art Sensorium commune, far 
einGebilde, in welchem alle Empfindungen zusammenfliessen, Meynert 
halt ihn far den Sitz der Muskelempfindungen. Nach Lon get soil 

1) Experimen telle Untereuchungen fiber die Anatomie u. Physiologie des 
Sehbugel8. Monatsschrift fur Psychiatrie u. Neurologie. 1900, Mai. 


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160 


VIII. Promt 


er Einfluss auf die Ortsbewegung besitzen, nach Schiff soli er den 
speciellen Bewegungen der Brustglieder vorstehen, gleicb den Ansichten 
von Sancerotte, Serres u. A. Nothnagel sah bei Thieren um- 
fangreiche Zerstorungen vollig symptomlos verlaufen, Ferrier giebt 
Storungen der Sensibilitat auf der entgegengesetzten Seite als constanten 
Erfolg an. Wundt halt ihn fftr ein Reflexcentrum des Tastsinns. 

Das Thier mit der oben geschilderten Verletzung machte Kreis- 
bewegungen nach rechts und nach einiger Zeit in umgekehrtem Sinne. 
Man stritt sich, ob diese Reitbahnbewegungen auf Lahmung des Willens- 
einflusses oder als dauernde Reizungen zu deuten seien. Schiff ver- 
theidigte die Lahmungstheorie und Brown-Sequard die Reizungs- 
theorie. Von einer Aufhebung des Willenseinflusses kann nach 
Wundt hier nicht die Rede sein, da bei Erhaltensein der motorischen 
Rindenzone mit ihren Pyramidenneuronen trotz der Bewegungsstorungen 
die willktirliche Innervation bestehen bleibt Der des Grosshirns be- 
raubte Frosch, der keine Willktirbewegung taacht, ffthrt seine Flucht- 
versuche in Reitbahnbewegungen aus, wenn der eine Thalamus wegge- 
nommen wird. Kaninchen, denen die Grosshirnlappen weggenommen 
werden, behalten bei intactem Zwischenhirn ihre normale Korperstel- 
lung und fiihren auf Reize zweckmassige Fluchtbewegungen aus 
(Christiani). 

Nach Wundt werden im Zwischenhirn durch die Tasteindrlicke 
sofort zusammengesetzte Korperbewegungen ausgelost. Die Bewegungen 
unserer Skeletmuskeln sind zunachst abhangig von den Sinnesein- 
drticken; sie rich ten sich nach diesen, noch bevor der Wille bestim- 
mend und verandernd einwirkt, in erster Linie nach dem Gesichtssinn 
und Tastsinn. Unsere unwillkiirlichen oder durch den Willen zwar 
zuerat angeregten, aber nun der reflectorischen Selbstregulirung tiber- 
lassenen Bewegungen richten sich fortwahrend nach den Tasteindrhcken. 
Durch sie werden insbesondere die Ortsbewegungen, sowie die Tast- 
bewegungen der Arme und Hande geregelt. Ebenso sind diejenigen 
Muskelspannungen, die in den verschiedenen ruhenden Korperstellungen. 
wie beim Sitzen, Stehen, eintreten, durch die Tasteindrflcke bestimmt. 
Die letzteren losen nach Wundt in den Sehhtigelcentren motorische 
Innervationen aus, welche genau der in den Tasteindrflcken sich spie- 
gelnden Korperhaltung entsprechen. Wird nun eines jener bilateralen 
Centren entfernt, so konnen die von ihm abhangigen Innervationen 
nicht mehr erfolgen, wahrend das Centrum der anderen Seite noch 
fortwahrend functionirt: so miissen denn die schon in den ruhenden 
Korperstellungen bemerkbaren Verbiegungen eintreten, mit welchen 
unmittelbar die Storungen bei der Bewegung zusammenhangen. Diese 
letzteren sind theils direct durch jene Verbiegungen, theils dadurch 


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Zur Anatomie und Physiologie experimen teller Zwischenhimverletzungen. 161 

verursacht, dass wahrend der Bewegung die veranderte Innervation 
nattirlich im gleichen Sinne sich geltend machi Aber dabei bleibt 
die Leitung der Empfindungseindriicke znm Gehirn und der willktir- 
lichen Bewegungsimpulse zu den Muskeln erhalten. 

So kommt es, dass die anfanglichen Storungen mit der Zeit ge- 
ringer werden, ja vollstandig sich ausgleichen konnen, ohne dass die 
anatomische Yeranderung beseitigt oder auch nnr gemindert ware. 
Willkiirlich verbessert das Thier seine falschen Bewegungen, und es 
lemt allmahlich die Storungen des niedrigen Centralorgans durch das 
hohere compensiren. 

Bei der oben geschilderten Verletzung traten nach der Operation 
Kreisbewegungen, Reitbahnbewegungen nach der Seite des verletzten 
Zwischenhirns auf, die durch einige Zeit andauem und dann ftlr 
kurze Zeit in Kreisbewegungen nach links umschlagen. Nach einigen 
Stunden sind die Reitbahnbewegungen vortiber. Ich werde auf die 
Physiologie dieser Erscheinungen noch naher zu sprechen kommen; 
doch sei schon hier bemerkt, dass dabei viele Componenten mitspielen 
und die Sache sich complicirt gestaltet. 

Wenn wir das Zwischenhirn rein anatomisch betrachten, so ist es 
auffallig, dass es von der Peripherie eine Flille von Bahnen aufnimmt, 
wahrend von peripher entsendeten Bahnen nichts Sicheres bisher mit- 
getheilt wurde. Anders verhalt es sich mit der Grosshirnrinde, obgleich 
auch da die Meinungen auseinandergehen. Wahrend die einen an- 
geben, die Neurone enden blind im Sehhiigel, geben die anderen an, 
dass dieselben hier entspringen. 

Auf Grund der zahlreichen experimentellen Verletzungen des 
Zwischenhirns, die ich ausffihrte, sind beide Meinungen zu Recht be- 
stehend; der Sehhiigel entsendet sowohl eine Menge Bahnen 
zur Grosshirnrinde, die dort blind endigen (Sehhtigel-Rinden- 
fasern), andererseits erhalt aber auch der Sehhiigel Bahnen 
von der Grosshirnrinde, die mit Aufsplitterungen im Thala¬ 
mus opticus enden (Rinden-Sehhiigelfasern). 

Wie steht es nun mit den Bahnen, welche das Zwischenhirn peri¬ 
pher entsendet? Daruber hat sich bisher nur Meynert geausserh 
„In den Querschnitten, welche hart vor dem Vierhligel durch den brei- 
testen Theil der Keile des Ganglion habenulae fallen, treten wahr- 
scheinlich aus vielen Partien der Giirtelschicht des Sehhligels und 
moglicher Weise durch die hintere Commissur mehrere starke Bund el 
hervor, welche die Anschwellung der flinften Btlndelordnung der inneren 
Kapsel, den rothen Kern der Haube, durchsetzen. 

Aus Langsschnitten durch diese Biindel geht hervor, dass dieselben 
wirklich in die Haube des Hirnschenkels iibergehen. Sie biegen 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde XVII. Bd. 11 


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162 


VIII. Probst 


theils als vorderste innere Btindel der Haube den Nervus oculomotorius 
nach aussen urn, theils durchflechten sie ihn und sindin die Langsbtindel 
der hinteren Brtickenabtheilung verfolgbar. Sie setzen sich wohl nach 
Einschaltung von Ganglienzellen in die Oblongata, eventuell in das 
Rtickenmark fort als Fasciculus retroflexus. Die Haube des Hirnschenkels 
wird auch durch die hintere Commissur noch mit Btindeln bereichert, 
welche unterhalb des Fasciculus retroflexus und ihm parallel zuerst 
aus der hinteren Commissur nach vorn laufen und sich dann medullar- 
warts umbeugen.** Meynert kommt zu dem Schlusse, dass sowohl 
gekreuzte als ungekreuzte Sehhtigelursprtinge in das Rtickenmark tiber- 
gehen und zwar die gekreuzten durch die hintere Commissur, die un- 
gekreuzten durch die Laminae medullares, welche einen pinselartigen 
Ursprung aus dem Sehhligel nehmen. 

Meynert standen ftir seine Untersuchungen nur grobe Unter- 
suchungsmittel zurVerfogung und kam deshalb zu manchenTrugschlussen. 

Bei meinen zahlreichen Verletzungen des Zwischenhirns konnte 
ich von peripheren centrifugalen Degenerationen, die sich in caudaler 
Richtung verfolgen liessen, nur Verbindungen zum rothen Kern und 
vorderen Zweihtigel feststellen; ferner die Fasern, welche in der obigen 
Verletzung geschildert wurden und als Haubenbtindel des Corpus mam- 
millare knapp lateral vom dorsalen Langsbtindel bis in die Brucke 
hinter dem Trochleariskern verfolgbar waren, wo sie sich in der Sub¬ 
stantia reticularis aufsplitterten. Auch nach Verletzungen, welche die 
hintere Commissur betrafen und die ich anderweitig genau schildere, 
fanden sich die Fasern in dieser Bttndelformation degenerirt und zwar 
in diesen Fallen viel starker, als in dem oben beschriebenen Fall. 
Anderweitige auf langere Strecken caudal verlaufende Bah- 
nen, die etwa im Sehhligel ihren Ursprung nehmen wtirden, 
konnte ich nicht nachweisen. 

Andererseits enden aber nach meinen Untersuchungen nachDurch- 
schneidungen der Schleifenformation und Zerstorung des Hinterstrang- 
kerns sammtliche aufsteigend degenerirenden Fasern im Seh- 
htigel. Ferner konnte ich an alien meinen Untersuchungen mit Ver¬ 
letzungen oder Abtragungen der Kleinhirnhemispharen nachweisen, dass 
die vom Kleinhirn zum rothen Kern hin degenerirenden Fasern des 
Bindearms nur zum Theil im rothen Kern enden und ein grosser 
Theil sich erst im Sehhligel aufsplittert. Ueber den Sehhligel 
hinaus reicht keine Degeneration mehr. 1 ) 

Nach den anatomischen und den experimentell-anatomischen 
Untersuchungen mtissen wir daher schliessen, dass das Zwischenhirn 


1) Probst, Archiv fQr Psychiatrie. Bd. 33. H. 1. 


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Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwiachenhirnverletzungen. 103 

respective der Sehhtigel hauptsachlich dazu da ist, alle Erregungen, 
die von der Peripherie, vom Rfickenmark und Kleinhirn her, 
dahingelangen, aufzunehmen und hier umzuschalten nnd 
weiter zu vermitteln, theils durch seine zahlreichen Ver- 
bindungen mit dem Grosshirn centripetal zur Grosshirn- 
rinde, wo dieselben weiter verarbeitet werden, theils zum 
Yierhfigel und rothen Kern peripherwarts, von wo die Vier- 
hfigel-Vorderstrangbahn, das dorsale Langsbiindel und das Monakow- 
sche Biindel Impulse peripherwarts ins Rtickenmark entsenden konnen. 
Der Sehhiigel ist somit die Hauptschaltstation zwischen 
Peripherie und Grosshirnrinde, wo die verschiedensten 
Empfindungen und Eindrticke umgesetzt werden. 

Beziiglich der oben geschilderten Bahn vom Zwischenhirn zur 
Grosshirnrinde will ich hier noch auf einen Versuch eingehen, bei dem 
der Kern vent, b des Sehhtigels in grosserer Ausdehnung zerstort 
wurde. Ich will hier nicht den Versuch genau im Detail schildern, 
sondern nur auf die gleichen Resultate aufmerksam machen. 

Einer erwachsenen Katze wurde nach der von mir beschriebeuen Methode 
eine Lesion des Zwischenhirns gesetzt, wie sie Fig. 5 in den caudalen 
Partien der L&sionsstelle zeigt. Zum Unterschiede von der vorigen L&sion 
ist diese lateraler gelegen und reicht nicht so tief ventral herab. Die Ver- 
letzung reicht in der caudalen Partie von der seitlichen Ausstrahlung der 
hinteren Commissur lateral-ventral herab bis zur Lamina medullaris externa 
des Sehhiigel8. Was durch die Verletzung hier zerstort wurde, zeigt Fig. 5. 
Weiter nach vom-frontal reichte die Verletzung durch den Kern vent, b 
hindurch bis zum frontalen Ende dieses Kerns. Es war also hauptsachlich 
die medial-ventrale caudale Partie des Sehhtigels zerstort. Caudal war 
seitlich die hintere Commissur durchschnitten, sowie der medial-ventrale Kern 
vent, b und die laterale Haubenstrahlung, weiter frontal war das Meynert- 
sche Biindel durchschnitten im mittleren Verlauf, der Kern vent, b ganz zer- 
stbrt und der Kern med. b und vent, a etwas tangirt. 

Hier war die Zerstorung des medial-ventralen Kerns des Sehhtigels in 
einem grosseren Umfange als bei der friiher geschilderten Lasion gemacht 
worden. Die secundaren, zur Grosshirnrinde aufsteigenden Degenerationen 
mussten deshalb hier auch umfangreichere sein. Die zur Grosshirnrinde 
aufsteigende Bahn nahm im Grossen und Ganzen denselben Weg wie die 
friiher beschriebene Bahn. 

Die von hier aus degenerirten Fasern nehmen ihren Weg im medial- 
ventralen Theil des Zwischenhirns erst so, wie die frontale Haubenstrahlung. 
Wahrend aber die Haubenfasern sich im Thalamus opticus aufsplittern, 
ziehen die von den medial-ventralen Kernen des Sehhtigels ausgehenden 
Fasern in die Lamina medullaris externa des Thalamus opticus ein, durch- 
queren an Schnitten, welche zwischen vorderer Commissur und Chiasma 
nervi optici gelegt sind, den ventralsten Theil der inneren Kapsel, ziehen an 
die iaterale Seite der inneren Kapsel und kommen knapp an die Linsen- 
keraglieder zu liegen, welche sie, namentlich im dorsalen Theile, zerkliiften 

11 * 


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164 


VIII. Pbobst 


und durchziehen. Stets den lateralsten Theil der inneren Eapsel innehaltend, 
ziehen sie frontalwarts und entsenden ihre Ausstrahlungen in die frontalsten 
Antheile der zweiten und dritten Aussenwindung und ausserdem noch in 
die vorderste Spitze der vierten Aussenwindung, geradeso wie in der fruher 
geschilderten L&sion in Fig. 4. Der Verlauf dieser Fasern sowie der in 
die zweite und dritte Aussenwindung blind ausstrablenden Fasern ist in 
der Capsula interna, ahnlich wie es Fig 2 fur den oben geschilderten Ver- 
such zeigt. Die zweite dnd dritte Aussenwindung erh&lt dort, wo diese 
Windungen frontal in Form des Gyrus coronarius ineinander iibergehen, 
lateral vom Gyrus sigmoideus, die ziemlich stark kalibrigen Fasern der 
vom Sehhiigel aufw&rts degenerirenden Bahn. Die erste Aussenwindung 
war frei von degenerirten Einstrahlungen. 

Das Meynert’sche Biindel zeigte auch in diesem Falle sowohl auf- als 
absteigend degenerirte Fasern, und zeigten sowohl das Ganglion interpedunculare 
als das Ganglion habenulae die zahlreichsten degenerirten Einstrahlungen. 

Es zeigt also auch dieser Versuch unter den gleichen Voraus- 
setzungen, wie ich sie oben machte, dass die Zellen des medial-ventralen 
Thalamuskerns ihre Nervenfasern in die oben geschilderten Rinden- 
territorien entsenden. Es ist dies das Feld E von Munk, welches zur 
Fnhlsphare CDE des Hundes gehort, speciell die Kopfregion, indem 
nach Munk Verletzungen innerhalb der Strecke E immer Storungen 
am Kopfe verursachen. 

Auch in diesem Falle degenerirten von der Verletzung caudalwarts 
Fasern des schon oben beschriebenen Biindels, welche knapp lateral 
vom dorsalen Langsbiindel zu liegen kommen und caudalwarts bis in 
die Brftcke verfolgt werden konnen. Sie liegen stets knapp lateral 
vom dorsalen Langsbiindel, ziehen neben dem Trochleariskern vorbei. 
Bei dem runden Ganglienzellenkern, der caudal vom Trochleariskern 
in derselben Hohe wie dieser liegt, wenden t sich die Fasern central 
gegen den Nucleus reticularis tegmenti und verschwinden in Auf- 
splitterungen in der Substantia reticularis der Brticke. 

Dieses Biindel enthalt also Fasern zum Theil des Haubenbftndels 
des Corpus mammillare, zum Theil kommen noch anderweitige Fasern 
in Betracht, die in derselben Formation verlaufen und immer nach 
Durchschneidung der Commissura posterior degenerativ zu erhalten sind. 

Nach der Operation machte das Thier ebenso Kreisbewegungen nach 
rechts, wie im oben geschilderten Falle. Dieselben dauerten durch ca. zwei 
Stunden an, worauf schwachere Kreisbewegungen nach links erfolgten. Nach 
einigen Stunden waren keinerlei Storungen mehr bemerkbar. 

Die Rindenreizversuche ergaben gegeniiber einem normalen Thiere keine 
besonderen Erscheinungen, vielleicht dass von der motorischen Zone der 
Lasionsseite etwas starkere Strome nbthig waren, um dieselben motorischen 
Effecte zu erzielen. 

Rindenabtragungsversuche, die ich an Katzen anstellte, ergaben die 
Bestatigung fur die von Monakow gemachten Versuche. 


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Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhirnverletzungen. 105 

Nach Abtragung des Gyms sigmoideus fanden sich im Thalamus und 
seiner Gitterschicht zahlreiche feine, schwarze F&serchen, die sich hier auf- 
splitterten. Der vordere ventrale und yordere laterals Kern, sowie dessen 
Gitterschicht zeigten die von der Rinde aus in den Thalamus einstrahlenden 
F&serchen. Es beweist dies, dass es ausser den im Sehhiigel ent- 
springenden Fasern, welche in der Grosshirnrinde blind enden, 
auch solche giebt, die in der Grosshirnrinde entspringen und 
blind im Sehhugel endigen. Ausser diesen Fasern degenerirten natiir- 
lich die Pyramidenfasern, deren Verlauf ich bereits genauer geschildert habe 
(Monatsschrift fur Psych, und Neurologie). Ausserdem degenerirten die 
Balkenfasern bis in die Rinde der gesunden Hemisphere. 

Ausser bei den oben erwahnten Thieren habe ich auch Rinden- 
abtragungen bei Igeln ausgeftihrt, die bisher noch nicht gemacht waren 
und ebenso auch Durchschneidungsversuche bei diesen im Hirnstamm. 

Das Zwischenhirn des Igels ist entsprechend der Grosse des Gross- 
hims. Nach Rindenabtragungen, welche das Frontalhim betrafen, 
fanden sich auf den ltickenlosen Serienschnitten, die ich nach Osmium- 
saurefarbung anlegte, ebenfalls degenerirte Einstrahlungen von der 
Grosshirnrinde in die vordersten Abschnitte des Sehhtigels. Ich werde 
die diesbezuglichen Versuche vom Igel noch genauer ausfQhren und 
will hier nur anhangweise etwas liber die Pyramidenbahn des Igels kurz 
berichten, die in meinen Fallen degenerirt war. Die Pyramidenbahn des 
Igels ist schwach entwickelt und nimmt im Hirnstamm denselben 
Raum ein, wie bei Katzen und Hunden, doch erschopfen sich die Fasern 
dieser Bahn sehr rasch, so dass dort, wo der Hypoglossuskern auftritt, 
nur mehr wenige Fasern der Pyramidenbahn vorhanden sind. Dort, 
wo bei Katzen und Hunden die Pyramidenkreuzung ist, verschwinden 
die Pyramidenfasern des Igels und sind selbst mit der distincten 
Osmiumsaurefarbung nur schwer im Seitenstrange des Rfickmarkes 
nachweisbar. Die Pyramidenfasern des Igels sind also nur bis 
zum Beginn des Rlickenmarks als starkeres Biindel verfolg- 
bar und erschopfen sich bis dort fast vollstandig durch 
Abgabe von Fasern. Die Hinter- und Vorderstrange sind frei 
von Degenerationen. 

Auch Durchschneidungsversuche durch den Hirnstamm ergaben 
beztiglich der Pyramidenbahn dasselbe Resultat. Es sind also die 
Pyramidenbahnen beim Igel sehr gering entwickelt. Welche motorische 
Bahn ist nun beim Igel machtig entwickelt? Darliber geben Durch¬ 
schneidungsversuche am vorderen Zweihiigel Aufschluss. Wir finden 
namlich dann, dass das von mir genauer geschilderte Monakow’sche 
Biindel und die Vierhtigel-Vorderstrangbahn, also die motorischen 
Haubenbahnen, relativ recht machtig vorhanden und bis ins Sacral- 
mark des Igels verfolgbar sind. 


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166 


VIII. Probst 


Dieser Befund zeigt beziiglich der motorischen Bahnen, dass bei 
Saugern mit weniger eDtwickeltem Grosshirn auch die Pyramidenbahnen 
gering entwickelt sind, dagegen die motorischen Haubenbahnen, welche 
reflectorisch-automatischen Zwecken dienen, wie ich das ander- 
warts ausgeflihrt habe, relativ sehr stark ausgebildet sind. Mit dem 
hoher entwickelten Grosshirn ist auch die motorische Willensbahn, 
die Pyramidenbahn, hoher entwickelt, bis sie beim Affen und Menschen 
ihre hochste Entwicklung erreicht und hier auch schon principielle 
Unterschiede gegeniiber niederen Saugern aufweist. 

Bei Katzen und Hunden, deren Rindenabtragungen caudal vom 
Gyrus sigmoideus gemacht wurden, waren auch degenerirte Einstrah- 
lungen in die lateralen Kerngruppen des Sehhfigels zu constatiren. 

In dieser Weise finden wir, dass bestimmte Partien des Sehhligels 
mit bestimmten Territorien der Grosshirnrinde verbunden sind und 
auch umgekehrt bestimmte Grosshirnrindenpartien mit bestimmten 
Sehhtigelabschnitten gesetzmassig durch bestimmte Bahnen zusammen- 
hangen. Auf die verschiedenen einzelnen Rindenterritorien, die mit 
dem Zwischenhirn in gesetzmassiger Weise durch bestimmte Bahnen 
verbunden sind, komme ich noch bei detaillirter Schilderung der 
Anatomie und Physiologie der tibrigen von mir gesetzten Zwischen- 
hirnlasionen zuriick. 


Literati! r. 

v. Monakow, Experimentelle und pathologisch-anatomische Untersuchungen 
fiber die Haubenregion, den Sehhfigel und die Regio subthalamica, nebst 
Beitragen zur Kenntniss friih erworbener Gross- und Kleinhirndefecte. 
Archiv f. Psych. 1895. Bd. 27. 

Kblliker, A., Handbuch der Gewebelehre des Menschen. Leipzig 1896. 

Wundt, W., Grundziige der physiologischen Psychologie. Leipzig 1887. 

Meynert, Th., Psychiatrie. Wien 1884. 

Probst, M., 1) Experimentelle Untersuchungen fiber das Zwischenhirn und 
dessen Verbindungen, besouders die JEtindenschleife. Deutsche 
Zeitschr. f. Kervenheilkunde. Bd. XIII. 

2) Zur Kenntniss der Pyramidenbahn. Normale und anormale 
Pyramidenbfindel und Reizversuche der Kleinhimrinde. Mo- 
natsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie. 1899. 

3) Ueber vom Vierhugel, von der Brucke und vom Kleinhim ab- 
steigende Bahnen. Deutsche Zeitschr. f.Nervenheilkunde. Bd.XV. 

Munk, H., Ueber die Functionen der Grosshirnrinde. Gesammelte ^littheilungen 
aus den Jahren 1877—1880. Berlin 1881 u. 1890. 

Meynert, Wiener psychiatrisches Centralblatt. 1873. 

Forel, A., Untersuchungen fiber die Haubenregion und ihre oberen Ver- 
knupfungen im Gehirn des Menschen und einiger S&ugethiere mit Bei- 


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Zur Anatomie und Physiologie experimenteller Zwischenhirnverletzungen. 157 


tragen zu den Methoden der Gehimuntersuchung. Archiy f. Psych, u. 
Nervenheilkunde. Bd. VII. H. 3 

Derselbe, Beitrage zur Kenntniss des Thalamus opticus. Diss. 1872. 

Ganser, Morpholog. Jahrbucher. Bd. VII. 

Grunbaum, Journal of Physiologie. 1891. 

Gudden, 1 ) Correspondenzbl. f. schweizer. Aerzte. Bd. II. 

2) Archiv f. Psych, u. Nervenkr. Bd. II. 

3) Archiv f. Psych, u. Nervenkr. Bd. XI. 

Luys, Recherches sur le systbme nerveux. p. 342. 

Meynert, Wiener med. Jahrb. 1872. II. 

Lon get, Anatomie und Physiologie des Nervensystems. I. 8 . 658 u. 8 . 412. 
Schiff, Lehrbuch I. S. 342. 

Vulpian, Physiologie du systfeme nerveux. p. 658. 

Nothnagel, Virchow’s Archiv. LVTII. S. 429 u. LXII. S. 203. 

Ferrier, Functionen des Gehims. 8 . 268. 

Brown-Sequard, Lectures on the central nervous system, p. 193. 

Goltz, Beitrage zur Lehre von den Functionen der Nervenoentren dee Frosches. 
Berlin 1869. S. 65. 

Christiani, Zur Physiologie des Gehirns. S. 15. 

Owen, Anatomy of vertebrates. I. p. 254. 

Renzi, Ann. univers. di medicina. 1863/64. 

Steiner, Untersuchungen uber die Physiologie des Froschhirns. Braunschweig 
1885. 8 . 35 u. 53. 


Erkiamng der Abbildungen. 

Fig. 1 . Instrument zur Verletzung des Zwischenhirns. 

Fig. 2. Verletzung (V) des Zwischenhirns im mittleren Verlauf des Mey- 
nert’schen Biindels. Frontalschnitt durch das Zwischenhirn. Osmium- 
saurefarbung. 

Fig. 3. Die vom Zwischenhirn zur Grosshirnrinde aufsteigende Bahn x. Fron¬ 
talschnitt durch den 8 chweifkern und den Linsenkern. Osmiumsaure- 
farbung. 

Fig. 4. Die vom Zwischenhirn kommende Bahn x strahlt hier in die Gross- 
himrinde ein. Frontalschnitt durch das Stirnhirn. Osmiums&ure- 
farbung. 

Fig. 5. Verletzung (V) des Zwischenhirns einer Katze. Frontalschnitt durch 
den caudalen Abschnitt des Zwischenhirns. Osmiumsaurefarbung. Die 
von hier aus zur Grosshirnrinde aufsteigenden Fasern (x) nehmen in der 
Capsula interna dieselbe Partie ein, wie x in Fig. 2 und strahlen auf 
einem Frontalabschnitt, wie ihn Fig. 3 zeigt, in die zweite, dritte und 
vierte Aussenwindung der Grosshirnrinde ein. 

B V Vicq d’Azyr’sches Bundel. 

C A Cornu Ammonis. 

C c Corpus callosum, 
c g e Corpus geniculatum externum, 
c g i Corpus geniculatum internum. 


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168 vm. Probst, Zur Anat. u. Physiol, experment. Zwischenhirnverletzungen. 


c H centrales Hohlengrau. 
ci innere Kapsel. 

cp Commissura posterior, 
f Fornix 

frH frontale Hauhenstrahlung und doreales Mark der Regio sub- 
thalamica. 

G. h. Ganglion habenulae, 
hint hinterer Sehhugelkern. 

KTh Kleinhim Thalamusbundel. 

1. med. ext. Lamina medullaris externa. 

1. med. int. Lamina medullaris internn. 

Li Linsenkern. 

MB Meynert’schee Bundel. 
med. b medialer Sehhfigelkern. 
nc Nucleus caudatus. 
p Pedunculus cerebri. 

Pu Pulvinar. 

Tr.olf. Tractus olfactorius. 

V Verletzung. 

^vent. a mittlerer ventraler Sehhugelkern. 

vent, b medialer ventraler Sehhugelkern. 

vent, c lateral-ventraler Sehhugelkern. 

x degenerirte Bahn vom Zwischenhim zur Grosshirnrinde. 

II Tractus opticus. 


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IX. 

Kleinere Mittheihmgen. 

1. 

Ueber die springende Mydriasis. 

Von 

Dr. Wilhelm Riegel, 

Aagen- and Nervenarzt in Niirnberg. 

Der Arbeit KSnig’s: „Ueber springende Pupillen in einem Falle von 
cerebraler Kinderlfthmung, nebst einigen Bemerkungen iiber die prognostische 
Bedentnng der springenden Pupillen bei normaler Lichtreaction“ in dieser 
Zeitschrift Bd. XV, S. 122 mdchte ich eine Mittheilung hinzufugen, die 
geeignet sein diirfte, der Schlussfolgerung Konig's, dass das Auftreten der 
springenden Mydriasis bei normaler Pupillenreaction und beim Fehlen 
sonstiger Anhaltspunkte fur ein organisches Nervenleiden nicht nothwendiger 
Weise von iibler Vorbedeutung sei, eine weitere Stutze zu geben. Ich 
beobachte schon lange einen Neurastheniker, der jetzt seit rund 12 Jahren 
an 8pringender Mydriasis leidet, ohne dass in dem Befinden des Patienten 
Symptome aufgetreten sind, die zu einer ernsten Befurchtung auf Paralyse 
oder ein sonstiges organisches Hirnleiden Veranlassung geben kdnnten. Der 
38j&hrige, kr&ftige, erblich in keiner Weise belastete Mann ist in seinem 
Bemfe sehr th&tig, muss sich geistig viel anstrengen und verschafft sich 
gegen seine der Hauptsache nach cerebral neurasthenischen Beschwerden durch 
gelegentliche Erholungsreisen ins Gebirge oder an die See immer wieder 
nachhaltige Erleichterung. 

Im August 1888 trat zum ersten Mai maximale linksseitige spastische 
Mydriasis auf, die am n&chsten Tage verschwunden war, um in diesem 
Jahre noch 3 mal links und 1 mal rechts zu erscheinen. Es zeigte 
sich dann die Mydriasis in den sp&teren Jahren, wie folgt: *1891 1 mal 
rechts; 1893 2 mal links, 1 mal rechts; 1894 3 mal links, 3 mal 

rechts; 1895 2 mal links, 2 mal rechts; 1896 3 mal links; 1897 

5 mal links, 1 mal rechts; 1898 8 mal links, 3 mal rechts; 1899 

5 mal links, 1 mal rechts. (Ueber die Jahre 1889, 1890 und 1892 
liegen leider keine Aufzeichnungen vor, doch sollen auch da die springenden 
Pupillen manchmal vorhanden gewesen sein.) Die Mydriasis war nun nicht 
immer, aber oft maximal, so wie sie durch vereinigte Atropin-Cocainwir- 
kung in einem jugendlichen Auge hervorgebracht wird, und dann reagirte 
die betreffende Pupille in den ersten Stunden fast gar nicht auf Licht, und 
es dauerte meist zwei Tage, bis die Pupillen wieder ganz gleich waren. 
Ausserdem aber, d. h. bei nur mittlerer oder geringfugiger Erweiterung der 
einen Pupille, war die Differenz stets schon am n&chsten Tage wieder 


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170 


IX. Kleinere Mittheilungen. 


verschwunden. Die Accomodation war sicher nie wesentlich beeintrachtigt, 
vielleicht etwas bei maximaler Mydriasis. Patient ist Myop, rechts — 1,0 D, 
links — 5,0 D, sphar. Sehscharfe beiderseits normal. Beide Pnpillen sind 
fur gewohnlich gleichweit nnd reagiren lebhaft bei Licbteinfall, Convergenz 
nnd Accomodationsimpnlsen. Stets trat die Mydriasis nnr bei schlechtem 
Allgemeinbefinden auf, nach geistigen Anstrengnngen, Gemuthserregungen 
oder anch nach gesellscbaftlichen Excessen. Dabei bestanden meistens 
leichte neuralgische Schmerzen im betreffenden Auge nnd in der Umgegend 
desselben, die oft noch Tage lang anhielten. Eintraufelung von Eserin 
verengte die erweiterte Pupille ausgiebig. Schon vor lftngerer Zeit fiel 
mir am Patienten eine geringe Differenz in der Weite beider Lidspalten 
anf bei vollkommener Beweglichkeit der Lider. Die linke Lidspalte ist 
constant etwas weiter, als die rechte. Es ist moglich, dass ich diesen Zu- 
stand seiner Geringfugigkeit wegen bis jetzt immer iibersehen habe, nnd 
ich kann daher nicht sagen, wann er eigentlich begonnen hat. Anfangs 
hielt ich die rechte Lidspalte fur die pathologisch verengte nnd dachte an 
eine isolirte Ptosis sympathica. Im Znsammenhang damit aber, dass bis 
jetzt die spastische Mydriasis links sehr viel haufiger aufgetreten ist als 
rechts, nnd es sich tiberhaupt am rein spastische Erscheinnngen im Gebiete 
des Sympathicns handelt, diirfte doch wohl eine isolirte dauernde Erregung 
des linken glatten Mnsculus palpebr. superior vorliegen. Demnach ist also 
die linke Lidspalte pathologisch vergrossert, die rechte normal. Eine ahn- 
liche Beobachtung ist von H. Frenkel beschrieben worden (cf. Jahres- 
bericht fiber die Leistungen nnd Fortschritte anf dem Gebiete der Neuro¬ 
logic u. Psychiatrie, I. Jahrgang, S. 399). Sonst weist Patient keinerlei 
organische Nervenstbrungen anf und ist bis jetzt trotz der 12jahrigen 
springenden Mydriasis, abgesehen von seinen schwankenden nenrasthenischen 
Beschwerden, ganz gesund und arbeitsfahig geblieben. Hier sei noch be- 
merkt, dass Lues nicht vorhanden ist. 

Wenn ich nun der vorsichtigen Schlussfolgerung Konig’s, dass wir 
uns anch in Fallen von Neurasthenie beziiglich der Prognose immerhin noch 
sehr reservirt anssprechen miissen, nicht widersprechen will, so fhllt, denke 
ich, ein 12 Jahre langes Bestehen unseres Pupillenphanomens ohne das 
Auftreten organischer Veranderungen fiir die Annahme einer nnr functio- 
nellen Storung doch sehr ins Gewicht. 

Es ist iibrigen8 noch die Frage, ob die springende Mydriasis wirklich 
so selten ist, wie man allgemein annimmt. Geringe voriibergehende Pu- 
pillendifferen^en kommen bei nenrasthenischen Zustanden ziemlich hanfig 
vor, und vielleicht haben Aerzte wie Patienten bisher nnr nicht genugend 
daranf geachtet, ob die Erweiterung immer derselben Pupille angehbrt hat, 
oder auch einmal der anderen. Was meinen Fall betrifft, so hoflfe ich, iiber 
das weitere Schicksal desselben spater einmal noch einige Mittheilungen 
machen zu kbnnen, weil Patient mit mir naher bekannt ist. 


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IX. Kleinere Mittheilungen. 


171 


2 . 

Bemerkungen zu den Aufsatzen von. Brodmann und Stein- 
hausen iiber Serratuslahmung im letzten Hefte des XYL Bd. 

dieser Zeitschrift. 

Von 

Dr. L. Bruns, 

Nervenarzt in Hannover. 

In seiner Arbeit: „Kritischer Beitrag zur Symptomatologie der iso- 
lirten Serratuslahmung nebst Bemerkungen iiber die erwerbsschadigenden 
Folgen derselben“ (diese Zeitschrift. 16. Band, Seite 467) bescbaftigt sich 
Brodmann in eingehender Weise mit einer von mir im Jahre 1893 publi- 
cirten Arbeit: „Zur Pathologie der isolirten Lahmungen des Musculus serra- 
tus anticus 14 , Neurologisches Centralblatt. Bd. 12, Seite 34, nebst einem 
Zusatze ebenda S. 258. Der Verfasser betont zunachst in Uebereinstimmung 
mit meinen damals geiusserten Ansichten — und das ist fur mich die 
Hauptsache — dass unter Umstanden bei auch nach seiner Auffassung 
totaler Lahmung des Musculus serratus anticus eine active Erhebung des 
Armes zur Senkrecbten moglich ist, die erreicht wird durch kraftige 
Function des raittleren Drittels des Cucullaris, des Deltoideus und Infra¬ 
spinatus und manchmal vielleicht auch noch einiger anderen Muskeln. (Ich 
will hier hervorheben, dass ich zwar damals, wie auch jetzt noch der An- 
sicht war, dass es sich in meinem Falle urn eine Lahmung des gesammten 
Serratus gehandelt hat, dass ich aber stets hervorgehoben habe, dass ein 
Erhaltenbleiben dor oberen Zacken dieses Muskels sich nicht mit absoluter 
Sicherheit leugnen liesse.) Dagegen ist er anderer Meinung als ich in 
Bezug auf die Frage nach der Stellung des Scbulterblattinnenrandes zur 
Wirbelsaule bei ruhig herabhangendem Arme in Fallen von isolirter Lah¬ 
mung dieses Muskels; wahrend ich und Andere, spec. Reraak, glauben, 
dass ein irgend erheblicher Schragstand dieses Randes von oben aussen 
nach unten innen bei isolirter Serratuslahmung nicht besteht, dass viel- 
mehr ein solches Vorkommen ein Zeichen der Mitbetheiligung des Cucullaris 
sei, ist Brodmann, wie ebenfalls eine Anzahl von Autoren, der Meinung, 
dass eine solche Schragstellung auch bei isolirter Serratuslahmung vor- 
komme. Ich kbnnte diese Frage auf sich beruhen lassen, denn Brod¬ 
mann erkennt an, dass sie noch eine strittige sei, dass ferner die Schrag¬ 
stellung des inneren Scapularandes bei isolirter Serratuslahmung eine sehr 
geringe sei, und er will sie nicht als einen integrirenden und pathognomo- 
nischen Bestandtheil des Krankheitsbildes dieser Lahmung hinstellen. Aber 
B. macht mir bei dieser Gelegenheit zwei Vorwiirfe, die ich fur ungerecht 
halte und zuriickweisen mochte. Er wirft mir erstens vor, in Bezug auf 
den Schragstand der Scapula in dem Zusatze gegeniiber meinem Vortrage 
einen vollstandigen Stellungswechsel vorgenomraen zu haben; wahrend ich 
im Vortrage eine deutliche Schragstellung behauptet hatte, hatte ich im 
Zusatze sogar einen leicht schragen Verlauf geleugnet und als meine An- 
sicht die oben erwahnte, besonders von Remak vertretene hingestellt, dass 
ein solcher schrager Verlauf immer auf eine Betheiligung des Cucullaris 
an der Lahmung hinweise. Dieser Ansicht bin ich noch heute und wtirde 


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172 


IX. Kleinere Mittheilungen. 


auch in dem, was mir Brodmann zum Vorwurfe macht — selbst wenn 
es richtig ware — etwas Tadelnswerthes nicht erblicken, da ich niemals 
Unbelehrbarkeit fiir eine Tugend gehalten habe. Thatsachlich liegt die 
Sache aber so, dass ich in meinem Znsatze nur erkl&rt habe, dass, 
wie auch meine Photographien in Uebereinstimmung mit Reraak lehrten, 
bei ruhig herabhangendem Anne eine dentliche Schragstellung des 
inneren Scapnlarandes, eine „ausgepragte Schankelstellung des Schulter- 
blattes“ bei der isolirten Serratusiahmung nicht vorkomme, was ich auf 
die Autoritat von Berger kin angenommen — Berger spricht von „einer 
mehr horizontalen Richtung des ausseren Schulterblattrandes“, also einer 
ausgepragten Schankelstellung — und auch in meinen Photographien zu 
sehen geglaubt hatte. Dagegen habe ich auch im Zusatze noch bestimmt 
hervorgehoben, dass ein leichter Schragstand der Scapula, ein Tiefstehen 
des Acromion auch in meinen Photographien deutlich nachweisbar sei; 
aber ich habe darauf kein Gewicht gelegt, weil sich ein solcher leichter 
Schragstand nach meinen Erfahrungen auch bei ganz Gesunden findet, und 
weil in meinem Falle, in dem es sich um eine Neuritis im Plexus brachialis 
gehandelt hatte, eine geringe Mitbetheiligung anderer Muskeln des Schulter- 
giirtels, spec, auch des Cucullaris, nicht ganz absolut auszuschliessen war. 
Das ware der erste Vorwurf. Der zweite ist weit schwerwiegender; er 
bezieht sich auf die Verwendung einiger 1882 in einer Miinchener Disser¬ 
tation von Morstadt publicirten Falle von Serratusiahmung, die ich nach 
Brodmann unverdientermaassen zur Stiitze meiner Anschauungen der 
Vergessenheit entrissen hatte. Namentlich handelt es sich um Fall 8, in 
dem nach Morstadt’s Angaben eine isolirte Serratusiahmung bestand, der 
Arm aber, allerdings nur 30°, iiber die Horizontal erhoben werden konnte 
und der innere Scapularand nicht schrag stand. Brodmann halt diesen 
Fall fiir einen ganz unklaren. denn es habe hier, wie B. zunachst auf 
Seite 484 in der Anmerkung sagt, auch eine elektrische Entartung des 
Cucullaris und Deltoideus bestanden; es sei also absolut unverstandlich, 
wie in diesem Falle eine Erhebung des Armes iiber die Horizontale m8g- 
lich gewesen sei, die bei einer Serratusiahmung doch gerade von diesen 
Muskeln besorgt werde. Spater — Seite 487 — wird bei Brodmann 
aus dem entarteten Cucullaris eine „ausgesprochene Cucullarislahmung mit 
Entartungsreaction", ein Umstand, den ich wohl iibersehen hatte und bei 
dessen Vorhandeusein es gerade nach Remak’s und meiner Anschauung 
ganz unklar sei, dass keine Schragstellung, sondern ein paralleler Verlauf 
des inneren Scapularandes zur Wirbelsaule bestanden hatte. Nun sagt 
aber Morstadt von einer Lahmung des Cucullaris und Deltoideus in 
seinem Falle III absolut nicbts; er hebt vielmehr ausdriicklich hervor, dass 
in diesen Muskeln partielle Entartungsreaction bei ganz guter Function 
derselben bestanden hatte; ja in der Epikrise hebt er gerade dieses Ver- 
halten — Entartungsreaction in gut functionirenden Muskeln — den da- 
maligen (1882) Kenntnissen entsprechend — als Grund hervor, um auch eine 
Bleilahmung in den Kreis seiner differentiell-diagnostischen Erwagungen 
zu ziehen. Heute wissen wir, dass besonders bei Neuritiden — und da- 
hin gehort wohl der Fall 3 Morstadt’s — sogar vollstandiges Fehlen 
jeder elektrischen Reaction in schon wieder Oder noch gut functionirenden 
Muskeln vorkommen kann, die partielle Entartungsreaction im Deltoideus 
und Cucullaris im citirten Falle also, wie auch Brodmann wohl zugeben 


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IX. Kleinere Mittheilungen. 


173 


wird, kein Grund ist zur Annahme einer functionellen Schwfiche dieser 
Muskeln — und die ausgesprochene L&hmung dee Cucullaris in 
diesem Falle ist eine Improvisation Brodraann’s. Danach glaube 
ich doch die M.’sche Casuistik genauer gelesen zu haben wie Brodmann 
und kann nicht anerkennen, dass eine wissenschaftliche Verwerthung der- 
artiger unklarer (nach B/s Ansicht) Publicationen gleichbedeutend mit einer 
Irrefiihrung der Casuistik sei! Ich wiirde mich auch zu einem solchen Yor- 
wurfe nnr bei zwingenden Griinden verstehen; denn wenn ich auch 
selb^tverstfindlich zugebe, dass manche, ja viele Dissertationen der Ver- 
gessenheit werth sind und irgendwelche wissenschaftliche Bedeutung nicht 
haben, so handelt es sich doch im Falle 3Morstadt’s um einen Kranken, 
der in Ziemssen’s Klinik vorgestellt und von dem deshalb ohne Weiteres 
anzunehmen ist, dass der nervdse, speciell auch der elektrische Status mit 
Sorgfalt gemacht ist. Ja der Fall ist gerade fur unsere Auffassung von 
der Symptomatology isolirter Serratuslfihmungen besonders wichtig; im 
Anfang, wo Cucullaris und Deltoideus wahrscheinlich auch functionell nicht 
ganz geniigten, konnte der Arm nicht iiber die Horizontale erhoben werden; 
sp&ter als diese Function bei noch vorhandener partieller Entartungsreaction 
wieder gut war, war die Erhebung iiber diese Linie moglich. 

Bei dieserGelegenheit mochte ich auch mit ein paar Worten eingehen auf den 
interessanten und unsere Ansichten iiber Vorkommen und Symptomatologie’der 
isolirten Serratuslahmung wesentlich modificirenden Aufsatz Steinhausen’s 
fiber L&hmung des vorderen Sfigemuskels in demselben Hefte dieser Zeitschrift. 
Steinhausen hebt mit Recht hervor, dass das von Berger noch ver- 
tretene alte Schema von der Erhebung des Armes im Schultergelenk — 
erst Deltoideus: Abduction bis zur Horizontalen — dann Serratus: Hebung 
zur Senkrechten durch Drehung der Scapula — nicht zu Recht besteht, dass 
vielmehr die Drehung der Scapula sofort mit der Abduction des Armes 
beginnt, ja schon vor der Erreichung der Senkrechten ihr Maximum er- 
reicht. Er ffihrt einige Autoren an, die das schon friiher angegeben haben, 
er vindicirt aber vor Allem Hitzig das Verdienst, diese Thatsache mit 
Nachdruck hervorgehoben zu haben. Ich will gewiss Hitzig’s Verdienst 
an dieser Sache nicht verkleinern, mochte aber doch bemerken, dass ich 
in meinem Vortrage, bei dessen Discussion Hitzig seine Bemerkungen 
machte, ausdrucklich gesagt habe, dass normaliter der Serratus sofort mit 
dem Deltoideus bei Erhebung des Armes aus der Senkrechten in Function tr&te, 
wfihrend bei meinem Falle von Serratuslfihmung die das Schulterblatt drehende 
Function des stellvertretenden Cucullaris erst einsetzte, wenn der Arm 
fiber die Horizontale stieg. Bis dahin wurde die Scapula dicht an die 
Wirbelsfiule gezogen und ihr innerer Rand stand derselben parallel. Auch 
in meinem Schlusswort zur Discussion habe ich auf dies Verhalten aus- 
drficklich hingewiesen. 


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X. 

Besprechung. 


Die Erkrankungen des Nervensystems nach Unfallen mit be- 
sonderer Beriicksichtigung der Untersuchung und Begut- 
achtung. Von Dr. H. Sachs und Dr. C. S. Freund. Mit 20 Abb. 
im Text. Berlin, Fischer’s raed. Buchhandlung. 1899. 581 Stn. 

Die Verff. des vorliegenden Buches brachten bei Beginn ihres Unter- 
nehmens die beiden hauptsachlichsten Erfordernisse far ein giinstiges Ge- 
lingen ihrer Arbeit mit: einerseits eine gate allgemeine neurologische und 
auch psychiatrische Vorbildung, andererseits eine sehr umfassende Erfahrung 
auf dein besonderen, in mancber Beziehung eigenartigen Gebiet der Un- 
fall-Erkrankungen. Das Buch tr£gt daher nicht den Charakter einer Com¬ 
pilation, sondem hat durchweg das Geprage einer aus eigenen Erfahrungen 
und aus selbstandiger Durcbforschung des Gebietes hervorgegangenen Dar- 
stellung. Von der Voraussetzung ausgehend, dass das Buch auch dem neuro- 
logiscb nicht geschulten praktischen Arzte als Wegweiser dienen soli, haben 
die Verff. weit ausgeholt und bieten in ihrem Werke nicht nur das, was 
der Titel verspricht, sondern ausserdem einen Grundriss der Anatomie und 
Physiologie des Nervensystems, sowie eine ziemlich ausfiihrliche Besprechung 
der allgemeinen Symptomatologie und der Untersuchungsmethodik bei den 
Erkrankungen des Nervensystems. Mehr als ein Dritttheil des ganzen 
Buches ist diesen allgemeinen Erdrterungen gewidmet. Dann folgt eine aus- 
fuhrliche Besprechung der Pathogenese der Unfall-Erkrankungen, wobei 
selbstverstandlich die wichtige Trennung der mechanischen Wirkungen 
des Traumas von seinen Nebenwirkungen, insbesondere von der psychischen 
Nebenwirkung, hinreichend scharf betont wird. Von Interesse sind die 
Anschauungen der Verff. iiber den Einfluss der UnfUlle auf die Entstehung 
typischer organischer Erkrankungen des Nervensystems. In Bezug auf die 
Tabes stehen die Verff. auf dem jetzt wohl fast allgemein angenomme- 
nen Standpunkt, dass ein Trauma niemals die wirkliche Ursache einer 
Tabes ist, wohl aber zuweilen den Anlass zum Ausbruch der Krankheits- 
erscheinungen giebt und bei schon vorher bestehender Tabes eine nicht un- 
erhebliche Verschlimmerung bewirken kann. Genau ebenso ist das Ver- 
haltniss zwischen Unfall und progressiver Paralyse. Die multiple 
Sklerose halten die Verff. mit dem Ref. fur eine endogene Erkrankung. 
Die Rolle des Traumas kann also ebenfalls hochstens eine secundare sein. 
Uebrigens spielt das Trauma bei der multipeln Sklerose iiberhaupt nur 
selten eine Rolle. Die Verff. sahen unter ihrem grossen Material keinen 
einzigen Verletzten mit multipler Sklerose. Fiir die spastische Spinal- 
paralyse, die amyotrophische Lateralsklerose und die progressive 
Muskelatrophie liegen bisher nur wenige Beobachtungen vor, die auf 
einen moglichen traumatischen Ursprung hinweisen. In Bezug auf die 


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X. Besprechungen. 


175 


letztgenannt© Krankheit ist bemerkenswerth, dass das Reichsversicherungs- 
amt unter gewissen Umstanden auch die einfache korperliche Ueber- 
anstrengung als Betriebs-Unfall anerkannt hat. Ueber den oft betonten 
Znsammenbang der Paralysis agitans mit einem Trauma aussern sich 
die Verff. sehr zuriickhaltend. Wahrscheinlich haben friiher zuweilen Ver- 
wechslungen der Par. agitans mit dem so sehr haufigen hysterisch-trauma- 
tischen Tremor stattgefunden. Ebenso vorsichtig wird die Frage nach der 
traumatischen Entstehung der Syringomyelie behandelt and insbesondere 
eine Entstehung derselben auf Grand einer peripherischen Verletzung mit 
Recht vollstandig in Abrede gestellt. Ref. muss dem zuriickhaltenden und 
vorsichtigen Urtheil der Verff. in alien soeben erwahnten Fragen voile An- 
erkennung zollen. Denn unzweifelbaft hat die nach der Unfall-Gesetz- 
gebung neu entstandene „Unfall-Pathologie“ im Allgemeinen zu einer 
Ueberschatzung des mechanischen Traumas als Krankheitsursache ge- 
fuhrt, so dass es bald kaum eine Krankheit mehr geben wird, die nicht 
ein Kapitel in der „Unfallheilkunde“ beansprucht. Der „specielle Theil“ 
des Buches beginnt (auf S. 310) mit der Besprechung aller der mannig- 
fachen mechanischen Verletzungen des Nervensysteros an der Peripherie, am 
Riickenmark und am Gehirn, und dann folgt die ihrer Wichtigkeit ent- 
sprechende, besonders ausfuhrliche Bearbeitung der Unfall-Neurosen. 
Den allgemeinen Erbrterungen uber Neurastbenie und Hysterie kann Ref. 
im Allgemeinen zustimmen. Der yersucli jedoch, die „Neurasthenie u als 
organisch-functionelle Nervenerkrankung, gekennzeichnet durch das 
dauernde Vorhandensein der „neurasthenischen Reactionsform der Nerven- 
zellen, der Hysterie als einer rein psychogenen Erkrankung gegeniiberzu- 
8tellen“, scheint mir, so verlockend auch eine derartige Abgrenzung der 
beiden Krankheiten sein mag, den klinischen Thatsachen nicht zu ent- 
sprechen. Wenigstens komme ich, je linger ich mich mit der Neurasthenic 
beschftftige, immer mehr und mehr zu der Ueberzeugung, dass das, was 
man in der Praxis allgemein als „Neurasthenie“ bezeichnet, zum grdssten 
Theil ebenfalls psychogenen Ursprungs ist. Den Satz z. B.: „Die Ein- 
wirknng der Athmung und Herzthatigkeit auf das reizbare Nervensystem 
aussert sich nicht selten in der Form des Angstgefuhls 44 , kann ich nicht 
fiir richtig erachten, halte vielmehr stets das Angstgefiihl fur die pri- 
mare Storung, welche ihrerseits auf Athmung und Herzthatigkeit ein- 
wirkt. Consequent ist es freilich, wenn die Verff. von ihrem Standpunkte 
aus die „traumatische Neurasthenie* 4 fiir eine seltene Erkrankung er- 
kliren. Aber gerade die grosse Haufigkeit der ausgesprochenen neurasthe- 
nischen Symptomenbilder nach leichten Traumen spricht m. E. fur die 
Richtigkeit meiner Auffassung. Auch die von den Verff. unternommene 
Abgrenzung der „Schreckneurose“ von der Hysterie halte ich fiir ganz un- 
nbthig, da die Schreckneurose nach meiner Ansicht mit der Hysterie vollig 
identisch ist. Uebrigens betone ich noch einmal, dass gerade der Ab- 
scbnitt iiber die Unfall-Neurosen mit grosser Sachkenntniss geschrieben ist. 
Er enthalt auch eine sehr reichhaltige und eingehend bearbeitete interessante 
CaBuistik. Das Schlusskapitel des Buches behandelt in vortrefflicher Weise 
die Beziehungen zwischen Unfallen und Geistesstorungen und wird eben¬ 
falls durch eine Reihe lehrreicher Krankengeschichten erlautert. 

Striimpell. 


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176 


Literatur. 


Literatur. 

Der Alkoholismus. Eine Vierteljahrschrift zur wissenschaffclichen Erorterung 
der Alkoholfrage. Herausgegeben von A. Baer, Bohmert, v. Strauss 
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Th. Benda, Nervenhygiene und Schule. Berlin, O. Coblentz. 1900. 55 S. 

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Heft 1. (Russisch). Kasan, 1899. 173 S. 

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J. F. Lehmann, 1900. 39 S. 

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fangener Verbrecher. Deutsch von H. Kurella. Hamburg, 1899. 318 S. 
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1900. 31 S. 

M. Matthes, Lehrbuch der klinischen Hydrotherapie fur Studirende und 

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A. Barth. 1900. 331 S. 

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der Aerzte zu Nauheim. 1899. 100 S. 

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Schelenz, Frauen im Reiche Aesculaps. Ein Versuch zur Geschichte der Frau 
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Schodel und Nauwerck, Untersuchungen fiber die Moller-Barlow’sche Krank- 
heit. Jena, G. Fischer, 1900. 159 S. 

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W. Moller. 58 S. 

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Nerven- und Augenarzte. Bd. L Wiesbaden, J. F. Bergmann. 1900. 696 S. 
F. Windscheid, Pathologie und Therapie der Erkrankungen desperipherischen 
Nervensystems. Mit 44 Abb. Leipzig, C. G. Naumann. 1899. 244 S. 


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Tafel I. 


Deutsche Zeitscluilt {.Xervenheilkimde Bd . XV H. 


Fig 1 


Fig. ?. 



Friedel Pick. Munkekiti ophie. 


F.r.WTofjel 


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/ 



Deutsche Zeilschriltf.Xervenlu'ilkundr Bd.XVII. 


/ 





Kricdel Pick: Muskolalrophie. 


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KC 


Till'd II. III. 





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Deutsche Zeilschriltf.XeiTeiiheilkiiiKle Bd.XVII. 


/ 




Kuj 9. 


Kricciel Pick: Muskelalropliie. 


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VC \ 


in I'd II. III. 


Kiij.O. 


v'.Voqel 


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Deutsche Zeilschrift f.Xervenheilkunde B d. X V[[. 


TalW IV. 


Fig.] 


Nawratzki 


jPn ° K” 



Vergr = :w. 



Fig..T 


H' 


Vergr *■ .fti. 


<•' 



MitteLstarke Vergr. 


F.f WWogel. 


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XL 


Aus der Universitatspoliklinik ftir Nervenkranke und dem hirnana- 
tomischen Laboratorium in Zurich (Professor von Monakow). 

Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit. 

Von 

Dr. Otto Veragnth 

in Ziirich. 


Die Erfordernisse zur Feststellung und scharfen Umgrenzung einer 
Aphasieform sind: 

1. die Reinheit des klinischen Symptomemomplexes, 

2. ein Sectionsbefund mit der minimalsten Veranderung, die eben 
ausreichte, um die betreffende Storung — und nur diese — 
hervorzurufen. 

Soweit die sogenannte subcorticale sensorische Aphasie in Frage 
kommt, sind diese beiden Postulate in keinem der wenigen Falle erftillt, 
in denen dieses Krankheitsbild beschrieben worden ist. Ueber die klinisch 
reinen Falle liegen keine Sectionsberichte vor, wabrend andererseits die- 
jenigen, welche post mortem untersucht worden sind, entweder von vorne- 
herein nicht reine Worttaubheiten gewesen oder nicht bis zum Lebensende 
frei von Beimengungen anderweitiger Sprachstorungen geblieben waren. 

Die Berechtigung, den folgenden Fall zu veroffentlichen, liegt 
darin, dass er diese Lficke wenigstens einigermassen ausftillen wird. 

Ich mache daher gerne Gebrauch von der liebenswtirdigen Er- 
laubniss meines Chefs, Herrn Professor von Monakow, nachfolgend die 
Krankengeschichte des Patienten R. aus der Universitatspoliklinik flir 
Nervenkranke in Zurich zu publiciren. 

Krankengeschichte. 

Peter R., 42 Jahre alt, friiher Maschinenarbeiter, stammt aus gesunder 
Familie. Seine Frau und 5 Kinder leben und sind gesund, das jfingste ist 
10 Monate alt. — Mit 19 Jahren machte Patient einen Typhus durch. 
Seither will er zeitweise an Kurzathmigkeit gelitten haben. Ueber andere 
Krankheiten wird von R., trotz mehrmaligen Fragens, nichts berichtet; ins- 
besondere ist fur Lues in der Anamnese kein Anhaltspunkt aufzuspiiren. 
Dagegen giebt er unumwunden zu, friiher Alkoholiker gewesen zu sein: er 
habe jahrelang Morgens Schnaps und den Tag fiber Wein und Bier ge- 
trunken. Seit 6 Jahren aber „sei er Abstinent". 

Deutsche Zeltschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 12 


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178 


XI. Veraguth 


Anfang September 1897 nun erlitt R. einen Unfall. Er wurde von 
der Handhabe eines rotirenden Schwungrades derart uber die linke Stirn- 
haifte getroffen, dass er hinfiel und ungef&hr V 2 Stunde (?) bewusstlos 
liegen blieb. Heimtransportirt und zu Bette gelegt, erwachte er mit Kopf- 
weh und Tosen in den Ohren. Er konnte aber sofort reden, horen, Worte 
verstehen, sehen, sich ungehindert bewegen. Es bestanden keine sichtbaren 
Blutungen. 14 Tage lang hiitete er das Bett. Dann blieb er 3 Wocben 
lang noch unthatig zu Hause; erst in der zweiten Octoberwoche war er 
im Stande, es wieder mit einiger leichterer Arbeit zu versuchen. 

Seit dem Unfall, so gab Patient bei der ersten Untersuchung (18. Oc¬ 
tober 1897) an, leide er an Kopfschmerzen und an Druckgefuhl an einer 
Stelle am Ruckgrat. Der Schlaf sei schlecht; der Appetit ordentlich; nie 
habe er Brecbreiz verspiirt. Stublgang regelmassig. 

Es falle ibm auf, dass er viel schlechter sehe als vor dem Unfall. 
Dies zeige sich besonders beim Lesen; deun nach kurzem Versuch ver- 
zerrten sich die Linien und die Worte verschwammen. Geistige Anstrengung 
veranlasse Steigerung der Kopfschmerzen, auch scheme ihm sein Gedacht- 
niss abgenommen zu haben. Anfallsweise werde ihm schwindlig, so dass 
er sich halten miisse, um nicht umzufallen. 

Status im October 18 97. M&ssig kraftiger Mann, von ordentlichem 
Ernahrungszustand; hat weisse Haare; sieht uberhaupt viel alter aus, als 
er ist. Der Schadel ist an einer 5frankstuckgrossen Stelle 3 cm iiber dem 
linken Ohr auf Beklopfen schmerzhaft. Keine Narben am Kopf oder im 
Gesicht. Stark geschlangelte Temporalarterien. Facialisinnervation beider- 
seits normal. — Die rechte Pupille ist bedeutend weiter, als die linke, 
reagirt trager als diese. Augenbewegungen ungehindert; bei starker Blick- 
wendung nach links wird jedoch ein Doppelbild angegeben. Das Gesichts- 
feld zeigt concentrische Einschrankung beiderseits, namentlich fur Roth. 
Augenhintergrund normal. Grosser Druck wird gut gelesen; kleinerer 
(Snellen III) nur einige Zeilen weit, dann erkiart Patient, plotzlich nichts 
mehr deutlich zu sehen. — Zunge gerade herausgestreckt. Keine Ge- 
schmacks- oder Geruchsstorungen. — Am Hals und an den Armen nichts 
Besonderes; kein Tremor der gespreizten Finger. Untere Extremitaten ohne 
abnormen Befund. Gang sicher, ohne Schwanken, kein objectives Zeichen 
von Schwindel. — Auf der linken Lunge leichter Katarrh des Oberlappens. 
Sonstiger Befund der Thoraxorgane normal. Am Abdomen failt ausser 
einem linksseitigen Leistenbruch nichts Besonderes auf. — Die Reflexe sind 
normal, abgesehen vom Patellarphanomen, das links deutlich erhoht ist. — 
Die Prufung der Sensibilitat ergiebt, dass Knopf und Spitze der Stecknadel 
iiberall richtig unterschieden werden; es besteht keine Differenz in der In- 
tensitat der Beruhrungsempfindung zwischen rechts und links; Schmerz- und 
Temperaturempfindung unverandert. Dagegen scheint der stereognostische 
Sinn der Hande etwas herabgesetzt: Patient taxirt mit der linken und rechten 
Hand ein 20 Cent.stiick fur ein 5 Cent.stiick; ein 2 Francstiick fiir ein 1 Franc- 
stuck.— Handedruck rechts 2G, links 26 Kilo. — Urin eiweiss- und zuckerfrei. 

Dieser Zustand anderte sich im Verlauf von zwei Monaten insofern, 
als Patient nach einiger Zeit im Stande war, wieder anhaltender zu lesen 
und sein Kopfwek ihn allmahlich verliess. Auch waren nach Kurzem 
keine Doppelbilder mehr bei extremer Blickwendung nach links vorhanden, 
und es verlor sich die Storung des stereognostischen Sinnes. 


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Ueber einen Fall vod transitorischer reiner Worttaubheit. 


179 


Um die Jahreswende 1897/1898, also 10 Wochen nach der ersten 
Untersuchung, klagt R. nach einem l&ngeren Spaziergang iiber Unsicherheit 
im linken Fuss. Hat das Gefiihl, derselbe sei geschwollen. Er kann sich 
nicht mehr auf die linke Fussspitze heben (rechts kann er es). Die Sen- 
sibilit&tspriifnng der nnteren Extremit&ten ergiebt keine Anomalien. Patel- 
larreflex beiderseits vorhanden, links stark erhoht. Sohlenreflexe beiderseits 
gleich. Wade rechts 32, links 29 cm. Oberschenkel iiber der Patella 
rechts 35 */ 2 , links 33 cm; Mitte zwischen Trochanter und Patella rechts 46 l j 2 , 
links 45 J / 2 cm. Die vier kleinen Zehen des linken Fusses sind stark 
extendirt. Flexion des Oberschenkels geschieht links weniger kr&ftig, als 
rechts. Beim Marschiren wird der linke Fuss in Hackenstellung aufgesetzt. 
Die elektrische Priifung ergiebt leichte Herabsetzung der Erregbarkeit des 
Peroneus, keine EaR. 

Zu gleicher Zeit klagte R. iiber Dyspnoe und Husten. Systolisches 
Blasen iiber der Mitralis. Puls 80, irregular. Urin eiweiss- und 
zuckerfrei. 

Im Verlauf des Januar und Februar 1898 blieb die Neuritis im linken 
Bein — um eine solche handelte es sich offenbar — ungefahr gleich. Da- 
gegen entwickelte sich in dieser Zeit eine Laryngitis und Bronchitis. Unter 
geeigneter Behandlung traten diese Beachwerden jedoch bald zuriick. 

Da — am 28. Februar 1898 — iiberraschte uns R. durch ein g&nz- 
lich unerwartetes Symptom. Mit seinem Namen im Wartezimmer 
aufgerufen, reagirt er nicht. Zwei-, dreimaliges, lauteres An- 
rufen erregt seine Aufmerksamkeit nicht. Er muss vom Nach- 
barn durch Anstossen mit dem Ellbogen auf den wartenden 
Arzt aufmerksam gemacht werden. Sodann tritt er ruhig und 
ohne Gangstbrung in das Sprechzimmer ein. Auf die Frage: 
„Nun, R., wie geht es Ihnen denn heute?“ antwortet er mit 
einem verlegenen Lachen: „Ich yerstehe Sie nicht. Ich ver- 
stehe iiberhaupt nicht mehr, was man zu mir sagt. Aber ich 
hbre Alles ganz gut. Ich hore auch, wenn man zu mir spricht. 
Aber wenn mir meine Frau etwas sagt, so ist es ein Kauder- 
walsch, das ich nicht verstehe. Und mit den andern Leuten 
geht es mir auch so.“ Durch ein Zeichen aufgefordert, sich zu 
setzen, folgt er dem Wink. Ein in diesem Augenblick auf der 
Strasse ertdnendes Horn veranlasst ihn zur sofortigen Aus- 
sage: „Ich hore zum Beispiel ganz gut, dass jetzt gerade ein 
Horn auf der Strasse geblasen wird.“ Ohne dass er es sieht, 
wird der Inductionsapparat in Th&tigkeit gesetzt. Er ver- 
steht das Experiment sofort, indem er bemerkt: „Auch die 
Maschine hore ich genau, wie friiher.“ Es wird ihm eine Uhr 
von hinten her vor das Ohr gehalten, ohne ihn zu beruhren. 
Er constatirt ohne Zogern, dass er auch die Uhr ticken hore 
(bis zu einer Entfernung von l l 2 Meter beiderseits). AufFragen 
antwortet er nur, wenn er sieht, dass gesprochen wird, nicht, 
wenn man ihn von hinten her anspricht. Seine Antwort ist aber 
best&ndig dieselbe: „Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie 
sagen; es ist mir, wie ein Gebrumm im Ohr, so ein Sausen.“ 
Auch wenn man mit erhobener Stimme, scharf articulirend und 
langsam Worte des t&glichen Verkehrs ihm zuruft, versteht er 

12 * 


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180 


XI. Veraguth 


gar nichts. Seine spontane Rede aber ist fliessend, absolnt 
obne Wortverwechslung oder Verstummelung der Worte. Er 
giebt spontan an, dass er oft die Zeitnng lese. Er kdnne aber 
nicht behalten, was er lese. Es werden ihm Drnckproben vor- 
gehalten; er liest sie fliessend, ohne die geringste Paraphasie. 
— Nach seiner Angabe bestehe dieser Zustand seit einigen 
Tagen. Er habe eine Reise nach Bern gemaclit und dort, um sich zu 
st&rken, wieder einmal Wein getrunken. Die schriftlich ihm mitge- 
theilte Mahnnng: „Lassen Sie sofort alles Wein- und Biertrinken wieder 
weg“, kann er, wenn auch etwas langsamer, als die Druckschriftproben, 
lesen. Sie erregt eine etwas inadequate Heiterkeit. Er verspricht, ihr 
zu folgen. Tags darauf giebt er aber wieder zu, neuerdings spanischen Wein 
getrunken zu haben. Er glaube, heute einzelne Worte zu verstehen. Die 
Untersuchung des kusseren Ohres ergiebt keine Anomalien des 
Trommelfelles. Er bore best&ndiges Sausen, namentlich im 
linken Ohr, schwacher im rechten. 

Am 4. Marz 1898 trat Morgens ohne besondere Veranlas- 
sung starkes Nasenbluten auf. Von diesem Moment an sei ihm 
bedeutend leichter geworden und er habe alsbald auch Alles 
wieder verstanden, was man zu ihm gesprochen. Nur sei noch 
das Sausen im linken Ohr iibrig geblieben; rechts aber sei es 
verscliwunden. 

Am 7. Marz 1898 berichtet R. in Uebereinstimmung mit seinen frtiheren 
Aussagen, dass er die vorigen Tage hindurch, wahrend er nichts verstand, 
doch jedes Gerausch gehort habe. Ja, er behauptet sogar, feiner gehdrt 
zu haben, als sonst; doch habe er kein einziges gesprochenes Wort ver¬ 
standen. Er giebt spontan an, es habe ihm jede Anrede „wie eine fremde 
Sprache geklungen“. Es sei ihm schon vor einiger Zeit (und zwar am 
20. November 1897, wie sich dies in einem Actenstiick feststellen lasst) 
einmal aufgefallen, dass er auf einem Bureau den Beamten, der mit ihm 
sprach, zu seinem Erstaunen plotzlich absolut nicht verstanden habe. Er 
habe dann, aus Verlegenlieit, mit den Schuhen sich zu schaffen gemacht, 
und glaube, nach diesem tiefen Biicken wieder leichter verstanden 
zu haben. 

Kurze Zeit darauf reiste Patient, ohne seine Familie ins Einverst&nd- 
niss zu setzen, wieder nach Bern und wurde dort im Inselspital lkngere 
Zeit beobachtet. Dem Brief eines befreundeten Collegen, unter dessen Auf- 
sicht R. stand, entnehme ich, dass daselbst ein Klappenfehler, Starke 
Herzarhythmie, die sich oft bis zum Delirium cordis steigerte, 
ferner Emphysem und Asthma constatirt wurde. Durch geeignete Behand- 
lung seien diese Symptome wesentlich gebessert worden. Nie habe sich 
eine Spur voneiner Sprachstorung mehr gezeigt; auch dann nicht, 
als man ihm, experimenti causa, ausnahmsweise Wein verabreicht habe. 
Die Neuritis des linken Beines sei ungef&hr gleich geblieben. 

Am 28. Juni 1898 stellte R. sich wieder in der Poliklinik. Er sei 
jetzt immer so &ngstlich. Sein Ged&chtniss sei noch immer schlecht. Er 
w r eis8 das Datum seines Unfalls nicht anzugeben. Der Sch&del ist nicht 
mehr percussionsempfindlich. Die rechte Pupille ist noch immer weiter als 
die linke; Pupillenspiel beiderseits normal. Herzd&mpfung 2 cm rechts vom 
Sternalrand, 3 cm links von der Mamilla. Stiirmische, irregulkre Herz- 


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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit. 


181 


action. Radialispuls sehr schwach, 130. Lungengrenzen nach rmten ver- 
breitert, fiber der ganzen Ausdehnung der Lunge feuchtes Rasseln. Waden- 
nmfang rechts 31V 2 , links 29 cm. 

Bis Ende Februar 1899 zeigte der inzwischen noch oft untersuchte 
Patient ungefahr den eben geschilderten Status, mit kleinen Schwankungen 
des Zustandes der Lungen und des Herzens. Auch seine subjectiven Be- 
schwerden blieben im Ganzen dieselben. Zur ArbeitsfUhigkeit brachte er 
68 nie mehr. Von einem Wiederauftreten der Stbrung des Sprach- 
verstandnisses oder der Sprache iiberhaupt jedoch zeigte sich 
nie mehr auch nur eine Spur. 

Hier mag beigefiigt werden, dass R. fur seinen Unfall seinerzeit zu 
seiner Zufriedenheit entschadigt worden ist, und zwar lange vor dem Auf- 
treten der oben geschilderten schweren Storungen; so dass schon dadurch, 
wie ubrigens durch den ganzen objectiven Befund zur Geniige Simulation 
der fraglichen Symptome ausgeschlossen ist. 

Ende Februar 1899 erkrankte R. unter den Symptomen einer crou- 
posen Pneumonie des rechten Unterlappens. Nach 5 Tagen Krisis. Am 
2. Marz 1899 mehrere Schiittelfroste; nachherige hohe Temperaturen (bis 40°), 
mit morgendlichen Remissionen. Rasseln auf dem rechten Ober- und Mittel- 
lappen. Herzarhythmie. Nach einigen Tagen wird der Auswurf putrid. 
Am 11. Marz 1899 pldtzliches Erblinden des rechten Auges. Pupille jetzt 
mittelweit (die friiher immer weit gewesen), zeigt griinlichen Reflex. Das 
kranke Auge hat nur noch Lichtschein. — Zunehmende Schwache, haufige 
Dyspnoe. 12. Marz Abends unwillkiirliche Bewegungen im linken Arm 
(nach Angabe der Frau); am anderen Morgen lassen sich dieselben nicht 
mehr constatiren; Patient kann den Arm frei hewegen. 14. Marz Morgens 
6 Uhr Exitus letalis unter Erscheinungen des Collapses. 

14. Marz Morgens 9 Uhr Section. Starke Abmagerung. Icterische 
Verfarbung der Haut. Fettpolster sehr gering. Musculatur sparlich, von 
gnter Farbe. Beim Eroffnen des Thorax liegen die Lungen in starker 
Aosdehnung vor. Der Herzbeutel ist aber zum Theil anbedeckt. Beim 
Anschneiden desselben entleeren sich ca. 200 ccm gelblich-griiner, triiber 
Fliissigkeit. Das parietale und viscerale Blatt des Pericards ist durch 
Anflagerungen getrtibt und vielfach verdickt. Aus den Vorhofen entleert 
sich Cruor und Speckhaut. Herz vergrossert; beide Kammern etwas weiter, 
als normal, Tricuspidal- und Pulmonalklappen ohne besonderen Befund. 
Mitralis kaum fur einen Bleistift durchgangig, mit stark verdicktem, ver- 
kalktem Rand. Auf einem Zipfel sitzt ein Thrombus, der ausgedehnte 
Nekrose zeigt; bei leichtem Betupfen zerf&llt er in Fetzen. Aortenklappen 
und Aorta ohne Besonderheit, Anfang der letzteren nicht verkalkt. Muscu¬ 
latur des Herzens beiderseits stark verdickt, braun verfarbt. Rechte Lunge 
an der Spitze adbarent. Beim Loslosen derselben entleeren sich ca. 50 ccm 
Eiter in die — vorher leere — Pleurahohle. Pleura ausser an der An- 
heftung8stelle intact. Im Unterlappen der Lunge kein Luftgehalt, massiger 
Blutgehalt. Emphysematos erweitert. Im Oberlappen inselfdrmige Ver- 
dichtungen, wo das Organ nicht lufthaltig ist. Bronchien mit Eiter gefiillt. 
Linke Lunge nicht adharent, Pleura glatt, sie zeigt auf der Aussenseite 
des Oberlappens unter der Pleura eine streifenftjrmige Eiteransammlung. 
Auf dem Durchschnitt ist sie gut loft-, wenig bluthaltig, an der eben ge- 
nannten Stelle verdichtet. Leber vergrossert, zeigt das Bild der Stauung. 


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XI. Veraguth 


Milz and Nieren ohne Besonderheiten. L. Bulbus oculi zeigt Abhebung der 
Retina durch eine frische Blutung hinter dieselbe. — Sch&deldach aussen 
nnd innen ohne Besonderheiten. Die Schadelknochen sind diinn, zeigen 
wenig Diploe. Dura der Oberfl&che nirgends verwachsen. Im Sinus longi- 
tudinalis Cruor und Speckhaut. Pia der Oberfl&che beiderseits iiber dem 
Scheitel stark bdematos, ihre Gefasse reichlich gefullt. Ueber dem Mantel- 
rand der rechten Hemisphare in der Gegend des Paracentraliappchens liegt 
unter der Pia ein frischer Eiterherd in der Ausdehnung eines l-Francsttickes. 
Consistenz der Rinde in dieser Gegend etwas weicher. Starke Pacchio- 
ni’sche Granulationen. Dura der Schadelbasis glatt, feucht, glanzend. 
Schadelbasis ohne Fracturspuren. Pia der Basis zart. Opticus und Oculo- 
motorius von fibrosen Str&ngen begleitet. Arteriae vertebr., basil., carotis 
int. und Fossae Silv. m&ssig erweitert und geschiangelt; Intima glatt, die 
Gef&sse sind mit geronnenem, nirgends an der Gef&sswand adh&rentem Blut 
gefullt. 

Die linke Hemisphare zeigt im hinteren Theil der dritten 
Stirnwindung (in der Pars opercularis) bedeutende Atrophie. 
Dieser Theil der Windung fehlt fast ganz und ist durch serose 
Fliissigkeit ersetzt. Ebenso zeigt die Mitte der 1. Temporal- 
windung einen Defect nach der 1. Temporalfurche zu, an dessen 
Stelle sich ebenfalls zwischen Gehirn und Hauten serose Fliis- 
sigkeit findet. Auch im Uebrigen ist die 1. Temporalwindung 
schmal; die 1. Temporalfurche 3 cm tief. Central- und Inter- 
parietalfurche, sowie der Sulcus frontalis II sind betrUchtlich 
tiefer, als normal, und mit serbser Fliissigkeit gefullt. Die 2. 
Frontalfurche communicirt mit dem Ramus ascendens der Fiss. Silvii. Auf der 
rechten Hemisphare fallt die Schmalheit der 1. Temporalwin¬ 
dung auf. Sie ist unten eingefasst von einer 2 cm tiefen Temporalfurche. 
Hinterhorn erweitert gegeniiber der anderen Hemisphare (Occipitalspitze bis 
Spitze des Hinterhorns links 5 ! / 2 , rechts 4 cm). Ebenso Unterhorn erweitert 
Auch links ist der Seitenventrikel weiter, als normal. Ependym nicht granulirt. 
Die weisse Substanz des Grosshirns ist in toto reducirt und zeigt zahl- 
reiche, gleichmassig vertheilte Blutpuncte. Auf dem Durchschnitt sind die 
oben beschriebenen Windungen kammartig zugespitzt. Die Sehhiigel zeigen 
makroskopisch keine Veranderung. Das Corpus geniculatum internum er- 
scheint links etwas grosser, als rechts. Facialis normal, Acusticus beider¬ 
seits etwas schmal (?), von normaler Farbe. 

Grosshirnmantel und Hirnstamm, nach Meynert getrennt, warden in 
Formol-Miiller gehartet, nachdem einzelne Partien der atrophischen Windungen 
herausgeschnitten und behufs Farbung nach Nissl in Alkohol gelegt worden 
waren. Die grossen Praparate warden sodann im Gudden’schen Mikrotom 
in Serien geschnitten und einzelne Schnitte aus den wichtigsten Gegenden 
mit Carmin gefarbt. 

Das Ergebniss dieser genaueren Durchsuchung war folgendes: Die 
schon oben als atrophisch geschilderten Gyri zeigen ihre Re¬ 
duction, ihre kammfbrmig zugespitzte Gestalt nnd ihre Be- 
grenzung durch breite und tiefe Furchen auch auf den Durch- 
schnitten. Die Rinde erscheint in diesen Gebieten namentlich, 
in geringerem Grade aber iiberall etwas schmaler, als in nor- 
malen Controlpraparaten. Auch die Markmasse ist in toto 


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Ueber einen Fall von trandtorischer reiner Worttaubheit. 183 

reducirt Von einem Herd in Rinde Oder Mark ist keine Spur 
zu fin den. Die Gef&sse sind m&ssig erweitert; ihre Wand nicht abnorm 
gestaltet; es lassen sich zwar an einzelnen Stellen per diapedesiu ausge- 
tretene Lymphocyten l&ngs einiger Capillaren erkennen; doch zeigen sich 
nirgends erhebliche Blutaustritte. Die Gef&ssw&nde sind nicht ver&ndert. 
Die Nisslpr&parate geben keine Auskunft dariiber, auf Rechnung welcher 
Elemente die Verschm&lerung der Rinde zn setzen sei. Insbesondere sind 
die kleinen PyramidenzeUen in Schnitten aus der 1. Temporalwindung links 
wohl erhalten. Einige unter ihnen zeigen Randstellung des Kernes. In 
den grossen Pyramiden der Centralwindungen starke gelbliche Pigment- 
bildung. — Acusticuskerne, untere Schleife, hinterer Zweihiigel, Corpus 
geniculatum internum zeigen unter dem Mikroskop keine wesentlichen Ver- 
Underungen. Ebensowenig die anderen Theile des Hirnstammes. Die oben 
signalisirte Verschiedenheit der beiden Corpora geniculata interna erwies 
sich als auf ungleicher Ueberlagerung durch die benachbarten Organe be- 
mhend. Die Gefhsse dieser Gehirntheile sind etwas weit; doch halten sich 
die Dimensionen innerhalb normaler Grenzen. Ver&nderungen der Gef&ss- 
wande sind nicht nachzuweisen. 

Das Wesentliche in der Geschichte dieses Falles, die, da es sich 
die langste Zeit, und namentlich wahrend der interessantesten Periode, 
um ambulante, poliklinische Beobachtung handelte, nothgedrungen 
etwas skizzenhaft ausfalleu musste, lasst sich etwa folgendermassen 
zusammenfassen: 

Ein hereditar nicht belasteter, vielleicht durch einen friiher durch- 
gemachten Typhus, wahrscheinlich durch langjahrigen Alkoholmiss- 
brauch in seinem Nervensystem geschadigter Mann erleidet ein Schadel- 
trauma. Von den unmittelbaren Folgen desselben, die auf keine 
localisirte Himlasion schliessen lassen, erholt er sich alsbald. Doch 
bleiben ihm mit einiger Hartnackigkeit Storungen des Gesichtssinus: 
Pupillendifferenz, concentrische Gesichtsfeldeinschrankung fttr Farben 
und eine anfangs ausgesprochene, allmahlich abklingende Dyslexie. 
Von weiteren accentuirten Erscheinungen seitens des Nervensystems 
kann neben einer vorfibergehenden leichten Storung des stereo- 
gnostischen Sinnes, neben dem Auftreten von Schwindel, Ohrensausen 
und Kopfweh nichts von Belang constatirt werden. Auch diese Sym- 
ptome klingen langsam ab. Doch bleibt von Anfang an eine ent- 
schiedene Herabsetzung der psychischen Personlichkeit des Patienten 
bestehen, ohne dass sich aber neben etwelcher Gedachtnissschwache 
und der Unfahigkeit, zu arbeiten, bestimmte psychische Krankheits- 
zeichen feststellen liessen. Im Anschluss an eine korperliche Ueber- 
anstrengung stellt sich eine schnell auftretende Parese des linken 
Beines mit geringer Atrophie ein — periphere Neuritis. Zu gleicher 
Zeit wird — nachdem bei der Eintrittsuntersuchung von Seiten dieses 
Organes keine Anomalien bemerkt worden waren, am Herzen ein 


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184 


XI. Veraguth 


Mitralklappenfehler mit Compensationsstorungen constatirt. Ca. V 2 Jahr 
nach dem Unfall, und unleugbar im Anschluss an alkoholische Ex- 
cesse nach angeblicher mehrjahriger Abstinenz, tritt eine wohl- 
umschriebene Sprachstorung ein, die nach kurzer Dauer 
ganzlich verschwindet und nie mehr auftritt. 1m letzten V 2 Jahr 
beherrscht die Herzaffection das Krankheitsbild; sie manifestirt sich 
jetzt in Dilatatio cordis, in starker Arhythmie und in consecutiven Er- 
scheinungen seitens der Lungen. Tod durch Endocarditis mit Embolien 
in die Lungen und andere Organe. 

Sectionsbefund: Pericarditis, Endocarditis ulcerosa valv.mitralis, 
putride Bronchopneumonie, frische eitrige Embolie unter der Pia des 
Mantelrandes der rechten Hirnhemisphare. Stauungsleber. Postretinales 
Hamatom im rechten Bulbus. Allgemeine Atrophie des Gross- 
hirns, besonders der Rinde und des Marks der 1. Temperal- 
windung beider Hemispharen und von der Pars opercularis 
der dritten Stirnwindung links. Keine Herdlasionen. — 

Im Vordergrund des Interesses steht die Sprachstorung, an der R. 
wahrend einer kurzen Zeit litt. Es handelt sich hier um eine transi- 
torische „Worttaubheit“ oder, nach der haufig noch gebrauch- 
lichen alteren Nomenclatur, „subcorticale sensorische Aphasie 44 , 
und zwar um eine durch keine Beimengung anderweitiger aphasischer 
Storungen yerwischte, also um ein klinisch reines Bild. 

Folgende Analyse wird diese Diagnose rechtfertigen. 

1. Die Aphasie war im Falle R. eine sensorische. Denn es lagen 
keinerlei Storungen seitens der expressiven Sprachsphare vor. 

2. Die sensorische Aphasie war eine sogenannte „subcorticale“ — 
d. h., soweit das klinische Bild in Frage kommt. Denn alle — oder doch 
alle wesentlichen — Erfordernisse zu dieser Diagnose waren vorhanden: 
R. sprach wahrend der Dauer der Affection ebenso gelaufig, wie vor- 
und nachher, und — was betont werden muss —, ohne dass eine Spur 
yon Paraphasie hatte bemerkt werden konnen. Das laute Vorlesen ging 
bei gedruckter Schriftprobe gelaufig und ohne Paraphasie vor sich. 
Das Schriftverstandniss war nun freilich nach Angabe des Patienten 
dadurch getrtibt, dass er einmal nach Kurzem „in den Augen“ ermudete, 
d. h. dass sich ihm die Buehstaben nach dem Lesen langerer Ab- 
schnitte verzerrten; zweitens aber durch eine Vergesslichkeit und Un- 
fahigkeit, sich zu concentriren, die wohl als Theilerscheinung der 
ganzen Herabsetzung der psychischen Persoulichkeit anzusprechen ist, 
nicht aber als specielle receptive Sprachstorung. Was die in diesen 
Fallen minder wichtige willklirliche Schrift und das Copiren von Vor- 
lagen anbelangt, muss zugegeben werden, dass diese Versuche bei der 
kurzen Dauer der Affection der poliklinischen Untersuchungsart zum 


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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit. 


185 


Opfer flelen. Es liegfc aber kein Grund vor zur Annahine, dass sich 
Storungen in jenen Beziehungen ergeben hatten. Wichtiger aber ist, 
dass die positiven Ergebnisse der Untersuchung unanfechtbar sind. 
Der Patient, dessen Gehor fttr Klange und Gerausche erhalten — er 
meinte sogar gesteigert — war, verstand kein Wort von dem, was 
man zu ihm sprach. Spater wieder in den Besitz des Wortverstand- 
nisses gelangt, giebt er an, dass wahrend jener Zeit jede Anrede ihm 
wie eine fremde Sprache geklungen habe. Ob er damit sagen wollte, 
er habe zwar wohl verstanden, dass man rede, nur nicht, was man 
sage, lassen wir dahingestellt Wahrscheinlicher ist, dass er nur dann 
den Eindruck hatte, dass man rede, wenn er es an den Lippen des 
Untersuchenden sehen konnte. Jedenfalls erregte (und dies mag hier 
betont werden) die Klang- und Gerauschfolge gesprochener Worte als 
solche, d. h. als acustisches Phanomen, seine Aufmerksamkeit nicht: 
er reagirte auf Anrufen mit seinem Namen im Wartezimmer nicht, 
sondern musste durch einen Rippenstoss von seinem Nachbar auf den 
rufenden Arzt aufmerksam gemacht werden. Ebenso machte es auf 
ihn keinen Eindruck, wenn hinter seinem Rticken gesprochen wurde, 
wahrend er, wenn er sah, dass man zu ihm sprach, meist mit der 
Betheuerung antwortete, er hore schon, aber er verstehe nichts. Man 
ist daher zur Annahine veranlasst, dass seine Aufmerksamkeit ftir 
Gerausche tiberhaupt abgestumpft war, unbeschadet der Scharfe der 
Perception derselben nach Erregung der Aufmerksamkeit auf anderem 
Wege. Doch sei hier hervorgehoben, dass seine einmal erregte Auf¬ 
merksamkeit sehr schnelj nachliess, dass er auch eine gewisse stumpfe 
Gleichgtiltigeit gegentiber seiner auffallenden Ausfallserseheinung zur 
Schau trug. Sein Gesicht zeigte nicht den Ausdruck der Schwer- 
horigen, die sich eifrige Miihe geben, zu verstehen; auch nicht den 
der Depression, wie sie etwa bei der schweren, plotzlich eintretenden 
Lasion zu erwarten gewesen ware. Wie weit bei der Wurdigung 
dieser Thatsachen die alkoholische Intoxication mit in Betracht kommt, 
muss dahingestellt bleiben. — Es ist klar, dass bei dieser Unfahigkeit, 
Worte zu verstehen, von Nachsprechen und von Schreiben nach Dictat 
nicht die Rede sein konnte. 

3 . Die „subcorticale sensorische Aphasie“ war in diesem Falle eine 
reine. Dies verdient, mit Nachdruck betont zu werden. Wir sind 
berechtigt, ibr dieses Adjectiv zu vindiciren, da sich vor Allem von 
Paraphasie beim willktirlichen Sprechen und Lautlesen keine Spur 
zeigte. Denn bekauntlich ist auch bei der viel haufiger beschriebenen, 
differential-diagnostisch hier allein in Frage kommenden „corticalen“ 
sensorischen Aphasie der Verlust des Sprachverstandnisses das hervor- 
ragendste Symptom. Fur diese charakteristisch ist dann aber die 


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XI. Veraguth 


Begleiterscheinung der Paraphasie: die Patienten bedienen sich beim 
willkttrlichen Sprechen und Lautlesen ofters oder seltener, aber aus- 
nahmslos, verdrehter Worte oder solcher, die ahnlich klingen, wie die 
beabsichtigten. Ueberdies ist bei „corticaler“ sensorischer Aphasie auch 
das Schriftverstandniss aufgehoben. Von Alledem nichts bei unserem 
Fall. Das Bild ist daher als Sprachstorung in „centripetaler“ Richtung 
scharf umschrieben. 

Weniger scharf freilich ist seine Abgrenzung „nach der Peripherie 4 * 
zu. War die Storung sicher nur eine cerebrale oder spielte auch eine 
Lasion der peripheren Gehororgane eine Rolle? Als Antwort auf 
diese Frage stehen uns nun freilich sparliche objective Daten zur Ver- 
fttgung. Eine Trtibung oder anderweitige Veranderung des Trommel- 
fells lag keinerseits vor. Von einer Prufung der Horscharfe durch 
Fliistersprache und mittelst Stimmgabeln konnte angesichts des er- 
schwerten Verkehrs mit dem Patienten die paar Mai, da er worttaub 
auf die Poliklinik kam, aus naheliegenden Grtinden nicht die Rede 
sein. Eine Untersuchung des Gehors, nachdem die sensorische Aphasie 
wieder spurlos verschwunden war, gab uns auch keinen Aufschluss 
darflber, ob wahrend der Storung eine periphere Componente mit im 
Spiel war. Wir sind also auf die spontanen Angaben des Patienten 
wahrend und nach dem Anfall von Aphasie angewiesen. Er h5rte 
jedenfalls nicht schlecht: das Ticken der Uhr erkannte er in der Ent- 
fernung von */ 2 m auf beiden Ohren (nachdem durch die Untersuchung 
seine Aufmerksamkeit fur acustische Eindrflcke gescharft worden war). 
Wenn also die periphere Gehorsleitung und die Perception von acus- 
tischen Phanomenen eine Veranderung erlitten hatte, so konnte es sich 
nur um eine so geringe Verminderung des Horvermogens handeln, 
dass sie jedenfalls dem einzigen Beurtheiler, auf den wir uns in diesem 
Fall verlassen mtissen, dem Patienten selbst, nicht auffallen konnte. 
Darauf freilich, dass R. sogar angab, er glaube wahrend der Wort- 
taubheit Gerausche noch deutlicher gehort zu haben, als vor der 
Attacke, ist wohl kein Gewicht zu legen. Vielmehr mtissen wir an- 
nehmen, dass sich auf dem Hintergrund der Worttaubheit die annabernd 
normal erhaltene Fahigkeit der Wahrnehmung anderer Gehorsempfin- 
dung fiir das subjective Urtheil des Patienten pointirter hervorhob 
und dadurch den Eindruck erhohter Horscharfe machte. Nicht ausser 
Acht zu lassen ist aber das Ohrensausen, das den Patienten seit dem 
Unfall belastigte. Und zwar diirfte mit Nachdruck hervorgehoben 
werden, dass dasselbe bis zum Eintritt der Worttaubheit nur auf das 
linke Ohr beschrankt war; dass es hingegen wahrend der Sprach¬ 
storung beiderseits auftrat und endlich mit dem schnellen Aufhoren 
der aphasischen Erscheinung ebenso plotzlich rechts wieder verschwand. 


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Ueber einen Fall vod transitorischer reiner Worttaubheit. 


187 


4. Die „subcorticale sensorische Aphasie“ war im Falle R. eine 
transitorische, von kurzer Dauer. Das vorubergehende Erscheinen 
eines so auffalligen Symptomes, wie eine reine Worttaubheit es ist, 
verlangt in der That eine besondere Wiirdigung. Rufen wir uns in 
Erinnerung: R. gab an, schon vor dem in der Poliklinik beobachteten 
Zustand der Worttaubheit einmal f&r kurze Zeit die Leute nicht ver- 
standen zu haben. Dann trat die krankhafte Erscheinung mit voller 
Kraft auf, um einige Tage ungeschwacht anzudauern; darauf, im An¬ 
schluss an heftiges Nasenbluten, verzog sich der Schleier tiber dem 
Wortverstandniss wieder und seither ist bis zum Tod jede Spur von 
Recidiv ausgeblieben. 

Dieses transitorische Auftreten und spurlose Verschwinden der 
Sprachstorung ist schon allein eine Veranlassung, den Fall R. den 
bisherigen in der Literatur vorkommenden gegentiber zu stellen. 
Vollends aufgefordert dazu wird man durch den Sectionsbefund: 
allgemeine geringgradige Atrophie der interessirten Grosshirnpartien, 
Abwesenheit eines jeglichen subcorticalen Herdes. 


Die Auffassung des Wesens der reinen Worttaubheit hat seit 
der ersten Feststellung des klinischen Krankheitsbildes durch Licht- 
heim und Wernicke nicht unbedeutende Wandlungen durchgemacht. 

Im Jahr 1885 veroffentlichte Lichtheim den ersten Fall. 1 ) Es 
handelte sich um einen Patienten, der im Jahr 1872 einen Schlag- 
anfall erlitten hatte, an den sich folgende Sprachstorungen anschlossen: 
Paraphasie beim willkiirlichen Sprechen und Vorlesen, und Paragraphic. 
Davon blieben im Verlauf der nachsten Jahre nur noch Spuren der 
Paraphasie Gbrig. Im Jahr 1882 zweiter apoplectischer Insult ohne 
begleitende Allgemeinerscheinungen; voriibergehende Facialisparese, 
neuerliche Sprachstorung: Patient versteht kein einziges Wort, obwohl 
er alle Gerausche hort. Er habe anfangs auf Lichtheim den Eindruck 
eines peripher Tauben gemacht, weil er auch eine geringe Auf- 
merksamkeit fttr Gerausche an den Tag gelegt und scheinbar gar 
nicht darauf geachtet habe, wenn man mit ihm sprach. — Fahigkeit 
nachzusprechen, sowie nach Dictat zu sprechen, aufgehoben. Die will- 
knrliche Sprache dagegen ist vollkommen correct, es kann nicht die 
geringste Paraphasie mehr constatirt werden. Intelligenz und will- 
kllrliche Schrift vollig intact; Lautlesen und Copiren geschieht fehler- 
los. — Dieser Zustand dauerte ohne Schwankung 3 Jahre lang, bis 
zum Tode des Patienten. Keine Section. 


1) Lichtheim, „Ueber Aphasie". Deutsches Archiv fur klinische Medicin, 
Band 36. S. 238. 1885. 


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XI. Vera.guth 


Im folgenden Jahre befasste sich Wernicke 1 ) mit der Frage. 
Audi er brachte Notizen tiber einen Fall ahnlicher Art, der aber durch 
anderweitige cerebrale Storungen (epileptische Anfalle) compHcirt war. 
Obwohl beide Forscher flir ihre Befunde keine Belege durch die 
Section erheben konnten, wurde von ihnen die Affection mit dem 
topisch prajudicirenden Namen der „subcorticalen sensorischen Apha- 
sie“ benannt. Dabei gingen sie von der Annahme aus, dass es sich 
um eine Erkrankung im Marklager des linken Temporallappens handeln 
mtisse. Ihnen war also das Krankheitsbild ein Herdsymptom par 
excellence und eine rein cerebrale Storung der Sprachperception. 

In der That schien diese Annahme eine Sttitze zu erhalten in dem 
1892 erschienenen Bericht liber einen Sectionsbefund bei einer „sub- 
corticalen sensorischen Aphasie“, die Pick 2 ) beobachtet hat. Pick’s 
Kranker war ein Irrsinniger, der wiederholte Schlaganfalle, unter 
anderen auch mit linksseitiger Hemiplegie durchgemacht hatte. Das 
Sprach verstandniss fehlte ganz. Fragen beantwortete er falsch, inso- 
fern er zwar an sich correcte, aber nicht zur Sache gehorige Be- 
merkungen machte. Auf Gerausche in seiner Umgebung achtete er 
nicht. Es bestand bei ihm thatsachlich ein geringer Grad beiderseitiger 
Taubheit. Er percipirte indessen leiseres Rufen, Sprechen u. s. w. 
Das Verstandniss gehorter Melodien schien ebenfalls gestort, er konnte 
aber etwas Flote spielen. Die Sprache war correct, also frei von 
Paraphasie. Vorgezeigte Gegenstande bezeichnete er richtig. Die Schrift 
war langsam, aber correct. Ebenso richtig das fliessend von statten 
gehende Lesen, flir welches das Verstandniss erhalten war. Nach- 
sprechen und Dictatschreiben fehlte vollkommen. Der Zustand des 
Patienten anderte sich wahrend der Beobachtungszeit nicht. Section: 
Rechts: Gyrus temp. I und ziemlich grosse Theile des Gyrus temp. II, 
ferner die ganze Insel und kleine umschriebene Stellen am unteren 
Ende der vorderen Centralwindung und in der untersten Stirnwindung 
sind erweicht, und zwar in Rinde und Mark. Links: Hintere Halfte 
des Gyrus temp. I und des Gyrus supramarginalis erweicht. 

Nun war aber dieser Fall, obwohl durch eine Section erganzt, in 
keiner Beziehung unzweideutig. Erstens war er klinisch nicht rein 
weder als cerebrale Storung (Complication mit einer Geisteskrankheit), 
noch mit Bezug auf eventuelle Mitbetheiligung peripher erkrankter 
Horbahnen. Ueber letztere fehlen genauere Daten. Zweitens war die 
Zerstorung des Gehirns, welche durch die Autopsie blossgelegt wurde, 
eine viel zu ausgedehnte, um einen einigermassen sicheren Schluss 

1) Wernicke, „Die neueren Arbeiten uber Aphasie“. Fortschritte der 
Medicin. 1886. 

2) Pick, Archiv f. Psychiatric. Bd. XXIII. 1892. 


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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit. 


189 


auf einen Herd zu erlauben, der speciell die betreffende Storung hatte 
hervorgerufen. Immerhin ist bemerkenswerth — und Pick macht 
darauf ausdrticklich aufmerksam — dass die Lasion beide Hemi- 
spbaren getroffen hatte, nicht nur die linke, und dass sowohl Rinde 
als Mark ergrifFen waren. 

Die gleiche Beobachtung machte Edgren 1 ), der einen weiteren 
Fall verofFentlichte. 34jahriger Patient. Kopftrauma, im Anschluss 
daran verschiedene cerebrale Symptome. Kann Musik nicht auffassen. 
Er h5re sie wohl, aber nicht wie gewohnlich; er konne keine Melodie 
herausfinden. Versteht seine Frau nicht, wenn sie zu ihm spricht. 
Zwei Tage spater bleibt die Worttaubheit constant und meist complet, 
nur ab und zu versteht er einzelne Worte. Er sagt, dass er hore, 
wenn man zu ihm spreche, er verstehe aber nichts. Die Sprache ist 
meist fliessend, zuweilen aber paraphasisch; Lautlesen geht anfangs 
leicht und correct, nach einer Weile aber mit Paraphasie. Das 
Schreiben, anfangs correct, wird spater ofters durch Paragraphic .ent- 
stellt. Das Gehor ist beiderseits herabgesetzt. Nach einer Woche 
versteht er ziemlich gut, wenn man liber etwas spricht, womit seine 
Gedanken beschaftigt sind. Auf anderen Gedankengang reagirt er erst, 
wenn man ihn schllttelt, bevor man ihn anredet.. Spater versteht 
er Alles, was langsam geredet wird, kann nachsprechen und 
Dictatschreiben. Zuletzt bleibt als Rest der Affection geringe 
Paraphasie und Tontaubheit. Zwei Jahre spater Tod durch Purpura 
haemorrhagica. Section: Aeltere Erweichungsherde in der Oberflache 
der Gehirnhemispharen: links im vorderen Theil der Fossa Sylvii eine 
Einsenkung, die die vordern zwei Drittel der 1. Temporalwindung und 
die vordere Halfte des Gyr. temp. II umfasst. Am Uebergang zwischen 
hinterem und mittlerem Drittel des Gyr. temp. I ist die oberflachliche 
Schicht sklerotisch und mit der Pia verwachsen. Unter diesem sklero- 
tischen Theil und 1 cm weiter nach hinten geht die Erweichung auch 
in das Mark des Gyr. temp. I. Die umliegenden Theile der Ge- 
hirnrinde sind gesund. Rechts: Um den Ramus horizontal is foss. 
Sylvii ahnliche Defecte. In der Rinde sind zerstort die aussere und 
die obere Oberflache der hinteren Halfte des Gyrus temp. I und ent- 
sprechend der untere Rand des Gyrus supramarginalis. Die Zerstorung 
ging im Boden der Fossa Sylvii in die weisse Substanz uber und 
war nach vorne und nach hinten ausgedehnter, als in der 
Rinde. — Also auch hier Zerstorung von Rinde und Mark in beiden 
Hemispharen. Nicht die Klarheit des Symptomencomplexes und Un- 
zweideutigkeit des anatomischen Befundes verleihen dem Fall seine 


1) Edgren, Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. VI. 


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XI. Veraguth 


Bedeutung — es bestanden ja neben der Worttaubheit manche Para- 
storungen der expressiven Sprachsphare und die bei der Autopsie 
blossgelegten Zerstorungen weisser und grauer Grosshirnsubstanz waren 
weit ausgedehnte — vielmehr ist es der Umstand, dass die Stoning 
einp nur kurze Zeit andauernde war und dass das Wortverstandniss 
wieder vollstandig sich einstellte, was angesichts des beigefRgten 
Sectionsbefundes (subcorticale Herde beiderseits!) hervorgehoben zu 
werden verdient. Dies und nebenbei die Thatsache der ahnlichen 
Aetiologie eines vorhergegangenen Kopftraumas machen Edgren's 
Fall zu einem fur uns besonders interessanten. 

So wenig die Frage nach dem Sitz der Erkrankung durch diese 
Falle erklart war, um so complicirter wurde sie durch die Erwagungen, 
die nun andere Forscher in dieser Sache geltend machten. 

Schon Pick 1 ) hatte in seinera Fall auf die Rolle hingewiesen, die 
eventuell eine periphere Gehorsstorung bei der „subcorticalen sen- 
sorischen Aphasie“ spielen konnte, ohne jedoch genauere Daten iiber 
das Hbrvermogen des Patienten anzugeben. 

Zu gleicher Zeit schrieb Bleuler 2 ) seine Arbeit „Zur Auffassung 
der subcorticalen Aphasien“, worin er die Idee geltend machte, dass 
das Wortverstandniss aufgehoben werden konne durch eine allgemeine 
Gehorsstorung, ohne dass die Perception anderer Schallqualitaten er- 
heblich verandert sei. Er ging dabei von der Beobachtung aus, dass 
man im Nebenzimmer befindliche Personen zwar so gut sprechen 
hore, wie man ziemlich leise Gerausche dortselbst vernehme; dass man 
auch die Stimme des Sprechenden kenne, aber dennoch die Worte 
nur hochst unvollstandig oder gar nicht verstehe. Es waren also die 
Moglichkeiten vorhanden, dass physikalische, ausser dem Ohr liegende 
Hindernisse das Wortverstandniss erschweren. Ebensogut konnten 
aber auch Ohrenkrankheiten oder drittens AfiFectionen des corticalen 
Gehorcentrums das Symptom verschulden, indem sie im letzteren Fall 
den geregelten Ablauf der Klangbilder verlangsamten und dadurch ein 
Ineinanderfliessen der verschiedenen Worttheile bewirkten. 

Soweit die Rolle der infranuclearen Theile der Horbahn dabei 
in Frage kommt, ist Bleuler's Ansicht namentlich von Freund 3 ) 
eifrig verfochten worden, der in seiner Arbeit „Labyrinthtaubheit und 
Sprachtaubheit“ den fraglichen Symptomencomplex in zwei Fallen (von 
denen der eine identisch ist mit dem oben erwabnten Fall Wer¬ 
nicke's) auf Lasion des Labyrinthes zuriickftihrt. Er vergleicht diese 
zwei Aphasiker mit Taubstummen, deren Gehor nicht vollstandig ge- 

1) 1. c. 

2) Neurolog. Centralblatt. Bd. 18. 1892. 

3) Freund, Labyrinthtaubheit und Sprachtaubheit. Wiesbaden 1895. 


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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit. 


191 


schwunden ist, und findet eine grosse Aehnlichkeit im Verhalten der 
zwei Krankheitsformen, der Unterschied des Sprachverstandnisses sei 
nur ein gradueller. — Seine’Auseinandersetzung gipfelfc in dem Satz, 
dass es verschiedene Arten von Sprachtaubheit gebe. „Es handelt sich 
um ein Symptom von Seiten des acustischen Apparatus, welches keinen 
absoluten topischen Werth besitzt. Die veranlassende Lasion ist nicht 
an eine bestimmte Stelle gebunden; sie kann im Gehirn, im Acusticus- 
stamm oder im Labyrinth des inneren Ohres, ja sogar unter Umstanden 
im Mittelohr localisirt sein und den gleichen Functionsausfall ver- 
anlassen. Seine locale Farbung erhalt das Symptom der Sprachtaub¬ 
heit erst durch die gleichzeitig vorhandenen anderweitigen Symptome. w 
Leider wird der Werth der bedeutenden Arbeit Freund's beeintrachtigt 
durch das Fehlen pathologisch-anatomischer Belege ftir seine Deduc- 
tionen. Auch ist der erste seiner zwei Falle (Wernicke’s Fall 
Hendschel) jedenfalls cerebral erkrankt (s. o.). 

Unter dem Zeichen der Bleuler-Freund'schen Ansicht von der 
Bedeutung der peripheren Gehorsstorungen flir die W orttaubheit steht 
die beztiglich des Gehors genauere Untersuchung im Fall Ziehl's. 1 ) 
Ein 75 jahriger Mann erkrankt plotzlich, ohne Allgemeinerscheinungen, 
an Worttaubheit und Paraphasie. Durch den Insult wird das Ver- 
standniss fhr Worte zerstort, obwohl Patient hort, dass gesprochen 
wird. Er hort die Uhr ticken. Gehorprtifung nach Rinne und 
Weber ergeben normalen Befund. Er erkennt einzeln ausgesprochene 
Buchstaben „r“ und „o“, aber nicht das Wort „roh“. „Soll es Fenster 
heissen“? fragt er. Dabei Paraphasie leichteren Grades. Er spricht 
gelegentlich von „Don Wan“ statt „Don Juan“, „weich“ statt „reich“, 
kann nicht nachsprechen. Einzelne Buchstaben ist er zwar im Stand, 
nachzuahmen, auch einzelne Onomatopoetica, z. B. „wau, wau“, aber 
kein einziges Wort. Das Dictatschreiben ist unmoglich. Bei der will- 
ktlrlichen Schrift besteht Paragraphic. Das Lautlesen und Bezeichnen 
von Gegenstanden geschieht mit gelegentlicher Paraphasie. Dieser 
Zustand bleibt unverandert bis zum Tod des Patienten. Keine 
Section. — Das Wesentliche an dieser Krankengeschichte liegt wohl 
in dem negativen Befund der Gehorsprilfung. Andererseits aber war 
der Fall kein rein subcorticaler (Beimengung von Parastorung), und 
es fehlte die Autopsie. 

Hatte bis dahin das Studium der „subcorticalen sensorischen 
Aphasie“ nur theoretische Vermuth ungen zu Tage gefordert, so be- 


1) Ziehl, „Ueber einen Fall von Worttaubheit und das Lichtheim’sche 
Krankheitebild der subcorticalen sensorischen Aphasie“. Deutsche Zeitschrift 
fur Nervenheilkunde. VIII. 1896. 


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XI. Veraguth 


deutete der Fall, den Serieux 1 ) klinisch beobachtet und Dejerine 2 ) 
anatomisch untersucht hat, einen wesentlichen Fortschritt in der Er- 
kenntniss dieser Affection. 

Im Fall Serieux-Dejerine handelte es sich urn eine 55jahrige 
Frau, die vom Jahr 1887—1893 gradatim das Verstandniss fiir ge- 
sprochene Worte verlor, ohne dass die Horscharfe sich verminderte. 
Auch konnte sie Melodien nicht mehr erkennen, noch nach Dictat 
schreiben; dagegen sprach sie, schrieb sie spontan, las und copirte und 
hatte ibre voile Intelligenz bewahrt. Bemerkenswerth ist, dass ibr 
langere Zeit die Fahigkeit erhalten blieb, einzelne gebrauchliche Worte 
und Silben zu verstehen und dadurch mit mehr oder weniger GlGck 
die Frage des Untersuchenden zu errathen. Z. B. „En quelle annee 
sommes-nous“? Antwort: „Somme? quelle somme“? oder: „La memoire 
est-elle bonne u ? „armoire? Je n'ai pas d’armoire. J'entends bien tout 
ce que vous me dites: Je ne suis pas sourde. Mais je ne comprends 
pas . . .“ — Einige Monate vor dem Tode traten paragraphische und 
paraphasische Storungen, sowie allgemeine Verminderung der Intelligenz 
hinzu, so dass sie zuletzt iiberhaupt nicht mehr schreiben, noch sich 
ausdrticken konnte. — Bei der Autopsie zeigten sich die Schlafen- 
lappen beiderseits en masse atrophirt. Ihre Atrophie war sym- 
metrisch und jeder Lappen war beinahe um die Halfte vermindert. 
Sie prasentirten eine sehr deutliche Mikrogyrie und die Insel lag un- 
bedeckt. Die Schlafenwindungen hatten ihre Form im Allgemeinen 
beibehalten, waren aber um die Halfte reducirt und waren „d'une 
apparence lamellaire“. Die Consistenz der Rinde war vermehrt. Die 
Pia zeigte Adharenzen. Die mikroskopische Dntersuchung des in 
Serien zerlegten Gehirns ergab, dass es sich um eine Poliencephalitis 
chronica handelte, mit beinahe vollstandiger Atrophie der kleinen 
Pyramidenzellen und Schwund der Tangentialfasern. Die Grefasse 
zeigten verdickte Wande. Nirgends war ein Herd im Mark 
nachzuweisen, wohl aber eine merkliche Verminderung der Tfirck- 
schen Btindel (im Vergleich zu normalen Praparaten). 

Mit diesem Sectionsbefund war wohl die alte Lichtheim-Wer¬ 
nicke'sche Annahme vom subcorticalen Herd griindlich widerlegt — 
wie dies Dejerine in seiner Zusammenfassung des Resultates aus- 
spricht: „Dans la surdite verbale pure il s'agit non pas d'une separa¬ 
tion du centre auditif des mots; mais bien d’un affaiblissement dans 
les fonctions du centre auditif commun“. Nun muss freilich zugegeben 
werden, dass die Gehoruntersuchung in diesem Fall nicht eine exacte 

1) Serieux, Revue de Medicine. Aotlt. 1893. 

2) Dejerine et Serieux, „Un cas de surdite verbale pure termini par 
aphasie sensorielle suivi d'autopsie. 14 1897. 


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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit. 193 

war (wenigstens fehlen daruber nahere Angaben) — so dass also 
klinisch jedenfalls nicht entschieden werden konnte, ob die Abschwach- 
ung des Horvermogens wirklich nur auf die Perception der Worte 
sich bezog, ob es sich also d’un affaiblissement dans les fonctions du 
centre auditif handelte oder ob auch eine periphere Lasion mit im 
Spiele war. Auch blieb der Fall nicht bis zum Lebensende eine 
Surdite verbale pure, sondern verwandelte sich in eine Aphasie sen- 
sorielle („cortdcale sens. Aph.“). Eine betrachtliche Zeit lang aber war 
die Worttaubheit eine reine gewesen. Und dennoch von einem 
subcorticalen Herd keine Spur! 

Eine kiirzlich erschienene Arbeit von Liepmann 1 ) versucht nun 
aber doch, die alte Lichtheim-Wernicke'sche Anschauung aufrecht 
zu erhalten. Der Autor resumirt die Krankengeschichte seines Falles 
folgendermassen: „Ein 67jahriger Mann verlor durch zwei offenbar 
cerebrate Anfalle, deren Symptome (rechtsseitige Krampfe, rechts- 
seitige Facialislahmung) beide Male auf die linke Hemisphare 
wiesen, das erste Mai vorfibergehend, das zweite Mai dauemd 
jegliches Sprachverstandniss, und zwar ist schon die Auffassung 
der Sprachelemente, d. i. der einzelnen Buchstaben, gestort. Das Ge- 
sprochene erkennt er tiberhaupt nur dann als Gesprochenes, wenn er 
das Gesicht des Sprechenden sieht oder vorher davon verstandigt ist, 
dass man zu ihm sprechen werde. Das Horvermogen flir Tone erweist 
sich als vollkommen ausreichend ftir das Sprachverstandniss. Die 
gesammte Tonreihe wird beiderseits percipirt, nur zeigt sich eine gleich- 
massige Herabsetzung der Horscharfe beiderseits, wie sie weder ftir 
Labyrintherkrankung noch ftir Erkrankung des ausseren 
Gehorapparates charakteristisch ist. Insbesondere ist das von 
Bezold abgegrenzte Gebiet luckenlos vorhanden. AUe tibrigen Sprach- 
functionen sind intaci Einzelne Erscheinungen weisen tiber Sprach- 
taubheit hinaus“ (partielle Seelentaubheit). Eine dritte Attacke mit 
Bewusstseinsverlust und Krampfen ftihrte den Tod herbei. Die Section 
ergab Folgendes: Frische Erweichungen im Pons, im Crus cerebelli ad 
pontem; in der rechten Hemisphare die Ventrikel stark erweitert und 
mit Blutgerinnsel erfttllt; die Ventrikelwande intact; „ftberhaupt in 
Mark und Rinde der rechten Hemisphare kein Herd auf- 
zu fin den. In der linken Hemisphare wird ein grosser frischer Blut- 
herd aufgedeckt. Die Blutung hat eine mit Blutgerinnsel und zer- 
trflmmerter Hirnmasse geftillte Hohle im Mark gebildet, die 2 cm 
hinter dem Stimpol beginnt und bis l i L 2 cm vor den Occipitalpol 


1) Liepmann, „Ein Fall von reiner Sprachtaubheit." Psychiatr. Ab- 
handlungen, herausg. v. Wernicke. 1898. 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkonde. XVII. Bd. 13 


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194 


XI. Veraguth 


reicht, bis in die Hohe der Stelle, an welcher das Hinterhom sich 
Yom Unterhorn trennt Die Blutung hat den Thalamus und den Rest 
des Corpus striatum ganzlich von der Rinde abgesprengt Oben ist 
die Hohle durch den zum Theil erhaltenen Balken begrenzt Seine 
grosste Breite hat der Herd 6 cm hinter dem Stirnpol, wo er einen 
seitlichen Fortsatz in die dritte Stirnwindung sendet. Vom ist der 
Nucleus caudatus und der Linsenkern fast ganz zerstort Durch die 
Zerstorung der grossen Ganglien bilden Vorderhorn und Celia media 
mit der pathologischen Hohle einen Hohlraum. In der Inselgegend 
wird die Hohle kleiner; immerhin ist der grBsste Theil des Corpus 
striatum und der inneren Kapsel, sowie Claustrum und aussere Kapsel 
zerstort Von oben reicht in der Sagittalrichtung ein nach unten ab- 
getrennter, 5 cm langer Rest des Stabkranzes in die Hohle, diese in 
2 Halften theilend. Die Basis der Hohle wird in der Inselgegend 
nur durch eine 3 / 4 cm dicke Platte gebildet, welche das obere Dach 
des Unterhorns bildet Der ganze, oberhalb dieser Platte gelegene 
Stabkranz zum Schlafenlappen ist zerstort. Der sich nach hinten ver- 
schmalernde und spitz in der den Thalamus nach hinten begrenzenden 
Frontalebene endigende Herd bleibt dauemd oberhalb des Unterhorns 
durch die etwa 4 mm dicke Platte, welche hinten den erhaltenen Rest des 
Stabkranzes enthalt, vom Unterhorn getrennt. Unterhorn und Hinterhorn 
ausserordentlich erweitert und mit Blutgerinnsel erftillt, aber intact. 4 * 
Aus diesem Befund glaubt Liepmann schliessen zu mtissen, dass 
die seinerzeit vorhandene Sprachstorung durch einen Herd im Mark- 
lager bedingt gewesen sei. „Leider hat die neue Blutung 44 (finale 
Attacke) „eine ungeheure Zerstorung angerichtet und auch gerade das 
Gebiet betroffen, in welchem der alte Herd zu suchen war, namlich 
das Marklager des linken Schlafenlappens. Ein makroskopischer Nach- 
weis des alten Herdes in der mit Blutgerinnsel und zertrtimmerter 
Himsubstanz erftillten Hohle, welche die Blutung hergestellt hatte, 
liess sich nicht ftihren. Zum Gliick gestattet ein Exclusionsschluss 
schon vor der mikroskopischen Untersuchung unsere Annahme, dass 
der Herd im Stabkranz des linken Schlafenlappens innerhalb des neuen 
Herdes gelegen habe, zu bestatigen 44 ... „ln unserem Fall erwies sich 
namlich die Rinde beider Schlafenlappen als intact. Ja, in der rechten 
Hemisphare ist tiberhaupt kein Herd nachzuweisen. 44 ... „Da sich so- 
mit in den erhalten gebliebenen Theilen des Gehirns der alte Herd 
nicht fand, so muss er in dem zerstorten Gebiet, namlich dem Mark 
der linken Hemisphare gelegen haben. Doppelseitige Labyrinther- 
krankung war ja schon durch den klinischen Befund auszuschliessen. 
Der rechte N. acusticus ist schon mikroskopisch (van Gieson'sche 
und Markscheidenfarbung) untersucht worden und erwies sich als 


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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit. 195 

durchaus normal 44 — Em Bericht tiber die mikroskopische Unter¬ 
suchung der Rinde steht aber ftoch aus. 

Liepmann’s Schlussfolgerung von der Abhangigkeit der Sprach- 
storung von einem subcorticalen linksseitigen Herd ist durchaus nicht 
zwingend. Vorausgesetzt auch, dass seinerzeit im Gebiet des grossen, 
letzten Herdes ein kleinerer Herd in der linken Hemisphere existirte, 
so ist dadurch noch immer nicht bewiesen, dass die Worttaubheit von 
einer Unterbrechung der cerebralen Horbahn abhing. Vielmehr muss 
die M5gHchkeit offen gelassen werden, dass ein solcher Herd indirect, 
durck Stoning der Circulation in der Rinde des Schlafenlappens (Druck- 
wirkung) Ursache der Aphasie war. Angenommen also, dass ein solcher 
Herd fruher yorhanden war, so ist damit aber noch immer nicht die 
endgtiltige Losung der Frage gegeben: Welches ist die minimale Him- 
lasion, welche eben genftgt, um die reine Worttaubheit — und nur 
diese — hervorzurufen? Mangels einer mikroskopischen Untersuchung 
der Rinde scheint der Fall tiberhaupt noch nicht spruehreif, namentlich 
auch rticksichtlich der Frage, ob die rechte Hemisphere unbetheiligt 
gewesen sei. — Ein besonderes Verdienst hat sich Liepmann's Arbeit 
erworben durch eine peinlich genaue Berticksichtigung eventueller 
infranuclearer Gehorsstorungen. Er erweitert den Kreis der tiblichen 
Gehorprttfung durch die Bezold'sche Untersuchung mit der ununter- 
brochenen Tonreihe. — Wie weit die diagnostische Bedeutung dieser 
Untersuchungsmethoden fttr sensorische Aphasien geht, bedarf zwar 
wohl noch der Prttfung. Bezold ging bel der Aufstellung seines 
Lehrsatzes, dass flir das Sprachverstandniss unumganglich nothwendig 
die Tonstrecke b'—g" sei, vom Studium des Gehors bei Taubstummen 
mit Horresten aus. Auch Freund wahlte als Ausgangspunkt fQr seine 
Annahme von dem Sitz der Worttaubheit im Labyrinth die Analogic 
mit Taubstummen. Die Berechtigung dieser Zusammenstellung ist 
aber durch keine pathologisch-anatoraischen Befunde in Labyrinthen 
bei sensorisch Aphasischen bis jetzt erhartet. Wohl aber spricht im 
klinischen Bild ein Umstand direct gegen sie. In den meisten Kranken- 
geschichten (Lichtheim, Ziehl, Liepmann, unser Fall, um die 
klinisch reinsten zu nennen) wird berichtet, dass die Worttauben 
acustischen Eindriicken gegenhber eine gewisse Gleichgtiltigkeit, einen 
Mangel an Aufmerksamkeit entgegenbringen, die scharf contrastiren 
gegen den Eifer, mit dem peripher Schwerhorige acustische Eindrucke 
zu erhaschen suchen, und gegen die seelische Reaction, die sich doch 
wohl bei plotzlich eintretender gewohnlicher Schwerhorigkeit einzu- 
stellen pflegi — Immerhin dtirfte unterstrichen werden, dass in Liep- 
mann’s Fall die genaue Untersuchung des Gehors keine Labyrinth- 
oder Mittelohrstorung ergab. 

13* 


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196 


XI. Veraguth 


Wie verhalt sich nun unser Fall R. zu den bisherigen Ergebnissen 
der Forschung fiber das Wesen der reinen Worttaubheit? 

I. Was das anatomische Substrat der cerebralen Storung betrifft, 
so beweist es fftr’s Erste zur Evidenz, dass ein Patient eine reine 
Worttaubheit par excellence durchmachen kann, ohne einen 
subcorticalen Herd im linken Schlafenlappen zu besitzen. 
Darin erganzt er den Fall Serieux-Dejerine, mit dem er gemeinsam 
hat, dass die Lasion die minimalste war, die bis jetzt durch Section 
von worttauben Gehimen aufgedeckt worden ist; ja noch mehr! 
Dejerine findet in der Rinde der 1. Temporalwindung beiderseits 
Schwund der kleinen Pyramidenzellen, in unseen nach Nissl behan- 
delten Praparaten aus derselben Region waren aber Veranderungen 
gegenfiber normalen Controlpraparaten nicht zu erkennen. Freilich 
artete auch bei Serieux's Kranken die Affection in eine gewohnliche 
Aphasie sensorielle aus, wahrend sie bei R. wahrend ihres kurzen Be- 
standes frei von anderweitigen aphasischen Storungen blieb. 

II. Ferner giebt die Beiderseitigkeit der allgemeinen Atrophie (Ver- 
schmalerung) der 1. Temporalwindun gen eine starke Sttitze ab ffir die 
Annahme von der Bilaterralitat der nothwendigen Rindenerkrankung, die 
durch die Sectionen von Pick, Edgren und Dejerine wahrschein- 
lich gemacht, durch Liepmann's Fall aber noch keineswegs zurfick- 
gewiesen ist. 

HI. Sodann wird durch die Autopsie in unserem Falle demonstrirt, 
dass von der Rinde an ab warts bis zum Acusticus keine mikroskopisch 
nachweisbaren Veranderungen der Horbahn zu bestehen brauchen, 
damit die reine Worttaubheit zu Stande kommt. Nehmen wir dazu 
noch den Umstand, dass das wahrend der Attacke nicht wesentlich 
gestorte und nach derselben sofort und vollstandig leistungsfahige 
Gehororgan direct gegen eine erhebliche Lasion des oder richtiger der 
Labyrmthe spricht, so dtirfte der Fall R. eine Illustration sein zu dem 
Satz, dass die Worttaubheit im Wesentlichen eine corticale, 
resp. eine von der Grosshirnrinde ausgehende Storung ist. 

Doch bleibt bei dieser Schlussfolgerung ein Widerspruch zwischen 
dem klinischen und dem anatomischen Bild zu losen. Wie ist es 
moglich, dass R/s Worttaubheit transitorisch war, dass aber die Section 
eine Atrophie der 1. Schlafenwindung beiderseits aufwies? R. verstand 
demnach nach Ablauf der Attacke das gesprochene Wort trotz be- 
stehender Atrophie der beiderseitigen Gyri temporales I. Daraus ergiebt 
sich der zwingende Schluss, dass nicht einmal dieser Sectionsbefund 
der minimalste ist, der vorausgesetzt werden muss zum Zustandekommen 
der reinen Worttaubheit. Hier muss freilich wiederholt werden, dass 
die Nissl-Praparate keinen befriedigenden Aufschluss gaben fiber die 


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Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaubheit. 


197 


Ursache der Windungsatrophie: ob und welche Zellen in geringer 
Anzahl fehlen oder verkleinert sind, ob anderweitige intracellulare 
Veranderungen vorlagen, oder ob intracorticale Bahnen gelitten hatten. 
Sei dem, wie ihm wolle: die „subcorticale sensorische w Aphasie wird 
in unserem Falle durch den negativen Befund, theilweise wenig- 
stens, in das Bereich der sogenannten fanctionellen Sym- 
ptomencomplexe verwiesen. v 

Damit ist man nun freilich mit der Nachfrage nach der aus- 
I5senden Ursache der transitorischen Worttaubheit bei R. auf Er- 
klarungsversuche zurtlckgewiesen. Doch bieten Krankengeschichte und 
Autopsie eine plausible Erklarung des Phanomens. Vergegenwartigen 
wir uns, dass Patient an Sklerose der Himarterien litt und dass sich 
im Lauf der Beobachtung ein Herzfehler manifestirte. Derselbe mag 
vielleicht schon frtlher, schon seit dem Typhus vor 22 Jahren, be- 
standen haben. Jedenfalls aber gingen erst dem Anfall von Wort¬ 
taubheit Compensationsstorungen des Herzens voraus. Durch Alkohol- 
genuss schadigte der Patient seinen defecten Circulationsapparat in 
noch hbherem Grade, und dies konnte geniigen, um in dem betreffenden 
Ast der Art foss. Sylvii eine locale Ernahrungsstorung leichterer, vor- 
tibergehender Art zu provociren, durch welche die aus anderen Griinden 
schon irgendwie defecte (leicht atrophische) graue Substanz der Schlafen- 
windungen in noch schlechtere Circulations verhaltnisse kam. Dadurch 
wurde die Reizschwelle der corticalen Neurone derart erhbht, dass 
die von der Peripherie kommenden Reize nicht mehr gentigten zur 
Auslosung der associativen Arbeit des Wortverstandnisses, wahrend 
sie eben noch ausreichten fttr die Wahrnehmung und flir das Verstand- 
niss von Gerauschen des taglichen Lebens. Auf den causalen Zusammen- 
hang zwischen Circulations- und Sprachstorung weist auch die That- 
sache, dass R. bei einem friiheren, leichteren Anfall die Worttaubheit 
will zum Verschwinden gebracht haben dadurch, dass er sich biickte — 
also jedenfalls durch eine Aenderung der Circulation im Schadel; 
ferner dadurch, dass ein heftiges Nasenbluten — also wieder eine 
starke Druckschwankung in den Gefassen des Kopfes — die Besserung 
des Zustandes herbeifiihrte. — Ein anderes Agens, das in diesem Falle 
vielleicht mit ebenso viel Wahrscheinlichkeit als auslosende Ursache 
kann angesprochen werden, ist der Alkohol, den R. — nach seiner 
Angabe nach 6jahriger Abstinenz — kurz vor dem Anfall zu sich 
genommen hatte. Die Moglichkeit ist nicht abzuweisen, dass die schon 
minderwerthigen (atrophischen) Schlafenwindungen fGr das Gift eine 
besondere Affinitat besassen, die sich dann durch die Worttaubheit 
ausserte. 

IV. Was die Frage nach der Mitbetheiligung des Labyrinths am 


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198 XI. Vebaguth, Ueber einen Fall von transitorischer reiner Worttaabheit. 

Krankheitsbild anbelangt, ist allerdings einzuraumen, dass die Gehor- 
priifung in unserem Fall nicht in erschopfender Weise vorgenommen 
wurde. Das attacken weise Auftreten der Worttaubheit, das rasche 
Einsetzen und Abklingen derselben, femer das Fehlen jeder auffallenden 
Gehorsstorung im spateren Yerlauf sprechen aber deutlich gegen eine 
Labyrintherkrankung, die zudem auch an beiden Ohren gleichzeitdg 
und acut hatte auftreten mtissen. Ftir eine Mitbetheiligung dieses 
Organs spricht in unserer Krankengeschichte nur das Auftreten von 
beidseitigen subjectiven Gerauschen. Doch bleibt dahingestellt, ob 
dieses Ohrensausen in die Labyrinthe zu localisiren oder nicht schliess- 
lich auch centralen Ursprungs sei — moglich, dass sie mithalf, den 
corticalen Yorgang des Wortverstandnisses zu erschweren. 

Die Behauptung, dass periphere Storungen des Gehors bei der 
reinen Worttaubheit eine Rolle spielen mtissen, wird tibrigens direct 
widerlegt durch die extrem genaue Gehoruntersuchung inLiepmann's 
Fall, wo keine oder nur sicher belanglose Hordefecte festgestellt wurden. 

Soli aus dem Vorhergehenden der gegen wartige Stand der Frage 
tiber das Wesen des besprochenen Krankheitsbildes resumirt werden, 
so lassen sich folgende Satze aufstellen: 

Das primare cerebrale Substrat der reinen Worttaub¬ 
heit ist nicht eine Unterbrechung der subcorticalen Hor- 
bahn im Mark des linken Schlafenlappens; vielmehr gentigt 
eine einfache Atrophie der ersten Schlafenwindungen — 
wahrscheinlich beider Hemispharen — als anatomische 
Grundlage, um beim Hinzutreten eines secundaren (circu- 
latorischen, toxischen, functionellen) Momentes die reine 
Worttaubheit zu bedingen. 

Das klinische Bild der reinen Worttaubheit bleibt, so wie es 
Lichtheim zuerst beschrieben hat, zu Recht bestehen. Die Beob- 
achtung der Autoren beztiglich begleitender peripherer Gehorsstorungen 
machen es wahrscheinlich, dass diesen in gewissen Fallen eine Rolle 
in der Genese der Worttaubheit zukommt. Dieselbe kann aber nur 
eine secundare sein. 

Beztiglich der Nomenclatur diirfte die vielfach noch gebrauchliche 
Bezeichnung „subcorticale sensorische Aphasie u zu ersetzen 
sein durch die anatomisch nichts prajudicirende und den Kern der 
Sache treffende Benennung „Surdite verb ale pure* 4 der Franzosen, 
die „reine Worttaubheit 44 . 


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XII. 


Vertigo auralis hysterica. 

Zur Frage der Hamver&nderungen nach den AnfaUen der grande hystdrie. 

Yon 

PriTatdocent Dr. Bybalkin, 

Oberarzt der Nervenabtheilnng dee Marienhospitals in St. Petersburg. 


Wie bekannt, wird der Meniere’sche Symptomencomplex ge- 
w5hnlich angetroffen einerseits bei organischen Storungen der ein- 
zelnen Theile des Gehorapparates, andererseits bei mehr oder weniger 
direct einwirkenden Reizvorgangen im Ohr. Zu den letzteren 
gehoren Ausspritzungen, Katheterisirung, Galvanisation, beftige Gehors- 
reize, ferner rasche Umdrehungen des Korpers, hoher Seegang. Ausser 
diesen Bedingungen linden sich Schwindel, Erbrechen und Ohrensausen 
(anfallsweise auftretend) auch bei Personen mit intactem Gehorapparat 
und ohne aussere Reize. Diese sogenannten pseudomeniereschen An- 
falle werden sehr selten bei der Hysterie angetroffen als Aura des 
hysterischen Anfalls, dann auch bei der Epilepsie und endlich bei an 
Migrane leidenden Personen. 1 ) 

Die nachstehende Beobachtung gehort der letzteren Gruppe von 
Krankheiten an; der pseudomeniere’sche Schwindel trat in eigen- 
artiger Weise, ohne organische Veranderungen des inneren Ohres ent- 
weder als Aura des hysterischen Anfalls oder aber selbstandig auf. 

J. T., 24 Jahre alt, wurde auf der Strasse in besinnungslosem Zu- 
stande gefunden und sofort (1. April 1898) in das Marienhospital ge- 
bracht Pat. erlangte die Besinnung erst in der Anstalt wieder. 

Anamnestisch liess sich feststellen, dass Pat. seit 1895 an Krampf- 
anf&llen mit Bewusstseinsverlust und (mitunter) mit Zungenbiss leidet 
Der erste Anfall trat im Januar 1895 auf dem Lande auf: Pat. erwachte 
Nacbts, wollte sich erheben, da „begann es ihn nach der linken Seite zu 
ziehen tt , und er verlor das Bewusstsein. Als er zu sich kara, bemerkte er, 
dass er sich in die Zunge gebissen hatte; ausserdem empfand er Uebelkeit, 
Kopfweh und Gliederschmerzen. Vier Monate sp&ter war der zweite An¬ 
fall, in Petersburg, am Morgen friih, beim Aufstehen. Seit der Zeit wieder- 
holten sich die Anftllle alle 2—3 Monate. Im letzten Jahre h&uften sich 
die Anf&lle derart, dass sie allwochentlich auftraten. Pat. soil in der 

1) Frankl-Hochwart, „Der Meniere’sche Symptomencomplex“ in Noth- 
nagePs Handb. d. spec. Path. u. Therapie. 


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200 


XII. Rybalkin 


Kindheit an Somnambnlismus gelitten haben, sprang vom Bett auf, lief im 
Zimmer nmher und war anfanglich nicht im Stande, sich zn orientiren. 
Im Jahre 1889 hat er anscheinend einen Typhus im Botkin’scben Baracken- 
hospital dnrchgemacht. 1892 lag er im Obuchowhospital krank wegen 
eines Erysipels am rechten Unterschenkel. Mit 13 Jahren kam Pat. nach 
Petersburg, wo er im Sommer das Malerhandwerk betrieb, im Winter aber 
in einer Handschuhfabrik arbeitete. Zu derselben Zeit begann Pat. fast 
t&glich zu masturbiren, was er bis zum 20. Lebensjahre fortsetzte. Mit 
19 Jahren hatte er die ersten normalen geschlechtlichen Beziehungen, blieb 
aber sehr m&ssig darin und hbrte nicht auf, ausserdem zu masturbiren. 
Syphilis und Gonorrhoe hat er nicht gehabt. Alkoholmissbrauch wird 
ebenfalls in Abrede gestellt. Bis zum ersten Krampfanfall hat er weder 
an Schwindel noch an Absencen gelitten. Als Maler war Pat. Sfters ge- 
nothigt, in verschiedenen, oftmals gefahrlichen Stellungen zu arbeiten, ohne 
dass ihm dabei je das Geringste zugestossen ware. Etwa vor einem Jahr 
trat ein Gefuhl von Schwere und Schmerzen, von mitunter stechendem 
Charakter, in der linken Schlafen- und Hinterhauptgegend auf. Dumpfen 
Schmerz, welcher sich wahrend der Anfalle steigert, empfindet er best&ndig. 
Endlich klagt Pat. iiber dauerndes Ohrensausen links und verschiedenartige 
Ger&usche (bald wird das Ohr „verlegt w , bald „zugegossen a u. s. w.). 

Der Vater des Pat. starb nach einer Erkaitung, war kein S&ufer. Die 
Mutter und 4 Geschwister leben und sind gesund. 

Status praesens. Der Pat. ist von mittlerem Wuchs und Kbrperbau. 
Am knochemen Schadel keine Abnormitaten. 

Der harte Gaumen spitz und hochgewolbt. Behaarung normal. Die 
Gesichtsfarbe wechselt schnell: bei der geringsten Erregung wird sie 
dnnkelrothbraun bis cyanotisch. Die Hande sind kalt und cyanotisch, 
feucht, desgleichen die Fiisse. Die Conjunctiven bedeutend hyper&misch. 
Deutliche Dermatographie. Wahrend der Untersuchung fallen kurz- 
dauernde Zuckungen in den Gesichts- und Halsmuskeln auf (Masseteres, 
Temporales, Sternocleidomastoidei). Bei Augenschluss heftiger Lid tremor. 
Der gleiche Tremor in den vorgestreckten Handen, in der Zunge fibrillfcre 
Zuckungen. Der erw&hnte Tremor verstarkt sich bei jeder Erregung und 
pflanzt sich auf andere Korpertheile fort. 

Active Beweglichkeit frei. Die Muskelkraft in den linken Extremitaten 
ein wenig herabgesetzt. 

Am Dynamometer links 19, rechts 45 kg. Kein Romberg’sches Zeichen. 
Die Sensibilitat aller Arten ist in der linken Korperhalfte herabgesetzt, 
wobei die Herabsetzung fiir K&ltereize am auffailigsten ist. 

Anasthesie der Conjunctiva, Sklera und theilweise der Hornhaut. Linker- 
seits An&8the8ie der Nasenschleimhaut, des weichen Gaumens und Rachens. 

Geschmack und Gerucb links bedeutend herabgesetzt, desgleichen das 
Gehor und die knocherne Leitungsfahigkeit. 

Der Rinne’sche und WebeFsche Versuch fallen positiv aus. Beider 
otoskopischen Untersuchung werden keine Veranderungen wahrgenommen 
(Dr. Neumann). 

Pat. hat keinerlei Ohrerkrankungen in der Kindheit iiberstanden. Das 
Gesichtsfeld ist beiderseits gleichmassig unbedeutend verengt, die Farben- 
empfindung ist normal; die Pupillen sind gleichweit, reagiren gleich gut 
auf Lichteinfall, Convergenz und Schmerzreize. 


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Vertigo auralis hysterica. 


201 


Augenhintergrund normal (Dr. Sergijew). Ueber der linken Mamilla 
und im linken Hypochondrium Schmerzpunkt. Hinter dem linken Ohr 
befindet sich eine hysterogene Zone, deren Reizung Scbwindel und mit- 
unter hysterische Anfklle hervorruft. 

Die Patellarreflexe Bind gesteigert, die Reflexe der Achillessehnen 
normal. Die Soblenreflexe Bind herabgesetzt, der Bauchreflex ist recbts 
lebhafter. Cremasterreflexe gleich und normal. Der Wiirgreflex fehlt links, 
de8gleichen der Reflex von der Nasenschleimhaut linkerseits. Blase und 
Mastdarm ohne Stbrungen. 

Eine lfcngere Beobachtung erst liess beim Pat. 2 Hauptarten von An- 
fftllen unterscheiden. Der ganz leicbte Anfall beginnt damit, dass der Pat. 
„einen Schlag vor den Kopf* empfindet, gleichzeitig tritt Schwindel, links 
Obrensausen („zugegossen u ) auf, die Bi*ust und der Hals werden zugeschniirt 
(„wie erwiirgt u ), die Nares bl&hen sich auf und die Athmung wird tiefer; 
h&ufig kommen hinzu ruckweise Zuckungen des Kopfs nacb links nnd 
Wendung des ganzen Korpers nach derselben Seite. Bei einem 
heftigeren Anfall kehrt sich der Pat. nach der linken Seite und vollfiihrt dabei 
1—2 Umdrehungen urn die Verticalaxe des Korpers, ohne dabei zu fallen; 
das Bewusstsein ist erhalten, obwohl er im Verlaufe einiger Secunden nicht im 
Stande ist, Antworten zu ertheilen; mitunter scbliesst der Anfall mit Uebelkeit. 

Ausser diesen Insulten wurden beim Pat. schwere Anf&lle mit Be- 
wus8tseinsverlust beobacbtet; sie beginnen, wie oben beschrieben, nur ver- 
breiten sich die linksseitigen Zuckungen mit Ablenkung der Augen u. s. w. 
auf den ganzen Korper. Dazu gesellen sich Spannung in der gesammten 
Kbrpermusculatur, Cyanose, die Athmung wird schnarchend, dann wird das 
Gesicht des Pat. blass, es treten klonische Zuckungen auf, der Kranke 
w£lzt sich nach links, Schaum (mitunter blutig verf&rbt) tritt aus dem 
Munde, endlich Somnolenz, Uebelkeit und Erbrechen. Einige Male schloss 
sich an die epileptoide Periode eine Phase des Clownismus in der Form 
des Arc de cercle an. Die Schwindelanfalle (nach Art der Meni^re’schen) 
treten mehrmals t&glich (bis 30 mal) auf, besonders wenn der Pat. sich 
zu Bett legt oder eine Treppe hinabsteigt. Es erwies sich, dass die kleinen 
Anf&lle leicht experimentell hervorgerufen werden konnen: man lksst nur 
den Kranken auf 1—2 Minuten die Augen schliessen, dann wird die Ath¬ 
mung tiefer, das Gesicht cyanotisch, der Kopf wird ruckweise nach links 
gezogen, die Lider offnen sich, beide Augen werden nach links abgelenkt und der 
Kranke macht eine halbe oder ganze Drehung nach links urn seine verticale Axe. 

Vor dem Auftreten des grossen Anfalls bemerkt die Umgebung tags- 
iiber, dass Pat. nachdenklich, schweigsam wird. Tritt Nachts ein Anfall 
auf, so springt Pat aus dem Bett und dann vollzieben sich die obener- 
wahnten Erscheinungen. Der Kranke w&lzt sich mit solcher Gewalt nach 
links, dass er tiber die weicheu Schutzbretter, zwischen denen er liegt, hin- 
ausgedr&ngt werden und zu Boden fallen wiirde, wenn nicht rechtzeitig 
Htilfe zur Hand w&re. Pat. erinnert sich stets des gehabten Anfalls. Nie 
hat er w&hrend des Anfalls Harn oder Koth unter sich gelassen. Nach den 
klonischen Zuckungen des grossen Anfalls schl&ft er gewbhnlich kurze 
Zeit, dann wacht er auf und kann, wenn es Nachts geschieht, lange nicht 
wieder einschlafen, wobei er heftige Kopf- und Gliederschmerzen nebst 
Druck auf der Brust verspiirt 

Der Harn wurde systematisch untersucht; er ver&ndert sich deutlich 


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202 


XJI. Rybalkin 


nach dem Anfalle, besonders auffallend waren die Ver&nderungen im erst- 
gelassenen Harn (Urine primaire). Schon ausserlich nnterschied sich diese 
Portion dentlich von dem vor dem Anfalle gelassenen Ur in durch schwache 
Farbung, ja fast vollige Farblosigkeit, Fehlen jeden Gernchs, neutrale 
Reaction, niedriges specifisches Gewicht (1001—1005), die Quantity der 
ersten Portion (bis 700 und 1000 ccm). Alles das bildete einen scharfen 
Contrast zu dem Urin vor dem Anfalle. Eiweiss und Zucker warden nicht 
gefunden, ebensowenig Cylinder. Zum Vergleich fUlire ich 2 genane 
Analysen des Hams vor nnd nach dem Anfall an, die ebenso wie die 
folgenden Untersuchungen im Laboratorium des Prof. Poehl, dem ich hier- 


mit meinen Dank ausspreche, ausgefiihrt warden. 

Vor dem Anfall 

29. Januar 9. April 

Nach demselben 

29. Mai 9. April 

Harnstoff 

12,84 °/ 0 o 

19,66 % 0 

5,18 °/ 00 

5,34 0 00 

Harnsaure 

0,30 

0,39 

0,12 

0,11 

Chlornatrium 

7,90 

7,40 

5,20 

5,30 

Phosphorsaure 

1,02 

1,42 

0,26 

0,18 

Schwefelsaure 

0,92 

1,52 

0,32 

0,42 

GesammtN-Gehalt 

6,71 

10,25 

2,72 

2,79 

Ptomaine und Urate 

2,38 

3,65 

0,99 

0,99 

Zucker 

0 

0 

0 

0 

Eiweiss 

0 

0 

0 

0 

Spec. Gew. 

Verhaltniss des N im| 

1014 

1016 

1005 

1003 

Harnstoff zum Ge-| 
sammtstickstoff (Ro¬ 
bin’s Coefficient) J 
Verhaltniss des Ge-1 

89,27:100 

89,46:100 88,97:100 
unter der Norm 

89,25:100 

sammtN-Gehalts zum 
Phosphorsaure-Gehalt 1 
(Ziilzer’s Coeff.) J 
Verhaltniss der Harn- 

100:15,2 

100:13,9 100:10,3 

unter der Norm 

100:6,5 

s Stare zu der Phos- 

0,30:0,88 

0.39:1.20 

0.12:0.13 

0,11:0,12 

phorsaure in Form des 
doppelphosphorsauren 
Natron (Zerner’s 
Coeff.) 

Verhaltniss der Ge- 

• = 0,34 

= 0,33 = 0,92 

also vermehrt 

= 0,92 

sammtphosphorsaure 

100:86,3 

100:84.5 

100:46,4 

100:66,7 

zur Phosphorsaure in 
Form ihres Natron- 
salzes (Poehl’s Coeff.) 

normal 

unter normal 

normal. 


Die inneren Organe waren gesund. Temperatur normal. Einige Male wurde 
vor dem Anfall eine kleine Erhohung bis auf 37.6 und 38,2° beobachtet; nach 
dem Anfall fiel die T° auf 36°. Herz normal, leicht erregbar. P. 80—112. 


So haben wir denn, kurz zusammengefasst, einen Patienten von 
24 Jahren vor uns mit einer linksseitigen Hemiparese, einer fast volligen 


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Vertigo auralis hysterica. 


203 


Anasthesie der linken Korperhalfte und mit hysterischen Stigmata, 
der an zweierlei Krampfanfallen leidet. Die leichte Form dieser Par- 
oxysmen besteht in Schwindel, linksseitigem Ohrensausen, Drehen des 
Eopfes und darauf des ganzen Korpers nach der linken Seite, wobei 
der Kranke mitunter mehr als zwei Umdrehungen nach links um die 
Verticalaxe seines Korpers macht. Die Besinnung ist wahrend dessen 
mehr oder weniger wohlerhalten. 

Bei dem schwereren Typus der Anfalle tritt nach den oben- 
erwahnten Einleitungsstadien Bewusstseinsverlust und die epileptoide 
Phase des grossen hysterischen Anfalls ein, welch letztere einige Male 
in Clownismus tiberging. 

Als der Patient ins Hospital aufgenommen wurde, konnte an das 
Bestehen epileptischer Anfalle gedacht werden. Zu Gunsten einer 
solchen Annahme schien zu sprechen, dass die Krampfanfalle mitunter 
Nachts auftraten und mit vfilligem Bewusstseinsverlust einbergingen, 
ferner dass Zungenbiss festgestellt wurde. Nach Auffindung der hyste¬ 
rischen Stigmata war es klar, dass der Patient an Hysterie litt, doch 
schliesst diese ja das gleichzeitige Bestehen der Epilepsie nicht aus. 
Bald iiberzeugte uns die feraere Beobachtung, dass die schwereren 
Anfalle mit Bewusstseinsverlust der grande hysterie angehorten. 
Ungeachtet dessen, dass die Anfalle manchmal Nachts auftraten, er- 
hielten sie sich vollig im Gedachtniss des Patienten, was bei der 
Epilepsie nicht vorzukommen pflegt; nach epileptischen Anfallen bildet 
Amnesie die Regel, und oft erratben die Patienten nur aus dem be- 
stehenden Zerschlagenheitsgeftihl, dass sie einen Anfall fiberstanden. 

Niemals liess unser Kranker im Anfall Harn oder Koth unter 
sich gehen. Der Zungenbiss, das gewohnliche Symptom der Epilepsie, 
wird nur ausnahmsweise bei Hysterie beobachtet. 

Die bei unserem Kranken bei der geringsten Erregung auftretenden 
klonischen Zuckungen der Kaumuskeln verstarkten sich beim Anfall 
und konnten naturgemass zu Zungenbiss Veranlassung geben, woher 
diese Erscheinung auch ofter bei unserem Kranken vorkam. Die 
grossen Anfalle beginnen beim Patienten stets mit den Erscheinungen 
der leichteren Form — einer hysterischen Aura, welche leicht hervor- 
zurufen ist auf dem Wege des Experiments und vermittelst der Ge- 
mfithsbewegungen. Schliesst man dem Kranken nur auf 1—2 Minuten 
die Augen, so tritt die Aura auf. Aehnliches wird nie bei Epilepsie 
beobachtet, deren Paroxysmen charakteristischer Weise stets unerwartet 
auftreten und gewohnlich nicht experimentell hervorgerufen werden 
konnen. Auch die Differenzen der Harnzusammensetzung sind in 
unserem Fall recht ausgesprochen. Die Menge des nach dem Anfall 
zuerst gelassenen Urins (Urine primaire) ist betrachtlich; von 20 Be- 


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204 


XII. Rybalkin 


obachtungen ist das Mittel 650 ccm (Min. 200, Max. 1000), folglich 
Polyurie. Das specifische Gewicht ist im Mittel 1005—1006(Min. 1001, 
Max. 1009). Reaction neutral. Farbe sehr hell, immer heller als der 
vor dem Anfall gelassene Urin; kein Zucker, kein Eiweiss. Wie aus 
der obigen Tabelle erhellt, sind die Quantitat des N, der Hamsaure, 
Schwefelsaure, der GesammtN-Gehalt und die Leukomaine betrachtlich 
herabgesetzt. Besonders niedrig ist der Gehalt an Phosphorsaure, die 
von 1,02—1,42 °/ 00 vor dem Anfall, auf 0,28—0,18 nach demselben 
fallt, also um etwa 4—5 mal sich vermindert Die Menge der Hbrigen 
Bestandtheile verringert sich um das 2—3fache. 

Ebenso verandert sich auch das Verhaltniss der Phosphorsaure 
zum GesammtN-Gehalt, das normaler Weise nach Neugebauer und 
Vogel = etwa 1 : 7 ist; bei unserem Patienten hingegen vor dem 
Anfall 1 : 6,6 und 1 : 9,7 und nach demselben 1,72 und 15,5. Das 
Verhaltniss der Hamsaure zu der Phosphorsaure (als doppelt-phosphor- 
saures Natron) steigt von 0,34—0,33 auf 0,92 nach dem Anfall. Durch 
diese Veranderungen unterscheidet sich der hysterische Ham sehr be¬ 
trachtlich von dem nach epileptischen Anfallen gelassenen Urin. Im 
epileptischen Ham ist die Menge der Hamsaure fast stets Yermehrt 
(Lepine 1 ), Haig 2 ), Krainsky 3 ) u. A.), ebenso steigt der Phosphorsaure- 
gehalt fast bestandig(Mairet 4 ), Ztilzer 5 ), Lailler 6 ), Krainsky u.A.). 

Ausser den obenerwahnten Harnveranderungen nach dem hyste- 
rischen Anfall, die in den Hauptztigen von vielen Autoren (Briquet 7 ) 
u. A.) bemerkt wurden, haben Gilles de la Tourette und Cathe- 
lineau 8 ) noch Veranderungen im Verhaltniss der phosphorsauren Salze 
gefunden. Wahrend im normalen Urin das Verhaltniss der phosphor¬ 
sauren Erden (Calcium und Magnesium) zu den phosphorsauren Alkalien 
oder das Verhaltniss des Gehalts an P 2 0 5 , dem Phosphorsaureanhydrid, 
in diesen Salzen 1: 3 betragen soli, ist im Ham nach dem hyste- 
rischen Anfall dieses Verhaltniss =1:1; diese Thatsache bezieht sich 
nicht nur auf den zuerst gelassenen Harn (Urine primaire), sondem 
auch auf den Tagesharn nach dem Anfall. Um den Unterschied 
zwischen den beiden Portionen (des erstgelassenen und des Tagesharns, 

1) Lupine et Jaquin, R4v. mensuelle de M6decine et Chir. 1879. 

2) Haig, Brie. acid, as a factor in the consation of disease. 1894. 

3) Krainsky, StofFwechseluntersuchungen bei Epilepsie (russ.). 1895. 

4) Mai ret, Recherches sur l’dlimination de l’acide phosphor, etc. 1884. 

p. 208. 

5) Zfilzer, Untersuchungen fiber die Semiologie des Haras. 

0) Lailler, Sur Pelimination de l’acide phosphorique etc. l’Encephale. 
1885, 1. 

7) Briquet, Traits de Thyst^rie. 1859. p. 521. 

8) Gilles de la Tourette, Traite de l’hyst^rie. I. 1895. p. 97. 


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Vertigo auralis hysterica. 


205 


Urine primaire et secondaire) zu erlautern, gebe ich zwei diesbeztigliche 
Analysen wieder: 

Erster Harn 

3. VI. nacb dem Anfall der tibrige Tagesharn 


Harnstoflf 

Harnsaure 

Chlornatrium 

Phosphorsaure 

Schwefelsaure 

GesammtN-Gehalt 

Leukomaine 

Phosphorsaure Sake (Ca u. Mg) 
» „ (K u. Na) 

Specifisches Gewicht 
Farbe 
Reaction 


7,09 °/ 00 

26,15 \ 

0,12 „ 

0,38 „ 

7,15 „ 

9,20 „ 

0,18 „ 

1,94 „ 

0,47 „ 

1,98 „ 

9,77 „ 

13,73 n 

1,54 „ 

5,21 r 

0,06 „ 

0,54 „ 

0,12 „ 

1,4 „ 

1009 

1021 

1002 (nach V ogel) 

1007 

neutral 

sauer 


Aus dem Vergleicb beider Analysen erhellt der grosse Unterschied 
zwischen den zwei Portionen. Die „Urine primaire" enthalt fast 10 mal 
weniger Phosphorsaure und phosphorsaure Sake und ausserdem be- 
deutend weniger feste Bestandtheile als die „Urine secondaire 44 . Das 
Verhaltniss des Phosphorsaureanhydrids in der Form der Ca- und 
Mg-Salze einerseits und der K- und Na-Salze andererseits ist im 
zuerst gelassenen Urin = 1:2, im tibrigen Tagesharn = 1:2,6. Also 
ist das Verhaltniss fast gleich in beiden Portionen. 

Dafttr andert sich aber das Verhaltniss des Gesammtphosphor- 
sauregehalts zu dem GesammtN-Gehalt betrachtlich. In der ersten 
Portion ist es = 1:21, in der zweiten aber =1:7, d. h. normal, 
wahrend die ersten Zahlen weit unter der Norm sind. Folglich be- 
statigen unsere Analysen die Inversion der Phosphatformel 
(rinversion de la formule des phosphates) nicht und zeigen: erstens 
eine bedeutende Herabsetzung des Gehalts an fester Substanz und 
insbesondere der Phosphorsaure im zuerst gelassenen Harn, und 
zweitens eine betrachtliche Verringerung des Verhaltnisses der 
Phosphorsaure zum Gesammtstickstoflf in demselben Harn. 

Um zu zeigen, in wie weit unsere Untersuchungen die Behaup- 
tungen Gilles de la Tourette's und Cathelineau's bestatigen, 
dass die Aenderung in dem Verhaltniss der Phosphate zu einander 
sich nicht nur auf die erste Portion, ssndem auch auf den gesammten 
Tagesharn bezieht, flihren wir noch eine Analyse der zwei Ham- 
portionen an und zwar des Harns vor dem Anfall und des Tagesharns 
nach demselben: 


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206 


XII. Rybalkin 


13. VI. Vor dem Anfall 

Nach dem Anfall 

Harnstoff 

19,t4 

16,30 

Harnsaure 

0,42' 

0,39 

Chlornatrium 

7,60 

0,95 

Phosphorsaure 

1,52 

1,29 

Schwefelsaure 

1,44 

1,24 

Gesammtstickstoff 

10,06 

8,70 

Leucomaine 

3,73 

3,60 

P 2 0 5 als Ca und Mg-Salze 

0,41 

0,24 

P 2 0 5 als K- und Na-Salze 

1,06 

1.00 

Zucker 

0 

0 

Eiweiss 

0 

0 

Specifisches Gewicht 

1015 

1015 

Reaction 

sauer 

alkalisch. 


Vergleichen wir diese Resultate, so finden wir nicht so schroffe 
Gegensatze in der Zusammensetzung, wie wir sie beim Yergleicb des 
Harns vor dem Anfall und der ersten Portion nach demselben erhielten; 
gleicbwohl sind die Bestandtheile des nacb dem Anfall gelassenen 
Urins ein wenig herabgesetzt. Das Verhaltniss der Phosphate vor dem 
Anfall ist = 1:4,47, nach demselben = 1:4,17, folglich handelt es 
sich nur um einen geringen Unterschied. Das Verhaltniss der Ge- 
sammtphosphorsaure zum Gesammtstickstoff ist vorher = 1:6,6, nach- 
her = 1:7, d. h. in beiden Fallen normal 

Alle diese Analysen zeigen, dass nur die erste Harnportion 
fiir den hysterischen Anfall charakteristisch ist, denn in derselben 
findet sich eine bedeutende Verminderung aller festen Be¬ 
standtheile und hauptsachlich eine Herabsetzung derPhos- 
phorsaure selbst und ihres Verhaltnisses zum Gesammtstick¬ 
stoff; ausser den sch on ausserlichau f fallen den Veranderungen 
der Farbe, der Menge und des specifischen Gewichts. 

Ausserdem beweisen die Analysen, dass die Inversion der Phosphat- 
formel im Gegensatz zu der Behauptung von Gilles de laTourette 
und Cathelineau nicht immer vorkommi Uebrigens betonen die 
genannten Autoren anlasslich einiger Erwiderungen auf ihre Behaup¬ 
tung von der Umkehr der Phosphatformel, dass ffir den hysterischen 
Urin alle Veranderungen desselben gleichzeitig mit der Umkehr 
der Phosphatformel charakteristisch seien. 

Alle Veranderungen des Urins unseres Kranken weisen also auf 
einen hysterischen und nicht auf einen epileptischen Anfall hin, im 
letzteren Fall hatten wir gerade entgegengesetzte Resultate zu erwarten. 
Ungeachtet der epileptoiden Phasen, der Aehnlichkeit derselben mit 


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Vertigo auralis hysterica. 


207 


der Epilepsie und der Zungenbisse sehen wir uns genothigt, den 
hysterischen Charakter der Anfalle ftir unbestreitbar zu halten. 1 ) 

Bei Betrachtung der kleinen Anfalle oder der bysterischen Aura 
mlissen wir gestehen, dass die Aura den Charakter des Meniere’schen 
Schwindels tragt und zwar in sehr ausgepragtem Maasse, denn ausser 
dem Schwindel, dem Ohrensausen, dem mitunter beobachteten Er- 
brechen bestanden Drehbewegungen des Korpers um die verticale Axe 
stets nach links hin. Die otoskopische Untersuchung und das positive 
Resultat des Weber- und Rinne'schen Versuches beweisen wohl eine 
Unversehrtheit des leitenden Apparats und ein Fehlen organischer 
Erkrankungen des innern Ohres. Die linksseitige Herabsetzung des 
Gehors und der knochernen Leitungsfahigkeit miissen wohl als Theil- 
erscheiuung der linksseitigen Hemianasthesie unseres Patienten be- 
trachtet werden. 

Auf Grund dieser Ueberlegungen und der Annahme, dass die An¬ 
falle unseres Kranken zweifellos hysterischen Ursprungs sind und dass 
die Aura nur eine Theilerscheinung des grossen hysterischen Anfalls 
ist, diirfen wir schliessen, dass es sich liier um eine vertigo auralis 
hysterica oder einen pseudomeniereschen Anfall nach Frankl- 
Hochwart handelt. 

Aehnliche Beobachtungen sind, soviel mir bekannt, nur zweimal 
in der Literatur veroffentlicht worden. Gilles de la Tourette be- 
schreibt einen solchen Fall als attaque hysterique a forme de vertige 
de Meniere; die Kranke war Gegenstand einer klinischen Vorlesung 
Charcot’s am 24. Mai 1887. Die Patientin, eine Hysterica, litt an 
Ohrensausen rechts mit Pfeifen und Schwindel, manchmal mit Er- 
brechen. Der Schwindel war so heffcig, dass Patientin mitunter hin- 
stiirzte; einmal Nachts fiel sie sogar aus dem Bett. Sie fiel immer 
nach rechts hin; auf dieser Seite war sie hemianasthetisch und hemi- 
paretisch. Der Anfall endete mit Weinen. Die Untersuchung des 
Ohrs und des Allgemeinzustandes wies zweifellos auf den hysterischen 
Charakter der Storung hin. 

Ein zweiter, weniger klarer und lehrreicher Fall (Halischek’s) 
wird von Frankl-Hochwart 2 ) in seiner Arbeit fiber den Meniere- 
schen Symptomencomplex mitgetheilt. Eine 28jahrige Kranke mit 
schwerer neuro- und psychopathischer Belastung litt an anfallsweisem 
Schwindel, Ohrensausen und Erbrechen (vom 10. bis zum 12. Lebens- 
jahre). Im Alter von 28 Jahren stellte sich plotzlich Nachts Schwindel 
ein, das Bett drehte sich, wahrend in den Ohren ein solches Gerausch 

1) Auch die vergeblichen therapeutischen Versuche mit grossen Bromgaben 
bestatigen wohl unsere Annahme. 

2) 1. c. 8. 31. 


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208 


XII. Rybalkin, Vertigo auralis hysterica. 


war, dass die Kranke kaum verstand, was man ihr sagte; ausserdem 
traten Gehorshallucinationen auf, deren sich Patientin in der Folge 
erinnerte. Die Resultate der Untersuchungen des Hams and des 
Nervensystems waren negativ; das Gehor intact, keinerlei Veranderungen 
des Gehorapparates. 

Nur in diesen zwei Fallen scheint der hysterische Anfall unter 
dem Bilde des Meniere'schen Schwindels aufgetreten zu sein. Bei 
unserem Kranken traten die Meniere’schen Symptome entweder als 
selbststandiger hysterischer Anfall, aber yon leichtem Typus, oder aber 
als Aura des schweren hysterischen Anfalls auf. 

Es mag noch darauf hingewiesen werden, dass unser Kranker auf 
der Seite der Hemianasthesie und Hemiparese und der Herabsetzung 
des Horvermogens haufig an Ohrensausen, Zugegossensein des Ohres 
und anderen subjectiven Gehorsstorungen im Bereich der linken 
Schlafengegend litt, woriiber er haufig klagte. Solche subjectiven 
Empfindungen bei hysterischer Gehorsherabsetzung sind von Briquet, 
Rosenthus, Desbroski 1 ) geschildert worden. Ausserdem hat unser 
Patient am oberen Theil des linken Processus mastoideus eine hyste- 
rogene Zone; Druck auf dieselbe bewirkt Auftreten einer hysterischen 
Aura in der Form des Meniere’schen Schwindels oder mitunter auch 
eines Anfalls der grande hysterie. 

Wie oben erwahnt, konnte durch Augenschluss ein kleiner oder 
pseudomenierescher Anfall experimentell bei unserem Patienten her- 
vorgerufen werden. Als Ursache dieser Erscheinung konnen wir 
die Ausschaltung eines das Gleichgewicht controlirenden Apparates 
betrachten. Eine ahnliche Erscheinung beobachtete Bonenfant 2 ) bei 
einem Meniere kranken: kaum schloss der Patient die Augen, so stellte 
sich ein Schwindelanfall ein. 

Ich will mich nicht bei der Erorterung der complicirten und 
schwierigen Frage aufhalten, warum beim epileptischen Rrampfanfall 
die einen Veranderungen im Urin beobachtet werden, wahrend beim 
hysterischen Anfall mit einer epileptoiden, d. h. der EpUepsie durchaus 
ahnlichen Phase, ganz andere chemische Umsetzungen im Organismus 
vor sich gehen. Es mag nur auf die grosse Wichtigkeit der syste- 
matischen Untersuchungen des Urins bei Krampfanfallen zweifelhafter 
Provenienz auch in forensischer Beziehung hingewiesen werden. Die 
Hamveranderungen in derartigen Fallen konnen einerseits be- 
weisen, dass ein Anfall stattgefunden hat, und andererseits 
entscheiden, welcher Art dieser Anfall gewesen ist 

1) Gilles de la Tourette, 1. c. pag. 193. 

2) Bonenfant, Reflexions sur les phenomfcnes nerveux etc. (Ann. d. ma¬ 
ladies de Poreille et du larynx. Paris 1882, cit. nach Frankl-Hochwart.) 


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XIII. 


Zur Lehre yon der multiplen selbstandigen 
Gehimneryeimeuritis. 

(Pall von Diplegia facialis combinirt mit Ophthalmoplegia externa.) 

Yon 

Dr. med. Carl v. Rad, 

Nervenarzt in Ntirnberg. 

Falle von neuritischer Gehirnnervenlahmung sind im Ganzen selten. 
Jeder einzelne neue Fall darf besonderes Interesse beanspruchen und 
der Veroffentlichung werth erscheinen. Am besten scbeidet man die 
auf neuritischer Basis entstandenen Gehirnnervenlahmungen erstens 
in solche, die in Verbindung mit allgemeiner Polyneuritis vorkommen, 
und zweitens in die Formen, die ohne Betheiligung der spinalen Nerven 
ais selbstandige Affection der cerebralen Nerven auffcreten. 

Die Entstehungsursachen, welche zu einer Entziindung der Gehirn- 
nerven ffihren, sind natiirlich genau die gleichen, wie die, welche eine 
allgemeine multiple Neuritis der Extremitatennerven zur Folge haben. 
Traumatische, infectiose, toxische und rheumatische Schadlichkeiten 
spielen hier wie dort die gleiche Rolle. Langst schon bekannt ist, 
dass die im Verlaufe der Diphtherie auftretende Polyneuritis mit 
Vorliebe neben den Extremitatennerven die Augen-, Rachen- und Kehl- 
kopfmuskeln zu ergreifen pflegt. Von der der infectiosen Form der 
Polyneuritis nahestehenden Beri-Beri-Erkrankung steht ebenfalls fest, 
dass sie Gehirnnerven sehr haufig befallt. Mit der erst in den letzten 
2 Jahrzehnten verbesserten Kenntniss der neuritischen Erkrankungen 
wurde erst bekannt, dass die Gehirnnerven sich auch an dem entzund- 
lichen Process betheiligen konnen. 

Was zunachst die Falle anbelangt, wo sich neben einer allgemeinen 
Neuritis eine solche eines oder mehrerer Gehirnnerven findet, so weist 
die Literatur, soweit sie mir zur VerfQgung stand, zahlreiche Beispiele 
dafur auf. Da in der Arbeit von Minkowski 1 )*) die vor 1888 ver- 
offentlichten Falle aufgeflihrt sind, so berGcksichtigte ich hauptsachlich 
nur die im Laufe der letzten 10 Jahre erschienenen Arbeiten. Wenn 
ich von der im Verlaufe einer Polyneuritis auftretenden Neuritis optica 

*) Literatur s. am Schluss d. Art. 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenhellkunde. XVII. Bd. 14 


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210 


Xin. v. Rad 


oder retrobulbaris absehe, so fallt bei der Durchsicht der Literatur 
auf, dass am allerhaufigsten der Nervus facialis ein- oder besonders 
doppelseitig erkrankt ist. Derartige Falle wurden beschrieben von 
Pierson 2 ), Eisenlohr 3 ), Oppenheim 4 ), Strube 5 ), Buzzard 6 ), 
Savage 7 ), Targowla s ), Westphalen 9 ), Crocq 10 ), Stieglitz 11 ) 
und 2mal von v. Striimpell ,2 ) u. *3). Betheiligung des Opticus 
ein- oder beiderseitig konnten unter Anderen nachweisenEichhorst 14 ) t 
Lowenfeld 15 ), Remak ,6 ) t Lilienfeld 17 ), Thomsen ,8 ), Render 19 ), 
Miura 20 ), Goldscheider 21 ), Fuchs 22 ), Jolly 23 ) und Schanz 24 ). 

Ueber eine Betheiligung von motorischen Augennerven in Fallen 
von Polyneuritis berichteten Hiller 25 ), Boeck 26 ), Pal 27 ), Schulz 28 ), 
Lilienfeld 29 ) und Jolly 30 ). In dem Falle des letzterwahnten For- 
schers waren neben beiden Abducentes noch beide Optici und Faciales 
ergriffen. Mehrere Autoren, wie Leyden 31 ), Sorgo 32 ), Oppen¬ 
heim 33 ), Achard und Soupault 34 ) beschrieben ein Mitergriffensein 
der Nn. vagi; es ist das eine ausserst ernste und lebensgefahrliche 
Complication der Neuritis. Achard und Soupault konnten in ihrem 
Falle die neuritische Degeneration des Nerven anatomisch nachweisen. 
Ueber eine Betheiligung beider Nn. acustici berichtete Strtimpell l2 ). 
Es kam in seinem Falle von alkoholischer Polyneuritis neben einer 
Diplegia facialis zum Auftreten von beiderseitiger, rein nervoser Taub- 
heit, die nach 3 Wochen vorttberging, um einem lange andauernden 
Ohrensausen Platz zu machen (Neuritis acustica). Wahrend die neu¬ 
ritische Gehirnnervenlahmung in der Regel sich auf einen oder wenige 
Nerven zu beschranken pflegt, konnten Roth 35 ) und Schlier 36 ) eine 
Affection mehrerer Gehirnnerven nachweisen. In dem Roth’schen 
Falle waren 6 verschiedene Nerven neuritisch afficirt, in dem durch 
seinen Verlauf und seine haufigen Recidive interessanten Fall von 
Schlier waren neben den Nerven der Arme und Beine der Opticus, 
Abducens und Facialis der linken Seite, so wie der N. vagus ergriffen. 

Ebenfalls um eine Lahmung mehrerer Gehirnnerven handelt es 
sich in dem von Rossolimo 37 ) beschriebenen Falle. Bei seinem 
Patienten hatte sich auf luetischem Boden und nach einer Erkaltung 
eine multiple Neuritis entwiekelt, welche ausser einer Reihe von peri- 
pherischen Spinalnerven die ersten Aeste der beiden Trigemini und 
die beiden Nn. oculomotorii und trochleares betraf. Die Function 
der inneren Aeste beider Oculomotorii blieb vollig erhalten. Wahrend 
die Lahmungen der genannten Nerven vollig verschwanden, entwickelte 
sich spater bei dem Patienten eine Tabes mit Myosis und Lichtstarre. 
Dammron-Meyer 38 ) beobachteten im Verlaufe einer Polyneuritis das 
Auftreten mehrerer Augenmuskellahmungen und waren im Stande, ihre 
klinische Diagnose durch die anatomische Untersuchung zu bestatigen. 


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Zur Lehre von der multiplen selbstandigen Gehinmervenneuritis. 211 

Auf Bleiyergiftung konnte Mannaberg 39 ) seine 2 Falle von 
Polyneuritis zurttckfQhren. Neben einer Affection an den Armen und 
Beinen fand sich im ersten eine beiderseitige Neuritis optica, totale 
rechtsseitige Oculomotorius- und Facialislahmung. In seinem 2. Falle 
waren ausser beiden Optici der rechte Abducens und der linke Facialis 
ergriflfen. Ich selbst hatte Anfang dieses Jahres Gelegenheit, 2 in 
diese Gruppe gehorige Falle zu untersuchen. Bei einem 47jahrigen 
Manne kam es zu einer Polyneuritis beider Arme und Beine, die sich 
mit einer completen Ophthalmoplegia externa und Reizerscheinungen 
im Bereiche des linken ersten Trigeminusastes verband. Im Laufe 
der Behandlung erfuhren sowohl die Lahmung der Augenmuskeln, 
als auch die schmerzhafte Schwache der Beine eine wesentliche Bes- 
serung. Einen 2. Fall hatte ich Gelegenheit im hiesigen stadtischen 
Krankenhause zu uutersuchen. Der Fall ist kurz folgender: Bei einem 
jungen Maun entwickelte sich neben einer multiplen Neuritis der Arme 
und Beine eine nur kurz bestehende Diplegia facialis, zu der sich im 
weiteren Verlauf eine Neuritis des linken Opticus und eine Schwache 
der Bulbamerven gesellte, die eine Erschwerung der Sprache und des 
Schluckactes zur Folge hatten. Der Fall verlief sehr gtinstig. 

Wahrend die in Verbindung mit Entztindung der Extremitaten- 
nerven auftretende Gehirnnervenneuritis schon friiher zur Beobachtung 
kam, wurde das selbstandige Vorkommen einer cerebralen entztind- 
lichen Erkrankung der Gehirnnerven ohne Betheiligung der spinalen 
mit wenigen Ausnahmen meist erst in den letzten Jahren be- 
schrieben. 

Falle von uncomplicirter ein- oder doppelseitiger Facialislahmung 
auf neuritischer Basis beobachteten Althaus 40 ), Bregmann 41 ) und 
Dejerine 42 ). In dem Hoffmann’schen 43 ) Falle kam es neben einer 
Diplegia facialis zu einer Neuritis beider Optici und Acustici. Kauf- 
mann 44 ) beschrieb eine neuritische Lahmung des linken Facialis und 
linken Abducens, sowie des zweiten Astes des linken Trigeminus. Im 
Verlaufe einer Leukamie konnte Eisenlohr 45 ) eine acute multiple 
Neuritis der Bulbamerven beobachten. Ein weiteres interessantes 
Beispiel ftir das Auftreten der Gehirnnervenneuritis ist die Beobachtung 
von Moebius 46 ). Bei einem 20jahrigen Manne hatte sich in Folge 
einer unzweifelhaften Erkaltung im Eisenbahncoupe gleichzeitig mit 
starken reissenden Schmerzen in der rechten Seite des Gesichts, 
welche nachher in eine Hautanasthesie des genannten Theiles tiber- 
gegangen sind, eine vollstandige Lahmung aller ausseren Muskeln des 
rechten Auges entwickelt, wahrend die Accomodation und Pupillen- 
reaction intact geblieben sind. 

14* 


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212 


XIII. V. fUD 


Mobius ftthrt die Lahmung de9 rechten Trigeminus und die 
Ophthalmoplegia externa auf eine rheumatische Neuritis zurfick. 

Ueber das Befallensein zahlreicher Gehirnnerven berichtet uns die 
Publication von v. Hosslin 47 ). 

Es waren betroffen rechts der Nervus trigeminus und abducens, 
die Chorda tympani und das Gaumensegel; auf der linken Seite der 
Opticus, Trigeminus, Abducens, Facialis und Hypoglossus. Gleich- 
zeitig bestanden Reizerscheinungen von Seiten des Nervus vagus. Der 
Verlauf der Erkrankung war ein ausserst gttnstiger, indem nur die 
Erblindung des linken Auges bestehen blieb und alle anderen Lah- 
mungen sich vollig zurtickbildeten. 

Besondere Beachtung verdient ferner die Abhandlung von Fla- 
tau 48 ), der eine Neuritis des Facialis und Acusticus beobachten und 
durch die anatomische Untersuchung bestatigen konnte. Ebenso 
konnten Gibson und Turner 49 ) in ihrem Falle von linksseitiger 
Oculomotoriuslahmung post mortem eine hamorrhagische Neuritis 
nachweisen. 

Einige Falle fand ich in der Literatur beschrieben, wo die M5g- 
lichkeit einer neuritischen Genese der Lahmungen zwar nicht aus- 
drttcklich erwahnt, aber doch nicht ganz von der Hand zu weisen war. 
So beschreibt Mendel 50 ) einen Fall von multipler Hirnnervenlahmung, 
die er beim vollstandigen Fehlen aller sonst daftir verantwortlich zu 
machenden Ursachen als eine rheumatische bezeichnet. Betroffen waren 
der linke Oculomotorius und Facialis. Der Verlauf war ein sehr 
gfinstiger. Beachtenswerth ist, dass der Lahmung Schmerzen und all- 
gemeines Uebelsein vorausgingen. 

Aus dem gleichen Jahre stammt eine Veroffentlichung von Uht- 
hoff 51 ), der drei Falle von doppelseitiger Accomodationslahmung in 
Folge von Influenza beschreibt 

Der eine Fall, auf den ich besonders hinweisen mochte, war com- 
plicirt durch eine Ophthalmoplegia externa und Parese der Schlund- 
muskeln und des Gaumensegels. Heilung trat nach wenigen Wochen 
ein. Uhthoff weist auf die Aehnlichkeit der beschriebenen Erschei- 
nungen mit denjenigen bei postdiphtheritischer Lahmung hin. 

Bunzel 52 ) beschreibt endlich noch eine Lahmung der Augen- 
muskeln bei Polyarthritis. Da mir die Arbeit nur im Referat zugang- 
lich war, vermag ich nichts Naheres daruber anzugeben. Jedoch liegt 
bei den innigen Beziehungen, die zwischen der arthritischen Diathese 
und der Neuritis bestehen, die Moglichkeit einer neuritischen Ent- 
stehung der Lahmungen nahe. 

Nach dieser Literaturiibersicht, die auf Vollstandigkeit keinen 
Anspruch machen kann, da mir die einzelnen Zeitschriften und Ab- 


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Zur Lehre von der multiplen selbstandigen Gehirnnervenneuriti8. 213 


handlungen nur in beschranktem Maasse zuganglich waren, mochte ich 
nun fiber einen selbst beobachteten Fall bench ten, der auf gewisses 
Interesse Anspruch machen darf. Er ist ausgezeichnet durch eine auf 
neuritischer Basis entstandene Diplegia facialis, zu der sich eine beider- 
seitige Ophthalmoplegia externa mit Freibleiben des Levator palpe- 
brae gesellt. 

Der Fall ist kurz folgender: 

B. E., 14j&hriger Kaufmannslehrling, stammt aus einer durchaus ge- 
sunden, mit Nervenkrankheiten nicht belasteten Familie. Mit 8 Jahren litt 
er, wie aus einem Bericht des damals behandelnden Arztes zu ersehen ist, 
an einer sehr schweren tuberculosen Cerebrospinalmeningitis, die wider Er- 
warten in Genesung ausging. Seit jener Erkrankung will Pat. das linke 
Auge nicht mehr vfillig scbliessen konnen und bleibe beim Schlafen eine 
kleine Spalte offen. Sonst sei nicht die geringste Stfirung in der Beweg- 
lichkeit der linken Gesichtshftlfte zurtickgeblieben. (Die Angaben des Pat. 
und die seiner Eltern gehen fiber diesen Punkt recht auseinander.) Ende 
Mai 1899 traten ohne nachweisbare Ursache plotzlich sehr heftige Schmerzen 
hinter beiden Ohren auf, die in beide Gesichtshfilften ausstrahlten. Etwa 
14 Tage darauf bemerkte Pat. eine sehr stark behinderte Beweglichkeit 
beider Gesichtshfilften. Augenschluss, Stirnrunzeln, Lachen, Pfeifen, Ver- 
ziehen des Mundes warden unmoglich. Auch stellte sich Doppeltsehen beim 
Blick nach rechts aussen ein. Pat. begab sich deshalb in die Behandlung 
des Augenarztes Herrn Dr. v. Forster, welcher die grosse Freundlich- 
keit hatte, mir den Fall zur weiteren Behandlung zu uberweisen. Es ist 
mir eine angenehme Pflicht, Herrn Dr. v. Forster bestens daffir zu 
danken. 

Bei der am 20. Juni 1899 vorgenommenen Untersuchung ergab sich 
folgender Befund: 

Es besteht beiderseitige Facialislfihmung mit Betheiligung sfimmtlicher 
Aeste. Am st&rksten sind die Stirnaugen&ste, am schwfichsten die Unter- 
kieferfiste befallen. 

Das Gesicht ist ausgesprochen maskenartig, vSllig starr, jede mimische 
Bewegung in demselben ist erloschen. Die reflectorische Erregbarkeit ist 
vfillig aufgehoben. Druck auf die Austrittsstellen beider Nn. faciales hinter 
den Ohren am Foramen sty lorn astoideum sowie an den einzelnen elektrischen 
Reizpunkten der Nerven wird als sehr schmerzhaft empfnnden. 

Die schon normaler Weise bestehende Empfindlichkeit bei elektrischer 
Reizung des Facialis ist so sehr gesteigert, dass die elektrische Unter¬ 
suchung fiusserst schmerzhaft und sehr erschwert ist. (Eine Anschwellung 
der Nerven ist nirgends ffihlbar.) 

Die mechanische Erregbarkeit der Gesichtsmuskeln ist gesteigert. Das 
Beklopfen derselben wird als schmerzhaft angegeben. 

Die elektrische Untersuchung ergiebt deutliche Entartungsreaction, die 
Erregbarkeit vom Nerven aus ist fast erloschen, bei directer galvanischer 
Reizung erfolgen trfige Muskelzuckungen und fiberwiegt die ASZ fiber die 
KSZ. Mit dem faradischen Strom sind die Muskeln nicht erregbar. 

Gaumensegel und Geschmack sind vfillig intact. 

Es besteht keine Hyperacusis. 


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214 


XUI. v. Rad 


Im Bereiche des Trigeminus keine Storting. 

Angenbefnnd. Es besteht rechtsseitige Abducenslahmung mit den da- 
ftir charakteristischen Doppelbildern. 

Die iibrigen Augenbewegnngen sind frei. 

Die Pupillen sind gleich und von mittlerer Weite, reagiren gut auf 
Licbt und Convergenz. 

Augenhintergrund normal bis auf etwas starker gefiillte Venen. 

Die Untersuchung des iibrigen Nervensystems ergiebt normale Ver¬ 
bal tnisse. Von Seiten der Extr emit aten nerven besteben keinerlei krankhafte 
Erscheinungen. 

Die Untersuchung der Brust- und Bauchorgane ergiebt ausser einer 
leichten Abschwachung des Schalles auf der linken Lungenspitze beim 
Feblen auscultatorischer Erscheinungen durchaus normale Verhaltnisse. 

Der Urin ist frei von Eiweiss und Zucker. 

Der weitere Verlauf gestaltete sich folgendermassen: Die Diplegia 
facialis blieb vorerst unverandert bestehen, dagegen trat am 25. Juni eine 
Labmung des linken Abducens auf; zu der sich am 27. Juni eine solcbe 
beider Mm. interni, sowie beider Nn. trochleares gesellte. Es kam also 
zu einer Ophthalmoplegia externa. Die Beweglichkeit beider Bulbi war 
nach alien Richtungen hin sehr betrachtlich eingeschrankt. Der Levator 
palpebrae blieb beiderseits frei, die Reaction auf Licht, sowie die Mdglich- 
keit, zu accomodiren, blieben erhalten. Von den ausseren Augenmuskeln 
waren am starksten diejenigen betroffen, die den Bulbus urn die verticale 
Axe drehen. Von den um die borizontale Axe drehenden Muskeln waren 
die Senker starker paretisch als die Heber. 

Mitte Juni besserte sich die Excursionsfahigkeit der Bulbi etwas, 
namentlich functionirten die Mm. interni besser. Die sehr lastigen Doppel- 
bilder bestanden noch fort. 

In der beiderseitigen Mundmusculatur wurde die Beweglichkeit etwas 
besser, die iibrigen vom Facialis versorgten Muskeln blieben noch vollig 
starr. Es bestand ausgesprochene Entartungsreaction. Die Scbmerzhaftig- 
keit der Nerven und Muskeln wurde geringer. 

Ende Juni war die Beweglichkeit der Bulbi eine weit bessere ge- 
worden, die Heber und Senker, sowie die Einwartswender waren fast normal, 
eine nennenswerthe Behinderung der Beweglichkeit bestand nur mehr in 
den Mm. externi. 

Die Beweglichkeit des Mundes war ebenfalls eine weit bessere ge- 
worden, namentlich auf der rechten Seite, sonst blieb der Befund unver¬ 
andert. Es bestand noch vbllige Entartungsreaction, nur im Bereiche des 
Mundfacialis wurden die Zuckungen etwas besser, ohne jedoch ihren tragen 
Charakter ganz zu verlieren. Die Schmerzhaftigkeit der Nerven auf Druck 
war nun fast v511ig verschwunden. 

Mitte August waren die Augenbewegnngen ganz frei, die Doppelbilder 
bestanden noch fort. Die Beweglichkeit des Gesichtes hat sich auch ge- 
bessert. Vdllig unbeweglich war nur mehr die Stirn. 

Pat. konnte rechts lachen und gut den Mund verziehen, links nur an- 
deutungsweise. Bei galvanischer Reizung des Nerven Hess sich beiderseits 
eine schwache, aber doch deutliche Zuckung auslosen, bei directer Reizung 
zeigten die Muskeln nicht mehr so tragen Charakter und war die KSZ = 
ASZ. Faradisck waren die Muskeln weder direct noch indirect erregbar. 


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Zur Lehre von der multiplen selbstandigen Gehimnervenneuritis. 215 

Erst Anfang September trat nun eine wesentliche Besserung der Be- 
weglichkeit der gesammten Gesichtsmusculatur ein, die mit einer Besserung 
der elektrischen Erregbarkeit einherging. 

Bei Zunahme der directen und indirecten galvaniscben Erregbarkeit 
waren auch mit dem faradischen Strom schwache Muskelzuckungen aus- 
zulosen. 

Im weiteren Verlauf trat eine stetig zunehmende Besserung ein, so 
dass Anfang October Pat. als vollig geheilt betrachtet werden konnte. 

Am 10. October konnte ich folgenden Befund aufnehmen: 

Die Augenbewegungen sind vollig frei. Es bestehen keine Doppel- 
bilder mehr. Die Gesicbtsmuskeln sind beiderseits recht gut beweglich. 
Pat. vermag alle ihm aufgegebenen Bewegungen, wie Augenschliessen, 
Naserumpfen, Z&hnezeigen, Lachen, den Mund nach der Seite verziehen, 
prompt und gut auszufuhren. Seine Gesichtsbewegungen unterscheiden sich 
in nichts mehr von denen eines Gesunden; nur klagt er iiber ein bei den- 
selben auftretendes leichtes Gefiihl von Spannung im Gesicht. 

Bei der elektrischen Untersuchung lassen sich vom Nerven aus mit 
beiden Stromesarten schwache, aber doch keineswegs tr&ge Muskelzuckungen 
auslosen. Bei ‘ Anwendung des galvanischen Stromes fallen die Zuckungen 
besser aus als bei Eeizung mit dem faradischen. Die directe Muskelerreg- 
barkeit ist fiir beide Stromesarten noch etwas berabgesetzt, doch erfolgen 
iiberall kurze, kr&ftige Zuckungen, die nicht mehr wie friiker einen tragen, 
wurstfbrmigen Verlauf zeigen, auch iiberwiegt die KSZ iiber die ASZ. 

Die Behandlung bestand in Anfangs taglich, spater jeden zweiten Tag 
vorgenommener Galvanisation der Nn. faciales und denen ihnen versorgten 
Muskeln. 

Resumiren wir kurz die wichtigsten Punkte des Krankheitsbildes, 
so sehen wir bei einem 14jahrigen jungen Mann, der aus nicht be- 
lasteter Familie stammt und ausser einer tuberculosen Cerebrospinal- 
meningitis stets gesund war, ohne nachweisbare Ursachen plotzlich 
sehr heftige, von beiden Ohren in die Gesichtshalften ausstrahlende 
Schmerzen auftreten, denen nach 14 Tagen eine complete Lahmung 
beider Facialisnerven sich anschloss. Fast gleichzeitig mit der Diplegia 
facialis entwickelte sich eine rechtsseitige Abdueenslahmung, zu der 
sich nach wenigen Tagen in rascher Aufeinanderfolge der einzelnen 
Muskeln eine Lahmung sammtlicher ausseren Augenmuskeln, die nur 
den Levator palpebrae verschont liess, gesellte. Es kam also zu einer 
completen Ophthalmoplegia externa bei gut erhaltener Lichtreaction 
und Accomodationsfahigkeit. In hohem Grade beaehtenswerth war 
die ausgesprochene Schmerzhaftigkeit beider Nn. faciales sowohl an 
ihren Austrittsstellen hinter dem Ohr, als auch in ihrer ganzen Aus- 
breitung im Gesicht. Die spontan durch Druck noch zu steigernden 
Schmerzen waren sehr heftige. 

Die Lahmung trug einen ausgesprochen peripheren Charakter, 
umfasste sammtliche Aeste der Nerven und ging mit Entartungsreaction 
einher. Der weitere Verlauf der Erkrankung war ein ausserordentlich 


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216 


XIII. v. Rad 


gtinstiger. Zuerst besserte sich die Lahmung der Augenmuskeln und 
erst nach 3 Monaten die der beiden Gesichtsnerven. Nach 4V2 Mo- 
naten war der ganze Process abgelaufen und vollige Heilung ein- 
getreten. 

Die Diagnose bot im vorliegendenFalle keine besonderen Schwie- 
rigkeiten. Das acute, fast apoplectische Auftreten der bilateral ein- 
setzenden Lahmungen, wie ganz besonders die initialen Schmerzen und 
die sehr starke Druckschmerzhaftigkeit der Nerven und der von ihnen 
versorgten Muskeln, so wie der ausgesprochen periphere Charakter 
der Lahmung sprachen mit grosser Sicherheit fur eine neuritische 
Affection. 

Die weitere klinische Beobachtung, in deren Verlauf vollige Heilung 
eintrat, konnte die gestellte Diagnose vollauf bestatigen. 

Die einzelnen krankhaften Erscheinungen lassen sich ungezwungen 
durch die Annahme einer entztindlichen Nervenaflfection erklaren. Die 
neuritischen Cardinalsymptome waren namentlich wahrend der Ent- 
wicklung des Leidens voll ausgepragt vorhanden. Erhebliche spontane 
Schmerzen im Gesicht leiteten den Process ein, zu denen sich bald 
eine betrachtliche Druckschmerzhaftigkeit im Bereiche der Gesichts- 
aste der Nn. faciales gesellte. Das Auftreten von Schmerzen in einem 
so rein der motorischen Leitung dienenden Nerven, wie dem Facialis, 
ist wiederholt schon beobachtet worden. Es handelt sich eben um 
eine Reizung der Nervi nervorum. Die centripetale Leitung des 
Schmerzes erfolgt nach Remak wohl durch Anastomosen mit dem 
N. trigeminus. 

Dass die elektrische Reizung des entztindeten Facialis ftusserst 
schmerzhaft ist, liegt auf der Hand. In manchen in ihrer Genese 
zweifelhaften Fallen von Facialislahmung mag vielleicht eine sehr be- 
trachtlich gesteigerte Schmerzhaftigkeit der elektrischen Untersuchung 
einen Fingerzeig ftir die Natur des Processes abgeben, zumal wenn 
es sich um Formen handelt, in denen die ubrigen neuritischen Sym- 
ptome nur schwach oder gar nicht ausgepragt sind. 

Die Lahmung selbst war ausgezeichnet durch das rasche, acute 
Einsetzen, das ziemlich gleichmassige Befallensein aller Aeste, das 
Erloschensein aller reflectorischen Bewegungen im Bereiche der ge- 
lahmten Muskeln und durch die degenerativen Veranderungen der 
Muskeln selbst. 

Die Veranderungen der elektrischen Erregbarkeit, welche der Lah¬ 
mung auf dem Fusse folgten, bestanden in einer deutlichen Entartungs- 
reaction mit zeitweiligem Verlust jeder indirecten Erregbarkeit ftir 
beide Stromesarten. Ein Stadium einer initialen gesteigerten Nerven- 
erregbarkeit kam nicht zur Beobachtung. Nach dem elektrodiagno- 


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Zur Lehre von der muJtiplen selbstandigen Gehirnnervenneuritis. 217 

stdschen Befund musste die Lahmung der Gesichtsnerven als schwere 
bezeichnet werden. Mit Zunahme der regenerativen Vorgange besserte 
sich auch allmahlich die elektrische Erregbarkeit. Nachdem ganz 
langsam die Nervenerregbarkeit (und zwar zuerst die ftir den galva- 
nischen Strom) zurtlckgekehrt war, yerschwand auch nach und nacb 
die pathologische Reaction des Muskels. Doch muss im Auge behalten 
werden, dass die Restitution der elektrischen Erregbarkeit wie fast 
stets eine viel langsamere war, als diejenige der motorischen 
Function. 

Das Symptom der Anschwellung des entziindlich erkrankten Ner- 
ven wurde im vorliegenden Falle vollig vermisst. Bei der recht ge- 
schdtzten Lage der Gesichtsnerven war es auch nicht zu erwarten. 

Beachtenswerth ist ferner noch der Umstand, dass bei dem Pa- 
tienten im Anschluss an die tuberculose Meningitis, die er vor sechs 
Jahren durchmachte, eine leichte Parese des 1. Orbicularis zurtick- 
geblieben war. Es ist also der linke Facialis zweimal von einer Lah¬ 
mung befallen worden. Intetessant ist nun, dass die im Anschluss an 
die zweite Lahmung eingetretenen regenerativen Veranderungen auch 
die Fasem des Augenfacialis wieder functionstuchtig machten, die bei 
der ersten Erkrankung lange Jahre geschadigt blieben. 

Was nun den Augenbefund anbelangt, so haben wir hier das 
Bild einer Ophthalmoplegia completa mit Verschontbleiben des Levator 
palpebrae vor uns. Accomodation und Lichtreaction blieben vollig 
intact. Die Lahmung aller ausseren Augenmuskeln, die eine vollige 
Unbeweglichkeit der Bulbi zur Folge hatte, ist zuruekzuflihren auf 
eine Affection einzelner Fasern der beiden Oculomotorii, sowie beider 
Nn. abducentes und trochleares. Ueber die Moglichkeit des Auftretens 
einer partiellen Lahmung des Oculomotorius, welche bei Erhaltung 
der Function der inneren Augenmuskeln nur die die ausseren inner- 
virenden Faserbtlndel des Nerven betrifft, ist von ophthalmologischer 
und neurologischer Seite schon viel discutirt worden. Wahrend 
Mauthner hauptsachlich die Meinung vertritt, dass eine derartige 
Differenzirung der Symptome bei Wei tern leichter ihre Erklarung in 
der Annahme einer nuclearen Affection finde, sprechen andere Forscher 
dieses Vorkommen auch peripheren Aflfectionen des Nerven zu. Ich 
glaube, dass mein Fall zur Sttitze der letzteren Anschauung verwerthet 
werden darf. 

Granz abgesehen von der gleichzeitig in Erscheinung getretenen 
zweifellos neuritischen Diplegia facialis spricht schon das so acute 
bilaterale symmetrische Einsetzen der Lahmungen und das vollige Ver- 
schwinden derselben innerhalb kurzer Zeit gegen das Bestehen einer 
nuclearen Affection. * 


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218 


Xin. y. Rad 


Irgend welche cerebralen AllgemeinerscheinuDgen, die bei Herden 
in der Kernregion der Gehirnnerven ja doch auf die Dauer nie fehlen, 
kamen auch nie zur Beobachtung. Es lasst also der ganze Verlauf und 
insbesondere die Rticksicht auf die gleichzeitige neuritische Gesichts- 
lahmung keine andere Deutung zu, als dass die Ophthalmoplegia externa 
auf eine neuritische Affection der motorischen Augennerven zurftck- 
zufiihren ist. Dieses elective Verhalten der Lahmung des Oculomo- 
torius ist durch die Annahme einer neuritischen Affection gut zu er- 
klaren. Denn gerade bei der Neuritis von Spinalnerven sehen wir oft 
diese Diflferenzirung der Lahmungssymptome auftreten, so dass oft bald 
mehr oder weniger, ja oft ausschliesslich die motorischen oder sensiblen 
Fasern eines Nerven erkrankt sind. 

Von den eventuell diflferentialdiagnostisch in Betracht kommenden 
Erkrankungen ware in erster Linie zu erwahnen eine luetische Basal- 
meningitis oder specifische Neuritis der Gehirnnerven. Ganz abgesehen 
davon, dass die Anamnese keinerlei Anhaltspunkte ffor eine hereditare 
Lues und nur um eine solche konnte es'sich handeln, ergiebt, spricht 
schon das vollige Fehlen aller cerebralen Erscheinungen, die wir bei 
diesen luetischen Erkrankungen nie vermissen, dagegen. Wenn auch 
im Verlaufe der Hirnlues Schwankungen haufig vorkommen, so ist 
doch eine vollige Heilung ohne jede specifische Therapie ein ausserst 
seltenes Vorkommniss. 

Gegen basale Tumoren, die ja ebenfalls multiple Hirnnervenlah- 
mungen zur Folge haben konnen, spricht in erster Linie der gfinstige 
Verlauf, auch musste in einem solchen Falle der hart neben dem 
Facialis liegende N. acusticus mitbetroflfen sein; auch ware es dann 
schwer zu verstehen, wie der zwischen den befallenen Nerven liegende 
N. trigeminus hatte frei bleiben konnen. 

Die Aetiologie ist mir im vorliegenden Falle unklar. Ob der 
tuberculosen Diathese irgend welche ursachliche Bedeutung zugemessen 
werden darf, mochte ich unentschieden lassen. Im Allgemeinen sehen 
wir die tuberculose Neuritis meist nur bei sehr heruntergekommenen, 
kachektischen Individuen auftreten. Sie ist dann mehr eine Folge des 
Marasmus, als der Infectionskrankheit selbst Diphtherie muss eben¬ 
falls ausgeschlossen werden. Da auch keine nachweisbare Erkaltung 
vorausgegangen ist, muss die Frage nach der Entstehungsursache often 
gelassen werden. 

Die Prognose der Gehirnnervenneuritis entspricht im Allgemeinen 
natiirlich derjenigen der allgemeinen Polyneuritis. Sie ist abhangig 
von der besonders nach dem elektrodiagnostischen Befund zu beur- 
theilenden Schwere der degenerativen Veranderungen. 

Im Grossen und Ganzen glaube ich, darf man die Prognose in 


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Zur Lehre von der multiplen selbstandigen Gehirnnerven neuritis. 219 


solchen Fallen gtinstig stellen. Die Mehrzahl der in der Literatur 
beschriebenen Falle nahm einen gunstigen Verlauf. Eine Ausnahme 
machen natiirlich die Falle, die mit einer Erkrankung des N. vagus 
einhergehen. Jedenfalls bietet die multiple Gehirnnervenlahmung auf 
neuritischer Basis gegeniiber alien anderen Erkrankungen, welche zu 
einer Lahmung mehrerer Gehimnerven fiihren, die weitaus beste Pro¬ 
gnose. Die Moglichkeit eines Recidivs muss natiirlich im Auge be- 
halten werden. 

Die Therapie wird meist eine rein symptomatische sein mttssen. 
Gegen die initialen Schmerzen werden feuchtkalte oder feuchtwarme 
Umschlage empfohlen. Mir hat sich als schmerzlindemd sehr die 
Anodengalvanisation bewahrh 

Die Hauptsache bleibt natiirlich eine regelmassig und langere Zeit 
fortgesetzte elektrische Behandlung der gelahmten Muskeln und Nerven. 
Am meisten mochte ich den galvanischen Strom empfehlen, der fara- 
dische ist namentlich im Anfangsstadium zu schmerzhaft und, so lange 
bei faradischer Reizung keine Zuckung ausgelost werden kann, ist auch 
eine faradische Behandlung zwecklos. Sobald eine Spur von Beweg- 
lichkeit vorhanden ist, veranlasse ich meine Kranken mit Gesichts- 
lahmung selbstandig vordem Spiegel Bewegungsversucheund Uebungen 
anzustellen. 


Literatur. 

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aus der Konigsberger Klinik. 

2) Pierson, Volkmann’sche Hefte. 1882. Nr. 229. 

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19) Render, The American Lancet. 1890, Dec. 


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220 XIII. y. Rad, Zur Lehre vod der multiplen selbstandigen Gehimnervenneuritis. 


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21) Goldscheider, Charit6-Annalen. 1892. 

22) Fuchs, Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. 1893. Heft 4. 

23) Jolly, Berl. klin. Wochenschr. 1894. S. 283. 

24) Schanz, Deutsche medic. Wochenschr. 1896. Nr. 28. 

25) Hiller, Berl. klin. Wochenschr. 1881. Nr. 41. 

26) Boeck, Tidskrift fQr prakt. Mediz. 1885. Referat: Neurol. Centralblatt. 1885. 

27) Pol, Ueber multiple Neuritis. Wien 1891. 

28) Schulz, Neurol. Centralblatt 1885. 

29) Lilienfeld, Berl. klin. Wochenschr. 1885. S. 727. 

30) Jolly, Berl. klin. Wochenschr. 1884. S. 283. 

31) Leyden, Zeitschrift f. klin. Med. 1. Band. 

32) Sorgo, Ztschr. f. klin. Medic. 32. Band. 

33) Oppenheim, Berl. klin. Wochenschr. 1890. Nr. 24. 

34) Achard u. Soupault, Archiv de m6d. exper. 1893. Nr. 13. 

35) Roth, cit. bei v. Hosslin, Munch, med. Wochenschr. 1896. 

36) Schlier, Ztschr. f. klin. Medic. 37. Band. 

37) Rossolimo, Neurol. Centralblatt. 1890. 

38) Dammron-Meyer, Bull. m6d. 1888. 

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40) Althaus, The Brit. med. journ. 1890. 

41) Bregmann, Refer. Virchow-Hirsch 1895. 

42) Dferine, Revue de m6dic, 1898. Nr. 1. 

43) Hoffmann, Archiv. f. klin. Medic. 1894. 

44) Kaufmann, Zeitschr. f. Ohrenheilkunde. 1898. XXX. 

45) Eisenlohr, Virchow’s Archiv. 1878. 

46) Moebius, Centralblatt f. Nervenheilkunde. 1886. 

47) v. Hosslin, Munch, med. Wochenschr. 1896. 

48) Flatau, Zeitschr. f. klin. Medic. Bd. 32. 

49) Gibson u. Turner, Edinb. m4d. journ. 1898, Mai. 

50) Mendel, Neurol. Centralblatt 1890. 

51) Uhthoff, Deutsche medic. Wochenschr. 1890. 

52) Bunzel, Prag. med. Wochenschr. 1896, April. 


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XIV. 


Ueber eine Affection der Varol’schen Brtlcke mit bilateraler 
Lahmung der willktlrlichen Angenbewegnngen, Zwangs- 
lacben und Zwangsweinen, sowie frtlhzeitiger Atrophie 
der rechtsseitigen Unterschenkelmnskeln. 

Von 

Professor Dr. W. t. Bechterew 

in St. Petersburg. 


Die Affectionen des Pons Varolii sind sowohl nach der klinischen 
wie nach der diagnostischen Seite hin noch vielfach in Dunkel ge- 
hhllt Folgender Fall scheint uns der Beachtung und eingehenden 
Darstellung nicht unwerth zu sein. 

• 

Patient K, 28 Jahre alt, seines Zeichens Gaukler, nnverheirathet, wird 
am 12. October 1893 wegen anfgetretener rechtsseitiger Hemiplegie in das 
Hospital anfgenommen. Von dem Assistenten B. J. Worotynski konnten 
folgende anamnestische Angaben ernirt werden: Heredit&re Belastnng nicht 
vorhanden, nur war der Vater dem Trunke ergeben. Im Jahre 1886 
syphilitische Infection von sehr schwerem Verlaufe. Seit seinem 13. Jahre 
trinkt Pat. Branntwein. Vor der gegenw&rtigen Erkrankung hat Pat. durch 
vier Monate fast nnnnterbrochen and in grossen Mengen getranken. Schon 
seit mehreren Jahren bestehen Kopfschmerzen. Am 11. April warde Pat. 
in der Ambulanz, die er behufs antisyphilitischer Qnecksilberinjectionen 
anfsnchte, schwindelig; er ftusserte dabei den Wunsch, geschiittelt zu 
werden, and es trat auch thats&clilich eine Bessernng des subjectiven Be- 
findens danach ein, doch begab sich Pat. trotzdem, ohne seine Eeihenfolge 
abgewartet zu haben, nach Haase. Wahrend er am Aasgange des Spitales 
seine Gummischuhe anzog, bemerkte Pat, dass sein rechtes Bein nicht in 
Ordnnng sei; er wiinschte nan schleunigst nach Haase und masste, da 
keine Droschke zu finden war, den Weg zu Fusse zuriicklegen. Unterwegs 
stellte sich wieder Schwindel ein, der erst voruberging, nachdem Pat. sich 
eine Zeit lang an eine Maner gelehnt hatte. Schliesslich gelang es ihm, 
seine Wohnung zu erreichen, wo er mit Kopfschmerzen and Schwindel sich 
ins Bett legte. Mehrere Mai stand Pat. auf and ging im Zimmer umher, 
obwohl sein rechtes Bein and rechter Arm bereits schwach waren. Gleich- 
zeitig bemerkte Pat., dass seine Zunge zu lallen begann. Am Abend suchte 
Pat. endgiiltig das Bett auf and konnte alsbald feststellen, dass er weder 
sein rechtes Bein, noch seinen rechten Arm zu be wegen im Stande war und 
dass seine Zunge noch mehr lallte. Mit Anstrengang vermochte Pat. jedoch 
noch einige Worte hervorzubringen. Das Bewusstsein ging keinen Augen- 


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222 


XIV. v. Bechterew 


blick verloren. Am anderen Tage wurde Pat. in das Hospital gebracht, 
wo er folgendes Bild darbot: 

Pat. von mittlerer Kbrpergrosse, befriedigendem Ernahrungszustande, 
mit blassen Hautdecken nnd Schleimhauten, Puls 80. Es besteht Stuhlver- 
stopfung. Herz und Lungen ohne Ver&nderungen. Pupillen massig er- 
weitert, die linke etwas starker als die rechte, Reaction regelrecht; beide 
Augen konnen vollstandig gescblossen werden, die Lider senken nnd heben 
sich frei. Der rechte Mundwinkel kaum merklich herabgesunken, die rechte 
Nasolabialfalte etwas verstrichen. Pat. kann pfeifen, aber nur mit Mhhe. 
Die Zunge weicht nach rechts ab, ohne Zittern. Uvula und Gaumenbogen 
ohne Veranderungen. Pat. kann sein rechtes Bein und seinen rechten Arm 
fast gar nicht bewegen. Beiderseits der Patellarreflex erhbht, der linke 
starker als der rechte. Ebenso erscheint der Achillessehnenreflex links 
etwas lebhafter, als rechts. Die Ellenbogenreflexe ohne wesentliche Ver¬ 
anderungen. Die Functionen der Beckenorgane normal. Schon am zweiten 
Tage trat eine erhebliche Restitution der Motilitat ein und der Kranke ver- 
mochte nun sich auf den Beinen aufrecht zu halten. Jedoch war die Kraft 
im rechten Arm immer noch erheblich schwacher als im linken, die Finger- 
bewegungen rechts sehr beschrankt, und Pat. kann mit der rechten Hand 
weder kleinere Gegenstande fassen, noch schreiben. Der Gang des Kranken 
paralytisch, das rechte Bein wird stark nachgeschleppt und jeder Schritt 
mit Miihe ausgefiihrt. Sprache undeutlich, abgebrochen, mit Ueberspringung 
von Buchstaben. Dabei Neigung zu unmotivirtem Lachen. Therapeutisch 
werden Jod- und Bromkali zu innerlicher Anwendung verordnet. 

15. April. Pat. klagt tiber Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen. Be- 
sonders beim Husten giebt Pat. an, heftigen Schmerz im Kopfe und zwar 
in der Hinterhauptgegend zu empiinden. Die paralytischen Erscheinungen 
haben sich in diesen Tagen noch etwas gesteigert. Pat. kann etwas freier 
sprechen, wiewohl noch immer Buchstaben und Silben iibersprungen werden, 
und man ihn nur mit Miihe verstehen kann. Die Parese des rechten Facialis 
ist noch wahrnehmbar, aber nur in geringem Grade. Die Muskelkraft der 
rechten Hand ist noch auffallend geschw&cht. Pat. vermag bereits zn 
schreiben, wenn er sich Miihe giebt, die Worte werden richtig und ohne 
Auslassungen mit zitternder Handschrift wiedergegeben. Auf den Beinen 
halt Pat. sich etwas freier und geht etwas besser. Das linke Auge da- 
gegen bewegt sich lateralwarts nur bis zur Mittellinie, die iibrigen Beweg- 
ungen des Bulbus sind vollig frei. Infolge dieser Abducenslahmung 
erscheinen dem Pat., wenn er nach links sieht, die Gegenstande doppelt, 
doch kann er, wenn er ein Buch gerade vor sich halt, ungehindert lesen. 
Beim Essen verschluckt sich Pat. Er glaubt selbst, das Schlucken sei bei 
ihm nicht ganz in Ordnung, da der Bissen gewissermassen beim Schlucken 
etwas stecken bleibe. Die Sehnenreflexe verhalten sich wie friiher; Fuss- 
sohlenphanomen nicht vorhanden; die einfache Muskelerregbarkeit nicht er- 
hoht. Bei der Percussion des Kopfes hat Pat. heftige Schmerzen in der 
linken Seite des Hinterhauptes, etwas hinter dem Processus mastoideus. 
Auch spontan stellen sich in dieser Gegend zeitweilig Schmerzen ein. 
Eine Auftreibung des Knochens in der erwahnten Gegend ist nicht wahr¬ 
nehmbar. Pat. erinnert sich jetzt, bereits mehrere Tage vor der gegen- 
wartigen Erkrankung dumpfe Schmerzen im Kopfe und unmittelbar vor dem 
Anfalle einen ganzen Tag hindurch Stiche in der linken Hinterhaupt- 


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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 223 


gegend gef&hlt zu haben. Zwangslachen tritt jetzt in vermindertem 
Grade auf. 

16.—17. April. Klagt iiber heftige Schmerzen im unteren Theile des 
Hinterliauptbeines links vom Foramen magnum. Hier besteht Schmerzhaftig- 
keit auch bei der Percussion und gegen Druck. Die L&hmungserscheinungen 
von Seiten des rechten Facialis haben merklich nachgelassen. Leichte Atro- 
phie der linken Haifte der Zunge ist wahrnehmbar. Beim Hervorstrecken 
der Zunge weicht das Corpus linguae nach rechts ab. die Spitze nach links. 
Die linke Pupille nach wie vor etwas weiter als die rechte. Sehnenreflexe 
wie friiher. Stuhlverstopfung. 

21. April. Nach mehrfachen Abfiihnmgen sind jetzt weder Kopf- 
schmerzen noch Percussionsempfindlichkeit am Kopfe vorhanden. Sprache 
und Gang besser. Kniereflexe ihrer Intensit&t nach fast vollig gleich auf 
beiden Seiten. Klagen iiber Stiche im rechten Schultergelenke. 

22. April. Es besteht von Neuem etwas Schmerzhaftigkeit bei der Per¬ 
cussion der linken Hinterhauptsh&lfte. Temperatur Nachts auf 38,2° ge- 
stiegen. Der rechte Patellarreflex heute bereits erhoht im Vergleich mit 
dem linken. Im Uebrigen der Zustand unver&ndert. 

23. April. Klagen iiber Schwere im Kopfe und Schmerzen in den 
Augen. Knie- und Achillessehnenreflex rechts noch starker erhdht; rechts 
ist Fussclonus aufgetreten. 

26. April. Die Sprache deutlicher, wiewohl noch merklich behindert; 
Gang ziemlich frei. Die Muskelkraft der rechten Hand nimmt zu. 
Rechts deutlich ausgepr&gtes Fussph&nomen. Die Lahmung des rechten 
Abducens gegen friiher unver&ndert. Klagen iiber Stechen in den Augen 
und Schmerzen im Hinterhaupte. Letzteres ist bei Percussion noch schmerz- 
haft, aber weniger als friiher. 

Der Kranke musste an diesem Tage wegen privater Angelegenheiten 
das Hospital verlassen. Am 8. Mai, also nach weniger als 2 Wochen, liess 
sich Pat. wegen eines neuen Anfalles wieder aufnehmen. Dieser Anfall hat 
sich nach Aussage der Mutter des Pat. allm&hlich eingestellt. Es war ganz 
zuerst Schwere im Kopfe mit Kopfschmerzen, besonders in der Hinterhaupts- 
gegend, eingetreten. In der Nacht vom 6. auf den 7. Mai hatte der Korper 
zu zittern begonnen, krampfhafte Zuckungen hatten sich in beiden Armen 
eingestellt, urn sp&ter auch auf beide Beine iiherzugehen. Gleichzeitig war 
Steifheit der Zunge zu bemerken gewesen. Die Augen waren dauernd 
offen und nach vorne gerichtet. Das Bewusstsein war keinen Angenblick 
getriibfc. Gegen Morgen begannen die Krampfe nachzulassen, doch konnte 
der Kranke bereits kein Wort hervorbringen und ebenso die rechtsseitigen 
Gliedmassen nicht bewegen. Am Tage nach der Wiederaufnahme in das 
Krankenhaus stellte der ordinirende Anstaltsarzt folgende Erscheinungen an 
dem Kranken fest: Pat. liegt auf dem Riicken, sein Blick ist ins Unbe- 
stimmte gerichtet; die Augen weit geoffnet, unheweglich, sehen geradeaus. 
Pupillen etwas erweitert, gleichmassig, reagiren schwach auf Licht. Rechts- 
seitige Facialisparese mit Betheiligung des oberen Astes; nur mit Miihe 
blast Pat. die Wangen auf und vermag sie in dieser Stellung nicht fest- 
zuhalten; die Zunge kann nur bis zum Rande des Zahnbogens vorgestreckt 
werden. In der Mundhohle ist die Zunge nach rechts gekrummt. Die 
Z&hne kann Pat. nicht zeigen. Pat. vermag kein Wort hervorzubringen. 
Das zu ihm Gesprochene versteht er gut. Pat. ist fast best&ndig aufge- 


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224 


XIV. v. Bechterew 


regt und weint. Die Bewegungen der A u gap fel nach oben and unten Bind 
vbllig frei. Bei Annaherung des fixirten Gegenstandes weichen die Angen 
nach innen ab nnd die Pupillen verengern sich dabei merklich; nach rechts 
und links aber sind keine Augenbewegungen mbglich. Auch kann jedes 
Auge fur sich bei Schliessung des zweiten sich weder nach rechts, noch 
nach links bewegen. Complete rechtsseitige Hemiplegie der Extremitaten. 
Pat. kann weder mit dem rechten Arm noch mit dem rechten Bein irgend 
eine Bewegung machen. Das rechte Bein zeigt Erscheinungen von Exten- 
sionscontractur, es ist gestreckt und der Fuss befindet sich im Zustande 
der Plantarflexion. Die Sensibilitat iiberall erhalten, mit Ausnahme des 
linken Armes, wo sie merklich herabgesetzt erscheint. Links bieten die 
Extremitaten ebenfalls Erscheinungen von Muskelparese dar. Vollstandige 
Retentiourinae und eine Obstipation, die keinem Laxans weichen wilL 
Bauchreflexe schwach. Patellarreflexe auffallend erhbht, besonders rechter- 
seits; dieser Reflex wird rechts von einem Erzittern der ganzen Extremitat 
begleitet. Deutlich ausgesprochenes Fuss- und Kniescheibenphanomen beider- 
seits, rechts etwas starker. Der Puls massigvoll, beschleunigt, bis zu 100 
in der Minute. Athmung ungleichmassig und rauh, 24 in der Minute. Der 
Kranke vollfiihrt bestandige Husten- und Exspirationsbewegungen, begleitet 
von einen besonderen, stohnenden Gerausch. Schmerzhaftigkeit bei Percussion 
des Hinterhauptes links. 

10.—13. Mai. Die nahere Untersuchung ergiebt, dass die Parese des 
Antlitzes sich nicht auf die rechte Seite allein beschrankt, sondern sich auch 
auf die linke Seite erstreckt, infolge dessen der Kranke einige Bewegungen, 
wie Zahnezeigen, Seitwartsziehen des Mundes, nicht auszufiihren vermag. 
Rechts sind die paralytischen Erscheinungen allerdings eclatanter. Nach 
wie vor hustet der Kranke bestandig trotz Mangel jeglicher Lungenaffection; 
der Husten ist vollig trocken, kurz und abgebrochen; gleichzeitig fahrt der 
Kranke fort achzende Tone von sich zu geben. Sprache aufgehoben. Die 
rechtsseitigen Extremitaten unbeweglich. Die Augenbewegungen unver- 
andert. Beim Essen verschluckt sich Pat. etwas und manchmal gerath da¬ 
bei sogar fliis8ige Nahrung in die Nase. Bei Untersuchung des Rachens 
erweisen sich Gaumenbogen und Uvula herabgesunken. Athmung nach wie 
vor ungleichmassig. Retentio urinae und Obstipatio alvi. Pat. weint haufig, 
doch lacht er auch hin und wieder. Beim Weinen zeigt die Mimik regel- 
rechte Bewegungen. 

14. Mai. Die elektrische Reaction der Muskeln der rechten Gesichts- 
halfte regelrecht. Am rechten Arm geringe Contractur. Manchmal giebt 
der Kranke wie zufailig ein oder zwei Worte von sich; die weichen Vo- 
kale spricht er hart aus, auch einige Consonanten (z. B. m) vermag er her- 
vorzubringen, doch gelingt ihm dies nicht mit den Zahn-, Gaumen- und 
Kehllauten (z. B. ch). Die Zunge kann nur 1 cm weit vor die Zahnreihe 
gestreckt werden, ist im Uebrigen unbeweglich. Die Augapfel bewegen 
sich nach wie vor zusammen weder nach rechts, noch nach links, wohl aber 
nach oben und unten sowie nach innen. Bei geschlossenem linkem Auge 
kann das rechte nach aussen ab weichen, aber nur sehr wenig, das linke 
Auge dagegen kann nicht einmal fur sich nach aussen hin sich verschiebem 
Nach innen kann jedes Auge fiir sich abweichen, aber gleichfalls nur sehr 
wenig. Accommodation und Pupillenreaction sind beiderseits normal. Puls 
80 in der Minute; Athmung ungleichmassig, fast unaufhbrlich Hustenbe- 


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Ueber eine Affection der VaroPschen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 225 


wegungen; haufiges und andauemdes Weinen, auch Lachen ist dabei leicht 
auszulbsen. Fussphanomen kann links nicht hervorgernfen werden. Re- 
ten tio urinae besteht fort, Pat. mass katheterisirt werden. Obstipatio alvi. 

Pat. vermag bereits einige Worte hervorzubringen. Patellar- und 
Fusssohlenreflex immer noch gesteigert, doch ist Fussphanomen nicht aus- 
zulosen. Die Bewegnngen der Angapfel sind freier geworden. Sie weichen 
etwas mehr nach rechts und links ab, doch bleibt die Beweglichkeit nach 
diesen Richtungen immer noch stark beschrankt. Die Lahmung der Ex- 
tremitaten noch sehr anffallend. Das gelahmte rechte Bein fUhlt sich etwas 
kaiter an als das linke. Anzeichen beginnender Muskelatrophie im rechten 
Unterschenkel. Die Parese des linken Armes nnd Beines wie friiher, die 
Finger der linken Hand bewegt Pat. mit grosser Miihe, und die Muskel- 
kraft derselben ist so gering, dass Pat. die Hand des Untersuchers kaum 
merklich zu driicken vermag. Auch die Flexion im linken Kniegelenke ist 
sehr gering, wahrend die Flexion im Ellenbogengelenke nnd die Streckung 
im Kniegelenke noch ziemlich ausgiebig sind. An den linksseitigen Glied- 
massen keine Contracturen. Der Fusssohlenreflex auf beiden Seiten vor- 
handen, jedoch rechts starker. Pat. ist wie friiher bestandig aufgeregt und 
weint, dagegen sind Hus ten nnd Stohnen seltener geworden. 

26.—31. Mai. Merkliche Besserung der Motilitat der rechtsseitigen 
Gliedmassen. Pat. bewegt das rechte Bein und den rechten Arm ziemlich 
frei, ersteres kann er im Kniegelenke beugen, adduciren und abduciren, vom 
Bette aufheben, den rechten Fuss und die Zehen desselben bewegen. Die 
gleichen Bewegnngen fuhrt Pat. am rechten Arme aus. Contracturen noch 
vorhanden, aber in geringerem Grade. Auch die Lahmung der linksseitigen 
Gliedmassen wird besser. Patellarreflexe noch wie vor erhbht, doch sind 
Fuss- und Kniescheibenphanomen nicht vorhanden. Die Motilitat der Augen 
hat sich fast vbllig wieder hergestellt; nur Auswartsbewegungen des linken 
Auge8 sind noch nicht moglich, wohl aber kann das rechte Auge nach 
aussen abgelenkt, wie auch nach alien anderen Richtungen ziemlich frei 
bewegt werden. Die Parese des linken Facialis noch deutlich wahrnehmbar. 
Die Zunge kann noch nicht frei vorgestreckt werden. Die mimischen Be- 
wegungen nahern sich bereits der Norm. In der Sphare der Sensibilitat 
ist ausser Abschwachung derselben an dem linken Arme ein handtellergrosses 
anasthetisches Feld am rechten Oberschenkel zu erwahnen. Harnentleerung 
ohne Kunsthiilfe. Obstipation verschwunden. Das Weinen und aufgeregte 
Gebahren hat sehr nachgelassen. Pat. erscheint ruhig und sogar froh ge- 
stimmt. 

1.—4. Juni. Die Motilitat der Angapfel hat eine weitere Besserung 
erfahren; nur eine leichte Parese des linken Abducens ist zuriickgeblieben. 
Doppeltsehen ist nicht vorhanden, die Zunge kann vorgestreckt werden, doch 
weicht sie dabei merklich nach links ab. Wie friiher spricht der Kranke 
nur einige Worte. Die mimischen Bewegnngen haben sich wieder herge¬ 
stellt. Merkliche Muskelatrophie im rechten Unterschenkel, welcher deutlich 
schinachtiger erscheint als links; auch ftihlen sich die Mnskeln daselbst 
schlaff an. Qualitative Veranderungen der elektrischen Reaction nicht vor¬ 
handen, nur besteht eine geringe Herabsetzung der faradischen Muskeler- 
regbarkeit. Am rechten Oberschenkel und am rechten Arm keine Atrophie 
zu bemerken. Affectionen des Fussgelenkes, der Knie- und anderen Gelenke 
wahrend der ganzen Dauer der Krankheit nicht zu beobachten gewesen. 

Deutsche Zeltsohr. f. Nervenheilkunde. XVI. Bd. 15 


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XIV. v. Bechterew 


Deutliche Herabsetzung der peripheren Korpertemperatur am rechten Beine, 
besonders im Gebiete des Unterschenkels. 

7.—9. Juni. Der linke AbduceDS immer noch paretisch, im Uebrigen 
die Motilit&t der Aug&pfel frei. Die bervorgestreekte Zunge weicht etwas 
nacb links ab. Die unwillkiirlichen mimischen Antlitzbewegungen vollig 
regelrecht. Auch wiUkiirliche Bewegungen im Antlitz sind ausfiihrbar, nur 
sind diejenigen der rechten Wange etwas beschr&nkt. Streckung der Finger 
der rechten Hand vollfuhrt Pat. ziemlich gut, wenn auch nicht ganz frei. 
An den gestreckten Fingern der Hand ist leichte Contractur erkennbar. 
In der rechten unteren Extremity Extensionscontractur geringen Grades. 
Die Sehnenreflexe wie fruher rechts starker erhoht. Fussphanomen nicht 
vorhanden. Pat kann mit Unterstiitzung bereits stehen and sogar einige 
Schritte machen, nicht aber ohne Hiilfe gehen. Pat. spricht undeatlich 
einige Worte. Manchmal bringt er nur einige Silben hervor, doch kann 
er fast jedes Wort nur etwas undeutlich nachsprechen. Pat. zeigt Er- 
scheinungen unaufhaltbaren Lachens. Er lacht lange Zeit bei dem geringsten 
Anlasse, manchmal aber stellt sich solches unaufhaltbares Lachen bei ihm 
auch ohne jeden ausseren Grund ein. Zugleich besteht bei dem Pat. die 
Neigung zum Weinen. Bei dem Wiedersehen mit seiner Mutter weint Pat 
jedesmal fast wahrend der ganzen Dauer ihrer Besuche. 

10. Mai. Die Motilitat der rechtsseitigen Gliedmassen kehrt allmahlich 
zuriick. Sprache noch unverstandlich. Urinentleerung regelrecht. Diarrhoea. 
Der Kopf bei Percussion links am Hinterhaupte noch schmerzhaft. Haufiges 
Weinen und Aufgeregtsein. Nicht selten tritt Zwangslachen auf. Pat. wird 
auf seinen eigenen Wunsch aus dem Hospitals entlassen. Nach kurzer Zeit 
ist Pat., wie ich spater erfuhr, bei vollem Bewusstein plotzlich gestorben. 
Am Morgen des Todestages fiihlte sich Pat. ziemlich schwach; trotzdem 
konnte er in Folge geschlechtlicher Erregung sich nicht enthalten, zu onaniren, 
worauf er noch schwacher ward und seiner Umgebung mehrfach erklarte, 
sich nach dem Masturbiren sehr schlecht zu fiihlen. Einige Stunden spater 
fand man ihn tod auf seinem Bette. Die Section hat leider unterbleiben 
miissen. 

Der vorstehend berichtete Fall ist trotz Mangel eines Sections- 
befundes geeignet, in mehr als einer Beziehung unser Iijteresse wach- 
zurufen. Bevor wir jedoch in eine Discussion dieser Verhaltnisse ein- 
treten, ist zunachst die locale und qualitative Diagnose festzustellen. 
Es stehen uns in diesem Falle eine Reihe ausserst charakteristischer 
vitaler Symptome zur Verfiigung, die eine vollig einwandfreie Fest- 
stellung der ortlichen Krankheitsdiagnose ermoglichen. 

Der Verlauf der Krankheit bestand, wie wir sahen, aus zwei An- 
fallen. Anfangs beschrankten sich die Lahmungserscheinungen bei 
unserem Kranken auf die rechte Korperhalfte und es handelte sich 
also urspriinglich um einen Fall einer einfachen Hemiparese, und erst 
in der Folge gesellte sich linksseitige Abducenslahmung hinzu, die so- 
fort auf eine Affection des unteren Theiles der Varolsbrtlcke, der 
Austrittsstelle dieses Nerven, die Aufmerksamkeit hinlenken musste. 


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Ueber eine Affection der Varol’schen Brflcke mit bilateraler Lahmung etc. 227 

Hemiplegie mit gekreuzter Abducenslahmung ist ein charakteristi- 
sches Merkmal von Affectionen der dem gelahmten Abducens ent- 
sprechenden Halfte des unteren Theils der Varolsbrffcke, vielleicht auch 
mit Theilnahme der benachbarten Theile der Medulla oblongata. Bei 
keiner anderen cerebralen Erkrankung kann diese eigenartige Symptom- 
verbindung zur Beobachtung kommen. Doch ist dies nicht das einzige 
Symptom, auf welches unsere obige Diagnose begriindet ist. Vielmehr 
verdienen von weiteren positiven Momenten vor Allem Erwahnung die 
schon in der ersten Krankheitsperiode aufgetretenen Schluckbeschwerden. 
Dieses Symptom deutet zweifellos auf eine Mitbetheiligung des Gloss- 
opharyngeus-Vagus, welcher bekanntlich in Nachbarsehaft der Briicke 
aus der Medulla oblongata hervorgeht, und ist. jedenfalls geeignet, 
obige Diagnose weiter zu bekraftigen. Endlich deutete die locale 
Schmerzhaftigkeit bei Percussion der linken Halfte des Hinterhauptes 
hinter dem Processus mastoideus gewissermassen die Gegend an, in 
welcher im vorliegenden Falle der Krankheitsherd zu suchen sei. 
Spaterhin gingen, wie wir sahen, alle diese Erscheinungen bei unserem 
Kranken so weit zuriick, dass er das Krankenhaus verlassen konnte. 
Aber sehr bald tritt bei ihm ein zweiter, doppelt schwerer Anfall auf. 
In der klinischen Erscheinungsweise des zweiten in der Nacht vom 
6. auf den 7. Mai aufgetretenen Anfalles ist der klare Beweis gegeben, 
dass auch dieser Anfall zu erklaren ist durch eine Affection des unteren 
Theils der Varolsbrticke und hochstwahrscheinlich nur als eine Exacer¬ 
bation und Propagation des urspriinglichen Processes, welcher ausser 
unbedeutender rechtsseitiger Parese eine linksseitige Abducenslahmung 
zurftckgelassen hatte, aufgefasst zu werden verdient. Im Anschlusse an 
diesen zweiten von doppelseitigen Krampfen begleiteten Anfall stellten 
sich, wie wir sahen, bilaterale Extremitaten lah mu n gen ein und zwar 
wurden die Extremitaten der rechten Korperseite, die sich vor dem 
zweiten Anfalle von den friiheren Lahmungserscheinungen schon fast 
vollig erholt hatten, von Neuem total paralytisch, wahrend in den 
linksseitigen Gliedmaassen deutliche Erscheinungen von Muskelparese 
zu Tage traten. Diese bilaterale Vertheilung der Lahmung im Vereine 
mit der voraufgegangenen Erkrankung findet offenbar ihre einfachste 
Erklarung in dem engen Zusammenliegen der motorischen Leitungs- 
bahnen ffir die Extremitaten in der Region der Varolsbrticke. 

Es fehlt aber nicht an weiteren Beweisen daftir, dass die neue 
Erkrankung ebenfalls auf eine Affection des unteren Theils des Pons 
Varolii zu beziehen sei. Wie wir sahen, entwickelte sich bei unserem 
Kranken neben doppelseitiger Extremitatenlahmung und schon friiher 
vorhanden gewesener linksseitiger Abducensparalyse eine Lahmung des 
Abducens der rechten Seite, woraus augenscheinlich hervorgeht, dass der 

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228 


XIV. v. Bechterew 


ursprfinglich in der linken Briickenhalfte localisirte Krankheitsprocess 
nach dem zweiten Anfalle nicht nur auf dieser Seite exacerbirte, son- 
dern auf die rechte Halfte der Briicke sich verbreitete und somit die 
Wurzeln des rechten Abducens in die Erkrankung hineinzog. Zu 
Gunsten dieser Localisation der Erkrankuug sprach unzweifelhaft auch 
das Auftreten von rechtsseitiger Facialisparese mit Betheiligung des 
oberen Astes desselben, sowie die erneute Exacerbation der Schluck- 
beschwerden und die Entwicklung completer Glossoplegie. 

Die Gesammtheit aller dreier Erscheinungen ist so ungemein 
charakteristisch far Affectionen der unteren Partien der Varolsbrficke, 
dass an der vorhin dargelegten Localisation des Krankheitsprocesses 
jeder Zweifel ausgeschlossen erscheint, zumal mit derselben auch die 
abrigen fur die topische Diagnose in Frage kommenden Symptome 
bestens im Einklange stehen. So z. B. konnte die Ungleichmassigkeit 
der Athmung, die im Beginne des zweiten Anfalles ziemlich lange 
Zeit andauerte und eine gewisse Beschleunigung des Pulses bei nor- 
maler Temperatur durchaus ungezwungen erklart werden durch eine 
Mitaffection des Nervus vagus. Ebenso liessen sich die bestandigen 
Hustenbewegungen und das Stohnen des Kranken sehr wohl in Zu- 
sammenhang bringen mit Reizung jener Bahnen des Vagus, die dem 
Nervus laryngeus angehoren. Was die beobachteten Veranderungen 
der Sensibilitat betrifft, so konnten dieselben leicht erklart werden 
durch Mitaffection der in der Schleife die Briicke durchsetzenden 
sensorischen Leitungsbahnen. 

Weiterhin konnte fttr die bei dem Kranken beobachtete Retentio 
urinae mit andauernder Stuhlverstopfung eine in der Brftckenregion 
statthabende Unterbrechung der centralen Bahnen flir diese Functionen 
verantwortlich gemacht werden. 

Endlich lasst sich die in der Nacht des 22. April beobachtete 
vorhbergehende Temperatursteigerung in ursachlichen Zusammenhang 
bringen mit der Brtickenaffection, da solche Affectionen bekanntlich 
gar nicht selten von einer Steigerung der inneren Korpertemperatur 
begleitet werden. 

Kurz, alle jene Erscheinungen, welche fQr die Begrfindung der 
topischen Diagnose irgend von Bedeutung sein konnen, finden im vor- 
liegenden Falle eine durchaus befriedigende Erklarung durch die vorhin 
von uns dargelegte Annahme einer Affection in derHohe derYarolsbrflcke. 

Weniger leicht ist die Eruirung der Natur der Affection. Aber 
auch hier fehlt es nicht an Anhaltspunkten, die wenigstens mit grosser 
Wahrscheinlichkeit eine qualitative Diagnose ermoglichen. Nach dem 
Symptomenbilde und nach dem Verlaufe kann im vorliegenden Falle 
eine Neubildung, die ja stets langsam, aber grSsstentheils progressiv 


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Ueber eine Affection der Varol’schen Brficke mit bilateraler Lahmung etc. 229 

fortschreitet, nicht angenommen werden, und es ertibrigt nur noch 
die Wahl zwischen circumscripter Gewebs-Entztindung, Erweichung 
des Himgewebes in Folge von Gefassthrombose und Hamorrhagie. 

Entztlndung des Gehirngewebes lasst sich jedoch leicht ausschliessen 
im Hinblicke auf das Fehlen einer ausreichenden Ursache zur Ent- 
wickelung einer solchen Entztlndung, aber auch mit Rtlcksicht auf 
die ungemeine Schnelligkeit des Auftretens der Symptome, endlich 
aus dem Grunde, weil nach dem ersten Anfalle sammtliche Symptome 
plotzlich nachzulassen begannen und fast ganz verschwanden, um nach 
einiger Zeit mit ausserordentlicher Plotzlichkeit und in gesteigerter 
Intensitat wieder aufzutauchen. 

Was die Annahme einer Gewebserweichung betriflft, so konnte in 
unserem Falle an Verschluss von Aesten der Arteria basilaris durch 
einen wandstandigen Thrombus gedacht werden. Da es sich um einen 
Syphilitiker handelt, so steht der Annahme einer luetisehen Affection 
der Gefasse an der Gehimbasis nattirlich nichts im Wege, und solche 
Affectionen sind der Bildung von Thromben mit nachfolgendem Ge- 
fassverschlusse bekanntlich ungemein gfinstig. Es stimmen jedoch die 
klinischen Erscheinungen mit der Annahme einer solchen Affection 
nicht uberein. Wie wir sahen, stellten sich bei unserem Kranken die 
Symptome im Wesentlichen ohne jede Prodromalerscheinungen ein: 
schon beim ersten Schwindelanfalle war das Bein paretisch und gleich 
darauf die ganze Korperhalfte paralytisch geworden, wogegen Gefass- 
verschluss in Folge eines wandstandigen Thrombus bekanntlich fast 
immer von mehr oder weniger andauernden Prodromalsymptomen be- 
gleitet wird. Auf der anderen Seite wtirde eine einmal bestehende 
Erweichung ihrer Natur nach eine so plotzliche, wenn auch vor- 
Qbergehende Besserung des Zustandes, wie dies in unserem Falle vor- 
lag, nicht zulassen. Letzterer Umstand spricht gleichzeitig gegen die 
Annahme von Gefass verschluss durch einen metastatisehen Thrombus 
zumal eine Quelle zur Entwickelung metastatischer Thromben in 
unserem Falle nicht nachweisbar erscheint und die Bruckengegend 
von solchen Thromben jedenfalls nur in ganz ausnahmsweisen Fallen 
afficirt wird. 

Demgegenuber muss sowohl nach dem klinischen Befunde, wie 
nach den vorhandenen anamnestischen Angaben als in hohem Grade 
wahrscheinlich die Annahme hingestellt werden, es handele sich in 
unserem Falle um eine Hamorrhagie aus einem von der Hirnbasis her 
in die Brficke eindringenden Aste der Arteria basilaris. 

Fur die Annahme einer Hamorrhagie spricht allem zuvor die 
Rapiditat des Auftretens der Symptome, so wie femer der Umstand, 
dass die Symptome nach dem ersten Anfalle schnell nachliessen, was 


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XIV. v. Bechterew 


bekanntlich bei Blutungen, wenn sie resorbirt werden, gar nicht selten 
zur Beobachtung gelangt. Aber auch die erneute Exacerbation des 
Krankheitsprocesses, die wahrend des zweiten Anfalles ihren Hohe- 
punkt erreichte, lasst sich augenscheinlich in durchaus befriedigender 
Weise erklaren durch eine abermalige Hamorrhagie in der namlichen 
Gegend, die eine noch ausgedehntere Gewebsdestruction im Gefolge 
hatte, was ebenfalls bei Hamorrhagien haufig der Fall ist. Das Auf- 
treten von Reizungserscheinungen in Form von Krampfen wahrend 
des zweiten Anfalles steht ebenfalls in vollem Einklange mit der An- 
nahme einer Hamorrhagie. Fiigt man zu dem Angefiihrten noch hinzu, 
dass nnser Patient nicht nur Syphilitiker, sondern auch Alkoholiker 
war und unmittelbar vor der Erkrankung fast ununterbrochen durch 
vier Monate schwer getrunken hat, so finden wir flir die Entstehung 
einer Blutung ein ausreichendes causales Moment in jener Brtichigkeit 
der Gefasse, welche dieselben darbieten, wenn sie unter dem Einflusse 
schweren Alkoholmissbrauches in Entartung tibergegangen sind. 

Wir kommen also durch die Analyse der im vorliegenden Falle 
beobachteten klinischen Erscheinungen zu dem Schlusse, dass bei 
unserem Kranken im Anschluss an die bestehende Gefassinduration 
ein Blutextravasat aus dem gegen die Tiefe der BrQcke emporsteigen- 
den Aestchen der Basilararterie stattgefunden habe. Dieses Extravasat 
hat augenscheinlich die Wurzeln des linken Abducens in Mitleiden- 
schaft gezogen und die fur die rechte Korperhalfte bestimmten Pyra- 
midenbahnen der linken Briickenhalfte comprimirt. Im Beginn der 
Resorptionsperiode hat sich wahrscheinlich in Folge mangelhafter Be- 
aufsichtigung des Kranken in der Nacht vom 6. auf den 7. Mai eine 
zweite, aber starkere Blutung eingestellt. Letztere fQhrte nicht nur zum 
Wiederauftreten der nun stabilen Hemiplegie, sondern es gesellte sich 
Parese der linksseitigen Gliedmaassen und des linken Facialis, sowie 
rechtsseitige Abducenslahmung hinzu. 

Nach dieser Darlegung der Localisation und des Charakters der 
Erkrankung wollen wir noch auf einige der beobachteten klinischen 
Erscheinungen besonders aufmerksam machen, vor allem auf die 
Symptome am Auge, die uns schon bei Gelegenheit der Besprechung 
einer Reihe anderer Krankheitsformen frtiher beschaftigt haben. 

Wie wir sahen, waren auf der Acme des Krankheitsprocesses 
die seitlichen Bewegungen der beiden Augapfel vollig lahm gelegt, 
wahrend alle anderen Bewegungen durchaus regelrecht ausgeftihrt 
werden konnten. So z. B. gingen die Augapfel frei nach oben und 
unten, und wandten sich ferner nach innen, wenn man den Kranken 
geradeaus auf einen Finger sehen liess und letzteren nun seinem Auge 
naher brachte. An keiner der bezeichneten Bewegungen konnte die 


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Ueber eine Affection der Varorschen Briicke mit bilateraler Lahmung etc. 231 

geringste Einschrankung wahrgenommen werden. Beispiele solcher 
eigenartigen Storung der Augenbewegungen giebt es in der Literatur 
nur sehr wenige 1 ) und es dtirfte daher eine kurze Darlegung der 
Pathogenese dieser eigenartigen Erscheinungen wohl am Platze sein. 

Wo ist die Ursache der erwahnten Storung der Augenbewegungen 
zu suchen? Da die Augapfel sich nach alien Richtungen, mit alleiniger 
Ausnahme der synergischen Seitwartsdrehungen, frei bewegen konnten, 
so handelt es sich in unserem Falle oflfenbar an beiden Augen um 
Innervationsstorung vor allem zweier Muskeln, namlich des Rectus 
lateralis und des Rectus internus s. medialis. Doch ist die Storung 
bei beiden Muskeln eine wesentlich verschiedene. Wahrend namlich 
der Musculus rectus lateralis sich tiberhaupt unter keinen Umstanden 
contrahirt, zieht sich der Rectus internus medialis im Gegentheile 
vollig frei zusammen, wenn beide Augen nach innen gedreht werden, 
also synergisch mit dem correspondirenden Muskel der anderen Seite. 
Es ist also jedenfalls die ganze peripherische Innervationsbahn beider 
Musculi recti oculi interni einschliesslich ihres Ursprungskernes vollig 
frei von jeder Affection. Noch mehr, auch die corticate Bahn, welche 
durch Vermittelung zum Opticuscentrum der Rinde gelangender und 
bei Convergenz der Augenaxen beide Musculi recti interni in syner- 
gische Contraction versetzender Impulse die Augenbewegungen be- 
herrscht, muss in unserem Falle als unversehrt angesehen werden. 
Anderenfalls hatten wir keine Erklarung ftir die bestehende vbllige 
Freiheit dreier Bewegungen bei Fixirung eines dem Auge sich an- 
nahemden Gegenstandes. Es muss sich also in unserem Falle handeln 
um eine Affection irgend welcher anderen Leitungsbahnen, die den 
Contractionen des M. rectus lateralis und des M. rectus medialis beider 
Augen vorstehen. 

Zu beachten ist in dieser Beziehung, dass schon seit langer Zeit 
auf Grundlage klinischer Erscheinungen eine Verbindung angenommen 
wird zwischen dem Centrum des Rectus lateralis des einen Auges und 
dem Centrum des Rectus medialis des anderen Auges. 

Diese Annahme erscheint gegenwartig als kaum zu bezweifelnde 
Thatsache, und zwar nicht nur im Hinblicke auf die synergische Action 
des Rectus lateralis des einen und des Rectus medialis des anderen 
Auges, sondern auch mit Riicksicht auf eine ganze Reihe pathologi- 
scher Erscheinungen. Seit langer Zeit bekannt ist beispielsweise die 
sog. synergische Abweichung der Augapfel bei gewissen Cerebral- 
affectionen, wobei beide Augen des Kranken nach der Seite der er- 


1) Ein ahnlicherFall (ohne Sectionsbefund) ist kurzlich von Koshewnikow 
be8chrieben worden. 


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232 


XIV. v. Bechterew 


krankten Hemisphare abweichen (le malade regarde sa lesion, wie 
Prevost sich ausdrtickt). In anderen Fallen weichen die Augen bei 
Krampfen in Folge von cerebralen Afifectionen nach der der erkrankten 
Hemisphare entgegengesetzten Seite ab, d. h. nach der Seite der Krampfe 
(le malade regarde les membres convulses nach Prevost). 

Andere Thatsachen bezeugen, dass die functionelle Association 
zweier verschiedener Muskeln nicht bedingt werde durch Verhaltnisse, 
die an der Peripherie des Nervensystems vorhanden sind, da peri- 
pherische Lahmung eines der Muskeln an sich niemals gleichzeitige 
Lahmung des synergisch wirkenden Muskels der anderen Seite zu be- 
dingen braucht Die Quelle der associirten Thatigkeit der beiden ge- 
nannten Muskeln muss also offenbar in den Centren, nicht aber an 
der Peripherie, liegen, was durch die Falle von associirter Abweichung 
der Augen nach einer Seite bei Cerebralaffectionen befestigt wird. 

Aus einer Reihe weiterer Thatsachen geht sodann hervor, dass das 
nachste Centrum fiir die associirte Thatigkeit beider Muskeln bei lateraler 
Abweichung der Augen dargestellt wird von dem Abducenskem und 
nicht von dem Nucleus oculomotorii fiir den Musculus rectus medialis. 
Ware namlich letzteres der Fall, so mtissten wir neben nuclearer Oculo- 
motoriuslahmung bei Contractionsunfahigkeit des Musculus rectus me¬ 
dialis des gelahmten Auges gleichzeitig Paralyse des Musculus rectus 
lateralis des entgegengesetzten Auges vor uns haben, was aber nicht 
zutrifft. Fiir die erwahnte Annahme spricht andererseits die associirte 
Lahmung des Rectus lateralis an einem und des Rectus medialis an dem 
anderen Auge bei Erhaltung der synergischen Beweglichkeit dieses 
letzteren und des gleichnamigen Muskels der anderen Seite, wie dies in 
unserem Falle sich verwirklicht fand. Es kann also Lahmung der soeben 
erwahnten synergischen Bewegung des Rectus lateralis der einen und des 
Rectus internus der anderen Seite eine Erklarung finden in dem Falle, 
wenn eine Affection des Abducenskernes oder der corticalen Bahnen dieses 
letzteren vorliegt. Thatsachlich ergiebt die klinische Beobachtung, 
dass das eigenthtimliche Symptom der Abweichung beider Augen nach 
einer Seite, wie es bei Herdaffectionen des Gehirns zur Beobachtung 
gelangt, jedes Mai nach der Seite der Cerebralaffection statt hat, wenn 
letztere im Gebiet der Hemispharen Platz greift, dagegen bei Affectionen 
der Varolsbriicke nach der dem Hirnherde entgegengesetzten Seite. 
Dies erklart sich in einfachster Weise so, dass in dem erstgenannten 
Falle die fiir die fragliche associirte Augenbewegung bestimmten 
Leitungsbahnen vor ihrer Kreuzung, bei BriickenafFectionen hingegen 
die gleichen Bahnen nach vollendeter Kreuzung oder aber der Nucleus 
abducentis selbst afficirt erscheint. In unserem Falle also, wo nach 
beiden Richtungen die seitlichen Augenbewegungen aufgehoben sind, 


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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 233 

handelt es sich im Wesentlichen offenbar entweder um eine bilaterale 
Affection der vorhin erwahnten Leitungsbahnen fttr die bilaterale 
Augenmuskelinnervation, oder aber um eine Affection der Kerne beider 
Nervi abducentes. Einfache Wurzelaffection beider Abducensnerven 
wffrde offenbar alle beobachteten Erscheinungen nicht zu erklaren 
vermogen, da ja bei unserem Kranken auf Verschiebungen des fixirten 
Gegenstandes nach rechts und links keine synergische Bewegung beider 
Musculi recti mediales eintritt, wiewohl Convergenz der Augenaxen 
dabei vollig regelrecht erfolgt. 

So findet die Angelegenheit vom klinischen Standpunkte ihre Er- 
ledigung. Was sagt uns aber hieriiber die Anatomie und Physiologie 
des Nervensystems? Im Hinblick auf die synergische Function des 
Rectus lateralis der einen und des Rectus medialis der anderen Seite 
und mit Rticksicht auf die schon vorhin erwahnten Thatsachen, aus 
denen zur Evidenz hervorgeht, dass der Nucleus nervi abducentis das 
nachste Innervationscentrum ftir die Augenmuskeln darstellt, haben 
einige franzosische Forscher (Duval, Laborde u. A.) der Vermuthung 
Raum gegeben, der Musculus rectus medialis erhalte seine Innervation 
nicht aus dem Oculomotoriuskern, sondern aus dem Abducenskern. 
Andere Autoren beschreiben einen Faserzug unter dem Boden der 
Rautengrube, der vom Abducenskern der einen Seite zura Oculo¬ 
motoriuskern der anderen Seite verlaufen soil (Graux). Mit der 
ersterwahnten Ansicht stehen jedoch die Thatsachen der Pathologie 
im Widerspruche. Handelt es sich namlich um eine Affection des 
Kernes oder der centralen Bahn des N. abducens der einen Seite, so 
m&sste nicht nur Lahmung des Musculus rectus lateralis der einen 
Seite, sondern auch totale Paralyse des Rectus medialis der anderen 
Seite vorliegen, was aber in den entsprechenden Fallen de facto nicht 
zutrifft. Die Sache lauft also hinaus auf das Vorhandensein einer 
anatomischen Verbindung zwischen dem Abducenskern und dem Kern 
fftr den Musculus rectus internus des entgegengesetzten Auges, und 
als einziges Innervationscentrum ftir diese gemeinsame Bewegung er- 
scheint der Kern des N. abducens. So erklaren sich die oben auf- 
gefhhrten Erscheinungen bei cerebralen Affectionen mit Localisation 
in der Varolsbrflcke. Freilich besitzt auch der Kern des Musculus 
rectus medialis eine selbstandige corticale Innervation, doch tritt diese 
Innervation offenbar nur dann in Wirksamkeit, wenn die Nothwendig- 
keit zur Convergenz der Augenaxen auftritt, also im Falle einer 
synergischen Contraction der beiden geraden Augenmuskeln. 

Wie schon erwahnt, beschreiben einige franzosiche Beobachter 
einen Faserzug, welcher uuter dem Boden des vierten Yentrikels von 
dem Abducenskern der einen Seite zu dem Oculomotoriuskern der 


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234 


XIV. v. Bechterew 


anderen Seite verlaufen soli. Diese Angaben haben jedocb durch 
spatere Untersuchungen nicht bestatigt werden konnen. Dagegen ver- 
mochte ich bei meinen eigenen Untersuchungen an entsprechenden 
Durchschnitten Fasem zu eruiren, welche aus dem Abducenskem in 
das Gebiet des hinteren Langsbiindels der gleichen und der entgegen- 
gesetzten Seite hintibergehen. *) 

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass durch Vermittlung dieser 
Fasern des hinteren Langsbiindels eine Verbindung des Abducens- 
kerns mit dem fiir den Musculus rectus medialis bestimmten Theile 
des Oculomotoriuskerns zu Stande kommt. 

Was die centrale Leitungsbahn fiir die associirten Augenabweichun- 
gen betrifft, so kommen wir hierauf nach Darlegung der physiologischen 
Verhaltnisse nock naher zuriick. 

In physiologischer Beziehung besitzen wir ziemlich umfassende 
Vorstellungen von den corticalen Centren fiir die seitlichen Bewegungen 
der Augapfel. 

In seinem Werke fiber Gehirnfunctionen eruirt schon Ferrier 
im Gebiete des Lobus postfrontalis, bezw. im hinteren Theil des Stim- 
lappens bei verschiedenen Geschopfen ein Centrum fiir Lideroffnung, 
Pupillenerweiterung und seitliche Abweichung der Augen und des 
Kopfes nach der entgegengesetzten Seite. 

Spaterhin zerlegten Horsley und Beevor mit Hiilfe schwacher 
Strome das genannte Centrum der Augen- und Kopfbewegungen in 
drei verschiedene Centra: ein oberes oder mediales fiir die Bewegungen 
des Kopfes nach der entgegengesetzten Seite, ein mittleres fiir die 
Bewegungen von Kopf und Augen nach der entgegengesetzten Seite 
und ein unteres oder lateral es fiir die Abweichungen der Augapfel 
nach der entgegengesetzten Seite. Mott 2 ) versuchte dann eine noch 
weitergehende Zerlegung des Centrums fiir die Drehbewegungen des 
Kopfes durchzufuhren. Nach seinen Befunden hat namlich Reizung 
verschiedener Theile dieses Centrums zur Folge a) Drehung der Augen 
nach der entgegengesetzten Seite in horizontaler Richtung, b) Drehung 
der Augen nach der entgegengesetzten Seite und nach oben, und 
c) Drehung der Augen nach der entgegengesetzten Seite und nach 
unten. Das Centrum fiir c findet sich nach Angabe von Mott am 
weitesten nach oben, dann folgt das Centrum fiir die Drehung der 
Augen in horizontaler Richtung, und noch weiter unten hat das Centrum 
fiir die Bewegungen der Augen nach der entgegengesetzten Seite und 
nach oben seine Lage. Das Vorhandensein eines Centrums fiir die 

1) W. v. Bechterew, Die Leituugsbahnen im Gehim und Buckenmark. 
2. Aufl. Bd. I. 

2) Brain. 1890. 


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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 235 

Bewegung der Augapfel nach der entgegengesetzten Seite ist von 
Beevor und Horsley auch beim Orang im hinteren Theil des Stirn- 
lappens nachgewiesen worden. 

Bei meinen eigenen Untersuchungen fiber diesen Gegenstand, die 
noch im Jahre 1880 begonnen wurden, fand ich das Centrum fiir die 
contralateralen Augen- und Kopfbewegungen bei verschiedenen Thieren 
im Gebiete der vorderen Abtheilung des Gyrus sigmoideus. Bei den 
Affen wurden Bewegungen des Kopfes und der Augen nach der ent¬ 
gegengesetzten Richtung in meinen Fallen grosstentheils gemeinsam 
von einem ziemlich umfangreichen Felde aus, welches vor dem Gyrus 
centralis anterior seine Lage hatte, ausgelost. Die mehr nach oben 
gelegenen Theile dieses Feldes ergaben aber unzweifelhaft isolirte 
Kopfdrehungen nach der entgegengesetzten Seite. Dagegen ergiebt 
Reizung der mehr nach unten gelegenen Theile des in Rede stehenden 
Feldes isolirte Abweichung der Augapfel nach der entgegengesetzten 
Richtung. Was die Bewegungen der Augenbulbi nach anderer Richtung 
bei Reizung einzelner Theile jenes Centrums betrifft, so waren dieselben 
in meinen Versuchen nicht durch Constanz ausgezeichnet. 

Unlangst sind in meinem Laboratorium von Herrn Dr. Herwer 
in dieser Beziehung eingehende Untersuchungen angestellt worden und 
es ergaben hier die Experimente an Hunden ganz analoge Befunde. 
Ich hatte ferner Gelegenheit, bei einem Kranken an dem wegen Epilepsie 
blossgelegten Gehirn festzustellen, dass faradische Reizung der hinteren 
Abtheilung des Gyrus frontalis medius Abweichung der Augen und 
des Kopfes nach der entgegengesetzten Seite ergiebt. Es hat also dieses 
Centrum bei dem Menschen ganz dieselbe Lage wie bei den Thieren. 

Ferner giebt es Beobachtungen fiber pathologische Destruction 
des mehrfach erwahnten Rindengebietes, wobei paralytisehe Abweichung 
der Augen und des Kopfes nach der Seite der afficirten Hirnhemisphare 
zu Tage traten. 

In einzelnen solchen pathologischen Fallen beobachtete ich sogar 
isolirte seitliche Abweichung der Augen nach der Richtung der er- 
krankten Hemisphere. 

Es darf also die Localisation des Centrums ftir die seitlichen Ab- 
weichungen der Augapfel am Fusse des Gyrus frontalis medius als 
keinem Zweifel unterliegend angesehen werden. 

Auch die hinteren Gebiete der Hemispharenrinde, wie bekannt, be- 
herbergen Centra fftr die Bewegungen der Augapfel, doch stehen diese 
von mir auch vielmal untersuchten Centra, wie die aus Munk’s Labora¬ 
torium hervorgegangenen Untersuchungen von Obregia gezeigt haben, 
in innigstem functionellen Zusammenhang mit dem Sehcentrum und 
besitzen nach Annahme einiger Forscher nicht einmal voile Selbstandig- 


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236 


XIV. v. Bechterew 


keit, sondern iiben durch die frontalen Centra ihre Wirksamkeit auf 
die Kerne des N. abducens. 

Aehnliche Centra flir seitliche Bewegung der Augen befinden sich, 
wie ich mich iiberzeugen konnte, in der Rinde der oberen Partien der 
Schlafenlappen. Es ist ofifenbar, dass diese Centra mit den Horcentra 
in Beziehung stehen. Unlangst wurden die Centra flir Augenbewegungen 
in den Schlafenwindungen ausflihrlich in meinem Laboratorium von 
Dr. Larianoff und Gerwer untersucht. 

Sowohl die Centra der hinteren Partien der Hemispharen als auch 
die Centra der Schlafenwindungen sind ofifenbar reflectorischer Natur, 
da die voile Zerstorung dieser Centra keine seitliche Ablenkung der 
Augen ausfiihrt. 

Indem wir nun zu den Leitungsbahnen, welche die frontalen Rinden- 
centra flir die seitlichen Augenbewegungen mit den Abducenskernen 
in Verbindung setzen, tibergehen, konnen wir schon hier bemerken, 
dass dieselben in Gemassheit einer ganzen Reihe klinischer und anato- 
mischer Befunde wohl mit Sicherheit durch die innere Kapsel und 
den Himschenkel zur Brttcke vordringen, wo sie vor ihrem Eintritt 
in die Abducenskerne der Kreuzung in der Raphe unterliegen. 

Wie aus den klinischen Befunden zweifellos hervorgeht, gelangt 
bei Aflfectionen bezw. Continuitatsaufhebung dieser Bahn auf irgend 
einer Strecke derselben vor der Unterbrechung in der Briickengegend 
associirte Abweichung der Augen nach der Seite der Erkrankung in 
der gleichen Weise zur Beobachtung wie bei Aflfectionen der Hemi- 
spharenrinde im hinteren Theil des Stirnlappens. Reizung dieser Bahnen 
dagegen hat zur Folge associirte Abweichung der Augapfel nach der 
entgegengesetzten Seite. 

Es konnen also weder durch Zerstorung noch durch Reizung der 
corticalen Centra und der aus denselben hervorgehenden Bahnen isolirte 
Aflfectionen der Augenmuskeln hervorgerufen werden. 

Diese Thatsache im Zusammenhang mit dem Umstand, dass auch 
das nachste Centrum flir die synergische Seitwartswendung der Aug¬ 
apfel in dem Kern des N. abducens seine Lage hat, ist ausserordent- 
lich bedeutungsvoll in diagnostischer Beziehung. Sie gestattet uns in 
alien jenen Fallen, wo isolirte Lahmungen von Augenmuskelnerven 
vorliegen, eine centrale Affection im Gebiet der Rinde und liberhaupt 
im Gebiet der Hemispharen mit positiver Sicherheit auszuschliessen, 
so dass der Diflferentialdiagnose nur noch zwischen nuclearer und peri- 
pherischer Affection die Wahl iibrig bleibt. 

In unserem Falle waren die in Rede stehenden Bahnen im Gebiet 
der Varolsbriicke ofifenbar schon vor ihrem Eintritt in die Abducens¬ 
kerne afficirt. So erklaren sich die charakteristischen Erscheinungen 


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L T eber eine Affection der Varorschen Brficke mit bilateraler Lahmung etc. 237 

an den Augen, bezw. erklart sich die bilaterale Aufhebung der seit- 
lichen Bewegungen der Augapfel. Bei einer peripherischen Abducens- 
lahmung hingegen hatte es sich um einfaches Einwartsschieben ohne 
jede Storung der Function des Recti medialis handeln mtissen. 

Von anderen besonders bemerkenswerthen Symptomen erwahnen 
wir zunachst die als Fussphanomen und Patellarphanomen be- 
kannten Erscheinungen. Dieselben verdienen Beachtung, einmal weil 
auf der linken Seite in unserem Falle schon am zweiten Tage nach 
der Erkrankung Fussphanomen auftrat, dann aber auch mit Rficksicht 
auf den Umstand, dass dieses Phanomen, nachdem es spaterhin auch 
auf der rechten Seite sich herausgebildet, in einem fernen Zeitpunkte 
nach dem Beginn des cerebralen Anfalis vollig verschwand, noch ehe 
die Lahmungserscheinungen durch die eingeleitete Therapie batten zum 
Schwinden gebracht werden konnen. Bemerkenswerth ist ferner, dass 
das Fussphanomen auf der linken Seite schon am zweiten Tage nach 
dem Auftreten des zweiten Anfalis manifest wurde. Auf der rechten 
Seite entwickelte sich Fuss- und Patellarphanomen zwischen dem 10. 
und 14. Tage nach dem Beginn der Erkrankung, auf der linken Seite 
hingegen bestand Fussphanomen schon am Tage nach dem in Lahmung 
der linken Extremitaten ausgehenden zweiten Anfall. Vorher waren 
auf der linken nicht gelahmten Seite nicht die geringsten Spuren von 
Fussclonus nachweisbar. In der Folge aber, zwischen dem 17. und 21. Mai, 
also 9—13 Tage nach dem zweiten Anfall, waren bereits weder auf 
der rechten noch auf der linken Seite irgend welche Reste von Fuss¬ 
phanomen vorhanden. 

Vor einiger Zeit habe ich Gelegenheit gehabt 1 ), mich eingehender 
fiber das Fussphanomen zu aussern und fiber die Bedeutung, welche 
diesem Symptom in diagnostischer Beziehung zugeschrieben wird. Ich 
erhob dabei Bedenken gegen die Anschauungen yon Gowers, denen 
zufolge Fussphanomen ein untrfigliches Anzeichen einer bestehenden 
organischen Affection darstellt und speciell unzweifelhaft hindeuten 
soli auf Gewebsveranderungen im Rtickenmark und in der Mehrzahl 
der Falle auf eine Veranderung der Seitenstrange. Ich wies ferner 
hin auf eine Reihe allgemein zu den Neurosen gerechneter Erkrankun- 
gen, wie Myoclonus multiplex und Akinesia algera, wo dieses Symptom 
als vorfibergehende Erscheinung kfirzere oder langere Zeit anhalt. Man 
sagt auch, dass bei Hysterischen das Symptom manchmal in deutlicher 
Auspragung zur Beobachtung kommt. Endlich kann es bei Fallen 
von Neuritis multiplex auftreten, was ich auf Grundlage meiner eigenen 


1) W. Bechterew, Newrologitscheski Westnik. Bd. III. Heft 2. 1895. 
(Russiech.) Neur. Centr. 1895. S. 1157. 


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238 


XIV. v. Bechterew 


Erfahrungen nur bestatigen kann. Mail ersieht hieraus, dass Fuss¬ 
phanomen sehr wichtiges, aber kein untrugliches Merkmal einer be- 
stehenden organischen Affection des Centralnervensystems darstellt. 

Man bat bekanntlicb das Auftreten von Fussphanomen bei orga¬ 
nischen Erkrankungen des Nervensystems in Zusammenhang gebracht 
mit der Entwicklung secundarer Degenerationen in den Pyramiden- 
bahnen der Seitenstrange des Rtickenmarks, und diese Vermuthung 
sttitzt sich ganz besonders auf die Thatsache, dass das Fussphanomen 
in Fallen von organischen Affectionen gewohnlich in der Zeit zwischen 
dem 10. und 14. Tage nach dem Auftreten der Krankheit, wie dies 
beispielsweise auch in unserem Fall auf der rechten Seite beobachtet 
wurde, sich einstellt. Jedoch war das Phanomen an den Extremitaten 
der linken Seite, wie wir sahen, schon am zweiten Tage nach dem Auf¬ 
treten der Lahmung daselbst deutlich erkennbar. Schon mehrfach 
konnte friihes Auftreten von Fussphanomen festgestellt werden, so von 
Gowers, Westphal und mir selbst. 

In einem meiner Falle stellte sich das Symptom in den gelahmten 
Gliedmassen 36 Stunden, in einem anderen Falle 12 Stunden nach 
dem Beginn der Cerebralaffection ein. Bekannt ist ausserdem, was 
ich auch in meinen eigenen Fallen mehrfach eruiren konnte, voruber- 
gehendes Auftreten von Fussphanomen nach epileptischen Anfallen. 

In diesen und ahnlichen Fallen, wo von einer secundaren Degene¬ 
ration der Seitenstrange des Marks keine Rede sein kann, hat man in 
der Regel zu der Vermuthung einer bestehenden Schwachung der 
Seitenstrange Zuflucht genommen. ! ) Wenn aber diese Hypothese in 
Bezug auf jene Falle, wo das Phanomen im Anschluss an krampfhafte 
und speciell an epileptische Anfalle auftritt, noch einen Sinn haben 
kann, so wird sie jedenfalls vollig gegenstandslos, wenn das Phanomen 
sich einstellt im Anschluss an Cerebralaffectionen, die nicht von Krampf- 
erscheinungen begleitet werden. Und doch ging in meinen vorhin er- 
wahnten beiden Fallen, wo das in Rede stehende Symptom 36 und 
12 Stunden nach dem Gehirninsulte aiiftrat, letzterer mit keinerlei 
Krampferscheinungen einher. Gerade mit Riicksicht hierauf glaube 
ich, dass diese Hypothese von der Erschopfung der Seitenstrange des 
Marks, als mit den Thatsachen nicht iibereinstimmend, ganzlich auf- 
zugeben sei. Dagegen scheint mir in FjLllen von frtthzeitigem Auf¬ 
treten von Fussphanomen am meisten am Platze die Annahme einer 
abnormen Erregung der Reflexcentra des Riickenmarks als Folge von 
pathologischer Reizung der Riickenmarkscentra oder -Bahneu. Hierfiir 
spricht auch der Umstand, dass in den von mir beobachteten Fallen 


1) Vgl. Gower8, Diagnostik der Krankheiten des Ruckenmarks. 


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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 239 

frtihzeitigen Auftretens des Fussphanomens letzteres in der Regel 
schon wenige Tage nach dem Auftreten des Insultes allmahlich ver- 
schwand und von einfacher Erhohung der Reflexe abgelost wurde. 

In unserem Falle verschwand das Phanomen auf der linken Seite 
schon am 6. Tage nach seinem Auftreten. Ganz anders ist es bei 
spaterem Erscheinen des Fussclonus, wo letzterer in der Regel auch 
langere Zeit anhalt. Doch ist auch hier schnelles Zurttckgehen des 
Fussphanomens nicht unmoglich, und so war es beispielsweise auch 
in unserem Falle an der rechten unteren Extremitat, wo es, wie ge- 
wohnlich bei cerebralen Lahmungen, am 10.—14. Tage auftrat und 
um den 35. Tag nach dem Insult verschwand. Das Verschwinden des 
Fussphanomens in dem in Rede stehenden Fall fiel zeitlich zusammen 
mit der Entwicklung von Contracturen in den rechtsseitigen Extremi- 
taten, ein Umstand, der meines Erachtens nicht ganz ohne Belang ist. 
Ich habe namlich auch in anderen Fallen cerebraler Lahmungen eruiren 
konnen, dass im Augenblicke des Auftretens secundarer Contracturen 
in den gelahmten Gliedmaassen das Fussphanomen verschwindet. Wie 
dieser Zusammen hang zwischen Contractur und Verschwinden des 
Fussclonus zu erklaren sei, ist eine andere Frage. Man konnte hier 
allem zuvor denken an eine mit dem Auftreten der Contraction ein- 
hergehende Alteration des Muskeltonus, der ja fftr das Auftreten der 
Reflexe iiberhaupt und des Fussphanomens im Besonderen von so hervor- 
ragender Bedeutung ist. 

Es kann nun zwar auch an eine mit dem Auftreten der Contrac¬ 
turen einhergehende Steigerung von Hemmungswirkungen gedacht 
werden, in Folge deren dann das Symptom des Fussphanomens ver- 
loren gehh Doch lassen sich zu Gunsten dieser letzteren Ansicht 
keine ausreichenden Beweise geltend machen, und sie kann uns daher 
keine unanfechtbare Erklarung liefem fur das plotzliche Verschwinden 
des Fussclonus, wahrend die erwahnte Veranderung des Muskeltonus 
sehr wohl geeignet erscheint, die Erscheinung in befriedigender Weise 
zu erklaren. Es ist namlich bei dem Auftreten der Contractur die 
unwillkurliche Muskelspannung in den Extremitaten schon so be- 
deutend, dass es zwar noch gelingt, das Bein in eine zur Hervor- 
rufung des Fussphanomens geeignete Lage zu bringen, nicht aber die 
Wadenmusculatur in jenen passiven Zustand sich versetzen lasst, 
welcher zum Zustandekommen des fraglichen Reflexes nothwendige 
Bedingung bildet. Dass die Ursache des Verschwindens des Fuss¬ 
phanomens thatsachlich auf abnormer Spannung der Wadenmusculatur 
beruht, ergiebt sich aus dem Umstande, dass in anderen Fallen, wo 
die Contractur aus diesem oder jenem Grunde nachliess, das Fuss¬ 
phanomen wiederkehrte, um im Augenblick erneuter Steigerung der 


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240 


XIV. v. Bechterew 


Contractin' wieder zu verschwinden. Es braucht kaum noch bemerkt 
zu werden, dass auch das Verschwinden des Patellarphanomens in 
unserem Falle in Abhangigkeit stand von abnormer Spannung bezw. 
Contractur der Extensoren des Oberschenkels. 

Als weitere Erscheinung ist das bei unserem Kranken beobachtete 
zwangsweise Weinen und Lachen ganz besonderer Beachtung 
wtirdig. Diese Erscheinung, die von mir zuerst bei Herderkrankungen 
des Gehirns beschrieben worden ist, ist schon an einem frttheren Orte, 
bei der Darstellung zweier anderer von dem gleichen merkwiirdigen 
Symptom begleiteter Falle von mir naher erortert worden. Doch 
glaube ich im Hinblick auf einige Besonderheiten des eingangs dieses 
Aufsatzes mitgetheilten Falles und im Hinblick auf einige nach Ver- 
offentlichung meiner ersten Beobachtungen hieriiber im Auslande er- 
schienenen beztlglichen Mittheilungen nicht fehlzugehen, wenn ich die 
vorliegende Frage hier noch einmal bertihre. Allem zuvor verdient 
betont zu werden, dass das Symptom des Zwangslachens und Zwangs- 
weinens im vorliegenden Falle bei einer Affection auftritt, die an der 
Basis des Gehirns, und zwar im Gebiet der Varolsbrticke ihren Sitz 
hat. Schon frtther hatte ich unter Zusammenstellung aller Falle von 
Zwangslachen darauf hingewiesen, dass es sich in derartigen Fallen 
gewohnlich um Affectionen der Hemispharenrinde handelt, und mit 
Rticksicht auf diesen Umstand konnte ich hervorheben, „dass Falle von 
zwangsweisem Lachen bei Affectionen anderer Hirnregionen, z. B. der 
inneren Kapsel und der Ganglien, merklich seltener vorkommen als 
Rindenaffectionen mit dem gleichen Symptom des Zwangslachens." ] ) 
Als bemerkenswerth ware der hier beschriebene Fall daher zunachst 
insofern hinzustellen, als derselbe die Moglichkeit des Auftretens jener 
eigenthlimlichen Zwangserscheinung auch bei Affectionen, die ober- 
halb des verlangerten Markes ihren Sitz haben, in bestimmter Weise 
darthut. 

Was die Pathogenese der Erscheinung betrifft, so konnte in meiner 
fruheren Mittheilung uber den gleichen Gegenstand auf Grundlage einer 
genauen Analyse aller Begleiterscheinungen der Schlusssatz gewonnen 
werden, „Lachen als Ausdrucksbewegung komme offenbar unter Ver- 
mittelung der Thalami optici zu Stande, und die Fortleit.ung der von 
der Gehimrinde und von der Peripherie (bei reflectorischem Lach- 
reiz) ankommenden Erregungen mttsse durch ein den Sehhtigeln 
angehorendes Fasersystem vor sich gehen. NatOrlich ist dabei 
zu beachten, dass zu den Centren in den Thalami optici von 


1) W. Bechterew, Nervenkrankheiten. 1894. Heft 1. Newrolog. Westnik, 
1883 (russisch). Arch. f. Psych. 1895. 


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Ueber eine Affection der Varol'schen Brucke mit bilateraler Labmung etc. 241 

der Rinde her sowohl erregende, wie hemmende Impulse ttbertragen 
werden.***) 

Was die Entstehung des Zwangslachens in pathologischen Fallen 
betriflft, so kann dieses Symptom, wie ich bereits frtiher hervorgehoben 
habe, einerseits bedingt sein durch Wegfall willktirlicher Hemmungs- 
wirkungen, andererseits durch den Einfluss gesteigerten unwillkflrlichen 
Lachreizes. Ebenso bin ich in meiner mehrerwahnten fruheren Ab- 
handlung zu dem Schluss gelangt, dass Zwangsweinen die gleiche 
physiopathologische Grundlage besitzt, wie Zwangslachen, also gleich- 
falls bedingt wird entweder durch Ausfall von Hemmungen oder durch 
Reizung der entsprechenden Centra und Leitungsbahnen. 

In beiden Fallen bandelt es sich somit, wie wir sahen, um Affec¬ 
tion eines Fasersystems der Sehhiigel, in welchen meinen Versuchen 
zufolge unter anderem auch Centra fur die angeborenen Ausdrucks- 
bewegungen und ftir die Innervation der vegetativen Kbrperfunctionen 
eingeschlossen sind. 

Wie verhalt es sich nun aber mit dem Auftreten von zwangs- 
weisem Lachen und Weinen in nnserem Falle bei einer Affection im 
Gebiet der Varolsbr&cke? Auch in diesem Falle haben wir offenbar 
an eine Affection von Bahnen zu denken, welche die Thalami mit 
tiefer liegenden Centren in Verbindung setzen. Dass dem thatsachlich 
so sei, ergiebt sich unschwer aus einer Analyse der im vorliegenden 
Falle beobachteten Storungen. Wie wir sahen, gab es in unserem 
Fall ausser Storungen im Gebiet des willktlrlichen Muskelsystems eine 
Reihe von Storungen der Function jener Organe, deren Innervation 
den vorhandenen physiologischen Untersuchungen zufolge in gewisser 
Abhangigkeit sich befindet von der normalen Function der Thalami 
optici. Meine speciellen auf Eruirung der Functionen der Sehhiigel 
hinzielenden Versuche haben mir gezeigt, dass Reizung dieser Ganglien 
bei verschiedenen Thieren neben Beschleunigung der Athmung ver- 
schiedene aufifallende Respirationsbewegungen, welche in andauemde 
Bethatigung der Stimme Ubergehen, zur Folge hat. Die Thalami optici 
Uben, wie meine Versuche des Weiteren ergeben haben, einen Einfluss 
auf das Gefasssystem und dieErweiterung der Pupille, auf dieThranen- 
absonderung, auf die Herzthatigkeit, auf die Bewegungen des Magens 
und der Darme, und zwar nicht in reizendem, sondem auch in hem- 
mendem Sinne, ferner auf die Contractionen der Harnblase und auf 
die Thatigkeit der Geschlechtsorgane. Nattirlich schliesst dies in keiner 
Weise die Moglichkeit eines Einflusses tiefer gelegener Hirnregionen 
auf die genannten Thatigkeiten aus. Beispielsweise vermochte ich 


1) W. Bechterew, a. a. O. S. 71. 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 16 


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242 


XIV. y. Bechterew 


noch ganz unlangst experimentell nachzuweisen, dass die Region des hin- 
teren Vierhtigels unter anderem als Centrum des Gehors, der Phonation und 
der Association von Reflexerregungen sich darstellt. Doch ist ersichtlich, 
dass die Verbindungen der Sehhtigel mit den tiefergelegenen Gebilden 
von unzweifelhaftem Einfluss sein miissen auf die gleichen Functionen, 
auf welche jene selbst einen Einfluss tiben. Die Thalami erscheinen 
sozusagen als hohere subcorticale Sammelcentra fflr die erwahnten 
Functionen, und in diesem Sinne ist hier die Rede von einem Faser- 
system der Thalami optici. 

Bei unserem Kranken beobachteten wir nun bestandige Exspira- 
tionsbewegungen, begleitet von eigenartigen, einem Gestohne zu ver- 
gleichenden Gerauschen, sodann eine durch andere Ursachen nicht 
erklarliche Beschleunigung der Herzthatigkeit und Erweiterung der 
Pupillen, femer durch Laxantia nicht zu beseitigende Obstipationen 
und Harnretention, die mittelst Katheterisirung der Harnblase bekampft 
werden musste. Augenscheinlich lassen sich alle diese Symptome durch- 
aus ungezwungen erklaren mit der Annahme einer durch das Blut- 
extravasat in der Briickengegend bedingten Affection jener Systemen 
von Leitungsbahnen, welche in cerebraler Richtung mit den Sehhtigeln 
in Verbindung stehen. 

Mit Rflcksicht auf diese Verhaltnisse scheint es uns, dass auch 
hier jenes merkwiirdige Symptom des zwangsweisen Lachens und Wei- 
nens zu erklaren sei durch eine Erkrankung der den Sehhtigeln an- 
gehorenden Leitungsbahnen, die bekanntlich im Gebiete der Formatio 
reticularis, also in der Briickenhaube ihre Lage haben. Auch Brissaud, 
welcher nach der Veroffentlichung meiner vorhin erwahnten Beobachtung 
gleichfalls fiber zwangweise auftretendes Lachen bei cerebralen Herd- 
erkrankungen berichtet 1 ), kommt gleich mir zu dem Schlusse, das 
Symptom sei ein Ausdruck gesteigerter Function der Sehhtigel. Im 
Uebrigen bringt Brissaud das Auftreten dieses Symptoms inAbhangig- 
keit von einer Lahmung der willktirlichen Motilitat der Gesichtsmuskeln. 

Letztere Ansicht ist aber im Grunde nichts Anderes als eine Wieder- 
holung einer vor vielen Jahren angedeuteten Darstellung, welche ich 
schon vor langer Zeit aufgegeben habe 2 ). Man muss aber bemerken, 

1) Brissaud, Revue scientifique 1894. 

2) Vgl. meine Artikel : Ueber die Functionen der Sehhugel bei den Thieren 
und bei den Menschen. Westnik psichiatrii (russisch). 1885. Virchow’s Archiv. 
Bd. 110. 1887. S. 351. Ich schrieb damals Folgendes: „Die Erscheinung des 
unaufhaltbaren Lachens und Weinens kann in solchen Fallen, wie mir scheint, 
nur so erklart werden, dass der Kranke in Folge von Lahmung der willktirlichen 
Gesichtsmotilitat der Fahigkeit beraubt ist, die mimischen Bewegungen zu 
hemmen, wodurch er bezuglich des Ausdrucks seiner Empfindungen macht- 
lo8 wird. u 


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Ueber eine Affection der Varol'schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 243 

d&ss Lacben nicht nur besteht in mimischen Antlitzbewegungen, son- 
dem sich ausserdem zusammensetzt aus einer Reibe anderer Bewegungen, 
wie z. B. exspiratorische Excursionen des Thorax mit vorfibergehen- 
dem Schlusse der Glottis, als Folge deren das als Gelacbter bezeichnete 
Stimmphanomen beim Lacben auftritt, femer mehr oder weniger in¬ 
tensive Thranenabsonderung und auffallendes Errothen des Antbtzes. 
Yon diesen Bewegungserscheinungen bilden die mimischen Antlitz¬ 
bewegungen sozusagen nur die am meisten hervortretende Aussenseite. 
Dabei sind alle erwahnten Bewegungen einander durchaus nicht in der 
Weise subordinirt, dass Hervorrufung irgend einer von ihnen das 
Auftreten der ttbrigen veranlassen konnte. Im Gegentheil, alle diese 
Bewegungen befinden sich in einem dcrarfcigen Verhaltniss wechsel- 
seitiger Coordination, dass Hinwegfall einer derselben keinen Ausfall 
der fibrigen Componenten des zusammengesetzten Lachactes nach sich 
ziehi Beispielsweise bei bilateraler peripherer Facialislahmung ist 
Lachen im gewohnlichen Sinne dieses Wortes in Folge der totalen 
Starrheit des Antlitzes nicht mehr moglich, aber unter der kalten Maske 
kann zweifellos ein Lachen in Gestalt besonderer Stimmphanomene 
mit Blutandrang zum Antlitze und Feuchtwerden der Augapfel 
verborgen sein. Es fehlt nur die so sehr bezeichnende Antlitzbewe- 
gung, und solche Falle konnen zu irrthtimlichen Schlfissen fiber Vor- 
handensein oder Fehlen eines Lachactes Anlass geben. 

Es ist aber bekannt, dass es mit Hfilfe willkfirlicher Innervation 
der Antlitzmuskein moglich sei, ein aufsteigendes Lachen zurfickzuhalten, 
wenn zum Auftreten desselben genfigende Grfinde vorliegen. Jeder- 
mann weiss, dass durch Beherrschung der Gesichtsmuskeln das Lachen 
bis zu einem gewissen Grade hintangehalten werden kann; aber diese 
Hintanhaltung des Lachens ist nur in sehr beschranktem Grade mog¬ 
lich. Alles dies weist darauf hin, dass die oben erwahnte, zuerst von 
mir angegebene und spaterhin von Brissaud wiederholte Betrachtungs- 
weise der Pathogenese des zwangweisen Lachens nicht ffir alle Falle 
annehmbar erscheini 

In dem uns hier beschaftigenden Falle nun bestanden in der ersten 
Zeit Erscheinungen von Lahmung der willkttrlichen Antlitzbewegungen, 
auffidlender Weise jedoch stellte sich bei dem Kranken zwangsweises 
Lachen gerade in jener Krankheitsphase ein, wo die Lahmung der 
willkfirlichen Antlitzbewegungen bereits verschwunden war. Augen- 
scheinlich kann also die Ursache des zwangsweisen Lachens bezw. des 
zwangsweisen Weinens in diesem Falle nicht oder nicht ausschliesslich 
in der Aufhebung der Willkfirbewegungen des Antlitzes gesucht werden. 
Denn es kommt zwangsweises Lachen und Weinen fiberhaupt nicht 
selten gerade in jenen Fallen zur Beobachtung, wo eine Lahmung der 

16 ♦ 


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244 


XIV. v. Bechterew 


wiUkiirlichen Gesichtsmuskelbewegungen vorhanden ist oder wenigstens 
bestanden hat, so dass sich dieser Umstand rneines Erachtens ohne 
Schwierigkeiten dadurch erklaren lasst, dass die von der Rinde zum Thala¬ 
mus hinziehenden Leitungsbahnen, deren Affection zwangsweises Lachen 
auch hervorrufen kann, in nachster Nachbarschaft yerlaufen von den 
Bahnen der wiUkiirlichen Bewegungen des Antlitzes. 

Beachtung verdient ferner die bei unserem Kranken beobachtete 
Sprachstorung. 

Nach dem ersten AnfaU ausserte sich diese Storung nur in laUen- 
der Sprache oder Behinderung der Aussprache, nach dem zweiten An- 
falle aber vermochte der Kranke bereits kein Wort hervorzubringen. 
Spaterhin lernte der Kranke, zunachst gewissermassen zufallig, einige 
Worte hervorzubringen, und bisweilen beschrankte sich seine Sprache 
auf einige Silben. Ftir fremde Rede besass der Kranke ein voUes Ver- 
standniss, es bestand also keine Worttaubheih 

Im Zusammenhang mit unseren obigen Darlegungen beztiglich der 
Localisation des Krankheitsprocesses in der Varolsbr&cke gewinnt der 
AusfaU der Sprache hier ein ganz besonderes Interesse. Man konnte 
denken, es stehe dies in Beziehungen zu der beiderseitigen Hypoglossus- 
lahmung bei unserem Kranken. Der Kranke vermochte in der That 
eine Zeit lang weder die Zunge vorzustrecken, noch mit der Zunge 
irgend eine Bewegung zu vollfuhren. Das konnte nicht ohne Einfluss 
bleiben auf die Sprache des Kranken, und in Abhangigkeit von der 
Zungenlahmung ist fraglos der Umstand zu bringen, dass der Kranke 
in der ersten Zeit weder weiche Selbstlaute, noch jene Mitlaute, die 
wie die Zahn- und Gaumenlaute eine Betheiligung der Zunge erfordern, 
hervorzubringen im Stande war. Es bleibt indessen zu beachten, dass 
in der Zeit des Rtickganges der Bewegungsstorungen, als der Kranke 
bereits die Zunge bewegen konnte, er nichtsdestoweniger, abgesehen 
von einigen Worten, nicht sprechen konnte, wiewohl er bereits im 
Stande war, aUe ihm vorgesagten Worte mit Htilfe des Gehors zu 
wiederholen, er also jene Erscheinung darbot, weiche als Echolalie 
bekannt ist. Konnen diese Verhaltnisse nicht erklart werden durch 
die Annahme eines besonderen Stimmcentrums an der Gehirnbasis, 
dessen Zusammenhang mit der Hemispharenrinde im vorliegenden FaUe 
unterbrochen sein konnte? 

Ueber die functionelle Bedeutung eines solchen besonderen Sprach- 
lautcentrums an der Gehirnbasis besitzen wir noch keine v5Uig abge- 
schlossenen Vorstellungen. Wiewohl zu Gunsten der Annahme eines 
derartigen Centrums sich eine Reihe klinischer Beobachtungen (insbe- 
sondere Falle von congenitaler Anencephalie) aufftihren lassen, haben 
unsere Kenntnisse hieriiber bisher keine wesentliche Erweiterung er- 


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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 245 


f&hren, so dass es angemessen erscheint, die physiologische Seite der 
Frage einer Prtifung zu unterziehen. 

Mit dem yon Krause, Semon Horsley, Masini u. A. beschrie- 
benen corticalen Stimmcentrum, welches ich bei meinen Versuchs- 
hunden constant am Knie der dritten Urwindung in der Nahe der 
Basis fissurae Sylvii vorfand, hat sich die jtingste Zeit ziemlich ein- 
gehend beschaftigt. Es ist jedoch positiv sicher, dass Abtragung dieses 
Centrums nicht nur die reflectorische Bethatigung der Stimme bei 
Thieren nicht aufhebt, sondern nicht einmal die Intonation und die 
Modulationsfahigkeit derselben zu alteriren vermag. 

Diese Thatsache habe ich zuerst im Jahre 1885 eruiren konnen 
und dienten mir hierzu zahlreiche Versuche an Vertretern der ver- 
schiedensten Thierspecies, bei denen ich sammtliche Theile der Hirn- 
hemispharen dicht bis zu den Sehhiigeln fortnahm. Es zeigte sich 
nun, dass nach diesem Eingriff die operirten Thiere unter dem Ein- 
flusse ausserer Reizwirkungen die ganze Summe deijenigen Schreie 
und Tone, zu denen sie tiberhaupt befahigt sind, von sich gaben. 

Hieraus ergiebt sich der augenscheinliche Nachweis, dass schon 
in den basalen Regionen des Gehirns Centra vorhanden sein miissen, 
welche den allermannigfaltigsten Stimmausserungen durchaus angepasst 
erscheinen und auf deren Mithiilfe das corticale Stimmcentrum offenbar 
die dem Thiere zu Gebote stehenden Stimmmittel wirksam werden lasst. 

Es kann jedoch keinerlei Zweifel unterliegen, dass auch unterhalb 
von den Sehhtigeln bei den Thieren ein besonderes Stimmcentrum an- 
gelegt ist Diese Thatsache war schon Longet und Vulpian wohl 
bekannt, und letzterer fand, dass beim Kaninchen Durchschneidung 
des Gehimstammes proximal von der Briicke die reflectorische Stimm- 
ausserung nicht aufhebt. Vulpian lenkte ferner die Aufmerksamkeit 
auf den Umstand, dass die Stimme in diesem Falle durch ihre Mono- 
tonie auffallt, jener Modellirung entbehrt, welche gesunden Thieren 
eigenthiimlich zu sein pflegt und wie sie auch jenen vorhin erwahnten 
Geschopfen nicht fehlt, denen die Hirnhemispharen hart bis an die 
Thalami fortgenommen wurden. Ich habe diese Versuche an verschie- 
denen Thierspecies und auch an Hunden bei der Untersuchung der 
Function der Thalami optici nachgepriift und bin zu den gleichen 
Ergebnissen gekommen. Es blieb also nur tibrig, die Localisation 
jenes primaren Centrums zu eruiren, welche fBr das Zustandekommen 
der Phonation maassgebend ist. 

Beachtenswerth erscheinen in dieser Beziehung die neuerlichen 
diesbezflglichen Untersuchungen von A. Onodi 1 ). Nach seinen Be- 


1) A. Onodi, Berliner klinische Woclienschrift 1894. Nr. 48. 


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246 


XIV. v. Bechterew 


funden bedingt quere Durchschneidung im Gebiete des Bodens des 
vierten Himventrikels fiber den Vagus- und demnach auch fiber den 
Hypoglossuskemen vollige Aufhebung der Stimme bei den Thieren. 
Die laryngoskopische Dntersucbung jedoch ergab in diesem Falle ein 
Klaffen der Stimmritze in einer Weite von 3—4 mm. Gleichzeitig 
wichen dieselben bei tiefer Inspiration wenig nacb aussen ab. Auch 
bei isolirter Durchschneidung der Corpora quadrigemina wurden 
die Thiere sofort stimmlos, wahrend die Glottis klaffend blieb. Da- 
gegen bei Durchschneidung des ganzen Himstammes unmittelbar nach 
vorn vom Vierhttgel gab das Thier Geschrei von sich und an den 
Bewegungen der Stimmbander waren keinerlei Veranderungen zu be- 
merken. Mit Rficksicht auf diese Befunde kommt Onodi zu dem 
Schlusse, das Stimmcentrum finde sich beim Hunde in einer Ausdeh- 
nung von 8 mm nach hinten von der Trennungslinie zwischen vorderem 
und hinterem Vierhfigel. Meine eigenen Versuche, welche im Verlaufe 
vieler Jahre, theilweise noch vor denjenigen Onodi's behufs Eruirung 
der Localisation des Stimmcentrums angeffihrt wurden, ffihrten zu Er- 
gebnissen, welche mit denen von Onodi im Ganzen fibereinstimmen, 
und ich schopfe aus solcher Uebereinstimmung der Ergebnisse zweier 
in voller Unabhangigkeit von einander ausgeffihrter Untersucher 
einen Hinweis darauf, dass die Resultate derselben zuverlassig sein 
mfissen. Die Localisation des Stimmcentrums wird ttbrigens durch 
meine Erhebungen genauer bestimmt, als durch diejenigen von 
Onodi. 

Abgesehen davon, dass Schnitte, welche unmittelbar hinter den 
Sehhugeln hindurchgehen, wie wir sahen, die reflectorische Phonation 
bei den Thieren nicht aufheben, konnte ich eruiren, dass beim Hunde 
Schnitte, die in schrager Richtung vom vorderen Vierhttgel bis zum 
Oberende des verlangerten Markes den ganzen Gehimstamm durch- 
setzen, ebenfalls keine Stimmlosigkeit zur Folge haben. Wohl aber 
ffihrt bedingungslos zu volliger Aphonie ein Schnitt, welcher von hinten 
nach vom so hindurchgelegt wird, dass er unmittelbar hinter dem 
Corpus quadrigeminum posterius beginnend, unter den Sehhugeln auf 
der Gehimbasis zur Anschauung kommt. Wenn hingegen der Schnitt 
durch den hinteren Vierhfigel selbst hindurchgeht und zwar so, dass 
ein Theil dieses Ganglions mit der Brticke in Verbindung bleibt, so 
ist vollige Aphonie, wenigstens in der ersten Zeit nach dem Eingriff, 
nicht zu verzeichnen, sondem lediglich mehr oder weniger ausgespro- 
chene Abschwachung der Stimme, die mit der Zeit auch ganz ausge- 
glichen werden kann. Bei der weissen Ratte, beim Kaninchen und 
Meerschweinchen fand ich nach Zerstorung der Region des hinteren 
Zweihfigels ausser Taubheit hochgradige Abschwachung und sogar 


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Ueber eine Affection der Varorschen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 247 

volliges Aussetzen der Stimme, trotz Erhaltung der Athmung bei den 
Thieren. Ich bin, gestiitzt auf diese Befunde, zu dem Schlusse ge- 
kommen, dass in der Gegend des hinteren Vierhtigels bei den Sauge- 
tbieren ein Stimmcentrum vorhanden ist, welches seiner Entwicklung 
nach in offenbarem Zusammenhange steht mit dem zu der Region des 
hinteren Vierhtigels gleichfalls in nachsten Beziehungen stehenden 
Gehorcentrum. 

Es lassen ja die neueren anatomischen Ermittelungen thatsachlich 
keinen Zweifel ubrig, dass das hintere Vierhugelganglion in innigstem 
Zusammenhange stehe mit den Gehornerven. Ich habe diese That- 
sache zuerst eruirt an der Hand von anatomischen Untersuchungen, 
die ich im Verlauf des Winters 1884/1885 in dem Laboratorium von 
P. Flechsig angestellt habe. Anf Gru^d dieser Untersuchungen hat 
P. Flechsig in seinem der Konigl. Sachs. Gesellschaft der Wissen- 
schaften in der Sitzung desselben vom 4. Mai 1885 vorgelegten Be- 
richte fiber meine Arbeit mit voller Bestimmtheit erklart, „die Unter- 
suchung von Foten von 28—30 cm Lange nothige zu der Annahme, 
dass der untere Vierhtigel durch die laterale Schleife mit der oberen 
Olive und hierdurch mit dem achten Gehirnnerven in Verbindung 
stehe“. Da ich schon vorher eruirt hatte, dass die Faserung des 
Trapezkorpers zu einem grossen Theile in dem vorderen Acusticuskern 
seinen Ursprung nimmt und dass letzterer neben dem Tuberculum 
acusticum einen Kern des Ramus cochlearis und nicht des Ramus 
vestibularis des Gehornerven vorstellt, so war hierdurch zum ersten 
Male der Zusammenhang des Gehornerven und zwar des Ramus coch¬ 
learis desselben mit dem hinteren Vierhtigel festgestellt worden. Die 
Ergebnisse dieser Untersuchungen sind in der Folge im Ganzen be- 
statigt worden durch die Atrophieversuche von v. Monakow, Ba- 
ginski 1 ) und Kirilzeff 2 ). Zufolge den Ermittelungen dieser Autoren 
verbindet sich der Gehomerv mit dem hinteren Vierhtigel nicht allein 
durch Vermittelung des vorderen Acusticuskerns und in den oberen 
Oliven unterbrochener Trapezfasem, sondern auch durch Vermittelung 
der sogenannten Striae acusticae Monako w's, welche aus dem Tuber¬ 
culum acusticum emporsteigen, von aussen und oben um das Corpus 
restiforme herumziehen und sodann, in medio-ventraler Richtung ver- 
laufend, sich fiber dem Trapezkorper mit denen der anderen Seite 
durchkreuzen und schliesslich mit jener lateralen Schleife, welche auch 
die Faserung des Trapezkorpers in sich versammelt, wiederum zum 
hinteren Vierhtigelganglion sich erheben. 


1) B agin ski, Virchow’s Archiv 1890. Bd. XXIX. 

2) Kirilzeff, Inaugural-Dissertation. Moskau. 


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248 


XIV. v. Bechterew 


Ohne naheres Eingehen weisen wir hier nur kurz auf die Unter- 
suchungen von Held hin, welche mit Htilfe der Golgi'schen Me- 
thode die Beziehungen der genannten Gehorbahn durch Collateralen 
zu den Nachbargebilden (z. B. zam Facialiskern und zu der Formatio 
reticularis, sowie zu den Elementen des vorderen Vierhtigels, die offen- 
bar bei der Entstehung der Reflexe mit von Bedeutung sind) naher 
darthun, sowie auf die Ermittelungen von v. Monakow, durch welche 
an der Hand von Atrophieversuchen der Zusammenhang des medialen 
Kniehockers, der die Fasern des Brachium corporis quadrigemini 
posterioris in sich aufnimmt, mit dem corticalen Gehorcentrum irn 
Schlafenlappen des Vorderhims nachgewiesen wird. Nach der ana- 
tomischen Seite hin ist der Zusammenhang des Schlafenlappens der 
Hemispharenrinde mit dem f hinteren Vierhtigelganglion und durch 
letzteres mit dem Nervus acusticus vollig sicher begrtindet. Noch 
ktirzlich ist durch Versuche fiber Zerstorung des Gehorcentrums des 
Schlafenlappens beim Hunde in meinem Laboratorium dargethan wor- 
den, dass in diesen Fallen mit Htilfe der Methode von Marchi dege- 
nerirte Fasern sich vorfinden, sowohl im medialen Kniehocker und im 
hinteren Vierhtigel, wie auch in der lateralen Schleife und in den Kemen 
des Nervus acusticus. Meine speciell hierauf gerichteten Versuche haben 
ferner gezeigt, dass die Region des hinteren Vierhtigelganglion nicht nur 
Centrum der Stimme, sondern auch Centrum des Gehors sei und gleich- 
zeitig vermoge seiner Verbindungen mitanderen motorischen Centren der 
Gehimbasis auch als Centrum ftir die Association von Reflexbewegungen 
sich darstellt Nach alien diesen Thatsachen befindet sich das Centrum 
der Stimmbildung in der Region des hinteren Vierhtigels zweifellos in 
innigster anatomischer und physiologischer Wechselwirkung mit dem Ge- 
hororgane, unter dessen Einfluss es offenbar auch zur Entwicklung gelangt. 

Es beherbergt dieses Centrum wahrscheinlich die Bahnen flir min- 
destens zwei Arten von Bewegungen: Exspiration und Glottisschluss, 
welche flir die nicht articulirte Stimmbildung erforderlich sind. Das 
Vorhandensein eines solchen primaren Stimmcentrums muss, wie die 
Falle von congenitaler Anencephalie darthun, auch flir den Menschen 
angenommen werden. Jedoch bedarf die articulirte menschliche Sprache 
ausserdem bekanntlich der Betheiligung des Hypoglossus, Facialis und 
Trigeminus. Ob auch Bahnen der letztgenannten Nerven in diesem 
Centrum vorhanden sind, welches sodann als unteres Koordinationscen- 
trum der articulirten Sprache erscheinen wtirde, oder ob die Koordination 
der Bewegungen der Zunge, der Lippen und der Stimme nur in den 
hohergelegenen Centren vor sich geht, muss vorlaufig dahingestellt 
und die Entscheidung dieser Frage zuktinftigen Untersuchungen vor- 
behalten bleiben. 


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Ueber eine Affection der Varol’schen Briicke mit bilateraler Lahmung etc. 249 

Wenn wir jedoch, ohne der Losung dieser Fragen vorauszueilen, 
zu unserem speciellen Fall zurffckkehren, so ergiebt sich.vor Allem, 
dass die Phonation bei unserem Kranken im Allgemeinen nicht aufge- 
hoben erschien, und es lasst sich sogar vermuthen, dass die zur Stimm- 
bildung in Beziehung stehenden Bahnen sich wahrend des Krankheits- 
verlaufs in einem Zustande besonderer Erregung befanden, ein Zustand, 
welcher in bestandigen Hustenbewegungen und in eigenthfimlichen, 
einer Art Gestohne vergleichbaren Lauten sich ausserte. Dabei bestand 
in der ersten Zeit der Erkrankung totale Hypoglossuslahmung, die 
jedes Hervorbringen von Worten vollig unmbglich machte. Diese 
Lahmung verschwand zwar mit der Zeit und es kehrte die Beweglich- 
keit der Zunge wieder, allein eine willkurliche Sprache war noch nicht 
moglich in Folge unvollstandiger Rehabilisirung der Willkfirbahnen 
in der Varolbriicke. Wohl aber bestand die Moglichkeit einer Rei- 
zung des Sprachcentrums durch reflectorisehe Vermittelung des Gehor- 
organs. So lasst sich bei zeitweiligem Mangel der willkurlichen 
Sprache das Vorhandensein von Echolalie in unserem Falle erklaren. 

Eine weitere, bei unserem Kranken beobachtete Erscheinung, die 
unserer Aufmerksamkeit nicht unwerth erscheint, besteht in dem Auf- 
treten von Atrophie der Wadenmusculatur nach dem zweiten 
Anfalle bei volhgem Fehlen einer Affection des Fuss- und Kniegelenkes. 

In einer frtiheren Mittheilung ] ) hatte ich bereits Gelegenheit, fiber 
einen Fall zu beriehten, wo cerebrale Muskelatrophie auf der gelahmten 
Seite, begleitet von einer Gelenkaffection, zur Entwicklung gelangt 
war. Da Muskelatrophien verhaltnissmassig nicht oft bei cerebralen 
Paralysen zur Beobachtung kommen und die Frage zudem noch den 
Reiz der Neuheit hat, so wollen wir dieselbe hier naher betrach- 
ten, um die Pathogenese der Erscheinung zur Darstellung bringen 
zu konnen. 

Nach einer in den letzten Jahren von A. A. Kornilow auf- 
gestellten Hypothese steht das Auftreten cerebraler Muskelatrophien 
in directer Abhangigkeit von einer an die Hemiplegie sich an- 
schliessenden Affection der Gelenke. 

Unser obiger Fall, in welchem Atrophie ohne die geringste 
Gelenkaffection zur Beobachtung gelangte, kann augenscheinlich zum 
Beweise der Insufficienz der erwahnten Hypothese dienen, welche auch 
insofem schon als hinfallig sich erweist, als man die eine unbekannte 
Grosse durch ein zweites Unbekanntes zu erklaren versucht. Denn 


1) W. Bechterew, Zwangsweises Lachen und Weinen bei cerebralen 
Lahmungen. Neurolog. Westn. 1893. Nervenkrankheiten 1894. In russischer 
Sprache. Arch. f. Psych. Bd. XXVI. Heft 3. 


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250 


XIV. y. Bechterew 


die Gelenkaffectionen bei Hemiplegie bilden eine in pathogenetischer 
Hinsicht noch sehr wenig untersuchte Erscheinung. 

Schon bei der Darlegung dieser Hypothese durch ihren Antor 
auf dem Pirogoff’schen Aerztecongress habe ich meine Bedenken 
dagegen geaussert und kann die bei dieser Gelegenheit gemachten 
Einwendungen jetzt nur bekraftigen. Ich hob schon damals hervor, 
dass der Antor, nachdem er alles in allem einen Fall mit negativem 
pathologisch-anatomischen Nervenbefund l ) beigebracht, die cerebralen 
Amyotrophien in Abhangigkeit bringt von arthropathischen Affec- 
tionen im Wesentlichen auf Grundlage der klinischen Analogie zwischen 
cerebralen und arthropathischen Amyotrophien und des einfachen 
Nebenhergehens beider. Die Ftthrung des Nachweises, dass es auch 
Falle cerebraler Amyotrophie giebt, wo eine Gelenkaffection weder 
bestaud noch bestehen konnte, uberlasst Vf. dabei Anderen. Als Ant- 
wort auf diesen Einwand aussert sich Vf. in seinem Werke fiber 
„Muskelatrophien bei Erkrankungen der Gelenke, der Knochen und 
ihrer nachster Umgebung 44 in dem Sinne, er „sei so vorgegangen, wie 
jeder Andere auch“, d. h. „wenn ein vollig analoges klinisches und 
pathologiseh-anatomisches Bild vorliegt, so muss dasselbe auf eine und 
die namliche Ursache bezogen werden, und wenn diese Ursache vorfiber- 
gehend, die Folgenerscheinungen aber bleibend sein konnen, so ist an- 
zunehmen, dass Falle, in denen momentan das ursachliche Moment 
nicht zu Recht besteht, die Hypothese noch nicht hinfallig machen, so 
lange die Moglichkeit vorliegt, anzunehmen, dass das causale Moment 
vorhanden war und verschwunden ist 44 Das Hauptsachlichste und 
Originelle dieses Satzes besteht in dem letzten Theile desselben („so 
lange die Moglichkeit vorliegt, anzunehmen, dass das causale Moment 
vorhanden war und verschwunden ist 44 ). 

Es ist namlich die Thatsache der klinischen Aehnlichkeit zwischen 
cerebralen und arthropathischen Amyotrophien, sowie die haufige 
Coexistenz beider Storungen schon vor A. A. Kornilow bekannt 
gewesen und auch die Frage nach der Verwandtschaft beider vor ihm 
aufgeworfen worden. Von russischen Forschern betont diese Analogie 
ganz besonders L. 0. Darkschewitsch 2 ), indem er in einer hierauf be- 
ziiglichen Arbeit sich folgendeFrage vorlegt: „Wenn thatsachlich zwischen 
den beiden Formen von Amyotrophie, den arthropathischen und den 
hemiplegischen, eine so grosse Aehnlichkeit vorhanden ist, ware 

1) In seinem spateren Werke fiber „Muskelatrophie“ erwahnt der Verfasser 
noch einen zweiten von ihm untersuchten Fall mit ebenfalls negativem Sections- 
befiind. 

2) Vgl. Erkrankung der Gelenke und Muskeln bei cerebralen Hemiplegien. 
Wratsch 1891. S. 895 ff. In russischer Sprache. 


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Ueber eine Affection der Varol’schen Brflcke mit bilateraler Lahmung etc. 251 

dann nicht anzunehmen, die Muskelatrophie des Hemiplegikers sei 
nichts Anderes, als eine Art Muskelatrophie arthropathischer Herkunft ? 44 
Darkschewitsch will diese Frage jedoch nicht definitiv entscheiden, 
sondem ffberlasst dies zukttnftigen Untersuchungen. Er erkennt nur 
das Eine an, dass bei Hemiplegien Gelenkaffectionen auf die Ent- 
wicklung von Muskelatrophien einen Einfluss ausuben konnen, und 
bemerkt dann weiter: „Nicht zu vergessen ist, dass Muskelatrophien 
von ganz der namlichen Art wie bei Hemiplegien, auch bei ver- 
schiedenen Erkrankungen des Gehims, die das Bild der Lahmung 

nicht hervortreten lassen, zur Erscheinung kommen konnen * 4 . 

„So lange durch eine Reihe von Sectionsbefunden nicht bewiesen ist, 
dass hemiplegische Amyotrophien nicht anders als in Abhangigkeit 
von einer Arthropathie zur Beobachtung kommen, wird es richtiger 
sein anzunehmen, dass Gelenkaffection und Muskelatrophie bei Hemi¬ 
plegien Erscheinungen darstellen, welche zwar mit einander in einer 
gewissen Wechselwirkung stehen, nichtsdestoweniger jedoch in Ab¬ 
hangigkeit von einer und der namlichen Ursache und von einer be- 
stimmten Affection des Gehirns zur Entwicklung gelangen . 44 J ) Wer 
nach diesen Worten als Vertheidiger der Hypo these vom arthro- 
pathischen Ursprunge cerebraler Amyotrophien auftritt, darf sich 
m. E. nicht begntigen mit dem Hinweis auf die klinisehe Aehnlichkeit 
zwischen cerebralen und arthropathischen Amyotrophien, sondem 
nrasste wenigstens in einigen Fallen von Hemiplegien, in welchen 
der Zusammenhang der Amyotrophie mit einer Arthropathie wegen 
scheinbaren Mangels einer Gelenkerkrankung zweifelllaft erscheint, 
einen Sectionsbefund beibringen, aus dem hervorginge, dass auch in 
diesen Fallen Andeutungen einer bestehenden oder wenigstens vor- 
handen gewesenen Gelenkaffection sich nachweisen lassen. Anderen- 
falls bleibt nichts tibrig, als die vollig aus der Luft gegriffene Ver- 
muthung, „die Ursache (i. e. die Arthropathie) sei vorhanden gewesen 
und verschwunden 44 . 

Unser Fall nun verlief von Anfang an unter arztlicher Beobachtung 
im Krankenhause und bei bestandiger aufmerksamer klinischer Unter- 
suchung. Eine Gelenkaffection konnte hier nicht wohl iibersehen werden, 
und doch entwickelte sich vollig deutliche Amyotrophie. Dieser Fall 
dient also offenbar zur Widerlegung der oben erwahnten, auf so ausserst 
sch wachen Fiissen stehenden Hypothese. lch konnte iibrigens aus dem Be- 
reiche meiner klinischen Erfahrung noch mehrere andere Falle cerebraler 
Affectionen anftihren, in welchen Muskelatrophien vorlagen, obwohl das 
Vorhandensein einer Arthropathie mit Sicherheit ausgeschlossen war. 


1) Wratsch 1891. Nr. 40. S. 826. In russischer Sprache. 


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252 


XIV. y. Bechterew 


Wenn somit die Annahme einer directen Abhangigkeit der cere- 
bralen Muskelatrophien von einer gleichzeitig bestehenden Arthro- 
pathie von der Hand zu weisen ist, so dtirfen jene Momenta, von 
welchen die fragliche Hypothese urspriinglich ihren Ausgangspunkt 
genommen, namlich die Haufigkeit der Coincidenz von cerebraler 
Amyotrophie mit Arthropathien und die klinische Aehnlichkeit 
zwischen cerebralen und arthropathischen Muskelatrophien, unserer 
Beachtung nicht entzogen werden. Beide Erscheinungen, die den 
Klinikem schon langst aufgefallen sind, sind fraglos insofern von 
Bedeutung, als sie im Lichte einer die Genese der cerebralen Amyo- 
trophien zutreffend begriindenden Hypothese die eine oder die andere 
Deutung werden finden konnen. 

Was die sonstigen in der Literatur vorhandenen Darstellungs- 
versuche des Pathogene der cerebralen Amyotrophien betrifft, so ist 
schon von Charcot 1 ) zur Erklarung der cerebralen Amyotrophien 
die Hypothese der consecutiven Veranderungen des Rlickenmarks 
geltend gemacht worden. Nach dieser Lehre bildet nicht der Gehim- 
herd selbst die unmittelbare Ursache der entstehenden Atropine, son- 
dern eine in derFolge auftretende krankhafte Affection des Vorderhorns 
als Propagation einer secundaren Sklerose der Pyramidenbahnen. 
Ausser dem von Charcot selbst beschriebenen Falle sind von {ran- 
zosischen Autoren eine ganze Reihe cerebraler Amyotrophien ver- 
offentlicht worden, in welchen Atrophie von Zellelementen des Vorder- 
hornes nachgewiesen werden konnte. Beachtenswerth in dieser 
Beziehung ist besonders die Monographie von Brissaud 2 ), in welcher 
mehrere Falle von Gehirnaffectionen mit Sectionsbefund und Nach- 
weis von Zellatrophie in dem contralateralen Vorderhome mitgetheilt 
werden. Bekannt sind ausserdem die Falle von Pitres, Hallopeau 
und Anderen mit analogen Veranderungen im RUckenmarke. Ich kann 
meinerseits einen weiteren genau untersuchten Fall von cerebraler 
Amyotrophie mit Auftreten von Atrophie des contralateralen Vorder- 
hornes den schon vorhandenen hinzuzufttgen. 

Alle diese Thatsachen sprechen unzweifelhaft zu Gunsten der von 
Charcot entwickelten Ansichten. Im Jahre 1876 jedoch untersuchte 
Babinski 3 ) in Charcot's Laboratorium einen Fall von cerebraler 
Amyotrophie, ohne die erwarteten Veranderungen im Riickenmarke 

1) Charcot, L^ons sur le syst&me nerveux. Tome I. Vgl. auch Carrieux, 
Des amyotrophies spinales s^condaires. These de Paris 1875. 

2) Brissaud, Recherches anatomo-pathologiques et physiologiques sur la 
contracture permanente des h^miplegiques. Paris 1880. 

3) Babinski, Atrophie musculaire d’origine c^rebrale. Travail de labora- 
toire de M. Charcot. Comptes rendus de la Soci4t^ de Biologic 1886. 


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Ueber eine Affection der Varol’schen Briicke mit bilateraler Lahmung etc. 253 

vorzufinden. Nach einiger Zeit untersuchte der Genannte noch zwei 
weitere Falle von cerebraler Muskelatrophie mit ebenfalls negativem 
Ergebniss der anatomischen Untersuchung des Rtlckenmarkes. Es 
erhellt hieraus die Moglichkeit der Entwicklung cerebraler Muskel- 
atrophien auch ohne Veranderungen des Rtlckenmarkes. In der Mehr- 
zahl der spater veroffentlichten Beobachtungen wird in der That das 
Fehlen jeglicher Veranderungen in den Vorderhoraem des Rticken- 
markes strict hervorgehoben. 

Einige Autoren wandten sich nun zu der Annahme dynamischer 
Veranderungen an den Nervenzellen der Vorderhomer des Markes, 
bedingt durch eine der cerebralen Amyotrophie zu Grunde liegende 
Affection des Gehims. Ich muss aber gestehen, dass ich mich fiir 
die Annahme solcher dynamischer Veranderungen nicht zu erwarmen 
vermag. Derartige Veranderungen konnen nach Belieben tiberall ver- 
muthet werden, es kann mit dieser Vermuthung jede beliebige Hypo- 
these gestutzt werden, doch fQr das exacte Wissen ist der dabei er- 
zielte Gewinn hochst gering anzuschlagen. Was aber speciell die 
Annahme einer Entstehung cerebraler Muskellahmungen in Abhangig- 
keit von dynamischen Veranderungen in den Vorderhomzellen des 
Rtlckenmarkes betrifft, so stehen damit meiner Ansicht nach auch die 
klinischen Erscheinungen im Widerspruche. Es kommen namlich bei 
atrophischen Processen an den Vorderhomzellen des Rtlckenmarkes in 
der Regel sog. degenerative Atrophien mit Entartungsreaction und 
Erloschen der Sehnenreflexe zur Beobachtung. Dynamische Ver¬ 
anderungen an den Vorderhomzellen des Markes mtissten, wenn sie 
zu Atrophie ftihren sollen, offenbar so beschaffen sein, dass sie eine 
Herabsetzung jener den Zellen entspringenden Impulse, die ftir die 
Nutrition der Muskeln von Wichtigkeit sind, im Gefolge haben. Es 
muss also der Einfluss der Zellatrophie und der functionellen Inactivitat 
der Nervenzellen auf die Nutrition der Muskeln im Wesentlichen der 
gleiche sein und konnte nur graduelle Unterschiede darbieten. Hieraus 
erhellt aber, dass durch die vermutheten dynamischen Veranderungen 
des Rtlckenmarkes, sofern sie zu functioneller Inactivitat der Elemente 
der Vorderhomer hinfiihren, zu gleicher Zeit eine, wenn auch gering- 
gradige degenerative Atrophie und Herabsetzung der Reflexe im 
Gefolge haben mtlssen, was indessen de facto nicht stattfindet. In 
vereinzelten derartigen Fallen*) wurde ubrigens incomplete Entartungs¬ 
reaction beobachtet, in alien tibrigen Fallen jedoch waren, wenn Qber- 
haupt, so nur quantitative und keine qualitativen Veranderungen der 
elektrischen Muskelreaction zu constatiren. Endlich bleibt noch die 


1) vgl. z. B. Eisenlohr, Neurologisches Centralblatt 1890. Nr. 1. 


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254 


XIV. v. Bechterew 


Frage offen, wie der geschwachte trophische Einfluss seitens der 
Nervenzellen der Vorderhomer des Markes auf die Musculatur eine 
Atrophie der Muskeln bedingen kann, ohne zahlreich atrophische 
Veranderungen in den Nervenfasern zur Folge zu haben? 

Alle diese Momente sind, meine ich, ausreichend, um die Hypothese 
der dynamischen Veranderungen der Vorderhornzellen als Ausgangs- 
punkt atrophischer Muskelprocesse ablehnen zu konnen. 1st aber die 
Annahme eines Einflusses dynamischer Veranderungen der Vorderhom- 
zellen auf die Entstehung cerebraler Atrophien nicht begrundet, so kann 
auch die Hypothese Charcot's betreffend die genetische Abhangigkeit 
cerebraler Amyotrophien, wenigstens der friihen, von atrophischen 
Veranderungen an den Vorderhornzellen des Rtickenmarkes aus den 
gleichen Griinden von der Hand gewiesen werden, zumal solche 
atrophische Veranderungen in Fallen cerebraler Amyotrophien, wie 
wir gesehen haben, bei weitem nicht die Regel ausmachen, und jeden- 
falls nur in den spateren Krankheitsphasen, wahrend des Auftretens 
von Skierosen, zur Beobachtung kommen, nicht aber zu einer Zeit, wo 
die frtihen cerebralen Amyotrophien auftreten, d. h. im Verlaufe der 
ersten 3—4 Wochen nach dem Beginn der Affection. 

Nach der Ansicht vonBorgherini, die sich von den vorerwahnten 
nur wenig unterscheidet, giebt es besondere trophische Centra in der 
motorischen Zone der Rinde bezw. in der subcorticalen Region, welche 
auf die motorischen Zellen der Vorderhomer des Markes einen dyna¬ 
mischen Einfluss austiben sollen. Doch wird dieser Einfluss nicht 
durch Vermittelung der Pyramidenbahnen, bei deren Sklerose Amyo¬ 
trophien erst in den spateren Phasen auftreten, sondem durch Ver¬ 
mittelung der sensiblen Bahnen ausgeiibt. 

Diese Ansicht ftihrt jedoch, ohne die schwachen Seiten der vor- 
hergehenden zu eliminiren, zur Erklafting des pathologischen Processes 
eine neue Promisse auf, die weder mit den klinischen, noch mit den 
pathologisch-anatomischen Thatsachen im Einklange steht. 

Auf die Hinfalligkeit dieser Ansicht hat daher Eisenlohr und 
spaterhin L. 0. Darkschewitsch hingewiesen, gesttitzt auf Falle von 
Amyotrophien bei lntactheit der sensorischen Leitungsbahnen. Unser 
Fall, in welchem an den unteren Extremitaten keinerlei sensible 
Storungen vorhanden waren, ist der Annahme von Beziehungen der 
sensiblen Bahnen zu den cerebralen Amyotrophien ebenfalls nicht 
gftnstig. 

Quincke 1 ), Hirt 2 ) und Eisenlohr 3 ) neigen zu der Annahme 

1) Quincke, Deutsches Archiv fur klinische Medicin. Bd. 42. 

2) Hirt, Pathologie und Therapie der Nervenkrankheiten. 1890. 

3) Eisenlohr, Neurologisches Centralblatt 1890. Nr. 1. 


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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 255 

einer unmittelbaren trophischen Beeinflussung des Muskelsystems durch 
das Gehim. Nach Ansicbt von Quincke, die sich auf der Beobachtung 
dieser Falle cerebraler Amyotrophien stiitzt, miissen in den Central- 
windungen des Gehirns ausser den motorischen Centren trophische 
vorhanden sein, von welcben selbstandige cortico-musculare Leitungs- 
bahnen ibren Ausgangspunkt nebmen. Er hoffte bierin eine Erklarung 
zu finden fttr die bin und wieder beobachteten Falle von Atrophien 
obne motoriscbe Paralysen, wie auf der anderen Seite fiir Falle von 
Labmungen ohne Atropbie. Aucb Eisenlohr glaubt an eine unmittel- 
bare Einwirkung des Gebims auf die Muskelemahrung, unbeschadet 
einer mittelbairen seitens der Vorderhomer des Rflckenmarkes. Doch 
aussert er sich dabei in bestimmter Weise weder fiber die Localisation 
dieses trophischen Centrums, nocb fiber die Bahnen, die als Uebertrager 
jener Einwirkungen auf die Muskeln sich darstellen sollen. Wie schon 
erwahnt, stellt sich Eisenlohr ineinem Gegensatzzu Borgherini, nach 
dessen Ansicht die trophischen Centren des Gehirns ihren Einfluss auf 
die Muskeln durch Vermittelung sensorischer Leitungsbahnen ausfiben. 

Diese Hypothese beseitigt anscheinend alle jene Schwierigkeiten, 
mit denen alle fruheren Anschauungen fiber die Entstehungsweise der 
cerebralen Amyotrophien zu kampfen hatten, doch besitzt sie, ab- 
gesehen vondereinfachenVermuthung fiber das Vorkommen trophischer 
Hirncentra, keinerlei festere Grundlagen. Auch darf mit Riicksicht 
auf dieselbe der Umstand nicht tibersehen werden, dass bei Hemi- 
plegien bekanntlich neben Amyotrophien in der Regel auch Arthro- 
pathien zur Beobachtung gelangen, und wenn man erstere durch 
Hinwegfall des trophischen Einflusses corticaler Centra erklaren will, so 
muss natfirlich auch die Entstehung der Arthropathie in Abhangigkeit 
gebracht werden von einer Alteration des trophischen Einflusses der 
Gehimrinde. Gleichwohl aber wflrde die Abhangigkeit der genannten 
beiden pathologischen Processe von einer Functionsstorung eines und 
desselben Rindencentrums nicht nothwendig zu der Annahme eines 
besonderen corticalen trophischen Centrums hinftthren, welches, was 
an und fur sich schon wenig wahrhrscheinlich, gleichzeitig die Nutrition 
einer ganzen Reihe heterogener Organe beeinflusste. 

Ich meine also, die Hypothese von dem Vorhandensein specieller 
trophischer Centra in der Gehimrinde, die dabei unmittelbar auf die 
Muskeln einwirken, konne zur Erklarung der cerebralen Amyotrophien 
nicht als ausreichend bezeichnet werden. 

Neuerdings ist eine besondere vasomotorische Hypothese von 
Roth und Muratow aufgestellt werden. 1 ) Von letzterem ist dieselbe, 

1) W. K. Roth und W. A. Muratow, Zur Pathologie des Grosshirus. 
Jubilaumsschrift fur Koshewnikow. Moskau 1896. In russischer Sprache. 


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256 


XIV. v. Bechterew 


wie A. Kornilow 1 ) mittheilt, jedoch schon jetzt aufgegeben worden, 
wahrend zu Gunsten derselben sich spaterhin L. 0. Darkschewitsch, 
wenn auch nicht mit voller Entschiedenheit ausgesprochen hat, da er 
zum Theil noch an der dynamischen Hypothese festhalt Es bleibt 
also augenblicklich nur W. Roth als ttberzeugter Anhanger der vaso- 
motorischen Lehre tibrig. 

Meiner Ansicht nach ist von alien die Pathogenese der cerebralen 
Amyotrophien betreffenden Hypothesen die vasomotorische am meisten 
geeignet, die noch weit offen stehende Frage in zutreffender Weise za 
beleuchten, wie ich dies schon in der Section flir Nervenkrankheiten 
und Psychiatrie auf dem V. Pirogoff'schen Aerztecongress 2 ) hervor- 
zuheben Gelegenheit hatte. Allem zuvor spricht zu Gunsten derselben 
die Thatsache, dass die Muskelatrophie in anatomischer Beziehung an 
jene Atrophien erinnert, die im Gefolge von Storungen des Zuflusses 
und der Zusammensetzung des Blutes, wie z. B. bei marastischen und 
kachektischen Zustanden, sich einstellen. Auf der anderen Seite lasst 
sich das haufige Nebenhergehen von Muskelatrophie mit Gelenk- 
affectionen am leichtesten mit vasomotorischen Storungen in Zu- 
sammenhang bringen. Die Grundlage solcher Gelenkaffectionen bildet, 
wie wir wissen, eine Synovitis, und was ist naturlicher, als sich diese 
Synovitis entstanden zu denken durch vasomotorische, mit der Hemi- 
plegie nebenhergehende Veranderungen der Gelenke? Fflr die frag- 
liche Hypothese spricht endlich auch die Haufigkeit vasomotorischer 
Storungen bei cerebralen Paralysen. 

Stauungserscheinungen und Oedeme, die ja so oft bei Hemiplegien 
zur Beobachtung gelangen, spielen, wie auch Roth mit Recht hervor- 
hebt, in der Pathologie der cerebralen Amyotrophien keine besondere 
Rolle. Es treten namlich diese Erscheinungen ofters in Fallen auf^ 
wo keinerlei Anzeichen von Atrophie vorhanden sind, und andererseits 
konnen Atrophien auch bei Mangel von Stauungs- und Oedem- 
erscheinungen vorhanden sein. Es kann deshalb die Muskelatrophie 
bei Hemiplegien nur Folge sein einer ungenttgenden Blutversorgung 
der Muskeln, und als Grundlage der mangelhaften Blutzufuhr zu den 
Muskeln muss ein Gefassspasmus angenommen werden. „ln analoger 
Weise", bemerkt W. Roth, „wie sich Hypertrophie der willkftrlichen 
Muskeln entwickelt bei Lasionen der motorischen Zone der Rinde oder 
der Pyramidenbahnen, so tritt bei Affectionen der gleichen Statten 
wohl auch eine Hypertrophie der Muskelvasomotoren auf.“ Roth 
verweist ferner auf die bekannten Untersuchungen von Landois und 


1) Muskelatrophien etc. Theil II. S. 23. In russischer Sprache. 

2) Vgl. die Protocolle dieses Congresses. 


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Ueber eine Affection der VaroFschen Briicke mit bilateraler Lahmung etc. 257 

Eulenburg liber cortical© vasomotorische Centra und auf den Satz, 
dass zusammen mit dem willknrlichen Bewegungsimpulse vom Gehirn 
h5ch8twahr8cheinlich ein vasodilatatorischer, Hyperamie auslosender 
Impuls den Muskeln zugeht. Hiernach kann eine anatomische Affection 
der entsprechenden Centra gleichzeitig die Grundlage schaffen ftir 
Lahmung und Gefassverengerung in den Muskeln. Roth nimmt an, 
eine solche Gefassverengerung konne bedingt sein durch Veranderungen 
spinaler vasomotorischer Centra, da im Rtickenmarke im Anschluss 
an den Gehiimprocess sich die Bedingungen zu einer Hypertrophie 
der Vasomotoren in ganz ahnlicher Weise, wie zu einer Hypertrophie 
der willktirlichen Musculatur entwickeln konnen. Dies ist das Wesen 
der vasomotorischen Hypothese. 

Man konnte nattirlich fragen, warum die cerebrale Atrophie sich 
nicht gleichmassig liber alle Muskeln verbreitet, sondem gewisse 
Muskelgebiete im Verhaltniss zu anderen starker afficirt, und warum 
die Atrophie auch in den namlichen Muskeln nicht gleichmassig sich 
verhalt? Hierauf ist zu antworten, dass, wie so oft im Veriaufe 
pathologischer Processe, nicht alle Elemente in der namlichen Weise 
auf allgemeine Emahrungsstorungen reagiren, dass die einen haufig 
zu Grunde gehen, wahrend die anderen unversehrt bleiben. Ausserdem 
kann auch die Capillargefassversorgung verschiedener Muskeln eine 
sehr ungleiche sein. In Folge dessen wird die Verengerung der 
Gefasslichtung verschiedene Gebiete des Capillarnetzes in ungleicher 
Weise beeinflussen konnen. 

Die schwachste Seite der vasomotorischen Hypothese scheint mir 
darin zu liegen, dass ihr in Bezug auf das Vorkommen vasomotorischer 
Storungen bei cerebralen mit spastischen Erscheinungen einhergehenden 
Atrophien noch keine thatsachlichen Grundlagen zu Gebote standen. 
Die Arbeit von Roth und Muratow enthalt, abgesehen von allge- 
meinen Erorterungen fiber Vorkommen vasomotorischer Storungen bei 
Hemiplegien keine nahere thatsachliche Begrtindung der Hypothese. 
In den in dieser Arbeit angefuhrten beiden Beobachtungen ist bei- 
spielsweise die Messung der peripherischen Korpertemperatur im 
Gebiete der gelahmten Gliedmassen mit keiner Silbe erwahnh 

Auch in den spaterhin erschienenen Arbeiten liber die vorliegende 
Frage finden wir nach dieser Richtung hin keinerlei bestimmtere An- 
gaben. Im Hinblick hierauf habe ich, da mir die vasomotorische 
Hypothese von vorneherein die Entstehung der Amyotrophien bei 
Gehimaffectionen am besten zu beleuchten schien, in jedem ent¬ 
sprechenden Falle von Muskelatrophie auf den Zustand der peripheren 
Temperatur der gelahmten Gliedmassen besonders achtgegeben und 
konnte dabei eruiren, dass thatsachlich in alien Fallen Gliedmassen 
Deutsche Zeitscbr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 17 


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258 


XIV. v. Bechterew 


mit frtthzeitiger Atrophie schon in der ersten Zeit nach dem Auf- 
treten der Gehirnaffection eine im Verhaltniss zu symmetrischen 
Gebieten der anderen Seite mehr Oder weniger deutlich herabgesetzte 
periphere Temperatur aufweisen. Erst mit dem Auftreten von Gelenk- 
affectionen konnte am Orte des befallenen Gelenkes eine gewisse 
Steigerung der peripherischen Temperatur bemerkt werden, die im 
Hinblick auf die Entzttndung in der Tiefe eine einfache Erklarung 
zuliess. Bei Mangel einer Complication mit Gelenkerkrankungen war 
dagegen constant eine, manchmal schon fftr das Geffthl deutliche 
Herabsetzung der peripheren Temperatur des afficirten Gliedes zu 
beobachten. So bestand auch in dem eingangs dieses Aufsatzes be- 
schriebenen Falle deutliche Herabsetzung der peripheren Temperatur 
der unteren Extremitat auf der Seite der Muskelatrophie. Hier handelte 
es sich offenbar um einen Gefassspasmus, da weder von Stauung, noch 
von Oedem, diesen bei veralteten Hemiplegien in den gelahmten 
Gliedmassen so gewohnlichen Erscheinungen, nicht die Rede sein 
konnte. lch bin also der Meinung, die vasomotorische Hypothese der 
cerebralen Amyotrophien erhalte durch die erwahnten Beobachtungen 
eine thatsachliche Bestatigung, und es bleibt gleichzeitig, wie mir 
scheint, kein Zweifel tibrig, dass das Auftreten von Muskelatrophien 
bei Gehimaffectionen mit dem Auftreten von Gefassspasmen in den 
afficirten Giiedmaassen in directem Zusammenhange steht. 

Da die absteigenden Bahnen aus den vasomotorischen Rinden- 
centren durch das Gebiet der Capsula interna und der subcorticalen 
Ganglien langs des ganzen Gehirnstammes zum verlangerten Marke 
hinziehen, so ergiebt sich, dass cerebrale Affectionen der allerverschie- 
dens ten Localisation zur Entwicklung von Muskelatrophieen ftthren 
konnen, wie dies auch in unserem Falle bestatigt wird. So sind bei 
cerebralen Amyotrophien vorgefunden worden Affectionen im Gebiete 
der Himrinde und der subcorticalen Regionen, besonders in den 
Centralwindungen (Fall von Bouchard, drei Falle von Quincke, 
die Falle von Potella, Eisenlohr u. A.) und sogar in den Schlafen- 
windungen (in den letzteren tibrigens gleichzeitig mit einer Affection 
des Centrum semiovale; vgl. den Fall von Roth und Muratow), 
sodann im Marke des Centrum semiovale (Falle von Charcot, 
Babinski u. A.), im Gebiete der inneren Kapsel und der grossen 
Ganglien, insbesondere des Thalamus opticus (Fall von Senator, 
Borgherini, letzterer Fall ohne Autopsie), im Gebiete des Gross- 
hirnschenkels (einer der Falle von Eisenlohr, in welchem gleich¬ 
zeitig mit dem Thalamus auch ein Theil der Hirnschenkelhaube zerstort 
war); endlich im Gebiete der Varolsbrttcke, wie aus dem hier von uns 
berichteten Falle hervorgeht. Wenn bei weitem nicht alle Falle mit 


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Ueber eine Affection der Varol’schen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 259 

den soeben namhaft gemachten Localisationen von Muskelatrophie 
begleitet werden, so erklart sich dies durch den Umstand, dass auch 
Gefassspasmus bei Himaffectionen durchaus keine haufige Erscheinung 
darstellh Es ist sehr wahrscheinlich, dass neben einer bestimmten 
Localisation der Gehirnaffection auch der Charakter dieser letzteren 
bei der Entstehung des Gefassspasmus eine gewisse Rolle spielt, doch 
bedarf diese Frage noch weiterer Prftfang. 

Was die besonders in verschleppten Fallen manchmal vorhandene 
Zellatrophie der Vorderhorner betrifft, so steht diese Erscheinung mit 
obiger Hypothese schon deshalb nicht im Widerspruche, weil fur diese 
Atrophie besondere Ursachen, die mit der cerebralen Affection zu- 
sammenhangen, vorliegen konnen. Hierauf ist auch von W. Roth in 
seiner in Gemeinschaft mit W. Muratoff veroffentlichten Schrift 
hingewiesen worden. Nach Ansicht dieser Autoren „kann wahre Zell¬ 
atrophie mit der Muskelatrophie nebenher gehen, aber auch nach der- 
selben zur Entwicklung gelangen. Es konnen im ganzen Rttcken- 
marke Bedingungen zur Entwicklung von Atrophie der Yorderhornzellen 
gegeben sein, wie hohes Alter, und hierzu gesellt sich speciell far die 
erkrankte Seite der Hinwegfall willktirlicher functioneller Erregungen 
von Seiten des Gehirns und vielleicht auch Fehlen des Retrotonus 
(S. Mayer) in Abhangigkeit von Atrophie isolirter Muskelfasern . 41 
Mir scheint flberhaupt, der Ursachen zum Auffcreten von Vorderhom- 
zellatrophie bei cerebralen Affectionen sind mehr als ausreichend, und 
es kann daher dieses Moment keinesfalls far die dargelegte Hypothese 
eine Klippe bilden. Im nachsten Zusammenhange steht die Atrophie 
der Vorderhomelemente m. E. mit der Inactivitat der gelahmten 
Gliedmassen und mit dem Hinwegfall cerebraler Impulse. 

Welche Erklarung, fragen wir zum Schlusse, giebt es far die 
klinische Analogic zwischen cerebralen und arthropathischen Atro- 
phien? Diese Analogie ist eine so auffellende, dass sie, wie wir 
sahen, bereits zur Schaffung einer Hypothese gefahrt hat, welcher zu- 
folge die cerebrale Atrophie an und far sich nichts Anderes ist, als 
eine arthropathische Atrophie, und nicht unmittelbar, in Folge einer 
Affection der Nervencentra, sondern im Gefolge des arthropathischen 
Processes zur Entwicklung kommt 

Die klinische Analogie zwischen den genannten beiden Arten der 
Atrophie deutet fraglos auf eine gewisse Verwandtsehaft ihrer Patho- 
genese, und aus diesem Grunde muss hier die Pathogenese der arthro¬ 
pathischen Amyotrophien, wenn auch nur in aller Kfirze, erwahnt 
werden. Auf Grundlage einer ganzen Reihe klinischer und experimen- 
teller Thatsachen wird gegenwartig der Satz zu begrfinden versucht, 
dass die arthropathische Amyotrophie aufzufassen sei als eine reflec- 

17* 


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260 


XIV. v. Bechterew 


torische, hervorgerufen durch den Einfluss sensibler Reizung in dem 
afficirten Gelenk, welche auf die Nutrition der diesem letzteren be- 
nachbarten Muskeln durch Vermittlung des Rtickenmarks einwirkt. 
Diese Art der Beeinflussung der Muskelemahrung durch das erkrankte 
Gelenk wird vor Allem bewiesen durch die von Valtat begonnenen 
und spaterhin von Christin und Kornilow wiederholten Experi- 
mente uber Durchschneidung der hinteren Nervenwurzeln. Wie diese 
Versuche zur Evidenz beweisen, tritt arthropathische Amyotrophie nur 
auf bei Integritat der hinteren Cerebrospinalwurzeln und bleibt aus 
bei Durchschneidung dieser Wurzeln. Gestutzt von einer Reihe von 
Autoritaten, wie Paget, Brown-S6quard, Vulpian, Charcot und 
Raymond erscheint diese Hypothese gegenwartig als die herrschende. 
Es giebt aber eigentlich zwei reflectorische Hypothesen. Nach der 
einen wirkt die von der Peripherie zum Rtlckenmark gerichtete Er- 
regung hier auf die vasomotorischen Centra und ftthrt hierdurch zu 
Muskelatrophie. Nach der anderen ruft der von der Peripherie spinal- 
• warts fortgeleitete Reiz dynamische Veranderungen in den Zellen der 
Vorderhorner des Rtickenmarks hervor und ftthrt so zu Muskel¬ 
atrophie. Diese letztere Hypothese begegnet trotz ihrer grossen Ver- 
breitung den gleichen Schwierigkeiten, welche wir bei Gelegenheit 
der Darlegung der dynamischen Theorie der cerebralen Amyotrophien 
hervorzuheben Gelegenheit hatten. Mir scheint ttberhaupt, es konnen 
gegenwartig dynamische Einflusse zur Erklarung einer Erscheinung 
nur in dem Falle geltend gemacht werden, wenn alle ttbrigen moglichen 
Erklarungsversuche ausgeschlossen sind. Lasst sich aber die vaso- 
motorische Hypothese ohne Weiteres von der Hand weisen? Auch von 
solchen, die an der erstgenannten Hypothese festhalten, wird eingeraumt, 
dass die vasomotorische Hypothese noch heute eine gewisse Berechtigung 
fiir sich hat. 1 ) 

Schopfer der vasomotorischen Hypothese ist eigentlich Brown- 
Sequard. Er fand bei seinen Versuchen, dass Reizung der unteren 
Extremitaten, z. B. durch Verbrennung, zur Folge hat Hyperamie 
der unteren Theile der Eingeweide, der Nieren, der Harnblase, der 
Darme etc. Nach Durchschneidung des Lendenmarkes hingegen 
beobachtete Brown-Sequard unter den gleichen Verhaltnissen keine 
Hyperamie der Nieren, sondem nur Hyperamie der Blase und des 
Mastdarms, da die Centra der hohergelegenen Theile ausgeschaltet 
waren. Durch diese und ahnliche Versuchsergebnisse beleuchtet 
Brown-Sequard die wichtige Bedeutung der spinalen vasomotorischen 
Centra fttr den Zustand der peripheren Korpergefasse. Was die 


1) vgl. A. Kornilow, Muskelatrophien etc. Bd. II. S. 24. 


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Ueber eine Affection der VaroPschen Brucke mit bilateraler Lahmung etc. 261 

arthropathischen Amyotrophien betriflft, so nimmt hier nach Ansicht 
von Brown-S6quard die Erregung ihren Ausgangspunkt von dem 
irritirten Theile des Nerven, breitet sich in der Richtung zu den 
Nervencentren aus und f&hrt auf reflectorischem Wege zu Gefass- 
contraction in der einen oder anderen Korperregion und hiermit zu 
einer Herabsetzung der Ernahrung. 

Gegen diese Hypothese hat z. Z. Vulpian, ein Vorkampfer der 
dynamischen Theorie der arthropathischen Amyotrophien, Bedenken 
erhoben. Der schwerwiegendste Einwand bestand darin, dass bei 
elektrischer Reizung der Vasomotoren die Farbe der Muskeln nur sehr 
geringfOgige Veranderungen erleidet. Doch was beweist dies? Ab- 
gesehen davon, dass bei der Elektrisation wir die Vasoconstrictoren 
von den Yasodilatatoren nicht zu trennen vermogen, ist zur Gentlge 
bekannt, dass in der Pathologie unmerkliche Einflusse, wenn sie be- 
standig nach einer und der namlichen Richtung hinweisen, sich zu 
offenbaren und ansehnlichen Wirkungen summiren konnen. 

Die dank der Autoritat Vulpian's fast der Vergessenheit anheim- * 
gefallene vasomotorische Hypothese verdient meines Erachtens wieder 
an das Licht gezogen zu werden, da sie einer strengen Kritik gegen- 
fiber viel stichhaltiger erscheint, als die oben erwahnte dynamische 
Hypothese. 

Dieser vasomotorischen Hypothese zufolge findet die arthro- 
pathische Atrophie, sowie die ihr nahestehenden Atrophien nach Frac- 
turen und Luxationen ihre Erklarung durch vasomotorische Storungen, 
hervorgerufen durch das Riickenmark mittelst eines Reflexes, dessen 
Quelle der Krankheitsprocess im Gelenke, bezw. am Orte der Fractur 
darstellt Aehnlich wie bei Amyotrophien in Folge von cerebralen 
Affectionen ein durch Vermittlung von Rtlckenmarkszellen angeregter 
dauernder Yasomotorenspasmus auftritt, so kann auch in Fallen von 
Gelenkaffectionen auf reflectorischem Wege durch Vermittlung von 
Rfickenmarksnervenzellen ein vasomotorischer Spasmus zur Entwickelung 
gelangen, dessen Quelle jedoch nicht im Centrum, sondera an der 
Peripherie sich findet. 

So wird uns jene klinische Analogie verstandlich, welche wir oben 
zwischen cerebraler und arthropathischer Amyotrophie hervorgehoben 
haben. 

Nicht unberttcksichtigt bleiben darf in der uns hier beschaf- 
tigenden Frage die gegenseitige Wechselwirkung zweier gleichzeitig 
wirksamer pathologischer Vorgange. Gesetzt, wir hatten eine cerebrale 
Amyotrophie, begleitet von einer Arthropathie des entsprechenden 
Gelenkes, so tibt letztere an und fQr sich, als pathologische Gelenk- 
affection, secundar auch auf die Muskelernahrung ihren Einfluss aus. 


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262 XIV. v. Bfchterew, Ueber eine Affection der Varol’schen Brficke etc. 

Denken wir uns auf der anderen Seite den Fall von Muskelatrophie 
bei einer cerebralen Hemiplegie, so wird diese Atrophie, indem sie 
die Beweglichkeit des Gelenkes beeintrachtigt, an und fttr sich auch 
der Entwickelung synovitischer Processe in dem Gelenke Vorschub 
leisten konnen. 

Es steht also das Auftreten von Amyotrophien bei Cerebral- 
affectionen nicht ausschliesslich in Abhangigkeit von der Grundursache 
allein, sondern theilweise auch von dem reflectorischen Einflusse der 
als Begleiterscheinung sich darstellenden Arthropathie, so zwar ? dass 
jene Muskeln, welche bei Arthropathien gewohnlich afficirt erscheinen, 
bei cerebralen Paralysen im Verhaltnisse zu anderen Muskeln starker 
in Mitleidenschaft gezogen werden und hierdurch die klinische Ana¬ 
logic zwischen cerebraler und arthropathischer Amyotrophie ihrerseits 
noch steigern. 


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XY. 


Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose. 

Von 

Dr. £. Thoma, 

An8ta]tsarzt in Illenaa. 

(Mit 3 Abbildungen.) 

Die zur Zeit noch herrschenden Verschiedenheiten in der patho- 
logisch anatomischen Auffassung des als multiple Herdsklerose 
bezeichneten Krankheitsprocesses lassen es wohl als wttnsenswerth 
erscheinen, auch einzelne Falle zu verwerthen, sofern sie fflr die ge- 
nauere Untersuchung geeignet sind. Es war mir Gelegenheit geboten, 
hier einen Fall yon multipler Sklerose zu beobachten, der 8 Stunden 
post mortem zur Section kam und daher auch noch ftir mikroskopische 
Zwecke geeignet erschien. Ob wohl, wie bekannt, die klinischen Er- 
scheinungen und der Verlauf dieser Krankheit sehr vielgestaltig sein 
konnen, so hat sich doch an dem typischen Krankheitsbilde seit 
Charcot wenig geandert. 

Da der vorliegende Fall nun klinisch nichts Besonderes bietet, 
vielmehr als ein typischer bezeichnet werden kann, insofern sammt- 
liche Hauptsymptome vorhanden waren, so glaube ich mich in der 
Krankheitsgeschichte kurz fassen zu durfen. 

Krankengeschichte. 

Frau R. H., 29 Jahre alt, erblich nicht belastet und friiher stets ge- 
sund (speciell ist Lues auszuschliessen), erkrankte vor ca. 5 Jahren in 
Amerika in unmittelbarem Anschluss an ein Wochenbett. — Die ersten 
Erscheinungen bestanden ziemlich lange Zeit hindurch nur in Schwindel 
und Unsicherheit im Gehen. Allm&hlich nahra die Krankheit zu und bei 
der Aufnahme in die Anstalt bestand Intentionszittern, Bradyphasie, Nystag¬ 
mus, gesteigerte Sehnenreflexe, Fussklonus, beinahe vbllige Unffchigkeit auch 
mit Unterstiitzung zu gehen, heftiges Zittern des Kopfes und Rumpfes bei 
den geringsten Versuchen sich zu bewegen. Sensibilit&tsstbrungen waren 
zu jener Zeit nicht nachweisbar. Psychisch war eine erhebliche Demenz 
neben wechselnder reizbarer Stimmung mit viel unmotivirtem zwangs- 
m^ssigem Lachen und Weinen vorhanden. Nadi und nach verschlimmerte 
sich der Zustand weiter. Es traten Par&sthesien auf. Die Schmerz- 
empfindung war ver^lndert. Die Reaction auf Stiche trat verspatet ein, 


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XV. Thoua 


daftir aber war sie gesteigert. Vor allem aber nahm die spastische 
Muskelrigidit&t zu, so dass die Bewegungsfehigkeit ausserordentlich 
behindert war. Im weiteren Verlaufe stellten sicb epiieptiforme Kr&mpfe 
ein. Urinverhaltung and Blasenkatarrh ftihrten endlicb unter best&ndiger 
Zonahme aller Symptome den Exitus herbei, der bei einer terminalen 
Fiebersteigerung von 42° (in der Achselhbhle) eintrat. 

Autopsie. 

Gehirn: Die Dura zeigte nichts besonderes. Das Gehirn war im 
Ganzen klein. Das Gewicht betrug 1095. Hierza ist za bemerken, dass 
es sicb nm eine kleine Person mit geringer Sch&delkapacit&t handelte. Die 
Pia hot, abgesehen von geringer Hyperamie nichts besonderes. Nach deren 
Entfernung, die leicht za bewerkstelligen war, zeigten die Windungen 
keine Verschm&lerang. Die Consistenz des Gehirns war im Ganzen eine 
sehr feste. Beim Durchschneiden fahlte man einen elastischen Widerstand. 
Aaf dem Durchschnitt erschien die Rinde nicht verschmftlert. — Bei der 
Zerlegang des Gehirns zeigte sich, dass dasselbe von einer Menge sklero- 
tischer Herde von graurothlicher oder graablaaer Farbe dorchsetzt war. 
Die Anzahl der Herde war nicht za bestimmen, da sie sich aaf mehrere 
Handerte belief. Die GrQsse der makroskopisch sichtbaren schwankte von 
Stecknadelkopfgrtjsse bis za mehreren Centimetern in der L&ngsaasdehnnng. 
Sie betrafen meist die weisse Sabstanz, machten aber vor der Rinde 
nicht Halt, sondern gingen an vielen Stellen in dieseiiber. Die zahlreichsten 
and grbssten Herde fanden sich in der Medulla, besonders in der Brhcken- 
gegend. Ferner in der Umgebang, besonders dem Dach der SeitenventrikeL 

Riickenmark: Im Riickenmark sah man die Herde schon aaf der 
Oberfl&che darchscheinen. Sie waren nicht so zahlreich wie im Gehirn, 
dagegen sehr ausgedehnt in der L&ngsrichtung. Am wenigsten befallen 
war das Brustmark, am st&rksten das Lendenmark, wo der ganze Quer- 
schnitt sklerotisch degenerirt war. Beilaufig ist noch bemerkenswerth, dass 
in der Briickengegend die Pyramidenbahnen fast allein frei waren, wfthrend 
im Cervikalmark diese wieder am stftrksten befallen waren. Weit iiber die 
Grenzen der Herde hinaus za verfolgende Strangdegenerationen waren 
makroskopisch nicht nachweisbar. In den iibrigen inneren Organen fend sich 
bei der Patientin, abgesehen von einem Blasenkatarrh nichts besonderes vor. 

Mikroskopischer Befund. 

Die mikroskopische Untersuchung der zun&chst in Formol fixirten 
Stiicke wurde im Wesentlichen nach ftinf verschiedenen Methoden vor- 
genommen and zwar: 1. nach Weigert (Markscheidenfarbong), 2. Marchi, 
3. van Gieson, 4. Nissl, 5. Weigert (Neurogliaferbang). 

Die iibrigen noch verwendeten Farbungen sind nicht erw&hnenswerth, 
da sie nichts wesentlich Neues za zeigen im Stande waren. Freilich wire 
fiir die Vollst&ndigkeit der Untersachong nach den heutigen Anforderangen 
aach noch eine leistungsfehige Fibrillenferbung wiinschenswerth gewesen. 
Die versuchte (Held) ergab keine verwerthbaren Resaltate. 

Immerhin diirfte man durch Vergleich entsprechender Pr&parate, die 
nach den oben erw&hnten Methoden behandelt sind, in einigen Fragen 
wenigstens, zu relativ sichern Resultaten gelangen kiinnen. 


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Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose. 


265 


1. Markscheiden: Nach Weigert and Marchi behandelte Schnitte 
wiesen zunachst eine, die ganze Ausdehnung der Herde umfassende Mark- 
scheidendegeneration auf, die, je naher dern Centrum der Herde, um so 
vollstfindiger ist. Der Uebergang in das gesnnde Gewebe war in den 
allermeisten Fallen ein allmahlicher, nnr vereinzelte scharfer abgegrenzte 
Herde waren zn flnden. Nach der grauen Substanz zu waren die Herde 
im Riickenmark nirgends, im Gehira meistens nicht abzugrenzen. Aus 
diesem Grnnde, weil die Herde sich nie auf einen Strang beschr&nkten, 
sondern seitlich in die Umgebung ubergriffen, waren auch in dem vorliegenden 
Falle, wie in den meisten bisher beschriebenen Strangdegenerationen nicht 
mit Sicherheit nachznweisen. Zwar schienen z. B. die Hinterstr&nge stellen- 
weise degenerirt, es zeigte sich aber, dass die Sklerose anch in die an- 
grenzenden Partien hberging. Die Stellen muss ten daher als eigentliche 
sklerotische, in der Lkngsrichtung sehr ausgedehnte Herde aufgefasst werden. 

An vielen Stellen, keineswegs aber in der Mehrzahl der Falle betraf 
die Degeneration der Markscheiden die Umgebung eines Gefasses. In 
einigen frischen Herden war ein central liegendes Gefass zweifellos der 
Ausgangspunkt der Degeneration. Eine zellige Infiltration schien in 
Schnitten die nach Weigert oder von Gieson behandelt waren, an Stelle 
der Markscheiden getreten zu sein. 

Auch in Neurogliapraparaten ist die Degeneration der Markscheiden 
gat sichtbar und gerade hier lasst sich durch die differente Farbung sehr 
deutlich das allmahliche Schmalerwerden der Markscheiden bis zur volligen 
Zers toning deraelben nach dem Centrum der Herde zu erkennen. 

Das Vorhandensein einer fruhzeitigen Markscheidendegeneration, als 
einer charakteristischen Erscheinung des ganzen Processes, ist schon lange 
erkannt and allgemein bestatigt worden. Fast ebenso allgemein ist fest- 
gestellt, dass: 

2. Die Axencylinder relativ sehr lange dem Krankheitsprocess 
widerstehen. Anch in dem vorliegenden Falle zeigten sich in frischen 
Herden die Axencylinder stets erhalten. Nur in den ganz alten Herden 
schienen einzelne zu fehlen und die vorhandenen stark verschmalert zu sein. 
Dieser Befhnd stimmt mit dem Anderer iiberein, pflegt man doch damit 
das Fehlen der Strangdegenerationen zu erklaren, die ja in grdsserer Aus- 
dehnong in nicht complicirten Fallen nicht nachgewiesen sind. Russ be- 
schreibt unter andern einen solchen Fall. 

Ffir die Annahme Popoff's 12 ), dass es sich bei den verschmalerten 
Axencylindern am eine Regeneration handle, konnte ich irgend welche 
Anhaltspunkte nicht finden. Gerade Marchipraparate, welche ja die in 
der Degeneration begriffenen Partien am schfirfsten zeigen, sprechen 
dagegen. 

3. Gefasse: Gefassveranderungen fanden sich vielfach aber keineswegs 
regelmassig. Es fanden sich veranderte Gefasse neben massig verdickten 
mit erweiterten perivascularen Raumen. An andern Stellen wieder massig 
verdickte Wandungen mit dicht anschliessenden concentrisch darum gelagerter 
zelliger Infiltration. Constant schien nur eine Verdickung der Adventitia 
and wohl auch eine Vermehrung der Anzahl der Gefasse in ganz alten 
Herden zu sein. Ueber die Natur der zelligen Infiltration erfahrt man in 
Markscheidenpraparaten nichts sicheres. — In nach Gieson gefarbten 
Schnitten, welche die der Gefasswand zugehdrigen Elemente starker hervor- 


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XV. Thoma 


treten lassen, gcheint die Verdicknng der Gefasswand, wo sie hberhaupt 
vorhanden war. nnr einen massigen Grad zu erreichen. 

Die perivascuiare Zellinfiltration aber trug durchaus den Charakter 
der Glia. Zahlreiche Gliakeme und feinste Faserchen von blassrother 
Far bung waren darin zu erkennen. Noch deutlicher zeigte sich dies Ver- 
halten in Neurogliapr&paraten: ich werde weiter unten darauf zuruck- 
kommen. 

4. Ganglienzellen: Schon Charcot 2 ) erwfthnte die Veranderungen 
in den Ganglienzellen und in den meisten Fallen wurden solche in Form 
von Schrumpfung und Pigmentation beschrieben, welche Veranderungen sich 
jedoch meist nur auf die alteren Herde beschrankten. Kdppen 9 ) und 
Rossolimo 17 ) u. A. fanden die Ganglienzellen sogar unverandert. Wahrend 
nun allerdings vanGieson- und Carminpraparate nur innerhalb der alteren 
Herde Veranderungen der Ganglienzellen erkennen lassen, zeigten nach 
Nissl behandelte Schnitte, dass in unserem Falle alle Ganglienzellen ver- 
andert waren. Die Veranderungen waren jedoch keineswegs so hochgradig 
und so ausgedehnt, wie sich erwarten liesse, wenn wir es mit einer 
primaren Erkrankung derselben zu thun hatten. 

Auch diirfen wohl nicht alle Veranderungen gleichmassig beurtheilt 
werden. 

In den alteren Herden, z. B. der Hirnnervenkerne am Boden der 
Rautengrube, fanden sich ziemlich alle Veranderungen, welche als degenerative 
angesehen werden. Verlust der Structur der Fortsatze, Randstellung der 
farbbaren Substanz, blasiges Aussehen des Kerns, der eine Contur erhait, 
Randstellung des Kerns. Auftreten von Vacuolen im Kernkbrperchen. 
Endlich vbllige Chromatolyse. In frischen Herden dagegen oder in der 
Nachbarschaft derselben, fanden sich die meisten Zellen nur wenig ver- 
andert. Spuren von Zerfall der farbbaren Substanz schienen jedoch alle 
zu bieten. Dieselben eben beschriebenen Veranderungen zeigten auch die 
Rindenzellen innerhalb der Herde. Aber auch an Stellen, welche von der 
Sklerose nicht befallen waren, zeigten sich Veranderungen, die ziemlich 
diffus uber die ganze Rinde verbreitet waren und in Verlust des Structur 
der Zelle und deren Fortsatze, farbbar werden der Zwischensubstanz und 
des Kerns bestand, so dass die Zelle schliesslich ein gleichmassig fein- 
korniges oder ganz homogenes Aussehen darbot. Der Zusammenhang dieser 
letztgenannten Veranderungen mit dem sklerotischen Process diiifte zn 
bezweifeln sein, da die Zelldegeneration innerhalb der Herde einen anderen 
Charakter tragt und nach dem Centrum derselben zunimmt. Diese gleich- 
massigen Veranderungen der Rindenzellen diirften vielleicht auf Rechnung 
des in den letzten Tagen vorhandenen sehr hohen Fiebers zu setzen sein. 

5. Neuroglia: Nehen den Markscheiden zeigt die anffailigsten Ver¬ 
anderungen die Neuroglia. Es ist dabei vorauszuschicken, dass die nacb- 
stehenden Ergebnisse der Untersuchung sich ausschliesslich auf Befunde 
an solchen Schnitten beziehen. die nach der Weigert’schen Gliamethode 
behandelt waren. Die Anwendung dieser Farbung diirfte da, wo es sich 
um Urtheile iiber das Verhalten der Glia handelt, ein dringendes Erforderniss 
sein, da sie als absolut elective Methode sehr klare Bilder giebt und daher 
Irrthiimer betreffs der ZugehBrigkeit zur Glia am meisten ausschliesst. 
Betrachtet man zunachst altere Herde, so findet sich an der Peripherie 
eine ausserordentliche Anhaufung von Gliakernen, die ohne scharfe Grenze 


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Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose. 267 

in das Normal© iibergeht (vergl. Fig. 3), znweilen auch noch strahlen- 
formig zwischen die Nervenfasern eindringt und sich dort allm&hlich ver- 
liert. Weiter nach innen in den Herden treten die Zellen mehr zuriick 
nnd die Fasern herrschen vor. Gegen das Centrum zn wird der Faserfilz 
so dicht, dass er fast homogen anssieht. In den aller&ltesten Herden scheint 
dann die Glia vom Centrum her eine Umbildung zu erfahren. 

Wenigstens verh&lt sich in solchen das Centrum tinctoriell verschieden 
gegeniiber der Glia in der Peripherie, sowie der in frischen Herden. Fast 
scheint es, als ob in solch alten Herden die Gef&sse bei dieser Ver&nderung 
der Glia eine Rolle spielen. Sie scheinen dort auch regelm&ssig vermehrt 
und verdickt und zeigen vielfach hyaline Degeneration. In frischen Herden 
iiberwiegen stets die Gliakerne gegeniiber den Fasern, auch sind sie viel 
zahlreicher als sie in normaler Glia zu sein pflegen. Die Ausgangsstellen 
der Gliawucherungen liessen sich nicht an alien Orten mit Sicherheit nach- 
weisen, doch liess sich wenigstens eine Anzahl davon feststellen. 

Was zun&chst die graue Substanz betrifft, so war es im Riickenmark 
besonders eine Stelle, von der aus der Process seinen Ausgang zu nehmen 
schien. Dies war die Umgebung des Centralkanals. Dem entsprechend 
weiter central der Boden der Rautengrube, iiberhaupt die Umgebung der 
Ventrikel. Ferner liessen sich Herde feststellen, die von den Oliven aus- 
gingen. 

Besonders bei den vom Centralkanal ausgehenden Herden erhielt man 
sehr instructive Bilder (vergl. Fig. 3). Die Glia wuchert nach vblliger 
Sklerosimng der zun&clist gelegenen Theile der grauen Substanz nach alien 
Richtungen weiter, und zwar in den anstossenden Partien der weissen 
Substanz der Vorder-, Hinter- und Seitenstr&nge schneller als in der grauen. 
Naraentlich die Ganglienzellenhaufen der Vorderhorner scheinen dem Fort- 
schreiten des Processes einen Damm entgegenzusetzen, so dass die sklero- 
tischen Partien des Vorder- und Seitenstrangs die Vorderhbrner von beiden 
Seiten iiberragen. 

Des Weiteren schienen Gliawucherungen von der Neurogliahiille des 
Riickenmarks auszugehen. Diese letztere war auf bedeutende Strecken 
stark verbreitet und von ihr aus dr&ngten sich stellenweise massenhafte 
Gliakerne entlang den Septa zwischen die Fasern ein. 

In der weissen Substanz fanden sich eine Menge Stellen, wo die 
Gef&sse das Centrum bildeten und auch der Ausgangspunkt des Processes 
zu sein schienen (vergl. Fig. 1 und 2). 

Untersucht man solche perivascul&re Zelleninfiltrationen genaner in 
Gliapr&paraten, so zeigt sich, dass es sich nur um Gliazellen handelt. Die 
grossen, znweilen Astrocyten ahnlichen Kerne und die sp&rlicher vorhan- 
denen Gliafasem lassen sich unmittelbar bis in die G1 iahtille der Ge- 
f&sse verfolgen. Eine Zelleinwanderung irgend welcher Art von der 
Gef&sswand her bestand in den frischen Herden nicht. Bemerkenswerth 
scheinen mir auch solche Stellen zu sein, wo in anscheinend normalen 
Gebieten der weissen Substanz, im Riickenmark sowohl als im Gehirn, bei 
denen eine Atrophie der Markscheiden noch nirgends zu bemerken war, 
sich im Verlaufe eines feinen Gliazuges plbtzlich kleine Anh&ufongen von 
Gliakernen fanden, wie sie normaler Weise an solchen Stellen nicht vor- 
zukommen pflegen. Diese Stellen durften wohl als kleinste Wucherungen 
aufzufassen sein. 


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XV. Thoma 


Welchen Aufschluss giebt nun der mikroskopische Befund im 
vorliegenden Falle tiber das Wesen des pathologischen Processes? 
Bekanntlich sind dartiber die Ansichten in Folge der Differenz der 
mikroskopischen Befunde sehr getheilt 

Von alien Autoren wird nun zwar eine Markscheidendegeneration 
und die Gliaverwucherung als das Charakteristische der Erkrankung 
angesehen. Wahrend aber die Einen, wie Charcot, 2 ) v. Leyden, 
Nothnagel, ,0 ) Erb, Marie, den Process f&r einen chronisch ent- 
ziindlichen halten, sehen Andere wieder die Markscheidendegeneration 
als das Primare an und nehmen an, dass die Glia erst secundar die 
entstandenen Lticken ausflille, so Hess, 6 ) Koppen, 9 ) Fflrstner, 4 ) 
Storch 19 ) u. A. 

Eine dritte Gruppe, Adamkiewiecz, Huber, 7 ) Redlich, 14 ) 
nehmen eine primare Erkrankung des Nervenparenchyms an. 

Ziegler, 24 ) Strtimpell, 20 ) Schtile, 18 ) Probst 13 ) treten ftr 
eine primare Erkrankung der Neuroglia ein. Speeiell sieht Ziegler 24 ) 
in einem angebornen Zustande der Neuroglia, der dieselbe befahigen 
soli auf einen Reiz, Intoxication, Trauma, Kalte, durch Wucherung 
zu reagiren, die Ursache der Erkrankung. 

Eine Reihe von Autoren endlich, Rindfleisch, l6 ) Ribbert, 15 ) 
Rossolimo, 17 ) Taylor, 21 ) Williamson, 22 ) Popoff, 12 ) sind fiber 
den Process selbst zwar zum Theil verschiedener Ansicht, sehen aber 
gemeinschaftlich den Ausgangspunkt der Erkrankung in den Gefassen. 

Was zunachst die Annahme eines myelitischen Processes betrifft, 
so konnte in dem vorliegenden Falle kein Beweis ftir einen solchen 
gefunden wurden. Einmal zeigten sich die perivascularen Zellinfil- 
trationen, die haufig zum Beweis fur entzfindliche Vorgange beigezogen 
werden, als reine Gliaanhaufungen. Secundare Degenerationen, die 
bei Myelitis Regel sind, fehlten, da ja, wie oben erwahnt, Ganglien- 
zellen und Axencylinder relativ sehr lange bestehen bleiben, wahrend 
sie bei Myelitis sehr rasch vollstandig zu Grunde gehen. Gegen ent- 
zundliche Vorgange spricht auch das Aussehen der Markscheiden. 
Diese erscheinen namlich nirgends gequollen wie bei Myelitis, sondem 
stets verschmalert (Cramer). 3 ) 

Aus demselben Grunde, namlich wegen der Persistenz der Gang' 
lienzellen und Axencylinder, ist wohl auch eine primare Erkrankung 
des Nervenparenchyms auszuschliessen. Nissl bemerkt flbrigens 
hierzu treflFend, dass man von einer Erkrankung des Nervenparenchyms 
nicht wohl reden konne, so lange dieses nicht genau bekannt sei. 
Genaueres wissen wir aber zur Zeit nur fiber die farbbare Substanz 
der Ganglienzellen, wahrend fiber das pathologische Verhalten der 
Neurofibrillen, der pericellularen Gitter, mit denen jetzt doch wohl 


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Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose. 


269 


gerechnet werden muss, noch nichts bekannt ist Gerade die Wider- 
standsfahigkeit der Axencylinder lasst es wfinschenswerth erscheinen, 
fiber das Yerhalten der Neurofibrillen Naheres zu erfahren. Schwie- 
riger verhalt es sich mit der Entscheidung, ob wir es mit einer pri- 
maren Erkrankung der Markscbeiden zu thun haben. 

Thatsachlich ist die augenfalligste Erscheinung, die sich bei der 
Untersuchung nach den verschiedensten Methoden immer wieder auf- 
drangt, die Degeneration der Markscheiden. Auch in Neuroglia- 
praparaten sieht man, wie oben erwahnt, sehr deutlich das allmahliche 
Schmalerwerden der Markscheiden nach dem Centrum der Herde 
zu. Zugleich damit ist aber auch schon die Glia an Stelle der Mark¬ 
scheiden getreten. Nirgends ist nachweisbar, dass die Markscheiden 
im Schwinden begriffen sind, ehe die Glia wachst. Im Gegentheil 
lasst sich schon deutliche Vermehrung der zelligen Gliaelemente an 
den aussersten Grenzen der Herde sowohl, als auch in anscheinend 
noch gesunden Partien sehen, ehe ein Schwund der Markscheiden zu 
bemerken ist Auch konnte ich in dem vorliegenden* Fall keinen 
Ajihaltspunkt daffir finden, dass die Markscheidendegeneration der 
primare Vorgang set 

Das Verhalten der Glia macht vielmehr den Eindruck, dass man 
es mit einer activen Proliferation derselben zu thun hat Storch 19 ) 
erhielt bei seinen Untersuchungen einen anderen Eindruck. Er selbst 
aber schrankt seine Befunde bezfiglich der Sklerose dadurch ein, dass 
er angiebt, hier nicht fiber genfigend frisches Material verffigt zu 
haben. 

Im Uebrigen constatirt Storch doch einen gewissen Unterschied 
gegenfiber des Tabes. Dieser liegt im Wesentlichen darin, dass bei 
Tabes, wie Storch angiebt, langgestreckte Gliafaserbfindel die ge- 
schwundenen Nervenfasern ersetzen, die Zellen aber sehr sparlich vor- 
kommen. In unserem Fall dagegen stand die Zellproliferation im 
Vordergrunde und die Fasern traten zurfick. Wenn femer von ver- 
schiedenen Seiten die Paralyse als Beispiel gewahlt wird, um darzu- 
thun, dass die Glia das Bestreben habe, die yorhandenen Lficken aus- 
zuffillen, so scheint mir der Vergleich nicht gerade glticklich gewahlt. 
Einmal hat die Glia bei der Paralyse gerade nicht das Bestreben, in 
dem Grade die entstandenen Lficken auszuffillen, wie dies bei der 
Sklerose angenommen wird. Das Resultat wenigstens ist dort ein 
ganz erheblicher Schwund der Gesammtmasse, wahrend dies hier nicht 
der Fall ist Dann aber, und darauf gedenke ich an anderem Orte 
zurfickzukommen, ist das ganze Yerhalten der Glia, die Art ihres 
Wachsthums verschieden gegenfiber der energischen Proliferation bei 
der Sklerose. 


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270 


XV. Thoma 


Wie oben erwahnt, betonen eine Reihe von Autoren, neuerdings 
besonders Ftirstner, 4 ) das Ausgehen der Erkrankung von den Ge- 
fassen resp. der in denselben circulirenden Schadlichkeit, welche die 
Markscheiden in der Umgebung zur Degeneration bringen soil, wess- 
halb die Herde haufig um ein centrales Gefass gelagert 9eien. 

Wie wir bei der Beschreibung des mikroskopischen Befundes 
gesehen haben, finden sich auch in diesem Falle eine Reihe von peri- 



Fig. 1. 


vascularen Herden, besonders in der weissen Substanz, die aus An- 
haufungen von Gliazellen (vergl. Fig. 1 und 2) und Fasern besteheu, 
ahnlich wie Alzheimer 1 ) sie bei Arteriosklerose gefunden hat 

Bei einer derartigen Gruppirung um ein Gefass liegt es nun aller- 
dings am nachsten, jeweils das Gefass dafiir verantwortlich zu machen. 
Nun ist aber nicht recht ersichtlich, warum eine in den Gefassen 
circulirende allgemeine Schadlichkeit, sagen wir ein Gift, in der Um- 


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Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose. 


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gebung eines mit Wandung yersehenen Gefasses, falls es sich nicht 
gerade am eine Erkrankang der Gefasswand solbst handeit, starker 
geltend machen soli, als in dem Bereich der fiberall ziemlich gleichmassig 
▼ertheiltenCapillaren. Vergiftungsversuche wenigstens sprechen doch 
mehr far diffuse Veranderangen. Die nicht sehr seltene Lagerung der 
Herde um ein Gefass dfirfte vielleicht doch einen andern Grand haben. 

Betrachten wir einmal die Yerbreitung des Krankheitsprocesses 
in unserem Falle, der desshalb sehr gfinstige Anhaltspunkte hot, weil 



Fig. 2. 

die Patientin relativ lange am Leben erhalten wurde, und die Krank- 
heit in der letzten Zeit rapid sich ausbreitend alle Stadien ihres Ent- 
wicklungsprocesses diffus fiber das ganze Centralnervensystem zeigte. 
Dazu kommt auch, dass sich die Ursprungsstellen der Herde dabei zum 
Theil gut feststellen liessen. In den einzelnen veroffentlichten Fallen 
sind die befallenen Partien nun sehr verschieden. Der vorliegende 
Fall zeigt, dass es wohl keinen Bezirk des Centralnervensystems giebt, 
der nicht befallen werden kann. 


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XV. Thoma 


Pradilectionsstellen sind dagegen vorhanden. Gebunden scheint 
mir der Process an das Vorkommen der Glia, nicht aber der Mark- 
scheiden zu sein, wahrend andererseits wieder da, wo Markscheiden 
vorherrschen, die grossten und anscheinend in rapidester Ausbreitung 
begriffenen Herde zu finden sind. Gehen wir von der normalen Ver- 
theilung der Neuroglia aus, wie sie Weigert 23 ) in seinem Beitrag 
zur Kenntniss der normalen menschlichen Neuroglia angiebt, 
und welche ich als bekannt voraussetze, so finden wir, dass sich die 
Herde fiberall da zumeist entwickeln, wo normalerweise 
die Neuroglia am starksten vertreten ist. Dies scheint auf den 
ersten Blick nicht zuzutreffen, da wir ja zahlreiche und grosse Herde 
in der weissen Substanz haben, wo die Neuroglia meist nur in dfinnen 
Ztigen vorhanden ist. 

Es sind aber dabei zwei Factoren zu berticksichtigen. Einerseits 
die von Allen constatirte Widerstandsfahigkeit der Nervenelemente 
(Ganglienzellen und Axencylinder) gegentiber dem sklerotischen Pro¬ 
cess, die der Ausbreitung hinderlich ist, in hemmendem Sinne. Ander- 
seits die Widerstandsunfahigkeit der Markscheiden, in die Ausbrei¬ 
tung fordemdem Sinne. 

Durch diese beiden, einander entgegen wirkenden Factoren wird 
das Verhaltniss wieder zu Gunsten der an Glia Srmeren Stellen ver- 
schoben, resp. ausgeglichen. 

Es finden sich, wie erwahnt, zahlreiche und alte Herde im Rttcken- 
mark, ausgehend von derUmgebung des Centralkanals (vergL Fig. 3), 
von der grauen Substanz tiberhaupt, von der Gliahttlle des Rticken- 
marks. Ferner fanden sich ausgedehnte Gliawucherungen im Boden 
der Rautengrube und in der Umgebung der andem YentrikeL Endlich 
auch ausgehend von den Oliven. Lauter Stellen, wo normaler Weise 
die Glia stark vertreten ist. 

In der weissen Substanz sehen wir die frischen Herde ihren Aus- 
gang nehmen von den Gliaztigen zwischen den Nervenfasem, sehr 
gerne aber auch von den Gliahtillen der Gefasse, die dort eine 
erheblich starkere Gliaanhaufung vorstellen, als die zarten Ztlge 
zwischen den Fasern. 

Gerade diese, von der Gliascheide der Gefasse in der weissen 
Substanz ausgehenden Herde zeigen rasches Wachsthum, weil sie nur 
Markscheiden, die leicht zerfallen, zu verdrangen haben. Der ungnn- 
stige Factor der geringeren Gliamasse ist also hier durch den rascheren 
Zerfall der Markscheiden ausgeglichen. Daher wohl auch die grosse 
Ausdehnung der Herde. Anderseits sieht man am Boden der Rauten¬ 
grube, wo normalerweise reichliche Glia vorhanden ist, diese stark 
vermehrt, in breiter Front nach der Tiefe vorrticken. Offenbar aber 


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Zur pathologischen Histologie der multiplen Sklerose. 


273 


viel langsamer, denn die zellige Infiltration an der Peripherie der 
Herde ist geringer, wodurch wieder Zeit zur Umbildung in Fasern 
geboten ist. £s finden sich dann auch in diesen Herden viel mehr 
Fasern vor, die zwischen sich die mehr oder weniger degenerirten 
Ganglienzellen eingeklemmt enthalten. Die dort liegenden Ganglien- 
zelienhaufen setzen eben dem Vordringen der Glia einen erheblichen 
Widerstand entgegen. 



Fig. 3. 

Dementsprechend finden sich auch da, wo zwei ungttnstige Fac- 
toren zusammentreffen, wie in der Hirnrinde, namlich wenig Glia 
und wenig Markscheiden, dagegen viele Nervenelemente, auch die 
wenigsten sklerotischen Herde, so wenige, dass einzelne Autoren zu 
der Ansicht kamen, der Process gehe nicht auf die Rinde fiber und 
es tbatsachlich zuweilen den Anschein hat, als mache er vor dersel- 
ben Halt 

Deutsche Zeitscbr. f. Nervenheilkunde. XVII. 8d. 18 


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XV. Thoma 


Endlich ist noch der kleinen Zellenanhaufungen in der weissen 
Substanz zu gedenken, die als beginnende Sklerosen angesehen werden 
mtissen und wohl aus der letzten Zeit stammen. Alle diese Erschei- 
nungen machen in unserem Falle durchaus den Eindruck eines ac- 
tiven Yerhaltens der Glia. Die ganze Glia scheint in Bewegung zu 
sein. Wahrend sich zuerst die gliareicheren Theile, wie die erwahnten 
Stellen in der grauen Substanz, und in der weissen die Gliascheiden 
der Gefasse daran betheiligen, kommen spater auch die an Glia armeren 
daran, bis zuletzt die Glia fast fiberall zu proliferiren beginnt, wobei 
es freilich nicht mehr zur Bildung yon eigentlichen Herden, sondern 
nur noch zu kleinen Kernhaufen kommt. 


Zusammenfassend lasst sich auf Grand der Untersuchung des vor- 
ligenden Falles sagen: 

1. Die Erkrankung kann das ganze Centralnervensystem, weisse 
und graue Substanz inclusive Rinde befallen. 

2. Ein Beweis ftir eine primare Erkrankung der Markscheiden 
oder des Nervenparenchyms war nicht zu fin den, vielmehr sind deren 
Veranderungen nur secundarer Natur. 

3. Die Erkrankung ist an das Vorhandensein der Glia gebunden 
und nimmt mit Vorliebe fiberall da ihren Ausgang, wo normaler 
Weise schon mehr Glia vorhanden ist. Doch leistet der leichte Zer- 
fall der Markscheiden der Ausbreitung in der weissen Substanz 
Vorschub. 

4. Die Gefasse spielen nur in soweit eine Rolle, als der Process 
haufig von deren Gliascheiden ausgeht, welch letztere in der weissen 
Substanz eine relativ grosser© Gliamasse reprasentiren. 

5. Die Erkrankung ist als eine solche der Glia anzusehen und 
stellt einen activen Proliferationsprocess dar. 


Ueber die Aetiologie prajudicirt der vorliegende Fall nichts. 
Ebensowenig lasst sich mit Sicherheit entscheiden, ob jede Glia in 
der beschriebenen Weise erkranken kann, oder ob ein bestimmter 
Zustand derselben schon da sein muss. Demnach scheint mir der 
vorliegende Fall wegen des Yerhaltens der Glia eher einer Unter- 
sttitzung der Ansicht von Ziegler, Strtimpell u. A. zu sein, die 
eine angeborene Anlage der Neuroglia voraussetzen, zu der eine 
aussere Schadlichkeit hinzutritt, wie solche hauptsachlich Intoxi- 
cationen abgeben. 


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Zur pathologischen Histologic der multiplen Sklerose. 


275 


Literatnr; 

1. Alzheimer, Verein deutscher Irrenarzte. Versammlung 1896. Neuroglog. 
Centralblatt 1896. Bd. 15. Nr. 20. 

2) Charcot, Lecons sur les maladies des system nerveux. Paris 1877. 

3) Cramer, Beginnende multiple Sklerose u. acute Myelitis. Arch. f. Psych. 

188 a XIX. 

4) Ffirstner, Ueber multiple Sklerose. Neuroglog. Centralblatt 1895. Nr. 13. 
Derselbe, XX. Wanderversammlung d. sddwestdeutechen Neuroglog. in 

Baden-Baden 1895. 

Derselbe, Ueber multiple Sklerose und Paralysis agitans. Archiv. f. Psych. 
Bd. XXX. 

5) Goldscheider, Ueber den anatom. Process im AnfangBstad. der multipl. 

Sklerose. Zeitschr. f. klin. Med. 1896. Bd. XXX. 

6) Hess, Ueber einen Fall von multipler Sklerose d. Centralnervensystems. 

Arch. f. Psych. 188a Bd. XIX. 

7) Huber, Zur patholog. Anat. der multipl. Sklerose d. RQckenmarks. 

Virch. Arch, 1895. Bd. 140. 

8) Jolly, Ueber multipl. Hirnsklerose. Arch. f. Psych. 1872. Bd. Ill 

9) KSppen, Ueber histol. Verander. d. multipl. Sklerose. Arch. f. Psych. 1886. 

Bd. XVII. 

10) Nothnagel, Spec. Pathol, u. Therap. Bd. X (Krankh. d. Rfickenmarks u. 

d. Medulla) v. Leyden u. Goldscheider. 

11) Oppenheim, Lehrbuch d. Nervenkrankheiten. 1898. 

Derselbe, Zur Lehre v. d. multiplen Sklerose. Neurolog. Centralblatt 
1896. Nr. 1. 

12) Pop off, Zur Histologie der disseminiaten Sklerose d. Gehirns u. Rucken- 

marks. Neurolog. Centralblatt 1894. Nr. 9. 

13) Propst, Zur multipl. Herdsklerose. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. 

Bd. 12. 

14) Redlich, Z. Pathol, d. Nervensyst. Arbeiten a. d. Institut v. Obersteiner. 

Ref. Neuroglog. Centralblatt 1896. Nr. 12. 

Derselbe, Zur Path. d. multipl. Skier. Verein f. Psych, u. Neurol, i. Wien. 
Neurol. Centralblatt. 1895. Bd. 14. Nr. 21. 

15) Ribbert, Ueber multipl. Sklerose d. Gehirns u. Ruckenmarks. Virch. 

Arch. 1882. Bd. 90. 

16) Rindfleisch, Histol. Details z. d. grauen Deg. von Gehim u. Ruckenmark. 

Virch. Arch. 1863. Bd. 20. 

17) Rossolimo, Zur Frage uber d. multipl. Sklerose u. Gliose. Deutsche 

Zeitschr. f. Nervenheilkunde. Bd. XI. 

18) Schule, Beitrag z. multipl. Sklerose d. Gehirns u. Ruckenmarks. Deutsch. 

Arch. f. klin. Med. 1870. Bd. VII. 

Derselbe, ebda. 1871. Bd. VIII. 

19) Storch, Ueber die pathol. anat. Vorgange am Stdtzgerust d. Centralnerven¬ 

systems. Virch. Arch. Bd. 157. Heft 1—2. 

20) Strumpell, Zur Path. d. multipl. Sklerose. Neurol. Centralblatt 1896. 

Nr. 21. 

18* 


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276 Thom:a ? Zur pathologischen Histologie der moltiplen Sklerose. 


21) Taylor, Zur path. Anat. d. multipl. Sklerose. Deutsche Zeitschr. f. N erven - 

heilkunde 1894. Bd. V. 

22) Williamson, The early pathological changes in disseminated sclerosis. 

London, Medical Chronicle. Referat. Neurolog. Centralblatt 1894. 

28) Weigert, Beitrage zur Kenntniss d. norm&len menschl. Neuroglia. Frank¬ 
furt 1895. 

24) Ziegler, Handbuch d. pathol. Anatomie 1892. 


Erklftrang der Abbildungen. 

Fig. 1. Perivascularer Herd. Markscheidenfarbung aus dem Gehim. 

Fig. 2. Perivasculare Herde aus der Medulla. Neurogliafarbung (Weigert). 
Fig. 3. Halite ernes vom Centralkanal ausgehenden sklerotischen Herdes im 
Rftckenmark. 

a sklerotische Partien. 
b normale Partie. 
c Gegend des Centralkanals. 
d Vorderhom. 

Neurogliafarbung (Weigert). 


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XVI. 


Mechanische Muskelerregbarkeit nnd Sehnenreflexe bei 

Tabes dorsalis. 

Von 

Dr. Frenkel 

in Helden (Schweiz). 

(Mit 6 Abbildungen.) 

Wir wissen, dass das Fehlen der Patellarreflexe eines der con- 
stantesten und frfihesten Symptome der Tabes darstellt. Von den 
iibrigen, an den unteren Extremitaten auslosbaren Sehnenreflexen 
wissen wir nicht vieL Auskunft fiber das Verhalten z. B. des Achilles- 
sehnenreflexes erhalten wir selten. Wir wollen gleich bemerken, dass 
dieser bei der Tabes ebenfalls constant fehlk Da das Interesse haupt- 
sachlich auf das Verhalten der unteren Extremitaten sich concentrirt, 
so erhalten wir in der Literatur selten Auskunft fiber das Verhalten 
der Sehnenreflexe an den oberen Extremitaten. Jedenfalls werden sie 
nicht bei jedem Fall yon Tabes untersuchi Leimbach giebt in seiner 
Arbeit vom Jahre 1895 an, dass in den gewohnlichen Fallen der 
Tricepsreflex vorhanden ist. 1 ) 

Seitdem wir uns zur Regel gemacht haben, jeden einzelnen Fall 
von Tabes erschopfend zu untersuchen, hat sich nun aus den Ergeb- 
nissen von mehreren Hunderten von Kranken aus den verschiedenen 
Stadien der wichtige Schluss ziehen lassen, dass das Fehlen der 
Sehnenreflexe an den oberen Extremitaten ein constantes 
Symptom der Tabes darstellt, ja dass dasselbe constanter 
ist, als das Fehlen des Patellarreflexes. Es ist aber nicht allein 
constant bei den mittleren und schwereren Formen der Krankheit, 
sondem bildet auch eines der frtihesten Zeichen der Tabes. Bei 
den schwersten, schweren und mittelschweren Formen, dort, wo die 
Ataxie in ihren verschiedenen Graden auftritt, ist uns kein einziger 
Krankheitsfall vorgekommen, in dem das Vorhandensein von Reflexen 
der oberen Extremitaten notirt ware. Bei zwei Fallen von manifester 
aber geringer Incoordination der Bewegungen, bei denen der linke 


1) Diese Zeitschrift Bd. VII. S. 495. 


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278 


XVI. Frenkel 


Patellarreflex vortlbergehend angedeutet gewesen ist, war trotz ge- 
nauester Untersuchung kein Reflex an den oberen Extremitaten nach- 
zuweisen. 

Nachdem wir so fiber die tlblichen Falle orientirfc waren, erschien 
es yon grosstem Interesse, die Untersuchung auf das praatactische 
Stadium auszudehnen. 

Mit Httlfe meines Assistenten, Herrn Dr. Forster, gelang es, drei- 
undzwanzig Falle von Tabes auf das Genaueste zu untersuchen, bei 
denen trotz absoluter Sicherheit der Diagnose keine Coordinations* 
storung zu finden war. Die Ergebnisse sind auf beifolgender Tabelle 
angegeben. 


Tabelle zur Veranschaulichung der Beziehung zwischen 
mechanischer Muskelerregbarkeit und dem Verhalten der 
Sehnenreflexe bei Praatactischen. 


Nr. 

Tricepsreflex 

Mechanische Muskel¬ 
erregbarkeit 

Patellarreflex 

!• j 

, vorhanden 

normal 

vorhanden 

2. 

fehlt 

gesteigert 

vorhanden 

3. 

vorhanden 

normal 

gesteigert 

4. 

fehlt 

gesteigert 

fehlt 

5. 

fehlt 

normal 

vorhanden 

6. 

vorhanden 

normal 

vorhanden 

7. 

fehlt 

gesteigert 

fehlt 

8. 

fehlt 

gesteigert 

fehlt 

9. 

fehlt 

gesteigert 

fehlt 

10. 

fehlt 

gesteigert 

fehlt 

11. 

fehlt 

gesteigert 

fehlt 

12. 

fehlt 

normal 

gesteigert 

13. 

fehlt links; r. vor¬ 
handen (als Flexion) 

links gesteigert; 
rechts normal 

fehlt 

14. 

gesteigert 

normal 

gesteigert 

15. 

fehlt 

gesteigert 

vorhanden 

16. 

fehlt 

normal 

fehlt 

17. 

fehlt links; r. vor¬ 
handen 

gesteigert L; r. normal 

vorhanden 

18. 

vorhanden 

normal 

vorhanden 

19. . 

fehlt 

gesteigert 

fehlt 

20. 1 

vorhanden 

normal 

vorhanden 

21. 

fehlt 

normal 

fehlt 

22. 

links vorh.; rechts fehlt 

normal 

fehlt 

23. 

fehlt 

gesteigert 

fehlt 


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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 279 


Lassen wir vorerst die Rubrik ^Muskelerregbarkeit* ausser Be- 
trachtung, so finden wir, dass bei unseren 23 Patienten der Patellar- 
reflex 11 Mai erhalten gewesen ist. Bei 5 war der Tricepsreflex beider- 
seits erhalten, bei 3 weiteren fand derselbe sich nur einseitig, also im 
Ganzen hatten nur 8 Patienten ein- oder beiderseitigen Tricepsreflex. 
Es resultirt ferner aus der Tabelle, dass diejenigen Eranken aus dem 
praatactischen Stadium, welche keine Patellarreflexe aufwiesen, auch 
an den Armen keine Sehnenreflexe zeigten, mit einer einzigen Aus- 
nahme (Nr. 22), in welchem Falle trotz Fehlen des Patellarreflexes 
der linke Tricepsreflex, aber auch nur dieser, erhalten war. Der an- 
dere fehlte. 

Es lehrt uns aber auch die Tabelle, dass in 3 Fallen, trotz An- 
wesenheit des Kniephanomens, an den oberen Extremitaten keinerlei 
Sehnenreflexe auszulosen waren. Mit Rticksicht darauf, dass es sich 
um gewohnliche nichtcervicale Tabes und zwar in ihrem Anfangs- 
stadium handelte, hat dieses Ergebniss jedenfalls seine Bedeutung. 
Erganzend sei noch hinzugefftgt, dass ich vor Kurzem 2 neue Falle 
beginnender Tabes zu untersuchen Gelegenheit hatte, bei denen eben- 
falls die Reflexe an den oberen und unteren Extremitaten yerschwunden 
waren und jede Spur von Ataxie fehlte. (Die angegebene Tabelle ist 
im Winter 1898/99 angefertigt worden.) Kurz zusammengefasst ergiebt 
sich aus unserem Material folgender Satz: In schweren und mitt- 
leren Fallen von Tabes fehlen die Reflexe an den oberen 
Extremitaten constant. Im Frflhstadium fehlen dieselben bei etwa 
70 Proc., wahrend der Patellarreflex in diesem selben Stadium nur 
etwa in 50 Proc. fehlt. 

Dieses unerwartete Resultat und die oben citirte Angabe Leim- 
bach’s deuten schon darauf hin, dass es nothwendig sein wird, sich 
fiber die Technik der Untersuchung zu verstandigen. Wahrend namlich 
bei der nblichen Prafung des Patellarreflexes unterhalb der Kniescheibe 
wegen der anatomischen Verhaltnisse der Hammerschlag mit Sicher- 
heit nur die Sehne trifft, so gehort im Gegentheil einige Vorsicht 
dazu, um bei der Untersuchung des Tricepsreflexes die Muskelsubstanz 
selbst zu vermeiden. Wird diese Vorsicht vernachlassigt, so kann 
besonders dann, wenn die Muskelsubstanz etwas weiter abwarts reicht 
als gewohnlich, eine Bewegung zu Stande kommen, welche mit dem 
von der Sehne ausgelosten Reflex nichts zu thun hat. Dieser Gefahr 
einer Verwechslung von idiomuscularer Contraction des Triceps mit 
seinem Reflex ist der Untersucher bei der Tabes ganz besonders aus- 
gesetzt und zwar, weil eine abnorme Steigerung der mecha- 
nischen Muskelerregbarkeit bei der Tabes dorsalis die 
Regel ist Dieselbe aussert sich in dem Verhalten der Muskeln 


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280 


XVI. Frenkel 


gegenttber leichten Schlagen mit dem Percussionshammer, welche 
unter normalen Verhaltnissen keinerlei Reaction hervorrufen, bei unserer 
Krankheit aber in mehr oder minder intensiver Weise die Muskel- 
substanz zur Contraction bringen. Wenn auch eine abnorme Steige- 
rung der mechanischen Muskelerregbarkeit nicht absolut constant ist, 
namentlich auch nicht so constant wie das allgemeine Fehlen der 
Sehnenreflexe, so mttssen wir doch auf Grund einer grossen Reihe von 
Untersuchungen diesen Zustand der Musculatur als in der Regel vor- 
handen ansehen: er findet sich in alien Stadien der Krankheit. Seit 
Jahren Bettlagerige konnen ihn ebenso aufweisen, als eben beginnende 
Falle von Tabes. Die Intensitat der Muskelreaction schwankt in 
weiten Grenzen, von nur massiger Steigerung liber die Norm bis zu 
so hohen Graden, dass schon ein geringer mechanischer Reiz den 
Muskel resp. das ganze Glied in springende Bewegung bringt. Be- 
merkenswerth ist es, dass wir diese hochsten Grade von mechanischer 
Uebererregbarkeit der Muskeln vorzugsweise, ja fast ausschliesslich 
an den oberen Extremitaten constatirt haben, und hier namentlich in 
leichten Fallen resp. im praatactischen Stadium der Tabes. Besonders 
hervorzuheben sind diejenigen Falle, in denen nichts in dem Zustand 
des Kranken, besonders keinerlei subjective Beschwerden, auf irgend 
eine St&rung der oberen Extremitaten hinwiesen und die vorgenommene 
Untersuchung trotzdem neben totalem Fehlen der Sehnenreflexe eine 
colossale Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit aufwies. 

Wir wollen einen solchen instructiven Fall hier zunachst mittheilen. 

Patientin S. ist 48 Jahre alt. 

Lues negirt. 

Krankheitsbeginn vor 8 Jahren mit heftigen lancinirenden Schmer- 
zen in den Beinen, anf&nglich in langen Intervallen, die aber im Laufe 
der Jahre immer kiirzer wurden. Niemals Paraesthesien in den Beinen 
Oder Armen. Niemals Blasenstorungen, niemals Diplopie, niemals Krisen. 
Seit einiger Zeit ira linken Arm Ulnarissensation. 

Status. 

Kraftige Person. Panniculus adiposus stark entwickelt, besonders an 
den Oberschenkeln und am Gesass. 

P up i lien stark myotisch, lichtstarr, bei Accommodation verengern sie sich. 

Sensibilitat der Haut iiberall intakt, mit Ansnahme eines schmalen 
Bandes von 2—3 Finger Breite etwas unterhalb der linken Mamilla, wo 
feine Beruhrnngen gar nicht gespurt werden. Ferner werden beiderseits 
in der Umgebung der Mamillen, so wie an der Innenseite beider Oberarme 
feine Beruhrungen schwacher gefiahlt als an den benachbarten Korperstellen 
(relative Hypaesthesie). 

Muskel- und Gelenksensibilitat iiberall intakt. Keine 
Ataxie, kein Romberg. 


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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 281 

Reflexe. 

Plantarreflex fehlt. 

Patellarreflex fehlt. 

Achillessehnenreflex fehlt. 

Epigasterreflexe vorhanden. 

Tricepsreflex fehlt. 

Supinatorreflex schwach, aber vorhanden. 

Alle anderen Sehnenreflexe der oberen Extremit&ten fehlen. 



Fig. la. Fig. lb. 


Mnsculatur. 

Nirgends Nachweis von Schwftche. 

Hypotonie nicht nachweisbar durch den passiven Dehnungsversuch. 

Doch fdhlt sich die gesammte Musculatur an der oberen and unteren 
Extremity schlaff and welk an. 

Mechanische Muskelerregbarkeit. 

1. Klopft man mit dem Percnssionshammer a of die Sehne des Triceps 
brachii oder hart in deren Umgebnng auf den Knochen des Oberarmes, so 
erweist sich, wie gesagt, der Tricepsreflex als abwesend. Sobald man aber 
ein wenig nach oben von der Tricepssehne einen nnr leichten Schlag ausiibt, 
zieht sich der Triceps dentlich znsammen; je hbher man mit dem Hammer 
am Oberarme hinanfgeht, nm je lebhafter wird diese Contraction, derart, 


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282 


XVI. Frenkel 


dass ein leiser Schlag etwa in der Mitte dee Oberarms auf den Muskel 
gefiihrt, eine sehr lebhafte Contraction der gesammten Tricepsmusknlatur 
auslfist, der Vorderarm springt ffirmlich aufw£rts, gerade wie man dies 
beobachtet, wenn die Sehnenreflexe enorm gesteigert sind. 

Beklopfen der Beugemuskeln, in der Mitte des Oberarms oder etwas 
unterhalb derselben, 15st ebenfalls deutliche Contraction dieser Mnskeln und 
eine Beugebewegnng aus, dock ist die Erregbarkeit nicht so lebhaft als 
am Triceps. 

Wird der Vorderarm, in Mittelstellung zwischen Pronation und Supi¬ 
nation, ungef&hr im rechten Winkel gegen den Oberrarm gehalten, und 
nun auf den Supinator longus, im Bereiche des unteren Abschnittes des 
Humerus an dessen Aussenseite, also etwas oberhalb des Epicondylus ext, 
ein Schlag gefiihrt, so tritt lebhafte Beugebewegnng des Vorderarms in der 
bewussten Stellung ein, gleichzeitig ist die Contraction des Muskels sehr 
deutlich. 

Noch lebhafter ist die Muskelcontraction, welche man erzielt durch 
einen Schlag auf den obersten Abschnitt des Dorsums antibrachii, an der 
radialen Kante, also etwas unterhalb des Epicondyl ext. Die Hand 
schnellt hierbei formlich aufwarts in Dorso-radialextension (Wirkung des 
Extens. carpi radialis). Fast in gleicher Weise erregbar erweist sich die 
gesammte Streckmuskulatur am Dorsum antibrachii; etwas unterhalb der 
soeben beschriebenen Stelle, etwa an der Grenze zwischen oberem und 
mittlerem Drittel des Vorderarmriickens, ruft ein leichter Schlag lebhafte 
Extension der Finger hervor, namentlich Zeige- und Mittelfinger schnellen 
aufw&rts. 

Die Beugemuskulatur am Vorderarm ist ebenfalls durch Beklopfen zur 
Contraction zu bringen, doch bedarf es heftigerer Schlage, und die erfolgenden 
Fingerbeugungen sind nur wenig ausgiebig. 

An der unteren Extremit&t: Beklopfen der Achillessehne in 
alien Stellungen erfolglos; lasst man aber die Person mit einem Bein auf 
dem Stuhlsitze knien und klopft nun etwas oberhalb der Achillessehne auf die 
Wadenmuskulatur, so beobachtet man deutliche Plantarreflexion des Fusses; 
und zwar ist diese Bewegung sehr ausgiebig und von deutlich sichtbarer 
Contraction des Gastrocnemius begleitet, wenn nur ein leichter Schlag 
auf die Wadenmuskulatur, da, wo sie den st&rksten Umfang hat, gefuhrt 
wird, und zwar jederseits etwas von der Mittellinie, also direkt auf je 
einen der beiden B&uche der Gemelli. Uebrigens erzeugt man auch an 
jeder andern Stelle der Wadenmuskeln Shnliche Zuckungen, die nur weniger 
lebhaft sind. 

An der Vorderfl&che des Unterschenkels erzeugt ein nur leichter 
Schlag, nahe der Crista tibiae, im Bereiche des oberen Drittels des Unter¬ 
schenkels eine lebhafte Dorsalflexion mit Adduction. Also isolirte Wirkung 
des Tibialis anticus. 

Klopft man dagegen auf die Aussenseite des Unterschenkels, unterhalb 
des Capitulum fibulae, im Bereiche des oberen Drittels des Unterschenkels, 
so tritt jedesmal lebhafte Peronealwirkung, d. h. vorwiegend Abduction und 
Drehung des Fusses urn seine longitudinale Axe nach aussen ein, also 
Erhebung des fcusseren Fussrandes. 

Eine isolirte Contractionswirkung des Extensor digitor. communis 
longus (Dorsalflexion mit Abduction) ist nicht zu erzielen. 


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Meehanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 283 

Im Bereiche des Oberschenkels sind die Maskeln nicht so lebhaft zu 
erregen, was wohl mit der starken Fettentwicklnng daselbst zusammen- 
hingt Der Quadriceps antwortet auf starkes Beklopfen mit deutlichen, 
aber auf die Stelle des Heizes bschr&nkt bleibenden Contractionen. 

Indem wir in Betreff der Pradilectionsstellen fflr die Erregung der 
Muskeln auf die folgenden Figuren verweisen, wollen wir auf die oben 
gegebeue Tabelle zurflekkommen. In derselben ist unter 23 Fallen 
11 Mai Steigerung der mechanischen Erregbarkeit an den oberen Ex- 
tremitaten angegeben. 

Wir finden feraer dreimal die Angabe, dass der Tricepsreflex nur 
einseitig gefehlt hat. In dem einen dieser drei Falle (Nr. 22) ist die 
Musculatur normal. In den beiden anderen aber findet sich die gewiss 
sehr merkwtirdige Erscheinung, dass die Musculatur eine Steige¬ 
rung ihrer mechanischen Erregbarkeit gerade auf derjenigen 
Seite zeigt, an welcher die Sehnenreflexe fehlen. In den 
beiden Fallen (13 und 17) fehlte links der Tricepsreflex und auf der¬ 
selben Seite war auch die Musculatur mechanisch stark erregbar, in 
Nr. 17 sogar in ganz ungemein intensiver Weise. Andererseits ist in 
keinem einzigen Falle abnorm starke Muskelirritabilitat gleichzeitig 
mit erhaltenen oder gesteigerten Reflexen gefunden worden. Alles 
dieses und was wir sonst noch an Fallen mit einseitig vorttbergehend 
angedeuteten Sehnenreflexen beobachtet haben, berechtigt zu der Auf- 
stellung des Satzes, dass sich die mechanische Erregbarkeit der 
tabischen Musculatur umgekehrt verhalt wie die Sehnenreflexe, das 
heisst bei erhaltenen Sehnenreflexen normale Muskelerregbarkeit, bei 
fehlenden gesteigerte, bei ungleichen dort Steigerung der mechanischen 
Erregbarkeit, wo der Reflex herabgesetzt ist. 

Im folgenden Fall handelt es sich um eine mittelschwere Tabes 
mit Ataxie der unteren und leichter Coordinationsstorung der oberen 
Extremitaten. 

42 j&hriger Mann (Fig. 2 a u. b), Sehnenreflexe verschwunden, ebenso der 
Achillessehnenreflex (zur Untersuchung kniet der Patient auf einem Stuhl). 
Beklopft man aber die Musculatur selbst mit leichtem Hammerschlag, so 
macht der Fuss eine kr&ftige Dorsalflexion. An den oberen Extremitaten 
sind die Sehnenreflexe verschwunden, die muskul&re Erregbarkeit verhalt 
sich folgendermassen; Rechter Arm: Etwa 3 cm oberhalb der Olecranon 
beginnt die Erregbarkeit, so dass einfacbes Fallenlassen eines kleinen 
Percusionshammers nur einen kleinen Ausschlag des Vorderarms hervorruft, 
welcher immer starker wird, jemehr wir uns der Mitte des Oberarms nahem. 

Beuger des Vorderarms: Leichter Schlag auf die Mitte des Beuger- 
wulstes lost eine sehr lebhafte gerade Beugung des Vorderarms ans. Die 
Erregbarkeitszone erstreckt sich nach innen bis zum Sulcus longitudinalis 
internus, wahrend sie nach oben und unten wenig ausgebreitet ist. 


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284 


XVI. Frenkel 


Etwa 1 cm oberhalb der Cnbitalfalte am &usseren Rande bewirkt ein 
leichter Hammerschlag eine mittelstarke isolirte Contraction des Supinator 
longus, d. h. isolirte Beugung des Armes in Mittelstellung zwischen Pro¬ 
nation und Supination. 

In einem Dreieck begrenzt von Epicondylus externus humeri, von der 
Ellenbogenfalte bis zur Mitte derselben und durch die Mitte des Radius 
auf dessen ausserer Kante lost jeder leiseste Schlag mit dem Percusions- 
hammer, eigentlich jede Berubrung, ein Aufspringen des Handgelenks in 
Extension und Adduction aus (Extensor carpi radialis). Die Muskelbeuge, 
sowie die Sehnen treten dabei markant hervor. Ungef&hr im Mittelpunkte 
dieses Dreiecks geht die Erregbarkeit so weit, dass einfaches Aufsetzen 



Supinator 
Ext. carpi rad. 
Flexor V + IV 
Flexor II + III 


der Gummikappe des Hammers geniigt zur Hervorrufung der charakte- 
ristischen Bewegung des Handgelenkes. Bemerkenswerth ist dabei, dass 
kein anderer Muskel im Bereiche dieses Dreiecks erregbar ist. 

Erregbar auf leichten Schlag sind ferner 

1. Extensor digiti minimi proprius; 

2. Extensor digitorum III et IV; 

3. Flexor carpi radialis. 

Linker Arm: Der Triceps ist an der Mitte des Oberarms auf der 
Hinterseite an gleicher Stelle erregbar wie der rechte und in gleicher 
Intensit&t, dergleichen ist der Supinator longus in der Ellenbogenfalte auf 
der Aussenkante ebenso stark erregbar wie rechts. Die Excitabilit&t des 
Extensor carpi radialis nimmt dieselbe Zone ein wie rechts, ist aber quan- 


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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 285 

titativ geringer; dahingegen ist die Erregbarkeit far den Mittelfinger er- 
heblich grosser als auf der rechten Seite. Es kijnnen ferner auch auf 
dieser Seite hervorgemfen werden, isolirte Beugang von Klein- and Gold- 
finger, ebenso isolirte Beagnng ffir Zeige- and Mittelfinger. 

Wir wollen ferner das Schema der Muskelexcitabilitat geben, 
welches eine seit einem Jahrzehnt bettlagerige Tabeskranke im 
sogenannten paraplegischen Stadium mit starker Abmagerung aller 
Muskeln betrifft (Fig. 3 a u. b). Wir bemerken ausserst lebhafte Contraction 
der ganzen Beugemusculatur des Vorderarms bei leisestem Schlag. 



Ebenso schnellt die Hand auch schon bei ganz leisem Schlag auf 
den extens. carpi radial. Auf der rechten Seite ist der Peroneus 
brevis sehr leicht zu erregen. Alles Uebrige ergiebt sich aus der 
Betrachtung der Zeichnung, welche mit der vorhergehenden zu ver- 
gleichen ist. 

Wir wollen noch zu der bei der Tabes regelmassig anzutreffenden 
Steigerung der mechanischen Erregbarkeit einige Bemerkungen hinzu- 
fftgen. Wir haben gesehen, dass die Intensitatsgrade variabel sind. Was 
dieTechnik der Untersuchung betrifft, so demonstrirt sich die Erregbarkeit 
im Wesentlichen in zweifacher Weise: 1. durch Schlag mit dem Percus- 


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286 


XVI. Frenkel 


sionshammer auf den Bauch eines Muskels oder einer Muskelgruppe, 
wie wir es in den gegebenen Krankengeschichten ausgeffthrt haben. 
Klopffc man mit einem gewohnlichen, mit Gummikappe versehenem 
Hammer in kurzem Schlag auf den Muskelbauch, am besten auf die- 
jenige Stelle, welche sich zur Application des elektrischen Reizes eignet, 
so erfolgt eine blitzartige, an den unteren Extremitaten, wie wir 
weiter noch sehen werden, manchmal wellenformige Contraction 
des Muskels und haufig ein formliches Aufschnellen des betreffenden 
Gliedes. Ganz besonders ausgepragt war dieses Verhalten bei den von 



Collegen Dr. Forster untersuchten Fallen yon Tabes im praatactischen 
Stadium an den oberen Extremitaten. Besonders auffallend am 
Triceps, an der Mitte des Oberarmes, etwas weniger in den Beugem 
des Oberarmes. Sehr lebhaft aber wiederum an dem Supinator longus 
bei Beklopfung seines Wulstes an der Ellenbogenfalte, bei Mittel- 
stellung des Armes zwischen Flexion und Extension Pro- und Supi¬ 
nation. Immer reagirt sehr lebhaft der Extensor carpi radial, meist 
auch der Extensor digitorum, yiel weniger die Beuger der Finger. 
Von den Muskeln der unteren Extremitaten contrahirt sich der 
Quatriceps am leichtesten auf Beklopfen, es kann aber auch Dorsal- 


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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 287 

flexion des Fusses in lebhaftester Weise zum Ausdruck kommen, wobei 
Tibialis und Per oneus-Wirkung gesondert erseheinen. 

Regelmassig zu erzielen ist die Plantarflexion des Fusses auf Be- 
klopfen der Wadenmusculatur. Bei einigen unserer Patienten erfolgte 
auch hierbei Aufschnellen des Fusses. Diese Steigerung der mecha- 
nischen Erregbarkeit fend sich auch bei schwersten, seit Jahren unbe- 
weglichen Tabeskranken. Die Glutaei und die Beuger sind weniger 
stark flberregbar, oft auch gar nicht erregbar gewesen auf Beklopfung. 
Es scheint dies an dem dartiber liegenden Fettpolster zu liegen, da 



sie durch ein anderes Verfahren, wie wir gleich sehen werden, sehr 
wohl zur Reaction gebracht werden konnen, namlich 2. durch Druck 
des Muskelbauches zwischen den Fingem oder auch durch blossen 
Druck des Fingers auf den Muskel, am haufigsten beobachtet an 
der Wadenmusculatur. Kneift man mit dem Daumen, Zeige- und 
Mittelfinger kraftig in die Wadenmusculatur, so erfolgt eine aus- 
giebige Plantarflexion des Fusses; man sieht und ftthlt gleichzeitig, 
wie sich die gesammte Wadenmusculatur contrahirt Die Bewegung 
des Fusses geschieht nicht so schnell, wie bei dem Achillesreflex. 


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288 


XVI. Frenkel 


Dies hangt offenbar damit zusammen, dass durch den mechanischen 
Reiz zunachst nur an einer circumscripten Stelle, d. h. der Appli- 
cationsstelle, die Wulstbildung im Muskel entsteht, die sich dann 
yon bier aus deutlich sichtbar fiber die gesammte Muskelgrnppe 
ausbreitei Diese mechanische Erregbarkeit der Wade ist bei einer 
Anzahl unserer Kranken beobachtet worden, welche sich in den ver- 
schiedensten Stadien der Krankheit befunden haben. Femer man 
festirte sich die auf Drnck oder Kniff entstehende Contraction sehr 
deutlich an der Gesassmusculatur. Auch hier kommt die Fortpflanzung 
des Reizes von der Reizstelle aus ganz besonders schon zur Beob- 
achtung. Die MuskelbfLndel des Gluteus maximus ziehen bekanntlich 
yom Aussenrande des Sacrum und der Fascia lumbo-dorsales schrag 
nach unten und aussen zur Fascia lata und zur Tuberositas glutaealis 
Kniff man nun bei einigen unserer Patienten mit dem Daumen and 
Zeigefinger quer zur Verlaufsrichtung eines der MuskelbfLndel des 
Gluteus maximus, so contrahirte sich dieses zunachst, es pflanzte sich 
aber alsbald die Contraction wellenartig auf alle anderen MuskelbfLndel 
ober- und unterhalb der gereizten Stelle fort, eines nach dem andem 
ergreifend, in ausserordentlich charakteristischer Weise. Sowohl die 
Schnelligkeit der Fortpflanzung der Contractionen, als auch die Aus- 
dehnung derselben Yariirten etwas. 

Bei manchen erfolgte statt der wellenartigen Fortpflanzung eine 
blitzartige Contraction der gesammten Glutealmusculatur. Bei wenigen 
wurde auch im Quadriceps die mechanische Erregbarkeit auf Kniff 
beobachtet, welche sich indess nicht viel fiber die Stelle des Reizes 
hinaus verbreitete. Bei den untersuchten Fallen im praatactischen 
Stadium konnte nur selten deutlich e Wulstbildung an der Reizstelle 
constatirt werden, einige Male ira Triceps brachii, welche aber niemals 
den ganzen Muskel ergriff. 

Abgesehen von dem theoretischen Iuteresse, welches sich an den 
Nachweis der mechanischen Uebererregbarkeit der Musculatur und des 
constanten Fehlens der Sehnenreflexe an den oberen Extremitaten 
knfLpfen muss, liefern uns diese Beobachtungen einen willkommenen 
Beitrag zu der an der Tagesordnung stehenden Frage von der Be- 
ziehung zwischen Muskelbeschaffenheit und Sehnenreflex. Es kommt 
wie es scheiht, die Meinung allmahlich immer mehr zur Geltung, dass 
der Tonus der Muskeln und die Intensitat der Sehnenreflexe unab- 
hangig von einander sind. Wir wollen auf diese Verhaltnisse, welche 
kfirzlich noch in dieser Zeitschrift von Strflmpell in geistvoller 
Weise besprochen sind, nicht des Nahern eingehen. 

Mechanische Muskel-Hyperexcitabilitat bei fehlenden Sehnenreflexen 
finden wir bei der spinalen Kinderlahmung (vergl. Sternberg, „Die 


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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 289 


Sehnen reflexe u ). In Fallen yon spinaler Kinderlahmung einer oberen 
Extremitat waren an der schlaffen atrophischen, aber noch etwas func- 
tionsfahigen Musculatur des gelahmten Armes keinerlei Sehnenreflexe 
zn erzielen. Dahingegen war die mechanische Erregbarkeit gegenttber 
der gesnnden Seite sehr gesteigert; der Percussionsschlag rief an der 
Schnlter des gelahmten Armes starke Zuckungen hervor, wahrend anf 
der gesunden Seite die Musculatur gar nicht reagirte. Mechanische 
Uebererregbarkeit der Muskeln ist ferner gefunden worden bei peri- 
pherer Facialislahmung, bei welcher wir jedenfalls das Verschwinden 
der Sehnenreflexe annehmen konnen. Es ’kann wohl kein Zweifel 
sein, dass es sich wirklich um idiomusculare Erregbarkeit, nicht etwa 
um einen Reflex handelt, denn auch bei absoluter peripherer Facialis¬ 
lahmung mit vSlligem Erloschen der elektrischen Erregbarkeit konnte 
durch einen Schlag Zuckung der Gesichtsmnsculatur hervorgerufen 
werden. Dass es sich ttbrigens bei diesen Erscheinungen yon muscu- 
larer Reizbarkeit, welche sich an der paretischen Gesichtsmusculatur 
aussert, nicht wohl um gesteigerte Reflexe handeln kann, geht auch 
schon daraus hervor, dass gerade die wirklich reflectorische Erregbar¬ 
keit der Muskeln am ehesten leidet pnd selbst dort schon aufgehoben 
wird, wo die Leitung der willktirlichen Impulse und der elektrischen 
Erregbarkeit noch intact bleibt Analogien mit dem Verhalten der 
tabischen Musculatur finden wir auch bei der Tetanie. Es werden von den 
Autoren bei der Tetanie bald Fehlen der Sehnenreflexe, bald normale, 
jedenfalls nicht erhdhte Sehnenreflexe angegeben. Sternberg selbst, 
welcher 16 Falle von Tetanie untersucht hat, sagt Folgendes: „Unter- 
sucht man ganz. frische Falle von Tetanie, so finden sich nach meinen 
Erfahrungen so wohl im Anfange selbst, als in der Zwischenzeit die Sehnen- 
.reflexe sehr herabgesetzt Auffallig contrastirt dies oft mit der 
gesteigerten mechanischenErregbarkeit derMuskeln. Beklopft 
man den Bauch des Biceps bei supinirtemVorderarm, so wird der letztere 
kraftig emporgeschleudert, wahrend ein Schlag auf die Bicepssehne 
selbst nur eine ganz geringe Zuckung zur Folge hat“ Derselbe Autor 
weist auch darauf hin, dass bei hohem Fieber die Sehnenreflexe 
schwinden, wahrend die gesteigerte Erregbarkeit bestehen bleibt 

Eehren wir nun zur Tabes wieder zurtick, so hatte bekanntlich 
Westphal eine Theorie aufgestellt, der zu Folge die Sehnenpheno- 
mene auf director Reizung der Muskeln durch die der Sehne ertheilten 
Schwingungen beruhen sollen; doch ist nach Westphal diese directe 
Reizung nur dann erfolgreich, wenn durch reflectorische Vorgange ein 
bestimmter Tonus in der betreffenden Musculatur besteht Er findet 
eine Sttltze fftr seine Auffassung in dem Befunde der Tabes dorsalis, wo 
die Sehnenreflexe fehlen und Atonie besteht Aus dem oben fiber 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilknnde. XVII. Bd. 19 


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290 


XVI. Frenkel 


das Verhalten der Musculatur Tabischer Mitgetheilten ist aber im 
Gegentbeil ersichtlich, dass es gerade die Befunde bei Tabes sind, 
welehe gegen die Westphal’sche Auffassung der Sehnenphenomene 
als durch directe Muskelreizung bedingte Vorgange spreohen. Denn 
Atonie, gesteigerte Muskelerregbarkeit und Fehlen der Sehnenreflexe 
finden sich bier zusammen. 

Die jetzt vorherrschende Meinung von der Unabhangigkeit von 
Sehnenreflex und Muskelzustand, yon der oben die Rede gewesen ist, 
scheint auf die Beziehung von mechaniscber Muskelerregbarkeit 
und Sehnenreflex bei der Tabes nicht anwendbar zu sein, denn es 
wurde auf die eigenthumliche Beobachtung hingewiesen, dass bei un- 
gleichem Verhalten der Sehnenreflexe beider Korperhalften der fehlende 
Reflex stets mit gesteigerter mechanischer Erregbarkeit desselben 
Gliedes associirt ist. Auch was oben von dem Verhalten bei peri- 
pherer Facialislabmung und bei Tetanie gesagt wurde, spricht ftlr 
eine enge Beziehung von Sehnenreflex und mechanischer Muskel¬ 
erregbarkeit, welehe Erscheinungen in umgekebrtem Verhaltniss zu 
einander stehen, wahrend der Tonus der Muskeln von dem Verhalten 
der Sehnenreflexe unabhangig ist 

Die festgestellten Beziehungen zwischen Sehnenreflex und mecha¬ 
nischer Muskelexcitabilitat besagen nun durchaus nicht, dass die letztere 
ihre Ursache hat in den Sehnenreflexen. Aber sie beweisen, dass die 
mechanische Erregbarkeit der Muskeln ihre Ursache nicht oder we- 
nigstens nicht ausschliesslich in dem Zustand der Muskelsubstanz 
selbst hat, dass sie vielmehr mit dem Zustande der nervosen Appa- 
rate in Beziehung steht, mit denen sie zusammenhangt Nimmt man an, 
dass bei der Tabes alle reflectorischen Vorgange im Bereiche 
der von der Hinterstrangsklerose befallenen Gebiete geschwacht resp. 
verschwunden sind, was der klinischen Beobachtung entspricht, so wird 
die Annahme gestattet sein, dass in letzter Linie die erhohte mecha¬ 
nische Muskelerregbarkeit von dem Wegfall irgendwelcher 
uns unbekannter reflectorischer Erregungen bedingt ist Diese 
Vorstellung ist sehr wohl vereinbar mit der Auffassung, dass wir es bei 
der gesteigerten Muskelerregbarkeit mit einer Alteration der Muskel¬ 
substanz selbst mit einer Art trophischer Storung zu thun haben. Denn 
abgesehen davon, dass wahrscheinlich alle Lebensvorgange von reflec- 
torisch libermittelten Reizen abhangen, sind uns trophische Storungen 
bei der Tabes dors, bekannte Dinge, ohne dass bei strenger Kritdk 
eine andere Ursache als die Hinterstranglasion verantwortlich gemacht 
werden konnte. 

Diese Betrachtungsweise bahnt einen Weg zum Verstandniss einer 
Anzahl eigenthlimlicher Muskelzustande bei der Tabes, fttr welehe bislang 


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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 291 

eine befriedigende Erklarung ausstand. Zu diesen gehoren: 1. Fibril¬ 
lar e Zuckungen in bekannter charakteristischer Form, welche wir 
haufig bei Tabischen fan den ? in mechanisch tlbererregbaren Muskeln, 
ohne dass Muskelschwache sich fand Oder Atrophie Oder dass 
degenerative Vorgange irgend welcher Art durch die elektrisehe 
Untersuchung hatten nachgewiesen werden konnen. 2. Klonische 
Zuckungen. Ausser im Beginn der Krankheit konnen sie in 
alien Phasen derselben auftreten, und befallen vorzugsweise die Mus- 
culatur der unteren Extremitaten, kommen aber aucb an den oberen 
Extremitaten vor; sie konnen continuirlich sein oder anfallsweise auf- 
treten, einzelne Muskelgruppen befallen, so dass das Glied stets die 
gleiche Bewegung ausflihrt; oder verschiedene Muskelgruppen gleich- 
zeitig oder nacheinander, woraus complicirte Bewegungen der Beine 
resultiren, welche, wie in einem jAngst beobachteten Falle von schwerster 
Tabes, den Kranken in Gefahr bringen, aus dem Bette zu fallen. 

3. Die Muskelatrophie. Es kann nicht unsere Absicht sein, die 
complicirte Frage der tabischen Muskelatrophie eingehend zu behan- 
deln, ebenso wenig soli das Vorkommen echter peripherischer, die Tabes 
complicirender Neuritis mit consecutiver Muskelatrophie bestritten 
werden, aber andererseits kann die Thatsache nicht aus der Welt ge- 
schafft werden, dass die Mehrzahl der bei einem Tabischen auftretenden 
Muskelatrophien ihre eigenthftmlichen, sie von andem unterscheidenden 
Merkmale hat, von denen wir nur die Localisation in den einzelnen 
Muskeln, den ausserst langsamen Verlauf resp. das Stationarbleiben 
far Jahre, das Fehlen charakteristischer und constanter elektrischer 
Veranderung hervorheben mochten. Schliesslich scheinen uns auch 

4. die tabischen Lahmungen eine besondere Kategorie von Ver- 
anderungen darzustellen. Auch abgesehen von den haufigen Peroneus- 
Paresen, welche wir trotz jahrelanger Dauer unter geeigneter Be- 
handlung (Uebung) in wenigen Wochen haben schwinden sehen und 
welche auf hypotonischen Zustanden der Muskeln unter Mitwirkung 
des Druckes der Decken oder der Schwere des Fusses beruhen (ta- 
bische Pseudo-Paresen), kennen wir mehrere Varietaten tabischer 
Lahmungen — es bedarf wohl keiner besonderen Erwahnung, dass all 
diesen Betrachtungen uncomplicirte Falle von Tabes dors, zu 
Grunde liegen — die wir kurz erwahnen wollen. Die acut auf¬ 
tretenden, bisher gehfahige Tabiker befallenden Lahmungen der Beine 
entweder nach starker Muskelanstrengung (einer unserer Kranken 
hatte Tags vor seiner completten Lahmung der Beine, die ttbrigens 
langsam sich verlor, einen Marsch von 20 Kilometer gemacht), oder 
die mehr subacuten eine Periode von Parasthesien und Schmerzen 
abschliessenden Paralysen, welche ebenfalls gehfahige, oft noch ganz 

19* 


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292 


XVL Fbenkel 


leistungsfahige Tabiker befallen. Diese letzteren Lahmungen sind stets 
mit einer starken Verschlechterung derHaut, namentlich der Bewegungs- 
empfindung im Vergleich zu dem Zustand vor der Lahmung vergesell- 
schaftei Auch sie verschwinden spontan oder unter dem Einflosse 
von systematischer Muskelthatigkeit. Sehr eigenthttmlich sind femer 
diejenigen Paresen, welche in der Intensitat von Stunde zu Stunde 
wechseln, bald verschwinden, bald wieder auftreten, ohne dass irgend 
ein Grund diesen Wechsel erklarte. 

Was nun die Lahmungen des sogenannten letzten Stadiums der 
Tabes dors. betrifft, ohne Atrophie, ohne elektrische Veranderungen, 
so beweist die Sicherheit, mit welcher die Anregung motorischer 
Innervation Besserung schafft, dass sie einen Symptomencomplex sui 
generis bilden, welcher hochstwahrscheinlich mit der absoluten 
Anasthesie der Haut, der Gelenke und der Muskeln im Zusammen- 
hang stehh 

Es scheint uns ungerechtfertigt, die letzte Ursache all der ge- 
nannten Alterationen des Muskelsystems wo anders zu suchen, als in 
der Erkrankung des Systems der Hinterstrange oder physiologisch 
gesprochen in der Erkrankung der recipirenden und reflectirenden 
Apparate des Rftckenmarks. Etwaige Storungen der motorischen 
Organe des Rftckenmarks, werden folglich als secundare von der 
Hinterstrangslasion abhangige aufgefasst werden mtissen, welche zwar 
in manchen Punkten analoge, aber doch nicht identische Wirkungen 
auf die Musculatur austben, wie die primaren Erkrankungen an dem 
motorischen Neuron. Ob diese secundaren Alterationen mit unseren 
jetzigen Hilfsmitteln anatomisch nachweisbar sind, ist noch unent- 
schieden. Weist uns die Physiologie auf die motorische Vorderhorn- 
zelle des Rftckenmarks hin, so dftrfen wir vielleicht in der sicherlich 
sehr haufigen Alteration der Structur des Zellprotoplasmas, der Chro- 
matolyse, das anatomische Substrat sehen. Es finden sich bei der 
Tabes dors, neben ganz normalen' Zellen eine grosse Anzahl mit Yer- 
anderung der Grosse und Farbbarkeit der Nissl’schen Granula. 
Man nimmt an, dass diese Elemente mit der trophischen Function der 
Zelle in Zusammenhang stehen. Jedenfalls ist die Existenz der 
tabischen Vorderhomzelle nicht bedroht, denn weder ist ihre Anzahl 
vermindert, noch erleidet sie Aenderungen ihrer ausseren Form, wie 
wir sie von den atrophischen degenerativen Erkrankungen der Vorder¬ 
homzelle kennen. 

Das ftuhzeitige und constante Verschwinden der Sehnenreflexe 
an den oberen Extremitaten beweist neben anderen Symptomen, dass 
der pathologische Process schon im Beginn sich proximaleren Regionen 
bemachtigt, als angenommen wird. Abgesehen von Parasthesien und 


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Mechanische Muskelerregbarkeit und Sehnenreflexe bei Tabes dorsalis. 293 

Schmerzanfallen an den Armen, welche sich aussert haufig bei ein- 
gehender Anamnese werden constatiren lassen, kennen wir als con- 
stantes Symptom bei Tabes incipiens den hypasthetischen Giirtel 
in den oberen Partien des Thorax. Selten wird iiberdies eine hypa- 
sthetische Zone am 5. und 4. Finger der Hand und der Ulnar- 
seite des ganzen Armes vermisst werden, wenn man darauf bedacht 
ist, nicbt allein die absolute Empfindlichkeit auf Bertihrung zu prfifen, 
sondem aucb dieselbe mit anderen Hautstellen zu vergleichen. Die 
Annahme ist daber unvermeidlich, dass das Lumbalmark und das obere 
Brustmark (resp. cervical M.) gleichzeitig ergriffen werden, letzteres 
vielleicht sogar etwas frtther in ^Fallen gewohnlicher sogenannter 
lumbaler Tabes. Aber zwischen den von diesen Abschnitten ver- 
sorgten Gebieten fin den wir ganz intacte Partien am Rumpf. 
Nehmen wir hinzu, dass mancbmal Parasthesien und Sensibilitats- 
storungen am Hals und Gesicht vorkommen, von den alterirten Gebieten 
der oberen Extremitaten ebenfalls durcb ganz normale Zonen getrennt, 
so bait die hergebrachte Theorie vom lumbal beginnenden und nacb 
aufwarts sich ausbreitenden Process der Kritik nicbt Stand. 

Vielmehr muss angenommen werden, dass der tabische Process 
schon im Beginn eine Anzahl binterer Wurzeln ergreift, in verschiedenen 
Abschnitten des Riickenmarks, zwischen denen sich intacte Wurzeln 
in wechselnder Anzahl einschieben. Von der Anzahl und der An- 
ordnung det gleichzeitig ergriffenen Wurzeln hangen die klinischen 
Erscheinungen ab in ihrer grossen Mannigfaltigkeit in Bezug auf die 
Anfangssymptome, die Art des Einsetzens der Erankheit, die Schwere 
und den Verlauf derselben. 


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XVII. 


Ueber periodische Oculomotorinsl&hmung. 

Yon 

P. J. Mobius 

in Leipzig. 

Im Jahr 1895, im 4. Hefte meiner neurologischen Beitrage habe 
ich eine Uebersicht uber die bis dahin verSffentlichten Falle von 
periodisch wiederkehrender Oculomotoriuslahmung gegeben und 
kritische Bemerkungen daran geknnpft. Da ich im vergangenen Jahre 
eine neue Beobachtung gemacht habe, komme ich jetzt auf den Gegen- 
stand zurtlck. 

Herr College Lamhofer hatte die Giite, mir am ll.Februar 1899 ein 
Sljahriges Dienstmadchen mit linkseitiger Oculomotoriuslahmung zuzu- 
8chicken. Die Kranke gab an, ihr Vater sei an der Schwindsucht gestorben, 
die Mutter lebe gesund, beide Eltern liaben nie an Kopfschmerz gelitten. 
Dagegen klagen zwei Schwestern zeitweise iiber Kopfschmerzen, seien im 
Uebrigen gesund, haben besonders nie Augenstorungen gehabt. Ueber and ere 
Verwandte konnte die Kranke keine Auskunft geben. Sie selbst sei bis 
zum Anfange der 20 er Jahre, abgesehen von den gewohnlichen Kinderkrank- 
heiten, nie krank gewesen, babe nie Kopfschmerzen gehabt. Mit 22 Jahren 
aber habe sie den ersten Anfall ibres gegenwartigen Uebels erlebt und es 
sei seitdem etwa alle 2 Jahre in ganz der gleichen Weise wiedergekehrt 
Sie bekam eines Tages heftigen Kopfschmerz, der besonders iiber und hinter 
dem linken Auge zu sitzen schien, Uebelkeit und wiederkehrendes Erbrechen. 
Am nachsten Morgen war das linke Auge „klein u , im Laufe des 2. Tages 
fiel es zu. Kopfschmerz und Erbrechen dauern zwei Tage an, dann folgen 
nur noch schwache Schmerzen iiber dem linken Auge. Dieses bleibt etwa 
fur 14 Tage geschlossen. Die Zeitangaben der Kranken sind etwas un- 
sicher, bald meint sie, der jetzige Anfall sei der vierte, bald, er sei der 
fiinfte. Auch die Angabe iiber die Dauer der Augeniahmung hat offenbar 
nur annahernde Giltigkeit. Da die Kranke, wie die meisten ihresgleichen, 
zur Selbstbeobachtung nicht aufgelegt ist, antwortet sie zogernd und wider- 
strebend, z. B. giebt sie auf die Frage nach dem Doppeltsehen sehr un- 
sichere Auskunft, sie glaube wohl, dass sie am Ende der Anfalle doppelt 
gesehen habe. Zuversichtlich dagegen behauptet sie, dass sie zwischen den 
Anfallen ganz gesund gewesen sei, dass das linke Auge dann „ganz gut a 
gewesen sei. Diesmal habe der Kopfschmerz am 6. Februar begonnen, 
am 7. sei das Auge zugefallen 

Die Untersuchung ergab eine to tale und complete Lahmung des 
linken Oculomotorius. Das Auge war ganz geschlossen. Das Lid hing, im 


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Ueber periodische Oculomotoriuslahmung, 


295 


oberen Theile faltenlos, wie ein nasses Segel herunter, zeigte unten zwei 
dem fireien Rande parallel© Hautfalten, als ob es gewaltsam nach unten 
gezogen ware. Beim Querfalten der Stirne bewegte sich das Lid ganz und 
gar nicht, obwohl sich der Frontalis gut contrahirte. Oeffnete man das 
Auge mit den Fingem, so fUhlte man deutlich Widerstand. Der Augapfel 
war nach aussen unten abgewichen, konnte nacli innen und unten nicht 
bewegt werden, beim Versuche nach oben zu blicken, trat Raddrehung ein. 
Die Pupille war weit und unbeweglich, die Accommodation aufgehoben. 
Ausser der Oculomotoriuslfihmung bestand Hypftstbesie des Auges und seiner 
Umgebung, die bis zur Mitte der Stirne und der Nase, bis zur Mitte des 
Kopfes und bis zum Ohre, bez. bis zur Gegend des foramen infraorbitale 
reichte. Auch die Bindehaut war links weniger empfindlich als rechts. 
Beruhrung, Stich, Kfilte warden im Bereiche der Hypfisthesie gleichmassig 
weniger als in der Umgebung empfnnden. Im Uebrigen waren imBezirke 
der Hirnnerven keine Stdrungen aufeufinden. Auch der tibrige Kfirper 
schien im Wesentlichen normal zu sein, nur waren die Sehnenreflexe auf- 
fallend lebhaft und waren die Arteriae temporalis, carotis, radialis links 
weniger deutlich zu fdhlen als rechts; am starksten war der Unter- 
schied zwischen beiden Temporales. Das Mfidchen war bei der Untersuchung 
sehr angstlich, zuckte bei Berfihrungen znsammen u. s. w. Sie gab an, 
diese Beizbarkeit bestehe seit 7 Jahren; damals habe sie mit der linken 
Scheitelgegend gegen einen offenen Fensterflfigel gestossen und die Stelle 
sei lange sehr schmerzhaft gewesen. Jedoch sei der Unfall, wie sie bestimmt 
wisse, erst nach Beginn der Augenkrankheit eingetreten. 

Urn eine regelmassige Beobachtung moglich zu machen, unternahm 
ich die galvanische B eh and lung. 

Am 13. Februar war der Zustand im Gleichen, nur hatte die Hyp- 
asthesie abgenommen. 

Am 15.Februar entstand durch Frontaliscontraction ein kleinerSpalt 
zwischen den Lidern und war eine Spur von Internuswirkung wahrzunehmen. 
Die Kranke gab an, sie ffihle von Zeit zu Zeit stechende Schmerzen fiber 
dem linken Auge und bezeichnete dabei das Gebiet des Supraorbitalis. Der 
Schmerz wecke sie in der Nacht auf, dauere aber nur 1—2 Minuten. 

Am 20. Februar war die Lidspalte etwa 3 mm hoeh. Es bestanden 
keine Schmerzen mehr. Die Hypfisthesie war ganz gering und beschrfinkte 
sich auf das Auge und die nfichste Umgebung. Auch der Unterschied der 
Arterien war viel geringer. Am 27. Februar gab die Kranke an, sie habe 
wieder einige Schmerzen versptirt. Der Augapfel konnte bis zur Mitte ge- 
dreht werden. 

Am 3.Mfirz war die Lidspalte links halb so hoch wie rechts. Ein Unter¬ 
schied zwischen rechten und linken Arterien war nicht mehr wahrzunehmen. 

Am 15. Mfirz war die Hypfisthesie ganz verschwunden. 

Am 20. Mfirz konnte daslinke Auge bis zum inneren Winkel gedreht 
werden. Die Kranke fixirte einen vorgehaltenen Gegenstand mit dem linken 
Auge und dabei wich das rechte Auge nach aussen oben ab. 

Am 30. Mfirz waren alle Drehbewegungen mfiglich. Pupille und 
Accommodation waren wie frfiher. Die Kranke gab nun an, „das Schwarze 
im Auge w sei links immer grosser gewesen. 

Am 15. April war nur noch die Mydriasis nachzuweisen. Die Kranke 
entzog sich nun der weiteren Behandlung. 


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296 


XVII. Mobitjs 


Nachzutragen ist noch, class College Lamhofer beiderseits normale 
Sehsch&rfe und im Angenhintergrnnde nor etwas starke, aber noch physio- 
logiscbe Krdmmung and Schlfingelung der Netzh&utgef&sse gefanden hat 

Diese Beobachtung hat alle Merkmale, die man zur Diagnose der 
periodisch wiederkehrenden Oculomotoriuslahmung verlangen muss, 
d. h. es handelt sich um einseitige vollstandige Oculomotoriuslahmung, 
die in annahernd regelmassigen, von Kopfschmerz und Erbrechen ein- 
geleiteten Anfallen seit der Jugend den Patienten befallt Leider 
haben yiele Autoren sich um diese Definition des Syndromes nicht be- 
ktimmert, haben yielmehr alle moglichen Beobachtungen von wieder- 
holter Augenmuskellahmung zusammengeworfen. Obwohl Manz, ich 
u. A. wiederholt vor solcher Ungenauigkeit gewarat haben, verfahren 
doch die neueren Autoren zum Theil noch ebenso und es ist nicht zu ver- 
wundern, dass ihre Schlussfolgerungen zu wttnschen fibrig lassen. Ich 
werde zunachst fiber die Beobachtungen bench ten, die ich in den 
Neurolog. Beitragen noch nicht berttcksichtigen konnte, und werde 
dabei aiuf die anstossigen Falle hinweisen. 

Vorangestellt sei eine Mittheilung L. Chabbert’s (Sur un cas 
d'ophtalmoplegie nucleaire transitoire etc. Progr&s med. 3 S. I. 15. 1895). 
Ein Geistlicher, der wie seine Mutter seit der Jugend an Augenmigrane 
litt, bekam mit 55 Jahren nach gehauften Anfallen Doppeltsehen, dann 
erst rechts, spater auch links Ptosis. Gh. fand rechts fast vollstandige, 
links unvollstandige Oculomotoriuslahmung ohne Betheiligung der 
inneren Muskeln. Ch. selbst beurtheilt den Fall ganz richtig und 
spricht von einer Ophtalmoplegie migraineuse, d. h. er nimmt an, dass 
die schwere Augenmigrane zu einer Eemlasion Anlass gegeben habe. 
Da er aber unter dem Drucke der Charcot’scben Lehre von einem 
Uebergange zwischen Migraine ophtalmique und Migraine ophtalmo- 
plegique spricht, so ist Verwirrung entstanden, worauf ich spater zu- 
rfickkomme. 

Auszuscheiden ist der Fall Piero ChiarinPs (La emicrania oftal- 
moplegica [paralisi recidivante o periodica dell* oculomotore]. Rif. med. XI. 
169—71. 1895): Ein 55 jahriger Fischer hatte vor 6 Jahren nach 4—5 Tage 
dauernden Schmerzen in der linken Halfte des Kopfes Intemuslahmung 
links bekommen. Diese war bald verschwunden und erst nach 6 Jahren 
wiedergekehrt, nachdem Schmerzen im linken Auge (ohne Erbrechen) 
vorausgegangen waren. Beim 2. Anfalle wurden nach einigen Tagen 
ausser dem Internus auch die anderen Oculomotorius-Zweige befallen. 

Auszuscheiden ist die Beobachtung A. Marina's (Ueber multiple 
Augenmuskellahmungen u. s. w. Wien, 1896): Unter Schmerzen in der 
rechten Gesichtshalfte eintretende Lahmung des rechten Oculomotorius 


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Ueber periodische Oculomotoriuslahmung. 


297 


am 2. Tage nach der Entbindung bei einer 40jahrigen Frau mit Tabes- 
symptomen; nach 3 Jahren Wiederkehr der Lahmung im Wochenbette. 

Zweifelhaft ist der Fall von Ormerod und Holmes Spicer 
(A case of recurrent paralysis of the third nerve with migraine. Lancet, 
Dec. 21, 1895), weil „etwas Atrophie der Sehnerven u bestand. Jedoch 
ist wahrscheinlich das Bedenken unnothig: 15jahriger Patient; 1. An- 
fall im 2. Jahre, seit dem 8. Jahre alle 9—10 Monate ein Anfall links- 
seitiger Oculomotoriuslahmung nach schwerer Migrane; in der 
Zwischenzeit Parese. 

Zweifelsfrei ist der Fall von 6. de Schweinitz (Recurrent ocu¬ 
lomotor palsy with a case. Boston med. and surg. Journ. CXXXHL 
14. 1895: 30jabrige Frau; erster Anfall mit 1 j l 2 Jahren, spater mehr- 
mals im Jahre Anfalle von rechtseitiger Oculomotoriuslahmung nach 
Migrane; in der Zwischenzeit Parese. 

Zweifelsfrei sind die beiden Falle von J. P. Karplus (Zur Kennt- 
niss der periodischen Oculomotoriuslahmung. Wiener klin. Wochenschr. 
YHI. 50—52. 1895): 1. 37jahrige Frau; seit dem 8. Jahre Anfalle von 
rechtseitiger Oculomotoriuslahmung mit Migrane; in der Zwischenzeit 
Parese. 2. 43jahrige Frau; seit dem 1. Jahre Anfalle rechtseitiger Oculo¬ 
motoriuslahmung mit Migrane; in der Zwischenzeit Parese; Tod durch 
progressive Paralyse. Die 2. Beobachtung K/s ist durch den anatomi- 
schen Befund wicbtig, ich werde spater auf sie zurtlckkommen. 

Zweifelsfrei ist der Fall Ballet’s (bei E. d’Alche, De la migraine 
ophtalmoplegique. These de Paris, 1896): 37jahriger Mann; seit dem 
14. Jahre Anfalle rechtseitiger Oculomotoriuslahmung mit Migrane; 
in der Zwischenzeit Parese. 

Zweifelhaft ist der Fall 6. Kliatschkin’s (Ein Fall von perio- 
disch wiederkehrender Oculomotoriuslahmung. Neurol. Centr.-Bl. XVI. 
5. 1897), in dem der Verfasser selbst Malaria diagnosticirt: 15jahriges 
Madchen; 3 Anfalle von linkseitiger Oculomotoriuslahmung nach Mi¬ 
grane; Milzschwellung, Besserung durch Chinin, Aufhoren der Anfalle 
nach OrtswechseL 

Auszuscheiden sind die beiden Falle Mingazzini’s (La paralisi 
recidivante del nervo oculomotorio. Roma, 1897): 1. Oculomotorius¬ 
lahmung bei einem 59jahrigen Manne; angeblich vor 6 Jahren ein ahn- 
licher Zufall. 2. Oculomotoriuslahmung bei einer 27jahrigen, der Sy¬ 
philis verdachtigen Frau mit Facialis- und Trigeminus-Parese. 

Dagegen handelte es sich um echte wiederkehrende Oculomotorius¬ 
lahmung in dem Falle Sciamanna's, den ich nur aus Mingazzini’s 
Darstellung kenne: 20 jahriges Madchen; seit dem 6. Jahre Anfalle rechts- 
seitiger Oculomotoriuslahmung mit Migrane; in der Zwischenzeit Parese. 

Auszuscheiden ist der Fall J. B. Charcot's (Contrib. a l'Stude 


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298 


XVII. Mobius 


clinique de la migraine ophtalmoplegique. Revue neuroL V. 8. 1897): 
Oculomotorius- und Abducenslahmung links bei einer 31jahrigen Frau, 
spater rechtseitige Oculomotoriuslahmung. 

Auszuscheiden ist der Fall Bouchaud's (Un cas de migraine 
ophtalmoplegique. Presse med. Avril 28, 1897): Oculomotoriuslah¬ 
mung bei einer 60jahrigen Frau, die frtiher an Migrane litt 

Auszuscheiden ist der Fall von Coutouzis (Nouvelle observ. d'un 
cas de migraine ophtalmoplegique. Journ. de Med. et de Chir. prati¬ 
ques, Avril 25, 1897. Ref. in Revue neurol. V. 9. p. 257): Oculomo¬ 
torius- und Trochlearislahmung nach heftigen Schmerzen bei einem 
27jahrigen Manne. 

Auszuscheiden ist der Fall von 6. Ahlstrom (On recurrent oculo¬ 
motor paralysis. Ophth. Rev. XV. p. 177. Ref. im Arch. f. Augenheil- 
kunde XXXIV. 4. p. 223. 1897): Wiederholte linkseitige Oculomotorius¬ 
lahmung bei einem 57jahrigen Manne mit Kopfschmerzen und Nasen- 
ausfluss links; Heilung durch Nasenduschen. 

Zweifelhaft ist der Fall von Strzeminski (Cas de paralysie ocu- 
lomotrice recidivante. Extrait du Rec. d'Ophthalmol. Sept. 1897): 
37jahriger Mann, der wie seine Schwester seit der Kindheit an Mi¬ 
grane litt; erst seit 1895 folgte den Anfallen Oculomotoriuslahmung. 
Es ware moglich, dass es sich hier, wie bei Chabbert, um eine 
Ophtalmopl6gie migraineuse gehandelt hatte. 

Zweifelhaft sind die Falle Schmidt-Rimpler’s (Band XXI des 
Handbuches von Nothnagel): 1. Wiederholte Oculomotoriuslahmung 
ohne Migrane seit 1885 bei einem 39jahrigen Manne. 2. Wiederholte 
linkseitige Oculomotoriuslahmung mit Migrane bei einer 22jahrigen 
Frau; Flimmerscotom. Wahrscheinlich ist der 1. Fall auszuscheiden, 
im 2. Falle nimmt der Verf. ein zur Migrane hinzutretende Oculomo¬ 
toriuslahmung wie bei Chabbert an. 

Vielleicht hat Haynes echte wiederkehrende Oculomotorius¬ 
lahmung beschrieben, doch ist das Referat nicht genau genug (Re¬ 
current ptosis. New-York med. Journ. No. 7, 1897. Ref. i. Neurol. 
Centr.-Bl. XVI. 24. p. 1141. 1897). 

Ebenfalls vielleicht echt, aber ungenugend beschrieben ist die 
wiederkehrende Oculomotoriuslahmung bei M. Giebler (Ueber reci- 
divirende Oculomotoriuslahmung. Diss. inaug. Dresden 1897): Link¬ 
seitige Oculomotoriuslahmung mit Migrane bei einem Knaben. Ziehen 
hat spater (Neurol. Centr.-Bl. XVIII. 4. p. 173. 1899) angegeben, dass 
bei dem Knaben Giebler’s „eine basale Pachymeningitis haemorrhagica* 
gefunden worden sei; die Kernregion wurde nicht untersucht 

Zweifelsfrei ist auch der 3. Fall von Karplus (Wiener klin. 
Wochenschr. XII. 10. 1899): 62jahrige Frau, die seit der Kindheit 


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Ueber periodische Oculomotoriuslahmung. 299 

an Anfallen von rechtseitiger Oculomotoriuslahmung mit Migrane 
gelitten hatte. 

Auszuscheiden ist der Fall von L. Demicheri (Migraine ophtal- 
moplegique altemante. La clinique ophtalm. V, 18. 1899): Oculomo¬ 
toriuslahmung bei einer 64jahrigen Frau, die nach heftigen Schmerzen 
erst links, dann rechts auftrat. 

Die Arbeit von R. Paderstein (Beitr. z. Casuistik der ophthal- 
moplegischen Migrane. Deutsche Ztschr. f. Nervenhlkde. XV. 5 u. 6. 
p. 418. 1899) entbalt einen zweifelsfreien und einen zweifelhaften Fall: 
1. 18jahriger Jtingling; seit der Kindheit heftige Anfalle von recht¬ 
seitiger Oculomotoriuslahmung nach Migrane; in der Zwischenzeit 
Parese. 2. 20jabriges Madchen mit schwerer, seit der Kindheit be- 
stehender Migrane; nach einem besonders heftigen Anfalle partielle 
Oculomotoriuslahmung. Man kann im 2. Falle an secundare Lahmung 
wie bei Chabbert denken. 

Auszuscheiden ist der Fall von Tromner (Ophthalmoplegia in¬ 
terna bei Migrane ophthalmoplegique. Centr.-Bl. f. Nervenhlkde. Oct. 
1899): 38jahrige Wittwe mit Augenmigrane; nach einem heftigen An¬ 
falle Ophthalmoplegia interior dextra. 

Zweifelhaft sind die Falle von H. Wilbrand und A. Sanger 
(Die Neurologie des Auges. I. 2. Abth. p. 515. 1900): 1. 8jahriges 
Madchen; seit Jahren Anfalle von Schmerzen fiber dem rechten Auge; 
nach 8tagigen Schmerzen mit Erbrechen rechtseitige Oculomotorius¬ 
lahmung; nach 6 Wochen Heilung; nur ein AnfalL 2. 25jahrige 
Frau; seit 13 Jahren, nach „ Typhus 4 linkseitige Oculomotorius¬ 
lahmung; seit 3 Jahren Migrane, bei deren Anfallen die Oculomo- 
torius-Parese etwas zunahm. 

Das sind die neuen Beobachtungen, soweit sie mir bekannt ge- 
worden sind. Man sieht also, dass, bei Lichte betrachtet, nur die 
Minderzahl der Falle rechtmassig zur periodischen Oculomotorius¬ 
lahmung gezahlt werden kann und dass bei Ausscheidung auch der 
zweifelhaften Falle nur 6 fibrig bleiben, namlich die 3 Falle von 
Karplus, je 1 Fall von de Schweinitz, Ballet, Paderstein. 

Halt man sich an die reinen Falle und sieht man zunachst von 
der durch Charcot hervorgerufenen Verwirrung ab, so bleibt nach 
den neuen Beobachtungen das frfiher von mir entworfene Bild ganz 
unverandert. Es ist das leicht im Einzelnen zu zeigen. 

Immer beginnt die Krankheit in der Kindheit oder Jugend. Als 
obere Grenze kann man etwa das 25. Jahr ansehen. Wir finden also 
das Gleiche wie bei anderen Krankheiten, die auf angeborener Anlage 
beruhen, und in dieser Hinsicht gleicht die periodische Oculomotorius¬ 
lahmung auch der Krankheit Migrane. Niemals aber ist Vererbung 


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300 


XVII. Momus 


beobachtet worden. Auch pflegen die Kranken mit periodischer Oculo¬ 
motoriuslahmung nicht aus Migrane-Familien zu stammen. Bei den 
meisten wird angegeben, dass die Eltem nicht an Kopfschmerzen ge- 
litten haben. So war es bei meinen Kranken und so war es z. B. 
auch bei den 3 Kranken, die Karplus beschrieben hat. Dem gegen- 
tiber will es gar nichts sagen, wenn ausnahmeweise das Gegentheil 
berichtet wird, denn bei der ungeheueren Haufigkeit der Migrane 
kann leicht zufallig ein Migrane-Candidat von der Oculomotorius¬ 
lahmung betroffen werden. 

Die Anfalle beginnen immer mit Kopfsehmerz, der von Erbrechen 
oder wenigstens von Uebelkeit begleitet wird, d. h. sie beginnen mit 
einem Migrane-Anfalle. Nie handelt es sieh um nenralgische Zufalle 
wie bei Trigeminusneuralgie. Die Begel ist, dass die Migrane aufhort, 
wenn die Lahmung eintritt, zuweilen aber dauert jene nach dem Be- 
ginne dieser noch ein paar Tage an. Als Nebenerschein ungen kSnnen 
Schwindel, Speichelfluss, vasomotorische Storungen die Migrane be- 
gleiten. Niemals aber ist bei periodischer Oculomotoriuslahmung 
Flimmerscotom beobachtet worden, ein Umstand, den ich nachdrficklich 
hervorhebe. Wenn auch die Lahmung niemals ohne Migrane eintritt, 
so konnen doch die Patienten unvollstandige Anfalle haben, bei denen 
es so zu sagen nicht bis zur Lahmung kommt, die also nnr aus der 
Migrane bestehen. Aber auch dann tritt nie ein Wechsel der Seite 
ein, wie es bei der Krankheit Migrane ausserordentlich oft vorkommt. 

Die Dauer der Migrane und die der Lahmung sind sehr ver- 
schieden. Jene wechselt von Stunden bis zu Wochen, diese betragt 
meist Wochen oder Monate. Zu betonen ist die Haufigkeit langer 
Migranezeiten, wahrend bei der Krankheit Migr&ne schwere Anfalle, 
die einige Wochen dauern, fast nie vorkommen. 

Die Haufigkeit der Anfalle ist ebenfalls sehr verschieden, denn es 
giebt Falle, in denen mehrere Anfalle im Jahre vorkommen, und solche, 
in denen Jahre zwischen den Anfallen liegen. Immerhin hat jeder Fall 
so zu sagen seinen Typus. Mit Unrecht hat man die Bezeichnung 
„periodisch“ getadelt. Die periodische Oculomotoriuslahmung ist 
genau so gut eine periodische Krankheit wie die Epilepsie, die Mi¬ 
grane und das periodische Irresein, denn auch bei diesen Krankheiten 
ist die Periodicitat nicht grosser. 

Die Oculomotoriuslahmung ist einseitig und total In keinem 
einzigen der zweifelsfreien Falle ist das andere Auge betheiligt ge- 
wesen. Die Beobachtung von Darquier, auf die sich Manche be- 
ziehen, ist mit Bestimmtheit auszuscheiden, denn das Alter der Kranken 
bei der ersten Lahmung (63 Jahre!), die Art der Schmerzen (elance- 
ments ohne Erbrechen), die Verbindung mit Facialislahmung zeigen 


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Ueber periodische Oculomotorluslahmung. 


301 


zur Genttge, dass die Diagnose falsch ist. Feraer ist immer die 
Lahmung zu irgend einer Zeit total; Beschrankung auf die ausseren 
oder die inneren Maskeln kommt nicht vor. 

Auch die neuen Beobachtungen bestatigen meine fr&here Angabe, 
dass zwischen den AnfSllen Reste der Lahmung bestehen bleiben und, 
dass mit der Zeit die dauernde Lahmung wachst. Die Unterscheidung 
Senator’s zwischen rein periodischen und exacerbirenden Lahmungen ist 
ganz hinfallig, denn abgesehen da von, dass nicht einmal sein eigener 
Fall ein wirkliches Beispiel der ersten Form ist, wtlrde der Nachweis 
freier Intervalle gar nichts darthun, wenn die Kranken nicht bis zum 
Ende beobachtet worden sind. Zweifellos ist in der grossen Mehrzahl 
der Falle zwischen den Anfallen deutliche Parese vorhanden und sollte 
sie ja einmal fehlen, so ware damit hochstens ein geringerer Grad der 
Krankheit, nicht eine besondere Form gegeben. 

Wichtig ist der Nachweis einer Schadigung des ersten Trigeminus- 
astes, der auch mir in meinem neuen Falle gelungen ist. Er vermehrt 
die Zahl der Grttnde, die for eine basale Lasion sprechen. 

Schon 1884 habe ich nachdrflcklich die Ansicht vertreten, dass 
der periodischen Oculomotoriuslahmung eine organische Lasion zu 
Grunde liege. Alles, was seitdem bekannt geworden ist, hat diese 
Ansicht bestatigt und die Autoren, die von hysterischer oder reflec- 
torischer Lahmung gesprochen haben, werden wohl jetzt von ihrer 
Meinung zurfickgekommen sein. Dagegen ist ein neuer Feind in der 
Behauptung Charcot's entstanden, die periodische Oculomotorius¬ 
lahmung sei eine Abart der Migrane. In Frankreich hat begreiflicher- 
weise diese Behauptung viel Anhanger gefunden, neuerdings scheint 
man sich aber auch in Deutschland mit der Migraine ophtalmopl£gique 
befreunden zu wollen. Ich muss daher diesen Irrthum nochmals be- 
streiten. Nach meiner Auffassung ist die Migrane bei der periodischen 
Oculomotoriuslahmung eine symptomatische Migrane, wie sie bei 
verschiedenen Gehimkrankheiten (Epilepsie, progressiver Paralyse, 
arteriosklerotischen Herden) vorkommt; sie muss daher von der Erank- 
heit Migrane streng geschieden werden. Wenn bei der letzteren Ocu¬ 
lomotoriuslahmung vorkommt, so bewirkt die Migrane die Lasion, 
wahrend bei der periodischen Oculomotoriuslahmung die Lasion 
nicht nur die Lahmung, sondem auch die so zu sagen als Aura vor- 
ao8gehende Migrane hervorruffc. Dass die Migrane Augenmuskellah- 
mungen verursachen kann, weiss man eigentlich erst durch Chabbert’s 
Beobachtung. Wie sie es macht, vrissen wir nicht Charcot stellte 
sich vor, bei dem Anfalle seien die Arterien stark zusammengezogen 
und es konne dabei gelegentlich zur Nekrose kommen. Dass heftige 
Migrane eine Arterienstrapatze bildet, ist nicht zu bezweifeln; man 


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302 


XVH. Mobxus 


konnte denken, dass die Arterien mit der Zeit brQchig werden mochten. 
Es ist aber auch moglich, dass die Migrane allein weder zum Gefass- 
yerschlusse noch zur Gefasszerreissung ausreicht, dass ihr Anfall nur 
bei schon geschadigten Arterien als Gelegenheitursache wirkt Aucb 
bei Chabbert’s Patienten ist ein solcber Zusammenhang zu erwagen, 
denn obwohl der Patient Geistlicher war, konnte er dock frtiher ein- 
mal Unglfick gehabt haben und tiberdem war er ein ziemlich alter 
Mann. In anderen Fallen, wie bei der 2. Kranken Schmidt-Rimpler’s 
und bei der 2. Kranken Paderstein's, die junge Frauen waren, mfisste 
man anderweite Zustande voraussetzeu, vermoge deren der Migraneanfall 
zur Lahmung ftihren kann. Immer aber handelt es sich um eine ge- 
wohnliche ererbte Migrane, zu der erst im Laufe der Zeit, gew5hnlich 
nach sehr schweren und gehauften Anfallen, die Lahmung als Compli¬ 
cation hinzutritt. In den meisten Fallen der periodischen Oculomotorius- 
lahmung aber ist von vornherein, mit dem ersten Anfalle die voile 
Lahmung da. Auch in meinem neuen Falle ist dies Verhalten sehr 
deutlich und es weist uns darauf hin, dass die Lasion primar die 
Oculomotoriusfasem ergreift; die der symptomatischen Migrane zu 
Grunde liegende Trigeminusschadigung ist zugleich mit der Oculomo- 
toriuslasion gegeben, diese folgt nicht auf jene. Diese Erwagungen 
zusammen mit den frflher von mir gegebenen Griinden soil ten, meine 
ich, ausreichen, um die periodische Oculomotoriuslahmung von der 
Migrane mit Augenmuskellahmung abzuscheiden. Ich gebe zu, dass 
in manchen Fallen die Diagnose schwer sein mag, aber die Mehrzahl 
der reinen Falle spricht eine deutliche Sprache und praktische Schwierig- 
keiten konnen die theoretische Trennung nicht hindera. 

Ueber den Sitz der Lasion herrschen noch verschiedene Ansichten. 
Anfanglich hielt ich eine nucleare Lasion ftir wahrscheinlich, im Laufe 
der Zeit aber habe ich die Bedeutung der ftir eine peripherische, 
basale Lasion sprechenden Grtinde anerkennen mtissen. Mit Recht 
haben Manz, Mauthner u. A. die Totalitat der Lahmung und ihre 
Beschrankung auf eine Seite betont. Dazu kam dann der Nachweis 
einer Trigeminuslasion, der wohl zuerst von Vissering geftthrt wurde, 
wahrend spater Darkshewitsch, Karplus u. A. ahnliche Befunde 
machten. Endlich kommen die beiden Sectionbefunde in Betracht. 
Solange nur der Befund von Thomsen-Richter vorlag, konnte man 
denken, das in diesem Falle gefundene Fibrochondrom des Oculo- 
motorius sei eine Curiositat; manche meinten auch, der schon kranke 
Nerv sei als Locus minoris resistentiae Sitz der Wucherung geworden. 
Seitdem aber auch Karplus ein Neurofibrom, das die Fasern des 
Nerven auseinander getrieben und zum Schwunde gebracht hatte, ge- 
funden hat, muss man die Sache doch ernsthafter ansehen. In beiden 


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Ueber period! sche Oculomotoriuslahmung. 


303 


Fallen sind die Kemgegenden untersucht worden. Richter fand 
nichts abnormes, Earplus giebt an, dass der rechte (zu dem kranken 
Nerven gehorende) Kern etwas armer an Fasem gewesen sei als der 
linke, dass die Ganglienzellen beiderseits gleich waren. Es ist wohl 
zuzugeben, dass jene Faserarmuth als secundare Veranderung anzu- 
sehen ist. 

Nehmen wir an, eine gutartige Neubildung am basalen Oculo- 
motorius, knrzweg ein Fibroin, sei bei der periodischen Oculuraotorius- 
lahmung vorauszusetzen, so werden der Beginn in der Kindheit oder 
Jngend und das Bild im Anfalle gut erklart. Denn das Fibrom be- 
ruht auf angeborener Anlage (ohne doch eine ererbte Veranderung 
zu sein) und ein von ihm ausgehender Reiz mag zugleich die in der 
Dura laufenden Trigeminusfasem (Kopfschmerz und Erbrechen), die 
Oculomotoriusfasem (Lahmung) und den benachbarten 1. Trigeminus- 
ast (Hypasthesie der Stim) schadigen. Aucb versteht man die Parese 
zwischen den Anfallen und deren allmahliches Wachsen. Die Schwierig- 
keit aber liegt in der Periodicitat Wie kann so ein Ding, so ein 
Fibrom jahrzehntelang, in annahemd regelmassigen Abstanden wieder- 
kehrende Anfalle machen? Die Autoren, neuerdingsbesonders Karplus, 
sagen: durch Storungen der Circulation, also wohl durch anfallweise 
wiederkehrende Hyperamie. Aber wie entstehen diese StSrungen? 
Karplus erinnert an die mit den Gemfithsbewegungen, der Monat- 
blutung, dem Alkoholgenusse verbundene Hyperamie. Gut, aber wenn 
ein Kind alle Jabre einen Anfall bekommt oder ein Madcben, wie 
meine neue Kranke, alle zwei Jabre einen bekommt, was ist das fttr 
eine Art von Hyperamie? Ich gestehe, dass mir die Hyperamielehre 
in ihrer Unbestimmtheit nicht annehmbar ist, und sucbe nach einer 
anderen Losung. Was wissen wir flberhaupt liber die Ursachen patho- 
logischer Periodicitat? Warum besteben die Epilepsie, die Migrane, 
das periodische Irresein aus Anfallen? Eigentlich wissen wir gamicbts 
und das einzig Brauchbare ist die Hypothese der Explosion. Diese 
setzt voraus, dass durch stetige Veranderungen ein Stoff angebauft 
werde, der schliesslich auf irgend einen Anlass hin explodirt, wie 
etwa ein Mensch, der immer geargert wird, endlich einmal in Wuth 
gerath und nachber wieder eine Portion Aerger vertragen kann. Ein 
langsam wacbsender Tumor konnte recbt gut den stetigen Reiz ab- 
geben und wenn das Fibrom die Oculomotoriusfasern oder das Neuron, 
wie man jetzt sagt, durch eine gewisse Zeit gereizt hat, so muss sicb 
hier eine Menge leicht zersetzbarer Stoffe (anders kann man sicb die 
^Summation der Reize“ nicht denken) angesammelt haben: es kommt 
zur Explosion, zur SelbstentzUndung und der rasche Zerfall des frag- 
lichen StofiFes bewirkt den Anfall. Genauer gesagt, die Explosion ist 


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304 


XVII. Mobius 


nicht der Anfall, sondem dieser ist die Reaction auf jene, daher von 
relativer Dauer. Zur Reaction gehort die ortliche Hyperamie, die so 
wieder ihr Recht erhalt. So ungefahr geht es vielleicht 

Man kann fragen, ob etwa an anderen Norven ahnliche Syn¬ 
drome beobachtet worden seien. Ich finde zwei Beobachtungen. 
G. E. de Schweinitz (Recurrent abducens palsy. Philad. Polyclinic. 
VI. 39. 1897) erzahlt yon einem sonst gesunden Madchen, das mit 
1 Jahre unter Fieber, Erbrechen, heftigem Kopfschmerz an recht- 
seitiger Externuslahmung erkrankt war. Vollstandige Heilung war 
eingetreten, aber im 3. und im 7. Jahre war der Anfall wiedergekehrt 
A. di Luzenberger (Paralisi periodica del trocleare con cefalea e 
nausea. Manicomio XIII. Ref. im Neurol. Centr.-BL XVII. 2. p. 73. 
1898) erzahlt yon einem 29 jahrigen Manne, bei dem zuerst im 13. Jahre 
nach einem anstrengenden Marsche in der Sonne ein Anfall recht- 
seitiger Migrane mit Doppeltsehen aufgetreten war. Der Anfall war 
anfangs alle 8 Tage wiedergekehrt und hatte 1 Tag gedauert. Spater 
war er seltener gekommen, hatte aber 15 Tage gedauert In dem yon 
L. beobachteten AnfaJle, der 20 Tage dauerte, bestand rechtseitige 
Trochlearislahmung. An anderen Himneryen scheint nichts ahnliches 
beobachtet worden zu sein; auf jeden Fall haben die wiederkehrenden 
Facialislahmungen einen ganz anderen Charakter. Ob es eine Eigen- 
thumlichkeit der Augenmuskelneryen ist, dass sie relatiy oft yon gut- 
artigen Neubildungen behelligt werden, das muss man vorlaufig dahin- 
gestellt sein lassen. 

Ein paar Worte muss ich noch sagen fiber die Unterscheidung 
der periodischen Oculomotoriuslahmung von anderen Oculomotorius- 
lahmungen, die mehrmals auftreten, oder wenigstens auch mit migrane- 
artigen Zufallen einhergehen. Halt man sich an die Definition, so 
scheiden von vornherein alle Falle aus, in denen die Anfalle erst 
nach dem 30. Jahre beginnen, in denen die Migrane fehlt, in denen 
nicht einseitige totale Oculomotoriuslahmung besteht Also wird 
fiber die meisten Falle, die ich beanstandet habe, gamicht zu reden 
sein. Dagegen konnen Tauschungen entstehen, wenn in der Jugend 
ein Oculomotorius von der Basis aus beschadigt wird, was am haufigsten 
durch Tuberculose geschehen mag. Wenn bei einem bis dahin ge¬ 
sunden Kinde ohne Fieber, aber unter Kopfschmerz und Erbrechen 
einseitige Oculomotoriuslahmung auftritt, so kann man zweifelhaft 
sein, ob es sich um den Beginn der periodischen Oculomotorius¬ 
lahmung oder um basale Tuberculose handelt. Mir ist es so gegangen 
bei einem 10jahrigen Madchen: es war gar nichts zu finden, was die 
Tuberculose verrieth und erst nach 14tagigem Bestehen der Oculo¬ 
motoriuslahmung traten anderweite Symptome auf, die die Diagnose 


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Ueber periodische Oculomotoriuslahmung. 


305 


sicher machten. In diesem Falle trat der Tod ein, indessen ist es 
sehr wohl mbglich, dass die Tuberculose sich in Schiiben entwickele 
nnd vorlaufig eine Oculomotoriuslahmung zurlickgehe. In dem ersten 
Falle von Wilbrand und Sanger konnte man wohl an Tuberculose 
denken. An der Beobachtung von Weiss haben wir ein Beispiel, 
dass die Tuberculose ein der periodischen Oculomotoriuslahmung 
sehr ahnliches Bild bewirken kann. Ware hier Migrane vorhanden 
gewesen, so ware sogar die Diagnose periodische Oculomotorius¬ 
lahmung berechtigt gewesen. Die Dura-Reizung kann in einem 
anderen Falle da sein und am Ende liefert nur der Verlauf den Be- 
weis einer bbsartigen Erkrankung. Aehnliche Schwierigkeiten konnten 
durch ein Ameurysma oder durch andere Neubildungen entstehen, 
fast immer aber wird der Verlauf aufklaren. Es werden Symptoms 
auftreten, die der periodischen Oculomotoriuslahmung fremd sind, 
Betheiligung anderer Hirnnerven, Uebergreifen auf die andere Seite 
und Anderes. So wie die Sachen jetzt stehen, ist nicht in alien Fallen 
eine sichere Diagnose moglich, die Rubrik der zweifelhaften Falle 
muss beibehalten werden. Aber man soli das, was zweifelhaft ist, 
zweifelhaft nennen. Vorwarts hilft nur die Verscharfung der Diagnose, 
d. h. Unterscheidung, wahrend das Zusammenwerfen oberflachlich ahn- 
licher Dinge garnicht fordert 


Deatsohe Zeitschr. f. NervenheUktwde. XVII. Bd. 


20 


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xvin. 

Aus der medicinischen Klinik zu Bonn. 


Ueber das Fehlen des Achillessehnenreflexes nnd seine 
diagnostische Bedentnng. 

Yon 

Privatdocent Dr. J. Strasburger, 

Assistent der Klinik. 

Ueber den diagnostischen Werth des Westphal'schen Zeichens 
herrscht heutzutage kein Zweifel; auf das Fehlen des Achillessehnen¬ 
reflexes wird hingegen noch verhaltnissmassig wenig geachtet Das 
liegt daran, dass hber das Vorkommen dieses Reflexes unter normalen 
Verhaltnissen noch immer eine gewisse Unsicherheit herrscht, und dass 
man annimmt, er konne, im Gegensatz zum Patellarreflex, bei Ge- 
sunden haufiger fehlen. Die statistischen Erhebungen Hber diesen 
Gegenstand sind noch nicht zahlreich und weichen in ihren Resultaten 
erheblich von einander ab. Die ersten Untersuchungen verdanken wir 
Berger 1 ) (1879) und Eulenburg 2 ) (1882). Ersterer untersuchte 1409 
gesunde Personen, zumeist Soldaten und vermisste den Achillessehnen- 
reflex in 20 Proc. der Falle; ofters konnte er ihn ausserdem nur auf 
einer Seite deutlich demonstriren. Die Angaben von Eulenburg 
lauten wesentlich ungiinstiger: Unter 124 gesunden Kindern fehlte das 
Phanomen in 81,45 Proc. 

Zu derZeit, als die genannten Untersuchungen angestelltwurden, war 
die Anwendung bahnender Reize noch nicht bekannt. Wir konnen daher 
in ihren Resultaten einen Beweis far das haufigere Fehlen des Fussreflexes 
nicht erblicken. Aber auch eine neuere Arbeit, welche Plasterer 3 ) 
(1890) unter Leitung von K. Geigel ausflihrte und die sich fiber 
100 Falle erstreckt, kommt zu dem Ergebniss, dass nur in 57 Proc. 
derselben ein Achillessehnenreflex zu erzielen war. 

Ganz anders lautet das Urtheil von Ziehen 4 ) (1894), welcher die 
Verhaltnisse an einem grossen Material studirte. Leider lassen sich 
die Zahlen dieses Autors nicht glatt auf normale Verhaltnisse fiber- 
tragen; denn die Versuche wurden an Geistes- und Nervenkranken der 
psychiatrischen Klinik in Jena ausgeffihri Soweit der Achillessehnen- 


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Ueber dasFehlen des Achillessehnenreflexes und seine diagnostiseheBedeutung. 307 

reflex vorhanden war, sind sie wohl auch ffir Gesunde beweisend. Die 
Falie aber, in denen der Reflex vermisst wurde, kbnnen nur mit Zu- 
rfickhaltung yerwerthet werden. Trotz dieser Einschrankung ergiebt 
sich bei Ziehen fttr das Yorhandensein des Achillessehnenreflexes ein 
sehr viel giinstigerer Procentsatz, als bei den vorhergehenden Unter- 
suchern. Der Autor giebt an, dass er im Ganzen fiber etwa 1900 Falie 
verffigt. Aus seinen Tabellen ersehen wir, dass 68 mal beiderseitig, 
28 mal einseitig, der Achillessehnenreflex fehlte. Alle Falie sind 
freilich nicht in die Tabelle aufgenommen worden. Immerhin konnen 
wir aus diesen Angaben berechnen, dass der Reflex in 95 Proc. Oder 
etwas weniger der untersuchten Falie bestand. Noch gftnstiger 
lautete das Resultat, wenn bloss functionelle Psychosen nnd Neura- 
sthenie berficksichtigt wurden. Dann ergab sich nach Ausschaltnng 
einiger zweifelhafter Resultate, dass nur in 0,3 Proc. der Achilles- 
sehnenreflex nicht auslbsbar war. Ziehen nimmt auch an, dass der- 
selbe bei Gesunden nur selten fehle. 

In der medicinischen Klinik zu Bonn wird seit mehreren Jahren 
der Achillessehnenreflex bei alien Erkrankungen des Nervensystems 
sorgfaltig geprttft Aber auch bei vielen Nicht-Nervenkranken schenkten 
wir ihm Aufmerksamkeit und kamen zu der Ueberzeugung, dass 
es normalerweise fast immer nachweisbar isi Wegen der in der 
Literatur bestehenden Meinungsverschiedenheiten unternahm ich es, 
nnserer Erfahrung fiber diesen Punkt durch einige Zahlen Aus- 
druck zu verleihen. Es soli gleich bemerkt werden, dass sie im 
Wesentlichen den Ergebnissen von Ziehen entsprechen. Sie bilden 
aber nicht bloss eine Bestatigung, sondern auch eine Erganzung seiner 
Arbeit, denn die Angaben dieses Autors erstrecken sich doch, genau 
genommen, bloss auf Erkrankungen des Nervensystems, und lassen, wie 
erwahnt, auf Gesunde nur einen indirecten Schluss zu. Die von mir 
gesammelten Falie sollen dazu dienen, diese Lttcke auszuffillen. Ge¬ 
sunde Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes standen uns aller- 
dings auch nicht zur Verfugung, aber der hiesige Krankenbestand 
sefczt sich zum grossen Theil aus Personen zusammen, die keinerlei 
Nervenleiden aufweisen; und hierin liegt ffir unsere Aufgabe der 
Schwerpunkt. 

Bei der Sammlung des Materials verfuhr ich in der Weise, dass 
alle Patienten, bei denen eine Nervenerkrankung diagnosticirt worden 
war, bei Seite blieben. Ferner stellte ich nicht einfach die Befunde 
aus den Krankengescbichten mehrerer Jahrgange zusammen, sondern 
benutzte nur Prttfungs-Ergebnisse aus der letzten Zeit, in der wir 
dem Fehlen des Achillessehnenreflexes erhohte Aufmerksamkeit zu- 
gewendet hatten. Es kommt ja hier weniger auf die Grosse der Ge- 

20 * 


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308 


XVIII. Strasburger 


sammtzahl, als auf die Sorgfalt der Einzeluntersuchung an. Die Be- 
funde an Frauen und einem kleinen Theil der Manner sind von meinem 
Collegen G. Kirchgasser mit Sorgfalt aufgenommen und mir freund- 
lichst zur VerfQgung gestellt worden. 

Wenn schon das Auslosen des Patellarreflexes haufig auf Schwierig- 
keiten stosst und gewisse Uebung verlangt, so gilt dies ftir den Fuss- 
reflex in noch hoherem Maasse. Es erscheint deshalb erforderlich, die 
von uns angewendete Methode zu schildern. Dieselbe ist in Ktirze 
schon von Herm Geheimrath Schultze 5 ) in seinem Lehrbuch der 
Nervenkrankheiten beschrieben worden. 

Wir wahlen zur Untersuchung stets die liegende Stellung und 
zwar ftir gewohnlich die Rlickenlage des Kranken. Das betreffende 
Bein wird an der Fussspitze erfasst und etwas erhoben. Durch Dor- 
salflexion des Fusses erfolgt nun massige Anspannung der Achilles- 
sehne, welche zumeist dann erreicht ist, wenn der Fuss mit dem 
Unterschenkel etwa einen rechten Winkel bildet Dabei ist der 
Unterschenkel gegen den Oberschenkel gestreckt. Eine Beugung im 
Kniegelenk, wie sie von den meisten Untersuchem gefordert wird, halte 
ich fiir weniger zweckmassig. Es werden hierdurch die Ansatzpunkte 
des Muse. Gastrocnemius und Soleus genahert und man erkennt sofort, 
dass, um die nothige Anspannung der Acbillessehne zu erzielen, der 
Fuss starker dorsalflectirt werden muss; hierdurch bewirkt man, dass 
die senkrechte Entfernung der Sehne von den Unterschenkelknochen 
geringer wird und sich die oberen Theile der Sehne und das untere 
Ende des Muskels in grosserer Ausdehnung der tiefen Muskelschicht 
anlegen. Auf diese Weise entsteht aber eine Verkiirzung und Behin- 
derung der schwingungsfahigen Theile. Die Nothwendigkeit durch 
Beugen im Knie eine Entspannung der Wadenmuskeln vorzunehmen, 
liegt tibrigens meist gar nicht vor. Wenn Muskeln in storender Weise 
activ innervirt werden, so sind es in der Regel die Antagonisten, wie 
man an dem Vorspringen der Sehne des Muse. Tibialis anticus erkennt. 
Falls man den Kranken nicht zum Entspannen bringen kann, ist es sehr 
vortheilhaft die Bauchlage einnehmen zu lassen. Andere Autoren erreichen 
Aehnliches, indem sie die Patienten, wie J. Muskens 6 ) beim Sitzen oder 
wie Babinski 7 ) wahrend des Kniens auf einem Stuhl untersuchen. 
Besonders letzteres Verfahren giebt auch sehr gute Resultate. Bei 
alien diesen Methoden wird allerdings eine Beugung im Kniegelenk 
vorgenommen. Was die Spannung der Achillessehne angeht, so eignen 
sich mittlere Grade am besten. Indessen ist es erforderlich, im Einzel- 
falle die giinstigsten Verhaltnisse auszuprobiren. Auch die Hohe, in 
der die Sehne angeschlagen werden muss, wechselt bei verschiedenen 
Leuten; jedoch muss man sich httten, nicht zu hoch hinauf zu gelangen 


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Ueber dasFehlen des Achillessehnenreflexes und seine diagnostischeBedeutung. 309 


and so eine idiopathische Muskelcontraction auszulosen. Da oft ein 
ziemlich kraftiger Schlag mit dem Hammer nothig ist, moge man den 
letzteren nicht zn leicht wahlen. Zur Erhohung der Treffsicherheit, 
drehen wir den Percussionshammer um 180° in seiner Langsaxe und 
schlagen die Sehne mit dem Stiele des Hammers an. In schwierigen 
Fallen helfen wir uns mit dem Jendrassik’schen Kunstgriff, aller- 
dings nicht in seiner ursprfinglichen Form, sondern mit der yon 
Bowditsch 8 ) angegebenen Verbesserung. Dieser Autor fand, dass 
die hemmende Wirkung der Muskelaction nur ganz kurze Zeit, einige 
Zehntel Secunden, anhalt und dann abklingt, ja bei einer Anzabl der 
Versuchspersonen sogar in Hemmung ttbergeht. Aus diesem Grunde 
ist es erforderlich, den Jendrassik'schen Handgriff auf Commando 
ausffthren zu lassen, und unmittelbar hinterher die Sebne zu percu- 
tiren. Es ist fiberraschend, dass in Fallen, wo die gewohnlichen Me- 
thoden versagen, dieser verbesserte Kunstgriff den Achillessehnenreflex 
mit Leichtigkeit zum Vorschein bringen kann. Das Verfahren wurde 
in jiingster Zeit noch einmal von Mas kens (1. c.) beschrieben, der 
nur die physiologischen Versuche von Bowditsch beobachtete. Es 
stammt aber auch in der klinischen Anwendung von diesem Autor 
und ist als solches bereits in der bekannten Monographic von Stern¬ 
berg 9 ) zu finden. Gehen wir nunmehr zu einer Zusammenstellung 
unserer Ergebnisse fiber. Bei der Musterung der Resultate, die sich 
bloss auf Nervengesunde beziehen sollten, ergab sich zunachst, dass 
einige Falle nachtraglich ausgeschaltet werden mussten. Es fehlte 
namlich der Achillessehnenreflex bei Personen, die zwar bisher nicht 
unter der Diagnose einer Nervenerkrankung geffihrt worden waren, 
deren Nervensystem aber, wie sich bei naherem Zusehen ergab, zwei- 
fellos pathologisch verandert war. Es gilt dies besonders fur chroni- 
sche Potatoren, welche wegen anderweitiger Erkrankungen in unsere 
Behandlung getreten waren. Wir vermissten hier den Achillessehnen¬ 
reflex in drei Fallen beiderseits, in zweien nur auf einer Seite. Die 
Patellarreflexe waren bei diesen 5 Patienten vorhanden. Zweimal 
fanden wir zugleich ausgesprochene Druckempfindlichkeit der Waden- 
musculatur, wie sie bei cbronischen Alkoholikern haufig beobachtet 
wird. Denselben Symptomencomplex, nur statt des Fehlens, Ab- 
schwachung des Achillessehnenreflexes konnten wir auch anderweitig 
wiederholt bei Saufem beobachten. Offenbar liegen hier leichte 
Formen von Neuritis vor. Es ist interessant, dass gerade bei diesen 
das Gebiet. des Nervus tibialis besonders gerne befallen wird, und 
dass der Fussreflex leichter schwindet, als das Kniephanomen. Die 
genannten Veranderungen des Achillessehnenreflexes bei chronischen 
Alkoholisten hat Ziehen ebenfalls haufig beobachtet. Unsere Falle 


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310 


XVIIL Strasburger 


beziehen sich wahrscheinlich auf leichtere Formen des Alkoholismus 
und sind yielleicht insofern noch lehrreicher. Ausser diesen genannten, 
erwiesen sich andere Falle als unbrauchbar fiir unsere Statistik; es 
fehlten bei diesen neben den Fussreflexen auch die Patellarreflexe. 
Das ubrige Material ist in untenstehender Tabelle angeordnet 



Manner 

Frauen 

Summa 

Zahl der untersuchten 
Falle 


224 



141 


365 

X 

a> 

vorhanden 

220 

136 

356 

33 

3 

Ih 

Nervenkrank- 












s 

a 

<v 

to 

heit nicht 
+* nachweisbar 

fee 

: f 

£ 

1 

bp 

*flb 

1 

bp 

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1 

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3 

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1 

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2 

bp 

4 

< 

Nervenkrank- 
heit fraglich 

.O 

1 

to 

‘S 

1 

o 

*aJ 

J5 


3 

*3 

1 

a> 

*5 

•O 

*S 

1 

2 


Zahlen wir die Patienten mit, bei denen das Bestehen einer Nerven- 
krankheit fraglich war, so ergiebt sich fiir das Fehlen des Achilles- 
sehnenreflexes: Bei Miinnern 1,8 Proc., bei Frauen 3,5 Proc.; bei 
beiden zusammen 2,5 Proc. Nach Abzug der fraglichen Falle finden 
wir bei Mannem 0,9 Proc., bei Frauen 2,8 Proc., zusammen 1,6 Proc. 
Die als zweifelhaft bezeichneten Befunde sind in Kiirze folgende: 

1. Ehrich S. 22. J. Phthisis pulmonum incip. Ach. Refl. links mittel- 
stark, fehlt rechts. Bauchdeckenrefl. fehlen, die ubrigen Refl. normal. Der 
rechte Fuss beflndet sich in leichter Valgusstellung. Motorische Kraft und 
Sensibilit&t normal. Im Alter von 10 Jahren soil eine Gehirnentziindung 
bestanden haben (vgl. den analogen Fall bei Ziehen 1. c. p. 655). 

2. Anton P. 54 J. Grosser Senkungsabcess in der rechten Leisten- 
gegend, der wahrscheinlich von der Wirbels&ule ausgeht. Ach. Refl. fehlt 
beiderseits. Im Uebrigen am Nervensystera nichts abnormes zu finden. 

3. Frau W. 50 J. Lienale Leukamie. Starke Macies. Plantar- und 
Patellarrefl. schwach; Ach. Refl. fehlt rechts. Die ubrigen Refl. mittelstark. 

Eine Berechtigung, an der normalen Beschaffenheit des Nerven- 
systems im letzteren Falle zu zweifeln, mochte ich aus anatomischen 
Untersuchungen von Fr. Schultze 10 ), W. Miiller 11 ) und Nonne 12 ) 
herleiten, welche bei Leukamie degenerative Veranderungen im Rttcken- 
mark, besonders auch in den Hinterstrangen fanden. Klinische Ver¬ 
anderungen, die auf eine Schadigung des Rttckenmarks schliessen 
liessen, sind bis jetzt nicht beschrieben. Wohl aber kennen wir drei 
Beobachtungen fiber Leukamie von Eisenlohr ,3 ) t East 14 ) und 


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Ueber dag Fehlen des Achillessehnenreflexes und seine diagnostischeBedeutung. 31 1 


W. Muller 15 ), welche zeigen, dass sich Lahmungen im Gebiete ver- 
schiedener Hirnnerven ausbilden konnten, denen anatomische Ver- 
andenmgen in den peripberen N erven, oder im verlangerten Mark zu 
Grande lagen. Dass das Fehlen eines Achillessehnenreflexes bei 
unseren Kranken nicht zufalliger Natur war, durfte auch durch den 
Umstand bezeichnet werden, dass bei einer zweiten im vorigen Jahre 
untersuchten 22 Jahre alten Leukamischen Achillessehnen- and Patellar- 
reflexe gar nicht, ein Radiusreflex nur undeutlich auslosbar waren, 
crime dass sonstige klinische Zeichen eine Krankheit des Nerven¬ 
systems vermuthen liessen. Starkere Kachexie lag in diesem Falle 
nicht vor. 

Im Gegensatz zu diesen Beobachtungen fand ich bei Durchsicht 
alterer Krankengeschichten von Leukamie, dass in 5 Fallen, welche 
Notizen iiber die Fussreflexe enthalten, und in weiteren 6 Kranken- 
geschichten, die bloss die Patellarreflexe erwahnen, keine Anomalien 
dieser Zeichen bemerkt worden waren. 

Nach Besprechung der ohne Weiteres als zweifelhaft gekenn- 
zeichneten Falle dflrfte es angezeigt sein, in Kiirze auf die Beob¬ 
achtungen einzugehen, welche ausser dem Fehlen eines oder beider 
Acliillessehnenreflexe sowohl anamnestisch als auch wahrend der 
Untersuchung keine Anomalien des Nervensystems auffinden liessen. 

1. Heinrich M. 60 J. Peliosis rheumatica. Musculatur und Fettpolster 
sehr diirftig. Patellarrefl. beiderseits schwer auslosbar. Ach. Refl. fehlt. 

2. Friedrich W. 50 J. Pleuritis exsudativa. Das rechte Kniegelenk 
infolge einer Schussverletzung im Kriege ankylotisch. Musculatur kr&ftig 
entwickelt. Ach. Refl. rechts sehr schwach, fehlt links. 

3. Frau M. 60 J. Carcinoma ventriculi. Musculatur sehr gering. Fett¬ 
polster geschwunden. 

Knie- und Fusssohlenrefl. schwach. Ach. Refl. fehlt. 

4. Frau Cl. 63. J. Carcinoma ventriculi. Musculatur und Fettpolster 
sehr gering. Patellarrefl. mittelstark. Ach. Refl. fehlt links, rechts sehr schwach. 

5. Emma Th. 21. J. Gastroptose, alte Rhachitis. Ach. Refl. links 
nicht deutlich. Die iibrigen Reflexe mittelstark, bloss Rachenrefl. fehlt 
vollst&ndig. 

6. Gertrud Tr. 39 J. Phthisis pulmonum. Starker Plattfhss. Ach. 
Refl. links ziemlich lebhaft, rechts fehlend. Die iibrigen Refl. mittelstark. 

Wie erwahnt, liessen sich bei diesen, Fallen anamnestisch, wie 
durch den Status pr&sens, keine weitere Anomalien des Nervensystems 
feststellen: (abgesehen von dem Fehlen des Rachenreflexes bei Nr. 5). 
Wir haben sie daher von den vorhin als zweifelhaft bezeichneten 
Fallen abgetrennt 

Von einer deutlichen Grenze kann aber nicht wohl die Rede 
sein, denn an der Hand einer scharferen Kritik darf nur ein kleiner 


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312 


XVIII. Strasburger 


Theil der Falle als ganzlich einwandsfrei gelten. Dreimal bandelte es 
sich um sehr stark reducirte Muskeln, welche an sich das Zustande- 
kommen des Reflexes erschweren konnen. Hier kommt hinzu, d&ss 
zwei der betreffenden Patienten an Magenkrebs litten. Es ist dies 
sehr auffallend, wenn wir uns vergegenwartigen, dass kfirzlich Lu- 
barsch 16 ) (das. auf S. 410 die frflhere sparliche Literatnr) bei Carci- 
nomen, besonders des Magendarmtractus, — auch bei Abwesenheit 
starkerer Anamie — Degenerationen im Rfickenmark fand. Letztere 
waren wieder mit Vorliebe auf die Hinterstrange localisirt Ent- 
sprecbendes sah Kirchgasser ,7 ) in einem Fall von Magencarcinom. 
Die Marchi-Praparate liessen hier yor Allem degenerative Verande- 
rnngen in der Wurzeleintrittszone finden. In einem weiteren Fall 
muss das einseitige Feblen des Sehnenphanomens bei lebhaftem Reflex 
auf der anderen Seite mit Recht Bedenken erregen. Eine derartige 
Ungleichheit wlirde bei alien anderen Reflexen sicher nicbt das Pradicat 
„normal u erhalten. 

Zieben wir das Facit, so darf angenommen werden, dass die vorhin 
berechneten Zahlen von 1,6 Proc. im Vergleich zu den thatsachlichen 
Verhaltnissen wabrscheinlicb noch zu ungttnstig sind und dass der 
Achillessehnenreflex beim normalen Menschen nur recht 
selten fehlt. Es ist aber zu berticksichtigen, dass der Reflex haafig 
nicbt leicbt erhalten werden kann und alsdann zu seiner Auslbsung 
Geduld und Uebung erfordert Ganz so constant wie der Patellar- 
reflex scheint er aber nicbt vorhanden zu sein. 


Wir haben uns bisher mit dem Verhalten des Fussreflexes unter 
normalen Umstanden beschaffcigi Es dtirfte im Anschluss hieran von 
Interesse sein, einige Zusammenstellungen fiber das Fehlen des Achilles- 
sehnenreflexes bei gewissen Nervenkrankheiten zu geben. Auch hier 
kann ich, kraft der Yerschiedenheit unseres Materials, die Angaben 
von Ziehen erganzen. Natflrlich liegt es mir fern, die verschiedensten 
Erkrankungen, bei denen die Achillessehnenreflexe in ihrem Verhalten 
den iibrigen Sehnenphanomenen parallel gehen, unter diesem einen 
Gesichtspunkte durchzusprechen. Ich mochte vielmehr zwei Krankheits- 
formen herausgreifen, bei denen dem Fehlen des Fussreflexes ein er- 
hohtes Interesse zukommt. Es sind dies die Ischias und die Tabes 
dorsalis. 

Als erster machte Sternberg ,s ) im Jahre 1893 darauf aufinerk- 
sam, dass bei Neuralgien des Nervus Ischiadicus der Achillessehnen¬ 
reflex nicht selten auf der erkrankten Seite fehlt und giebt in seinem 
Buche zwei Beispiele flir dieses Verhalten. 1896 beschrieb Babinski 19 ) 
zwei entsprechende Falle. Unabhangig von diesen Autoren widmete 


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Ueber dasFehlen des A chi 11 easebnen reflexes und seine diagnostischeBedeutung. 313 


im Jahre 1897 M. Biro 20 ) dem Fehlen des Achillessehnenreflexes bei 
Ischias eine ausffihrliche Publication; er konnte das Phanomen 12 mal 
unter 156 Krankheitsfallen beobachten, und unterscheidet danach Neu¬ 
ralgia ischiadica einerseits, Neuritis ischiadica andererseits. In den 
zur zweiten Gattung gehorigen Fallen liessen sich nicht selten Muskel- 
atrophie und Veranderungen der elektrischen Erregbarkeit nachweisen. 
Aach Remak 21 ) erwahnt 1899 bei 4 Fallen yon Ischias neben anderen 
degenerativen Veranderungen das Fehlen des Sehnenphanomens. Ueber 
die relative Haufigkeit dieses Verhaltens kann der Autor keine An- 
gaben machen, da er nicht immer auf das Merkmal achtete. 

Es ist klar, dass dem Fehlen des Achillessehnenreflexes bei 
Ischias, wenn es irgendwie haufiger zur Beobachtung gelangen sollte, 
eine grosse diagnostische Bedeutung zukommt. Es ist eines von den 
wenigen objectiven Symptomen dieser Krankheit und kann nicht 
fingirt werden. Dem mit der Begutachtung von Unfallverletzten be- 
schaftigten Arzt wird ein derartiges Symptom aus diesem Grunde 
sehr erwfinscht kommen, um so mehr, als Ischias haufig in der Unfall- 
praxis beobachtet und ebenso gern von den Untersuchten nach- 
geahmt wird. 

Eine weitere bedeutungsvolle Frage, die meines Wissens bisher 
noch nicht erortert wurde, lautet, ob das Fehlen des Achillessehnen¬ 
reflexes bei Ischias die Prognose ffir die Aussichten des Leidens ab- 
andert. 

Un9er seit mehreren Jahren mit Rticksicht auf das Verhalten 
des Achillessehnenreflexes beobachtetes Material dfirfte, wenn auch in 
bescheidenen Grenzen, geeignet sein, Aufschltisse in Bezug auf diese 
beiden Punkte zu geben. Es sind 37 Falle, fiber deren Verhalten uns 
die folgende Tabelle orientiren m6ge. 


Achilles- 

sehnenreflex 

Zahl 

der 

Falle 

Proc. 

Geheilt oder 
wesentlich 
gebessert * 

Ud geheilt 
oder kaum 
gebessert 

Durchschnittl. 
Dauer der Be- 
handl. i.Tagen 

Morphiumcur 
bei wieviel 
Proc.? 

vorhanden 

22 

59 

20 

2 

30 

43 

abgeschwacht 

5 

14 

4 

1 

33 

33 

fehlend 

10 

27 

9 

1 

41 

77 


Aus diesen Zahlen ist ersichtlich, dass das Fehlen des Fussreflexes 
ein hauflgeres Zeichen ist, als bisher angenommen wurde. Nur in 
59 Proc. unserer Falle war der Reflex normal. Hierdurch 
dttrfte die klinische Brauchbarkeit des in Frage stehenden Symptoms 


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314 


XVIII. Strasbtjrger 


bewiesen sein. Um prognostische Gesichtspunkte zu gewinnen, theilte 
ich die Falle zunachst nach dem Verhalten des Reflexes in 3 Kate- 
gorien ein, von denen die 1. normalen, die 2. abgeschwachten, die 3. 
fehlenden Fussreflexen entspricht Alsdann rechnete ich fttr jede 
Abtbeilung das Verhaltniss der geheilten zu den ungeheilten Fallen 
aus und stellte fest, wie viel Tage die durchschnittliche Dauer der 
klinischen Behandlung betrug. 

Einen guten Wegweiser ftir die Beurtheilung der einzelnen Er- 
krankung bot mir die Thatsache, dass wir bei schwereren und hart- 
nackigen Fallen eine 14tagige systematisch durchgeffthrte Cur mit 
Morphiumeinspritzungen in Anwendung ziehen. Auf diese Weise 
lasst sich auch bei nachtraglicher Durchsicht der Krankengeschichten 
ein brauchbarer Ueberblick gewinnen. 

Unsere Tabelle ergiebt nun, dass von Ischiaskranken mit fehlen- 
dem oder abgeschwachtem Achillessehnenreflex etwa ebensoviele der 
Heilung zugefiihrt wurden, wie von denen mit beiderseits gleich ent- 
wickeltem Reflex. Insofern liess die Prognose also keinen Unterschied er- 
kennen. Wir sehen aber weiter, dass bei Gruppe 3 die durchschnittliche 
Dauer der klinischen Behandlung !/ 3 mehr Zeit in Anspruch nahm 
als bei Gruppe 1 und 2, und dass bei fehlendem Reflex etwa noch 
einmal so oft die Anwendung einer Morphiumcur nothig gewesen war, 
ais bei den fibrigen Fallen. Die einfache Herabsetzung des Reflexes lasst 
eine derartige VerzogerungundErschwerung der Heilung nicht erkennen. 

Die zweite Nervenerkrankung, bei der dem Fehlen des Achilles- 
sehnenreflexes eine diagnostische Bedeutung zugesprochen werden 
muss, ist die Tabes dorsalis. Dass bei dieser Systemerkrankung 
gewohnlich nicht nur die Knie-, sondern auch andere Sehnenreflexe 
vermisst werden, ist schon seit den frfihesten Veroffentlichungen fiber 
diesen Gegenstand bekannt. Es fehlen gewohnlich Patellar- und 
Achillessehnenreflexe, oft auch die tiefen Reflexe an den Armen. 
Davon soil nattirlich hier nicht die Rede sein. Ich mochte vielmehr 
auf die in den letzten Jahren hervorgehobene Moglichkeit eingehen, 
dass das Ausbleiben der Fussreflexe unter Umstanden eher bemerkt 
werden kann als das WestphaPsche Zeichen, dass wir hierin somit 
ein weiteres Symptom ffir die Frtthdiagnose besitzen. 

So fand Leimbach 22 ), als er das grosse Erb’sche Material zu- 
sammenstellte, unter 100 Fallen von Tabes incipiens 2 mal einseitiges 
Fehlen des Achillessehnenreflexes, zu einer Zeit wo die Kniereflexe 
noch erhalten waren. 

Tumpowski 23 ) beobachtete unter 116 Einzelerkrankungen, bei 
normalen Kniephanomen, 5 mal auf beiden, 3 mal auf einer Seite 
Fehlen der Fussreflexe, 1 mal Ungleichheit derselben. 


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Ueber das Fehlen dee Achillessehnenreflexes und seine diagnostischeBedeutung. 315 

Babin ski 24 ) sah 3 entsprechende Falle, und spricht dem Achilles- 
sehnenreflex die gleiche diagnostische Bedeutung wie dem Patellar- 
reflexe zu. 

Endlich erwahnt J. Muskens 25 ) 4 Falle yon Tabes incipiens, in 
welchen das Feblen der Achillessehnenreflexe dem Westphal'schen 
Zeichen voranging. 

Wenn Ziehen 26 ) das gleiche bei 23 Paralytikern fand, so schliesst 
sich diese Beobachtung ohne Weiteres den Befunden bei Tabes an. 
Dnter unseren Krankengeschichten fand ich 34 Falle bei denen sammt- 
liche Sehnenreflexe geprtift worden waren. Ein Verhalten, das uns 
interessirt, zeigen folgende. 

1. Pat. Refl. normal Ach. Refl. feblen Beginn der Erkranknng vor 
lVs Jahren. 

2. Pat. Refl. rechts schwach vorhanden, links fehlend. Ach. Refl. feblen. 
Beginn der Erkranknng vor etwa 3 / 4 Jahren. 

3. Pat. and Ach. Refl. rechts schwach, links fehlend. 

4. Pat. Refl. fehlen. Ach. Refl. rechts schwach, links fehlend. 

5. and 6.) Pat. Refl. fehlend, Ach. Refl. vorhanden. 

Wir finden in diesem Verhalten eine Bestatigung des bisher Er- 
wahnten. Gewohnlich sind beide Reflexe fruhzeitig erloschen. Es 
kann aber auch vorkommen, dass zunachst nur die eine Art, sei es 
der Achillessehnen-, sei es der Patellarreflex, vermisst wird. 

Fragen wir uns zum Schluss noch einmal allgemeiner, welche 
diagnostische Bedeutung das Fehlen des Achillessehnenreflexes besitzt, 
so lautet die Ant wort: Im Princip kommt ihm die gleiche Bedeutung 
wie der Abwesenheit des Patellarreflexes zu. Das Zeichen geht aber 
leichter als dieser bei verschiedenen, unter Umstanden geringfttgigen 
Erkrankungen des Nervensystems verloren, ist, wie auch Ziehen 
hervorhebt, ein noch empfindlicheres Reagens. Von diesem Gesichts- 
punkte aus besitzt es fiir gewisse Leiden hohere diagnostische Be¬ 
deutung, als das Westphal’sche Zeichen. Aus demselben Grunde 
aber, wegen der grosseren Vieldeutigkeit des Symptoms, muss um- 
gekehrt seine absolute Bedeutung fiir die Erkenntniss der Tabes 
dorsalis hinter dem Fehlen des Kniereflexes zurtickstehen. 

Herrn Geheimrath Schultze spreche ich fflr giitige Ueberlassung 
des kliniscben Materials meinen herzlichsten Dank aus. 


Literatur. 

1) Berger, Centralblatt fur Nervenheilkunde. 1879. S. 73. 

2) A. Eulenburg, Neurologisches Centralblatt. 1882. S. 169. 

3) S. Plaesterer, Inaug. Dissert. Wurzburg 1890. S. 27. 


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316 xvm. Strasburger, Ueber das Fehlen des Achillessehnenreflexes etc. 

4) Ziehen, Deutsche medizinische Wochenschrift. 1894. Nr. 83 u. 34. 

5) Fr. Schultze, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 1. Bd. S. 323. 

6) J. Muskens, Neurologisches Centralblatt. 1899. S. 1084. 

7) Babin ski, Bulletins et m£moires de la soci^te m&licale des Hdpitaux. 1898. 

21. Oct.; ref. Neurologisches Centralblatt. 1899. S. 847. 

8) Bowditsch, Boston medical Journal. 1888. Nr. 22. ref. Virchow Hirsch. 

Jahresbericht 1888 II. S. 86. 

9) Sternberg, Die Sehnenreflexe. Leipzig u. Wien. 1893. S. 84. 

10) Fr. Schultze, Neurologisches Centralblatt. 1884. S. 195. 

11) W. Muller, Inaug. Dissert. Berlin 1895. S. 25. 

12) Nonne, Deutsche Zeitschrift fur Nervenheilkunde. Bd. 10 (1897). S. 165. 

13) Eisenlohr, Virchows Archiv. Bd. 73 (1878). S. 67. 

14) Kast, Deutsche Zeitschrift fiir klinische Medicin. Bd. 28 (1895). S. 87. 

15) W. Muller, 1. c. S. 18. 

16) Lubarsch, Zeitschrift fur klinische Medicin. Bd. 31 (1878) S. 389. 

17) Kirchgasser, Deutsche Zeitschrift fur Nervenheilkunde. Bd. 13 (1898) 

S. 98. 

18) Sternberg, 1. c. S. 116. 

19) Babin ski, Qazette des Hdpitaux. 1896. S. 1462 cit. nach Bemak Neu¬ 

ritis und Polyneuritis in Nothnagels Handbuch. 1899. S. 127. 

20) M. Biro, Deutsche Zeitschrift fur Nervenheilkunde. Bd. 11. 1897. S. 207. 

21) Bemak, 1. c. S. 97. 

22) Leimbach, Deutsche Zeitschrift fur Nervenheilkunde. Bd. 7. 1895. S. 498. 

23) Tumpowski, Ebendas. Bd. 10. 1897. S. 476. 

24) Babinski, cit. unter Nr. 7. 

25) Muskens, cit. unter Nr. 6. S. 1084. 

26) Ziehen, 1. c. S. 670. 


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XIX. 

Kleine Mittheilnng. 

Intermittirendes Hinken und neuropathische Diathese. 

Von 

H. Oppenheim 

in Berlin. 

In der vor 2 Jahren in dieser Zeitsehrift erschienenen Abhandlung 
uber das intermittirende Hinken, in welcher Erb das bis dahin trotz 
Charcot’s wiederholter Darstellung wenig beachtete and wenig gekannte 
Leiden dnrch eine ausgezeichnete Schilderung erlauterte, ist von diesem 
Antor anch daraof hingewiesen worden, dass in der Aetiologie desselben 
die neuropatbishe Anlage eine gewisse Rolle spiele. Wenn Erb 
auch mit Char coat u. A. in einer Erkrankong des GelUssapparates die 
Gmndlage des Uebels sieht, so verkennt er doch nicht, dass die durch die 
Nervosit&t begrhndete Neignng zu vasomotorischen Stdrungen einen 
bedentsamen Factor in der Symptomatologie dieser Zust&nde bilden kann. 
Immerhin tritt dieses Moment in der Erb’schen Casnistik andBesprechung 
in den Hintergrund. 

Im Hinblick aaf diese Thatsache scheinen mir meine Erfahrungen anf 
dem Gebiet der „Claudication intermittente“ besonders mittheilenswerth. 

Seit der Verdffentlichung Erb’s habe ich viersichere Ffclle dieser Art 
gesehen, davon 2 erst in den letzten Wochen. In alien 4 waren die Zeichen 
der neoropathischen Diathese anfs deatlichste aasgesprochen. Und zwar 
handelt es sich bei zwei meiner Kranken am die Erscheinang der ange- 
borenen Zehenverwachsang. An beiden Ftissen waren die 2. and 3. 
Zehe total bezw. bis zar Endphalanx verwachsen. Ausser dieser Bildungs- 
anomalie, die ich relativ h&ufig in Verbindnng mit schweren Neurosen be- 
obachtet habe, lag bei dem einen dieser Patienten Asthma nervosum 
vor, das seit seiner Jugend bestand, ferner stammte er von Eltem, die 
beide an Diabetes gelitten batten. 

Die 3. meiner Beobachtnngen — Patient wurde mir von einem 
Warschaaer Collegen iiberwiesen — betrifft einen Mann, der selbst an 
hysteroepileptischen Anfallen litt, wahrend bei den Ascendenten 
Pychosen und Neurosen vorgekommen waren. 

In dem 4. Falle handelt es sich urn die Entwickelung des inter- 
mittirenden Hinkens bei einem Manne, der von Hans aus stotterte und 
spater von Asthma and Schreibekrampf befallen wurde. — Die von 
Erb in Anlehnung an Charcot geschilderten Erscheinungen waren bei 
alien meinen Patienten deutlich aasgesprochen, zar Gan gran war es aber 
nur bei einem gekommen, and ich halte es fiir besonders beachtenswerth, 
dass das Leiden bei dem einen schon 5, bei einem anderen schon 15 Jahre 


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318 


XIX. Kleine Mittheilung. 


besteht, ohne dass sich diese schweren Folgezustande aosgebildet hatten, 
wahrend es uns in dem einzigen Falle, in welchem wir Gelegenbeit zu einer 
langeren Behandlnng batten, gelungen ist. das Uebel wesentlich zu bessern. 

Bei der Erdrterung der Frage nach den Beziehungen zwischen dem 
in termittirenden Hinken nnd der nenropathischen Diatbese ist be- 
Bonders an folgende Momente zu denken. Wir wissen, dass die Neurosen 
des Herzens und Gef&sssystems friiher oder spater in materielle Erkrankungen 
dieser Gebilde iibergehen konnen. Besonders ist dieser Entstehungsmodus 
fur die Arteriosclerose und die verwandten Erkrankungen des Geffcssapparates 
jetzt wohl allgemein anerkannt. Fur die Neurosen traumatischen Ursprungs 
habe ich diese Transformation durch eine continuirliche Beobachtung schon 
vor langer Zeit (vergl. meine Monographie Tiber die traumatischen Neurosen 
L Aufl. S. 119, II. Aufl. S. 170/171) feststellen konnen. 

Der Gefassapparat der von Haus aus nervbsen Individuen ist also 
gegen die ihn treffenden Schadlichkeiten weniger widerstandsfhhig und wird 
somit eher von den Affectionen befallen werden, die der „Claudication inter- 
mittente 44 zu Grunde liegen. 

Ferner ist zu bedenken, dass, wenn sich bei nervosen Individuen eine 
Gef&sserkrankung in Folge der Einwirkung anderer Schadlichkeiten ent- 
wickelt hat, diese leichter zum Ausgangspunkt der Erscheinungen werden 
wird, welche das Wesen des intermittirenden Hinkens ausmachen. Das ist 
der Punkt, welchen Erb besonders beriicksichtigt hat 

Ein anderer Umstand ist aber bisher wenig beachtet worden, obgleich 
er, wie mir scheint, grosse Beachtung verdient Kann das intermittirende 
Hinken selbst eine functionelle Neurose, resp. ein Symptom derselben sein? 
Giebt es eine vasomotorischeNeurose dieses Charakters, die lange 
Zeit oder dauernd besteht, ohne dass es zu einer materiellen Erkrankung 
der entsprechenden Gefasse zu kommen braucht? 

Ich glaube diese Frage auf Grund meiner eigenen Beobachtungen be- 
jahen zu diirfen, ganz besonders im Hinblick auf den Fall, in welchem das 
Leiden nun schon seit 15 Jahren besteht. ohne dass sich die schweren 
Folgen des Gef&ssverschlusses entwickelt haben. Ich halte es fur moglich, 
dass dauernde, wenn auch an Intensitat wechselnde, spastische Zust&nde 
in der Musculatur der Arterienwand vorkommen, welche die Beschwerden 
des intermittirenden Hinkens hervorrufen. Es ist auch der Yermuthung 
Baum zu geben, dass eine angeborene Enge des Gefhsssystems, also eine 
wiederum in der Anlage wurzelnde Anomalie, der Entstehung dieser St5- 
rungen Vorschub leistet. 

Man darf nicht den Ein wand erheben, dass in den anatomisch unter- 
suchten Fallen stets Wanderkrankungen der entsprechenden Arterien nachge- 
wiesen werden konnten, da sich die Gelegenheit zu diesen Untersuchungen 
naturgemass nur in den schwersten Fallen bot. 

Wenn man unsere Anschauung acceptirt, darf man auch die Prognose 
des intermittirenden Hinkens nicht mehr schlechthin als eine infauste be- 
trachten, wie ja auch Erb schon in dieser Hinsicht die Charcot’sche Lehre 
modificirt hat. 

Dass in keiner meiner Beobachtungen Diabetes vorgelegen hat, verdient 
auch bemerkt zu werden. 

Eine ausfuhrliche Mittheilung der Beobachtungen, auf welche sich diese 
Mittheilung stiitzt, wird an anderer Stelle nachfolgen. 


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XX. 

Besprechnngen. 

1. 

Lemons sur les maladies du systeme nerveux par F. Raymond, 
recueillies et publics par E. Ricklin. Quatri&me s6rie. Paris, 
Octave Doin, 1900. 606 p. Avec 59 figures dans le texte et 2 planches 
en couleurs. 

Der vierte Band der Raymond'schen Lemons, enthaltend die klinischen 
Vortrage aus dem Jahre 1897/98 schliesst sich nach Form und Inhalt seinen 
Vorgangern wiirdig an. Der erste Vortrag behandelt zwei mit relativ 
gfinstigem Erfolge operirte Falle von Tumoren an der motorischen Gehirn- 
rinde. Daran anschliessend bespricht R. die umschriebene Form der tuber- 
culfisen Meningitis. Im dritten Vortrage wird die Frage nach dem Vor- 
kommen der multiplen Sklerose im Kindesalter erbrtert, im Anschluss an die 
Besprechung der Erkrankung eines 6jahrigen Knaben. Die folgenden Vor- 
lesungen behandeln die verschiedenen Formen der gekreuzten (alternirenden) 
Hemiplegie, die Polio-Encephalitis superior, die chronische progressive Ophthal¬ 
moplegic und die asthenische Bulbarparalyse. Sodann folgt die Besprechung 
einer Reihe von Fragen aus der Lehre von den verschiedenen Formen der 
Muskelatrophie (Muskelatrophie bei cerebraler Hemiplegie, bei der Tabes u. a.), 
und darauf die Erbrterung mehrerer sehr interessanter Falle von Syringo¬ 
myelic (Syringomyelic und Tabes, Syringomyelie und Bleivergiftung.) In der 
20. und 21. Vorlesung bespricht R. die Affectionen des Conus terminals, in 
der 22. und 23. Vorlesung verschiedene Punkte aus der Pathologic der 
Polyneuritis, inbesondere die Frage nach dem Vorkommen einer syphilitischen 
bez. mercurielleu Polyneuritis. Die letzten Vorlesungen endlich behandeln in 
ausffihrlicher Weise verschiedene Falle von traumatischer Hysterie, von 
Myoclonie, von juveniler Paralyse (eine Beobachtung bei einem 12 j&hrigen 
hereditar-syphilitischen Madchen mit Sectionsbefund) und von kindlichem 
Myxoedem. 

Schon diese kurze Inhaltsiibersicht zeigt den reichen und werthvollen 
Inhalt des vorliegenden Bandes. Dass alle einzelnen Vorlesungen aufs 
Neue die grosse persfinliche Erfahrung, die genaue Literaturkenntniss und 
das klare kritische Urtheil des Autors aufs Neue beweisen, braucht kaum 
besonders hervorgehoben zu werden. Auf alle Einzelheiten der 31 Vortrage 
hier nfiher einzugehen, ist nicht mbglich. Nur einen Punkt, den R. in der 
22. Vorlesung ausftihrlich erbrtert, mochte ich bei dieser Gelegenheit kurz 
zur Sprache bringen. R. beschreibt einen Fall von acut aufgetretener 
atrophischer Lahmung beider Beine, bei welchem die Diagnose zwischen 
einer acuten Poliomyelitis und einer Polyneuritis schwankte. Im An¬ 
schluss an fruhere Ausfuhrungen des Ref. betont R, dass die Frage, ob 
Poliomyelitis oder Polyneuritis, zum Theil nur ein Wortstreit sei. Die 
krankmachende Schadlichkeit wirke auf das ganze peripherische motorische 


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320 


XX. Besprechungen. 


Neuron ein und konne daher gleichzeitig Zelle and peripherischen Nerv, 
oder bald den einen, bald den anderen Theil des Neurons zur Atrophie bringen. 
Hierzu mochte ich nun Folgendes bemerken. 

Bei der gewohnlichen Polyneuritis handelt es sich wohl zweifellos 
stets um irgend eine durch Intoxication oder durch Infection entstandene 
cheraische Sch&dlichkeit, die vom Blut- bez. Lymphstrom aus, also von 
der allgemeinen Circulation aus, auf das Nervensystem einwirkt und 
meist gewisse Neurone desselben, vor Allem gewisse peripherische motorische 
Neurone sch&digt oder zu vollkommener Degeneration bringt Je nach der 
Starke dieser schadigenden Einwirkung, vielleicht aber manchmal aucb je 
nach der Natur des einwirkenden Giftes, werden entweder die ganzen 
Neurone, d. h. insbesondere die Ganglienzellen selbst oder nur die peri¬ 
pherischen Auslaufer derselben zur Degeneration bez. volligen Atrophie ge- 
bracht. Auf diese Weise entstehen die bekannten h&ufigen „polyneuritischen a 
Lahmungen, die fast immer ziemlich ausgedehnt und ausgesprochen sym- 
metrisch-bilateral auftreten. Finden sich in solchen Fallen bei der 
Autopsie deutliche VerSLnderungen der motorischen spinalen Ganglienzellen, 
also nach der iiblichen Terminologie „poliomyelitische“ Veranderungen, 
so ist diese Form der „Poliomyelitis a sicher von der „Polyneuritis a nicht 
principiell verschieden. Hier behalten meine friiheren und die jetzigen 
R.’schen Ausfiihrungen ihre voile Geltung. Etwas anderes ist es aber mit 
deijenigen Form der Poliomyelitis, die den klinischen Symptomencomplexen 
der meisten Falle von sog. spinaler Kinderiahmung und den seltenen analogen, 
bei Erwachsenen auftretenden Erkrankungsfailen zu Grunde liegt. Hier tritt 
meist eine mehr oder weniger umschriebene, meist einseitige atrophische 
Lahmung auf und die Autopsie ergiebt einen umschriebenen, echt ent- 
ziindlichen Herd von verschieden grosser Ausdehnung, meist der Haupt- 
sache nach nur in einer Vordersftule des Ruckenmarks. Eine derartige 
acute Poliomyelitis kOnnen wir uns nur dadurch entstanden denken, dass 
die (wahrscheinlich organisirten) Entziindungserreger als solche durch den 
Blutstrom ins Riickenmark eingedrungen sind und daselbst durch ihre direct© 
ortliche Einwirkung einen ortlichen Entziindungsvorgang erregt haben. 
Dabei braucht es sich gar nicht um eine specifische Art von Entziindungs- 
erregern zu handeln; vielleicht sind es die gewohnlichen, an sich gutartigen 
Eiterkokken, vielleicht freilich auch eine andere Art von Microben, die unter 
gewissen Umstanden ins Riickenmark gelangen und hier eine umschriebene 
Entziindung hervorrufen, ebenso, wie sie eine umschriebene Encephalitis 
bewirken, wenn sie ins Gehirn gelangen, eine umschriebene Osteomyelitis, 
wenn sie irgendwo ins Knochenmark gelangen u. s. w. Auch diese Form der 
Poliomyelitis ist eine exogene und hamatogene Erkrankung, aber sie ist doch 
als umschriebene ortliche Entziindung principiell von der allgemeinen toxisch- 
hamatogeneu Polyneuritis bez. Poliomyelitis zu trennen, die mehr den 
Namen einer Degeneration, als einer Entziindung verdient. Die toxische 
Polyneuritis und Poliomyelitis kann etwa mit der h&matogenen diffusen, natiir- 
lich stets doppelseitig-symmetrischen gewohnlichen Nephritis verglichen 
werden, die umschriebene echte Poliomyelitis dagegen dem umschriebenen 
einseitigen Nierenabscess. 

Ich will durchaus zugeben, dass im eiuzelnen Falle die Unterscheidung, 
zu welcher Art der Poliomyelitis derselben etwa zu rechnen sei, ihre grossen 
Schwierigkeiten haben kann. An der grunds&tzlichen Trennung jener 


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XX. Besprechungen. 


321 


beiden oben knrz skizzirten Forraen der Poliomyelitis muss aber, glaube 
icb t festgehalten werden. Auch die „Neuritis 44 wird ja in die zweiFormen 
der allgemeinen Polyneuritis und der umschriebenen einfachen Neuritis 
getrennt. Docb ist freilich das Vorkommeu einer in dem Sinne um- 
8ehriebenen Neuritis, wie sie als Analogon der umschriebenen echten Polio¬ 
myelitis gedacht werden kbnnte, iiberhaupt noch nicht sicher festgestellt. 
Ob die „chronische Poliomyelitis 44 auch als allgemein hamatogen-toxische 
Erkrankung aufzufassen ist, l&sst sich einstweilen noch nicht sicher sagen. 
Moglich ist es; doch lassen sich da endogene Krankheitsursachen, wie bei 
der echten „spinalen progressiven Muskelatrophie 44 schwer ausschliessen. 

Alle diese Fragen erfordern in Zukunft eine genauere Erdrterung. Hier 
konnte ich natiirlich die grundsatzlichen Punkte nur kurz andenten. 

Striimpell. 


Die Orthopadie im Dienste der Nervenheilkunde.. Von Prof. Dr. 

Albert Hoffa. Jena, G. Fischer, 1900. 159 S. 

In dem vorliegenden Buche theilt H. die Erfahrungen mit, die er bei 
der chirurgisch-orthopftdischen Behandlung gewisser Nervenkrankheiten im 
Laufe der letzten 13 Jahre gemacht hat. Er zeigt, dass durch eine der- 
artige Behandlung in zahlreichen Erkrankungsfailen ausserordentlich gute 
Heilerfolge erzielt werden konnen. Die Lecture des Buches ist daher fdr 
jeden Nervenarzt anregend und lehrreich, urn so mehr, als H. sich von 
alien Ueberschwknglichkeiten und Uebertreibungen fern halt und stets auf 
dem Boden ruhiger, wissenschaftlicher Kritik bleibt. Wiederholt betont 
er den rein suggestiven Einfluss einzelner Maassnahmen. 

Von Einzelheiten sei Folgendes erwahnt. In zwei Fallen von Para¬ 
lysis agitans wurde durch taglich ausgefiihrte allgemeine Kbrpermassage 
leiclitester Art, sowie specielle Massage der befallenen Hande eine ganz 
wesentliche Erleichterung fur die Kranken bewirkt. Bei Ischias empfiehlt 
H. hauptsachlich Massage und Gymnastik, sowie die unblutige Dehnung des 
Nerven. In einem sehr hartnackigen Fall wurde durch einen Schienen- 
hnlsenapparat mit Beckengurtel Heilung erzielt. Der citirte Esmarch’sche 
Satz, dass 3 / 4 aller Ischiasfalle nach einer guten Dosis Ricinusol heilen, 
diirfte bei Neurologen wenig Glauben finden. Bei den Contracturen 
alter Hemiplegiker konnte an den Armen nichts ausgerichtet werden, wah- 
rend die Gehfahigkeit durch Tenotoraie der Achillessehne und durch Schienen- 
bulsenapparate zuweilen erheblich gebessert wurde. In einem Falle totaler 
alter Facialislahmung wurde aus cosmetischen Griinden eine Ope¬ 
ration mit Bildung einer kiinstlichen Nasolabialfalte gemacht. Das Ergebniss 
war, wie die beigefugten Photographien zeigen, recht befriedigend. Inter- 
essant ist auch die Heilung eines schweren Falles von Accessorius- 
krampf auf orthopadisch-mechanischem Wege. 

Der grbsste Theil des Buches ist der Behandlung der paralytischen 
Deformitaten an den einzelnen Extremitatengelenken gewidmet. Hier spielen 
natiirlich die mannigfaltigen Folgezustande der spinalenKinderiahmung 
(dass H. dieselbe als Poliomyelitis anterior „chronica“ bezeichnet, ist wohl 
Deutsche Zeitschr. f Nervenheilkunde. XVII. Bd. 21 


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322 


XX. Besprechungen. 


nur ein lapsus calami) die Hauptrolle. Alle im einzelnen Falle vorzu- 
nehmenden operativen Eingriffe (Sehnendurchschneidung, SehnenuberpAanzung, 
kunstliche Versteifung der Schlottergelenke durch die sog. Arthrodese\ 
ferner die verschiedenen ortkop&dischen Apparate, die Technik der Heil- 
gymnastik u. s. w., werden genau beschrieben und durch zahlreiche einzelne 
Beispiele und Abbildungen erl&utert. Auch die cerebralen spastischen 
Diplegien der Kinder bieten vielfach ein dankbares Feld fur die chirur- 
gisch-orthop&dische Behandlung dar, wie H. durch die Mittheilung einer 
Reihe lehrreicher Falle beweist. Ebenso wurde zuweilen bei den infantilen 
Hemiplegien mit Athetose durch Massage und Heilgymnastik eine be- 
friedigende Besserung erzielt. Insbesondere verdienen die guten Erfolge 
hervorgehoben zu werden, welche ein methodischer, durch einen erfahrenen 
Taubstummenlehrer gegebenen Sprach- und Denkunterricht bezuglich der 
Intelligenz und der Sprachstdrung derartiger Kinder hervorrief. 

Von Tabes dorsalis warden 23 Falle mit Stiitzkorsetts behandelt. 
Wenn Hoff a seine Meinung dahin zusammenfasst, dass es im Wesent- 
lichen das Gefiihl der Sicherheit ist, welches die Patienten heilsam 
beeinflusst, und dass demnach die Wirkung des Korsetts bei den Tabikern 
hauptsachlich eine suggestive ist, so kann ich ihm darin vollkommen zu- 
stimmen. Diese unbefangene Urtheilsweise sticht erfreulich ab von den un- 
wissenschaftlichen Uebertreibungen gewisser anderer Specialisten. Gute 
Dienste leistet, was sicher zuzugeben ist, ein Schienenhiilsenapparat oft bei 
der Arthropathia tabidorum. — Verhaitnissmassig kurz behandelt H. unter 
HinweissaufanderePublicationen das wichtigeCapitel derspondylitischen 
Lahmungen. Das Calot’sche Redressement ist fast vbllig aufgegeben 
worden; gute Erfolge erzielte aber H. durch die Entlastung der Wirbel- 
saule im Gypsverband. Die operative Behandlung der Wirbelcarieswird 
in Deutschland verh&ltnissm&ssig selten ausgeiibt. In England sollen damit, 
wie ich hore, neuerdings gl&nzende Resultate erzielt werden. — Am Schluss 
des lehrreichen Buches bespricht H. die Behandlung der progressiven 
Muskelatrophie und Dystrophie. Er warnt im Allgemeinen vor dem 
Anlegen aller Stiitzapparate und empfieklt nur eine ausdauernde Massage 
und Gymnastik. Striimpell. 


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XXI. 


Aus dem Laboratorium Prof. H. Oppenheim’s in Berlin. 

Ueber acute isch&mische L&hmung nebst Bemerkungen fiber 
die Verftnderungen der Nerven bei acuter Ischfimie. 

Von 

Dr. Michael Lapinsky, 

Kiew, Ra8sland. 

(Hierzu Tafel V.) 

Volkmann 27 ) war einer der ersten Klinicisten, die dieser Art 
von Erkrankung besondere Aufmerksamkeit zuwandten. Nach der 
Meinung dieses Autors sind die in Folge acuter Unterbrechung 
der Circulation entstehenden Paralysen auf Rechnung der 
Muskelaffection zu setzen; die Nerven spielen seiner Ansicht * 
nach dabei keine Rolle. Solche myogene Paralysen werden tiberall 
da beobachtet, wo Anamie sich sehr schnell entwiekelt, so z. B. bei 
Umschniirung mit dem Esmarch’schen Schlauche, bei festen 
chirurgischen Verbanden, bei Zerreissungen oder Contu- 
sionen grosser Gefasse und bei Erfrierungen. 

Die charakteristische Besonderheit solcher ischamischer 
Paralysen besteht in der Contractur, welche immer sehr 
frtih, gleichzeitig mit der Paralyse, oder gleich nach Auf- 
treten derselben entsteht. 

Diese frtthe Contractur unterscheidet eben wesentlich die myogene 
von der neurogenen Paralyse. In dem letzten Falle tritt die Contractur 
sehr spat ein. 

Volkmann selbst flihrt keine Krankheitsgeschichten an, sondern 
beschrankt sich nur auf die allgemeine Darlegung seiner Ansichten 
beztiglich der ischamischen Paralysen. 

Andere Autoren haben diese Lticke hauptsachlich durch casuistische 
Mittheilungen ausgefullt. 

Die Ischamie in ihren Fallen war auf eine und dieselbe Weise 
hervorgerufen, namlich durch Umscbnurung der ganzen Extremitat 
„en masse 4 *. 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 22 


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324 


XXI. Lapinsky 


Le8er I4 ) hat sieben F&lle veroffentlicht, in denen Paralyse in Folge 
eines allzu festen Verbandes entstand. 

Die Erkrankung begann in seinen Beobachtungen gewohnlich mit 
Schmerzen und Par&thesien der gedriickten Extremit&t, welche dann schnell 
odematos wnrde nnd sich verh&rtete. Nach Abnahme des Verbandes zeigto 
die Extremitat Contractur und complete Paralyse. Die Befreiung von 
der Binde behob nicht die Erkrankung; im Gegentheil das Oedem 
nahm noch zu nnd es traten Erscheinungen einer Entziindungs- 
reaction ein. All diese Erscheinungen entwickelten sich sehr schnell, 
erreichten im Laufe von 2 — 24 Stunden ihren hochsten Grad der Intensit&t, 
nm dann sehr langsam wieder abzufallen. Die viele Tage spater nnter- 
suchte Sensibilitat der geschadigten Extremitat ergab in alien beschriebenen 
Fallen einen normalen Befund. Die elektrische Erregbarkeit der Nerven 
wie der Muskeln war dagegen stets verandert. Die faradische Erregbar¬ 
keit derMuskeln war in alien Fallen vollstandig erloschen, die galvanische 
stark herabgesetzt. Die in funf Fallen nntersnchte elektrische Reaction 
der Nerven ergab auch eine bedeutende Herabsetznng. Der Antor halt 
die Paralyse in seinen Beobachtungen fur eine rein myogene 
und nimmt an, dass die Nervenstamme dabei ganz unverandert 
geblieben sind. 

Hildebrandt 7 ) beobachtete ein Kind, bei dem sich Paralyse und 
Contractur der Hand in Folge eines allzu festen Verbandes gebildet hatte. 
In dem Berichte linden wir keinen Wink iiber den Befund der Nerven im 
geschadigten Kbrpergebiete; der Autor betrachtet aber seinen Fall als 
typisch fur myogene Paralyse ischamischen Ursprunges. 

Henle 6 ) beschreibt einen Fall von Paralyse des Vorderarmes und 
der Hand mit Atrophie der Muskeln und Contractur; es trat dies nach An- 
legen eines allzu festen chirurgischen Verbandes ein. Der Autor will die 
Drsache der Paralyse nur in der ischamischen Schadigung der 
Muskeln sehen. (Die Untersuchung des Nervensystems wird in der Krank- 
heitsbesprechung nicht beriihrt.) 

Petersen 22 ) spricht von einem Patienten, bei dem sich die Folgen 
eines Verbandes (nach Fractur des Radius) in Parese der Extensoren und 
in Contractur, wie Paralyse der Flexoren der Hand zeigten. Die Sen¬ 
sibilitat der kranken Extremitat war an den Fingerspitzen gesunken. 
Die motorischen Storungen erklart der Autor allein durch die Paralyse 
der Muskeln, die Sensibiliatsstorung schreibt er den Veranderungen des 
n. medianus zu, der durch seine Narbe in der Nahe des gebrochenen 
Knochens etwas gedriickt wurde. (Wahrend man den Nerv vom Drucke 
befreite, fand man, dass die a. brachialis vollkommen zerrissen war!) 

Davidsohn 4 ) sak Paralyse der Muskeln des Vorderarmes mit Con¬ 
tractur der Finger nach Anlegen eines chirurgischen Verbandes am Vorder- 
arme (bei Fractur des Radius). Die Sensibilitat des Vorderarmes und der 
Hand wurde vom Autor normal gefunden. Die faradische Erregbarkeit der 
Nerven, wie der Muskeln, besonders deutlich in den Muskeln des Thenar, waren 
herabgesetzt. Der Autor kann sich nicht entschliessen, die Veranderungen 
der elektrischen Reaction der Nerven durch die Isch&mie derselben zu er- 
klaren, sondern nimmt an, der Nervenstamm werde durch das neugebildete 
Gewebe zusammengedrcickt. 

Niesen 19 ) in seiner ersten Beobachtung spricht von einer Patientin, 


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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungeu etc. 


325 


der wegen Fractur des processus styloideus radii ein Verband angelegt 
wurde. Nach einigen Stunden schon trat' an der Hand Oedem, an den 
Muskeln des Vorderarmes Paralyse und an den Fingern Contractur ein. 
Nach zwei Monaten wurde die Teraperatur der kranken Hand unternormal, 
und die Muskeln derselben leicht atrophisch gefunden. Die m. m. interossei 
hatten ibre faradische Erregbarkeit eingebusst. Der Tastsinn war auf dera 
Handriicken und auf der unteren Handflache im Bereiche des n. medianus 
ganzlich geschwunden. 

In dem zweiten Falle dieses Autors handelt es sich auch um eine durch 
einen ailzu festen Verband verursachte Paralyse und Contractur der Finger. 
Die Untersuchung zeigte, dass die Flexoren auf den elektrischen Strom gar 
nicht reagirten. Der Tastsinn und das Schmerzgefiihl der Hand und 
der Finger waren im Bereiche des n. ulnaris sehr gesunken. 

Der Autor halt die Paralyse in diesen Fallen fur eine rein myogene- 
ischamische und erklart die Storungen yon der Seite des Nervensystems 
durch eine hypothetische zufailige Lasion oder Quetschung der Nerven- 
stamme. 

Sonnenkalb 23 ) beobachtete Paralyse der oberen Extremitat als 
Resultat eines um den Oberarm ailzu fest gelegten Verbandes. Ausser 
der fur solche Falle typischen Contractur stellte der Autor eine tiefe 
Anasthesie der kranken Extremitat fest. Die Sensibilitatssttfrung war 
so gross, dass, als die gelahnite Hand zufailig verbrannt wurde, nachdem 
sie einer starken Hitze (ein heisser Ofen) ausgesetzt war, der Patient 
absolut keinen Schmerz davon empfand; noch vier Monate spater konnte 
er die starksten faradischen Strome ohne jedes Gefuhl von Unbehagen er- 
tragen. Der Autor halt seinen Fall einfach fur ischamische 
Muskellahmung. 

Zu dieser Gruppe gehbren wohl auch zwei Beobachtungen von 
Bernhardt ! ): 

Im ersten Falle handelt es sich um ein Weib, das wegen einer 
chirurgi8chen Operation an der Hand einen Verband tragen musste. Als 
die Patientin nach einiger Zeit den Verband abnahm, bemerkte sie, dass 
der Arm ganzlich geiahmt war. Das Beugen und Strecken im EUenbogen- 
gelehk, sowie jede Bewegung der Hand, wie der Finger war unmbglich 
geworden. Die Untersuchung mit dem elektrischen Strome zeigte weder in 
den betroffenen Nerven, noch Muskeln Entartungsreaction. Nach 14 Tagen 
trat vollstandige Genesung ein. 

Im zweiten Falle beschreibt Bernhardt einen Patienten, bei dem 
vollstandige Paralyse aller Muskeln des Vorderarmes und der Hand durch 
das Anlegen der Es mar chicken Binde hervorgerufen war. Obgleich nach 
Abnahme der Binde diese Extremitat geiahmt blieb, so hatte sich doch die 
elektrische Erregbarkeit aller unterhalb der Verbandstelle liegenden Theile 
in diesem Falle vollkommen erhalten. 

Bernhardt selbst mochte diese Erkrankung beider Falle durch eine 
Schadigung der Nervenstamme erklaren. 


Sehr interessant sind die Beobachtungen Neugebauers. 20 ) Dieser 
Autor legte gesunden Menschen die elastische Esmarch’sche Binde um 
die obere Extremitat und bestimmte unter diesen Bedingungen in der¬ 
selben die elektrische Reizbarkeit, die Leitung der Willensimpulse und 

22 * 


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326 


XXI. Lapinsky 


die verschiedenen Sensibilitatsarten. Er kam hierbei zu folgenden 
Resultaten: 

Schon 15—20 Minuten nacb Anlegen der Binde war die Mdglichkeit 
der Willensleitnng in den unterhalb der Binde gelegenen Theil der 
Extremitat geschwunden. In dreien von vier Fallen waren auch der Tast- 
sinn nnd auch das Schmerzgefubl in demselben Gebiete stark herabgesetzt. 
Was die elektrische Reizbarkeit betrifft, so erzeugte ein oberhalb des 
Verbandes dem Nerven applicirter elektrischer Reiz koine 
Bewegungen der unterhalb der Binde gelegenen Theile. Eine solche 
Reizung der Nervenstamme unterhalb der Verbandstelle er¬ 
zeugte Contraction der Muskeln. Die directe Erregbarkeit der 
Muskeln war zuweilen etwas herabgesetzt. Der Autor ist offenbar genei^t, 
diese Stbrungen eher auf neurogene als auf myogene Momente 
zuriickzufuhren. 

Fleury 9 ) machte ahnliche Beobachtungen am Krankenbette; es lag 
ihm hauptsachlich daran, den moglichen Einfluss einer localen Anamie 
auf die Reflexe zu bestimmen. In seinen Untersuchungen schwanden die 
Sehnenreflexe schon 6—14 Minuten nach Anlegen des Esmarch’schen 
Bandes. Fleury erklart diese Erscheinung durch die Anamie. Viel- 
leicht rechnet er dahin auch die Ischamie der Muskeln und der Nerven¬ 
stamme (?). 

Sternberg 24 ) hat eine grosse Zahl derselben Versuche an Eranken 
angestellt. Die Resultate seiner Untersuchung sind folgende: 

a) Eine kurz dauernde Einwicklung (4—5 Minuten) nach der 
Methode von Esmarch lasst Fussclonus und Achillessehnenreflex un- 
beriihrt. 

b) Langer dauernde Anamie (etwa 6—10 Minuten) schwacht Fuss- 
clonus und Achillessehnenreflex. 

c) Dauert die Anamie noch langer (etwa 10—15 Minuten), so 
schwindet der Fussclonus ganzlich, der Achillessehnenreflex wird merklich 
geringer. 

d) Lasst man die Anamie nach dem Verschwinden des Fussclonus 
noch einige Minuten dauern, so ist auch der Achillessehnenreflex ganzlich 
verschwunden. 

Dieses Schwinden der Sehnenreflexe in der anamisirten Extremitat ist 
nach Meinung des Autors durch Anamie der Nervenendigungen zu 
erklaren. 


Das durch Volkmann geweckte Interesse an ischamischen Para- 
lysen veranlasste viele Forscher durch exp eri men telle Beobachtungen 
dieser Frage naher zu treten. 

Leser 14 ) hat seine Untersuchungen an 23 Kaninchen angestellt. Er 
umschniirte mit einer Binde eine hintere Extremitat en masse im oberen 
Theile des Schenkels und nach 3 Stunden nahm den Verband ab. Unter 
der Binde trat eine unwesentliche Abkiihlung des Fusses ein. Die 
Extremitat war gelahmt und dabei ganz schlaff; die Pfote schleppte sich 
bei den Bewegungen des Thieres passiv hinten nach, die Rflckseite zur 
Erde und die Sohle nach oben gewandt Die urn diese Zeit angestellte 
Untersuchung zeigt eine leichte Schadigung der Sensibilitat und 


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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc. 


327 


eine Abschw&chung, an einigen Thieren sogar eine voUst&ndige Einbnsse 
der directen faradischen Erregbarkeit der Muskeln. Bald traten dann 
in der geschadigten Extremitat Reactionserscheinungen anf. 
Die Temperatur derselben stieg erheblich in die Hohe. Es 
zeigte sick auch bedentende Schwellung nnd 48 — 72 Stunden 
nach Anlegen des Verbandes sah man an der Extremitat alle 
Anzeichen von Myositis. Die Muskeln warden stark ange- 
schwollen, bretthart, rigid and schmerzhaft. Nach 8—14 Tagen 
konnten all diese Erscheinangen jedoch vollstandig weichen and eine voll- 
standige restitutio ad integrum eintreten. Das Aaftreten der Con- 
tractur fiel gewBhnlich mit dem intensivsten Entwicklungs- 
grade der Entzundangsreaction in den Muskeln znsammen. 
Bei sehr heftiger Entziindungserscheinung wurde eine restitutio ad integrum 
gar nicht beobachtet; es trat Contractur der degenerirten Muskeln ein. 

Die Reiznng des Nervenstammes der Experimentirextremitat durch 
den elektrischen Strom in friiheren Stadien der Lahmung erzeugte eine, 
wenn auch nicht erhebliche Contraction der Muskeln; derselbe Strom 
erzeugte bei director Einwirkung auf den Muskel keine Contraction desselben. 

In einem dieser F&lle hat die spatere Untersuchung mit 
dem elektrischen Strom gezeigt: „Dass die Sensibilitat nicht 
wesentlich geschadigt, dass dagegen bei director faradischer 
Reiznng des m. gastrocnemius auch nicht die Spur einer Con¬ 
traction ein trat; bei galvanischer Reizung Hessen sich einige erheblich 
abgeschwachte Contractionen nachweisen. w (s. 2105.) 

In einem Falle erhielt der Autor bei indirecter Reizung keine solche 
Contraction der Muskeln, bei der Section zeigte es sich hier aber, 
dass der Nerv sehr stark gequetscht worden war und sich in 
einen diinnen Faden verwandelt hatte. 

Eine Schadigung der Nerven negirt jedoch der Autor in seinen Fallen. 
Seine diesbeziiglichen Schliisse griindet er 1. auf die unverandert ge- 
bHebene Sensibilitat des paralysirten Beines, 2. auf die in den Muskeln 
mehr als in den Nerven ausgepragte Veranderung der elektrischen Reaction. 

Derselbe Autor machte auch Beobachtungen an Froschen. Er fiihrte 
seine Versuche so aus, dass der N. ischiadicus keinem Druck aus- 
gesetzt war. Es wurde vorher durch einen Hautschnitt der erwahnte 
Nerv zu Tage gefordert und die Ligatur, die das Bein umschniiren sollte, 
unter demselben angelegt. Man erhielt auf diese Weise volistandige 
Ischamie, ohne jede Quetschung der Nerven. (Der Autor iiberzeugte sich 
davon unter dem Mikroskop.) Die auf diese Weise erhaltene 
Ischamie war stets von Paralyse begleitet, doch fehlte jede 
Contractur. 


Allen soeben dargelegten Fallen der Ischamischen Paralyse haftet, 
was ihre Symptomatologie und Diagnostik anbetrifft, eine gewisse Un- 
klarheit an. 

Wahrend die einen Autoren als typisch ffir die ischamische 
Paralyse eine mit derEinbusse der willkiirlichen Bewegungs- 
moglichkeit zeitlich zusammenfallende oder auf diese sogleich 
folgende Contractur betrachten (Volkmann), haben andere die 


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328 


XXI. Lapinsky 


Contractor erst viele Stunden nach eingetretener Paralyse (Leser, 
Versuche an Kaninchen) beobachtet, oder auch ganz schlaffe Paralyse 
(Bernhardt) ohne jede Contractur bemerkt (Leser, Versuche an 
Froschen). 

Nach Ueberzeugung der einen Autoren muss man das typische 
Merkmal ischamischer Paralyse in dem vollsandig normalen Ver- 
halten des Nervensys tern s sehen(Volkmann, Leser, Hil debran dt, 
Henle, Niesen), doch wurden in vielen Fallen der sogenannten ischa- 
mischen Paralyse Storungen der Sensibilitat bis zu vollstandigem Er- 
loschen der letzteren constatirt(Sonnenkalb, Niesen, Neugebauer, 
Leser, Davidsohn), ebenso wurde das Schwinden der Reflexe ge- 
sehen (Fleury, Sternberg); es war auch die elektrische Reaction 
der Nerven geandert gefunden. (Leser, Niesen, Neugebauer.) 

Ganz unverstandlich scheint deshalb die Behauptung, dass die 
ischamischen Lahm ungen rein myogenen Charakter haben und dass das 
Nervensystem bei Entstehung derselben gar keine Rolle spiele, resp. 
keine Schadigung erleiden, jedenfalls werden die Beweise daftir in 
Form z. B. mikroskopischer Untersuchungen der Nerven ischamischer 
Extremitat nicht erbracht. 


H. 

Indem ich meinerseits das Bild der ischamischen Paralyse beob- 
achten wollte, habe ich versucht, eine locale Ischamie zu erzeugen, 
ohne dabei irgend einen Druck auf die Nervenfasern oder 
Muskelgruppen des gegebenen Korpertheiles anzuwenden. 

Zu diesem Zwecke sind bei zehn Kaninchen die Hauptarterien des 
Hinterbeinesunterbunden worden und in derganzennachfolgendenPeriode 
wurde auf die Temperatur der Versuchsextremitat, auf die Veriinderung 
ihrer Bewegungsvermogen, ihrer Sensibilitat, Reflexe, elektrischer 
Erregbarkeit und des Muskeltonus geacbtet und zwar nicht nur zu der 
Zeit der Entstehung der Ischamie oder auf der Hohe der letzteren, 
sondem auch nach der Entwicklung des collateralen Blutkreislaufes. 

Es wurden alien zehn Thieren die a. iliaca communis sinistra (gleich 
unter d. bifurcatio), dabei flinf Thieren, ausserdem noch die kleinen 
Arterien der Bauchwand (a. epigastrica inf. u. and.) unterbunden. Auf 
diese Weise konnte locale Ischamie des Beines hervorgerufen werden, 
ohne dass dabei die Nerven und Muskeln einem Drucke oder einer 
andersartigen Lasion ausgesetzt waren. 

Bei einem Kaninchen blieb der Collateralkreislauf ira Laufe von 
funf Tagen aus, in flinf Fallen bildete sich derselbe erst am Ende des 
vierten Tages; in den librigen vier Fallen war die Circulation am Ende 
des zweiten Tages zum Theile schon hergestellt. 


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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc. 


329 


Das erste Thier wurde (mit tiefer Aethernarcose) am Ende des 
fftnften Tages nach Anlegen der Ligatur getodtet; alle librigen Kaninchen 
blieben am Leben eine Woche bis vierzebn Tage lang. 


In sechs Fallen, wo die complete Ischamie vier bis fiinf Tage gedauert 
hatte, erwiesen sich die Erscheinungen als vollstandig analog. 

Znr besseren Anschaulichkeit frihre ich hier das iiber die Beobach- 
tnngen an einem (IV) Thiere gefuhrte Protokoll an. 

12UhrMittags: An den Operationstisch wird ein grosses graues 
Kaninchen (Mannchen) gebunden and mit Aether narcotisirt. Die beiden 
hinteren Extremitaten sind an der Stelle, wo die befestigenden Schniire sie 
umfassen, mit einer dicken Wattenschicht bedeckt worden. 

12 Uhr 20 Minnten: Nachdem die Bauchhante nnd -wande durch- 
schnitten und die Diinndarmschlingen auseinandergebreitet waren, wurde 
die a. iliaca communis sinistra in der Nahe der Bifurcatio aortae gefunden 
und mit einem aseptischen Seidenfaden unterbunden. Mit einer ahnlichen 
Ligatur wurde die a. epigastrica inferior und die kleinen Arterien der 
Bauchwande und der Haut in der linken regio hypogastrica unterbunden. 
Die Wunde wurde dann schichtweise zusammengenaht. Die Hautschnitt 
wurde dann sorgfaitig desinficirt und mit einem Marlistreifen mit fliissigem 
Colodium verklebt. 

1 Uhr: Das Thier ist wach. 

1 Uhr 10 Minuten: Die linke Extremitat ist kalt. Der Puls derselben 
ist nicht zu fuhlen. Hob man das Thier an den Ohren in die H8he, so hing 
das linke Bein schlaff herunter. Die passiven Bewegungen sind in alien 
Gelenken des betroffenen Beines frei. Willkurliche Bewegungen kSnnen 
nur mit den Oberschenkelmuskeln ausgefuhrt werden, doch sind dieselben 
ausserst schwach. Beim Laufen schleppt das Thier die Extremitat 
hinter sich her; die Pfote beriihrt hierbei die Erde nicht allein mit der 
Sohlenseite, sondern mit der Dorsalseite. Die Druck- und Stichschmerz- 
haftigkeit hat in der Pfote ganzlich aufgehort. Der Patellarreflex und 
Keflex beim Stechen der Sohle und beim Reizen (Kratzen) durch eine 
Nadel in der Zwischenzehenspalte ist erloschen. Den Aehillessehnenreflex 
erwahnen wir nicht, da ein solcher auch beim vollstandig normalen Kaninchen 
schwer auszulbsen ist. Die nicht operirte Extremitat zeigt keine Ab- 
weichungen von der Norm. 


Faradischer Strom. (Schlitten-Apparat Du Bois Reymond. 
2 Elemente LeclanchS v. Hirschmann. Elektrod. 10 cqm. 


Linke hintere Extremitat. 


N. cruralis 
N. obturatorius 
N. peroneus 
N. tibialis 
M. tibialis ant. 
M. quadriceps 
M. M. adductores 


12,0 cm. R. A. 

12,0 „ „ 

10,0 „ 

13,0 „ „ 

11,0 „ „ 

12,5 „ 

12,5 „ „ 


Rechte hintere Extremitat. 
13,0 cm. R. A. 
12,5 n „ 

13,0 „ „ 

13,0 „ „ 

13,0 „ „ 

12,0 „ „ 

12,0 „ „ 


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330 


XXI. Lapinsky 


Galvanischer Strom. (Hirschmann’s Maschine 
40 Element. Rheostat.) 

Das linke Bein. Das rechte Bein. 


N. cruralis 

3,0 

M. A. 

si 

4,0 

M. A.IN 

N. obturat 

3,0 

ii 

GO 

3,5 

’ H 

N. peroneus 

4,0 

ii 

< 

1,5 

„ l< 

N. tibialis 

2,0 

M 

A 

2,5 

„ )f\ 

M. tibialis ant 

2,0 

11 

S3 

1,5 

ii Isi 

M. quadriceps 

2,5 

11 

GO 

2,5 

» 1^ 

M. M. adductores 

3,0 

11 

w 

3,0 

„ 

4 Uhr Nachmittags desselben Tages: 

Die hintere Extremitat 


der operirten Seite ist kalt and befindet sich im Zustande schlaffer Parese. 
Die passive Beweglichkeit derselben ist vollst&ndig unbehindert. Es ist 
keine Contractur vorhanden. Die Mnskelgruppen sind vollkommen schlaff; 
weich, ihr Tonus ist aufgehoben. Das Schmerzgefuhl and der Dracksinn 
sind vollstandig erloscben. Ebenso fehlten der Patellarreflex, der Reflex 
bei Reizung mit der Nadel in der Zwischenzehenspalte and der Stichreflex 
der Sohle. Die nicht operirte Extremit&t zeigt keine Abweichnngen von 
der Norm. Die elektrische Reaction der Muskeln und Nerven beider 
Extremitaten ist in demselben Zustande, in dem sie vor drei Stunden war. 

8 Ubr Morgens am andernTage: Der Fuss, der Unterschenkel und der 
nntere Theil des Oberschenkels der linken Extremist sind ganz kalt, doch nahert 
sich die Temperatur in der regio glutaea, naher zum Kreuze und in der plica 
inguinalis der Norm. Die Pulswelle ist nirgends zu fuhlen. Das willkiirliche 
Bewegungsvermogen ist in dieser Extremitat nach wie vor unmoglich; das Thier 
zieht das Bein hinter sich her und beriihrt die Erde mit der Dorsalseite der Pfote. 

Die passiven Bewegungen aller Gelenke sind frei und das linke Bein 
hangt schlaff herunter, wenn das Thier an den Ohren in die Hbhe gehoben 
wird. Einzelne Muskeln sind schlaff und weich, ihr Tonus ist verloren 
gegangen. Die Druck- und Schmerzhaftigkeit ist nach wie vor erloschen, 
ebenso sind die Reflexe — der Patellarreflex, der Stichreflex, und der 
Reflex bei Reizung der Zwischenzehenspalten — geschwunden. 

Die willkiirliche und passive Beweglichkeit der normalen rechten 
hinteren Extremitat weicht nicht von der Norm ab. Die Druck- und Stich- 
schmerzhaftigkeit ist sehr erhbht. Der Patellarreflex und der Reflex bei Reizung 
der Zehenspalten ist auch erhoht. Das Beklopfen mit einem Hammerchen auf 
die Patellarsehne des linken Beines erzeugt eine clonische Con¬ 
traction des m. quadriceps des rechten Beines. (Gekreuzter Reflex.) 


N. cruralis 
N. obturat 
N. peroneus bei 
N. tibialis 
M. quadriceps 
M. adductores 
M. tibialis ant. 


Elektrische Erregbarkeit. 
Faradischer Strom. 

Das linke Bein. 


6,0 cm. R. A. schwache Contraction 


6,0 

6,0 

10,0 

6,0 

6,0 

6,0 


•} 


” keine Contraction 

„ schwache Contraction 
„ etwas schwache Contr. 

” keine Contraction 


Das rechte Bein. 
13,0 cm. R. A.^ 
12,0 „ 

13,0 „ 

13,0 „ 

12,0 „ 

12,0 „ 

13,0 „ 


a 

© 

O 

© 

•a 


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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc. 
Galvanischer Strom. 


331 


N. cmralis 
N. obturat. 

N. peroneus 
N. tibialis 
M. quadriceps 
M. adductores 
M. tibialis ant. 
M. suralis 


10,0 M. A. K. S. Z. > A. S. Z. Schwache Contr. 3,5 

10 0 ” } ^° ntrac ^ on j’q 

4,0 „ K. S. Z. > A. S. Z. Schwache Contr. 2,0 

10,0 „ Schwache Contr. K. S. Z. > A. S. Z. 4,0 

it 1 a ” \ keine Contraction 

1^»0 ,, J 2,5 

3,0 „ Schwache Contr. K. S. Z. > A. S. Z. 2,0 


M. A.\ 


csa 


»» 


u 

ii 


GO 

< 

■A 

N 

GO 

ui 


Am dritten Tage nach vollzogener Operation 8 Uhr Morgens: 
Die linke hintere Extremist ist ebenso kalt wie am Tage vorher. Die Pulswelle 
ist nirgends zu fuhlen. Die wilikiirlichen Bewegnngen sind nach wie vor 
unmoglich. Die passive Beweglichkeit ist vollstandig frei. Es ist keine Con- 
tractur, auch keine Rigiditat zu bemerken. Die Muskeln sind weich. Druck- 
und Stichschmerzhaftigkeit fehlt. Ebenso ist es nicht moglich, den Stichreflex 
der Sohle und den Reizreflex der Zehenspalte wie den Patellarreflex auszulosen. 


Elektrische Erregbarkeit. 
Faradischer. Strom. 


Das linke Bein. Das rechte Bein. 


N. cruralis 

6,0 

cm. R. A.| 

12,0 

cm. 

R. A. 

4J 

O 

N. obturat. 

6,0 

„ „ > keine Contraction 

11,0 

ii 

ii 

2 

N. peroneus 

6,0 

ii ii ) 

12,5 

ii 

ii 

a 

O 

N. tibialis 

8,0 

„ „ Schwache Contraction 

12,0 

ii 

ii 

O 

M. quadriceps 

6,0 

n ii I 

10,0 

ii 

ii 


M. M. adductores 

6,0 

„ „ i keine Contraction 

10,0 

ii 

r 

s 

1-4 

M. tibialis antic. 

6,0 

)i ii ) 

10,0 

ii 

ii 

O 



Galvanischer Strom. 





N. cruralis 

15,0 M. A.l 


3,5 

M. A. 


N. obturat 

15,0 

„ } keine Contraction 


3,5 

11 

:0 

N. peroneus 

15,0 

.. ) 


1,5 

11 


N. tibilis 

5,0 

„ K. S. Z. >> A. S. Z. etwas trage 

3,0 

11 

09 



Contraction 



£ 

, 09 

M. quadriceps 

15,0 

» 1 


4,0 

11 

e 

M. M. adductores 

15,0 

„ } keine Contraction 


4,0 

11 

'O 

+3 

M. tibilis antic. 

15,0 

» 


2,5 

11 

0 

ca 

M. suralis 

4,0 

„ K. S. Z. >• A. S. Z. Contraction 

2,5 

11 

•4a 

a 



etwas trage. 



0 

0 


Vierter Tag 8 Uhr Morgens: Der Fuss und der Unterschenkel 
der linken Extremitat sind ebenso kalt wie am vorhergehenden Tage. Die 
Temperatur der regio glutaea links ist hoher ala rechts. Die passiven 
Bewegnngen sind vollkommen frei. Muskeltonus ist aufgehoben. Die 
active Beweglichkeit, die Sensibilitat, die Reflexe und die elektrische Er¬ 
regbarkeit des linken Beines sind ebenso geschwunden wie am Tage vorher. 


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332 


XXI. Lapinsky 


Die Sensibilit&t und die Reflexe der rechten Extremit&t sind erhoht 
Das Ph&nomen des gekreuzten Reflexes (vom lig. patellae der 
linken Seite auf Patellarreflex rechter Seite) ist nicht mehr 
vorhanden. 

Fiinfter Tag: Die Temperatur der linken Extremit&t ist hbher als 
am Tage vorher und n&hert sich der der rechten. Die willkiirliche und 
passive Beweglichkeit, die Sensibilit&t, die Reflexe und die elektrischc Er- 
regbarkeit sind erloschen. 

Die rechte hintere Extremitat ist weniger hyper&sthetisch als am 
Tage zuvor. 

AchterTag: Die Temperatur beider Extremit&ten ist vollst&ndig gleich. 

Die willkiirlicken und passiven Bewegungen, die Sensibilit&t, die 
Reflexe und die elektrische Erregbarkeit des linken Beines bleiben in 
demselben Zustand wie am vierten Tag. 

Die Beweglichkeit, sowie die Sensibilit&t und die Reflexe des rechten 
Beines weichen nicht von der Norm ab. 

Z e h n t e r T a g: Die Temperatur beider Extrem it&ten ist vollst&ndig gleich. 

Die willkiirliche Beweglichkeit des linken Beines ist nach wie vor 
geschwunden. Ihre passive Beweglichkeit ist vollkommen frei: es ist keine 
Contractur, auch keine Rigidit&t vorhanden. Der Stichreflex der Sohle, 
sowie der Reizreflex der Zehenspalte links kflnnen nicht ausgelost werden: 
dasselbe gilt vom Patellarreflex. Die Stich- und Druckschmerzhaftigkeit 
desselben Beines ist geschwunden. 

Die passive und willkiirliche Beweglichkeit des rechten Beines, sowie 
die Sensibilit&t und die Reflexe (Haut- und Sehnenreflexe) desselben weichen 
nicht von der Norm ab. 

Elektrische Erregbarkeit. 

Faradischer Strom. 

Das linke Bein. Das rechte Bein. 


N. cruralis 

6,0 

cm. R. A.j 

12,0 

cm. 

R. A. 

*3 

P 

N. obturat. 

6,0 

„ „ } keine Contraction 

11,0 

11 

TJ 

e& 

N. peroneus 

6,0 

» »> J 

13,0 

11 

» 

S3 

O 

N. tibialis 

10,0 

„ „ Schwache Contraction 

12,0 

ii 

J 1 

O 

© 

M. quadriceps 

6,0 

V 11 | 

10,0 

r 

11 

*5 

M. tibialis ant. 

6,0 

„ „ \ Keine Contraction 

12,5 

V 

11 

c 

M. M. adductores 

6,0 

„ „ J 

9,0 

>» 

11 




Galvanischer Strom. 





N. cruralis 

15 

M. A.j 


3,0 

M. A. 


N. obturat. 

15 

„ \ Keine Contraction 


3,5 

11 

CS3 

N. peroneus 

15 

„ 1 


1.0 

11 

CO 

N. tibialis 

6 

„ K. S. Z. < A. S. Z. 


1,5 

11 

^ * 

M. quadriceps 

15 

” ) 


3,o 

11 

7 \ 

si 

M. tibialis ant. 

15 

„ > Keine Contraction 


2,5 

11 

QQ 

M. M. adductores 

15 

, 


2.0 

11 


M. suralis 

4,5 „ K. S. Z. < A. S. Z. 


1,5 

11 



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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc. 


333 


Eine Stunde darauf wurde das Thier durch Aethernarcose getodtet. 

Bei der Section zeigt sich die linke hintere Extremist sehr blass. A. cru- 
ralis ist leer. V. crnralis leicht gefdllt. Die der A. comes ischii entsprechende 
Vene ist sehr gefiillt und zieht sich vom Unterschenkel und der fossa pa- 
tellaris fiber die hintere Flfiche des Oberschenkels und weiter hinauf. Die 
N. N. cruralis und obturatorius sind auf der Hohe des Unterschenkels etwas 
blass und sprfide. N. tibialis und peroneus zeigen keine makroskopische 
Verfinderungen. Sttickchen aller dieser Nerven von der linken und rechten 
Extremitat werden in 1 Proc. Osmiumsaure und in Flemming’scher Flfissig- 
keit fixirt. Stfickchen des M. M. obturatorius, quadriceps und tibialis anticus 
werden in Spiritus gehfirtet. 


Die mikroskopische Untersuchung ergab Folgendes: 

Schwache Vergrfisserung. Langsschnitt. N. obturatorius. Die Farbung 
mit Osmiumsaure ist im Allgemeinen sehr blass. Einige Fasern sind 
ganz dfinn und fast ungeffirbt. Die Parallelcontur anderer, dickerer und 
besser geffirbter Fasern ist durch einzelne spindelfdrmige, ganz unregel- 
mfissige Auftreibungen durchbrochen. 

Bei starker Vergrosserung zeigt ihre Myelinscheide tiberall das Bild 
des Zerfalles in grossere und kleinere Schollen (a. b. s. Tafel V, Zeichn. 
Nr. 1); stellenweise ist die Myelinscheide verschwunden. 

Die Axencylinder (Farbung mit Saffranin) sind an einigen Stellen gut, 
meistens aber matt Oder gar nicht (Zeichn. Nr. 1 c) gefarbt, Auf dem 
Querschnitte ist die Zahl der von Osmiumsaure gut geffirbten Fasern sehr 
gering (s. Zeichnung Nr. 2 auf Tafel V). 

An Saffraninpraparaten sind die Axencylinder tiberhaupt sehr schwer 
zu unterscheiden. Einige sind stark angeschwollen. Epi-, Peri- und Endo- 
neurium scheinen nicht verfindert zu sein. Nur hier und da sehen die 
Kerne des Epi- und Perineurium etwas angeschwollen aus. Die Zahl dieser 
Kerne ist nicht vermehrt. Einzelne Bindegewebsfasern der Nervenscheiden 
erscheinen etwas angeschwollen und leicht trfib; meistens aber sehen sie 
vollkommen normal aus. Es ist sehr moglich anzunehmen, dass der Alkohol, 
in welchem die Praparate erhartet warden, die gequollenen Fasern ent- 
wassert und in einen dem normalen ahnlichen Zustand gebracht hat. 

Vasa Nervorum unterscheiden sich vom normalen Zustande durch nichts 
und sind meistentheils leer; nur hier und da trifft man einzelne Blut- 
kfirperchen in denselben. 

Ebenso sind die N. N. cruralis und peroneus degenerirt. 

Weniger ausgepragt sind die Veranderungen am N. tibialis. Bei 
schwacher Vefgrfisserung. Dieser Nerv erscheint auf dem Querschnitte 
vollkommen normal. Auf dem Langsschnitte sind seine Fasern gut geffirbt. 
Sie haben eine regelmassige Contur und erscheinen bei geringer Ver- 
grfisserung auch vollkommen normal. Eine starkere Vergrosserung lfisst 
jedoch im Myelin kleine, rundliche Krumchen und einen Zerfall in einzelne, 
mehr oder weniger unregelmassige Korner erkennen. Die Axencylinder 
sind ziemlich gut gefarbt und zeigen wenig Auftreibungen. Die Kerne der 
Schwann’schen Scheide erscheinen der Zahl nach gar nicht vermehrt; ihr 
Volumen ist etwas vergrossert, doch ist die Schwellung dieser Kerne im 
Vergleich mit denselben an den N. N. beroreus obturatorius durchaus gering. 

Die Muskelfasern zeigen auf dem Querschnitt eine leicht gerundete 


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334 


XXI. Lapinsky 


Contur, sind etwas verdickt, resp. gequollen. Ihre Kerne sind gequollen 
und matt gefftrbt; ihre Zahl ist offenbar unverandert. Auf den Langs- 
schnitten ist die Contur einzelner Fasern wellig. Einige von ihnen zeigen 
eine so deutliche Langsstreifung, dass sie stellenweise in einzelne Fibrillen 
zu zerfallen erscheinen. Die Querstreifung einzelner Muskelfasern ist sehr 
deutlich, die anderer weniger deutlich ausgepragt. Eine grosse Zahl der 
Muskelfasern sieht aber ganz normal aus. 


Die iiber die fiinf anderen Thiere, bei denen der Collateralkreislauf 
sich erst am Ende des 4. Tages einstellte, gefiihrten Protokolle stimmen 
fast vollstandig mit dem eben angefiihrten iiberein. Der N. tibialis war 
auch hier am wenigsten verfindert. Auch der Befund bei mikroskopischer 
Untersuchung war, was die Nerven und Muskeln anbelangt, derselbe. 

Von diesen funf Fallen wurden am 6. Tage, nach vollzogener Operation, 
einem Kaninchen (unter leichter Narkose) die linken N. N. cruralis, obtu- 
ratorius, peroneus, M. M. quadriceps, adductores und tibialis anticus bloss 
gelegt. Die Reizung dieser N. N. und M. M. hatte im Laufe der vorhergehenden 
Tage selbst bei starken Stromen (6,0 cm Rollenabstand beim faradischen 
und 15 M. A. beim galvanischen Strome) nicht die geringste Contraction 
erzeugt. 

Jetzt wurde der N. peroneus durchschnitten und sein peripherischer 
Stumpf mit dem elektrischen Strom der friiheren Starke gereizt; wir er- 
hielten wieder die friiheren negativen Resultate. Ebenso negativ war auch 
die directe Reizung der M. m. tibialis anticus, adductores et quadriceps. 
Durch die Reizung des centralen Stumpfes N. peronei im unteren Drittel 
des Oberschenkels konnten wir eine Reihe von Schmerzempfindungen er- 
zeugen: Das Kaninchen reagirte iiberhaupt und gab Laute von sich. 

Aehnliche Reizung der peripherischen Stiimpfe der N. N. obturatoriua 
und cruralis erzeugte keine Contraction und eine solche der centralen 
Stiimpfe liess beim Kaninchen keine Schmerzempfindungen bemerken. 

Bei zwei anderen Kaninchen erzeugte ahnliche am 8. bis 10. Tage 
vorgenommene Reizung mit elektrischen StrSmen der centralen Theile der 
blossgelegten N. N. peronei, obturatorius und cruralis keine Schmerz¬ 
empfindungen und eine solche der peripherischen Stiimpfe derselben Nerven 
sowie auch directe Reizung der M. M. quadriceps, tibialis anticus, adduc¬ 
tores rief keine Contractionen hervor. 


Anders waren die Erscheinungen in vier Fallen, wo die Ischfimie von 
kurzer Dauer war und der Collateralkreislauf sich schon zu Ende der ersten 
30 Stunden bildete. Diese schnelle Wiederherstellung der Circulation wurde 
nftmlich in den Fallen beobachtet, in denen die a. hypogastrica inferior sinistra 
und die anderen Zweige der Bauchwfinde nicht unterbunden worden waren. 

Eine Stunde nach der Operation war die linke operirte Extremist 
kalt. Die willkiirliche Beweglichkeit in derselben ist geschwunden. Die 
passiven Bewegungen waren dagegen vollkommen frei: keine Contractor, keine 
Muskelrigiditat. Die Sensibilitat ist ganzlich erloschen; dasselbe gilt vom 
Patellarreflex, vom Stichreflex der Sohle und schliesslich vom Reizreflexe 
der Zehenspalte. 

Die directe wie indirecte elektrische Erregbarkeit ist im Vergleiche 
mit dem normalen Beine erheblich gesunken. 


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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc. 


335 


Nach 4 Stunden. Die Temperatur des linken Beines ist nach wie vor 
stark herabgesetzt. Ihr Puls fehlt. Die wilikurlichen Bewegungen sind 
geschwunden, die passive vollkommen unbehindert. Die Sensibilitat und die 
friiher erwfthnten Reflexe sind nach wie vor erloschen. Die elektrische 
Erregbarkeit der Nerven und Muskeln erweist sich fur beide Strome herab¬ 
gesetzt. Bei Reizung beider Extremitaten erfordert das Versuchsbein einen 
starkeren Strom, so dass sich fur den faradischen ein Unterschied von 2 cm 
Rollenabstand, fur den galvanischen ein Unterschied von 1—1 J / 2 M. A. zeigt. 

Das rechte hintere Bein zeigt keine Abweichungen von der Norm. 

Nach 8—20 Stunden. Die hintere linke Extremist ist kalt. Der 
Puls ist nicht zu fiihlen. Die passive und willkiirliche Beweglichkeit, die 
Sensibilitat und die Reflexe haben ihren friiheren Status bewahrt. Die 
elektrische Erregbarkeit ist in alien Nerven und Muskeln der operirten 
Extremist auf 2—3 cm Rollenabstand fur den faradischen und 1V 2 —2 M. A. 
fur den galvanischen Strom herabgesetzt. 

Nach 28—30 Stunden. Die Temperatur des experimentirten Beines 
n&hert sich der Norm. Im Stande der passiven und wilikurlichen Beweg¬ 
lichkeit ist keine neue Ver&nderung eingetreten. Die Sensibilitat ist offenbar 
besser geworden. Der Patellarreflex sowie der Reizreflex der Zehenspalte 
ist nach wie vor erloschen. Die directe sowie indirecte elektrische Erreg¬ 
barkeit verharrt auf dem friiheren gesunkenen Niveau, in einigen Fallen 
aber, am oftesten im N. cruralis und N. tibialis steigt sie jedoch iiber die 
Erregbarkeit der rechten normalen Extremitat. 

Dritter Tag. Die Temperatur des linken Beines gleicht der des 
rechten oder uberragt sie noch. Der Puls am liuken Fusse ist nicht zu 
fiihlen. Eine geringgradige, willkiirliche Beweglichkeit links lasst sich 
nur an den M. M. glutaeis bemerken. Die passive Beweglichkeit links ist 
in alien Gelenken vollkommen frei. Die Sensibilitat des Versuchsbeines ist 
gesteigert. Die Haut- und Sehnenreflexe desselben konnen zwar ausgelftst 
werden, doch in sehr schwachem Grade. Die elektrische Erregbarkeit der 
Nerven und Muskeln des Experimentirbeines ist an den N. N. cruralis und 
tibialis erhoht. Die Erregbarkeit der N. N. obturatorius und peroneus ist zwar 
niedriger als an dem vorhergehenden Tage, doch ist sie nicht vollig erloschen. 

Die Beweglichkeit, Sensibilitat und elektrische Erregbarkeit des nicht 
operirten Beines ist normal. Der Patellar- und der Stichreflex dieses Beines 
ist erhflht. 

Fiinfter Tag. Die Temperatur ist in beiden Extremitaten gleich. 
Der Puls ist im operirten Beine nicht zu fiihlen. Diese Extremitat 
befindet sich in erheblicher Parese. Eine unbed eutende willkiirliche Be¬ 
weglichkeit ist nur an den Muskeln des Oberschenkels zu selien. Die 
passive Beweglichkeit, die Sensibilitat, die elektrische Reaction und die 
Reflexe befinden sich in demselben Status, wie am dritten Tage. 

Am 8.—9. Tage. Die Temperatur ist in beiden Extremitaten gleich. 
Der Puls ist im experimentirten linken Beine nicht zu fiihlen. Die will¬ 
kiirliche Beweglichkeit dieses Beines ist ein wenig paretisch. Die Sen¬ 
sibilitat und die Reflexe sind etwas erhoht. Im Stande der passiven 
Beweglichkeit und der elektrischen Erregbarkeit ist keine neue Aenderung 
eingetreten. 

Zwischen dem 10.—14. Tage tfldteten wir unsere Thiere mittels 
Aethemarcose. 


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336 


XXI. Lapinsky 


Bei der Section sahen wir eine erhebliche Bl&sse und eine geringe 
Atrophie der Muskelmassen des Versuchsbeines. Die A. cruralis war leer. 
Alle sichtbaren Venen waren etwas gefiillt. Die Nervenst&mme zeigten bei 
Besichtigung mit unbewaffnetem Auge keine besonderen Ver&nderungen. Fur 
die mikro8kopische Untersuchung warden Stiickchen von den N. N. cruralis, 
peroneus, tibialis, obturatorius genommen und theils in 1 proc. Osmium- 
s&ure, Flemming’s Mischung, theils in 96proc. Spiritus gesetzt. 

Unter dem Mikroskop erwies sich ein Theil der Nervenfasern anf 
den L&ngsschnitten blass gef&rbt und verschm&lert. Ihre Contur war 
stellenweise unregelm&ssig und spindelformig aufgetrieben. Das Myelin 
war stellenweise kornig, stellenweise enthielt es die Kliimpchen des Zerfalles 
(8. Zeichnung Nr. 3 auf Tafel V). Die Zahl der Schwan’schen Kerne war 
nicht vermehrt. Einzelne Kerne hatten an Volumen etwas zugenommen — 
ihre F&rbung war etwas diffus. Die Axencylinder stellenweise varicos, 
manchmal zerrissen, sehr schwach gefHrbt. 

Auf dem Querschnitte war die Zahl der gutgeschw&rzten Fasern im 
Vergleiche mit der Norm etwas vermindert. Einzelne Axencylinder sind 
aufgequollen. Die Nervenscheiden sind nicht odematos, ihre Fasern sind 
nicht angeschwollen; ihre Kerne nicht vermehrt und sehen iiberhaupt ganz 
normal aus. 

Die Muskelfasern waren etwas verbreitert. Ihre Querconturen waren 
rundlich. Die Zahl der Kerne hatte etwas abgenommen. Die Ffcrbung 
der Kerne war nicht ganz scharf. Auf den L&ngsschnitten ist die Contur 
der Fasern wellig und unregelm&ssig. Die Querstreifung ist wenig aus- 
gepr&gt, die Lftngsstreifung dagegen so stark, dass man in einigen Fasern 
von fibrill&rer Auflockerung oder Zerfall sprechen kann. 


Recapitulieren wir unsere Beobachtungen, so sehen wir, dass eine 
Unterbindung der A. a. iliaca et hypogastrica eine Ischamie der hinteren 
Extremitat nach sich zieht, welche eine Zeit dauert und mit einer Reihe 
von verschiedenen Beschadigungen des betroffenen Korpergebietes ein- 
hergeht. 

Das iscbamische Bein wird plotzlich kalt und gelahmt. Schon 
im Laufe der ersten Stunden der Ischamie erlischt, die willkiirliche 
Beweglichkeit der Versuchsextremitat. 

Die passiven Bewegungen werden ganz frei und unbehindert, so 
dass das Bein in schlaffer Paralyse verharrt. 

Die Sensibilitat fiir BerQhrung und Druck und die Stichschmerz- 
haftigkeit schwinden schon zu Ende der ersten Stunde nach Unter¬ 
bindung der Arterie. 

Ebenso schnell gehen auch die Haut- und Sehnenreflexe verloren. 

Die elektrische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln sinkt schon 
am Ende der ersten Stunde. 

Die weitere Entwicklung dieser Erscheinungen hangt von der 
Schnelligkeit der Bildung eines neuen Collateralkreislaufes ab. 


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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc. 


337 


Im Falle, wenn sich der Collateralkreislauf spater ungefahr 4—5 
Tage nach UnterbinduDg der Arterie bildet, bleiben die Haut- und 
Sehnenreflexe, die willktlrliche Beweglichkeit und Sensibilitat geschwun- 
den; die elektrische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln, indem sie 
immer mehr und mehr sinkt, ist schon am 4. Tage gewShnlich 
ganzlich erloschen, mit Ausnahme fftr den N. tibialis, der oft mehr oder 
weniger verschont bleibt. 

Der am 4.—5. Tage nach vollzogener Operation sich bildende Colle- 
ratialkreislauf ubt keinen grossen Einfluss auf die Besserung der patho- 
logischen Erscheinungen aus; in den ersten 5—6 Tagen der wieder- 
hergestellten Circulation, d. h. in den 9—11 Tagen nach vollzogener 
Operation bleibt die Extremitat nach wie vor in schlaffer Paralyse; 
ihre Sensibiltat, die Haut- und Sehnenreflexe, die elektrische Reaction 
einiger Nerven sind fortgesetzt erloschen. Der elektrische Strom, 
an freipaparirten Nervenstammen direct angelegt, ruft weder Muskel- 
contraction noch Schmerzempfindungen hervor (mit Ausnahme eines 
Falles, wo der N. peroneus noch die Schmerzenleitung besass). 

Bei der mikroskopischen Untersuchung werden in alien diesen 
Fallen ahnliche Erscheinungen beobachtet. Vasa Nervorum anderten 
sich gar nicht. Die Nervenscheiden sind nicht modificirt. Nur einzelne 
ihrer Kerne und Fasern sind etwas angeschwollen. Die Myelinscheiden 
der meisten Nervenfasem sind zerfallen. Axencylinder sind varicos, 
matt gefarbt, an einigen Stellen zerrissen. Die Schwan'schen Kerne 
sind stark aufgequollen, namlich da, wo die Nervenfasern am starksten 
angegriffen waren. Im Ganzen entwickelt sich eine starke Degeneration 
der Nerven in Form von parenchymatoser Neuritis gefunden. (Zeich. 1—2.) 

Bildet sich der Collateralkreislauf amEnde oder imLaufe der ersten 
dreisig bis vierzig Stunden nach Unterbindung der Arterie aus, so wird 
die willktlrliche Beweglichkeit allmahlich hergestellt, wenn auch nur 
in bestimmten Muskeln; doch stebt die Kraft ihrer Bewegungen hinter 
der der normalen Extremitat zurtick, so dass die ischamisch gewesene 
Extremitat sehr paretisch zuriickbleibt. Auch die Sensibilitat ist sehr 
bald wieder da, ebenso kommen die Haut- und Sehnenreflexe wieder 
zum Vorscbein; letztere sind in der ersten Zeit sogar erhoht, spater 
werden sie aber schwach. Die elektrische Erregbarkeit einiger ischa- 
mischer Nerven steigert sich, in den andern bleibt sie jedoch herab- 
gesetzt 

Durch die mikroskopiscbe Untersuchung der Nerven (am 10.—14. 
Tage nach vollzogener Operation) werden auch hier Zeichen einer un- 
erheblichen Degeneration festgestellt Die Zahl der gut geschwarzten 
Nerven ist klein. Das Myelin in ausseren Faserschichten ist kornig 


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338 


XXI. Lapinsky 


verandert und stellenweise in grosse und kleine Krtimchen zerfallen. 
Die Schwan’schen Kerne sind, was ihre Zahl und ihre Grosse an- 
betrifft, fast gar nicht verandert; nur ihre Farbung ist diffus. 

Der Muskelappart der ischamischen Extremitat war, wie schon be¬ 
merkt, ganz schlaff gelahmt. Eine ischamische Contractur wurde bei 
unserenVersuchsthieren kein einzigesMal bemerkt; ebenso blieb auch die 
erhohte Resistenz der anamischen Muskeln aus, deren einzelne Bfindel 
waren ganz weich, schlaff und schmerzlos: das ZusammendrtLcken der 
Muskelgruppen zeichnete sich wenigstens durch keine Empfindlichkeit 
aus. Eine Schwellung der Muskelgruppen wurde nicht beobachtet. Directe 
Reizung mit dem elektrischem Strome dieser ischamischen Muskeln zeigte 
eine herabgesetzte Erregbarkeit in den spateren Stadien der Lahmung. 

Unter dem Mikroskope wurden die Muskelfasem gequollen gefun- 
den. Stellenweise haben sie die Querstreifung verloren. Ihre Sarcolemm- 
keme waren angeschwollen, trtibe und blass gefarbi Stellenweise sahen 
aber die Muskeln ganz normal aus. Solche Verander ungen waren bei 
kurzer Dauer der Ischamie so wie nach langeren Bestehen derselben 
ganz gleich ausgepragt. 

Sehr wichtig sind in dem beschriebenen Bilde die frtihen Lahmungs- 
erscheinungen. Schon nach einer Stunde finden wir alle klinischen 
Zeichen derselben, wieParese, Anasthesie, Erloschensein der Reflexe u.s. w. 
scharf ausgepragt 

Was die Parese resp. Paralyse der Extremitat anbetrifft, so ist 
eine solche aus der localen Schmerzhaftigkeit des Beines und durch 
den Wunsch des Thieres, dasselbe zu schonen, sehr schwer zu erklaren. 
Bei einer solchen Voraussetzung hatte man ein actives Heranziehen 
der Extremitat und zwar so, dass sie den Boden nicht berdhrte, er- 
warten mtissen. In Wirklichkeit sehen wir ein schlaffes Herabhangen 
der Extremitat, die ausserdem w ah rend der ganzen Zeit am Boden 
geschleift wird. 

Es ist auch schwierig, die Deutung zuzulassen, als ob die Parese 
der Extremitat in der ersten Stunde der Lahmung, von den Eruahrungs- 
storungen der Muskeln herrtihre: die directe Reizung derselben mit 
dem elektrischen Strom in den ersten Stunden nach Unterbindung der 
Arterie zeigt noch ihre normale Fahigkeit zur Contraction. Wir hatten 
auch keine Zeichen von der Seite der Muskeln, welche auf eine acute 
Myositis in der ischamischen Extremitat hinwiesen. Es war keine 
Schwellung da; es sind keine Resistenzvermehrung der Muskelgruppen, 
keine Schmerzhaftigkeit beim Drucke und Contractur weder im Anfange 
der Lahmung noch spater bemerkt worden. 


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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc. 339 

Es ist anderseits sehr nattirlich, die frflhe Parese durch die 
Functionsstorang der ischamischen Nervenstamme selbst zu erklaren. 
Dafur sprechen der Verlust des Muskeltonus, die Weichheit und 
Schlaffheit der Musculatur, was gewohnlich bei einer Stoning des 
peripherischen Neurons beobachtet wird. Ausserdem bestatigen diese 
Voraussetzung auch die fruhe Einbusse des Aufnahme- und Leitungs- 
vermogens von Druck-, Beriihrung- und Schmerzempfindungen, Schliess- 
lich das Schwinden der Reflexe*) und das Sinken der elektrischen 
Erregbarkeit. 

Alle diese Momente zeigen auf eine fruhe Stoning der Nerven¬ 
stamme und lassen ruhig den Schluss zu, dass die Willensimpulse 


*) Bei Erwagung deB fruhen Verschwindens der Reflexe muss man folgen- 
des bemerken. 

Was die Patellarreflexe anbelangt, die schon 3 / 4 Stunde nach begonnener 
Ischamie nicht mehr ausgelost werden konnten, so grundet sich bekanntlich das 
regelmassige Zustandekommen der Sehnenreflexe auf das Zusammenwirken dreier 
Bestandtheile, namlich I) der Muskelsehne, welche den ?om Hammer aus- 
gegangenen Reiz in Form einer Vibration aufnimmt, H) einer sensiblen Nerven- 
bahn, welche den empfangenen Reiz dem Ruckenmark zufuhrt und HI) einer 
motorischen Bahn. Fur das richtige Zustandekommen des Sehnenreflexes eines 
bestimmten Muskels ist also ein normaler Zustand der sensiblen und motorischen 
Bahn des Reflexbogens und des Muskels selbst erforderlich. Dieser letzte Bestand- 
theil muss nicht allein seine Continuitat und Contractionsfahigkeit, sondem auch 
die Fahigkeit der Vibration durch den Schlag des seine Sehne treffenden Ham¬ 
mers besitzen. 

Was in unseren Fallen die Muskeln betrifft, so konnte man in An- 
betracht dessen, dass in den ersten Stunden nach vollzogener Operation ihre 
Contraction bei directer elektrischer Reizung ganz normal vor sich ging, ihre 
Muskelfasem nicht fur verandert halten. Wir wissen jedoch nicht, welchen Ein- 
fluss die Ischamie auf die Fahigkeit des Muskels, bei Beklopfen des Hammers 
in Vibration zu kommen, nehmen konnte. Diese Fahigkeit des Muskels ander¬ 
seits fur verloren zu halten, wahrend sein Contractionsvermogen fortbesteht, ist 
aber kein Grand vorhanden. 

Was den motorischen Theil des Reflexbogens anbelangt, so konnen wir das 
Lei tun gs vermbgen seiner Nervenfasern fur Reflexinnervationen ebenso behindert 
annehmen, wie auch diejenige fur Willensimpulse. Diese letzteren aber konnten 
schon in frilhester Periode der Ischamie nicht mehr geleitet werden. 

Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch die sensible Bahn des Reflexbogens 
urn diese Zeit schon geschadigt war; dafur wflrde die Einbusse des Schmerz- 
leitungsvermSgens sprechen. 

Weniger schwierig ist die Deutung des Hautreflexschwundes bei Stich 
und Reiz der Zehenspalte. Hier kann man auch mit mehr oder weniger Wahr- 
scheinlichkeit die motorische Reflexbahn fur geschadigt halten; von anderer 
Seite ist ja das Erloschen der Hautreflexe auch schon durch das Schwinden der 
Hautsensibilitat zu erklaren, da die Anasthesie bei unseren Thieren ja sehr fruh 
constatirt wurde. 

Deutsche Zeitscbr. f. Nervenheilkonde. XVII. Bd. 23 


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340 


XXL Lapinsky 


schon in der ersten Stunde durch die veranderten Nerven nicht 
geleitet werden konnen, in Folge dessen kommt diese frtthe Paralyse. 

Ueber die Veranderung der Nervenstamme geben uns unsere Be- 
obachtungen einen richtigen Aufschluss nur fttr die Periode, welche 
mehrere Tage nach der Operation folgt. 

Ueber das Verhalten der sensiblen Fasem konnten wir uns 
genaueres Urtheil verschaffen, indem wir die centralen Stumpfe 
der blossgelegten Nervenstamme unmittelbar reizten. Dabei erwies sich, 
wie schon erwahnt, nur bei einem Kaninchen (von dreien) der N. 
peroneus schmerzhaffc, die anderen Nerven dieses, wie der anderen 
Thiere, hatten ihre Empfindlichkeit resp. Schmerzleitungsvermogen 
vollkommen eingebtisst. 

Was die motorischen Nervenfasern betrifft,so hat schon Scheffer 25 ) 
behauptet, dass dieselben intact bleiben, wahrend nur ihre letzten 
Endigungen durchIschamie geschadigtwerden. DieseAnsichtScheffer’s 
grftndete sich auf der Thatsache, dass die direkte Reizbarkeit der Mu skein 
bei Ischamie in seinen Fallen grosser war, als die indirekte. 

Es ist jedoch sehr zweifelhaft, ob dieser Erwagung grosse Be- 
weiskrafk zuzuschreiben sei. Die neuesten physiologischen Unter- 
suchungen von A. Herzen 8b ) zeigen, dass die directe Muskelerregbarkeit 
in diesem Falle falsch aufgefasst worden ist und keineswegs durch 
frfiheres Absterben der motorischen Platten bedingt ist. Diese Er- 
scheinung steht nach der Ansicht Herzen's im Zusammenhang mit 
starker Herabsetzung directer Erregbarkeit und Leitungsfahigkeit des 
wegen Anamie absterbenden Nerven und hangt vom erhdhten Wider- 
stande desselben fQr elektrische Strome ab. In Folge dessen erfolgen 
die Contractionen des Muskels nur dann, wenn die Reizung des Nerven 
in nachster Nahe vom Muskel geschieht, dagegen bleiben sie aus, wenn 
sich eine solche Reizung in weiter Entfemung von dem Muskel voll- 
zieht, und dies darum, weil in Folge der herabgesetzten Erregbarkeit 
des Nerven die Reize nicht stark genug werden und der Nerv fttr 
gewohnliche physiologische Strome auf langeren Strecken vollkommen 
gesperrt erscheint. Ganz im Gegentheil geht aus Herzen’s Andeu- 
tungen hervor, dass die motorischen Endigungen der Nerven spater als 
andere Theile des Nervenstammes absterben. Anderseits bei einfacher 
Neuritis z. B., wo zuerst die Nervenfasern des Stammes und nicht die 
letzten motorischen Endigungen desselben degeneriren, kann sich die Ent- 
artungsreaction eben auch in starkem Sinken der indirecten Erregbarkeit 
und in weniger geschwachter directer Erregbarkeit zeigen. Die mikro- 
skopische Untersuchung zeigte in unseren Fallen schon am 6. Tage nach 
Unterbindung der Arteria eine so erhebliche Degeneration der Nerven¬ 
fasern, dass wir wirklich keinen triftigen Grund daftir haben, dieselben 


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Ueber acute ischamische Lahmung nebet Bemerkungen etc. 


341 


ftir geschGtzt yon einer schadlichen Beeinflussung seitens der Ischamie zu 
halten. Im Gegentheil konnte man daran glauben, dass diese Fasern 
schon in den ersten Stunden der Lahmung anatomisch mehr oder 
weniger geschadigt waren. 

Als nachstliegende Ursache aller dieser erwahnten Yeranderungen 
muss man, da die andem moglichen localen Bedingungen wie Trauma, 
Hautgangran, Geschwure u. s. w. fehlten, locale Ischamie betrachten. 

Die Wirkung der Ischamie ausserte sich unter anderem auch in 
Quellung verschiedener Gewebe. Wie gesagt, es sind Mukelfasem, ihre 
Kerne, die Kerne derSchwan'schenScheide und die der Nervenscheiden 
in gequollenem Zustande gefunden worden. Hochst wahrscheinlich 
sollten auch die Bindegewebsbestandtheile der Nervenscheide ange- 
schwollen sein, leider wurde diese Yermuthung mikroskopisch nicht 
ganz deutlich bewiesen. 

Wicbtig ist, dass auch die Schwan'schen Kerne angeschwollen 
waren. Ihre Verdickung ist, wie es die Beobachtungen von Meyer 
und Ranvier gezeigt haben, ein mechaniscbes Moment, welGhes auf 
Myelinscheide und Axencylinder zerstOrend wirkt. Die letzteren Gebilde 
werden, indem sie durch stark aufgetriebene Kerne zusammengedrttckt 
werden, zur Zerbrockelung und Unterbrechung gebracht, und gleich- 
zeitig wird auch die ganze Nervenfaser zerstort 

In unseren Beobachtungen ging offenbar die Schwellung der 
genannten Kerne der Unterbrechung des Axencylinders und dem Zerfall 
der Myelinscheide voraus. Jedenfalls wurden die Schwan'schen 
Kerne dort am starksten verdickt gesehen, wo auch Myelin und Axen¬ 
cylinder auf dem Wege zum Zerfall oder schon in zerbrockeltem Zu¬ 
stande in grossen und kleinen Schollen aufgefunden wurden, an anderen 
Stellen dagegen, wo diese Kerne nicht so stark verdickt waren, zeigten 
weder Myelinscheide noch Axencylinder ahnlich starke Veranderungen. 
Solche Befunde lassen den Schluss ziehen, dass diese Schwellung 
der Kerne, indem sie einerseits ein Symptom des Nervenfasernabsterbens 
und ein Zeichen der Reaction auf schadliche Einflttsse darstellt, ander- 
seits gleichzeitig auf eine ganz mechanische Weise den Verfall der 
Nervenfasern befordert. 

Es mag sein, dass der komige Zerfall der ausseren Schichten der 
Myelinscheide (bei kurzdauernder Ischamie) durch andere ebenso 
mechanische Momente hervorgerufen wird, namlich durch gleich- 
massiges Zusammendrticken der Nervenfasern bei zu vermuthendem 
Quellen und Anschwellen des Endo- und Perineurium. Es ist endlich 
sehr moglich, dass Ischamie auch direct auf die Nervenfasern gewirkt 
hat, da die Ernahrung der Nervenfasern bei Blutmangel sehr stark 
geschadigt werden soli. 

23* 


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342 


XXI. Lapinsky 


III. 

Die Resultate unserer Beobachtungen stimmen nicht mit denen 
deijenigen Autoren tiberein, die eine Ischamie durch Umschniirung 
der ganzen Extremitat en masse hervorgerufen haben. 


Beobachtungen von Volk- 
mann, Leser, Henle, Hilde- 
brandt, Petersen, Davidsohn, 
Sonnenkalb und anderen. 

Die Temperatur der Extre¬ 
mitat in der Mehrzahl der Falle 
nicht vermerkt; in einigen Fallen 
wird sie wahrend der Umschniirung 
leicht herabgesetzt gefunden; die 
Dauer der Umschniirung nicht 
notirt Vom Pulse bei Einsetzen der 
Ischamie wird nicht gesprochen. 

Die passive Beweglichkeit ist 
in alien Fallen (der Fall Bern¬ 
hardt und Leser ausgenommen) 
in Folge der Contractur einiger 
Muskelgruppen sehr erschweri 
Die Extremitat ist angeschwollen; 
Muskeln sind hart und schmerzhaft 
beim Drucken. 

In den Fallen, wo darnach 
gefahndet wurde, erwies sich die 
Hautsensibilitat (mit einigen Aus- 
nahmen) unverandert. 

Beziiglich der Reflexe sind 
in der Mehrzahl der Falle keine 
Befunde vermerkt. In einigen Fal¬ 
len (Sternberg, Fleury)schwan- 
den die Reflexe schon 6—14Minu- 
ten nach Anlegen des Bandes. 

In einer geringen Zahl von 
Fallen wird ein Sinken der elek- 


Eigene Beobachtungen. Falle, 
wo collateraler Blutkreislauf 4 bis 
5 Tage ausbleibt. 

Die Temperatur derVersuchs- 
extremitat ist im Laufe des 1. bis 
5. Tages stark herabgesetzt. Der 
Puls ist in der Versuchsextremitat 
im Laufe der auf die Operation 
folgenden Periode gar nicht zu 
ftihlen. 

Die passive Beweglichkeit ist 
vollkommen unbehindert im Laufe 
der 5—14 Tage der auf die Ope¬ 
ration folgenden Periode. Schwel- 
lung der Extremitat nicht vor- 
handen. Muskeln sind weich, 
resistenzlos, nicht schmerzhaft. 

Die Hautsensibilitat ist schon 
eine Stunde nach Entstehen der 
Ischamie ganzlich erloschen. 

Eine Stunde schon nach Ein- 
setzea der Ischamie sind alle Re¬ 
flexe erloschen. 


Mit dem Beginn der Ischa¬ 
mie fallt die elektrische Erreg- 


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Ueber acute ischamische Lahmimg nebst Bemerkungen etc. 343 


trischen Erregbarkeit gefunden. 
In den anderen Fallen wich sie 
nicht yon der Norm ab. 

Eine mikroskopische Unter- 
suchung der Nervenfasern wurde 
nicbt vorgenommen. 


I barkeit erheblich oder schwindet 
I ganzlich. 

Die mikroskopische Unter- 
suchung zeigte parenchymatSse 
Degeneration der Nervenfasern. 


Denselben Unterschied stellen unsere Falle mit kurzer Dauer der 
Ischamie dar. Auch hier in den ersten Stunden resp. Tagen der Lah- 
mung war die Paralyse eine schlaffe. Keine Spur von Contractur wurde 
dabei beobachtet. Die Muskelu haben ihren Tonus verloren, waren 
gegen Druck schmerzlos, und weder hart noch angeschwollen. Die 
Sensibilitat des ischamischen Korpergebietes und seine Haut- und 
Sehnenreflexe waren erloschen. Die elektrische Erregbarkeit der 
Nerven und Muskeln war gesunken u. s. w. 

Die Verschiedenheitzwischen diesen zwei zu vergleichenden Gruppen 
scheint aber noch grosser, weil die Symptomatology der Volkmann- 
schen Gruppe ziemlich unbestandig ist und die casuistischen Falle 
ihrerseits voneinander abweichen. 


Die Ursache eines solch grossen Unterschiedes zwischen diesen 
zwei zu vergleichenden Beobachtungsreihen ist mit grosster Wahrschein- 
lichkeit in der Aetiologie der LahmungsentwickluDg und deren be- 
gleitenden Momente zu suchen. 

Ob eine wirklich starke Ischamie in den Fallen der ersten Gruppe 
stattfand, ist nicht besonders deutlich. Sind fur das Vorhandensein 
einer Ischamie Momente massgebend, wie die Temperatur des betroffenen 
Korpertheiles, die Hauptfarbe desselben, die Blutfiille in den Gefassen, 
Turgor der Gewebe, so sind in dieser Richtung die Krankeitsgeschichten 
resp. die liber die Versuche geftthrten Protokolle und die Berichte ftir 
die spatere Periode der Paralyse hochst mangelhaft. 

In seinen klinischen Beobachtungen spricht Leser tiber die Tem¬ 
peratur der paralysirten Extremitat nur in dem Status eines einzigen 
Falles. Unter seinen sieben Krankengeschichten wird nur in einem 
Falle vom Puls gesprochen, doch kann man aus der kurzen Phrase: 
„Puls kaum fiihlbar an der a. radialis a S. 2095) nur den Schluss zieben, 
dass die Ischamie nicht wesentlich war, da ja der Puls der a. radialis, 
wenn auch undeutlich, doch zu ftihlen war. Dasselbe gilt auch im 
Falle von Petersen, der von seinem Patienten: „Radialpuls ist nicht 
deutlich zu ftihlen 44 (S. 676) spricht. Von alien tibrigen hier angefuhrten 
Autoren (mit Ausnahme Niesen's) ist keine Aufmerksamkeit auf diesen 


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344 


XXI. Lapinsky 


Umstand gelenkt worden. Ebenso sind keine Hinweise darauf vor- 
handen, von welcher Dauer die Ischamie in ihren Fallen anzunehmen war. 

In Anbetracht dessen ist es nicht ganz klar, warum die Autoren 
die von ihnen erwahnten pathologischen Erscheinungen ausschliesslich 
der Ischamie zuschreiben. In den Fallen wenigstens, wo die Binde 
nicht fest genug lag, so dass der Arterienpuls noch fUhlbar war, ist es 
auch moglich, die local dauemdeStockung des venosen Blutes anzunehmen. 

Es ist auch gar nicht auf die starken Circulations- und Blutversor- 
gungsschwankungen geachtet worden, welche in der wirklich ischami- 
schen Extremitat gleich nach der Abnahme des fest angelegten 
Verbandes stattfinden sollte. Zu dieser Zeit erreichen ja, nach Lesers 
Experimenten (Seite 340) zu urtheilen, die Schwellung, Harte, Rigiditat, 
Schmerzempfindlichkeit und Contractur der Muskeln ihren hochsten 
Punkt. Und zu diesem Zeitpunkt, namlich gleich nach Entfernung 
der Hindernisse, strbmt das Blut in grosserer Menge in die Gefasse, 
deren Wandtonus in Folge von Anamie (Roy-Graham*) und StSrung 
der Nervenstamme (Tigerstedt**) — S. 475) aufgehoben ist und 
deren Lumen stark erweitert bleibt. Diese frische Blutmasse tragt, 
nach Litten 13 ), Heidelberg 8 ), Molitor 18 ), Lorenz 15 ) und A., der 
ischamischen Musculatur eine grosse Schadigung, sogar Zerstorung ihrer 
Fasern bei und kann eine starke Reaction von der Seite der gescha- 
digten Gewebe hervorrufen, was sich durch gesteigerte Temperatur, 
.Empfindlichkeit der Muskeln, Schwellung, Harte und in Form von 
Contractur aussern kann. 

Auch in dem Falle, wo die Binde die Extremitat nicht zu fest 
umschniirte, so dass nur der Abfluss des venosen Blutes verhindert 
wurde, konnte das stockende venose Blut (nach Lorenz und A.) in der 
Musculatur fthnliche Storungen erzeugen. 

Es ware sehr schwer, diese letzten Processe in Folge von grossem 
Zufluss der frischen Blutmasse und Stockung des venosen Blutes 
als ischamischer Natur zu qualificiren. 

Man muss ausserdem eine Moglichkeit der traumatischen Schadi¬ 
gung der Nerven und Muskeln bei den chirurgischen resp. experimen- 
tellen Verbande in Acht nehmen. Bei Umschnttrung der Extremitat 
en masse, wie es in diesen Beobachtungen der Fall war, entweder 
durch irgend eine chirurgische Binde oder durch den Esmarch’schen 
Schlauch oder vermittelst einer anderen chirurgischen Einrichtung, 
theilt sich der verursachte Druck alien Gebilden des gegebenen Korper- 
theiles mit; einerseits entsteht daher acute Ischamie, indem die Gefasse 

*) Roy-Graham, Neue Methode den Blutdruck zu messen. Pfluger 7 s 
Jirch. 1878. S. 158. 

**) Tigerstedt, Physiologie des Blutkreislaufes. Leipzig 1893. 


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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc. 


345 


ihr Lumen plotzlich verlieren, andererseits aber erleiden die Muskeln 
und Nerven eine Quetschung. Die Experimente von Leser 14 ), Heidel- 
berg 8 ), Volkmann 28 ), habennamlichgezeigt, dassdie zuletzt erwahnten 
Korpergebilde bei solchen Umstanden stark ladirt werden konnen; sogar 
Continuitatstrennung der Nervenstamme kann dabei vorkommen. Aus 
den angeffthrten Untersuchungen Neugebauer's 20 ) geht hervor, dass 
auch die nicht allzufest gelegte Binde die Nervenstamme zusammendrfickt 
und als Folge davon wird die Leitung der Willensimpulse und der 
elektrischen Reizungen durch solche Nerven vollkommen verhindert. 
Eine solche Art von Nervendrucklahmung kann also hier auch an- 
genommen werden. 

So complicirt erscheint die Aetiologie in den Fallen, die den 
Volkmann’schen Beobachtungen angereiht sind. Die grosse Mannig- 
faltigkeit und Unbestandigkeit der Symptome dieser Gruppe lassen sich 
durch die Mannigfaltigkeit der Ursachen erklaren, und hangen wahr- 
scheinlich von der Unbestandigkeit der schadlichen Momente ab. 

Dagegen ist die Aetiologie der Lahmung bei den Kaninchen 
in unseren Beobachtungen einfach; dort war nur die unstreitbare 
lschamie vorhanden, deren schadlichem Einflusse alle Lahmungs- 
erscheinungen zugeschrieben werden sollten. Jeder Druck auf die 
Nerven und Muskeln und andere traumatische Moglichkeiten sind bei 
unseren Versuchen vermieden worden. Auch die schadliche Wirkung 
des frischen Blutes auf die ischamischen Muskeln fand nur in leichtem 
Grade statt, da die Entwicklung des collateralen Kreislaufes entweder 
vollkommen ausblieb oder sie nur langsam und allmahlich vor sich 
ging; das frische Blut floss in Folge dessen nur in kleiner Menge den 
ischamischen Geweben zu und die erwahnte Reaction seitens der Mus¬ 
keln war deswegen nicht so stttrmisch d. h. gar nicht bemerkbar. 

Das sind wahrscheinlich die Griinde, welche den Unterschied 
zwischen diesen zwei Reihen von Beobachtungen so evident machen. 

Grosse Schwankungen der Blutversorgung und Trauma in der 
Yolkmanns-Gruppe heben hauptsachlich die Symptome der Muskel- 
storung hervor, und da zu gleicher Zeit die Nervendrucklahmung sich 
durch kein anderes Zeichen, als nur durch eine Stoning der moto- 
rischen Sphare erkennen lasst, so beherrschen nur die Erscheinungen 
der Muskelveranderung das ganze Krankheitsbild. 

Im Gegentheil die lschamie bleibt in unseren Beobachtungen sehr 
bestandig, verlauft ohne stiirmische Circulationsveranderungen; es fehlen 
dabei andere d. h. traumatische Schadigungsmomente und treten hier 
zum Vorschein nur Symptome der Nervenstammeaffection hervor. 


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346 


XXL Lapinsky 


Die Krankheitsbilder unserer Beobachtungen an Kaninchen entr 
8prechen mehr der wirklich ischamischen Lahmung, als die in dem 
1. Capitel angeftihrten Falle. Diese Experiments lassen ausserdem glauben, 
dass die acute ischamische Lahmung gar nicbt ausschliesslich myogener 
Natur sei; wenn auch eine Muskelveranderung hier unstreitig vor- 
handen ist, sieht man ausserdem auch eine ischamische Affection 
der localen Nervenstamme, die unter alien Beziehungen am ersten 
Platze steht 

Eine ischamische Affection der Nervenstamme ist ttberhaupt durch- 
aus zulassig. 

Ein solcher Einfluss der acuten Anamie auf die Nervenstamme 
lasst sich durch die analogen klinischen und experimentellen Be¬ 
obachtungen anderer Autoren bestatigen. Die hierher bez&glichen 
Falle zeichnen sich durch grosse Einfachheit und Deutlichkeit der 
aetiologischen Momente aus. Einerseits lassen sie keinen Zweifel an 
dem Bestehen wirklicher Ischamie, andererseits enthalten sie neben 
Ischamie keine mechanischen Momente, die ihrerseits einen schadlichen 
Einfluss auf die Nerven und Mu skein hatten gewinnen kbnnen (Druck, 
Quetschung). 

Die hierher gehorigen klinischen Beobachtungen sind schon an 
anderer Stelle*) dargelegt worden, man kann sich deshalb hier nur 
mit einem kurzen Auszug begntigen. 

Die in jenen Fallen von Patry, Leyden, Chvostek, Mankopf, 
Langer, Litten, Legroux, Bourgois, Molitor, Dtirr, Schnitzler, 
Lap in sky erwahnte Ischamie riihrte her von Embolie, Thrombose, 
Lasion der Arterienwand oder Spasmus des Gefasses. In alien dort 
angeftihrten Fallen war der Puls der Hauptarterie der Extremitat er- 
loschen und das getroffene Korpergebiet ganz kalt geworden. In den 
dargelegten Beobachtungen konnte man das Bestehen der Ischamie 
klinisch schon in einer sehr frtihen Periode nachweisen. In vielen 
Fallen konnte man die gestellte Diagnose durch pathologisch-anatomische 
Untersuchung prufen, wobei sich eine vollstandige Sperrung des Ge¬ 
fasses herausstellte. 

Nach eingetretener Ischamie eroffnete sich eine Reihe von Stor- 
ungen. Im betroffenen Theile traten Parasthesien und Schmerzen 
auf. Die willkiirliche Beweglichkeit der Extremitat wurde schnell ge- 
schwacht, um sehr bald ganzlich zu schwinden. Die Extremitat befand 
sich dann in completer Paralyse. Die passiven Bewegungen waren indess 
unbehindert (Nur in zweien Fallen zeigte sich fur eine kurze Zeit leichter 

*) Ueber VeranderuDgen der Nerven bei acuter Stbrung der Blutzufahr. 
Dieses Archiv. Bd. XV. S. 364. 


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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkuugen etc. 


347 


Grad yon Contractur. Chvostek, Leyden). Die Sensibilitat war sehr 
stark beeintrachtigt; noch im Laufe der ersten Stunde nach eingetretener 
Ischamie wurde in den Fallen, wo es verfolgt wurde, eine Herabsetzung 
oder anch ein vollkommenes Erloschensein der Sensibilitat gefunden. 
Auch die Reflexe konnten da, wo sie untersucht wurden, sehr bald 
nicht mehr ausgelost werden. Schon im Laufe von 3 bis 8 Stunden 
waren die Haut-, Periostal- und Sehnen-Reflexe erloschen. (Falle 
Langer, Lapinsky.) 

Die elektrische Reaction der Nerven der betroffenen Extremitat 
sank schnell, um sehr bald ganz zu verschwinden. 

In f&nf Fallen (Leyden, Langer, Lapinsky, Legroux) bildete 
sich sehr bald ein Collateralkreislauf und man konnte dann eine lang- 
same, allmahliche Wiederherstellung des raotorischen und sensiblen 
Vermogens, der Reflexe und der elektrischen Erregbarkeit wahrnehmen. 

In den ubrigen Beobachtungen starben die Patienten noch vor 
Bildung eines Collateralkreislaufes oder die Ischamie ftihrte zu localer 
Gangran. 

In ftinf Fallen, in denen die Ischamie langer als flinf bis sieben 
Tage dauerte, konnte eine mikroskopische Untersuchung der Nerven 
vorgenommen werden und es zeigte sich dabei parenchymatose Neuritis. 

Was die experimentellen Beobachtungen in dieser Richtung be- 
trifft, so wurden functionelle Yeranderungen von seiten des Nerven- 
sytems bei Ischamie schon von Stannius beobachtet 

Dieser Autor unterband bei Kaninchen die a. cruralis und erhielt sehr 
bald Parese und Erloschen der Sensibilitat in der experimentirten Extre¬ 
mitat. Seine Versuche sind indess ein wenig complicirt. Ausser der 
a. cruralis unterband er auch die Bauchaorta weshalb neben der Ischamie 
der peripheren Nerven, auch eine solche des Riickenmarkes statt hatte. 

Weniger complicirt sind in dieser Beziehung die Versuche Scheffers, 25 ) 
welcher die Aorta an einer Stelle unterband, wo sie nicht mehr an der 
Ernahrung des Riickenmarkes theil nimmt. Die Ligatur wurde in seinem 
Falle immer gleich oberhalb des Ausgangspunkts der beiden a. a. iliacae 
communes angelegt. Schon eine Stunde nach beendigter Operation be- 
fanden sich die hinteren Extremitaten in vollstAndiger Paralyse und hatten 
jede Sensibilitat verloren. Die directe Reizung der Nervenstamme urn 
diese Zeit erwies, dass das Erloschensein der Sensibilitat sich nur auf die 
Haut beschrankte; die sensiblen Fasern der Nervenstamme functionirten 
noch vollkommen normal und brachten die Schmerzempfindungen dem Thiere 
deutlich zum Bewusstsein. Die elektrische Erregbarkeit der motorischen 
Nerven erlosch ganzlich schon eine Stunde nach der Operation. Die 
directe elektrische Erregbarkeit der Muskeln erhielt sich noch nach der 
ersten Stunde der Ischamie; doch schon einige Zeit nach dem endgiltigen 
Verschwinden der indirecten elektrischen Reaction erlosch auch die directe 
Erregbarkeit der Muskeln. (Die angefiihrten Besonderheiten der sensiblen 


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348 


XXI. Lapinsky 


und motori8chen Functionen erkl&rt der Autor durch Paralyse der feinen 
Nervenendigungen in der Haut und in den Muskelfasern. Die Fasern der 
Nervenst&mme bleiben nach seiner Ansicht bei Isch&mie ganz unverandert 
Durch die Schadigung der letzten Nervenendigungen wird nach Meinung 
des Autors gut erkiart, erstens weshalb die Sensibilitat der Haut verloren 
geht, wahrend eine Leitung von Schmerzempfindungen noch moglich ist, 
und zweitens warum die indirecte elektrische Eeizbarkeit geschwunden 1st, 
wahrend die directe noch lange Zeit fortbesteht.) 

Zu etwa anderen Schliissen kam Sternberg. 24 ) Dieser Autor legte, 
um den Einfluss der Ischamie auf die Reflexe des Kaninchens zu unter- 
suchen, eine Ligatnr um die a. cruralis und untersuchte den Stand der 
reflektorischen Erregbarkeit der hinteren Extremitat. In einer ganzen 
Reihe von Versuchen zeigte es sich, dass schon 10 Minuten nach Anlegung 
der Ligatur die Reflexe ganzlich erloschen sind. Auf Grnnd seiner 
Experiraente gelangte Sternberg zu dern Schlusse, dass die Ischamie die- 
jenigen sensiblen Fasern paralysirt, die am Reflexbogen theilnehmen. (S. 51.) 

Diese an Zahl zwar nicht imponirenden klinischen und experimen- 
tellen BeobachtungeD bestatigen also die Annahme einer ischamischen 
Affection der Nervenstamme in unseren Versuchen. 

Beide Reihen der Beobachtungen zeigen, dass der Zustand des 
peripheren Nervensystems vom rechtzeitigen Zufluss arteriellen Blutes 
abhangt Schon eine kurze Unterbrechung desselben (10 Min. bis 
1 Stunde) ist im Stande, grosse Storungen in der Function der Nerven 
des betroffenen Korpergebietes hervorzurufen. Das motorische und 
sensible Vermogen werden dort gelahmt, die Reflexe sind erloschen. 
Die elektrische Erregbarkeit erleidet grosse Storungen, um sogar voll- 
standig zu schwinden. Unter dem Mikroskope findet man in solchen 
Fallen eine parenchymatose Neuritis. 


Schlussfolgerung. 

Wird ein Gefass durch eine Ligatur oder durch andere Ursachen 
und Einrichtungen gesperrt, die die in der Nahe liegenden Nerven¬ 
stamme mechanisch nicht schadigen, so kann die dadurch entstandene 
acute, mehr als 1 bis 5 Tage dauernde, Stockung der Circulation 
eine Lahmung des ischamisch gewordenen Korpergebietes nach sich 
ziehen. 

Die Affection der motorischen Sphare kann mit schlaffer Paralyse 
einhergehen. Die Muskeln konnen weich, nicht rigid und gar nicht 
schmerzhaft bleiben. Die Sensibilitat sinkt schnell, um sehr bald 
ganzlich zu erloschen. Die Reflexe schwinden. Der elektrische 
Strom zeigt eine Herabsetzung oder sogar ein vollstandiges Schwinden 
der Erregbarkeit von Seiten der Nerven und Muskeln. Die mikrosko- 
pische Untersuchung der Nervenfasern zeigt verschiedene Stadien der 


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Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc. 349 


Degeneration, welche dem Bilde einer parenchymatosen Neuritis 
entsprechen. 

Solche ischamische Lahmung scheint in den ersten Stunden ihrer 
Entwickelung rein neurogen zu sein, bald kommt aber dazu auch 
eine Affection der Muskeln. 

Der schadliche Einfluss der Ischamie kann ein indirecter und 
directer sein. Indirect konnen dabei verschiedene mechanische Momente 
entstehen, die auf den Nervenfasern schadlich wirken; acut ange- 
schwollene (ischamische) Kerne der Schwan'schen Scheide und auf- 
gequollene bindegewebige Elemente der Nervenscheide drttcken die 
Nervenfasern zusammen und bringen deren Myelinscheide und Axen- 
oylinder zum Zerfall. 

Direct kann Ischamie die Ernahrung der Nervenfasern so stark 
beeintrachtigen, dass sich eine gewisse Veranderung des Myelins und 
<Ier Axencylinder entwickeln kann. 

Zum Schluss erftille ich meine angenehme Pflicht, Herrn Professor 
Dr. H. Oppenheim meinen tiefsten Dank auszusprechen far seine 
liebenswttrdige Gastfreundschaft in seinem Laboratorium. 


Literatur. 

1) Bernhardt, Neuropathologische Mittheilungen. Arch. f. Psychiat. Bd.XIX. 

1888. 8. 515. Fall b. c. 

2) Bourgois, Gangrene des membres dans la fi^vre typhoide. Arch. gdn. de 

Med. 1857. 

3) Chvostek, Ein Fall von ischamischer Lahmung in Folge von Embolie der 

a. femoralis. Jahrbuch f. Psychiatr. 1890. 

4) Davidsohn, Ueber ischamische Lahmung. Dissertation. Erlangen 1891. 

5) Durr, La gangrene complication du cholera. Revue de M£d. 1893. 

0) Henle, Ein Fall von ischamischer Contractur. Cntrlblt. f. Chirugie. 1896. 
S. 441. 

7) Hildebrandt, Ein Fall v. geheilter auf Ischamie beruhender Muskel- 
contractur. Deut. Zeitsch. f. Chirurg. 1890. 

8a) Heidelberg, Zur Pathologie der quergestreiften Muskeln. Arch. f. exper. 
pathol. 1878. 

8b) Herzen, A., Une qu&tion prSjudicielle d’electrophysiologie nerveuse II. 
Revue Scientifique 1900. 13 Janvier. 

9) Fleury, Trepidation 4pileptoide du pied. Revue de M6d6eine. 1884. 

10) Lander, Ein Fall v. ischamischer Lahmung durch Embolie einer Armarterie 

bewirkt. Jahrbuch d. Wiener k. k. Kranken-Anstalten. 1895. 

11) Lapinsky, Ueber Veranderungen der Nerven bei acuter Storung der Blut- 

zufuhr. Dieses Archiv. Bd. XV. 1899. 

12) Legroux, Art4rite aigue rhumatismalle. Society m6d. des bopitaux. 1884. 

13) Litten, Ueber embolische Muskelveranderungen und die Resorption todter 

Muskelfasern. Virch. Arch. 1880. Bd. 80. 


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350 XXI. Lapinsky, Ueber acute ischamische Lahmung nebst Bemerkungen etc. 

14) Leser, Untersuchungen ub. ischamische Muskellahmungen u. Muskel- 

contracturen. Vollkman’s Sammlung d. klin. Vortrage. 1884—1886. 

15) Lorenz, Ischamische Erkrankung der Muskeln. Nothnagel’s Sammlung. 1898. 

16) Leyden, Ueber einen Fall v. Trombose der A. poplitea sinistra. Berl. klin. 

Wochenschr. 1890. Nr. 14. 

17) Mankopf, Ueb. peripherische ischamische Lahmung. Ctrlblt. f. Nerven- 

heilk. 1878. 

18) Molitor, Ueb. die mit Zerreissung des A. brachialis complicirten Luxationen 

des Ellenbogengelenks u. die dabei vollkommenen ischamisch. Muskel- 
veranderungen. Beitr. z. klin. Chirur. 1889. Bd. V. 

19) Niesen, Ischamische Muskellahmung u. Muskelcontractur in Verbindung 

mit Sensibilitatsstorungen. Deutsch. med. Wochenschr. 1890. S. 786. 

20) Neugebauer, Zur Kenntniss der Lahmungen nach elastisch. UmschnQrung 

der Extremitat Zeitschr. f. Heilkunde. 1896. Bd. XVII. 

21) Pa try, Gangrene des membres dans la fifcvre typhoide. Arch. g6n. de 

m4d. 1863. 

22) Petersen, Ueb. ischamische Muskellahmung. Arch. f. klin. Chirurg. Bd. 37. 

1888. 8. 675. 

23) Sonnenkalb, Ein Fall v. ischamisch. Muskellahmung in Verbindung mit 

Sensibilitatsst&rung. Deutsch. med. Wochenschr. 1885. 8. 273. 

24) Sternberg, Die Sehnenreflexe u. ihre Bedeutung. Wien 1893. 

25) Scheffer, Ueb. die Bedeutung der Stenon’schen Versuche. Ctrlbl. med. 

Wissensch. 1896. S. 579. 

26) Stannius, Untereuchungen ub. Leistungsfahigkeit der Muskeln u. Todten- 

starre. Arch. f. physiolog. Heilkunde. 1890. 

27) Volkmann, a) Centrlbl. f. Chirurgie. 1881. S. 801. Die ischamische Lah¬ 

mung. b) Handbuch der Chirurgie. Pitha-Bilroth H. 21. 1882. S. 846. 

28) Volkmann, Ueb. die Regeneration des quergestreiften Muskelgewebes. 

Ziegler’s Beitr&ge der Anatomie. 1893. 


Erkl&rnng der Abbildungen auf Tafel Y. 

Fig. 1. Langsschnitt des N. peroneus vom Kaninchen (HI), welches am sechsten 
Tage getodtet wurde. Der collaterale Blutkreislauf entwickelte sich am 
Ende des vierten Tages. Myelinscheide ist in kleinere (a) und grOssere (b) 
Krumchen zerfallen Oder vollkommen verschwunden (c). (Farbung, 
Osmiumsaure, 1 Proc.) 

Fig. 2. Querschnitt des N. cruralis am zehnten Tage nach Unterbindung A. A. 
Iliaca communis et hyppogastrica. Der collaterale Blutkreislauf blieb in 
diesem Falle (I) fQnf Tage aus. Die Myelinscheide ist nur an wenigen 
Nervenfasern erhalten. Meistentheils ist sie zerfallen oder geschwunden. 
(Farbung: Osmiumsaure, 1 Proc.) 

Fig. 3. Langsschnitt des N. cruralis am 14. Tage nach Unterbindung der 
a. Iliaca communis. Der collaterale Blutkreislauf entwickelte sich bei 
diesem Kaninchen (VI) am zweiten Tage. Myelinscheide ist uberall 
erhalten; an einigen Fasem ist sie in grosse Krflmchen zerfallen (a). 
An anderen ist sie sehr kornig und enthalt feinste staubartige Kfigelchen 
an der Oberflache. (Farbung: Osmiumsaure, 1 Proc.) 


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XXII. 


Ueber Ver&ndenmgen im Centralnervensysteni in einem 
Fall todtlicher Blasenblutnng. 1 ) 

Yon 

Dr. Albert Ransohoff, 

Assifltenzarzt in Stephansfeld. 

(Mifc 4 Abbildungen im Text.) 

Der Erkrankungsfall, liber den ich berichten werde, schliesst sich 
im aligemeinen jener Gruppe von Rttckenmarksaffectionen an, die zu- 
erst von Minn ich 2 ) als Frfihformen der bei pernicioser Anamie voi> 
kommenden Strangerkrankungen erkannt worden sind. Zwar waren 
schon vorher von Fr. Schulze 3 ) bei Nephritis und Leukamie Ver- 
anderungen im Rttckenmark beobachtet worden, die den spater ge- 
fundenen bei Anamie jedenfalls sehr ahnlich waren und als deren Ur- 
sache der Autor „Emahrungsstorungen im Axencylinder" ansah. Spater 
hat dann aber Minn ich an einer Reihe von Fallen pernicioser Anamie 
sowohl die bereits von Lichtheim 4 ) beschriebenen vorgeschrittenen 
Formen — strangformige Degeneration, z. Th. unter dem Bild der 
Hinterseitenstrangsklerose — wie die Frtthformen — multiple frische 
Degenerationsherde der Axencylinder in erschopfender Weise ge- 
schildert und ihren Zusammenhang klargelegi Yon spateren Be- 
obachtern sind dann auch die Veranderungen der grauen Substanz 
des Ruckenmarks eingehend studirt worden, so in jttngster Zeit von 
Boedeker und Juliusburger, 5 ) vorher schon von Teichmttller 6 ) 
und von Rothmann. 7 ) Letzterer Autor glaubte sogar in der 
Affection der grauen Substanz das ursprflngliche, die Strangdegeneration 
veranlassende Moment sehen zu sollen, hat aber neuerdings 8 ) seine 

1) Nach einem auf der XXX. Jahresversammlung sudwestdeutscher Irren- 
arzte gehaltenen Vortrag. 

2) Dt. Zeitschrift fdr klin. Medizin. Bd. 22 u. 23. 

3) Neurolog. Central bl. 1884. 

4) Verhandl. d. Congresses f. innere Medicin. 1887. 

5) Arch. f. Psych. Bd. 30. 

6) JDt. Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 8. 

7) ibid. Bd. 7. 

8) Berl. Gresellsch. f. Psych. Ref. Berl. klin. Woch. 1899. Nr. 35. 


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352 


XXII. Kansohoff 


von anderer Seite nicht getheilte Meinung zurfickgezogen. Eben so 
wenig scheint die Hypothese Teichmttller’s, der Blutungen in die 
Rfickenmarksubstanz als die Primarerschein ungen anschuldigte, An- 
hanger gefunden zu haben. 

Dem gegeniiber ist die von Minnich aufgestellte Hypothese, dass 
die von ihm mehrfach beobacbtete Veranderung der Gefasswande eine 
wesentliche Rolle bei der Entstehung der frischen Herde spiele, von 
PetrSn, 1 ) Nonne 2 ), sowie durch zahlreiche, hauptsachlich chronische 
Falle betreffende Einzeldarstellungen unterstfitzt worden. 

Besonders Nonne verfftgt fiber ein aussordentlich reichbaltiges 
Material, das ein weites Gebiet von vereinzelten Degenerationsherden 
bis zu ausgedehnter Strangsklerose umfasst. 

Im allgemeinen herrscht bei den Autoren die Ansicht vor, dass 
die Rfickenmarkserkrankung nicht die Folge der veranderten Blutbe- 
schaffenheit, der Anamie sei; es soli vielmehr die eine wie die andere 
durch eine gleiche Krankheitsursache, eventuell durch ein hypothe- 
tisches Toxin hervorgerufen werden. Dabei hat sich jedoch die ur- 
sprttngliche Annahme, dass nur bei der pemiciosen „essentiellen u Anamie 
das Rfickenmark betheiligt sei, nicht aufrecht halten lassen; man fand 
bald, dass auch bei anderen letalen, sekundaren Anamien (z. B. 
nach Nephritis) dieselben Erscheinungen im Rfickenmark auftreten 
konnen. Es liess sich dieser Befund mit der erwahnten Toxinhypo- 
these wohl noch vereinigen; eine weitere Stfitze derselben sah man 
darin, dass sog. einfache Anamien nach Blutungen einen Effekt auf 
das Rfickenmark nicht auszufiben schienen. Nonne hebt dies noch 
in seiner letzten Arbeit hervor und berichtet gleichzeitig, dass die 
Untersuchung des Rfickenmarkes von drei an acuter, resp. chronischer 
Blutung zu Grunde gegangenen Personen Erkrankungserscheinungen 
nicht gezeigt habe. 

Es war mir daher eine Ueberraschung, als ich auf der Suche 
nach Ganglienzelldegenerationen des Rfickenmarkes in einem ent- 
sprechenden Fall auch auf intensive Axencylinderschwellungen stiess. 
Da sich auch im Grosshirn, das bisher von fast alien Untersuchem 
vernachlassigt war, Veranderungen fanden, schien mir die Beobachtung 
Interesse genug zu bieten, um fiber sie hier zu berichten. 

Die Krankengeschichte unserer Patientin liess einen solchen Be¬ 
fund nicht voraussehen. 


1) a) Ref. im Neurolog. Centralbl. 1896. b) Dfc. Zeitschr. f. Nervenheilk. 
Bd. 14. 

2) a) Arch. f. Psych. Bd. 25. b) Neurolog. Centralbl. 1896. c) und d) Dt 
Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 6 u. 12. 


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Ueb. VeranderuDgen i. Centralnervensystem i. einem Fall todtl. Blasenblutung. 353 

Die 66jfihrige, seit 43 Jahren in Stephansfeld verpflegte imbecile 
Anna Wichmann hatte seit langeren Jahren ernste akute Oder chronische 
Krankheiten nicht darchgemacht. Ein mfissiger Grad von Sklerose der 
Radialarterien wird als pathologisch nicht anznsehen sein. Am 27. Mai 1899 
meldet sie dem Arzt bei der Visite, dass sie Bint ans den Genitalien ver- 
yerliere; anf Befragen giebt sie noch an, dass sie vor etwa 4 Wochen 
schon einmal einen Blntverlast gehabt, aber gewnsst habe, das zn ver- 
bergen. Gestern Abend habe dann die Blntung wieder begonnen; fiber die 
Herkunft des Blntes weiss sie selbst nichts anszusagen; es wird konstatirt, 
dass dasselbe mit dem Urin abgeht. Patient sieht blass ans nnd fUhlt sich 
schwach. Sie war bis zn diesem Tage bei vfilligem Wohlbeiinden nnd eine 
verhaltnissmfissig rhstige Arbeiterin gewesen. 

Alle Versnche, die Blntnng zum Stehen zn bringen, misslangen. Der 
Urin, dessen Entleernng nicht behindert war, zeigte danernd starken Blnt- 
gehalt. Trotz reichlichster Nabmngsanfnahme ging der Kraftezustand rapid 
zurfick. Vom 1. Jnni an wird die Kranke leicht benommen, kann aber 
noch dnrch Anrnf oder Beriihmng geweckt werden. Sonstige Stfirungen 
yon seiten des Nervensystems traten nicht hervor (eine eingehende, daranf 
fahndende Untersnchnng fand allerdings nicht statt). Am 3. nnd 5. Jnni 
trat je eine mftssige Temperatnrsteigerung (bis 38,8°) anf. Der Sopor 
nimxnt zn, die Kranke lasst nnter sich nnd ist nnr mit Mhhe noch zn 
wecken. Am 5. Jnni fanden sich Herzschwache, Oedeme, Ernahrungs- 
stfirungen der Haut an den Drnckstellen ein. In der Nacht vom 6./7. Jnni, 
also am 11. Tage nach Beginn der Blntung erfolgte der Exitus letalis, 
nachdem die wieder normale Temperatur nochmals anf 38,0 0 an- 
gestiegen war. 

Die 8 h. p. m. vorgenommene Antopsie ergab — ansser nebensfick- 
lichen Befunden — starke Anamie aller Organe; eine fast wallnussgrosse, 
oberflachlich zerfallene Geschwnlst der Blasenschleimhaut mit localen kleinen 
Metastasen, beginnende Lnngenhypostase, keine wesentliche Arteriosklerose. 
Besonders haben die Arterien der Hirnbasis durchweg zarte Wandnngen. 
Das Centralnervensystem nimmt an der allgemeinen Anamie theil, zeigt im 
fibrigen makroskopisch nichts anffallendes. Die Eonsistenz, anch des Rticken- 
marks, ist eine gnte. 

Der Blasentumor erwies sich als ein papiliares Carcinom. 

Vom Rnckenmark wurden 3 kleinere Stiickchen in Alkohol, eine An- 
zahl grSsserer nnd kleinerer ans verschiedenen Hfihen circa 14 Tage in 
Mftller-Formol gehartet nnd dann nach Einbettung in Celloidin geschnitten. 
Leider habe ich es versaumt, die Stticke vor der Einbettung mit Osmium- 
sfinre zn behandeln, so dass ich der Marchi’schen Methods entbehren 
musste. Im fibrigen habe ich mich folgender Farbemethoden hauptsachlich 
bedient: der ThioninfUrbnng nach von Lenhossek znr Darstellnng der 
Ganglienzellen; der Glia- nnd Axencylinderfarbung nach Mallory nnd nach 
van Gieson; znr Kernfarbung vorzngsweise der Behandlnng mit Alaun- 
hamatoxylin nnd verdiinnter Pikrinsaure. Znr Markscheidenfarbnng diente 
nach vorausgegangener Chrombeize die PaPsche Methode, sowie die ohne 
Chromining vornehmbare Farbnng mit dem Mallory’schen Hamatoxylin- 
gemisch. 

Die im Gehim erhobenen Befnnde sollen weiter nnten besprochen 
werden; ich berichte znnachst im Zusammenhang fiber das Rnckenmark nnd 


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354 


XXII. Ransohoff 


will jene Veranderungen vorwegnehmen, die sich in der grauen Sub- 
stanz zeigen. 

Dieselben sind sehr verbreitet, aber weder hochgradig, noch irgendwie 
charakteristisch. So treten im ganzen Verlanf des Rtickenmarks multiple 
kleine und kleinste Blntungen besonders in den Vorderhdrnern, aber anch 
in den Hinterhornern auf, wahrend die Umgebnng des Centralkanals an 
alien untersnchten Schnitten verschont war. Eine einzige etwas grossere, 
makroskopisch nach der H&rtung als dnnkler Pnnkt eben sichtbare fiel im 
Halsmark anf. Sie lag hier dem dorsalen Rand des einen Vorderhornes an 
and dehnte sich bis in den Processas reticularis aus; anch auf anderen 
Schnitten schien diese Gegend die am meisten von Blntungen heimgesuchte 
zu sein. Sammtliche Blntungen sind ganz friscb T enthalten nur unver&nderte 
rothe Blutkorperchen und lassen eine irgend erhebliche Reaction des Ge- 
webes, das sie einfach verdrangt zu haben scheinen, nicht erkennen, weder 
durch Degenerationsprocesse, noch durch Kernvermehrung. Stellenweise 
liegen zwischen den rothen Blutkorperchen allerdings zahlreiche Rundzellen; 
dieselben erweisen sich jedoch fast ausschliesslich als polynuclear, so dass 
sie aus dem Blut selbst stammen diirften. 

Ganglienzellen und Nervenfasern in der Nachbarschaft der Blntungen 
unterscheiden sich in nichts von entfernter liegenden. Veranderungen an den 
Fasern der grauen Substanz habe ich iiberhaupt nicht konstatiren konnen. 
Auch die Zellen sind zur grosseren H&lfte als normal zu bezeichnen und 
zeigen bei Thioninfarbung distinkte und regelm&ssig angeordnete Granula. 
Es linden sich jedoch auch iiberall in den Vorderhdrnern regellos zerstreat 
mehr oder weniger schwer ver&nderte Ganglienzellen: betrkchtliche Schwel- 
lung — bis zu dem doppelten Volum der benachbarten —, Auflosung der 
Granula in feine Staubchen in ihren verschiedenen Stadien, Abrundung der 
Zellen und wandstandige Kerne sind die zu beobachtenden Veranderungen. 
Schrumpfung der Zellen und gleichmassig diffuse Blaufarbung des Proto¬ 
plasmas habe ich dagegen nirgends gesehen. Wenn ich noch erwahne, dass 
die Zellkerne an Hamatoxylinpraparaten vielfach ein verwaschenes Aussehen 
zeigen, das Kernkorperchen in ihnen grosser ist, unregelmassig geformt und 
zugleich etwas blasser als an anderen Zellen, so sind damit die beobachteten 
pathologischen Momente in der grauen Substanz erschopft. 

Als ein Charakteristikum der vorliegenden Erkrankung kann wohl 
keiner dieser Processe angesehen werden. Kleine Blntungen in die Riicken- 
markssubstanz sind bei Circulationsstorungen ja kein seltenes Vorkommniss 
und ohne pathologische Bedeutung, wenn sie auch bei den mit Blutdiathese 
verbundenen Leiden hfiufiger vorkommen mogen. Die beobachteten Zell* 
veranderungen lassen allerdings den Schluss auf eine Ernahrungsstdrang 
zu. Das passagere leichte Fieber kann kaum als ihre Ursache betrachtet 
werden; da ich sie aber mehrfach auch an anderen Riickenmarken gesehen 
habe — so in einem Fall von Skorbut, sowie bei einem fieberlos ad exitum 
gekommenen Ileus — lege ich ihnen keine grossere Bedeutung bei. Ich 
verzichte daher auf einen Vergleich mit den von Boedeker und Julius* 
burger gefundenen tiefergreifenden Veranderungen bei perniciflser Anamie, 
wie sie spater auch von Nonne bestatigt worden sind. 

In der weissen Riickenmarkssubstanz ergab die Untersuchung 
als das wesentliche Moment kleine Herdchen, von denen die grossten an 
gefarbten Praparaten schon makroskopisch als blasse Fleckchen auffalleiL 


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Deb. Verandenmgen i. Centralnervensystem i. einem Fall todtl. Blasenblutung. 355 

Die Herdchen sind sehr zahlreich and werden kanm auf einem Qnerschnitt 
vermisst Sie bevorzugen im allgemeinen die Hinterstrange, liegen in den 
Vorderstrangen nur in der Nachbarschaft der Fissara longitud. anter., fehlen 
ganz nnr in den vorderen Partien der Seitenstrange. Ibre Grosse wechselt 
von solchen die nnr ans wenigen Faserqnerschnitten bestehen, bis zu Herden, 
die etwa die Halfte der Tiefe der Hinterstrange betreffen. Wo sie nicht 
konfluirt sind, ist ihre Form anf dem Qnerschnitt annahernd kreisfbrmig, 
anf dem Langsschnitt spindelig, der Hohendnrchmesser iibertrifft dabei die 
Qnerdnrchmesser nm das Vielfache. 

Ihre topographische Vertheilung ist nnn die folgende: 

1. Im Halsmark sind ganz besonders die Hinterstrange in Mitleiden- 
schaft gezogen. Hier liegen auch die grossten Herde, die offenbar dnrch 
Konflniren benachbarter entstanden sind. Es finden sich dieselben beider- 
seits — wenn ancb auf dem einzelnen Querschnitt nnr einseitig — im An¬ 
schluss an ein grbsseres Septum im 
Gebiet der mittleren Wurzelzone. 

Gleichzeitig treten kleinere auf, mebr 
nach der Spitze der Hinterstrange 
zu gelegen, sowie unmittelbar am 
Septum medianum und in scheinbar 
unregelmassiger Zerstreuung im 
ubrigen Theil der Hinterstrange. Eine 
Beziehung zu grbsseren Septen lasst 
sich an alien daraufhin (eventuell an 
Serien) untersuchten feststellen. Nicht 
selten sind auf einem Querschnitt 
3—4 solcher Herdchen sichtbar. 

Daneben sind auch die Seiten- 
strange ergriffen, w ah rend ich die Vor- 
derstrange im Halsmark nicht bethel- 
ligt gefanden babe. Ziemlich betracht- 
liche Herde liegen in den Hinterseiten- 
strangen, etwa den Pyramidenbahnen 
entsprechend, ebenfalls uberall im An¬ 
schluss an grdssere Septen, und ganz 
kleine im Gebiet der Kleinhirnseitenstrangbahnen und des Gowers’schen 
Bund els. Diese letzteren sind in besonders scharfer Weise gegen die Urn- 
gebung abgegrenzt. Nirgends reichen die Herde bis an die Peripherie des 
Marks oder die graue Substanz, sondern sind uberall noch von einer mehr 
oder weniger starken Schicht normaler Fasern umgeben. Von der Basis 
der Hinterstrange bleiben sie uberall weit entfernt. 

2. ImBrustmark sind die Herde im allgemeinen wesentlich kleiner; 
die Bevorzugung der Hinterstrange tritt weniger hervor, aach finden sich 
schon zahlreich kleine Herde in den Vorderstrangen. 

3. Im unteren Brust- und im Lendenmark finden sich sehr zahl- 
reiche, aber durchweg nur kleine, nicht konfluirende Herdchen in Vorder- 
und Hinterstrangen, nur sparliche in den Seitenstrangen. In den Vorder- 
strfingen liegen die Herde fast ausschliesslich in der Nachbarschaft der 
Fissur. Nur an einer Stelle konnte ich einen etwas entfernter liegenden 
beobachten, der sich ganz scharf auf ein langsgetroffenes Biindel austreten- 

Deutsebe Zeltscbr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 24 



Fig. 1. 


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XXII. Raxsohoff 


der vorderer Wurzelfasern, ziemlich dicht an der grauen Substanz, beschrftnkt 
and za einer spindeligen Anschwellung dieses Bdndelchens geftihrt hat. 

Ansserdem fallen in den Vorderstrangen des Lendenmarks, ganz vereinzelt 
auch in den Randpartien der Seitenstrftnge noch Herdcben bei schwacher 
Vergrossernng ins Auge, die mit den anderen regellos gemischt sind. Sie 
beben sich an van Gieson-Pr&paraten als intensiv rothe Fleckchen mit 
unregelmassig gestaltetem blasseren Hof von der Umgebang ab. 

Eine besondere Beachtung verdient noch das Bild der Hinterstrftnge. 
Einerseits linden sich im Lendenmark an 3 verschiedenen H5hen kleine, 
mit Pikrofncbsin sich gleichmassig rothfarbende Partien, die im Anssehen 
vbllig der gelatinbsen Substanz gleichen. Eine st&rkere Vergrbssertmg er- 
giebt, dass sie ans einer gleichmkssigen Grundsubstanz bestehen, in welche 
spkrliche sich kreuzende markhaltige Fasem sowie Zellen eingebettet sind, 
von denen einige eine spindelige Form and einen grossen blkschenartigen 
Kern besitzen, also wohl Ganglienzellen sein dtirften. Eins dieser Fleckchen 
liegt dem medianen Septum an, die beiden anderen sind dnrch eine schmale 


Fig. 3. 

Briicke mit der Basis des Hinterhorns verbnnden, wahrend das median- 
warts gerichtete Ende kolbig angeschwollen ist. Die eine dieser zweifellosen 
Heterotopien grauer Substanz umschliesst allseitig den Querdurchschnitt 
eines wohl erhaltenen markhaltigen Faserbiindels. 

Im iibrigen fallen die Hinterstrange gegeniiber den anderen Gebieten 
der weissen Substanz durch ein starkeres Hervortreten der Glia auf. Die 
grbsseren Sep ten sind verbreitert und enthalten Gefasse, deren Wandungen 
verdickt sind, sich zum Theil auch durch intensiveres Roth — ohne Hyalin- 
reaction — bei van Gieson’scher Farbung von der Umgebung abheben. 
Auch scheint in der Nachbarschaft der Septen die Glia etwas vermehrt zu 
sein, hauptsachlich im Goll’schen Strang. Das geschilderte Aussehen en^ 
spricht besonders dem Halsmark, wahrend im Dorsal- und Lendentheil die 
Veranderungen geringer sind. Eine pathologische Bedeutung mbchte ich 
denselben nicht zuschreiben. Sie uberschreiten nicht das Mass dessen, was 
man haufig am Riickenmark alter Leute zu sehen bekommt. 

Histologischer Befund. 

Nach dieser Abschweifung kehre ich zur Schilderung der erwahnten 
Herde zuriick. Ihr Bild bei starkerer Vergrbsserung ist sehr charakteristisch: 




Fig. 2. 


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Ueb. Veranderungen i. Centralnervensystem i. einem Fall tddtl. Blasenblutung. 357 

sie bestehen aus gequollenen Nervenfasern und zwar sind es haupts&chlich 
die Axencylinder, die eine Veranderung erlitten haben. Dieselben sind enorm 
vergrbssert and haben ganz groteske Formen angenommen. Ihre Snbstanz 
ist mit den gewohnten Reagentien [Pikrofuchsin, Mallory’sches H&ma- 
toxylin, auch Alaunhamatoxylin] noch farbbar; sie bleibt jedoch meist blasser 
als die benachbarten normalen Fasern. Man ersieht ihr Verhalten am besten 
ans Langsschnitten , l ) anf denen man gnt verfolgen kann, wie die geqnollene 
Partie nach beiden Seiten hin in den normalen cylindrischen Faden iiber- 
geht. Ich erwahne hier auch, dass an den in Alkohol fixirten Stiickchen 
die erkrankten Axencylinder in gleicher Weise darstellbar waren. Anf dem 
Qaerschnitt zeigen die Qnellangsmassen oft eine Schichtang in Gestalt eines 
donkleren Centrums und helleren von der Markscheide nicht immer zu 
trennenden Ringes. Vakuolen und brockliger Zerfall sind hie und da zu 
sehen, aber seiten. 





Dem gegeniiber ist die Affektion der Markscheide betrachtlich geringer 
und macht den Eindruck des sekundaren, als sei die Scheide durch den ge¬ 
quollenen Axencylinder gedehnt, resp. gesprengt worden. An nach Pal 
gefarhten Langsschnitten sieht man die Reste des Marks oft als ein zier- 
liches schwarzes Netz die Axencylinder umgeben; auf Querschnitten liegen 
hie und da noch diinne Ringe in Gewebsmaschen, aus denen der Axen¬ 
cylinder ausgefallen zu sein scheint. Die Farbbarkeit des Marks ist er- 
halten; der hellere Ton der erkrankten Partien bei schwacher Vergrosserung 
kommt bei der Markscheidenfarbung durch das Zuriicktreten der Masse des 

1) Auf Querschnitten trifft man haufig einzeln liegende gequollene Axen¬ 
cylinder, wahrend solche auf Langsschnitten sehr sparlich sind; es erklart sich 
das durch die langgestreckte Form der Herde; da die Hohenausdehnung der 
Erkrankung der einzelnen Fasern auch desselben Herdes eine verschiedene ist, 
trifft man isolirte gequollene Axencylinderquerschnitte weit frilher als den com- 
pakten Herd; auf Langsschnitten fallt das natiirlich fort. 

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Marks gegen die der AxencyUnder zu Stande, ebenso wie bei den die 
letzteren und die Glia fUrbenden Methoden durch das Ueberwiegen der 
blasseren Qnellungsprodukte. 

Die Glia erscheint in den Herden nicht betheiligt; ihre feinfaserige 
Struktnr tritt iiberall mit wiinschenswerther Deutlicbkeit hervor. Auf das 
Verhalten der Kerne komme ich noch weiter unten zuriick. Gliawucherang 
besteht nicht. 

Das geschilderte dem Grundtypns der Herde entsprechende Bild findet 
sich rein nur in kleinen Herden, besonders in den Randpartien der Seiten- 
str&nge. Die grosseren Herde zeigen ein etwas anderes, bon teres Aussehen, 
das durch eine schubweise Entwicklnng zu Stande gekommen sein durfte. 
In ihnen finden sich auf dem Querschnitt schon zahlreiche Liicken, die 
entweder gamichts oder eine kaura farbbare krumlig-kbrnige Masse ent- 
halten. Strukturen, wie sie z. B. Boedeker und Juliusburger als netz- 
fbrmig gezeichnete Zellen nach Marchi in diesen Lucken darstellen konnten, 
habe ich mit meinen F&rbungen nicht gesehen. Auf Lftngsschnitten waren 
diese Lucken nicht erkennbar; die am weitesten fortgeschrittenen Partien 
lassen hier ein sehr gelockertes, von den gef&rbten Massen nicht vbllig 
erfulltes, auseinandergedrangtes Gewebe, aber keine leeren Maschen sehen. 
Ich mbchte die letzteren daher als durch Ausfall des Inhalts entstandene 
Kunstprodukte ansehen. 

In der Peripherie der grbsseren Herde zeigen sich femer, w&hrend die 
kleineren aus Faserquellungen ziemlich gleicher Intensitat bestehen, reichlich 
gequollene Fasern in frischeren Stadien, zum Theil mit nur geringen Ver- 
dickungen, auch noch in die umgebenden normalen Fasern eingestreut, sowie 
stellenweise zusammenhangende Massen gleichmassig geschwollener Axen- 
cylinder. 

Eine besondere Besprechung erfordert noch das Verhalten der zelligen 
Elemente. Als bemerkenswerth betrachte ich zunachst das Fehlen von 
Kbmchenzellen. Da ich die Marchi’sche Methode nicht anwandte, sind 
meine Resultate nicht absolut sicher; doch gelang es mir mit den als 
specifisch angegebenen Methoden — Behandlung der Schnitte mit Chrom- 
saure und Osmiumsaure, sowie nach Busch mit Alaunharaatoxylin und 
concentrirter Pikrinsaure — nicht, auch nur vereinzelte Kbrnchenzellen 
darzustellen. Hie und da zeigen sich jedoch auch bei anderen Farbungen 
Zellen mit grosserem Protoplasmaleib, die vielleicht ihres Fettes durch die 
Alkoholbehandlung beraubte Kornchenzellen sein konnten. In irgend be- 
trachtlicher Menge fehlen sie jedoch sicherlich. Corpora amylacea sind in 
grossen Mengen vorhanden, in den Herden selbst, wie in den Gefassscheiden, 
an der Basis der Hinterstrange, in den austretenden Wurzeln u. s. w. Eine 
Bedeutung beanspruchen dieselben kaum. 

Einkernige Zellen mit wenig oder gar nicht zu erkennendem Proto- 
plasma treten jedoch in fast alien Herden in vermehrter Zahl auf. Ein 
Theil derselben mag Glia-, vielleicht auch Gefasskerne vorstellen, die 
zwischen den blasseren Massen deutlicher hervortreten. Die Mehrzahl durfte 
jedoch eine wirkliche Zellinfiltration vorstellen. Sie finden sich bald um 
ein kleineres Gefass angeordnet, bald ohne Beziehung zu einem solchen in 
wechseinder Zahl, jedoch meist so reichlich, dass schon bei schwacher Ver- 
grbsserung die Haufcheu auffallen. Eine Beziehung der Menge zur Grbsse 
des Herdes — abgesehen von ihrem Fehlen in den allerkleinsten — besteht 


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Ueb. Yeranderungen i. Centralnervensystem i. einem Fall tbdtl. Blasenblutung. 359 

nicht, auch liegen sie nirgends im Centrum, sondern mehr oder weniger der 
Peripherie an. Neben ihnen und mit ihnen gemischt linden sich manchmal 
— nicht immer — kleinste Blutungen. Dieselben bestehen nur aus unver- 
Enderten BlutkBrperchen und Bind zwischen den Fasern gelegen, auch wohl 
noch zwischen normalen Fasern der Umgebung. Eine Zertrummerung der 
nervdsen Elemente durch die Blutung findet auch hier nicht statt. 

Eine genaue Durchmusterung der erwfthnten andersartigen Herde in 
den Vorderstr&ngen ergiebt, dass auch diese peripher yon gequollenen 
Neryenfasern gebildet werden, die jedoch sp&rlich sind und nicht kompakt 
zusammenliegen. Ihr Centrum ist jedesmal ein kleines Gef&ss, das yon einer 
homogenen Masse erfiillt ist, die sich mit Fuchsin intensiv roth, mit 
Mallory’schem Hematoxylin blauschwarz fSlrbt. Urn das Gefkss herum 
sind in eine blassere kornige Substanz zahlreiche rothe Blutkdrperchen und 
einkernige Zellen eingebettet. Die Zellanheufung wie die Blutung sind in 
diesen Herdchen betrftchtlich starker, als in jenen mit starkerer Faser- 
degeneration. 

In der Literatur ist auf das Vorkommen yon Blutungen bei den 
Rtlckenmarkserkrankungen der Anamischen besonders von Teichmuller 
Werth gelegt worden, wahrend Minnich sie als unwesentlich be- 
zeichnet hatte. Um Missverstandnisse zu vermeiden, will ich noch 
pracisiren, dass ich an meinen Praparaten yon einem Einfluss der 
Blutungen, jedenfalls von einer wesentlichen Rolle bei Entstehung der 
Degenerationsherde mich nicht tiberzeugen konnte. 

Ich habe den — vielfach Bekanntes nur bestatigenden — histo- 
logischen Befund so eingehend scbildern zu sollen geglaubt, um dem 
Vorwurf einer Verwechslung zu entgehen, die in unserem Fall a priori 
nicht unwahrscheinlich war. Ich meine eine Verwechslung mit den 
ebenfalls von Minnich zuerst geschilderten Befunden der „hydro- 
pischen Erweichung". Es ist von Minnich selbst, neuerdings auch 
von Petren darauf hingewiesen, dass solche Verwechslungen nahe 
lagen und auch schon vorgekommen seien. Ihre Bedeutung liegt 
darin, dass nach Ansicht dieser Autoren die hydropische Erweichung 
keine echte Degeneration ist und zum Untergang von Nervenfasern 
oder zu einer starkeren Functionsstorung nicht ftthrt. Da es im 
Krankheitsverlauf zu einem allgemeinen Oedem, wenn auch erst sub 
finem, gekommen war, sehe ich mich veranlasst, auf die meiner An¬ 
sicht nach principiellen Verschiedenheiten zwischen jenem Process und 
dem unsrigen noch einmal hinzuweisen. 

Ich werde mich an die von Minnich aufgestellten Merkmale 
halten. Eine sicht- oder fQhlbare Erweichung des frischen Rttcken- 
markes bestand nicht; die Schneidbarkeit des Organs war auch eine 
gute (15—25 (i ohne Schwierigkeit). Die bei dem Oedem auftretende 
helle Zeichnung in den Hinterstrangen fehlte gleichfalls (allerdings war 
in unserem Fall die altere Bichromathartung nicht angewandt worden, 


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sondem die Combination mit Formol). Sodann ist die Topographie des 
Oedems eine wesentlich andere. Die hydropische Erweichung geht von 
der Basis der Hinterstrange aus und afficirt in diffuser Weise die 
centralwarts liegenden Partien, schreitet in den Vorder- und Seiten- 
strangen ebenfalls in ringformiger Weise nach innen vor. Es ist dies 
als das auffalligste Charakteristicum dieser Pseudodegeneration gegen- 
uber den Frtlhfallen der Rtickenmarkserkrankungen der Anamie hin- 
gestellt, welche letzteren nie den ausgesprochen multiplen Herdcharakter 
vermissen liessen; dieser tritt ja auch in unserem Fall evident hervor. 

Als histologische Erscheinungen des Oedems gelten die Quellung 
der Glia und eine besondere Affection der Markscheide, durch die der 
Axencylinder erst sekundar und nie in der bei echter Degeneration 
vorkommenden Ausdehnung in Mitleidensckaft gezogen wird. Ich 
weise demgegenuber darauf hin, dass in unserm Fall in alien Herden 
die Axencylinderquellung das am meisten ins Auge fallende Moment 
ist. Auch die Glia ist wohl aus einander gedrangt, aber in ihrer 
faserigen Struktur unverandert; auch Veranderung der Gliazellen, wie 
sie Minn ich beschrieben hat, habe ich nicht gesehen. 

Allerdings fanden sich an meinen Praparaten auch Stellen, die 
eine grossere Aehnlichkeit mit der hydropischen Erweichung haben; 
es sind das die hinteren Wurzeln. Das Gewebe erscheint hier gelockert, 
die Fasern von starkerem Kaliber, bei Pal’scher Farbung tiefblau 
statt blauschwarz gefarbt; vereinzelt auch ausgesprochen varicdse 
Formen. Es erstreckt sich dieses Phanomen auf die im Austreten 
begriffenen Wurzelfasern und die eben ausgetretenen in gleicher Weise; 
die entfernter liegenden Btindelquerschnitte sind ebenso unverandert, 
wie der weitere intramedullare Teil der Fasern. Ich ersehe aus der 
Arbeit von Boedeker und Juliusburger, dass dieselben auch nach 
Marchi Erkrankungen der hinteren Wurzeln bei ausgebreiteter Degene¬ 
ration im Rfickenmark gesehen haben. Die Yerfasser sprechen sich 
tiber die Bedeutung dieser Erscheinung nicht mit Sicherheit aus, halten 
sie aber for degenerativ. Ohne dieser Ansicht irgendwie entgegen 
treten zu wollen, muss ich doch anftihren, dass ich in meinem Fall 
mich nicht entschliessen konnte, diese von der Degeneration der 
Axencylinder in den Herden ganz wesentlich abweichenden Bilder for 
pathologisch zu halten. Ich habe ahnliches nicht selten — vielleicht 
^ufallig — am Rtickenmark an Marasmus, gleichviel welcher Ent- 
stehung, zu Grunde gegangener Individuen gesehen; das die Bttndel 
begrenzende Bindegewebe prasentirte sich dabei gleichfalls in Form 
„eines gewucherten Walles u . Degeneration noch Marchi fehlte. Wie 
diese Bilder zustande gekommen sind, weiss ich nicht zu sagen; jeden- 
ialls sind sie keine Analoga zu den Degenerationsherden. 


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Ueb. Veranderungen i. Centralnervensystem i. einem Fall todtl. Blasenblutung. 301 

Ein weiteres Moment, das ffir die Auffassung der Erkrankung in 
Betracht kommen konnte, ware die Complication durch Carcinom. 
Nachdem zuerst Oppenheim 1 ) auf das Vorkommen von Myelitis 
disseminata bei Carcinomkachexie hingewiesen und Pfeiffer 2 ) fiber 
einen einschlagigen Fall berichtet hatte, ist von Lubarsch 3 ) ein 
grosses Material systematisch untersucht worden. Lubarsch 
kommt zu dem Schluss, dass die von ihm mehrfach beobachteten 
degenerativen Veranderungen im Rflckenmark auf 3 Wegen hatten zu 
Stande kommen konnen: 1. in manchen Fallen durch Blutveranderungen, 
die durch das Carcinom bewirkt waren, 2. bei Magendarmkrebsen 
durch Storung des Chemismus dieser Organe, 3. in seltenen Fallen 
durch beim Zerfall der Carcinome sich bildende Toxine. Das Vor¬ 
kommen von Toxinen in nicht zerfallenen Carcinomen halt er ffir un- 
wahrscheinlich. Punkt 2 und 3 von den angeffihrten Momenten 
konnte ohne weiteres fur die Aetiologie unseres Falles ausgeschlossen 
werden. Punkt 1 konnte doch auch nur in Betracht kommen, wenn 
irgend welche Zeichen von Kachexie bestanden hatten — was aber 
bei unserer Patientin bis zum Eintritt der Blutung nicht der Fall 
gewesen war. 

Bei Durchsicht der 11 positiven Beobachtungen Lubarschs — 
denen sich die anderen Falle in dieser Beziehung vollig anschliessen — 
ergiebt sich nun auch, dass alle diese Rfickenmarkserkrankungen bei 
kachektischen Individuen aufgetreten waren. Nur in einem Fall be- 
stand ein kleines, nicht ulcerirtes Carcinom, mit dem jedoch eine 
pemiciose Anamie vergesellschaftet war. Der Autor neigt selbst der 
Ansicht zu, dass letztere und nicht das Carcinom als veranlassendes 
Moment der Rfickenmarkserkrankung anzusehen ware. 

Der Charakter der Affection wird dabei verschieden geschildert; bald 
wird von einer disseminirten, bald von einer diffusen Myelitis gesprochen. 
Lubarsch hebt hervor: die haufige Mitbetheiligung der hinteren 
Wurzeln, die diffuse Verbreitung des Processes „die selbst in einigen 
Fallen geringffigigster Degeneration eclatant ist u , und das h&ufige Vor¬ 
kommen hydropischer Schwellung. Eine solche diffuse Erkrankung 
mit besonders intensiver Betheiligung der hinteren Wurzeln hatte 
ich fibrigens selbst zu beobachten Gelegenheit (am Rfickenmark eines 
an ulcerirtem Magencarcinom verstorbenen Mannes). Histologisch er- 
wiesen sich die Processe als evident chronisch; der anfangs vor- 

1) Zum Capitel der Myelitis. B. kl. W. 1891. 

2) Dt Zeitschr. f. Nervenheilkunde. Bd. 7. Der von P. in dieser Arbeit 
angezogene Fall Minich’s wird von diesem zur hydropischen Erweichung ge- 
rechnet und dftrfte kaum hierher gehdren. 

3) Zeitschr. f. klin. Medicin. Bd. 31. 


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XXII. Ransohoff 


wiegenden Degeneration folgte spater Gliawucherung, ohne dass 
es zu entzflndlichen Erscheinangen, speciell Leukocyteninfiltration ge- 
kommen ware. 

Es dttrfte nach alledem kein Zweifel sein, dass in unserem Fall 
ganz anders geartete Veranderungen vorliegen. Besonders das [Jeber- 
wiegen der Quellungserscbeinungen fiber die des Zerfalls lasst sie als 
ganz acut entstanden erkennen; sie lassen sich also ungezwungen auf 
jene acute Storung zurtickzuftihren, die der Blutverlust auch im 
Nervensystem hervorrufen musste. 

Die Analogie des Befundes mit den Frtlh fallen bei der perniciosen 
Anamie ist eine fast vollkommene. Die Unterschiede, die ich als 
wesentlich nicht betrachten kann, sind nur die folgenden: Erstens 
fehlt die GliawucheruDg und das Bild der sekundaren Strangerkrankung. 
Letztere, die ursprflnglich als das wesentlicbste Moment aufgefasst 
wurde, ist bald als Folgeerscheinung erkannt und demgemass in 
einigen der frflhesten Falle auch vermisst worden. Es ist dieselbe 
bei dem supponirten hochstens 10 tagigen Bestehen der Erkrankung, 
nattirlich eben so wenig zu erwarten, wie eine Neubildung von Glia- 
gewebe. Dass bereits reaktive Vorgange im Zwischengewebe zustande 
gekommen sind, zeigt das Yorkommen der Rundzelleninfiltration; zu 
weiteren progressiven Processen einer Faserneubildung konnten die- 
selben unmoglich schon geftihrt habeu. 

Ein zweites abweichendes Moment ware das Fehlen von Komchen- 
zellen, die in alien bisher beschriebenen Fallen bald baufig, bald wenigstens 
vereinzelt gefunden wurden. Auch das dtlrfte sich durch den Alters- 
unterscbied erklaren lassen. Die pemiciose Anamie ist doch immerbin 
ein chroniscbes Leiden, so dass auch bei den jtlngsten zur Section 
gekommenen Erkrankungen der Process schon einige Wochen be- 
obachtet worden war. Fur die vorliegenden Herde kann mit Bestimmt- 
heit das Alter als 10 Tage nicht tiberschreitend angegeben werden; 
vermuthlich sind sie noch juuger, da die Schadigung durch den ersten 
Schub der Blutung fQr ibre Entstehung kaum gentigt baben wird. 

Als Zeitpunkt des Auftretens von Komchenzellen in Degenerations- 
herden wird von Ribbeck 1 ) etwa der 5. Tag angegeben; ich mbchte 
jedoch nicht untemehmen, danacb das Alter der Herde mit einiger 
Sicherheit zu betimmen. Ob die infiltrirenden Rundzellen dazu be- 
stimmt sind, die Zerfallsprodukte, sobald solcbe aus den ja noch im 
Stadium der hypertrophischen Quellung befindlichen Fasern entstanden 
sind, in sich aufzunehmen und dadurch zu Komchenzellen zu werden, 
ist ebenfalls eine Frage, die ich nicht zu beantworten vermag. 


1) Lehrbuch der patholog. Anatomie. 


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Ueb. Veranderungen i. Centralnervensystem i. einem Fall todtl. Rlasenblutung. 353 

Wahrend fiber die Rtickenmarkserkrankungen bei Anamien bereits 
ein grosses Material vorliegt, ist das Verhalten des Gehirns bisher 
offenbar vernachlassigt worden. Ich habe in der Literatur nur eine 
Arbeit erwahnt gefunden, die anatomische Befunde bringi Es ist die 
von Birulja 1 ), die mir leider nur im Referat zuganglich war. 
Birulja fand bei der mikroskopischen Untersuchung eines Falles von 
pemicibser Anamie im Grosshim an vielen Praparaten kleine Blut- 
extravasate; ausserdem waren zablreiche lymphoide Zellen eingesprengt, 
die sich aucb in den pericellularen Raumen der Ganglienzellen fanden. 
An letzteren sah Birulja Veranderungen in Gestalt von Pigmentan- 
haufung, Vascularisation, Schwellung und Abnahme der Tinctionsfahig- 
keit durch Carmin. Nonne bespricbt bei Erwahnung der Arbeit 
Birulja’s die Wahrscheinlichkeit eines Vorkommens von Verander¬ 
ungen im Grosshirn bei Anamien, konnte aber weitere anatomische 
Befunde nicht beibringen. Doch erwahnt er zwei klinische Beobach- 
tungen, bei denen eine Affection des Gehirns anzunehmen war. Aehn- 
liche klinische Erscheinungen bei Carcinose, die Oppenheim 2 ) be- 
schrieben hat, ergaben keinen objectiven anatomischen Befund. 

Leider hatte ich nur wenige Partien des Gehirns aufgehoben, 
speciell weder die grossen Ganglien nocb den Hirnstamm, so dass ich 
eine systematische Untersuchung nicht vomehmen konnte und fiber 
die Ausdehnung des Processes keine Angaben zu machen imstande 
bin. Die untersuchten Stttcke entstammten dififerenten Stellen — 
Centralwindungen und Stirnhim — beider Hemispharen. 

An den in gleicher Weise, wie beim Rfickenmark behandelten 
Schnitten erwies sich zunacht die Rinde wenig betheiligt. Vereinzelte 
kleine Blutungen, wie sie reichlicher sich in den grauen Saulen des 
Rflckenmarkes fin den, waren das einzig bemerkenswerthe. Die Zellen 
habe ich nur nach der van Gieson’schen Methode und mit Alaun- 
hamatoxylin — sehr verdunnter Pikrinsaure gefarbt. Veranderungen 
wie Schwellung u. dgl. traten dabei nicht zu Tage; Pigmentanhaufungen 
sind durchaus nicht besonders reicblicb. Ich erwahne auch noch; dass 
z. B. die Riesenzellen der Centralwindungen an Hamatoxylinpraparaten 
die Granula recht gut hervortreten liessen. Eine Untersuchung nach 
Nissl habe ich unterlassen, weil ich fiber die normale Struktur der 
Rindenzellen noch nicht genugend Erfahrung besitze; es mag daher nicht 
ausgeschlossen sein, dass mir feinere Veranderungen entgangen sind. 

Sichere pathologische Erscheinungon finden sich dagegen im 
Mark Es sind dies einerseits Blutungen, die etwas alter sein dtlrften, 


1 ) Ref. im Neurolog. Centralblatt. 1894. 

2) Charity Annalen. 1888. 


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XXII. Bansohoff 


als die gleichen in der Rinde und im Rtickenmark. Sie liegen in der 
Adventitialscheide gr6sserer und kleinerer Gefasse. Neben haupt- 
sachlich wohlerhaltenen, frischen rothen Blutkorperchen findet man 
auch Stellen, an denen dieselben schon zu klumpigen Massen zu- 
sammengebacken sind; zu Blutpigmentbildung ist es aber noch 
nirgends gekommen. Hie und da zeigen sich auch etwas reichlichere 
Kerne in den Blutungen, sowie vereinzelte Zellen von epithelioidem 
Charakter, mit grosserem Protoplasmaleib und ziemlich viel Myelin- 
tropfen. Eine Reaktion des umgebenden Gewebes, in Zerfall oder 
Zellvermehrung bestehend, ist nicht zu konstatiren. 

Weit zahlreicher und schon dadurch, dass sie im Gewebe selbst 
liegen, wichtiger als diese Blutungen sind nun aber kleine, makrosko- 
pisch eben sichtbare (bei Farbungen) Herdchen, die ich als hamor- 
rhagische Entzttndungsherdchen bezeichnen mochte. Dieselben liegen 
theils in der Nahe der Rinde, vorziiglich aber in den tieferen Mark- 
schichten. Sie gleichen fast vollkommen den oben geschilderten kleinen 
Herdchen im Vorderstrang des Lendenmarks und stehen sammtlich in 
Beziehung zu Gefassen. Bald sieht man ein solches seitlich in den 
Herd eintreten; auf geeigneten Schnitten trifft man in der Mitte ein 
kleines Gefass, dessen Wand nur schwer erkennbar und dessen 
Lumen bis auf eine feine Spalte von einer intensiv gefarbten, homo- 
genen Masse erftillt ist Es folgt dann nach aussen wieder eine 
blassere, komig-fadige Substanz, in welche zahlreiche Leukocyten und 
rothe Blutkorperchen eingebettet sind. Letztere uberwiegen mehr als 
im Rtickenmark und bilden stellenweise einen starken peripheren 
Wall, eine zellarmere Schicht um das centrale Gefass freilassencL 
Eine Yerwechselung mit den oben erwahnten Blutungen ist jedoch 
auch hier vollig ausgeschlossen. Die kleinsten Herdchen enthalten 
weit sparlicher rothe Blutkorperchen, bestehen vielmehr grosstentheils 
aus lymphoiden Elementen. In der Umgebung findet sich leichte 
Quellung und Schlangelung der Nervenfasern; jene schwereren 
Veranderungen, wie im Rtickenmark, fehlen jedoch. In den Herden 
selbst ist von zerfallenen Markscheiden nichts wahrzunehmen (auch 
nicht bei Pal'scher Farbung). Ihre Anordnung scheint eine regellose 
zu sein; hier und da befinden sie sich an einem directen feinen Seiten- 
ast eines grosseren Gefasses; doch gelingt es auch auf Serien nicht 
immer Beziehungen zu solchen zu entdecken. 

Ob Birulja etwas ahnliches, wie diese Zellenanhaufungen gesehen 
hat wage ich allein nach dem Referat nicht zu entscheiden. AnaJogien 
finde ich dagegen in den von Oppenheim und Hoppe 1 ) beobachteten 


1) Arch. f. Psych. Bd. 25. 


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Ueb. Ver&nderungen i. Centralnervensystem i. einem Fall todtL Blasenblutung. 365 

theils corticalen, theils subcorticalen miliaren Entztindungsherden bei 
Chorea chronica. Doch erwiesen sich in unserem Fall die Herde, be- 
sonders durch die frische Blutbeimengung als durchweg acuter Ent- 
stehung und jungen Datums. Ruckbildungsvorgange oder Sklerosen, 
die auf eine schon langer bestehende Erkrankung hinweisen konnten, 
fehlen ganzlich. Die bei der Arteriosklerose nicht selten beobachteten 
perivascularen Kemanhaufungen konnen durch die gleiche Ueberlegung 
ansgeschlossen werden, wenn man nicht schon die Unversehrtheit der 
Basalarterien als beweiskraftig ansehen will. Es bleibt also auch bei diesen 
Gehirnherden ausser Zweifel, dass sie als eine Folge einer erst kurz vor 
dem Tode entstandenen StSrung, eben des Blutverlustes zu betrachten sind. 

Was nun den Mechanismus der Entstehung aller dieser Herde 
angeht, so kann dieselbe a priori ohne eine Betheiligung der Blutge- 
fasse kaum gedacht werden. Schon die raumlichen Beziehungen, die 
fiberall zwischen Gefassen und Herden bestehen, weisen auf die Rolle 
jener hin, wie andererseits auch die Analogie mit der pemiciosen 
Anamie. Auch bei dieser liegen jedoch die Verhaltnisse noch nicht 
ganz eindeutig. Einerseits sind ja vielfach hyaline Veranderungen 
der Gefasswande gefunden. Aber es sind doch auch eine Reihe yon 
Fallen beobachtet — auch yon Nonne, dem Hauptverfechter dieser 
Theorie — bei denen die Gefasse ganz normal waren und doch die 
Anordnung der Herde die gleiche, wie bei den anderen. Es bleibt 
also fraglich, ob es sich nicht um conjugirte Erscheinungen handelt. 

Jene als hyalin zu bezeichnenden Wanderkranku ngen der Gefasse 
fehlen in unserem Fall. Im Rtickenmark sind die Gefasswande zwar 
gleichmassig verdickt, das Lumen ist oft recht eng; die Struktur der 
Wand bleibt aber gut erkennbar. Die Reaction mit dem van Gieson- 
gemisch geben sie nicht. Dagegen sind zahlreiche kleinste Gefasschen 
— auch Capillaren — mit Kernen besetzt, die wohl auch zu Haufchen 
zusammentreten, ohne immer Beziehungen zu Degenerationsherden 
zu zeigen. Aehnlich liegen die Verhaltnisse im Gehirn. Kemver- 
mehrung an kleinen Gefasschen und Capillaren zeigt sich in gleicher 
Weise wie im Rtickenmark. Die grosseren erscheinen vielfach starr- 
wandig, mit engen Lumen; die perivascularen Raume erweitert, das 
nachstliegende Gewebe faserig und kemarm. Ein Theil dieser Er¬ 
scheinungen wird wohl einer Schrumpfung bei der Hartung seine Ent¬ 
stehung verdanken, ein anderer als senil zu betrachten sein. Sicher 
pathologisch sind nur die Kernreihen und Haufchen. 

Ausserdem sind an einer Stelle der Himrinde eine Anzahl Ge¬ 
fasse, grosse und kleine, von einem stark lichtbrechenden Hof um- 
geben, der mit den gewohnlichen Farbemitteln eine wesentliche Differenz 
von der Nachbarschaft nicht zeigt. Weder Fasern, noch Kerne, noch 


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XXII. Ransohoff 


Ganglienzellen scheinen verandert. Bei Behandlung der Schnitte mit 
Osmiumsaure farbt sich dieser Hof diffus dunkelbraunlich, ohne dass 
sich weitere Details erkennen liessen. Ich bin mir fiber die Bedeutung 
dieser Erscheinung nicht klar geworden. 

Von wesentlichem Interesse ffir die Rolle der Gefasse erschienen 
mir aber die Gehimherdchen und jene entsprechenden kleinen im 
Vorderstrang des Lendenmarkes. An diesen liegt ja fraglos eine Ge- 
fassverstopfung vor, die auf Gerinnungsvorgangen — analog der 
marantischen Thrombose — beruhen mag. Ob die umgebende kornige 
Schicht einer Nekrose oder einem albuminosen Exsudat entspricht, ist 
kaum zu entscheiden. Dass die Zellen aus dem verstopften Gefass 
stammen, ist wohl nicbt wahrscheinlich; ffir plausibler halte ich es, 
dass die rothen Blutkorperchen — wie beim Infarkt oder am Rand 
einer grosseren Erweichung — aus benachbarten Capillaren in den 
aus der Circulution ausgeschalteten Bezirk eingedrungen sind und 
dass die lymphoiden Elemente das Resultat einer Reaction des um- 
gebenden Gewebes darstellen. 

Wie sich die Faserdegenerationen im Ruckenmark zu diesen 
Herden verhalten, kann ich nicht mit Sicherheit angeben. Ausgeschlossen 
ist wohl, dass sie aus ihnen entstanden sind, da das Zurficktreten der 
Kemvermehrung und der Blutung unerklarlich ware. Das Yorkommen 
der Gefassverstopfung im Rfickenmark beschrankt sich auf eine Zone, 
die insofem unter besonderen Verhaltnissen steht, als sie nur von 
den kleinsten direkt von der Peripherie eintretenden Gefasschen ver- 
sorgt wird. Dementsprechend findet sich im Vorderstrang wohl ein- 
mal ein Zusammenhang zwischen einem grosseren Degenerationsherd 
und einem verstopften Gefass. Yergeblich sucht man dagegen auch 
auf Serien nach solchen in den tiefer liegenden Herden, in den Pyra- 
midenseitenbahnen und im Hinterstrang. Es mfissen hier also doch 
wohl andere Vorgange mitgespielt haben, die sich bisher noch unserem 
Wissen entziehen, ebenso wie bei der perniciosen Anamie. Ob man 
sich dabei ein in der Blutbahn transportirtes Toxin — wie bei dieser 
— als schuldiges Agens denkt, oder wie hier die ausserordentliche 
Veranderung in der Blutzufuhr und Ernahrung, ist schliesslich nicht 
von principieller Bedeutung. Eine nur durch eine Hypothese auszu- 
fullende Lficke bleibt in beiden Fallen. Hinzuffigen will ich hier noch, 
dass sich die geschilderten Verhaltnisse in die Theorie von der gemein- 
samen Ursache der Anamie und der Faserdegeneration jedenfalls nicht 
einffigen lassen. 

Die Bezeichnung des vorliegenden Processes als Myelitis, resp. 
Encephalitis disseminata dttrfte wohl berechtigt sein. Die unter dem 
Bild der hamorrhagischen Entzfindung auftretenden Gehim- und ent- 


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Ueb. Veranderungen i. Centralnervensystem i. einem Fall todtl. Blasenblutung. 367 

sprechenden Rtlckenmarksherde gehoren ja ohne weiteres hierher, wie 
gleicherweise die Kemansammlungen an den Gefassen diese Ansicht 
untersttltzen. Aber anch die Faserdegenerationsherde entsprechen im 
allgemeinen dem Bild, das die Myelitis im ersten Stadium, yor dem 
Anfkreten von Komchenzellen zeigt, wenn man vielleicht von der 
nattlrlich fehlenden Hyperamie absieht. Selbsverstandlich soli die Be- 
zeichnung als Myelitis nur das anatomische Product treffen, wahrend 
ich tlber den Charakter der Erkrankung damit ein Urtbeil nicht fallen 
will. Ich befinde mich mit diesen Ausfiihrungen in Uebereinstimmung 
mit den Ansicbten, die gegenwartig betr. der Herde bei pernicioser 
An ami e wohl die herrschenden sind. 

Eine weitere Frage ware die nach der etwaigen klinischen Be- 
deutung der Herde. Nun hatten ja zwar die Rtlckenmarksherde keine 
objektiven Erscheinungen intra vitam hervorgerufen. Vielleicht ware 
es einer eingehenden daraach fahndenden Untersuchung gelungen, 
doch noch Paresen festzustellen; doch war die Patientin, wahrend 
schon vorgeschrittener Sopor bestand, in ihren Bewegungen durchaus 
unbehinderi Ebenso fehlten Angaben fiber Parasthesien. Es ist da- 
bei aber in Betracht zu ziehen, dass auch die Frtlhfalle der Erkrank- 
ungen bei der pemiciosen Anamie klinische Symptome meist noch 
vermissen lassen, wahrend sie doch in spaterer Zeit zu schweren 
Motilitats- und Sensibilitatsstorungen fuhren. So konnte Nonne in 
in seiner letzten Arbeit bei 7 Fallen mit positivem anatomischen Befiind 
als einziges objektives klinisches Symptom einmal Fehlen der Knie- 
phanome beobachten, ausserdem in 3 Fallen „hartnackige Parasthesien 

Andererseits sind Lahmungen nach starken Blutverlusten ja ein 
nicht zu selten beobachtetes Vorkommniss. Dass deren Entstehung 
auf eine Rfickenmarkserkrankung zurtickzufuhren sein konne, war bis- 
her eine Hypothese, der die anatomische Grundlage noch fehlte, wohl 
wegen des gewohnlich gtinstigen Ausganges. So finde ich z. B. bei 
von Leyden und Goldscheiderangeflihrt, dass diese Lahmungen 
wohl hauptsachlich auf hysterischer oder neuritischer Grundlage be- 
ruhten; „vielleicht — ich citire hier — handelt es sich aber wirklich 
am ischamische Lahmungen oder um Blutungen in oder um die 
Nervensubstanz**. Der vorliegende Fall diirfte geeignet sein, diese 
anatomische Grundlage zu erweisen und damit die Lticke ausftlllen, 
die zwischen diesen Lahmungen und den Erkrankungen bei pernicioser 
Anftmie noch bestand. 

Es lage femer vielleicht nahe, die schon 6 Tage vor dem Tode 
sich bemerkbar machende Benommenheit mit den disseminirten Ent- 


1) Erkrankungen des Rflckenmarks und der Oblongata. S. 342. 


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368 XXII. Rajnsohoff, Ueber VeraDderungen im Centralnervenaystem etc. 

zundungsherden im Grosshim in Zusammenhang zu bringen. Zeigt 
doch das Verhalfcen der motorischen Vorderhornzellen des Rttcken- 
rnarkes, dass die Ganglienzellen weit weniger von der schweren all- 
gemeinen Ernahrungsstorung beeinflusst zu werden brauchen, als die 
Nervenfasem. Immerhin sind seiche soporose Zustande ohne anato- 
misch erkennbare Ursache doch zu haufige Befunde, als dass gegen 
die Theorie von der Ernahrungsstorung der Rinde sich etwas wesent- 
liches anftthren liesse. Mit Sicherheit kann daher diesen Gehimherden 
hochstens eine Mitwirkung zugeschrieben werden, wie sie in gleicher 
Weise auch der diffusenKemvermehrung um dieGefasse zukommen durfte. 

Von einer gewissen Bedeutung ist ferner ihre Rolle vielleicbt for 
jene Psychosen, zu deren Anamnese — wie z. B. bei Puerperalpsychosen 
— Blutungen gehoren. Kommt es ofters nach starkeren Blutrerlusten 
zu ahnlichen Erscheliiungen im Gehim — was allerdings erst eine 
weitere Untersuchung ergeben mtisste — so werden in diesen Fallen 
die Reparationsvorgange, die an den Herden zu erwarten sind, einen 
langer dauernden Reiz im Gehim unterhalten, der jedenfalls zu einer 
Functionsschadigung das seinige beitragen wird. 

Schliesslich mochte ich noch auf das Vorkommen von Heterotopien 
im Riickenmark hinweisen. Sie bieten einerseits Interesse als Signum 
degenerationis bei einer Imbecillen massigen Grades. Andererseits legen 
sie den Gedanken nahe, dass es kein an sich normales, sondero zu 
Erkrankungen disponirtes *) Nervensystem war, das in dieser Weise 
auf die Storung im Bereich des Gefasssystems reagirte. 

Herrn Direktor Dr. Vorster erlaube ich mir auch an dieser Stelle 
meinen ergebensten Dank ftir die gtitige Ueberlassung des Materials aus- 
zusprechen. 


Erkl&rnng der Abbildungen. 

Fig. 1. Langsschnitt; Seitenstrang des Dorsal marks, g: Gefass; a: geschwollene 
AxencyUnder. Gez. bei Vergrosserung 57. Farbung nach vanGieson. 

Fig. 2. Querschnitt; Randpartie des Seitenstrangs im Dorsalmark. c: Septum 
mit Gefass; f: normale Fasern; a: geschwollene Axencylinder, z. Th. mit 
erkennbaren Markresten; z: zellige Elemente. Gez. bei Vergrosserung 330; 
Markscheidenfarbung mit Mallory^chem Hamatoxylin. 

Fig. 3. Tiefes Mark der Centralwindungen; Entzundungsherd. g: Gefass; z: klein- 
zellige Infiltration und r. Bl. (nur ein Theil derselben ist eingetragen). 
Gez. bei Vergrosserung 330; Farbung nach van Gieson. 

Fig. 4. Skizzen zur Erlauterung der Vertheilung der (im Verhaltniss etwas zu 
gross dargestellten) Degenerationsherde im RQckenmark. a und b: Hals- 
mark; c: Len den mark; d: Frontalschnitt durch die hintere Halfte im 
Dorsalmark. Bei x in c: Heterotopie. Gez. nach Projectionsbildem. 

1) s. Pick, Beitrage zur Pathologie etc. S. 310 ff. 


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xxm. 


Untersnchungen fiber die Altersyerfinderungen im 
Rfickenmark. 1 ) 

Von 

Dr. M. Sander 

in Frankfurt &/M. 

(Hierzu Tafel VI and VII.) 

Dass mit zunehmendem Alter auch im Rlickenmark Krankheits- 
processe eintreten, lehrt die tagliche Beobachtung. Wenn bei alten 
Leuten Gberhaupt erst das Centralnervensystem schwerer betroffen er- 
scheint, stellen sick in der Regel auch einzelne Symptome ein, die auf 
Krankheitsprocesse im Rlickenmark hindeuten. Ich erinnere an den 
bald ataktischen, bald mehr spastischen Gang alter Leute, an die Ab- 
stumpfung der Sensibilitat, an die Storungen der Reflexthatigkeit, an 
die Lahmungen der Blasen- und Mastdarmfunctionen, und schliesslich 
an die schweren Formen, die bald als Systemerkrankungen, bald mehr 
unter dem Bilde einer Myelitis eintreten. So spricht man schon seit 
langem von einer senilen Tabes, von einer senilen Paraplegie, man 
kennt eine Form combinirter Systemerkrankung im Greisenalter, die 
Demange als „Contracture tabetique des atheromateux w bezeichnet hat, 
man kennt andere Formen, die sich mehr dem Symptomenkomplex der 
Paralysis agitans nahern. Im allgemeinen haben die senilen Erkran- 
kungsprocesse des Riickenmarks bisher wenig Beachtung gefunden, 
kein Wunder, wenn man beriiGksichtigt, dass es sich hier um Symp¬ 
tome handelt, die meist erst gegen Ende des Lebens auftreten, in der 
Regel keiner Therapie zuganglich sind, und die haufig durch die gleich- 
zeitig bestehende Demenz und den allgemeinen Marasmus vollig verdeckt 
werden. Dem geringen klinischen Interesse, das diesen Formen bisher 
entgegengebracht wurde, entspricht auGh die geringe Ausbeute der 
anatomischen Forschung. Wahrend wir durch neuere Untersuchungen, 
besonders von Campbell, Binswanger, Alzheimer 2 ) u. a. liber die 


1) Nach einem auf der 71. Versammlung „Deutscher Natiuforscher und 
Aerzte u in Mdnchen gehaltenem Vortrage. 

2) Vergl. Alzheimer, Neuere Arbeiten fiber die Dementia senilis. Sammel- 
referat Monatsschrifl fur Psychiatrie und Neurologie. Bd. III. 


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370 


XXUE. Sander 


senilen Degenerationsprocesse des Gehirns eingehend unterrichtet sind 
und mehrere, sowohl klinisch als anatomisch gut unterscheidbare Formen 
keunen gelernt haben, finden sich liber das senile Rlickenmark nur 
wenig Angaben in der Literatur. Demange 1 ) beschreibt im Rficken- 
mark von Greisen Pigmentation der Ganglienzellen, peri- und endarte- 
ritischeProcesse und perivasculare Sklerosen, durch welche das umgebende 
Nervengewebe zum Schwund gebracbt wird. In einzelnen Fallen fand 
er auch kleine miliare Erweichungsheerde im Mark. Campbell 2 ) 
fand im senilen Rfickenmark mit der Marcbi-Methode konstant schwarze 
Schollen liber die weisse Substanz yerstreut, besonders auch in den 
yorderen und hinteren Wurzeln, starke Pigmentation der Ganglienzellen, 
Wucherungen des Stfitzgewebes, besonders in den Seiten- und Hinter- 
strangen. Er bringt die Processe mit der Arteriosclerose der Gefasse 
in Zusammenhang und beschreibt ausserdem kleinste Erweichungsheerde 
und Sklerosen im Bulbus, Stammhirn und innerer Kapsel, die ihrerseits 
wieder umfangreiche secundare Degenerationen im Rlickenmark be- 
dingen. 

Redlich 3 ) beschreibt ebenfalls im senilen Rlickenmark peri- und 
endarteritische Processe sowie Anhaufungen yon Glia um erkrankte 
Gefasse, besonders liber den Seiten- und Hinterstrangen. Er fand diese 
perivasculare Sklerose in einzelnen Fallen von Paralysis agitans beson¬ 
ders ausgesprochen und ist daher geneigt, dieselbe als einen hierfftr 
specifischen Erkrankungsprocess anzusehen, der, falls er im senilen 
Rlickenmark auffcrete, auch besondere klinische Erscheinungen hervor- 
rufen mlisse. 

Fiirstner 4 ) fand in mehreren Fallen von senilem Rfickenmark 
Yerdickungen der Gefasswand, besonders der Media, ohne starkere In¬ 
filtration, ausserdem diffuse Gliavermehrung und plaquesartige peri- 
vaskulare Sklerosen, ohne starkere Zerfallprozesse der nervosen Sub¬ 
stanz. Er betont die Localisation der Veranderungen, besonders fiber 
den Seiten- und Hinterstrangen und das Missverhaltniss zwischen diesen 
Degenerationsprocessen und den klinischen Erscheinungen, 

Nonne 5 ) hat in neuerer Zeit 10 F&lle von senilem Rlickenmark 
untersucht. Auch er fand die charakteristischen perivascularen Sklerosen 


1) Das Greisenalter. Deutsch von Spitzer. Leipzig und Wien 1887. 

2) The morbid changes in the cerebro-spinal nervous system of the aged 
insane. Journal of ment. science. 1894. 

8) Jahrbucher fur Psychiatrie. Bd. XII. 

4) Ueber multiple Sklerose und Paralysis agitans. Archiv ffir Psychiatrie. - 
Bd. XXX. 

5) Ruckenmarksuntersuchungen in Fallen von pemicioser Anamie etc. 
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. Bd. XIX. 


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Untersuchungen fiber die Altersveranderungen im Rfickenmark. 371 


in weniger vorgeschrittenen Fallen besonders ausgesprochen, und meint, 
dass der Process der Oliawucherung sekundar eine Schrumpfdng resp. 
Erdrfickung der Nervenelemente herbeiffihre. Es handle sich bei den 
Nervenfasern stets urn einfach atropische Processe ohne Entzfindungs- 
erscheinungen. Er betont die Aehnlichkeit der Degenerationsprocesse 
mit denen bei pemicioser Anamie, die ebenfalls in der Umgebnng der 
Gefasse ihren Ausgang nebmen. Einige andere hierher gehorige Ar- 
beiten welche hauptsachlich die Beziehungen der Paralysis agitans zu 
den Altersveranderungen im Rfickenmark betreffen, und die Befunde 
der eben erwahnten Autoren nur bestatigen, mochte icb fibergehen, 
zumal ich bereits an anderer Stelle *) fiber dieselben berichtet habe. 

Ich hatte bereits Gelegenheit, auf der Versammlung der sttdwest- 
deutschen Neurologen und Irrenarzte in Baden-Baden im Jahre 1897 
fiber die Altersveranderungen des Rfickenmarks und ihre Beziehungen 
zur Paralysis agitans mich eingehender zu verbreiten. Ich habe die 
damals begonnenen Untersuchungen in den letzten Jahren fortgesetzt 
und verffige gegenwartig im Ganzen fiber ca. 30 Falle von senilem 
Rfickenmark, die ich nach den neueren Methoden untersucht habe. 
Da in fast alien diesen Fallen auch die Hemispharen von anderer Seite 
untersucht wurden, in den meisten Fallen auch der Hirnstamm, in 
einzelnen die peripheren Nerven, so dfirfte dies Material wohl geeig- 
net erscheinen, uns einen Einblick in die senilen Degenerationsprocesse 
des Rfickenmarks zu gewahren. Ffir erschopfend kann ich auch diese 
Zahl noch nicht ansehen, denn grade die auf dem Boden der Gefass- 
degeneration erwachsenen Krankheitsprocesse haben ein so mannigfal- 
tiges Aussehen, dass ich glaube, dass auch hier noch andere histolo- 
gische Bilder zur Beobachtung kommen. Ein weiterer vollig einwands- 
freier Fall von Paralysis agitans stand mir bei der ausserordentlichen 
Seltenheit dieses Materials nicht mehr zu Gebote, ich muss mich daher 
in Bezug hierauf auf meine frfiheren Befunde beschranken, zumal auch, 
soweit mir bekannt, von anderer Seite in der Zwischenzeit nichts neues 
dem hinzugeffigt wurde. 

Das Alter der untersuchten Falle bewegt sich zwischen 87 und 
51 Jahren. Es wird hierbei manchem wunderbar erscheinen, dass man 
bei einem Alter von 51 Jahren von einem senilen Rfickenmark sprechen 
kann. Ich muss zur Erklarung hierffir etwas vorwegnehmen, worauf 
ich weiterhin noch zurfickkomme. 

Ein wesentliches Momeut ffir das Zustandekommen aller senilen 
Veranderungen bildet die Arteriosklerose der Gefasse. Diese tritt 


1) Vergl. Sander, Paralysis agitans u. Senilitat. Monatsschrift ffir Psy- 
chiatrie u. Neurolegie. Bd. III. 

DeoUche Zeitschr. f. Nervenheilkande. XVII. Bd. 25 


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372 


XXIII. Sander 


bekanntlich nicht immer erst im hoheren Alter auf, sondern unter 
dem Einflass gewisser Schadlichkeiten, wobei namentlich die Lues 
eine grosse Rolle zu spielen scheint, auch prasenil. Diese frtihzeitige 
arteriosklerotiscbe Gefassdegeneration befallt im Gegensatz zu der im 
hohern Alter auftretenden, die mebr einen universellen Cbarakter tragt, 
vorzugsweise einzelne Organe, darunter nicht selten das Centralnerven- 
system. Ich verweise hier namentlich auf die Untersucbungen der 
inneren Kliniker, besonders auf die schone Arbeit von Edgreen 1 ) fiber 
diesen Gegenstand. 

Es wird uns unter solchen Umstanden nicht Wunder nehmen 9 
wenn wir in einzelnen Fallen schon sehr frfihzeitig Degenerations- 
processe im Rfickenmark vorfinden, die wir sonst erst in weit hoherem 
Alter zu sehen gewohnt sind und die wir ihrem Charakter nach nur 
als senil bezeichnen konnen. 

Was die klinischen Symptome dieser senilen Rfickenmarksver- 
anderungen betrifft, so erwahnte ich schon oben, dass dieselben haufig 
durch die vorgeschrittene Demenz, die eine genauere Untersuchung 
ausserordentlich erschwert, sowie durch den allgemeinen Marasmus 
verdeckt werden. Bei anderweitigem Material, ausserhalb der Irren- 
anstalten, dfirfte man viel haufiger auch Kranke antreffen, bei denen 
die senilen Veranderungen ausschliesslich Oder zum grosstentheil im 
Rfickenmark localisirt sind. Hier ist eine genaue Feststellung der 
Symptome yiel leichter moglich. Immerhin gelang es in vielen Fallen, 
schon intra yitam einen dem spateren mikroskopischen Befunde ent- 
sprechenden Symptomencomplex nachzuweisen. Ich kann mich daher 
auch der Ansicht von Ffirstner und Nonne, dass selbst schwerere 
senile Yeranderungen im Rfickenmark ohne jede Symptome von 
Seiten der Motilitat und Sensibilitat verlaufen konnen, nicht vollig an- 
schliessen. Insbesondere mochte ich auch die Storungen in der Muskel- 
innervation, die sich vorzugsweise beim Gehen und Stehen aussem, 
die sog. „Wacklichkeit“ alter Leute, nicht ffir bedeutungslos ansehen. 
Meine Untersuchungen lehren mich, dass die schweren Formen seniler 
Degeneration vorzugsweise zuerst die Randpartien des Rfickenmarkes 
betrefifen, und die hier verlaufenden Kleinhirnbahnen in Mitleiden- 
schaft ziehen. Es liegt nahe, die sehr haufig vorhandenen atak- 
tischen Storungen mit diesen Herden in Zusammenhang zu bringen. 
Auch die Erfahrung, dass bei schwerer Senilitat vorzugsweise 
spastische Symptome fiberwiegen, findet durch die mikroskopischen 
Befunde hinreichende Erklarung. Die Pyramiden-Seitenstrange sind 
ein Pradilektionsort seniler Degenerationsprocesse. Demgegenfiber 


1) Die Arteriosklerose. Leipzig, Veit & Co. 1895. 


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Untersuchungen fiber die Altersveranderungen im Rfickenmark. 373 

tritt die Erkrankung der Hinterstrange weit mehr zurfick und es kann 
nicht Wunder nehmen, wenn man namentlich Sensibilitatsstorungen 
nur schwer nachweisen kann, zumal bei der oft hochgradigen Demenz 
der Patienten. In einigen Fallen konnte das Westphal'sche Phanomen 
nachgewiesen werden. Die Storungen in der Blasen- und Mastdarm- 
function wird man wohl in erster Linie von den schweren Degenerations- 
processen in der grauen Substanz, besonders an den Ganglienzellen, 
abhangig machen mfissen. In den Fallen, in denen der charakteristische 
Alterstremor besonders ausgepragt war, fanden sich meist schwerere 
Erkrankungsprocesse in den Pyramidenbahnen. In 2 Fallen, in denen 
nach dem Krankheitsbilde betrachfcliche Degenerationen im Rficken¬ 
mark yermuthet werden mussten, fanden sich im Gegentheil auffallend 
geringe Veranderungen. Es handelte sich beide Mai um Kranke, die 
in den letzten Lebensmonaten ziemlich schnell auftretende Spasmen 
sammtlicher Extremitaten, dazu Inkontinenz von Blase und Darm be- 
kamen. Ich glaube annehmen zu konnen, dass in diesen beiden Fallen, 
bei denen auch die Untersuchung der peripheren Nerven nur un- 
wesentliche Veranderungen aufwies, der in der Rinde sich abspielende 
Degenerationsprocess, der hier besonders hochgradig erschien, fur das 
Zustandekommen der Symptome von wesentlicher Bedeutung war. 

In folgendem gebe ich eine kurze Uebersicht der von mir unter- 
suchten Falle. Ich bemerke dabei, dass ich in dem Auszug aus den 
Krankengeschichten im wesentlichen nur die Befunde erwahnt habe, 
welche vom Rfickenmark abhangige Functionen betreffen. Bei der 
ausserordentlichen Schwierigkeit einer exacten Untersuchung derartig 
dementer Patienten wird man auch hier manche Lucke entschuldigen 
mfissen. Der mikroskopische Befund bezieht sich ebenfalls nur auf 
das Rfickenmark und in einzelnen Fallen auf die peripheren Nerven. 

Die Methoden, deren ich mich zur Untersuchung bedient habe, 
waren einmal die fiblichen Markscheidenfarbungen (Weigert, Pal, 
Wolters) ferner die Methoden nach Marchi, Nissl, die Weigert’sche 
Neuroglia-Farbung und die Farbung nach v. Gieson. 


Krankengeschichte. 

1. Katharine J., 77 Jahre alt, aufgenommen d. 10. VIII. 1897, ge- 
storben d. 7. III. 1898. 

Anamnese: 1 Jahr vor der Aufhahme Abnahme der geistigen Krfifte, 
in der Anstalt fortschreitende Demenz mit Erregungszustfinden. 

Status: Pupillen eng, sehr trfige reagirend, Patellarreflexe normal, 
kein Fnssclonus, leichtes Zittem der H&nde. Gesichtsmnskeln auffallend 
starr und unbeweglich, Sinnesorgane nicht priifbar, Horvermfigen scheint 
herabgesetzt, Mobilitftt intact Incontinentia urinae et alvi. 

25* 


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374 


XXIII. Sander 


Sectionsbefund. Verkalkung aller Arterien, sowie der Herzklappen. 
Emphysem der Lungen. Fettleber. Arteriosklerotische Schrumpfniere. Pachy¬ 
meningitis fibrinosa, Oedem der Pia. Leptomeningitis chronica diffusa, 
Atrophie des Gehirns. In der Pia spinalis, besonders hber den Hinter- 
strangen, zahlreiche Kalkplattchen. Keine Verffcrbung in den Rucken- 
marksstr&ngen, grane Snbstanz blutarm. 

Mikroskop. Befund. Markscheiden: In der ganzen Peripherie 
des Markes bis an die grane Snbstanz heran leicht gelichtet, besonders 
iiber den Seiten - nnd Hinterstr&ngen, nach Mar chi vereinzelte Schollen 
hber dem Qnerschnitt. Glia am Rande leicht gewnchert, in der granen 
Snbstanz dentlich vermehrt. Ganglienzellen massig degenerirt. 

2 . Margarethe G., 64 Jahre alt, anfgenommen d. 24. VIII. 1897, ge- 
storben d. 23. VI. 1898. 

Anamnese: Seit 4 Jahren znnehmende Demenz, seit 1 Jahr Verwirrt- 
heitsznstande, zeitweilig unrein. 

Status: Pnpillen mittelweit, sehr trage reagirend, anf dem rechten 
Auge Strabismus convergens, Patellarreflexe lebhaft. Gang sehr nnsicher 
(Gesichtsfeld defekt). Keine Parese, keine grobere Sensibilitatsstbmng. In 
den letzten Lebensmonaten spastische Contraktnren der nnteren Extremitaten. 
rechterseits starker, Patellarreflexe kanm ansznlosen, fortschreitender Decu¬ 
bitus, Incontinentia Urinae et alvi. 

Sectionsbefund: Arteriosklerose der Aortenklappen, beginnende 
Pneumonie im rechten Unterlappen. Fettige Degeneration der Leber und 
linken Niere. Hyperamie der rechten Niere. Leptomeningitis chronica 
massigen Grades, Erweiterung der Ventrikel, Arteriosklerose der Basis- 
gefasse. Riickenmark makroskopisch ohne Veranderungen. 

Mikroskop. Befund. Markscheiden in der Peripherie leicht ge¬ 
lichtet, an vereinzelten Stellen mehr plaquesartig, nach Marc hi vereinzelte 
Schollen iiber dem Qnerschnitt, etwas starker in der Peripherie und in den 
hinteren Wurzeln, besonders in ihrem intraduralen Abschnitt Glia in der 
granen Snbstanz leicht vermehrt, im Mark normal. 

3. Helene M., 65 Jahre alt, anfgenommen d. 1. VEI. 1897, gestorben 
d. 19. VII. 1897. 

Anamnese: Seit 1 Jahr zunehmende Demenz ohne korperliche Er- 
scheinungen. 

Status: Pnpillen eng, trage reagirend, leichtes Zittern der gespreizten 
Hande, Patellarreflexe normal, Motilitat nnd Sensibilitat nicht gestflrt. 

Sectionsbefund. Beiderseitige Schmmpftiiere. Struma. Verdickung 
der Pia, Erweiterung der Ventrikel, Atrophie des Gehirns, Arteriosklerose 
der Basisgefasse. Riickenmark ohne makroskopische Veranderungen. 

Mikroskop. Befund. Markscheiden: Leichter Ausfall an der 
Peripherie, nach Mar chi diffuse Schollen iiber dem Qnerschnitt, vereinzelt 
anch im n. Gruralis und Medianus. 

4. Wilhelmine R., 88 Jahre alt, anfgenommen d. 12. XI. 1896, ge¬ 
storben d. 24. X. 1897. 

Anamnese: 1 Jahr vor der Aufhahme beginnende Demenz ohne kSrper- 
liche Erscheinungen. 

Status: Pnpillen gleichweit, etwas trage reagirend, Patellarreflexe 
gesteigert, keine grobe Lahmung der Extremitaten. Sensibilitat nicht 
zu priifen. 


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Untersuchungen fiber die Altersveranderungen im Rfickenmark. 375 

Sectionsbefund. Bronchopneumonia im rechten Unterlappen, Cirrhose 
der Leber und Nieren, Cholelithiasis. Pachymeningitis chronica m&ssigen 
Grades, circnmscripte Atrophien der Rinde, Arteriosklerose der Basisgeffisse. 
Rfickenmark ohne Verfinderungen. 

Mikroskop. Befnnd. Markscheiden in der Peripherie stark ge- 
lichtet. Glia der granen Snbstanz leicht vermehrt Ganglienzellen hoch- 
gradig degen erirt. 

5. Wilhelmine &, 83 Jahre alt, aufgenommen d. 6. III. 1896, ge- 
storben d. 31. V. 1898. 

Anamnese: Im Juli 1895 Schlaganfall. seitdem fortschreitende Demenz 
mit Erregungszustanden. 

Status: Pupillen nicht different, sehr trfige reagirend, Parese der 
rechten Hand, zeitweilig Zuckungen in derselben, beiderseits deutlicher 
Tremor. Patellarreflexe normaL In den letzten Lebensmonaten dauernd 
unrein. 

Sectionsbefund. Myocarditis. Hochgradige Arteriosklerose der 
Herzklappen und der Aorta. Arteriosklerotische Schrumpfhiere. Leptome¬ 
ningitis chronica diffusa, Hydrocephalus externus et internus. Hochgradige 
Atrophie der Hirnwindungen. Miliare Erweichungsherde in der Rinde, Er- 
weichungslierde im Kopf des Streifenhfigels linkerseits. Rfickenmark im 
Querschnitt auffallend schmal, in der Pia spinalis zahlreiche Kalkpiattchen. 

Mikroskop. Befunde. Nach Marchi frischeSeitenstrangsdegeneration 
einer Seite, der entgegengesetzte Vorderstrang nur undeutlich betroffen. 
Schollen in der ganzen Peripherie, an einzelnen Stellen etwas starker, 
besonders in den untern Rtickenmarksabschnitten. 

6 . Elisabeth R., 83 Jahre alt, aufgenommen d. 13. XI. 1897, ge- 
storben d. 26. II. 1898. 

Anamnese: Seit 6 Jahren zunehraende Demenz ohne korperliche 
Erscheinungen. 

Status: Pupillen gleich weit, etwas trfige reagirend, leichtes Zittern 
der Zunge und vorgestreckten Hfinde, Patellarreflexe beiderseits lebhaft, 
links etwas starker, Gang leicht spastisch, trippelnd, Sensibilitat nicht 
zu prfifen. 

Sectionsbefund. Atherom der Aorta. Chronische Nephritis, hoch- 
gradiger Marasmus, Oedem der Pia, Atrophie der Rinde und des Hemisphfiren- 
marks, Arteriosklerose der Basisgeffisse. Rfickenmark ohne Verfinderungen. 

Mikroskop. Befunde. Markscheiden: Leichter Ausfall am Rande, 
in den unteren Abschnitten starker, Hinterstrange leicht gelichtet, besonders 
in ibrem dorsomedialen Theil, nach Marchi vereinzelte Schollen fiber dem 
Querschnitt, sowie in den vorderen Wurzeln. Starke Arteriosklerose der 
Rfickenmarksgefasse. 

7. Heinrich M., 62 Jahre alt, aufgenommen d. 3. XII. 1897, ge- 
storben d. 11. VI. 1898. 

Anamnese: Seit 5 Jahren zunehmende Demenz, 4 Wochen vor der 
Aufhahme erhebliche Verschlimmerung. Ataktischer Gang. Lues festgestellt. 

Status: Pupillen eng, R<L, beide sehr trfige reagirend. Leichtes 
Zittern der Zunge und ausgestreckten Hande. Patellarreflexe links nicht 
auszulosen, rechts angedeutet, Hautreflexe abgestumpft. Sensibilitat unsicher 
zu prfifen, jedenfalls erheblich gestort 

Sectionsbefund. Beiderseitige Pleuritis. Fettige Degeneration der 


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376 


XXIII. Sander 


Leber. Beiderseitige Pyelonephritis und eitriger Blasenkatarrh. Frischer 
Bluterguss im Gebiet des rechten Stirn- und Parietallappens, Verdickung 
der Pia, Atrophie der Hirnwindungen, Arteriosklerose der Hirngef&sse. 
Graue Degeneration der Hinterstr&nge im Rfickenmark. 

Mikroskop. Befund. Totale Degeneration der Burdach’schen und 
GolFschen Strange, nach Marchi: Diffuse Schollen in geringer Zabl fiber 
dem Querschnitt, etwas starker fiber den Seitenstrangen. 

8. Eduard R, 61 Jahre alt, aufgenommen d. 27. X. 1896, gestorben 
d. 10.1. 1898. 

Anamnese: 6 Jahre vor der Aufnahme zunehmende Demenz, Ver- 
schlechterung des Ganges, Seh- und Horvermogens, epileptische AnfUlle mit 
yortibergehenden Lahmungen. 

Status: L. Pupille < R., beide sehr trage reagirend, beiderseitige 
Atrophie der n. optici, Horvermogen beiderseits herabgesetzt, Patellarreflexe 
fehlend, starke Ataxie der unteren Extreraitaten. Sensibilitat in Folge der 
Demenz nicht sicher zu prtifen. 

Sectionsbefund. Katarrhalische Pneumonie, atheromatose Geschwfire 
der Aorta, chronische Nephritis. Leptomeningitis chronica diffusa, links 
starker als rechts. Hfihnereigrosser frischer Erweichungsherd im rechten 
Scheitellappen, hochgradige Atrophie der Windungen der linken Hemi- 
sphare, rechterseits weit geringer. Rtickenmark ohne makroskopische Yer- 
finderungen. 

Mikroskop. Befund. Alte Degeneration der Hinterstrange, nach 
Mar chi frische Degeneration in einem Wurzelgebiet beiderseits im Lenden- 
mark, bis weit nach obenhin deutlich zu verfolgen. Glia fiber den Hinter- 
strfingen gewuchert. 

9. Abraham R, 58 Jahre alt, aufgenommen d. 20.1. 1898, gestorben 
d. 15. II. 1898. 

Anamnese: 3 Jahre vor der Aufnahme linksseitige Lfihmung, welche 
nach einem 2. Schlaganfall am Bein bestehen blieb. Seit dieser Zeit fort- 
schreitende Demenz. 

Statu8: Parese des linken Augenlides, Zunge nach rechts abweichend, 
Pupillen deutlich reagirend, nicht different, Patellarreflex beiderseits leb- 
haft, linkes Bein beim Gehen nachgeschleift. 

Sectionsbefund. Fettige Degeneration der Leber, beiderseitige Schrumpf- 
nieren, chronische Cystitis, Vereiterung des perivaskularen Bindegewebes. 
Leptomeningitis chronica diffusa, Oedem der Pia, Erweiterung der Ventrikel, 
multiple bis erbsengrosse Erweichungsherde in beiden Hemisphfiren, Atrophie 
der \Vindungen, arteriosklerotische Degeneration der Basisgeffisse und 
feineren Hirngefksse. Ruckenmark ohne deutliche Verfinderungen. 

Mikroskop. Befund. Alte Degeneration eines Pyramidenseiten- 
stranges. 

10. Engelhardt F., 60 Jahre alt, aufgenommen d. 22. X. 1897, ge¬ 
storben d. 22. VII. 1898. 

Anamnese: 10 Jahre vor der Aufnahme Lues (Schanker, Roseola), 
2 Jahre spfiter Verschlechterung des Gehvermogens, Schmerzen in den 
Beinen, seit 7 Jahren Incontinentia urinae, seit 3 Jahren zunehmende 
Demenz. 

Status: L. Pupille >> R, beide fast reactionslos, lebhaftes klein- 
schlfigiges Zittern des Kopfes und der Hfinde, stark gesteigerte Patellar- 


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UntersuchuDgen fiber die Altersveranderungen im Ruckenmark. 377 


reflexe, Gang leicht spastisch, unsicher, kein Romberg, deutliche Propulsion, 
Sprache lallend und unsicher, Starre der Gesichtsmusculatur, Sensibilitfit 
bei der vorgeschrittenen Demenz nur unsicher zu priifen. Nadelstiche 
rufen an beiden Unterschenkeln keine Reaction hervor. Andauernd unrein. 

Sectionsbefund. Fettige Degeneration der Leber. Allgemeine 
Arteriosklerose. Leptomeningitis chronica, Ependymitis granulosa, Arterio- 
sklerose der Basisgef&sse. Hydrocephalus externus et internus. Atrophie 
der Hirnrinde. Ruckenmark ohne makroskopische Ver&nderungen. 

Mikroskop. Befund. Markscheiden. Starker Ausfall in der 
Peripherie, am st&rksten in den seitlichen Partien des mittleren und 
unteren Brustmarkes, hier auf das Gebiet der Seitenstrfinge tibergreifend. 
Plaquesartige Degenerationen ohne Zusammenhang mit der Peripherie in 
den untern Rfickenmarksabscbnitten, besonders fiber den Hinterstrfingen. 
Sekundfire Degeneration beider Pyramidenseitenstr&nge im Lendenmark, 
desgl. der Goll'schen Strftnge im Halsmark. Nach Marchi starkere Schollen- 
anhftufung fiber den Hinterstrfingen im Halsmark, besonders in den Goll’schen 
Strfingen, sowie in geringem Grade diffuse Schollen fiber dem Querschnitt. 
Glia Entsprechend dem Markscheidenausfall stark gewuchert, mfichtige 
Randsklerose, plaquesartige Gliawucherungen, perivaskulfire Sklerose. Gang- 
lienzellen mfissig stark degenerirt. Hochgradige Degeneration der Rficken- 
marksgefUsse ohne Infiltrationen. 

11. Theodor M., 67 Jahre alt, aufgenommen d. 7. XI. 1897, gestorben 
d. 20. XI. 1897. 

Anamnese: Seit 30 Jahren wiederholt in langen Zwischenr&umen 
Krankheitszust&nde mit Schwindel, Doppelsehen, Par&sthesien, Ohnmachten, 
psychische Reizbarkeit. Auf Quecksilbercur stets volliger Rfickgang der 
Erscheinungen. Seit 2 Monaten zunehmende Verschlechterung des Ganges, 
Sehstfirungen, Zust&nde von Verwirrtheit. 

Status: Pupillen gleichweit, reagiren trfige, linksseitjge Parese, links- 
seitiger Lagophthalmus, Sensibilit&t nicht deutlich gestort. 

Sectionsbefund. Croupfise Pneumonie. Leptomeningitis und Meningo¬ 
encephalitis diffusa, rechts st&rker als links, grosser filterer Erweichungs- 
herd im rechten Stirnlappen, frischer Erweichungsherd in der rechten Klein- 
hirnhemisphfire, Ependymitis granulosa, hochgradige Arteriosklerose der 
HirngefiLs8e. Verdickung und Verwachsung der Rtickenmarkshftute im Brust- 
und unteren Halsmark, Einlagerung von Kalkplfittchen. 

Mikroskop. Befund. Markscheiden: Leichter Ausfall in der 
Peripherie, sowie fiber den P. S.- und Hinterstrfingen, am stfirksten in dem 
durch meningitische Schwarten comprimirten Brustmark. Nach unten und 
oben hiervon leichte sekundfire Degeneration. An einer Stelle im Brust¬ 
mark gummose Wucherung bis an’s Vorderhom derselben Seite heranreichend. 
Glia: Am Rande und in der grauen Substanz deutlich vermehrt. Hoch¬ 
gradige Arteriosklerose der kleineren und grosseren Rfickenmarksgeffisse. 

12. Ludwig W., 70 Jahre alt. Im Siechenhaus gestorben. Intra vitam 
keine erheblichen Alterserscheinungen. 

Sectionsbefund. Carcinoma Oesophagi, Emphysema pulmonum, starke 
Verkalkung der Basisgefasse. 

Mikroskop. Befund. Markscheiden am Rande gelichtet, besonders 
im Brust- und Lendenmark, nach Marchi diffuse Schollen fiber dem Quer¬ 
schnitt. Glia entsprechend den gelichteten Partien leicht gewuchert. 


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XXIII. Sander 


13. Ludwig M., 62 Jahre alt, aufgenommen d. 22. IV. 1896, gestorben 
d. 1 . m. 1898. 

Anamne8e: 4 Woclien vor der Aufnahme Beginn der Erkrankung 
mit Vergesslichkeit, Grbssenideen, Erregungszustanden. 

Status: Zittem der Zunge and H&nde, Pupillen gleichweit, tr&ge 
reagirend, Patellarreflexe lebhaft. Sensibilitftt intact. 

Sectionsbefund. Pneumonia catarrhalis dextra, Pleuritis chronica, 
Hypertrophia cordis, Leptomeningitis chronica diffusa, Arteriosklerose der 
Basisgefasse, Hydrocephalus externus et internus, Ependymitis granulosa. 
Riickenmark ohne Verknderungen. 

Mikroskop. Befund. Im Brust- und Lendenmark die Mark- 
scheiden in der Peripherie bis an die graue Substanz heran gelichtet, 
nach dem Band zu starker, nach Marchi diffuse Schollen in geringem Grade 
iiber dem Querschnitt, in der Peripherie etwas starker. 

14. David S., 76 Jahre alt, aufgenommen d. 10. X. 1875, gestorben 
d. 21. X. 1897. 

Anamnese: Anfangs periodische Psychose, in den letzten Lebensjahren 
zunehmend senil. 

Status: Pupillen gleichweit, fast reactionslos, Patellarreflexe kaum 
auszulosen, Gang ataktisch, unsicher, Sensibilitat ohne deutliche Stbrung. 

Sectionsbefund. Schrumpfung und Verkalkung der Herzklappen, 
Hypertrophie des Herzens, beiderseitige Schrumpfnieren. Atrophie des Ge- 
hirns, Arteriosklerose der Hirngefasse, geriuge Verdickung der Pia, Er- 
weiterung der Ventrikel, Hydrocephalus externus. In der Pia spinalis 
kalkige Einlagerungen liber den Hinterstrangen, leichte Verfarbung der 
letzteren. 

Mikroskop. Befund. Geringe Degeneration der Hinterstrange. 

15. Elisabeth K., 85 Jahre alt, aufgenommen d. 12. X. 1896, ge¬ 
storben d. 19. XI. 1897. 

Anamnese: 3—4 Jahre vor der Aulhahme beginnende Erkrankung 
mit zunehmender Gedachtnissschwache und korperlicher Hinfailigkeit. 

Status: Lebhaftes Zittern des Kopfes und der Hande, bei Bewegungen 
zunehmend, keine Lahmungen. Patellarreflexe bei der Anspannung des Pat. 
nicht zu priifen. Dauernd unrein. 

Sectionsbefund. Beiderseitige Schrumpfnieren, Atrophie des Gehirns, 
Verdickung der Pia, Erweiterung der Ventrikel. 

Mikroskop. Befund. Markscheiden: Markscheiden allenthalben 
leicht gelichtet, am starksten am Rand und liber den Hinterstrangen. 
Seitenstrange durchgangig intact. Nach Marchi vereinzelte Schollen. 
Glia liber den Hinterstrangen und am Rande deutlich vermehrt, in der 
grauen Substanz starke Sklerose, zahlreiche Spinnenzellen. Gang lien- 
zellen hochgradig degenerirt, kaum eine einzige Zelle noch als normal 
anzusehen, Gefasse stark geschlangelt und erweitert, mit verdickten 
Wandungen, einzelne Lumina obturirt. 

16. v. K, 60 Jahre alt, aufgenommen d. 28. IV. 1898, gestorben 
d. 20. VI. 1898. 

Anamnese: Seit 6 Jahren geringere geistige Frische, vor 4 Jahren 
vorubergehender Schlaganfall, seit 3 Jahren zunehmende linksseitige Lahmung, 
fortschreitende Demenz. 

Status: R. Pupille < L. und lichtstarr. fibriliare Zuckungen der her- 


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Untersuchungen fiber die Altereveranderungen im Rfickenm&rk. 379 


vorgestreck ten Zunge, bei passiven Bewegongen der nnteren Extremitfiten 
erhebliche Widerstftnde, Patellarreflexe erbalten, Sprache ataktisch, Stehen 
and Gehen unmfiglich. Eingehendere Sensibilitfitsprfifung nicht raoglicb, 
Schmerzempfindang iiberall erhalten, 

Sectionsbefund. Verdickung der Herzklappen, fettige Degeneration 
der Leber nnd Nieren, eitrige Bronchitis mit kleinen pneamonischen Herden. 
Athrophie der Rinde and der Thalami optici, Verdickung der Pia, Er- 
weiternng der Ventrikel, Arteriosklerose der HirngefUsse, Efickenmark ohne 
Ver&nderungen. 

Mikroskop. Befund. Markscheiden: Leichter Ansfall fiber den 
Seitenstrfingen and am Eande, auf der einen Seite stfirker, auch oberhalb 
der Pyramidenkreuzung das gleiche Verhaltniss, an einzelnen Stellen am 
Eande plaqnesartiger Ansfall. Nach Mar chi, frischer Zerfall in beiden 
Seitenstrfingen, einseitig st&rker, leicht diffuse Schollen fiber dem Quer- 
schnitt, frische perivaskal&re Schollenanh&ufungen am Eande. Glia leicht 
gewnchert fiber den Seitenstrfingen, in der granen Substanz Spinnenzellen. 
Ganglienzellen stark degenerirt, starke Gef&sserkrankung. 

17. Andreas M., 67 Jahr alt, aufgenommen d. 28. XII. 1897, ge- 
storben d. 19. VI. 1899. 

Anamnese: Von jeher etwas nervfis. Beginn der Erkranknng 
circa V 4 Jabr vor der Aufhahme mit Eeizbarkeit, Unruhe, Schlaflosigkeit, 
Depression. 

Status: Pupillen gleichweit, trfige reagirend, Spannungen der Mus- 
culatur, z. Th. psychisch bedingt, Patellarreflexe gesteigert, Fussclonus. 
Gang stark spastisch nnd unsicher. Dupuytren’sche Contraktnren an den 
Fingern. Maskenartige Starre der Gesichtsmuskeln, Glossy skin, hochgradige 
Abmagernng der Mnscnlatnr. 

Sectionsbefund. Atheromatfise Degeneration der Aorta und Aorten- 
klappen, fettige Degeneration der Leber nnd Nieren. Pnenmonische Infiltration 
der Unterlappen beider Lnngen, alte Tubercnlose der rechten Lungenspitze. 
Verdickung der Pia, leichte Atrophie des Gehirns, Atherom der Basis- 
geffisse, Leptomeningitis chronica spinalis im Brust- nnd Lnmbalmark. 

Mikroskop. Befnnd. Marchi: Frische Degeneration (leichteren Grades) 
der einen Seite und des entgegengesetzten Vorderstranges, in der Pyramide 
entsprechend, dazwischen filterer Ansfall. Leicht diffuse Schollen fiber den 
Hinterstr&ngen nnd vereinzelt am Eande. 

18. Marie N., 65 Jahre alt, aufgenommen d. 9. III. 1899, gestorben 
d. 20 . III. 1899. 

Anamnese: Beginn der Erkranknng einige Monate vor der Anfnahme 
mit Gedfichtnissschwftche, Depression, Kleinheitsideen, znnehmender Unruhe. 

Status: Pupillen nicht different, ausgiebig reagirend, Sehnen- und 
Hautreflexe normal, Sensibilitfit intact, Gang und Sprache ohne Be- 
sonderheiten. 

Sectionsbefund. Atherom der Aortenklappen und des Anfangstheiles 
der Aorta, rechtsseitige Pleuritis, fettige Degeneration der Leber, beider- 
seitige Schrumpfnieren. Leptomeningitis chronica leichteren Grades. Hy¬ 
drocephalus internns. Euckenmarkssubstanz beim Durchschneiden leicht 
knirschend. 

Mikroskop. Befund. Marchi. Diffuse Schollen in geringem Grade 
gleichmfissig fiber dem Querschnitt verstreut, etwas starker am Eande. 


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XXIII. Sander 


19. Margarethe W., 66 Jahre alt, aufgenommen d. 26. VII. 1898, 
gestorben d. 8. III. 1899. 

Anamnese: Beginn der Erkrankung 1 Jahr vor der Aufnahme mit 
Gedachtnissschwache, VerstiramuDg, auffallender Stimmungswecbsel, za- 
nehmende Unruhe. 

Status: Pupillen eng, sehr trage reagirend, die hervorgestreckte 
Zunge weicht etwas nach links ab, Patellarreflexe nicht auszulosen, Haut- 
reflexe erhalten, Gang spastisch-paretisch, Sprache erst gegen Ende gestort 
Sensibilit&t bei der Demenz der Pat nicht sicher zn priifen, jedenfalls 
Schmerzgefiihl bedeutend herabgesetzt. Incontinentia urin. et alvi. Gegen 
Ende des Lebens Znnahme der Erscheinungen von Seiten des Rhckenmarks 
mit schnell fortschreitendem Decubitus. 

Sectionsbefund. Atherom der Aorta und Herzklappen. Myode- 
generatio cordis. Emphysema pulmonum. Pleuritis adhftsiva dextra, Chole¬ 
lithiasis, Hydrocephalus internus, Atrophie der Stirn- und Parietallappen. 
Atheromatose Entartung der Basisgefhsse. Riickenmarkssubstanz stark 
atrophisch und geschrumpft. 

Mikroskop. Befund. Markscheiden: Starker Ausfall diffus iiber 
dem Querschnitt, an zahlreichen Stellen plaquesartig meist in Form von 
keilformigen Herden, welche mit der Basis der Peripherie aufsitzen. Ueber 
den Hinterstr&ngen, besonders in den unteren Abschnitten, ebenfalls zahl- 
reiche Herde von unregelmassiger Form mit vblligem oder theilweisem 
Ausfall der Markscheiden. Nach Mar chi leicht diffuse Schollen iiber dem 
Querschnitt, frischer Zerfall iiber den Hinterstrangen, in den unteren Ab¬ 
schnitten besonders zu beiden Seiten der Medianspalte. Glia. Im Mark 
stark vermehrt, an einigen Stellen im Brustmark halbseitig starker, zahl- 
reiche plaquesartige und perivaskul&re Sklerosen, besonders am Rande und 
iiber den Hinterstrangen, in grauer und weisser Substanz grosse massige 
Spinnenzellen. v. Gieson. Hochgradige senile Gef&ssentartung, zahlreiche 
Gefasse vollig obturirt. Ganglienzellen in starkem Zerfall begriffen. 

20. Jacob M., 74 Jahre alt, aufgenommen d. 7. X. 1898, gestorben 
d. 16. III. 1899. 

Anamnese: Seit 4 Jahren im Anschluss an einen Unfall Schwindel- 
anf&lle. Vor 2 Jahren vorftbergehende Aphasie, zeitweilig verwirrt, plotz- 
liche Erregungszust&nde. Seit 2 Jahren Stbrungen in der Bewegung der 
Arme und Beine, in letzter Zeit unrein. 

Status: Pupillen eng, fast reactionslos, Motilit&t der obern Extre- 
mitaten bis auf massige Schwache unbeschrankt. Gang unsicher, schwankend, 
das rechte Bein wird etwas nacbgeschleppt. Sehvermbgen herabgesetzt 
(Hemianopsie?). Patellarreflexe beiderseitig lebhaft, keine deutliche Sensibi- 
litatsstbrung. Sprache ataktisch und lallend. 

Sectionsbefund. Atrophie der Leber und Milz. Arteriosklerose der 
Aorta und Aortenklappen, Arteriosklerotische Schrumpfnieren. Hydrocepha¬ 
lus extern, et internus, Verdickung der Pia, Arteriosklerose der Basis- 
gefasse und feinern Hirngefasse, 2 alte haselnussgrosse Erweichungen an 
der Spitze des rechten Occipitallappens. Atrophie des rechten Pulvinar. 
Mehrere hirsekorngrosse Erweichungsherde im Fusse der Briicke. 

Mikroskop. Befund. Marchi. Frischer Zeiffall in beiden Seiten- 
strangen, auf der einen Seite weit starker, in den Pyramiden entsprechend. 
Wenig diffuse Schollen. Am Rande einzelne aitere Degenerationsherde. 


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Untersuchungen fiber die Altersveranderuugen im Rtickenmark. 3g[ 


Glia. In weisser und grauer Substanz vermehrt, in letzterer Spinnenzellen. 
Nach y. Gieson Starke Geffisserkrankung. 

21. Heinrich R., 62 Jahre alt, aufgenommen d. 2. III. 1899, gestorben 
d. 13. in. 1899. 

Anamnese: Seit '/ 2 Jahr psychisch verfindert, nnbesinnlich, znnehmende 
Gedfichtnissscliwfiche, zeitweilig Erregungszustfinde. 

Status: Pupillen reagiren prompt, linksseitiger Lidkrampf, Arm- 
bewegnngen wenig krfiftig, keine Ataxie, Beinbewegnngen und Gang nicht 
gestfirt, Patellarreflexe lebhaft, Schmerzempfindlichkeit herabgesetzt. In¬ 
continentia urinae. 

Sektionsbefund. Pneumonische Infiltration im linken Unterlappen, 
fettige Degeneration der Leber. Verdickung der Pia, aucb fiber der Con- 
vexitat des Kleinhirns, leichte Erweiterung der Ventrikel, Ependym-Granu¬ 
lation im IV. Ventrikel. Rfickenmarksubstanz blutreich. 

Mikroskop. Befund. Nach Marclii starker filterer Randausfall, 
vereinzelte Schollen. 

22 . Wilhelm D., 51 Jahre alt, aufgenommen d. 20. IV. 1898, ge¬ 
storben d. 6. III. 1899. 

Anamnese: Vor 2 Jahren Herzklopfen, reichlich Albumen und Hyper- 
trophie des linken Ventrikels. Seit 1 Jahr zunehmend vergesslich, zer- 
streut, unorientirt. Vor 6 Wochen Anfall mit Zuckungen ohne volligen 
Bewusstseinsverlust, seitdem rapider Rfickgang. Schwfiche der Beine. 

Status: Pupillen mittelweit, reagiren prompt. Lebhaftes Zittern der 
Zunge und vorgestreckten H&nde. Patellarreflexe beiderseits sehr lebhaft, 
beiderseits Fussclonus. Bewegung der Arme ataktisch. Gang unsicher, 
spastisch, schwankend. Sensibilitfit nicht gestfirt. Zuletzt Incontinentia 
urin. et alv. 

Sectionsbefund. Hypertrophia cordis, Atherom der Aorta, beider- 
seitige Nephritis, Gallensteine. Pachy- und Leptomeningitis chronica diffusa, 
cystische Erweichong im rechten Stirnlappen, arteriosklerotische Atrophie 
der Hirnrinde. Rtickenmark ohne pathologischen Befund. 

Mikroskop. Befund. Nach Marchi frische Degeneration in beiden 
Pyramiden-, Seiten- und Vorderstritagen, auf der einen Seite stftrker, in 
den Pyramiden entsprechend, frischer Zerfall am Rande des Markes, nach 
innen fortschreitend, stellenweise herdartig und deutlich perivaskul&r. 
Ganglienzellen stark degenerirt. Glia fiber den Seitenstr&ngen leicht 
gewuchert, am Rande des Marks zahlreiche Spinnenzellen. v. Gieson: Ge- 
f&sse theils stark erweitert, theils verengt, Wandungen verdickt, stellen¬ 
weise stftrkere Kernanhfiufungen in der Adventitia. 

28. Barbara, H., 80 Jahre alt, aufgenommen d. 2. V. 1898, gestorben 
d. 20. VII. 1898. 

Anamnese: Beginn der Erkrankung 2 Jahre vor der Aufnahrae mit 
zunehmender Unruhe, Vergesslichkeit, fortschreitender Demenz. In den 
letzten Monaten mit Urin unrein, Gang und Sehvermfigen zunehmend 
schlechter. 

Status: Pupillen eng, gleichweit, minimal reagirend, Kniephfinomene 
vorhanden, Hautreflexe schwacb, Gang schwerf&llig, trippelnd, beim Stehen 
starkes Schwanken des Kfirpers, Sprache lallend, keine Lfihmungserschei- 
nungen. 

Sectionsbefund: Pleuritis adhaesiva dextra, atheromatfise Entartung 


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382 


XXIII. Sander 


der Aortenklappen, sowie des Anfangstheiles der Aorta. Atrophie und 
fettige Degeneration der Milz, Leber und Nieren. Verdickung der Pia, 
Erweiterung der Ventrikel, Atrophie des Gehirns. Atherom der Basis- 
gefksse. Dura spinalis stark gefaltet, Pia iiber den Hinterstrangen stellen- 
weise leicht getriibt. Riickenmarksubstanz beim Durchschneiden knirschend, 
erscheint schon makroskopisch wie geschrnmpft. 

Mikroskop. Befund: Markscheiden. Deutliche Lichtung uber 
den ganzen Querschnitt, an einzelnen Stellen nach dem Rande zu mehr 
plaquesartig, haufig auf einer Schnitthalfte starker. Nach Marchi ver- 
einzelte Schollen iiber dem Querschnitt, an einzelnen Stellen perivascniare 
Zerfallsherde. In n. ulnaris und radialis vereinzelte Schollen. Glia in 
grauer und weisser Substanz dentlich vermehrt, starke perivascniare 
Sklerose. Ganglienzellen hochgradig pigmentos entartet, kaum eine 
Zelle noch als normal anzusprechen. v. Gieson: Starke Gefassentartung, 
namentlich Endarteritis, starke Kerninfiltration der Gefasswande. 

24. Lehmann, M., 75 Jahre alt, aufgenommen d. 8. III. 1892, ge- 
storben d. 7. VII. 1899. 

Anamnese: Seit 3 Jahren Abnahme des Geschaftsinteresses, seit 
1 Jahr zunehmende Vergesslichkeit, Schlafsucht, grosse Reizbarkeit. In 
den letzten Wochen unrein. 

Status: Pupillen mittelweit, trage reagirend, keine grobere Motilitats- 
storung, Kniephanomene gesteigert, keine Ataxie, Sensibilitat erhalten. In 
den letzten Lebensmonaten zunehmende Spasmen sammtlicher Extremitaten. 

Sectionsbefund: Leptomeningitis chronica, leichte Atrophie des 
Gehirns, atheromatbse Entartung der Basisgefasse und kleineren Hirn- 
gefasse. Leptomeningitis chronica spinalis mit dichter Einlagerung von 
Kalkplattchen. 

Mikroskop. Befund: Marchi, beiderseitige frische Degeneration in 
beiden Pyramiden-, Seiten- und Vorderstrangen, oberhalb der Pyramiden- 
kreuzung entsprechend. Auf der einen Seite ist der Degenerationsprocess 
etwas frischer und intensiver. Vereinzelte Schollen in geringer Zahl iiber 
dem Querschnitt. Einzelne aitere Plaques am Rande. Ganglienzellen 
massig stark degenerirt. v. Gieson: Stiitzsubstanz ausserhalb der sekundar 
erkrankten Stellen nicht vermehrt, die meisten Gefasse unverandert, einzelne 
starker sklerosirt, in deren Umgebung deutliche Gliavermehrung. 

25. Emil A., 61 Jahre alt, aufgenommen d. 1. VI. 1899, gestorben 
d. 11. VII. 1899. 

Anamnese: Beginn der Erkrankung vor circa 2 Monaten mit krankhafter 
Verstimmung, Nahrungsverweigerung und hypochondrischen Vorstellungen. 

Korperbefund: Pupillenreaction auf Lichteinfall und Accomodation 
prompt, Patellarreflex lebhaft, keine Motilitats- und Sensibilitatsstorungen. 
Hochgradige Arteriosklerose der grosseren Arterien. In den letzten Wochen 
andauernd unrein. 

Sectionsbefund: Verdickung und Verkalkung der Aorten und Mitral- 
klappen, Atherom der Aorta, cystose Degeneration der linken Niere, Katarrh 
des Nierenbeckens, hamorhagische Entziindung der Blasenschleimhaut, Hyper- 
trophie der Prostata. Leptomeningitis chronica diffusa, Oedem des Gehirns, 
leichte Verdickung der Gehirngefasse. Riickenmark ohne Befund. 

Mikroskop. Befund. Marchi: Leichter Randausfall, vereinzelte 
Schollen iiber dem Querschnitt. 


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Untereuchungen fiber die Altersveranderungen im Ruckenmark. 383 


26. August, H., 73 Jabre alt, aufgenommen d. 13.1.1892, gestorben 
d. 19. Vm. 1899. 

Anamnese: 9 Monate vor der Aufnahme Schlaganfall mit aphasischeu 
Erscheinungen ohne Lfihmungen. Seitdem zunehmende Demenz mit Er- 
regungszustfinden. 

Status: Pupillen mittelweit, nicht different, trfige reagirend, Knie- 
phfinomene normal, kein Romberg, Gang nicht gestort, leichtes Zittern der 
Hfinde. Keine betrfichtliche Sensibilitatsstorung. 

Sectionsbefund: Pleuritis exsudativa sinistra et dextra, Emphysema 
pulmonum, Cor bovinum, Hypertrophia et Dilatatio ventric. utriusque, Athe- 
rom der Aorten- und Pulmonalklappen, sowie des Anfangstheiles der Aorta. 
Leptomeningitis chronica diffusa. Oedema cerebri. Circumscripte Atrophie 
im Schlafen- und Stirnlappen. Alte Erweichungsherde. RUckenmark ohne 
Veranderungen. 

Mikroskop. Befund: Nach Marchi einzelne diffuse Schollen fiber 
dem Querschnitt, am Rande filterer Ausfall. 

Fassen wir diese soeben beschriebenen Falle naher ins Auge, so 
vermissen wir bei fast keinem derselben schwerere arteriosklerotische 
Veranderungen an den inneren Organen. Wie schon die klinische 
Beobachtung vermuthen liess, fanden sich meist bei der Sektion 
Zeichen von Arteriosklerose, besonders an den Pradilektionsstellen 
dieser Erkrankung, den Gefassen der Hirnbasis, den Herzklappen und 
dem Anfangstheil der Aorta. Die Veranderungen waren viel haufiger 
und intensiver, als bei anderen organischen Hirnkrankheiten z. B. bei 
der progressiven Paralyse. In weit fiber der Halfte der untersucbten 
Falle fanden sich auch Erkrankungsprocesse in den Nieren, meist in 
der Form der arteriosklerotischen Schrumpfhiere, bei den schwersten 
Formen des senilen Marasmus auch Fettdegeneration der Leber. Es 
unterliegt wohl keinem Zweifel, dass diese Veranderungen an den 
inneren Organen zu den Erkrankungsprocessen im Nervensystem nur 
insoweit in Beziehung stehen, als sie ebenfalls der arteriosklerotischen 
Gefassdegeneration ihre Entstehung verdanken. 

Keinesfalls kann man annehmen, dass die Veranderungen an den 
Korperdrusen, besonders die Schrumpfnieren in einem ursachlichen 
Verhaltniss zu den Degenerationsprocessen im Ruckenmark stehen, 
wie von einigen Seiten behauptet wurde. Denn gerade bei den 
Formen frfihzeitiger Arteriosklerose findet man haufig die schwersten 
Degenerationsprocesse im Nervensystem bei verhaltnissmassig geringer 
Allgemeinerkrankung. Die Arteriosklerose der inneren Organe kommt 
bei den Veranderungen im Nervensystem offenbar nur insofem in Be- 
tracht, als sie in vorgeschrittenen Fallen zu einem schweren Marasmus 
ffthrt, der jedenfalls auf die Degenerationsprocesse im Rfickenmark 
nicht ohne Einfluss bleibt. Die hierdurch bedingten Veranderungen 


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384 


XXIII. Sander 


sind aber geringffigig und stehen in keinem Verhaltniss zu der 
Schwere der senilen Processe, wie vergleichende Untersuchungen an 
marastischen Individuen in frfiherem Lebensalter zeigen. 

Dass fast bei alien untersuchten Fallen schon makroskopisch Er- 
krankungsprocesse der Hirnrinde hervortreten, kann bei der Art des 
untersuchten Materials nicht wundern. Es handelte sich ja stets um 
Kranke, die an Dementia senilis litten, einer Psychose, bei der orgar 
nische Hirnveranderungen fast nie vermisst werden. Bei anders- 
artigem Material, ausserhalb der Irrenanstalten, dttrfte man viel haufiger 
auf Falle stossen, bei denen trotz schwerer seniler Rfickenmarks- 
degeneration die Veranderungen der Hirnrinde noch geringffigige sind. 
Ich erinnere z. B. an den Symptomenkomplex der Paralysis agitans, 
der wohl ebenfalls durch prasenile Degenerationsprocesse im Nerven- 
system bedingt ist, zu denen sich erst spater die Rindenerkrankung 
hinzugesellt. 

Im Gegensatz zu dem meist recht deutlichen Himbefund treten 
die mikroskopischen Veranderungen am Rfickenmark auch in den yon 
uns untersuchten Fallen erheblich zurttck. In einigen Fallen fand sich 
eine leichte Yerdickung der Pia, 2mal fiber den Hinterstragen localisirt, 
in einem Falle schwartige Verdickung und Verwachsung der Rficken- 
markshaute, die unzweifelhaft luetischer Natur war. 

Haufig fanden sich Kalkplattchen in die Haute eingelagert, in 
einem Falle so zahlreich, dass das Mark wie in einem Kalkpanzer ein- 
geschlossen war. Das Rttckenmark selbst war in mehreren Fallen deut- 
lich verschmalert, in einem Falle schon makroskopisch wie geschrumpft. 
Auf dem Durchschnitt erschienen einige Male die Seiten- resp. Hinter- 
strange leicht grau-verfarbt Diese makroskopisch so geringffigigen 
Yeranderungen, die auch andere enttauscht haben, lessen es erklarlich 
finden, wenn man dem Rfickenmark in den senilen Degenerations- 
processen nur eine geringe Stelle anwies und die im Alter auf- 
tretenden Funktionsstorungen lieber mit Processen im Muskelsystem 
oder peripheren Nerven in Zusammenhang brachte. Erst eine genaue 
mikroskopische Untersuchung lehrt, wie schwer auch das Rfickenmark 
im Alter betroffen werden kann. 

' Um ein Verstandniss fQr die vorhandenen Degenerationsprocesse 
zu gewinnen, mussen wir von den leichten Formen ausgehen, von 
denen einzelne wohl noch unter den BegrifF der physiologischen 
Senilitat fallen. Fast 2 / 3 der von mir untersuchten Falle kdnnen zu 
dieser leichten Form gerechnet werden. Ob das Rfickenmark stets in 
hoherem Alter regressive Veranderungen aufweist, lasst sich an meinem 
Material nicht entscheiden, es hangt ja dies auch weniger von der 
Altersstufe, als von der Schwere der senilen Gefessdegeneration ab. 


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Untersuchungen uber die Altersveranderungen im Ruckenmark. 335 


Jenseits der achtziger Jahre wird man bei exacter Untersuchung 
Degenerationsprocesse im Riickenmark wohl kaum je vermissen. 

In den von mir untersuchten Fallen fanden sich fetets, auch im 
jungeren Alter, deutliche Veranderungen in der grauen und weissen 
Substanz. Die Markscheiden sind schon in den leichtesten Fallen 
etwas gelichtet, bald mehr, bald weniger, mitunter auch in einer 
Rttckenmarkshalfte oder nur in circumscripten Abschnitten in starkerem 
Grade. Ein solcher Querschnitt sieht namentlich im Vergleich zu ge- 
sundera Mark im mittleren Alter auffallend hell und faserarm aus. 
Erreicht dieser mehr diffuse Ausfall einen hoheren Grad, so erscheinen 
die peripheren Theile des Querschnittes mehr gelichtet als die centralen, 
so dass man von einem Randausfall sprechen kann. Derselbe tritt 
meist zuerst in den periphersten, seitlichen Abschnitten des Markes 
auf, und greift nach oben und unten auf das Gebiet des Gowers’schen 
Bttndels und der Kleinhirnstrange tiber. Die Hinterstrange und die 
vorderen Riickenmarksabschnitte bleiben von diesem Randausfall in 
der Regel verschont Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass dieser 
starke Zerfall der peripheren Nervenfasern dadurch bedingt ist, dass 
dieselben in Folge ihrer Lage bei den von den Gefassen ausgehenden 
Emahrungsstorungen am frtihesten unter den unghnstigsten Beding- 
ungen stehen. Aus diesem Grunde sieht man auch bei den schweren 
Formen circumscripte Degenerationsherde meist zuerst am Rande des 
Markes in den seitlichen Abschnitten auftreten. Es handelt sich dabei 
um keilformige, zuweilen auch mehr ovale oder stabchenformige 
Herde, welche mit breiter Basis der Peripherie aufsitzen, wahrend ihr 
spitzeres Ende nach dem Centrum gerichtet ist. Die Spitze des Herdes 
ist haufig gegen die Umgebung nicht scharf abgesetzt, sondern geht 
in eine langgezogene, faserarme Partie fiber, die sich dem Verlaufe 
eines nach dem Centrum ziehenden Gefasses deutlich anschmiegt Im 
Bereich des eigentlichen Degenerationsherdes sind die Nervenfasern 
meist total ausgefallen, nur Reste von Markscheiden und vereinzelte 
Axencylinder sind noch zuweilen erkennbar. Betrachtet man einen 
nach Mar chi behandelten Schnitt jener leichteren Form von Senilitat, 
so sieht man in der Regel neben ausgefallenen Fasern einzelne tiber dem 
Querschnitt diffus verstreute Schollen; ein Zeichen, dass hier ein lang- 
sam fortschreitender Zerfallprocess stattgefunden hat Bei Fallen von hoch- 
gradigem Marasmus treten diese Schollen zahlreicher auf und ebenso 
dann, wenn eine mehrtagige Agone vorhergegangen ist Bei einzelnen 
Fallen erscheinen die Schollen in der Peripherie etwas zahlreicher, 
hie und da sah man auch eine starkere Schollenanhaufung, die meist deut¬ 
lich an die Umgebung eines kleinen Gefasses gebunden war. Grossere 
frische Degenerationsherde, analog den im Markscheidenpraparat sicht- 


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386 


XXIII. Sander 


baren Herden, konnte ich bei den einfach senilen Formen nicht kon- 
statiren, offenbar entstehen auch hier die grosseren Herde sehr lang- 
sam und allmahlig. Die Glia ist bei den leichteren Formen sender 
Degeneration stets etwas vermehrt, die Randschicht, die einzelnen 
Gliabalken sowie der perivaskulare Gliafilz verbreitert. Die Fasern 
sind dichter und starker als im normalen Mark, an den einzelnen 
Knotenpunkten grobere Spinnenzellen. Die Gliawucberung entspricht 
dabei im allgemeinen der Starke des Markscheidenzerfalles und tritt 
da besonders hervor, wo derselbe starkere Dimensionen annimmi In 
den Fallen, wo das Rttckenmark besonders schwere Degenerations- 
processe aufweist, wo zahlreiche Herde auftreten, erreicht auch die 
Neuproduktion von Glia einen hohen Grad. 

Die im Markscheidenpraparat hervortretenderi Degenerationsherde 
prasentieren sich dann nach der Glia-Methode als vollig sklerosirte Partien. 
Bei den weniger vorgeschrittenen Graden sieht man deutlich, wie ein 
dichter Gliafilz sich in das Gewebe vorschiebt, der entweder von der 
Umgebung der Gefasse ausgeht und dann das Bild der perivaskularen 
Sklerose darbietet, oder falls der Herd am Rande liegt, auch von der 
Randschicht. Gleichzeitig verdicken sich die in der Nahe gelegenen 
Gliabalken durch Anlegung neuer Fasern, das Filzwerk wird dichter, 
schliesslich resultirt ein sklerotischer Plaques, der sich von den bei 
der eigentlichen „Sclerose en Plaques" auftretenden Herden nur durch 
seine Lage und Form unterscheidet. Auch an den Glia-Praparaten er- 
kennt man deutlich die eigenthllmliche Gestalt der Herde, die meist 
ein Dreieck darstellen, das mit breiter Basis der Peripherie aufsitzt, 
wahrend die mehr oder weniger abgerundete Spitze nach dem Centrum 
gerichtet ist. Innerhalb dieses Herdes ist das Gewebe vollig durch 
Glia ersetzt. Von der Spitze setzt sich meist ein schmaler weniger 
sklerosirter Streifen nach innen fort, der allmahlig in das gesunde Ge¬ 
webe auslauffc. Durch zahlreiches Auftreten solcher Herde kommt es 
schliesslich zu einer hochgradigen Vermehrung der Stfitzsubstanz, so 
dass man geradezu von einer Sklerose des Markes sprechen kann. 
In solchen Fallen ist das Mark im Querschnitt erheblich verschmalert, 
erscheint schon makroskopisch wie geschrumpft, im Glia-Bild findet 
sich neben der herdartigen Sklerose, eine diffuse Wucherung der Stutz- 
substanz mit zahlreichen Spinnenzellen, deren dicke, lange Auslaufer 
nach alien Seiten das Gesichtsfeld beherrschen. Den starksten Grad 
dieser Rfickenmarkssklerose fand ich bei einer 67jahrigen Frau, die 
erst einige Monate vor dem Tode schwerere Erscheinungen von seiten 
des Rtickenmarks aufwies. (Fall 19.) Hier war sogar im Brustmark 
die Stiitzsubstanz in der einen Rfickenmarkshalfte parallel einem 
starkeren Markscheidenausfall weit starker gewuchert, als in der anderen, 


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Untersuchungen fiber die Altersveranderungen im Ruckenmark. 387 

das Mark dem entsprechend auf der einen Seite starker verschmalert, 
so dass man geradezu dem Eindruck einer halbseitigen Schrumpfung 
gewann. In diesem Falle war durch die in den Hinterstrangen aufge- 
tretenen sklerotischen Plaques eine secundare Degeneration in den 
Goll’schen und Burdach’schen Strangen verursacht worden, wahrend 
ich sonst secundare Degenerationen im Anschluss an diese Herde 
nicht konstatiren konnte. Die Glia-Production geht sowohl in den 
leichteren wie schwersten Fallen dem Zerfall im Parenchym parallel, 
nirgends konnte ich den Eindruck gewinnen, als ob etwa durch die- 
selbe direkt, besonders durch die perivaskulare Sklerose, secundar ein 
Zerfall im Gewebe hervorgerufen wird. Dass gerade im senilen 
Rfickenmark haufig eine so ausserordentlich starke Wucherung der 
Stutzsubstanz auftritt, liegt offenbar an dem ausserordentlich langsamen 
Fortschreiten desDegenerationsprocesses; wo derselbe ein beschleunigteres 
Tempo annimmt, wie bei bestimmten Formen, auf die wir noch zu 
sprechen kommen werden, sind die Wucherungsprocesse in der Glia 
haufig noch geringftigig und nur durch zahlreichere Spinnenzellen 
angedeutet. 

In der grauen Substanz des Rfickenmarks finden sich ebenfalls 
mit zunehmendem Alter deutliche Veranderungen, besonders an den 
Ganglienzellen. Wir finden hier den Process, der als pigmentose 
Degeneration der Ganglienzelle schon wiederholt beschrieben worden 
ist. Die farbbare Substanz des Zellleibes, die sogen. NissTschen 
Granula, verfallen dabei einem Degenerationsprocess, der darin besteht, 
dass die einzelnen Schollen in ein fein gekorntes, gelbbraunes Pigment 
sich auflosen. Der Process beginnt in der Regel an einem Ende der 
Zelle, haufig an der Abgangsstelle des Axencylinders, mitunter auch im 
Zellinnern. Der Kern riickt meist schon bei Beginn des Processes an 
die Wand der Zelle, farbt sich auffallend dunkel, die Kemmembran 
tritt deutlicher hervor, das Kernkorperchen erscheint zuweilen eckig 
oder geschrumpft. Der Axencylinderfortsatz farbt sich oft auf weite 
Strecken hin auffallend deutlich. Schliesslich schwindet Kern und 
Kernkorperchen und von der Ganglienzelle bleibt nur ein gelbbraunes 
fein gekorntes Pigment fibrig, das noch lange die urspriingliche Form 
der Zelle bewahrt, bis es schliesslich vollig verschwindet, so dass man 
dann oft eine der Form der Ganglienzelle entsprechende Lficke im Ge¬ 
webe erkennt. In einigen Fallen verfallt das entstandene Pigment an- 
scheinend einem Resorptionsprocess, so dass ein deutlicher Hohlraum 
im Zellinnern entsteht, in dem nur einzelne feine Kornchen noch er- 
kennbar sind. Dieser als Vakularisirung zu bezeichnende Vorgang ist 
jedoch selten. In anderen Fallen erscheint die Ganglienzelle im Anfangs- 
stadium der pigmentosen Degeneration auffallend verbreitert und ge- 
Deutsche Zeitschr. f. Nerveahellkunde. XVII. Bd. 26 


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388 


XXIII. Sander 


schwollen, wieder in anderen nimmt sie eine vollig runde Form an, 
und wird schliesslich zu einer braunen Pigmentkugel die noch am 
aussersten Rande einzelne Haufchen chromatischer Substanz erkennen 
lasst. Schliesslich schwinden dieselben und das so entstandene meisfc 
dunkelbraun gefarbte kugelige Gebilde ist nur schwer von einem 
Corpus amylaceum zu unterscheiden. In einzelnen Fallen sieht man 
das von Nissl als Sklerose der Ganglienzelle beschriebene End- 
stadium, Zellen mit einem hellgefarbten, wenig differencirtem Zellleib, 
Kern und Kemkorperchen auffallend deutlich am Rande hervortretend, 
die Fortsatze weithin sichtbar, In anderen Endstadien erscheint die 
Ganglienzelle auffallend dunkel, die chromatische Substanz stark farb- 
bar, die Granula in einem kaum differencirbaren Klumpen zusammen- 
geschmolzen, der ebenfalls stark gefarbte Kern undeutlich her¬ 
vortretend. 

Diese so veranderten Zellen nehmen oft eigenthumliche Formen 
an, zeigen z. B. an einem Ende einen breiten, dem lang gezogenen 
Zellleib kappenformig aufsitzenden Pigmentherd, so dass das ganze an 
das Bild eines Pilzes erinnert. 

Diese Veranderungen an den Ganglienzellen, die namentlich in 
den Endstadien noch viel mannigfaltiger sind, als ich sie eben ge- 
schildert habe, sind selbst in leichtern Fallen schon stark ausge- 
sprochen, wobei namentlich das Alter des Individuums eine Rolle zu 
spielen scheinh In den beiden Fallen, die fiber 85 Jahre alt waren, 
fand sich in der grauen Substanz kaum eine Ganglienzelle, die noch 
als normal angesprochen werden konnte, obgleich die klinischen Er- 
scheinungen, abgesehen von dem volligen Darniederliegen der Reflex- 
thatigkeit von Blase und Darm, nicht sehr bedeutend waren. Diese 
senile Degeneration der Ganglienzellen unterscheidet sich qualitativ 
nicht von der pigmentosen Degeneration bei anderen chronischen Er- 
nahrungsstorungen, z. B. bei pernicioser Anamie, wie ich mich an 
zahlreichen Yergleichspraparaten uberzeugen konnte, nur sind hier, 
und ebenso bei den Formen frfihzeitiger Senilitat, noch zahlreiche 
normale oder erst im Anfangsstadium der Degeneration befindliche 
Zellen zwischen den starker erkrankten sichtbar. In vorgeschrittenen 
senilen Fallen bieten die in alien Stadien der pigmentosen Degeneration 
befindlichen Zellen mit den Formen dazwischen, die bereits abgelaufene 
Processe darstellen, ein so charakteristisches Bild, dass man hieraus 
ohne weiteres die senile Zelldegeneration erkennen kann. 

Die Sttitzsubstanz in der grauen Spinalaxe ist meist leicht ver- 
mehrt, in einzelnen Fallen starker. Man sieht dann im Gegensatz zu den 
sonst sehr zarten, feinen Fasem, zahlreiche derbe und dicke Strange, 
die sich noch haufig durch Zusammenlaufen nach einemPunkt als Auslaufer 


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Untersuchungen fiber die Altersveranderungen im Ruckenmark. 389 

einer Spinnenzelle erkennen lassen. Den Zellleib der dazugehorigen 
Zelle sieht man selten. Die Sklerose der grauen Substanz bleibt im 
Allgemeinen in massigen Grenzen und scheint der Starke der senilen 
Veranderungen im Mark parallel zu gehen. Sie schien da mehr hervor- 
tretend, wo der Degenerationsprocess an denGanglienzellenintensiver war. 

Die Veranderungen am Gefassapparat sind der Starke des senilen 
Zerfalls entsprechend und besonders bei den schwereren Formen recht 
eindeutig. Wir finden dann die kleineren und grosseren Rucken- 
marksgefasse, vorwiegend die Arterien in alien Stadien der arterio- 
sklerotischen Degeneration. Die meisten Gefasse sind stark geschlangelt, 
an zahlreichen Stellen erweitert, an andern hochgradig verengt, so 
dass ein Lumen oft kaum noch erkennbar ist Betrachtet man der- 
artige sklerotische Gefasse mit starken Systemen, so erscheint die 
Adventitia meist nur wenig betroffen, mitunter leicht verdickt, die 
Elastica fast stets hochgradig zersplittert und aufgefasert, oft an ein- 
zelnen Stellen v&llig durchbrochen. Die Intima ausnahmslos stark 
verdickt, zuweilen buckelartig vorspringend. Die Verengerungen des 
Lumens sind fast stets durch die Wucherungen der Intima bedingt, 
die oft doppelt so dick wie die ttbrigen Gef&sshaute zusammen er¬ 
scheint. Viele Gefasse sind ausserdem thrombosirt oder lassen wand- 
standige Thromben erkennen. In den Fallen, wo es zur Bildung von 
eigentlichen herdartigen Degenerationen gekommen ist, sind die Gefass- 
veranderungen besonders hochgradig, im Bereich der sklerotischen 
Plaques sieht man haufig Gefasse mit obturirtem Lumen. Eine deut- 
liche Beziehung der Plaques und perivascularen Sklerosen zu besonders 
schwer erkrankten Gefassen ist unverkennbar. Schon nach der Lage 
und Anordnung der einzelnen Degenerationsherde kann es keinem 
Zweifel unterliegen, dass dieselben durch die Erkrankung des den 
betreffenden Bezirk versorgenden Gefasses bedingt sind. 

Eine starkere Infiltration mit Randzellen oder Kernen ist bei ein- 
fachen senilen Processen weder an den Rfickenmarkshauten noch an 
den Gefasswandungen zu erkennen, nur in einem Fall (Fall 23) er- 
schienen die Kerne in der Adventitia etwas zahlreicher. Die Kerne 
der Sttttzsubstanz sind stets deutlich vermehrt, die Rfickenmarkshaute 
zuweilen leicht verdickt, der Centralkanal haufig mit Rundzellen an- 
gefttllt, sein Lumen nicht mehr erkennbar. Im Gewebe finden sich 
meist zahlreiche Corpora amylacea, mitunter in ganz excessivem Grade. 
Durch die Erweiterung der Gefasse, die Schrumpfungsprocesse im 
perivascularen Gewebe und den Ausfall von Fasern erhSlt ein solcher 
Schnitt von senilen Rfickenmark oft schon makroskopisch ein auffallend 
poroses, zerklfiftetes Aussehen, das ihm ein sehr charakteristisches 
Geprage verleiht. 

26 * 


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390 


XXIII. Sander 


Abweichend von den soeben geschilderten senilen Processen ist 
ein anderer Rttckenmarksbefund, der sicb am haufigsten bei den pra- 
senilen Formen, mitunter aber auch im hoheren Alter findet. 

Wahrend es sich bei der im Alter auftretenden Senilitat fast stets 
um ausserst chronisch fortschreitende Processe handelt, bei denen sich 
nur selten frische Degenerationsherde nachweisen lassen, sind dieselben 
bei dieser Form viel haufiger. Hier findet man nach Mar chi zahl- 
reiche frische Zerfallsherde am Rande des Markes, die meist kleiner 
sind als die oben bei den senilen Formen beschriebenen, sonst aber 
die gleiche Anordnung und Form erkennen lassen. Am haufigsten 
findet sich auch hier die Keilform mit breiter der Peripherie aufsitzender 
Basis. Die kleinem und kleinsten Schollenanhaufungen sind meist 
deutlich um ein Gefass gruppirt, bei den grosseren ist der Zusammen- 
bang mit den Gefassen oft nur durch die eigenthfimliche Form und 
Anordnung des Herdes nacbzuweisen. Ausser den eigentlichen De- 
generationsherden findet sich bei dieser Form auch in der Regel ein 
frischer Markscheidenzerfall in der Peripherie mit stark progressiver 
Tendenz. Erstreckt sich dieser Degenerationsprocess fiber die langen 
Bahnen des Markes, so kann es zu secundaren Degenerationen in den 
Pyramidenbahnen und Hinterstrangen kommen, die deutlich von den 
am starksten ergriffenen Abschnitten nach auf- und abwarts sich er- 
strecken. Durch das Confluiren und Vorwartsschreiten der einzelnen 
Herde, durch das gleichzeitige Auftreten secundarer Degenerationen 
kommt es schliesslich zu hochgradig destruktiven Processen im Rucken- 
mark, die an die schwersten Formen von Myelitis erinnem. Hierzu 
gehSren die Falle 10, 16 und 22. In alteren derartigen Fallen sind 
schliesslich die Nervenfasern in einer breiteu Zone mit Ausnahme des 
Hinterstrangsgebietes fast total ausgefallen, nur an einzelnen erhalten 
gebliebenen Inseln kann man noch das Entstehen des Processes aus 
Herden erkennen, das Gebiet der Hinter- und Seitenstrange stark 
gelichtet, in dem noch weniger erkrankten Gebiete zahlreiche, meist 
mit der Peripherie in Zusammenhang befindliche Herde, die radien- 
formig nach Innen fortschreiten. In den centraler gelegenen, noch 
nicht erkrankten Abschnitten des Markes sieht man vereinzelte runde, 
zuweilen auch langlich geformte Herde, die obne jeden Zusammen¬ 
hang mit den von der Peripherie eindringenden Degenerationsherden 
stehen. Entsprechend dem totalen Markscheidenzerfall ist die reactive 
Gliawucherung in diesen Fallen sehr bedeutend. 

Im Bereich der frischen Zerfallsherde sieht man zahlreiche 
Spinnenzellen, in den alteren Fallen ist die ausgefallene Nerven- 
substanz durch ein dichtes sklerotisches Gewebe ersetzt, das sich in 
derselben Form in die oben am Markscheidenpraparat beschriebenen 


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UntersnchuDgen fiber die Altersveranderungen im Rfickenmark. 391 

Herde nach innen fortsetzt. Der die Herde ausffillende Oliafilz ist 
ausserordentlich dicht, die einzelnen Fasern erscheinen stark ver- 
breitert, wie gequollen, und zeigen ein viel groberes Aussehen als im 
normalen Mark. Die Neuproduction von Glia geht dabei in derselben 
Weise wie ich es bereits bei den leicbteren Formen beschrieben 
habe, sowohl von der Umgebung der Gefasse, dem perivascularen 
Gliafilz, wie von der schon normaler Weise etwas dichteren Rand- 
schicht aus. In den am meisten sklerosirten Partien sieht man schliess- 
lich von dem ursprtinglichen Parenchym nur noch hie und da einen 
Axencylinder, wahrend die Markscheiden total zu Grunde gegangen sind. 

Die Gefasse sind bei diesen Formen meist noch wenig verandert. 
Einzelne namentlich nach dem Rande zu liegende Gefasse sind stark 
geschlangelt, ihr Lumen an einigen Stellen erweitert, an anderen durch 
Verdickung der Intima stark verengh Andere, namentlich kleine 
Gefasse scheinen durch Thrombusmassen verstopft oder lassen wand- 
standige Thromben erkennen. Am meisten sind die nach der Peripherie 
zu liegenden Gefassabschnitte von dem Erkrankungsprocess betroffen, 
doch finden sich auch nach innen zu, namentlich in der grauen Sub- 
stanz, vereinzelt stark verdickte und verengte Gefasse. Dass es sich 
hier um die gleiche Gefassdegeneration, wie bei den senilen Processen 
handelt, ist unverkennbar, eine Unterscheidung scheint jedoch dadurch 
gegeben, dass wahrend bei den letzteren fast alle Gefasse in mehr 
oder minder hohem Grade sklerosirt erscheinen, bei den prasenilen 
Formen neben den erkrankten, zahlreiche intacte Gefasse sichtbar sind. 
Auch besteht hier eine besondere Neigung zu endarteritischen Pro¬ 
cessen mit Obliteration des Lumens, was bei der einfach senilen Gefass- 
erkrankung weniger hervortritt. Bei einzelnen Gefassen ist die Gefass- 
wand auffallend homogeu ohne jede Differenzirung, hier handelt es 
sich offenbar um hyalin entartete Gefasse. Die Kerne der Gefasswand 
sind meist etwas vermehrt, jedenfalls starker als bei den leichtern 
senilen Formen. In den Rttckenmarkshauten finden sich vereinzelt 
starkere Anhaufungen von Rundzellen. Die regressiven Veranderungen 
an den Ganglienzellen der grauen Substanz sind in diesen Fallen eben- 
falls recht bedeutend, doch sieht man hier haufiger noch ganz normale 
Zellen zwischen den erkrankten eingestreuh Die Glia der grauen 
Substanz zeigt selbst in alteren Fallen nur selten eine leichte Ver- 
mehrung im Gegensatz zu der hochgradigen Sklerose im Mark. 

Bei dieser Form seniler Erkrankung kommt es auch haufig zu 
Degenerationen in den Pyramidenbahnen, die nicht durch den im 
Rfickenmark localisirten Krankheitsprocess bedingt sind. 

Es handelt sich hier um sekundare Degenerationen im Anschluss 
an kleinste Erweichungsherde und Sklerosen im Hemispharenmark 


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392 


XXI1L Sander 


oder Hirnstamm, wie sie bereits von Alzheimer bei der arterio- 
sklerotischen Entartung des Gehirns, von Binswanger bei der Ence¬ 
phalitis subcorticalis beschrieben worden sind. Treten grossere der- 
artige Herde im Yerlauf der motorischen Bahnen auf, so muss es 
naturgemass zu secundarer Degeneration kommen. Die hierdurch be- 
dingte Erkrankung der Pyramidenbahnen ist in der Regel doppelseitig, 
entsprechend der beiderseitigen Hirnerkrankung, aber meist in ungleicher 
Starke. Auch erscheint der Degenerationsprocess zuweilen auf der 
einen Seite frischer. Die Pyramidenvorderstrange sind in der Regel 
mitergriffen, von den Seitenstrangen haufig nur einzelne Theile, so dass 
man anfangs an corticale Herde denkt Selten findet sich eine so 
totale Degeneration, wie nach Blutungen oder Erweichungen in der 
inneren Kapsel. Wo die Degenerationen nach aufwarts bis in den 
Hirnschenkel verfolgt wurden, konnte man in der That erkennen, dass 
dieselbe meist nur einen Theil der Pyramidenbahnen betraf, auch die 
Bahnen der Hirnnerven schienen unbetheiligt zu sein. Mitunter sieht 
man bei schwereren senilen Formen mit der Marchimethode eine 
ausschliesslich auf die Pyramidenbahnen beschrankte leichte Tfipfelung, 
von der es den Anschein hat, als ob es sich hier um secundare 
Degeneration handelt, welche durch die schwere Rindenerkrankung, 
besonders der Centralwindungen bedingt ist. Ein ahnliches Bild 
erhalt man zuweilen bei der progressiven Paralyse, die Yertheilung der 
Schollen hat hier ein ganz anderes Aussehen als bei den eben beschrie- 
benen Degenerationen. Eine geringe Lichtung der Pyramidenbahnen 
ohne nachweisbare Herderkrankung findet sich auch sonst haufig im 
senilen Rlickenmark, noch haufiger allerdings eine Lichtung der 
Hinterstrange. Dieselbe ist jedoch nie so hochgradig wie bei der 
eigentlichen Tabes und lasst eine Anordnung nach Wurzelgebieten 
nicht erkennen, es handelt sich eben hier stets um endogen entstandene 
Formen. Nur die Falle 7 und 8 unserer Tabelle zeigen eine starke 
Degeneration der Hinterstrange, doch handelt es sich hier ohne Zweifel 
um Tabes, zu der sich spater senile Degenerationen hinzugesellt haben. 

Eine Unterscheidung der senilen Degenerationsprozesse von anderen 
chronischen Erkrankungen im Rfickenmark dtirfte nicht schwer fallen. 
So findet sich bei der progressiven Paralyse zuweilen ein leichter Ausfall 
von Markscheiden in der Peripherie, der sich von den senilen Formen 
dadurch unterscheidet, dass hier stets eine starkere Infiltration mit Rund- 
zellen vorhanden ist, ahnlich den noch zu besprechenden luetischen 
Myelitiden. 

Schwieriger ist die Unterscheidung bei den durch abnorme Blut^ 
mischung hervorgerufenen chronischen Ernahrungsstorungen, z. B. bei 
pemicioser Anamie. Sowohl die Degeneration der Ganglienzellen wie 


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Untersuchungen fiber die Altersveranderuugen im Rfickenmark. 393 

der diffuse Ausfall der Nervenfasem kann hier das gleiche Bild dar- 
bieten wie bei leichteren senilen Fallen. Die Unterscheidung wird um 
so schwieriger, als aucb die Glia in solchen Fallen leicht perivascular 
vermehrt erscheint und neben der diffusen Erkrankung einzelne De- 
generationsheerde, bestimmten Gefassgebieten entsprechend, auftreten 
konnen. Ich kann die diesbezuglichen Befunde einzelner Autoren, be- 
sonders die Angaben von Nonne 1 ) auf Grund eigener Untersuchungen 
durchaus bestatigen. Nur fiber die Entstehung dieser kleinen perivas- 
cularen Degenerationsheerde bei der perniciosen Anamie, die auch kttrz- 
lich Ransohoff 2 ) bei einem Fall von Yerblutungstod beschrieben hat, 
kann ich Nonne nicht beipflichten. Ich glaube nicht, dass hier eine 
die Gefasswand durchdringende schadliche Noxe diese perivascularen 
Heerde hervorruft, sondern ich habe mehr den Eindruck gewonnen, 
als ob es sich hierbei um kleinste Exsudationen oder Gefassthrombosen 
handelt, welche jene Zerfallsheerde bedingen. Die durch die abnorme 
Blutmischung hervorgerufene Erkrankung der Gefasswand dttrfte das 
Bindeglied abgeben. Bei einigen senilen Fallen habe ich ahnliche 
offenbar akut entstandene Degenerationsheerde an Marchi-Praparaten 
gesehen, die Gruppirung der Herde um ein im Centrum befindliches 
thrombosiertes oder schwer entartetes Gefass war hierbei unverkennbar. 
Schwierig ist in einzelnen Fallen die Abgrenzung der senilen Processe 
von luetischer Rtickenmarkserkrankung, falls dieselbe ebenfalls erst in 
hfiherem Alter einsetzt. Die Unterscheidung ist um so schwieriger, als, 
wie bereits betont, grade bei den Formen frfihzeitiger Arteriosklerose 
die Lues als atiologisches Moment offenbar eine grosse Rolle spielt. Den 
Zusammenhang mfissen wirunshierbeinachThoma, v.Schrotter 3 ) u.a. 
in der Weise vorstellen, dass durch die Lues eine Schwachung der 
Gefasswand, besonders der Media, hervorgerufen wird, die dann ihrer- 
seits zur Erweiterung des Gefasses, zu Kalkeinlagerung, so wie zu 
den reactiven Wucherungsprocessen in Intima und Adventitia Veran- 
lassung bietet. So kann derselbe Process, der sonst erst meist in 
hohem Alter durch die Abuutzung des Gefassapparates oder durch 
chronische Ernahrungsstorungen hervorgerufen wird, unter dem Ein- 
fluss der Lues schon frtihzeitig einsetzen. 

Eine Unterscheidung der prasenilen Arteriosklerose von der lueti- 
schen Myelitis ist dadurch gegeben, dass bei der letzteren in der Regel 
eine Betheiligung der Rttckenmarkshaute an dem Krankheitsprocess 
vorhanden ist. Findet man also eine starke Verdickung oder Verwachs- 
ung derselben, oder gar von ihnen ausgehende gummose Processe, 

3) 1. c. 

2) XXX. Versammlung der sudwestdeutschen lrrenarzte, Frankfurt a/M. 

3) Vgl. v. Schrotter, Erkrankuugen der Gefasse, I. Halflte. Wien 1899. 


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394 


XXIII. Sander 


wie in Fall 11 unserer Tabelle, so wird eine differentielle Diagnose 
nicht schwierig sein. Ebenso wird man nie yon einer prasenilen 
Erkrankung sprecben konnen, wenn eine starke Infiltration der Rflcken- 
markshaute oder Gefasswande mit Rundzellen vorhanden ist. Diese 
infiammatoriscben Erscheinungen sind stets ein Charakteristicum der 
luetischen Erkrankung, sie finden sich bei arteriosklerotischen Processen 
nur hochst selten in starkerem Grade. Auch bei Fallen progressiver 
Paralyse, die ahnliche Randdegenerationen im Ruckenmark zeigten, 
konnte ich, wie bereits erwahnt, stets eine starke Infiltration mit Kernen 
nachweisen. Auch die Gefasserkrankung selbst tragt bei Lues anderen 
Charakter, es fiberwiegt die Endarteritis mit Yerschluss des Lumens, 
wahrend periarteritische Processe und Zerfall der Media weniger hervor- 
treten. Immerhin zeigt sich grade hier die nahe Verwandtschaft mit 
der prasenilen Arteriosklerose, bei der ebenfalls die Neigung zu schwe- 
reren Gefassprocessen fiberwiegt In einzelnen Fallen wird man sich 
dahin entscheiden mfissen, dass neben den Zeicheil einer luetischen 
Meningomyelitis auch eine deutliche Arteriosklerose vorhanden ist. 
Hierzu gehort Fall 11 unserer Tabelle, wahrend es in Fall 10 nach 
dem anatomischen Befund nicht moglich ist, bestimmt zu entscheiden, 
ob es sich hier um eine abgelaufene luetische Myelitis oder um eine 
prasenile Rfickenmarkserkrankung handelt. Nach der Anamnese sind 
beide Moglichkeiten vorhanden, die Schwere des Degenerationsprocesses 
im Mark sowie die leichte Betheiligung der Rfickenmarkshaute spricht 
fttr Lues, das Alter des Kranken, die Art der Gefassdegeneration, der 
Mangel jeglicher inflammatorischen Erscheinungen, die Art der Sklerose 
mit deutlich perivascularem Charakter ffir Senilitat. Ich mochte trotz- 
dem diese Formen, die sich in ahnlicher Weise auch in der Hirn- 
rinde wiederfinden, in keiner Weise mit der luetischen Myelitis identi- 
ficiren, wohl aber die nahe Verwandtschaft beider Formen betonen. Es 
unterliegt keinem Zweifel, dass die Lues bei der prasenilen Degeneration 
des Ruckenmarks eine grosse Rolle spielt. 

Vergleiche ich die jetzt erhobenen Befunde mit meinem frfiher 
beschriebenen Falle von Paralysis agitans, so kann ich auch diesen ohne 
Schwierigkeit in die Reihe der prasenilen Rttckenmarkserkrankungen 
einfugen. Der Erkrankungsprocess war hier entschieden besonders 
schwer und intensiv, so dass er von alien bisher untersuchten Fallen 
an erster Stelle steht. Ich glaube auch jetzt noch zu der Annahme 
berechtigt zu sein, dass dieser hochgradige senile Degenerationsprocess 
mit dem Erankheitsbild in ursachlichem Zusammenhang steht, und dass 
nur die Localisation der senilen Sklerose die Symptome der Paralysis 
agitans hervorruft. Ich werde allerdings den Sitz der Erkrankung nicht 
mehr im Rfickeomark suchen, nachdem ich mich an zahlreichen Ver- 


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Untersuchungen uber die Alters veranderungen im Ruckenmark. 395 


gleicbsobjecten tiberzeugt babe, dass die Sklerose der grauen Substanz 
nur sekundaren Charakter tragt und offenbar durch den Zerfall der 
Ganglienzellen und des umgebenden Faserwerkes bedingt ist. Auch 
die Veranderungen im Mark fand ich in fast gleicher Starke bei senilen 
Fallen ohne Paralysis-agitans-Symp tome. Man wird daber wohl in 
erster Linie bei der Paralysis agitans an senile Degenerationsprocesse 
denken mftssen, welche sich in den Bahnen oder grauen Kemen 
abspielen, die zu den Pyramiden im Hirnstamm in Beziebung treten. 

Fasse ich zura Schluss das Ergebniss meiner Untersuchungen kurz 
zusammen, so unterscheide ich auf Grund meiner Falle 3 Formen se- 
niler Degeneration des Rtickenmarks: 

1. Eine leichtere Form mit geringem diffusen Markscheidenausfall, 
leicbter secundarer Gliawucherung und geringer Zelldegeneration 
(Physiologische Senilitat). 

2. Eine schwere Form mit diffusem Markscheidenausfall, Auftre- 
ten von Herden, hochgradiger Sklerose und starker Zelldegene¬ 
ration. 

3. Eine baufig schon prasenil einsetzende Form mit acuteren Zer- 
fallsprocessen und zablreichen Herden. Diese konnte man analog 
der von Alzheimer ftir das Gehirn angewandten Benennung am 
ehesten als arteriosklerotische Degeneration des Ruckenmarks be- 
zeichnen. 

Sammtliche Formen beruhen auf der senilen Gefassdegeneration, 
die bei den ersten Formen mehr universell, bei der letzteren mehr 
localisirt auftritt. Ftir die Entstehung der in hobem Alter auftreten- 
den diffusen Veranderungen dttrfte auch der senile Marasmus von 
Bedeutung sein. 


Meinem verehrten Chef, Herrn Direktor Dr. Sioli, bin ich ftir die 
Ueberlassung der Krankengeschichten und des Materials zu Dank ver- 
pflichtet. 


Erkiarang der Abbildnngen auf Tafel YI und YII. 

(Photographische Aufnahmen nach Original-Praparaten.) 

Fig. 1, 2, 3. Querschnitte aus dem Brustmark. Markscheidenfarbung nach 
Kulschitzky-Wolters. Zeiss-Objectiv a, Projections-Ocular 2. 
Balgauszug 45 cm. 

Fig. 1. Praseniles Euckenmark, Fall 22, diffuse Randdegenerationen, einzelne 
Herde am Eande, secundare Degeneration der Pyramidenbahnen. 


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396 XXIII. Sander, UntereuchuDgen fib. dieAltersveranderungen im Euckenmark. 

Fig. 2. PraseDiles Euckenmark, Fall 10, hocbgradige Eanddegenerationen, 
radienformiges Fortschreiten nach Innen, Herde fiber den Hinteretrangen. 

Fig. 3. Seniles Euckenmark mit diffusem Markscheidenausfall and Herden am 
Eande. Fall 19. 

Fig. 4. Langsschnitt ernes vom Centrum nach der Peripherie yerlaufenden stark 
sklerosirten Efickenmarksgefasses. Schlangelung des Gefasses, Auf- 
fasernng der Elastica, starke Wucherung der Intima, die an einigen 
Stellen fast zum Verschluss gefuhrt hat (Fall 19). Farbung nach 
Weigert. Zeiss, Homogen. Immersion 1,30, Balgauszug 45 cm, 
Projections-Ocular 2. 

Fig. 5—8. Praparate nach der Weigert’schen Gliamethode. 

Fig. 5. Eandpartie aus dem Brustmark von Fall 19, starke Gliawucherung im 
Mark, dem Gefassverlauf entsprechend, nach dem Eande hin zu einem 
keilformigen sklerotischen Plaques sich verdichtend. Zeiss-Objectiv AA, 
Projections-Ocular 2, Balgauszug 45. 

Fig. 6. Eine Stelle von Fig. 5 in starker Vergrosserung. Man beachte die 
peri vasculare Giiose. Zeiss-Objectiv DD, Projections-Ocular 2. 

Fig. 7 und 8. Hocbgradige Eandsklerose, linkerseits starker. Zwei entsprechende 
Stellen desselben Querschnittes aus dem Halsmark von Fall 10. Zeiss- 
Objectiv AA, Projections-Ocular 2. 

Fig. 9—14. Senile Zelldegenerationen. Vorderhornzellen im Lendenmark. 
Fall 23. Zeiss, Homog. Immersion 1,30. Projections-Ocular 2. 

Fig. 9. Pigmentzerfall der chromatischen Substanz, Uebergang der Zellen in 
Kugelform. Die dunkle Zelle hochgradig sklerosirt. 

Fig. 10. 2 Zellen in verschiedenen Stadien der pigmentdsen Degeneration, die 
rechte Zelle zeigt nur noch schattenhafte Umrisse und netzformige An- 
ordnung des Pigments. 

Fig. 11. Zelle im Anfangsstadium der Pigmentdegeneration. 

Fig. 12. Eesorption des Pigmentes und beginnende Vakuolisirung im Zellinnern. 

Fig. 13. Typiache Form der Zellsklerose. 

Fig. 14. Sklerosirte Zelle mit Anschwellung und Pigmentzerfall an der Basis 
(Pilzform). 


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XXIV. 


Ueber die Verbreitung der Neurasthenie unter verschiedenen 
Bevolkenmgsclassen. 

Nebst kiirzeren symptomatischen Bemerkungen. 

Von 

Karl Petr6n, 

Docent an der Universitat in Lund. 

„U 6tait int^ressant, que la nSvrose 
neurast^nique n’appartient pas — exclu- 
sivement & Phommedes classes privil6gi6s, 
amolli par la culture, 6puis6 par l’abus 
des plaisirs, par des preoccupations 
des affaires et Pexc&s des travaux intel- 
lectuels. II y a la un pr^jugd que je me 
suis bien des fois eflforc4 de combattre, 
mais contre lequel il faudra lutter encore, 
sans doute, pendant longtemps, car il 
parait loin d’etre d£racinfc“ (Charcot 1891). 

Betreffs der Frage der Frequenz der Neurasthenie unter den ver¬ 
schiedenen Bevolkenmgsclassen haben die meisten Autoren sich dahin 
ausgesprochen, dass die Krankheit unter dem mit Kopfarbeit be- 
schaftigten Theil der Bevolkerung weit ofter als unter den Hand- 
arbeitern vorkommt (Vergl. Bouveret, Lowenfeld, Gilles de 
la Tourette, Kraft-Ebing, Oppenheim, Erb.) Es giebt sogar 
Verfasser, welche das Vorkommen der Neurasthenie unter der Arbeiter¬ 
bevolkerung fast als eine Seltenheit betrachten: so giebt Hosslin in 
Mdllers Handbuch der Neurasthenie an, dass es unter 598 von ihm 
beobachteten Fallen nur 6 Arbeiter gegeben hatte. 

Andererseits heben doch auch einige Autoren (wie Strttmpell, 
Kraft-Ebing, Dercum) hervor, dass Neurasthenie auch unter der 
Arbeiterbevolkerung ein gewohnliches Vorkommniss bildet. Besonders 
will ich bemerken, wie der Amerikaner Dercum ausdriicklich betont, 
dass Neurasthenie unter armen Leuten eben so gewohnlich wie unter 
den reichen ist. Ich glaube nicht zu irren, wenn ich behaupte, dass 
die skandinavischen Aerzte im allgemeinen der Ansicht sind, die Neur- 
asthenie komme unter der Arbeiterbevolkerung oft vor. Beim ersten 


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398 


XXiy. Petr^n 


skandinavischen Kongress f&r innere Medicin in Gotenburg 1896 
wurde die Frage nach dem Vorkommen der Neurasthenie discutirt. 
Prof. Holsti berichtete aus Finnland tiber die grosse Frequenz der 
Neurasthenie unter sammtlichen Bevolkerungsklassen. Der Norweger 
Hansen aus Bergen hatte die Krankheit sehr oft bei den Fischem 
an der Ktiste und sein Landsmann Backer unter der Bevblkerung 
in den Thalern einer Oebirgsgegend gesehen. Ebenso hatte Henschen 
gefunden, dass die Neurasthenie unter den Bauem der schwedischen 
Provinz Dalekarlien frequent sei. Ein anderer Landsmann Kulneff 
hat an anderem Orte mitgetheilt, wie er unter der Bauembevolkerung 
in der schwedischen Provinz Schonen die Krankheit oftmals be- 
obachtet habe. 

Was meine Erfahrung betrifft, so habe ich in den Jahren 
1895—99 285 Falle von Neurasthenie personlich diagnosticirt und 
behandelt, von denen 198 aus der korperlich arbeitenden Bevolker- 
ung stammten. 

BetrefFs der Frequenz der Neurasthenie unter den Arbeitem 
herrscht also noch eine auffallende Nichtubereinstimmung zwischen 
den verschiedenen Beobachtern; so ist z. B. der Unterschied zwischen 
den angeftthrten Ziflfern von Hosslin und den meinigen in diesem 
Puncte kolossal. Wie sollen wir diesen Unterschied erklaren? Man 
ware vielleicht geneigt, als seine Ursache thatsachliche Unterschiede 
zwischen verschiedenen Gegenden anzunehmen. Dass solche Unter¬ 
schiede wirklich vorkommen, kann ich nattirlich nicht leugnen. 
Doch ist es mir sehr unwahrscheinlich, dass die Neurasthenie nicht 
tiberall unter der Arbeiterbevolkerung eine gewohnliche Krankheit 
sein sollte. 

Was zunachst die Ziflfern von Hosslin betrifft, so stammt seine 
Erfahrung wahrscheinlich aus einem Privatsanatorium, und es kann 
von den ausseren Verhaltnissen abhangen, dass er hier keine 
Arbeiter zu beobachten bekommt Ferner mogen wir nicht vergessen, 
dass — einer allgemeinen Erfahrung nach — die Patienten mit Neur¬ 
asthenie nicht so besonders oft in den Kliniken gepfiegt werden, 
weshalb die Kliniker vielleicht nicht immer in der Lage sind, die 
Frequenz der Krankheit unter der niederen Bevolkerung richtig zu 
schatzen. Oflfenbar konnen wir eine zuverlassige vergleichende 
Schatzung der Frequenz der Neurasthenie unter den verschiedenen 
Classen nur dadurch erreichen, dass wir unter einem bestimmten 
klinischen Material ihre relative Frequenz bei verschiedenen Classen 
berechnen. 

Eine solche Berechnung auszuftthren, habe ich versucht Zu 
diesem Zwecke habe ich das gesammte klinische Material aus meinen 


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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenie unter verschied. Be volkerangsclassen. 399 

Sprechstunden in den Jahren 1895—99 zusammengestellt — soweit ich 
Aufeeichnungen dartiber besitze. Der weitaus iiberwiegende Teil dieses 
Materials rtthrt yon meiner Wirksamkeit in Badem her (namlich im 
Sommer 1895 und 1896 in Ronneby und in den Sommem 1897—1899 
in Nybro). Eine Eigenthumlichkeit der Mehrzahl unserer schwedischen 
Bader ist, dass sie zum grossen, zuweilen sogar zum grossten Theil 
yon Leuten der armeren Klassen, besonders der Bauembevolkerung 
frequentirt werden. Ich habe mein Material in drei Classen zu ver- 
theilen versucht, welche ich als die hoheren, mittleren und niederen 
Stande bezeichnet habe. In den letzteren habe ich die Bauern, die 
Industriearbeiter und die Handwerksleute gerechnei Die Abgrenzung 
zwischen den zwei anderen Gruppen ist besonders schwierig und zum 
Theil etwas willktirlich gewesen. In den mittleren Standen habe ich 
Leute wie Yolksschullehrer, Commis, Unteroffiziere u. s. w. gerechnet: 
tiberhaupt Leute, welche nicht gerade korperliche Arbeit verrichten. 
Weiter habe ich jede Gruppe wieder nach den beiden Geschlechtem 
getbeilt, ftir jede der so erhaltenen Abtheilungen sowohl die absolute 
Anzahl von Neurasthenie-Fallen als die relative Frequenz der Krank- 
heit mitgetheili 


Anzahl von Patienten unter 

Dazwischen 
Falle von 
Neurasthenie 

| 

Ihre Anzahl in 
Procent ausgedruckt 

Mannem der hoheren 

Stande . 

226 

30 

13,3 , 

»» » 

mittleren 

11 . 

159 

21 

13,2 [ 14,2 Proc. 

»» 

unteren 

11 . 

609 

90 

14,8 t 

Weibern „ 

hoheren 

11 . 

302 

20 

6,6 x 

» a 

mittleren 

11 . ... . 

244 

16 

6,6 > 9,7 Proc. 

?» it 

unteren 

n . 

940 

108 

11,4 f 



Summa 

2478 

285 

11,5 Proc. 


Zu dieser Zusammenstellung mochte man vielleicht zunachst be- 
merken, dass eine Frequenz der Neurasthenie von 11,5% sehr gross 
ist Daraus kann man jedoch nichts anderes schliessen, als dass 
gerade die Pat. mit dieser Kraukheit mich (oder die betreffenden 
Bader) verhaltnissmassig oft besucht haben. 

Diese Tabelle lehrt uns sofort, dass die Neurasthenie unter dem 
betreffenden klinischen Materials bei den Handarbeitem nicht weniger 
haufig, als bei den Hirnarbeitem vorgekommen ist. Meine Ziffem be- 
staidgen also die Auffassung Charcot's und der oben citirten skan- 
dinavischen Beobachter. 


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400 


XXIV. PetrSn 


Was die Frage der relativen Frequenz der Neurasthenic unter 
den beiden Geschlechtem betrifft, so sprechen sich mehrere Autoren 
dahin aus, dass die Krankheit bei den Mannnem offcer vorkommt, als 
bei den Frauen (Althaus, Hosslin, Mtiller, Kraft-Ebing, Erb). 
Andererseits behaupten jedoch andere, dass die Krankheit bei den 
Frauen fast (Lowenfeld, Binswanger, Levillain) oder sogar eben 
so gewohnlich (Mathieu, Dercum) wie bei den Mannera ist. Be- 
treffs dieser Frage lehrt meine Zusammenstellung, dass es unter den 
Handarbeitem keinen sehr bedeutenden Unterschied zwischen den 
beiden Geschlechtem giebt. Das mannliche tiberwiegt jedoch etwas. 
Wenden wir uns aber zu den mittleren und hoheren Standen, so habe 
ich die Neurasthenic hier etwa doppelt so oft bei den Mannera als bei 
den Frauen gefunden. — Ich will noch hinzufugen, dass dies Ergeb- 
niss meiner Zusammenstellung mir unerwartet war und mich ziemlich 
flberraschte. 

Prof. Holsti aus Helsingfors hat mir brieflich folgende hierher 
gehorende Ziffern mitgetheilt. In den Jahren 1895—99 hat er in 
seinen Sprechstunden 1370 Manner empfangen, welche zum ttber- 
wiegenden Theil aus den hoheren Standen stammten. Unter diesen 
193 Falle von Neurasthenic (14,1 Proc.). Unter den Frauen (ja auch 
hauptsachlich aus den hoheren Standen) waren die entsprechenden 
Ziffern 1395, bez. 112 (8 Proc.). Die Uebereinstimmung dieser Zahlen 
mit den meinigen in Bezug auf die hoheren und mittleren Stande ist 
wahrhafb erstaunlich. 

Prof. Holsti berichtet weiter, dass es unter 920 Fallen von 
Neurasthenic, welche wahrend einer gewissen Zeit in der medicinischen 
Klinik und Poliklinik in Helsingfors beobachtet worden sind, nur 
24 Proc. Manner gab. Dieses Material bezieht sich fast ausschliesslich 
auf Personen der niederen Stande. Die weitaus grosste Zahl aller 
dieser Falle (namlich 702) stammt aus der Poliklinik und ist yon ver- 
schiedenen poliklinischen Assistenz-Aerzten beobachtet worden. Deren 
Auffassung der Abgrenzung der Neurasthenie kann ja, wie Holsti 
bemerkt, ziemlich gewechselt haben, und offenbar muss das von 
einer Person beobachtete und folglich mit Sicherheit einheitlich be- 
urtheilte Material fiir diese statistischen Fragen weit zuverlassigere 
Schlussfolgerungen gestatten. Wenn auch diese aus dem poliklinischen 
Material stammenden Ziffern also nicht denselben Werth wie die- 
jenigen von Holsti beanspruchen konnen, diirften sie doch daffir 
sprechen, dass die Neurasthenie unter der Arbeiterbevolkerung in 
Finnland bei den Frauen nicht viel weniger frequent als bei den 
Mannera ist. 

Es ist mir eine liebe Pflicht, Herra Prof. Holsti fur das liebens- 


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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenic unter verschied. BevSlkerungsclassen. 401 

wtirdige Entgegenkommen, mit dem er mir diese Ziffern mittheilte 
und zu citiren erlaubte, herzlich zu danken. 

Wie sollen wir die Ergebnisse dieser Zusaramenstellungen mit 
unseren Kenntnissen beztiglich der Aetiologie der Neurasthenie in Ueber- 
ein8timmung bringen? 

Zunachst richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die von Holsti 
und von mir gefundene, weit grossere Frequenz der Krankheit bei 
Mannem als bei Frauen unter den hoheren Standen. Allgemein wird 
wohl behauptet, dass die anstrengende, forcirte, jagende Arbeit der 
Manner, ihr Kampf urns Dasein — oft dtirften wir doch lieber sagen: 
ihr Streben im socialen Wettstreite moglichst viel zu erreichen — 
eine sehr wichtige Ursache der Neurasthenie unter ihnen ausmacht. 
Dieser Auffassung kann ich nur ganz beistimmen. Es dtirfte un- 
zweifelhaft sein, dass die Frauen in den besser situirten Standen im 
Allgemeinen eine weniger anstrengende Aufgabe als die Manner 
haben, tiberhaupt eine ruhigere Existenz ftthren. Desshalb haben wir 
das Recht zu erwarten, dass die Neurasthenie bei den Frauen seltener 
sei als bei den Mannem. Andererseits konnen zwar die Graviditat, 
die Geburt und die Lactation auf das Nervensystem schwachend ein- 
wirken. Aus der hier mitgetheilten Erfahrung von Holsti und von 
mir, dass die Neurasthenie unter den hoheren Standen bei den 
Mannem weit gewohnlicher als bei den Frauen ist, mttssen wir aber 
schliessen, dass diese schadlichen, bei den Frauen wirksamen Einflusse 
den oben erwahnten Unterschied, der beziiglich der Arbeit und Lebens- 
weise zu ihren Gunsten besteht, nicht aufwiegen. 

Wenden wir uns aber zu den Handarbeitem, so habe ich die 
Neurasthenie hier bei den Mannem nur wenig haufiger als bei den 
Frauen gefunden. Die Ursache dazu scheint mir auch nahe zu liegen. 
Bei diesem Theil der Bevolkerung haben die Frauen keine bessere 
Stellung als die Manner, sondem mussen sich in fast demselben 
Maasse wie die Manner mit korperlicher Arbeit anstrengen. In vielen 
Arbeiterfamilien durften auch die okonomischen Sorgen die Frauen 
mehr treffen, als die Manner. Der sicher vorhandene, bedeutende 
Unterschied in der Stellung der Frauen in den hoheren Standen und 
bei den Arbeitem bedingt also aller Wahrscheinlichkeit nach die ver- 
schiedene Frequenz der Neurasthenie bei ihnen. 

Es ist wohl eine allgemeine Auffassung, dass wir nebst der Hereditat 
die moderne Civilisation und die von ihr bedingte Veranderung unserer 
Arbeit und Lebensweise als die wichtigste unter den entfemteren Ur- 
sachen der Neurasthenie zu betrachten haben. Wie oben erwahnt, 
habe ich in 5 Jahren 198 Falle der Krankheit unter der Arbeiter- und 
Bauernbevolkerung beobachtet. Fast alle diese Falle stammen aus 


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402 


XXIV. Petr£n 


der Provinz Blekinge und dem angrenzenden (stid5stlichen) Theil der 
Provinz Smoland und zwar fast ausschliesslich vom Lande. Ein 
kleinerer Theil dieser Falle bezieht sich auf Industriearbeiter, die weit- 
aus ttberwiegende Zabl aber auf die Bauembevolkerung. Was die 
Verhaltnisse in den betreffenden Gegenden betrifft, so sind sie — so 
weit ich beurtheilen kann — von der modernen Civilisation nur wenig 
umgestaltet worden. Ich glaube, dass die Bauem hier in der Haupt- 
sache in derselben Weise leben wie vor etwa 50 Jahren. Dies gilt 
vielleicht am meisten beztiglich gewisser Gegenden von Smoland, aus 
denen ich aber eine grosse Reihe Neurastheniefalle beobachtet habe, 
so dass ich ohne Zogern die Krankheit hier als eine gewohnliche be- 
zeichnen kann. 

Folglich konnen wir — meines Erachtens — als die Ursache der 
Neurasthenie hier nicht an den Einfluss der modernen Civilisation 
denken. Ich habe desshalb geglaubt, es ware von Interesse, eine Zu- 
sammenstellung der von mir in einer Reihe von Fallen gefundenen 
atiologischen Faktoren mitzutheilen. Schon frtlher hat Hosslin 
eine solche statistische Zusammenstellung geliefert. Doch ich glaube, 
dass sie sich zum grossten Theil auf Beobachtungen aus den hoheren 
Standen bezieht, wahrend mein Material in tiberwiegendem Grade aus 
der Bauembevolkerung stammt. 

Die Zusammenstellung der von mir nachgewiesenen, wahrschein- 
lich hervorrufenden Ursachen der Neurose folgt hier. 

In 62 Fallen Trauer in Folge ungltteklicher Familienverhalt- 
nisse, des Todesfalles eines Verwandten oder ahnliche personliche 
Momente. 

In 24 Fallen Unruhe wegen okonomischer Verluste oder Nah- 
rungssorgen. 

In 5 Fallen eine deprimirende Ursache, die die Kranken nicht 
haben angeben wollen. 

In 47 Fallen Ueberanstrengung. Nur in der spateren Zeit habe 
ich die Art der Ueberanstrengung aufgezeichnet und rtihrte dieselbe 
in 15 Fallen von intellektueller, in 9 Fallen von korperlicher 
Arbeit her. 

In 29 Fallen wurde Influenza als Ursache angegeben. Wenn 
auch Influenza unzweifelhaffc zuweilen die hervorrufende Ursache der 
Neurasthenie bildet, so glaube ich doch, dass diese Ziffer unsicher 
ist, da die Pat bekanntlich dazu geneigt sind, alles Mogliche auf die 
Rechnung der Influenza zu schreiben. 

In 18 Fallen eine andere acute Infectionskrankheit: besonders 
Pneumonie und Febris typhoides, doch auch rheumatische Fieber und 
Colitis haemorrhagica. In einem Falle Perityphlitis mit nachfolgender 


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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenic unter verscbied. Bevolkerungsclassen. 4Q3 

langer, wohl zu langer vom Arzte vorgeschriebener Hungerperiode; in 
einem anderen Falle Ulcus ventriculi. 

In 21 Fallen Masturbatio oder Excesse in Venere. 

In 13 Fallen ein Trauma oder ein Schrecken, wie bei einer Feuers- 
brunst oder dergl 

In 16 Fallen Partus, am haufigsten zahlreiche und schnell auf 
einander folgende. Die Lactation, zu lange fortgesetzt, scheint einen 
sehr schadlichen Einfluss ausiiben zu konnen. Zuweilen sieht man 
eine Abort weit schadlicher einwirken, als mehrere normale Partus. 

In 8 Fallen unmassiger Alkoholgenuss. 

In 2 Fallen Fabriksarbeit in starker Hitze. 

Wie man findet, steht diese statistische Zusammenstellung in allem 
Hauptsachlichen mit deijenigen von Hosslin in sehr guter Ueberein- 
stimmung. Dies scheint mir bemerkenswerth, da unseres Material offen- 
bar ein so verschiedenes ist, indem sein Material wahrscheinlich aus 
den hoheren Standen, dass meinige aber zum grossten Theil aus der 
Bauembevolkerung stamm t. In der That, wenn man die Literatur 
betreffs der Aetiologie der Neurasthenie durchmustert, ist es auffallend, 
wie die Erfahrung aller Beobachter betreffs der wirksamen atiologischen 
Momente in allem Hauptsachlichen hbereinstimmh Dieser Umstand 
liefert einen sehr wichtigen Grund daffir, dass die Neurasthenie yon 
den verschiedenen Beobachtem in derselben Weise abgegrenzt worden 
ist Dass dies sich also ausffihren lasst, spricht wieder daftir, dass 
die Neurasthenie eine einheitliche, einigermassen gut abgrenzbare Krank- 
heit bildet 

Meiner Ansicht nach spielen die deprimirenden, psychischen Momente 
die grosste Rolle in der Aetiologie der Neurasthenie. Diese Auf- 
fassung ist auch von Holsti bei dem erwahnten Kongress in Gothen¬ 
burg hervorgehoben und auch sonst von vielen Autoren getheilt worden. 
Andere Autoren wollen jedoch der Ueberanstrengung mit intellektueller 
Arbeit die grosste Bedeutung zuerkennen (Althaus, Gilles de la 
Tourette, Mathieu, Dercum). Weiter will ich bemerken, dass 
meiner Erfahrung nach die Ueberanstrengung mit korperlicher Arbeit 
nur eine geringe aetiologische Rolle spielt; in diesem Puncte dfirften 
auch alle Autoren einig sein. 

Wenn man die gelieferte statistische Zusammenstellung durch¬ 
mustert, muss man zugeben, dass die hier genannten, die Neurasthenie 
hervorrufenden Ursachen zum grossten Theil von der alltaglichen Art 
sind, dass jeder von uns zuweilen im Leben solchen begegnet. Folglich 
konnen wir behaupten, dass entfemtere zur Neurasthenie disponirende 
ursachliche Momente vorhanden sein mussen. Bezfiglich der Mehrzahl 
meiner Falle kbnnen wir — meines Erachtens — den Einfluss der 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 27 


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404 


XXIV. Petr£n 


schnell sich entwickelnden, modemen Civilisation nicht als diese ent- 
femtere Ursache betrachten. Wir mtissen folglich andere disponirende 
Ursachen suchen. 

Dabei denke ich zunachst an unmassigen Genuss von Alkohol in 
den vorhergehenden Generationen. Allgemein angenommen ist, dass 
derselbe einen schwachenden Einfluss auf das Nervensystem der Nach- 
kommen ausfiben kann. 

In Schweden hat fruher, namlich in der ersten Halfte dieses 
Jahrhunderts, der Genuss von Branntwein aller gleichzeitigen Zeugnisse 
nach einen wahrhaft ungeheuren Umfang gehabt und zwar besonders 
in den niederen Standen. Wahrend der Jahre 1824—55 war es durch 
das Gesetz erlaubt und in der That eine sehr weit verbreitete Sitte, 
dass jeder Bauer Branntwein zu eigenem Gebrauche bereitete. Auch 
besass er — nur mit einigen Einschrankungen — das Recht, den Brannt¬ 
wein zu verkaufen. 

Im Jahre 1855 wurde die Gesetzgebung betreffs der Herstellung 
und des Verkaufens des Branntweins in durcbgreifender "Weise ver- 
andert und die sog. Branntweinbereitung far den Hausbedarf ver- 
schwand in wenigen Jahren. Far die Zeit vor 1855 giebt es keine 
sicheren statistischen Daten betreffs der Menge des im Lande bereiteten 
Branntweins. Immerhin behauptet die officielle schwedische Statistik, 
dass die Production des Branntweins nur wenige Jahre vor der Ver- 
anderung der Gesetzgebung im Jahre 1855 mehr als doppelt so 
gross war, wie unmittelbar nach 1855. Diese Angabe ist nicht eine 
einfach subjektive, denn wahrend der ganzen betreflfenden Periode 
(1824—55) ist sowohl die Zahl als die Grosse der zur Branntwein¬ 
bereitung benutzten Kessel gesetzmassig registrirt worden. 

Nach 1855 wird unsere Statistik besser, erst fur die Zeit nach 1870 
liefert sie jedoch sichere Ziflfem far den Verbrauch von Branntwein 
(incl. andere Getranke hohen Alkoholgehaltes). Pro Kopf sammtlicher 
Einwohner gerechnet zeigt dieser Verbrauch folgende Ziflfern: namlich 
im Durchschnitte far die Jahre 1871—75 : 11,8 Liter; 1876—80 : 10,1 L.; 
1881—85:8,0L.; 1886—90:7,1 L.; 1891-95:6,7L.; und 1896—98:7,6L. 
Bis 1895 finden wir folglich ein stetiges Sinken der Menge des in 
Schweden verbrauchten Branntweins oder der starkeren Alkohol- 
getranke. *) Dass die entsprechenden Ziflfern far die Periode 1824—55 


1 ) Es ware von Interesae gewesen, den Verbrauch von Branntwein gerade 
in den hier betreflfenden Gegenden bestimmen zu konnen. Dies lasst sich doch 
in exacter Weise nicht ausfiihren. Die Statistik berichtet zwar fiber die Gebfihr 
fur Auaschank des Branntweins in den verschiedenen Regierungsbezirken; daraus 
kann man doch nichts sicheres schliessen betreffs des Verbrauches. 


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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenic unter verschied. Bevblkerungsclassen. 405 

sehr hoch gewesen sind, konnen wir sicber behaupten, obgleich wir 
ibre exacte Grosse nicht kennen. 

In der Periode des besonders unmassigen Alkoholverbrauches, 
namlich in den Jabren 1824—55 haben die Vater und Grossvater 
der gegenwartigen Generation gelebi Wir mtissen weiter annehmen, 
dass ein so bedeutender Alkoholgenuss, wie der in dieser Zeit sehr oft 
vorkommende anf einen Theil der Nachkommen schwachend einwirkt. 
Es ist mir deshalb sehr wahrscheinlich, dass der unmassige Alkohol- 
genuss frttherer Generationen eine wichtige Ursache der Neurasthenic 
bei der betreffenden Bauembevolkerung der Jetztzeit ausmachi Be- 
stimmte Beweise flir eine solche Auffassung lassen sich ja kaum dar- 
bringen. Jedenfalls babe icb die letzten Jahre, seitdem meine Auf- 
merksamkeit auf diesen Punkt gelenkt worden war, bei Fallen von 
Neurasthenie, wo ich keine gentigende Aetiologie auffinden konnte, 
nach dem betreffenden Umstand gefragt und in diesen Fallen baben 
die Pat. auch auffallend oft zugegeben, dass ihre Vater einem un¬ 
massigen Alkoholgenuss gehuldigt haben. 

Weiter mussen wir uns daran erinnern, dass, wenn der enervirende 
Einfluss der modemen Zeit sich fiir die hoheren Stande und fiir die 
Bevolkerung der grosseren Stadte in schadlicher Weise geltend 
macht, dies aber nicht oder nur in geringerem Grade betreffs der 
Arbeiterbevolkerung auf dem Lande der Fall ist, so hat dieselbe 
moderne Zeit den okonomisch gut situirten hoheren Stande auch ver- 
schiedene Vortheile gebracht. Wir haben gelemt, besser zu wohnen; 
wir haben grossere Fensterflachen in unseren Zimmern, wir haben 
bessere Moglichkeiten fiir und Begriffe von Ventilation bekommen. 
Ueberhaupt hat sich die Hygiene unserer Wohnstatten sehr gebessert 
Dasselbe trifft aber fttr die Bauembevolkerung in den betreffenden 
Gegenden von Smoland und Blekinge kaum oder nur sehr wenig 
zu. Ihre Wohnungen sind in den letzten 50 Jahren wahrscheinlich 
nur wenig verbessert worden. Abgesehen von den wenig befriedigenden 
Wohnungen mfissen wir uns daran erinnern, dass die Nahrung der 
Bevolkerung dieser Gegenden, welcbe wahrscheinlich zu den armsten 
unseres Landes zahlt, oft in qualitativer Hinsicbt mangelbaft ist, indem 
die billigen Kohlenhydrate unverhaltnissmassig tiberwiegen. 

Gleich wie die Erfahrung lehrt, dass schlechte hygienische und 
diatetische Verhaltnisse eine verminderte Resistenz des Organismus 
gegen Tuberculose und verschiedene andere Krankheiten bewirkt, so 
liegt es auch sehr nahe anzunehmen, dass sie auch die Resistenz des 
Nervensystemes vermindem und folglich dazu beitragen kann, eine 
Disposition fQr Neurasthenie hervorzubringen. 

Bestimmte Schltisse in diesen Fragen zu erreichen, ist wohl kaum 

27* 


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406 


XXIV. Petr£n 


moglich, es scheint mir jedoch sehr wahrscheinlich, dass ivir als die zur 
Neurasthenie disponirenden Momente bei der betreffenden Bauembevol- 
kerung ubermdssigen Alkoholgermss der fruheren Oenerationen , ungiinstige 
hygienische Verhdltnisse und qualitaHv unbefriedigende Nahrung anzti- 
sehen haben . 

In der betreffenden medicinischen Literatur der letzten Zeit findet 
man fast immer die Auffassung vertreten, dass die nervosen Zust&nde 
sich in unserer Zeit in einer schnellen Zunahme befinden. Dies trate 
besonders durch die zunehraende Zahl einerseits der Psychosen, anderer- 
seits der Neurasthenie hervor. In dieser Richtung haben sich &st 
alle Autoren, welche die Neurasthenie etwas naher behandelt haben, 
ohne Zogern ausgesprochen (Beard, Bouveret, Mtiller, Hosslin, 
Mobius, Eichhorst, Oppenheim, Holst, Erb, Granholm). Ja, 
es scheint, als ob gewisse Autoren der Ansicht waren, dass die Mensch- 
heit unserer Zeit einer schnellen, nervosen Entartung unterworfen sei 
(Kraft-Ebing). 

Ich kann die Bemerkung nicht zuriickhalten, dass diese jetzt so 
oft und iiberall wiederholte Ansicht oft als ein Glaubenssatz aufge- 
stellt worden ist, ohne dass man sich die Mtihe gegeben hat, Beweise 
dafBr zu liefern. Dass gewisse Gesellschaftsklassen an gewissen Orten 
durch ihre Arbeitsart und sonstigen Lebensverhaltnisse gegenwartig 
mehr nervos werden, als frtiher der Fall gewesen ist, will ich gem 
glauben. Die Beobachtung dieses thats&chlichen Vorkommnisses kann 
die erwahnte Auffassung der Autoren erklaren; denn man kann nicht 
gem annehmen, dass so viele hervorragende Forscher ohne thatsach- 
liche Gr&nde eine bestimmte Auffassung in diesem Punkte ausge¬ 
sprochen hatten. 

Ich betrachte es aber als bisher vollig unbewiesen und bezweifele 
auch, dass die Menschheit in unserer Zeit hberhaupt nervoser wird, 
dass die Frequenz der Neurasthenie sich iiberall oder im allgemeinen 
im Wachsen befindeh Zu diesem oppositionellen Standpunkte bin ich 
im Laufe der Jahre durch meine oben mitgetheilte Erfahrung betreffs 
der Neurasthenie unter der Bauembevolkerung gekommen. Es scheint 
mir namlich zum gewissen Grade rich tig zu sein, wie man oft an- 
genommen hat, in der Frequenz der Neurasthenie einen geraden Messer 
der Nervositat oder der nervosen Disposition zu sehen. 

Oben liabe ich auseinandergesetzt, wie die Neurasthenie meiner Er¬ 
fahrung nach bei einer Bauern- und Arbeiterbevolkerung, wo das 
Leben durch die moderne Kultur nicht wesentlich verandert worden 
ist, eine gewohnliche Krankheit bildet Man kann sich deshalb der 
Schlussfolgerung nicht verschliessen, dass die Neurasthenie in diesen 
Gegenden seit sehr langer Zeit und vermuthlich immer vorgekommen, 


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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenie unter verschied. Bevolkerungsclassen. 407 

wahrscheinlich auch gewohnlich gewesen isi Da der Alkoholgenuss 
frdher viel grosser gewesen ist, liegt es nahe, anzunehmen, dass 
die Neurasthenie hier frtther eine grossere Frequenz als jetzt ge- 
zeigt hat. 

Weiter habe ich gefunden, dass die Neurasthenie bei der Bauem- 
bevolkerung in den betreffenden Qegenden gar nicht weniger frequent 
ist als in den hoheren Standen und was die Frauen betrifFt, bei jeder 
weit ofters vorkommt. Ich glaube nicht, dass die hoheren Stande 
in unserem Lande betrefls ihrer Lebens- und Arbeitsweise yon der 
modernen Kultur weniger beeinflusst worden sind, als es in den grossen 
Kulturlandem der Fall ist. Deshalb muss es mir auch sehr zweifel- 
haft sein, ob die modeme Civilisation, trotz alien Veranderungen in 
unserem Leben, welche sie bewirkt hat, in unserem Lande wirklich eine 
gesteigerte nervose Entartung verursacht habe. In derselben Richtung 
hat sich vor wenigen Jahren Wildermuth ausgesprochen und hat 
dieser Autor auch mehrere wichtige Grftnde daf&r angefiihrt 

♦ * 

* 

Betreffs der Nosographie der Neurasthenie will ich nur einige 
kurze Bemerkungen machen. 

Allgemein anerkannt ist, dass die Prognose bei der mehr acuten Ent- 
stehung der Krankheit am besten ist Dies kann auch ich nur be- 
statigen. Neurasthenie mit scheinbar bltihender Gesundheit habe ich 
nur sehr selten und unter den Arbeitem wohl niemals gesehen. In der 
Mehrzahl der Falle habe ich gefunden, dass die Krankheit mit einem 
mehr oder weniger unbefriedigenden Nutritionszustande verbunden ist. 
Besonders in den Fallen von acuter Entwicklung der Krankheit (z. B. 
bei Trauer wegen eines Verwandten u. s. w.) beobachtet man oft eine 
Abmagerung und zwar zuweilen eine ziemlich bedeutende. Da diese 
Falle aber, wie oben erwahnt, im allgemeinen eine gute Prognose 
geben, konnen \fir daraus lernen, dass eine Abmagerung an und fttr 
sich keine schlechte prognostische Bedeutung besitzt. 

Die letzten Jahre haben einige Autoren einen kausalen Zusammen- 
hang zwischen Arteriosklerose und Neurasthenie erwahnt (Regis, 
Mathien, Darroux, Mirto). Ohne die Frage naher zu erortem, 
will ich nur vorlaufig bemerken, dass ich im letzten Jahre, seitdem 
meine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gelenkt worden war, ein 
paar Falle von Personen im Alter von 50—60 Jahren beobachtet habe, 
welche massige Symptome von Arteriosklerose von seiten des Herzens 
und der Gefasse darboten. Sie hatten daneben ein ganz charakteristisches 
Krankheitsbild von Neurasthenie, ohne dass ich irgend welche der 
sonst nachweisbaren, atiologischen Momente auffinden konnte. 


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408 


XXIV. Petr£n 


Als Beispiel theile ich einige Notizen betreffs des einen dieser 
Faile mit 

K. S. Bauer, 59 Jahre aus H&lleberga, Smoland. 

In heredit&rer Hinsicht nichts besonderes zu bemerken. Der Vater dee 
Pat. soli Alkohol nicht iibermassig genossen haben. Der Pat. ist friiher 
bei guter Gesundheit gewesen, angeblicb in fruherem Leben niemals nervos. 
Bedentender Alkobolgenuss wird geleugnet, jedenfalls was die letzten 
20 Jahre betrifft. Sorge Oder Kummer mehr bedentender Art soli er nie¬ 
mals gehabt haben. 

Nach Influenza im Friihjahre 1892 (mit 58 Jahren) sind die Symptoms 
der Nenrasthenie zum ersten Mai aufgetreten, sp&ter aber wieder znriick- 
gegangen; sie sind seitdem jedes Friihjahr wiedergekommen, seit dem Frnh- 
jahr 1896 aber nicht mehr zuriickgegangen. 

Wahrend der Sommer 1897—1899 bin ich in der Lage gewesen, den 
Znstand des Pat. genan zn verfolgen. W&hrend dieser Zeit ist in dem- 
selben keine Aendemng eingetreten. 

Der Pat. bietet das Bild einer schweren, vbllig entwickelten Nenrasthenie 
dar. Schlaf sehr unregelm&ssig nnd mangelhaft, viel Tr&nme, leidet fast 
immer an Kopfweh nnd Ohrensansen, die ihn sehr plagen; das Ged&chtniss 
angeblich etwas geschw&cht. Die intellektnellen F&higkeiten haben gar 
nicht in nachweisbarer Weise gelitten, „die Gedanken wollen jedoch hin 
nnd her fahren, iiberall w ; er kann seine Anfmerksamkeit nicht nach Wnnsch 
anf einen bestimmten Punct lenken. Er ftihlt sich sehr schwach, leidet 
angeblich immer in schrecklichster Weise an Schmerzen nnd Parastesien 
im Eticken nnd in den Gliedern, klagt anch uber st&ndige nnd plotzliche 
Schweiss- nnd Frost-Anfaile, er kann gar nicht arbeiten, weil er bei jedem 
Versnche dazn sofort in Schweiss gerath nnd die Schmerzen dabei schlimmer 
werden. Appetit sehr gering, Abfflhrnng sehr trag, lebhafte dyspeptische 
Erscheinnngen. Keine deutlichen Erscheinnngen von Ventrikelatoni. 

Das Herz nach links etwas vergrSssert, seine Wirksamkeit znweilen, 
im Allgemeinen aber nicht nnregelmassig. Der zweite Aortaton deutlich 
verstarkt nnd verspatet. Die sichtbaren Arterien, anch Art. radialis ge- 
schiangelt. Diese ziemlich rigid, der Pnls hart nnd gespannt. — Der Pat 
sah fhr seine Jahre etwas alt ans. Keine Albuminnrie. 

Keine Behandlung war im Stande, eine Verandemng des Znstandes zn 
bewirken. • 

Hier haben wir also einen Fall einerseits mit sicheren Erschein- 
ungen von Arteriosklerosis, andererseits mit dem typischen Krank- 
heitsbilde einer nicht leichten Neurasthenie, wo keine der sonst nach- 
weisbaren atiologischen Momente sich anffinden lasst AuflFallend ist 
weiter, theils das hohe Alter (55 Jahre) in welchem die Erscheinungen 
der Neurasthenie erst aufgetreten sind; theils die Unwirksamkeit 
jeder Behandlung — meiner Erfehrung nach ist es namlich sehr 
selten, dass man nicht eine, wenigstens vortibergehende Verbesserung bei 
Neurasthenie bewirken kann. Dass die Symptome der Neurasthenie 
in einem Falle dieser Art durch die Arteriosklerose bedingt sind, ist mir 
sehr wahrscheinlich. 


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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenic unter verschied. Bevolkerungsclassen. 409 

Noch einen Fall ahnlicher Art erlaube ich mir wegen ge- 
wisser Eigenthlimlichkeiten in der Krankengeschichte etwas naher zu 
erortem. 

Ein 59jahriger Apotheker berichtet, dass er etwa mit 50 Jahren plotz- 
lich eines Abends an allgemeinen nervosen Erscheinnngen erkrankt war. 
Diese w&ren seitdem in der Hanptsache nnverandert. Das Rrankheitsbild 
entsprach einer Neurasthenia praecipue psychica. Leidet oft an Schlaf- 
losigkeit und Kopfdruck. Die Beschreibung der Erscheinnngen der psy- 
chischen Asthenie der gedruckten Stimmnng und der hochgradigen Energie- 
losigkeit war ganz charakteristisch. Die somatischen Symptoms der 
Neurasthenie traten dagegen fast vollig zuriick. 

Bei diesem Pat war keine Spur der bei Neurasthenie gewohnlichen 
atiologischen Moments nachzuweisen. Er gab an, immer sehr ordentlich 
gelebt zu haben; er hatte keine okonomische oder sonstige Sorge gehabt, 
hatte sich niemals besonders uberanstrengt. Er konnte nicht anders an- 
geben als, dass er sich oft liber die Apothekergehiilfen ge&rgert hatte. 
Dieser Mann hatte immer bis zu seinem 50. Jahre eine ganz gute Gesund- 
heit gehabt. 

Keine Behandlung der neurasthenischen Beschwerde hatte etwas wesent- 
liches oder bestehendes geleistet. Im Laufe der Jahre hatte er jedoch 
mehrere Bader und Nervensanatorien besucht. Nur hatte sich sein Zustand, 
seitdem er vor etwa zwei Jahren seine Apotheke verkauft hatte, merkbar 
gebessert. 

Der zweite Aortaton war etwas accentuirt, der Puls gespannt, doch 
waren diese Symptome nur massig entwickelt. Vor einem Monate hatte 
dieser Pat. einen Anfall von Bewusstlosigkeit mit nachfolgendem Schwindel, 
der einige Tage anhielt, gehabt. Deshalb glaube ich wahrscheinlich eine 
Arteriosklerose diagnosticiren zu kdnnen. 

Seit etwa einem halben Jahre hat der Pat. zuweilen, besonders des 
Tages, oft uriniren miissen. Es giebt kein sonstiges Symptom einer Er- 
krankung der Harnorgane und Prof. Borelius, der den Pat. dafUr be- 
handelt hat, fasst auch dies Symptom als ein rein nervoses auf. 

Dieser Pat., der ein gebildeter und augenscheinlich zuverl&ssiger Mann 
ist, berichtet, dass sein Vater, der vorher immer ganz gesund gewesen war, 
mit etwa 48 Jahren an vQllig derselben Krankheit erkrankt war. Auch 
betreffs des Vaters lftsst sich keine Aetiologie nachweisen, und zwar be¬ 
sonders gar kein iiberm&s&iger Alkoholgenuss. Der Vater starb mit 
67 Jahren an Prostatahypertrophie und nachfolgender Urininfection. 

In Bezug auf den Grossvater, der in jungem Alter gestorben war, 
konnte der Pat. keine Angaben machen. Sonst keine nervose hereditftre 
Belastung. 

Sowohl beim Vater als dem Sohne, beide frtiher gesund, hat sich 
mit etwa 50 Jahren, ohne jede nachweisbare Aetiologie das Krank- 
heitsbild einer Neurasthenia praecipue psychica entwickelt. Die 
Krankheit ist in keinen der Falle spater zuriickgegangen. Bei dem 
Sohne ist wahrscheinlich eine massige Arteriosklerose vorhanden. 


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410 


XXIV. Petr£n 


Auch in diesem Falle scheint mir die Annahme nahe zu liegen, 
dass die neurasthenischen Symptome die Folge der Arteriosklerose 
waren. 

Auffallend ist die similare Hereditat in dieser Krankengeschichte. 

Es ist mir also sehr wahrscheinlich, dass das Erankheitsbild der 
Neurasthenie zuweilen durch eine Arteriosklerose des Nervensystems 
bedingt werden kann. Nach der Bezeichnung von Dercum wtlrden 
wir diese Falle als associirte Neurasthenie, nach derjenigen von Le villain 
als „Pseudoneurasthenie“ bezeichnen. Die Frage, ob wir diese Falle 
der Neurasthenie im eigentlichen Sinne zurechnen sollen, oder dieselbe 
eine andere nosologische Stellung geben, beabsichtige ich hier nicht 
naher zu erortern. 

Bekanntlich hat Head seit einigen Jahren die bei verschiedenen 
Organerkrankungen und auch Allgemeinerkrankungen auftretenden 
Hauthyperasthesien studirt. Seine Ergebnisse sind in mehreren Puncten 
von Faber bestatigt worden. In Uebereinstimmung mit der seit lange 
von C. Lange ausgesprochenen Auffassung nimmt Head an, dass 
diese Hyperasthesien eine von den erkrankten Organen hervorgerufene 
Reflexerscheinung ist. 

Diese Hauthyperasthesien kommen bei Magen- und Darmerkrank- 
ungen, wie die Untersuchung von Head und Faber zeigen, oft vor. 
Da die Symptome von seiten des Digestionskanales eine grosse Rolle 
im Krankheitsbilde der Neurasthenie spielen und da auch die Schmerzen 
in diesen Partien eine gewohnliche Erscheinung bei dieser Krankheit 
sind, so habe ich mich gefragt, ob diese Hauthyperasthesien am 
Rumpfe vielleicht ein konstantes oder wenigstens frequentes Vor- 
kommniss bei Neurasthenie bildete, so dass einige von den subjectiven 
Symptomen der Krankheit dadurch erklart werden konnten. 

Deshalb habe ich eine Reihe von Neurastheniefallen in dieser 
Richtung untersuchi Leider umfasst die Untersuchung nur 16 Falle. 
Diese sind aufs Geradewohl gewahlt worden, wenn ich Zeit dazu fand. 
Die Untersuchung wird in der Weise ausgefuhrt, dass man die Haut 
und das Unterhautgewebe mit zwei Fingern an verschiedenen Puncten 
sanft aufhimmt und massig drtickt. Hat man ein Gebiet von Hyper- 
asthesie angetroffen, geben die Patienten deutlich den Schmerz an. 
In dieser Weise muss man die Haut ttberall untersuchen (ich habe in 
diesen Fallen nur den Rumpf untersucht). Da die Hyperasthesien 
sehr oft die Form von horizontalen Giirteln haben, ist es angemessen, 
mit der Untersuchung in einer verticalen Linie fortzuschreiten. Auch 
kann man die Untersuchung mit dem stumpfen Ende einer Steck- 
nadel ausfhhren, da die Patienten an den hyperasthetischen Partien 
Schmerzen angeben. 


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Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenie unter verschied. Bevolkerungsclassen. 411 


Unter den 16 Fallen von Neurasthenie, bei welchen ich am Rumpfe 
die hier beschriebene Untersuchung vornahm, war ihr Resultat bei 
12 ganz negativ. In 4 Fallen fand ich aber eine Hauthyperasthesie: 
namlich einmal im Epigastrium an der rechten Seite und dreimal im 
Epigastrium an der linken Seite. In einem der letzterwahnten Falle 
hatte die hyperasthetische Zone die von Head und Faber beschriebene 
charakteristische Form eines horizontalen Gtirtels langs des halben 
Umkreises des Rumpfes. In den 3 anderen Fallen waren nur fleck- 
formige Hyperasthesien vorhanden. 

Obgleich das von mir untersuchte Material nicht so gross war, 
wie es wtinschenswerth gewesen ware, glaube ich doch, daraus schliessen zu 
konnen, dass die Hauthyperasthesien am Rumpfe durchaus keine konstante 
Erscheinung bei Neurasthenie bilden und dass sie folglich keine unter 
den gewohnlichen Symptomen dieser Krankheit erklaren konnen. 

Lund, December 1899. 


Literatnr. 

Althaus, Julius, Beitrage zur Aetiologie der Encephalasthenie. Arch, fur 
Psych. Bd. 26. S. 828. 1894. 

Beard, G., Die Nervenschwache. Uebersetzt. Leipzig 1883. — Die sexuelle 
Neurasthenie. Leipzig und Wien 1890. 

Binswanger, Otto, Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie. Jena 1896. 

Bouveret, L., La neurasthenie. Paris 1891. 

Darroux, Des rapports de la neurasthenie avec Parteriosclerose. These de 
Bordeaux 1895. 

Dercum, Francis X., A text-book on nervouses diseases. S. 51—87. Phila¬ 
delphia 1895. 

Eichhorst H., Handbuch der spec. Pathol, u. Ther. 1896. 

Erb, Wilhelm, Ueber die wachsende Nervositat unserer Zeit. Heidelberg 1894. 

Faber, Knud, Reflexhyperastesier ved Fordojelsesygdomme. Hospitalstidende. 
1899. Nr. 13—16. 

Gille de la Tourette, Les etats neurastheniques. Paris 1898. 

Granholm, O., Neurastenie och sallskapslifvet. Finska Lakaresallskapets 
Handlingar. 1898. S. 1056. 

Head, Henry, Die Sensibilitatsstorungen der Haut bei Visceralerkrankungen. 
Uebersetzt. Berlin 1898. 

Holst, V., Die Behandlung derHysterie und der Neurasthenie. Stuttgart 1891. 

Holsti, H., Om neurastenin och dess forekomst i de nordiska landerna; dess 
yttringar ock orsaker. Nord. med. Arkiv. 1896. 

Kraft-Ebing, Nervositat und neurasthenische Zustande. Nothnagels Hand¬ 
buch. 1895. 

Kulneff, N., Neurasthenie. Lund 1894. 

Lange, C., Neuralgier og deres Behandling. Hospitalstidende. 1875. S. 641. 


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412 


XXIV. Petr£n, Ueber d. Verbreitung d. Neurasthenie etc. 


Levillain, F., La neurasthenie. Paris 1891. 

Derselbe. Essais de neurologie clinique. Paris 1896. 

Lowenfeld, L., Pathologie und Therapie der Neurasthenie und Hysteric. 
Wiesbaden 1894. 

Mathieu, A., Neurasthenie. Paris 1894. 

Mirto, cit. nach Munch, med. Woch. 1898. S. 806. 

Mob ins, Die Nervositat. Leipzig 1885. 

Muller, F. C., Handbuch der Neurasthenie. Leipzig 1893. 

Oppenheim, Lehrbuch d. Nervenkt. 1898. 

Kegis, Semaine medicale. 1895. S. 346. 

Strumpell, Lehrbuch d. spec. Pathol, u. Ther. 1896. 

Wildermuth, H., Die moderne Ueberburdung. Wiirtt. medic. Correspondenz- 
Blatt. 1897. 


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XXV, 


Aus der kgl. psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Halle a/S. 

(Prof. Hitzig). 

Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des 

Hirnschenkels. 

Von 

Dr. Hans Haenel, 

fr. Aseistenten der Klinik, z. Zt. Assistenten am Stadtkrankenbaase in Dresden. 

(Mit 3 AbbildungeD.) 

Karl Ga., 44jahr. Bergmann aus Mansfeld. Hereditat, frilhere Krank- 
heiten werden in Abrede gestellt, speciell die Frage nach geschlechtlicher 
Infection und Alkoholmissbrauch verneint. Pat. ist seit 1879 verheirathet, 
hat 8 Kinder; 2 sind friih gestorben; Aborte sind bei der Fran nicht vor- 
gekommen. 

Vor 4 Jahren litt er einmal 4 Wochen lang an Kopfschmerzen und 
Erbrechen; andere nervdse Symptome waren mit dieser Erkranknng, die 
ohne Folgen zn hinterlassen wieder verschwand, angeblich nicht verbunden. 
Vor mehreren Jahren erhielt er einmal bei einer Schl&gerei eine Wnnde 
am Kopfe, die, genaht, glatt heilte. 

Die jetzige Krankheit begann im Herbst 1898. Die Frau des Pat 
bemerkte zuerst, dass der Mnnd schief stand, and zwar yerzog Pat. den- 
selben beim Sprechen, Lachen u. s. w. nach rechts; bald darnach wnrde die 
linke Hand schwach, so dass er ofters Gegenstande darans verlor; nach 
einiger Zeit fing er auch an das linke Bein nachznschleppen. Von Anfang 
an bestanden ferner Gefiihlsstorungen in den linksseitigen Extremitaten: 
Pat sprach day on, dass seine linke Hand taub wiirde, dass er das Geftihl 
habe, als ob er mit dem linken Fnsse anf Gnmmi gehe. Nnr in der ersten 
Zeit bestanden massige Kopfschmerzen: Erbrechen, Ohnmachten, Schwindel- 
anfalle sind wahrend der ganzen Daner der Erkranknng niemals anfgetreten. 
— Ganz allm&hliche Verschlimmernng, so dass Pat bis December 1898 
noch seine Arbeit yerrichten konnte. 

Dann fiel eine znnehmende Verschlechternng der Sprache anf, indem 
besonders die Consonanten nndentlicher warden; zn gleicher Zeit gelegent- 
lich Doppelsehen and nnwillkhrlicher Abgang yon Urin nnd Koth. Pat 
wnrde trager, schlief anch bei Tage viel. Die „Schwache“ im linken Beine 
nahm so zn, dass er znletzt weder stehen noch gehen mehr konnte. Etwa 
14 Tage vor der Anfnahme wnrde ein Kleinerwerden der rechten Lidspalte 
bemerkt, nnd znletzt fiel das rechte Lied ganz hernnter. Das Gehttr soil 
anf dem linken Ohre schon seit langerer Zeit etwas schlechter sein als anf 


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f 



414 


XXV. Haenel 


dem rechten. — Kanen und Schlucken, Bewegnngen der rechtsseitigen 
Extremitftten sollen stets ungestbrt gewesen sein. 

Bei der Aufnahme, die am 3. Februar 1899 erfolgte, wurde folgender 
Befond erhoben: Mittelgrosser, mangelhaft gen&hrter, aber kr&ftig gebaater 
Mann. Kopf rechts leicht klopfempfindlich. — Der Geruch ist beiderseits 
ungestort. — Die Sehschfirfe ist anscheinend normal, ebenso das Gesichts- 
feld, soweit der Zastand des Pat. eine Untersnchnng desselben gestattet 
Am Angenhintergrnnde keine pathologischen Ver&nderungen. 

Die Bewegnngen des linken Anges sind nach alien Seiten frei, nnr 
nach oben erreicht dasselbe nicht ganz die Endstellnng. Das rechte Ange 
stebt etwas nach anssen yon der Mittellinie abgewichen, es kann nnr Be¬ 
wegnngen nach anssen ausfuhren. Beim Blick nach links nnd nach oben 
treten Doppelbilder anf, hber die aber genanere Angaben von dem Pat 
nicht zn erhalten sind. Die Pnpillen sind beiderseits gleich, ziemlich eng, 
die rechte reagirt weniger ansgiebig anf Lichteinfall nnd Convergenz als 
die linke. Es besteht rechts fast vollkommene Ptosis, das Lid verdeckt 
die Cornea zn mehr als zwei Dritteln. 

Im Bereiche des N. V. besteht links An&sthesie for feinste Berfihrungen, 
das Unterscheidnngsvermftgen fur Spitz nnd Stnmpf ist herabgesetzt Der 
linke Mnsc. masseter contrahirt sich beim Beissen schw&cher als der rechte. 
Beim Essen bleiben oft Speisereste im linken Mnndwinkel liegen, ohne dass 
Pat. es bemerkt. 

Die Stirn ist rechts mehr gernnzelt als links, das linke Ange zeigt 
eine leichte conjunctivitische Injection, der Mund steht in der Ruhe nach * 
rechts verzogen, die linke Nasolabialfalte ist fast verstrichen; beim Blasen 
entweicht die Lnft aus dem linken Mnndwinkel, beim Z&hnezeigen tritt 
zwar eine dentliche Bewegnng anch der linken Mnndmnskeln anf, dieselbe 
l&sst aber nach wenigen Angenblicken wieder nach. Beim leichten Angen- 
schluss bleibt links eine kleine Spalte offen, anf Geheiss konnen aber beide 
Angen fest zugekniffen werden. Uebrigens ist beim nnwillkiirlichen Mienen- 
spiel die Verschiedenheit beider Gesichtsli&lften bei weitem ansgepr&gter 
als bei anfgetragenen Bewegnngen. 

Die Sprache ist nndentlich, yerschwommen, besonders soweit die Labial- 
lante in Betracht kommen; aphasische Erscheinnngen fehlen. 

Das Gehbr ist links herabgesetzt. Otoskopischer Befnnd normal, die 
Priifnng mit Stimmgabeln zeigt, dass eine L&sion im Bereiche des schall- 
percipirenden Apparates vorliegt. 

Der Geschmack ist anf der linken Znngenh&lfte gestort, meist wird 
die Empfindnng r bitter u angegeben. 

Die Znnge wird gerade heransgestreckt, ist nach alien Seiten frei be- 
weglich, zittert nicht. 

Im Unterlappen der linken Lnnge die Erscheinnngen eines hypostatischen 
Katarrhs, am Herzen reine T5ne; der Urin frei von Eiweiss nnd Zncker. — 
Die Extremit&ten der rechten Seite lassen keinerlei krankhafte Stomngen 
erkennen. 

Im linken Arm sind alle Bewegnngen miihsam nnd kraftlos, aber 
nirgends ganz aufgehoben. Der H&ndedmck ist fhr einen Angenblick ganz 
gnt, lasst aber sofort wieder nach. Die Bewegnngen der Finger sind ver- 
h%ltnissm&ssig am st^rksten gestbrt. Bei passiven Bewegnngen ist nnr 
die vollige Strecknng im Ellbogengelenke nnd die Supination dnrch leichte 


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Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des Hirnschenkels. 415 

Spasmen gehindert, Contractnren bestehen nirgends; auf Coordinations- 
stbrnngen ist wegen der Paresen schwer zn untersuchen, dieselben sind 
jedenfalls nicht in hbherem Masse vorhanden. Die Sehnen nnd Periost- 
reflexe sind im Vergleich zu rechts erhbht. 

Auf eine Mitbetheiligung der Rumpfmusculatur lassen die nnten zu 
beschreibenden Gleichgewichtsstorungen schliessen. 

An der linken Unterextremit&t ist ebenfalls die Beweglichkeit nirgends 
vollig aufgehoben; im Hiiftgelenk kann das Bein fast bis zur vollen Hoke 
gehoben werden, f&llt freilich sofort kraftlos wieder zuriick. Eine Dorsal- 
flexion des Fusses ist dagegen fast unmftglich, Zehenbewegungen sehr gering; 
der Fuss steht dauernd in Varo-equinusstellung. Die Kraft der Plantar- 
flexoren ist besser. Der Knie-Hackenversuch wird links mangelhaft aus- 
gefiihrt, etwas atactisch, doch ist dies wegen der Paresen schwer zu 
entscheiden. Bei passiven Bewegungen stosst man auf einen starken 
spastischen Widerstand in den Beugern am Oberschenkel. Sehnen und 
Periostreflexe links wie am Arm stark gesteigert, Fussclonus leicht aus- 
zulosen. 

Pat. liegt im Bett dauernd nach der linken Seite (es wurde sogar 
nothig, auf dieser Seite ein # Gitter anzubringen, urn ihn am Herausfallen 
zu hindern). Aufrichten geschieht nur mit grosser Miihe, der Rumpf sinkt 
dabei nach links urn. Auf die Fusse gestellt, ist Parti, nicht einen Augen- 
blick im Stande zu stehen, f&llt sofort, auch bei offenen Augen, nach links 
und hinten urn. Gehen ist ebenfalls ganz unmoglich; Pat. bestreitet aber, 
bei dieser Untersuchung Schwindel zu haben. 

Die Sensibilit&t ist auf der ganzen linken Korperh&lfte herabgesetzt; 
passive feine Bewegungen der Finger und Zehen werden zwar bemerkt, 
aber nicht beziiglich ihrer Richtung erkannt. Pat. vermag in die linke 
Hand gelegte Gegenst&nde bei geschlossenen Augen nicht zu erkennen; 
rechts bezeichnet er sie sofort richtig. Die F&higkeit, Gewichtsunterschiede 
abzuschatzen, (gepriift mit Hitzigs Kinesiasthesiometer) ist beiderseits 
gut: der Unterschied z. B. von 60 und 80 gr wird erkannt. 

Psychisch bietet Pat. ausser einem leichten Grade von Benommenheit 
keine Besonderheiten. 

Die Diagnose wurde auf einen Tumor des rechten Hirnschenkels 
gestellt, mit dem Ausgangspunkt in der Schleifenschicht. Mit dieser 
Diagnose wurde Pat. auch wiederholt klinisch vorgestellt. 

Unter Darreichung von Jodkali trat eine erst schnell, dann langsam 
fortschreitende Besserung ein. Die Sprache wurde deutlicher, Pat lemte 
wieder stehen und gehen, doch war dabei noch wochenlang die Neigung, 
nach links hinten zu fallen, bemerkbar, sp&ter nur noch bei Augenschluss. 
Beim Gehen zeigte das linke Bein ausgesprochen spastische und dabei etwas 
atactische Bewegungen, Pat. schleifte mit der Fussspitze auf Oder hakte 
mit derselben hinter dem rechten Fuss ein. Die Spasmen bei passiven 
Bewegungen verringerten sich trotz Fortbestehens der Reflexsteigerung. 
Die Beweglichkeit von Hand und Arm besserte sich ebenfalls, doch war 
auch hier noch ein geringer Grad von Ataxie bemerkbar. Die Facialis- 
parese trat nur noch bei der spontanen Mimik hervor; die Ptosis ging zu- 
riick. Das Verhalten der Augen zeigte insofern eine Aenderung, als sich 
auch am linken Auge Storungen der Beweglichkeit und nystagmusartige 
Erscheinungen einstellten, die Pupillen different werden (links enger als 


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416 


XXV. Haenel 


rechts) und die Lichtreaction rechts verschwand. — Das Korpergewicht 
hob sich binnen 7 Monaten um 16 Kilogramm. 

Bei seiner Entlassnng am 16. Sept. 1899 bot er folgenden Befnnd*): 

Die rechte Lidspalte ist in der Rohe noch etwas enger als die linke, 
das obere Lid kann aber activ in voller Ansdehnnng gehoben werden. — 
Beim Blick geradeans bemerkt man Strabismus divergens durch Abweichen 
des rechten Auges nach aussen, ausserdem gelegentlich am linken Auge 
leichte rotatorische Nystagmusbewegungen. Die Adduction des linken Auges 
ist normal. Bei der Abduction treten jenseits der Mittellinie lebhafte 
Raddrehungen auf, die beim Blick nach rechts fehlen. Die &usserste 
Abductionsstellung ist nur miihsam fur Augenblicke unter altemirender 
Action der Obliqui zu erreichen. Die Erhebung des Auges in der Mittel¬ 
linie gelingt nur bis wenig iiber die Horinzontale, bei forcirter Hebung 
treten nystagmusartige Bewegungen in horizontaler Richtung auf, zwischen 
denen man auch fur Momente Raddrehungen bemerkt. Die Erhebung in 
den Diagonalstellungen nach innen und aussen ist behindert. Senkung des 
Auges in der Mittellinie ist bis nahe an die physiologische Grenze mbglich, 
doch kann die Stellung nicht lange aufrecht erhalten werden und es treten 
schnell Ermiidungserscheinungen auf. Bewegungen nach unten-aussen und 
unten-innen ziemlich frei, indessen werden auch hier die Grenzstellungen 
nicht ganz erreicht. 

Am rechten Auge ist die Abduction frei, die Adduction wesentlich be- 
schr&nkt, die Hebung nahezu aufgehoben, ebenso die Bewegungen nach 
innen-oben und aussen-oben unausfiihrbar. Die Senkung ist etwas weniger 
weit als links, aber doch fast bis zur physiologischen Grenze mbglich; 
auch hierbei zeigen sich lebhafte, grobscblftgige verticale Zuckungen. 

Die associirten Bewegungen sind nach rechts frei, nach links wesentlich 
gestbrt, beide Augen bleiben, das rechte weiter als das linke, zurfick. Hebung 
der Blicklinie rechts unmoglich, links in ganz geringem Grade vorhanden; 
Senkung fast in normaler Ausdehnung, doch zeigt das rechte Auge dabei 
eine leichte Ablenkung nach aussen. Convergenz ist nur fiir einen Moment 
zu erzielen, bald weicht das rechte Auge nach aussen ab, fixirt auch beim 
Verdecken des linken nur unvollkommen wieder. 

Eine Erg&nzung der Untersuchung durch Doppelbilder war nicht mog- 
lich, da Pat. dieselben schon seit langem zu unterdriicken gelernt hatte. 

Die rechte Pupille ist etwas grosser als die linke, mittelweit, auf 
Lichteinfall fast vollig reactionslos (nur ein minimales Zucken ist zu be- 
merken). Die consensuelle Reaction bei Belichtung der linken Pupille ist 
besser, aber nicht normal. Linke Pupille ziemlich eng, reagirt gut. Bei 
Convergenz und Accommodation beiderseits Reaction, rechts aber langsamer 
und undeutlicher als links. 

Auf dem rechten Auge besteht Accommodationsparese: nur noch 
ca. 1 D. Accommodation; J&ger III mit +2 D sph. in 30 cm Entfernung 
gelesen. Auf dem linken Auge ist die Accommodation intact 

Es sind also in ihrer Function gesch&digt: am rechten Auge: hoch- 
gradig der R. internus, R. superior, obi. inferior, weniger der R. inferior 
und die Binnenmuskeln; am linken Auge: hochgradig der R. externus und 


*) Es sind hier nur die Punkte erwahnt, die sich seit der Aufhahme ver- 
andert hatten. 


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Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des Hirnschenkels. 417 


R. superior, weniger der obi. inferior und R. inferior. — Binnenmuskeln, 
sowie beiderseits der Obi. superior sind frei. 

Herr Dr. Wagner, Assistent an der biesigen Universitats - Augen- 
klinik, hatte die Gtite, den Augenbefund nachzupriifen und zu erganzen. 

Das Gesicht zeigt noch in sehr ausgepragtem Masse das friiher be- 
schriebene Verhalten. Die Sprache ist normal; eine Differenz in der 
Innervation der Kaumuskeln ist nicht mehr nachweisbar. Gleichgewichts- 
stbrungen sind weder bei offenen noch bei geschlossenen Augen (Romberg- 
scher Versuch) mehr zu bemerken. 

Der linke Arm wird meist in leichter Beugestellung gehalten, die 
Hand dabei supinirt und die Finger in halber Streckung und Spreizung 
gehalten. Die normalen Pendelbewegungen beim Gange macht der Arm 
nicht mit, dagegen fuhrt er ungleichmassige schwankende Bewegungen aus, 
die an Balanciren erinnem, aber in der That kein solches sind, weil Pat. 
nicht taumelt Die linke Schulter hangt etwas defer als die rechte. — 
Active Bewegungen sind beiderseits in alien Gelenken und nach alien 
Richtungen bis zur vollen Excursionsgrbsse ausfuhrbar; nur die voile 
Supination ist links noch um ein weniges behindert. Eine Stbrung besteht 
noch insofern, als links alle Bewegungen langsamer, ungeschickter und mit 
etwas geringerer Kraft ausgefiihrt werden. Eigentliche Ataxie tritt auch 
bei specieller Priifung nicht zu Tage. Die passiven Bewegungen sind 
iiberall frei; die Sehnen- und Periostreflexe noch erhoht. Gelegentlich 
nimmt man an der linken Hand unwillkiirliche Bewegungen wahr, die an 
Athetose erinnem. 

Active Bewegungen des linken Beines in der Riickenlage sind bis auf 
eine Abschw&chung der Dorsalflexion des Fusses frei. Ataxie im Liegen 
fehlt. Der Gang ist noch spastisch, dabei Andeutungen von ataktischem 
Ausfahren der Bewegungen. Bei passiven Bewegungen noch Reste leichter 
Spasmen; die Reflexsteigerung und der Fussclonus bestehen weiter, des- 
gleichen die Sensibilit&tsstbrung. Letztere zeigte bei der Entlassung 
folgendes Verhalten: 

Aufgehoben ist die Empfindung fiir feinste Beriihrungen an den 
H&nden, sowie diejenige fiir die Richtung passiver Gelenkbewegungen 
an Fingem und Zehen. 

Herabgesetzt ist die Empfindung fur Beriihrung, Wftrme und Kfilte, 
Nadelstiche sowie die elektromusculare Contractionsempfindung auf der ganzen 
linken Korperseite; dieGrenze amRumpf entspricht nicht genau der Mittellinie. 

Ungestbrt ist die Empfindung fur passive Gelenkbewegungen in den 
grosseren Gelenken, das Vermogen Gewichtsunterschiede abzusch&tzen, und 
die Lage der Glieder im Raume zu beurtheilen. Auch die Localisation der 
Beriihrungen, sobald sie stark genug sind, um deutlich empfunden zu 
werden, ist eine gute, nur an den Fingern werden die einzelnen Glieder 
bfters verwechselt. 

Einen Massstab fiir die Vertheilung der Hyp&sthesie auf die einzelnen 
Gelenkabschnitte ergab die Bestimmung der Tastkreise: Die Zirkelspitzen 
wurden als zwei empfunden in einer Entfernung von z. B. 


am Zeigefinger 

» n 

v n 

r> n 


(volar) rechts 4 mm 
„ links 40 „ 
(dorsal) rechts 6 r 
„ links 55 „ 


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418 


XXV. Haenel 


am Handrucken 

n n 

„ Unterarm 

n n 

„ Oberam 

n V 

an der Unterlippe 


rechts 22 mm 
links 40 „ 
rechts 45 „ 
links 70 „ 
rechts 70 „ 
links 95 „ 
rechts 3 „ 
links 11 „ 


Die Zahlen der rechten KSrperseite stimmen gut mit den als normal 
angegebenen Werthen (Landois) hberein. 

Das stereognostische Vermogen zeigt sich links erheblich beeintr&chtigt, 
beinahe anfgehoben. 


Die hauptsachlichsten Punkte der vorstehenden Krankengeschichte 
sind die folgenden: Allmahliche Entwickelung einer linksseitigen 
Hemiparese mit zu gleicher Zeit sensiblen und motorischen Symptomen 
fast ohne alle Allgemeinerscheinungen. Ergriffen werden erst Gesicht, 
dann Arm und Bein, nach langerer Zeit auch die Muskeln des rechten 
Auges. Bei der Aufnahme: Lahmung sammtlicher vom rechten N. III. 
versorgten ausseren Augenmuskeln. Parese des linken N. V. in seinem 
motorischen und sensiblen Theil, des N. VII. in alien 3 Aesten, 
Schadigung des N. VIII., vielleicht auch des N. IX., Parese des linken 
Armes und Beines mit Steigerung der Reflexe und Spasmen, besonders 
im Bein. Starke Storung des Gleichgewichts: Umfallen nach links. 
Hemihypasthesie fiir fast alle Gefiihlsqualitaten, am starksten aus- 
gepragt in den distalen Abschnitten der Extremitaten. — Besserung 
der motorischen Storungen. Unverandertes Bestehen der sensiblen 
Storungen; Veranderung der Augenmuskelstorungen, indem rechts die 
Function der Mm. R. internus, inferior und superior zum Theil wieder- 
kehrt, daflir aber die Binnenmuskeln, sowie links die Mm. R. extemus, 
superior uud inferior, befallen werden. 

Versuchen wir den Krankheitsherd, der die beschriebenen Symp- 
tome hervorgerufen hat, zu localisiren, so mtissen wir dabei vor allem 
berticksichtigen, dass wir es bei der klinischeu Betrachtungsweise, die uns 
hier allein zu Gebote steht, nur mit seinen Wirkungen zu thun ha ben; 
da aber jeder krankhafbe Process, besonders im Centralnervensystem, 
seine Umgebung in Mitleidenschaft zieht, sei es durch regionare Er- 
weichung, secundare Degeneration oder auch nur durch Druck und 
daraus entstehende functionelle Storungen, so wird in der Regel der 
Herd im anatomischen Sinne kleiner sein, als es der klinische Befund 
erwarten lassen miisste. Die folgenden Auseinandersetzungen werden 
also unter dieser Einschrankung zu yerstehen sein; wir werden nur 
den maximalen Wirkungsbereich umschreiben konnen, in dessen 


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Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des Hirnschenkels. 4 x 9 

Centrum der eigentliche pathologisch-anatomische Herd zu sucben 
sein wird. 

Dass es sicb um eine Affection des recbten Hirnschenkels 
handeln muss, geht aus dem Bilde der Hemiplegia altemans superior 
ohne Weiteres hervor. Ihr Centrum muss dieselbe in der Schleife 
haben, denn die sensiblen Storungen traten mit zuerst in den Vorder- 
grund und blieben bis zuletzt am constantesten bestehen. Im weiteren 
Wachsthum wird sicb derselbe erst nach unten, nach dem Fusse des 
Hirnschenkels zu, ausgedehnt und dort in dessen mittleren drei Fiinf- 
teln die Pyramidenbahn gescbadigt haben. Dass dabei trotz Lasion 
des N. VII in alien drei Aesten der N. XII intact geblieben ist, ist 
eine auffallende Thatsache, die sich nur feststellen, aber yorlaufig nicht 
erklaren lasst. Beziiglicb der unteren medialen Grenze konnen wir 
nur soviel sagen, dass der Herd schwerlich bis in die Ebene der aus- 
tretenden IIL-Wurzel reichen kann, weil in diesem Falle das Frei- 
bleiben der inneren Augenmuskeln bei der scbweren Schadigung der 
ausseren hochst auffallend ware. 

Nach oben hat der Herd jedenfalls, wie schon erwahnt, die sen¬ 
siblen Bahnen in der Schleife geschadigt und femer mit grosser Wahr- 
scheinlichkeit den Bindearm resp. dessen Kreuzung und den rothen 
Kern. Dafttr spricht die Gleichgewichtsstorung, die schon Curse h- 
mann 1 ) und spater Starr 2 ), Eisenlohr 3 ) u. a. auf Lasion dieser 
Theile zuruckgefiihrt haben. 

Nach medial und oben kommen wir in das Kern- und Wurzel- 
gebiet des N. IIL Die Thatsache, dass die Augenmuskeln erst einige 
Monate nach dem Beginn der Krankheit befallen worden, spricht f&r 
ein langsames Fortschreiten des Processes von einem Centrum, eben 
dem Schleifenfelde aus nach bestimmten Richtungen und bietet uns 
damit eine gewisse Sicherheit daftir, dass wir es mit einem einheit- 
lichen und nicht mit multiplen Herden zu thun haben, was fttr die 
weitere theoretische Auseinandersetzung von Wichtigkeit ist. Der 
Befund an den Augenmuskeln bei der Aufnahme des Pat war in 
localisatorischer Hinsicht insofern von Bedeutung, als man erstens aus 
dem fast volligen Freisein des linken Auges — nur die Bewegung 
nach oben war um ein weniges beschrankt — ein irgendwie nennens- 
werthes Uebergreifen des Processes fiber die Mittellinie ausschliessen 
konnte und zweitens in Folge der verhaltnissmassig guten Licht- 
reaction der rechten Pupille annehmen musste, dass der Process vor 
den vorderen Partien der Kerne und der Wurzeln Halt gemacht habe; 
aus den Untersuchungen von Hensen und Volckers 4 ), Bechterew, 
Kahler und Pick u. a. wissen wir ja, dass die Binnenmuskeln des 
Auges von den vordersten Partien des IIL Kernes aus innervirt werden. 

Deutsche Zeitscbr. f. Nervenhetlkunde. XVII. Bd. 28 


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420 


XXV. Haenel 


Hatten wir also als vordere Grenze des Wirkungsbereiches unseres 
Herdes die Ebene der hinteren Commissur — die vordersten Theile 
des III. Kernes fallen noch vor dieselbe — festgestellt, so kann uns 
das Ergebniss der Gehorsprtifung yielleicbt einen Anhaltspunkt fftr die 
obere laterale Grenze geben. Nach Untersuchungen von Flechsig 5 ). 
Bechterew 6 ), Onufrowicz u. a. stellt die untere Oder laterale Schleife 
ein Glied in der Horbahn dar, die ihre Fasern zum grossen Theil 
durch die obere Olive aus dem gegentiberliegenden Trapezkorper be- 
zieht; sie scheint in leichtem Grade mit betroffen zu sein. 

Von functionell genauer bekannten Gebilden liegt in dem bisher 
umgrenzten Bezirke noch die absteigende V.-Wurzel; dieselbe fahrt 
nach der allgemeinen Anschauung motorische Fasern der Portio minor 
zu; thatsachlich ist sie, wie die anfangs beobachtete Schwache der 
linksseitigen Kaumusculatur darthut, mit ladirt worden. 

Ueber die hintere Begrenzung der vorliegenden Lasion lasst sich 

Vord. Vierhiigel 
V. disc. 

lat. Schl. 
corp. gen. mid. 

Schleife 

Subst. nigr. 

Rot. Kern 

N. Ill 

Fig. 1. 

soviel mit einiger Sicherheit sagen, dass sie nicht tiber die Ebene des 
hinteren Vierhiigelpaares hinausreichen kann. Denn in diesem Falle 
mtisste sie unbedingt Kern Oder Wurzeln des N. IV geschadigt haben; 
derselbe hat aber wahrend der ganzen Dauer der Beobachtung niemals 
eine Storung gezeigi 

Zur nochmaligen Zusammenfassung und Veranschaulichung des 
im Vorhergehenden theoretisch festgelegten Bereiches des Herdes bei 
der Aufnahme des Pat. diene das vorstehende Schema. Als Schnittebene 
ist ungefahr die Ebene des Uebergangs der Bindearme in den rothen 
Kern gedacht 

Das dunkel schraffirte Feld entspricht etwa dem postulirten Herde, 
die helleren Partien den wahrscheinlich bloss secundar in Mitleiden- 
schaft gezogenen Theilen, die vordere und hintere G-renze waren, wie 
oben ausgefhhrt, in der Ebene der hinteren Commissur einerseits und 
der des hinteren Endes des hinteren Vierhiigelpaares andererseits gegeben. 



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Klinischer Beitrag zur Kenntoiss der Erkrankungen des Himschenkels. 42 1 

Die weitere Frage wiirde sein, welche Veranderungen der Herd 
erlitten haben mag, am die Besserung der Symptome zu erklaren. 

Der 8cbwerkranke, hilflose Eindruck, den der Pat, bei seiner Auf- 
nahme machte, war hauptsachlich durch seine ganzliche Unfahigkeit, 
zu stehen und zu gehen, hervorgerufen und diese war viel mehr eine 
Folge der Gleichgewichtsstorung als der Paresen. 

Um eine Besserung der Gleichgewichtsstorung hervorzurufen, be- 
durfte es aber nicht einmal eines Rttckganges, sondern nur eines Still- 
standes des Processes. Denn mittelbar, zu Folge der directen Ver- 
bindung des Bindearms mit dem Cerebellum, war jene Storung ein 
Kleinhimsymptom: und durch Lucian is 8 ) klassische Thierversuche ist 
festgestellt worden, dass selbst bei vollstandiger Abtragung einer Klein- 
him-Hemisphare die Storungen nach wenigen Wochen, durch compen- 
satorisches Eintreten der anderen Halfte, nahezu oder vollig wieder 
ausgeglichen werden konnen. — Der Krankheitsherd brauchte also 
nur um wenige Millimeter nach oben zurtickzuweichen und damit den 
Hirnschenkelfuss zu entlasten, um im Verein mit dem Ausgleich der 
Gleichgewichtsstorung die Gebrauchsfahigkeit von Bein und Arm wieder 
soweit herzustellen, wie es bei der Entlassung des Pat. der Fall war. 

Nicht ganz so einfach ist das Verhalten der Augenmuskeln zu 
erklaren. Die unzweifelhafte Besserung der rechtsseitigen III.-Lahmung 
wiirde auf eine Verkleinerung des postulirten Herdes, wie von unten 
nach oben, so auch in der Richtung von innen nach aussen hin 
schliessen lassen. Dem steht gegentiber das mit dieser Besserung 
parallel gehende Auftreten von Bewegungsstorungen am linken Auge, 
besonders die Erschwerung der Abduction nach links. Ein Ueber- 
greifen des Processes fiber die Rhaphe hinaus auf die III.-Fasern der 
linken Seite ist, eben wegen des Freiwerdens derjenigen der rechten 
Seite, hochst unwahrscheinlich, auch ware es sehr merkwfirdig, dass 
bei der doch sicher symmetrischen Lagerung der Kerne und Fasem bei 
einem Vorrticken nach links gerade der R. internus verschont geblieben 
sein sollte. Eine andere Betrachtungsweise ist dagegen geeignet, die 
Verhaltnisse leichter zu erklaren. Es ist namlich leicht einzusehen, 
dass in unserem Falle die ursprtingliche Ophthalmoplegia externa in 
eine complicirte associirte Blicklahmung fibergegangen ist, und die 
weitere Frage ist, ob wir in der hier in Betracht kommenden Hirn- 
region Bahnen kennen, durch deren Lasion eine solche Lahmung her¬ 
vorgerufen werden kann. Seit Adamfik 9 ) ist man gewohnt, in dem 
vorderen Vierhtigelpaar ein „Centrum“ fur die associirte Seitwarts- 
wendung der Bulbi zu sehen, wahrend Wernicke und Hunnius 10 ) 
ein paariges Centrum ffir dieselbe Bewegung in der Nachbarschaft der 
VI.-Kerne annahmen. Dazu kommen eine grosse Reihe klinischer Beobach- 

28 * 


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422 


XXV. Haenel 


tungen, (Bleuler, u ) Thomsen, 12 ) Seymoor, 13 ) Henoch u. a. m.) 
darunter auch einige, z.B. v. Nieden, 14 ) Grafe, 15 ) Eisenlohr 3 ) von 
associirter Blicklahmung nach oben Oder unten, die zeigen, dass ftir 
diese Blickrichtung ebenso ein „Centrum“ resp. eine gemeinsame 
Bahn existiren muss, wie ftir die viel haufiger betroffene Seitwarts- 
wendung. Diese Bahn verlauft nach Bleuler 11 ) und Monakow 16 ) 
in dem Theil der Haube, die etwas lateral von dem Gebiet der 
IIL-Kerne liegt und ungefahr von der Formatio reticularis sowie 
dem mittleren Mark des vorderen Vierhtigels eingenommen wircL Zum 
leichteren Verstandniss der Storungen der Lasion dieses Gebietes sei es 
gestattet, hier — mit einigen unwesentlichen Aenderungen — das 
Schema zu reproduciren, das Hunnius 10 ) zur Erklarung der associirten 
seitlichen Blicklahmung entworfen hat: 



Dasselbe erklart sich von selbst: Die Kreuzung der Bahnen mit der 
anderen Seite erfolgt, wie Bleuler 11 ) nachgewiesen hat, unmittelbar 
hinter dem hinteren Vierhiigelpaare und jedenfalls vor dem vorderen 
Rande der Brticke; die Bahn von VI. zum gegenflberliegenden IH. lauft 
wahrscheinlich im hinteren Langsbtindel. Ausser den Fasern ftir die 
Seitwartswendung sind nun auch gemeinsame Bahnen ftir die associ- 
irte Einstellung in andere Blickrichtungen anzunehmen. Eine Lasion 
an der Stelle x, — die nicht nur im Schema, sondern auch in Wirk- 
lichkeit dem HL-Kera ziemlich nahe liegen muss — wiirde also ausser 
der associirten Blicklahmung nach links auch eine solche in mehr oder 
weniger hohem Grade nach oben und unten — allein nicht nach rechts — 
hervorrufen. 

Hiernach wtirde also die Annahme einer kleinen Bewegung des 


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Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkraukungen des Hirnscbenkels. 423 


Herdes nach vorn und lateral die Veranderung des Augenbefundes un- 
gezwungen erklaren. Wie gut eine solche Annahme auch bezflglich 
der einzelnen lll.-Kerne mit friiheren Untersuchungen flbereinstimmt, 
mag die nachstehende Skizze versinnbildlichen. In derselben sind die 
einzelnen Muskeln in der Reihenfolge angegeben, wie sie Hen sen und 
Volkers 4 ) bei ihren Reizversuchen am Boden des Aquaeductus 
Sylvii gefunden baben; der erste Strich umfasst die Muskeln des 
rechten Auges, die bei der Aufnahme, der zweite die, die bei der 
Entlassung befallen waren; seine Dicke soil ungefahr der Intensitat 
der Lftsion proportional sein. 

Aus den bisberigen AusfQhrungen geht h error, 
dass der so erbeblichen Besserung in dem Be- 
finden des Pat. nur eine ganz minimale Ver- 
scbiebung der Lage des Herdes, nicht einmal 
eine Verkleinerung desselben zu entsprechen 
braucht und wahrscheinlicb auch entspricht Das 
Schwinden der Benommenbeit wflrde sich leicht 
durcb eine Entlastung des Aquaeductus und da- 
durch erfolgte Aufhebung eines vorher gesteigerfcen 
intraventricularen Druckes erklaren lassen. 

Beztiglich der Natur des vorliegendes Herdes kann man natbrlich 
nur Vermuthungen hegen. Die Annahme einer Cysticerc.us- Oder 
Echinococcusblase wiirde aus verschiedenen Griinden (lange Dauer 
und augenscheinliche Benignitat des Processes, Vorschreiten nach 
der einen Seite bei gleichzeitigem Zuriickweichen auf der anderen, 
Fehlen aller luetischen oder tuberculosen Erscheinungen am tibrigen 
Korper) manches ftir sich haben. 


• Muse, ciliar. 

• Fphinct. irid. 

• R. int. 

• R sup 

• Levat. palp, 

• R. inf. 

Fig. 3. 


Der vorliegende Fall giebt uns Gelegenheit, noch auf einige 
Puncte von allgemeinerem Interesse einzugehen. Auffallend war erstens 
das mit dem gewohnlichen Befunde bei Hemiplegien contrastirende 
Verhalten der Gesichtsmusculatur: bei den mimischen Affectbewegungen, 
beim Lachen, Sprechen etc. blieb die linke Seite fast vollig unbeweg- 
lich, wahrend sie bei aufgetragenen, absichlichen Bewegungen, z. B. 
beim Zahnezeigen sich eben so gut wie die rechte bewegte. Zur Er- 
klarung dieses abweichenden Verhaltens wird man in erster Linie an 
den benachbarten Thalamus zu denken haben. Wenn auch dessen 
Functionen noch nicht ganz aufgeklart sind, so haben doch die Arbeiten 
dariiber, besonders von Bechterew 7 ), soviel ergeben, dass ihm eine 
wesentliche Rolle beim Zustandekommen der Ausdrucksbewegungen 
zukommh Auch klinische Beobachtungen (Gowers, 18 ) Gayet, 19 ) 
Rosenbach 20 ) u. a.) stiitzen diese Ansichi Wir miissen uns vorstellen, 


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424 


XXV. Haenel 


dass die nach abwarts zum N. VII. laufenden motorischen Impulse 
auf einem zweifachen Wege zu den Kemen gelangen: einmal direct 
durch die innere Kapsel, und zweitens indirect iiber den Thalamus, 
und dass die Vereinigung dieser beiden Wege erst im Pedunculus 
zustande kommk Dabei ist es leicht veratandlich, dass eine Unter- 
brechung der inneren Kapsel die Hauptstrasse zwar unwegsam 
macht, den Umweg aber gangbar lasst, wahrend andererseits die Ver- 
legung dieses Nebenweges die auf ihm geleitete specielle Bewegungs- 
form unmoglich macht, den directen Willkiir-Impuls aber frei passiren 
lasst Die oben umschriebenen Grenzen unseres Herdes reichen nun, 
wie man sich an Praparaten aus der betr. Gegend leicht iiberzeugen 
kann, bis direct an das Pulvinar des Thalamus und dessen Verbindung 
mit dem mittleren und tiefen Mark des vorderen Vierhugels, und 
eine Schadigung dieser Theile erscheint beinahe unvermeidlich; auch 
die in der linken Hand andeutungsweise beobachteten athetoseartigen 
Bewegungen deuten darauf hin, dass der Thalamus wohl leicht in 
Mitleidenschaft gezogen ist. Durch diese Betrachtungsweise wird das 
auffallige, dem gewbhnlichen entgegengesetzte Verhalten der Gesichts- 
bewegungen befriedigend erklart 

Femer verdient noch das Verhalten der Sensibilitat in unserem 
Falle eine besondere Besprechung. Es ist eine oft beobachtete That- 
sache, dass bei Rindenlasionen in der Gegend der motorischen Centren 
die Storung sich zuerst an den distalsten Theilen der Extremitat 
geltend macht, auch wenn die Lasion keine so scharf umschriebene 
ist, dass sie allein die Rindencentren flir die Finger oder Zehen be¬ 
fallen hat. Auch die experimentelle Physiologic hat ein gleiches Ver¬ 
halten festgestellt (Munk 21 ): die complicirtere Function geht bei 
Exstirpation der betr. Rindenpartie am ehesten verloren und stellt 
sich am spatesten wieder her. Wernicke 22 ) hat auf dieses Verhalten 
besondere hingewiesen und an der Hand der a. a. 0. beschriebene Falle 
auch darauf aufmerksam gemacht, „dass die Hautsensibilitat bei 
circumscripten Rindenlasionen nach derselben Norm betroffen wird, 
wie die Motilitat, d. h. so, dass die Functionsstorung nach den grossen 
Gliedabschnitten abgegrenzt wird“. Er erklart dies Verhalten fQr die 
„specifische Projectionsweise der Hautsensibilitat in der Rinde. a Seine 
Ausfiihrungen treffen ja nun zwar jedesmal, aber offenbar nicht aus- 
schliesslich fiir Rindenlasionen zu; auch bei der gewohnlichen cap- 
sularen Oder lenticularen Hemiplegie ist es eine alte Erfahrung, 
dass diejenigen Muskelgruppen, die vorwiegend zu Sonderbewegungen 
im Sinne Munks benutzt werden, also vor allern die Muskeln der 
Hande und unter diesen die des Daumens am schwereten geschadigt 
werden und am langsten functionsunttichtig bleiben. Dass in gleicher 


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Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des Hirnschenkels. 425 


Vertheilung auch die Sensibilitat durch infracorticale Herde geschadigt 
werden kann, daftir ist unser Fall ein Beispiel. Das Verhalten der 
Tastkreise, die relativ, gegenuber der rechten Seite, distalwarts unver- 
gleichlich yiel mehr vergrossert sind, als proximalwarts, ferner die 
Empfindlichkeit ffcr feine passive Gelenkbewegungen, die Localisation 
empfundener Beriihrungen gehen der Intensitat ihrer Storung nach 
den motorischen Anfallserscheinungen parallel, d. h. sie nehmen etwa 
den Gliedabschnitten entsprechend nach oben hin ab. 

Durch die gewflhnlichen Vorstellungen von der Vertretung jeder 
Empfindungsqualitat und jedes Muskels oder auch nur jeder functionell 
zusammengehorigen Muskelgruppe in bestimmten Fasergruppen und 
Bahnen sind diese Verhaltnisse nicht zu erklaren; es ist nicht denkbar, 
dass die so verschieden lokalisirten Herde vom Hirnschenkel ab bis 
zum Stabkranz und der Rinde, die eine Hemiplegie resp. Monoplegie 
verursachen, immer bloss die Fasern fflr die Bewegungen und Em- 
pfindungen der Hand und des Fusses bevorzugen und die dicht da- 
neben liegenden Fasern fQr die anderen Gliedabschnitte verschonen 
sollten. Die Thatsachen nothigen uns, unsere grob-anatomischen Vor- 
stellungen von der Thatigkeit des Nervensystems, die seit dem weiteren 
Ausbau der Localisationslehre immer mehr vorherrschend geworden 
sind, zu Gunsten einer mehr dynamischen Oder functionellen An- 
schauungsweise einzuschranken. 

Wir konnen uns dabei an eine Theorie von v. Monakow 16 ) halten; 
derselbe nimmt an, dass alle zusammengesetzten Bewegungen durch 
das Zusammenwirken mehrerer nervoser Componenten von verschiedener 
Dignitat, vor allem einer corticalen und einer infracorticalen zustande 
kommen; die erstere ware in tiberwiegendem Maasse nur bei den 
complicirteren, durch Uebung erworbenen und unter Mitwirkung von 
Gedachtniss und Vorstellungen ausgeflihrten Bewegungen im Spiele, 
wahrend andere, in der Regel unbewusst ausgefflhrte Bewegungen, wo- 
zu besonders die meisten bilateralen geboren, zum grossen Theile durch 
die niederen, infracorticalen Componenten geleitet werden. Das differente 
Verhalten der einzelnen Korpertheile bei der Hemiplegie ware deshalb 
weniger von den Verschiedenheiten des Sitzes der Lasion abhangig, 
als von dem praformirten Verhaltnisse, in dem diese Korpertheile 
und ihre Functionen in der Rinde einerseits und in den niederen 
Theilen des Centralnervensystems andererseits vertreten sind. Da nun 
sicher die Hand von alien Korpertheilen die meisten bewussten Be¬ 
wegungen ausfdhrt und auf die meisten complicirten Functionen im 
Laufe des Lebens eingettbt worden ist, — abgesehen von den Sprach- 
werkzeugen, flir die ja gesonderte Verhaltnisse bestehen —, so wird 
sie auch in der Rinde und in den diese letztere mit infracorticalen 


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426 


XXV. Haenel 


Stationen verbindenden Systemen durch die meisten nervosen Element* 
vertreten sein. Dann ist es auch nicht mehr unverstandlich, dass eine 
Lasion, sobald sie iiberhaupt den corticalen Theil des Bewegungs- 
apparates — im weiteren Sinne, d. h. unter Hinzurechnung der 
cortico-infracorticalen Bahn — schadigt, in der Storung der Hand- 
bewegungen am intensivsten zum Ausdruck kommen muss. 

Die Uebertragung dieser Anschauung auf die Verhaltnisse bei der 
Sensibilitat bereitet keine Schwierigkeiten. Die Vorstellung, dass Em- 
pfindungen mit einem verschieden grossen Antheil von Bewusstsein, 
d. h. wieder von Empfindung von statten gehen sollen, ist unter Be- 
rficksichtigung der verschiedenen Reflexphanomene nicht so paradox, 
als es auf den ersten Blick vielleicht erscheint Die andere Vor- 
bedingung, die Uebungsfahigkeit, ist bekanntlich auch auf sensiblem 
Gebiete in ziemlich hohem Maasse vorhanden, und iiberhaupt ist zu 
bedenken, dass die grosse Geschicklichkeit und Bewegungsfeinheit der 
Hand ja ohne eine mit der motorischen Ausbildung parallel gehende 
Verfeinerung aller sensiblen Functionen undenkbar ware. Es trifft 
also fttr die Sensibilitat dasselbe zu, was bezliglich der Motilitat aufge- 
stellt wurde: in dem sensiblen Theil der corticalen Componente 
mttssen ebenfalls die am feinsten entwickelten Abschnitte der Extre- 
mitaten durch die zahlreichsten anatomischen Elemente vertreten sein 
und dem zu Folge bei Lasionen stets am starksten betroffen werden. 

Sind die hier gemachten Voraussetzungen richtig, dann mttssen 
alle cerebralen Sensibilitatsstbrungen, auch die durch subcorticale 
Herde hervorgerufenen, den Typus aufweisen, den wir in unserem 
Falle von Hirnschenkellasion gefunden haben und den Wernickeals 
charakteristisch fttr circumscripte Rindenlasionen aufgestellt hat. Fttr 
den ^uskelsinn * 4 ist eine derartige Vertheilung der Storung, „parallel 
der Intensitat der Lahmun g u (Vetter ) 2 3 ) auch schon wiederh olt beschrieben 
worden, und in letzter Zeit hat sich Dejerine 24 ) ebenfalls mit grosser 
Entschiedenheit fttr das Gesetzmassige und Charakteristische dieses 
Lahmungstypus bei cerebralen Hemianastliesien ausgesprochen. Dass 
dementsprechende Beobachtungen bisher selten sind, liegt wohl einer- 
seits daran, dass bei der gewohnlichen Hemiplegie der hinterste Theil der 
inneren Kapsel aus den bekannten Griinden in der Regel frei bleibt, und 
dass andererseits eventuelle Storungen der Sensibilitat sich lange nicht 
so sinnfallig darstellen, wie solche der Motilitat, sondern erst durch ganz 
specielle Untersuchungsmethoden aufgedeckt werden mlissen. Jedenfalls 
wiirde es aber von grossem Interesse sein und zur Klarung UDserer 
Ansichten liber die Thatigkeit des Centraln erven systems beitragen, 
wenn in geeigneten Fallen auf diese Verhaltnisse mehr geachtet wiirde. 

Um zum Schluss noch einmal das Wesentliche der vorhergehenden 


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Klinischer Beitrag zur Kenntniss der Erkrankungen des Himschenkels. 427 

Ausfahruugen zusammen zu fassen, so scheint mir die Bedeutung unseres 
Falles ausser in der MSglichkeit einer sehr genauen Localdiagnose des 
Herdes in der vom Gewohnlichen abweichenden Form der Facialis- 
parese und endlich in dem besonderen Verhalten der Sensibilitats- 
storung und ihren Beziehungen zu bekannten Lahmungstypen zu 
liegen; dadurch mag die Mittheilung des Falles auch ohne einen er- 
ganzenden pathologisch-anatomischen Befund gerechtfertigt erscheinen. 

Zum Schlusse spreche ich meinem verehrten friiheren Chef, Herm 
Geh. Med.-Rath Prof. Dr. Hitzig, ftir die Ueberlassung des vor- 
liegenden Falles meinen ergebensten Dank aus. 


Literatur. 

1) CurschmanD, Beitrag zur Physiologie der Kleinhiraschenkel. Diss. 

Giessen 1868. 

2) Starr, A case of alternant hemianalgesia. Med. Record. 1893. 

3) Eisenlohr, Zur Diagnose der Vierhugelerkrankungen. Jahrb. d. Hamb. 

Staatskrankenanstalten I. 1889. 

4) Hensen u. Volkers, Arch. f. Ophthalmologie. XXIV. 1. 

5) Flechsig, Leitungsbahnen. Leipzig 1876. 

6) Derselbe, Zur Lehre vom centralen Verlauf der Sinnesnerven. Neurol. 

Centralbl. 1886. 

7) Bechterew, Zur Frage iiber die secundare Degeneration des Himschenkels. 

Arch. f. Psych. 19. 

8) Luciani, Das Kleinhira. Neue Studien etc. Leipzig 1893. 

9) Adamuck. Zur Physiologie des N. HI. Med. Centralbl. 1870. 12. 

10) Hunnius, Zur Symptomatologie der Bruckenerkrankungen etc. Bonn 1881. 

11) Bleuler, Zur Casuistik der Herderkrankungen in der Briicke etc. Diss. 

Bern 1884. 

12) Thomsen, Ein Fall von isolirter LahmungdesBlicks nach oben. Arch. f.Ps. 18. 

13) Seymour, A case of tumor of pons etc. Brain 1884. 

14) Nieden, Associirte Blicklahmung nach oben. Centralbl. f. prakt. Augen- 

heilkunde. 1880. 

15) Grfife, Grafe-Samisch, Handbuch d. Augenheilk. S. 58. 

16) v. Monakow, Nothnagels Handbuch d. spec. Path. u. Ther. Bd. IX. 1. 

17) Bechterew, Die Bedeutung der Sehhugel etc. Virch. Arch. 110. 

18) Gowers, On slow incoordination from disease of the optic thalamus. Brain I. 

19) Gayet, Lesion des p^doncules c6r6braux etc. Arch, de physiol. II. t. 2. 

20) Rosenbach, cit. bei Bechterew. Virch. Arch. 110. 

21) Munk, Ueber die Functionen der Grosshirarinde. Berlin 1880. S. 37. 

22) Wernicke, Zwei Falle von Rindenlasion. Arb. aus der psych. Klinik in 

Breslau H. S. 35. 

23) Vetter, Ueber die feinere Localisation in der Capsula interna. Samml. 

klin. Vortrage begr. v. Volkmann. Neue Folge Nr. 165. 

24) Dejerine, De Th&nianaesth^sie d'origine cdr^brale. Semaine m&licale 1899. 


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XXVI. 


Aus dem Laboratorium der Universitatsaugenklinik in Wtirzburg 
(Professor v. Michel). 

Experimentelle Untersuchmigeii und Studlen liber den 
Yerlanf der Pupillar- und Sehfasem nebst Erortemngen 
ftber die Physiologie nnd Pathologie der Pnpillarbewegung. 

Von 

Dr. med. Ludwig Bach, 

Priv&tdocenten nnd wissenschaftlichen Assistenten daselbst. 

(Hierzu Tafel VIII-X und 1 Abbildung im Text.) 

Die Frage nach dem Verlauf der Seh- und Pupillarfasern ist in 
den letzten Jahren wieder von verschiedenen Seiten und was be- 
sonders wichtig ist, mit verschiedenen Methoden — Marchi’sche 
Methode, Golgi'sche Osmiumbichromatsilbermethode, Ehrlich’sche 
Methylenblaumethode — bearbeitet worden. 

Betreffs des Verlaufes der Sehfasern wurde in vielen, ja in den 
meisten Puncten eine erfreuliche Uebereinstimmung erzielt und man 
darf sagen, dass diese Frage, die unseren besten Anatomen und Experi- 
mentatoren so unendlich viele Schwierigkeiten bereitet hat, jetzt wohl 
bald ihrer definitiven Losung entgegengeht. 

Anders liegt die Sache beztiglich der sogenannten Pupillarfasern. 
Speciell beziiglich des Verlaufes derselben besteht eine geringe 
Uebereinstimmung und zum Theil noch grosse Unklarheit. 

Es ist weder der Ort des Beginnes des Pupillarreflexes in der 
Netzhaut sichergestellt, noch die Frage gelost, ob es eigene Pupillen- 
und Sehfasern giebt, noch die Kreuzungsfrage im Chiasma, noch 
der Ort und die Art der Endigung in den primaren Opticus- 
ganglien entschieden, noch vor allem iiber die Frage irgend welche 
Klarheit gewonnen, welchen Verlauf die Pupillarfasern auf der 
Strecke nach dem Reflexcentrum — Halsmark — nehmen. 

Bei den im Nachfolgenden mitzutheilenden Untersuchungsergeb- 
nissen wird weniger Gewicht gelegt werden auf den Verlauf der Seh¬ 
fasern, als vielmehr auf den Verlauf der Pupillarfasern, da die 
erstere Frage, wie gesagt, bereits viel weiter gefordert ist und meine 


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Experimented Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 429 


Befunde in den meisten wichtigeren Punkten mit denen der Mehrheit 
der Autoren in guter Uebereinstimmung stehen. 

Der Beginn meiner eigenen Untersuchungen fiber das vor- 
liegende Thema liegt bereits mehr als 3 Jahre zurfick. Einen Theil meiner 
Ergebnisse habe ich bei der Ophthalmologenversammlung in Heidelberg 
im Jahre 1898 kurz mitgetheilt. Ich zogerte mit der ausftihrlichen Ver- 
offentlichung, weil sich im Laufe der Untersuchungen zeigte, dass eine 
vergleichende Betrachtung mehrerer Thierarten von Bedeutung ffir die 
aufgeworfenen Fragen zu sein schien, weil sich zeigte, dass der von 
mir speciell benutzten Marchi'schen Methode doch die einen und 
anderen Mangel anhafteten, weshalb zur richtigen Wflrdigung der 
Befunde eine grossere Zahl etwas modificirter Versuche, eine mehrfach 
zu modificirende Untersuchungstechnik und vor allem eine Reihe von 
Controluntersuchungen normaler Gehirne unumganglich nothwendig 
erschien. 

Des weiteren bin ich neben den experimentellen Untersuchungen 
in eine kritische Betrachtung des vorliegenden klinischen 
Materiales und der pathologisch-anatomischen Befunde ein- 
getreten und habe die hierbei gewonnenen Resultate bereits in einer 
Arbeit fiber die Erkrankungen der Vierhfigelgegend und der Zirbel- 
drfise (Zeitschrift f. Augenheilkunde, Bd. I, 1899, S. 315) niederlegen 
konnen. 

Wenn ich auch hoffe, dass durch die nachfolgenden Untersuchungs- 
resultate und Studien die uns beschaftigende Frage etwas gefordert 
wird, so weiss ich doch, dass noch Vieles weiterer Untersuchung 
bedarf, und muss bekennen, dass es mir ein unumgangliches Postulat 
scheint, die Frage vergleichend-anatomisch, experimentel], durch 
exakte klinische Untersuchungen und vor allem durch mikroskopische 
Serienschnittuntersuchungen pathologisch anatomischen menschlichen 
Materials weiter zu verfolgen. Wichtig genug ist ja sicher die vor- 
liegende Frage und ich hoffe, dass dieser Umstand wesentlich mit dazu 
beitragen wird, das Interesse mehrerer Uollegen ffir die Sache wachzurufen. 


Eigene experimentelle Untersuchungen. 

Bei den im Folgenden mitzutheilenden experimentellen Unter¬ 
suchungen ging ich in der Regel so vor, dass ich die Hornhaut des 
einen Auges und zwar des rechten abtrng und dann den Inhalt des 
Bulbus mit einem scharfen Loffel oder Spatel entfernte. Nur vereinzelt 
habe ich die Enucleation des Auges vorgenommen. Es schien mir um so 
richtiger, die Evisceratio bulbi statt der Enucleatio bulbi vorzunehmen, 
als wir sehen werden, dass in den Kerngebieten und den Wurzelbiindeln 


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430 


XXVI. Bach 


der Augenmuskelnerven sich Schollen fanden, die bei Vomahme der Enu¬ 
cleation eventuell auf Lasion der Nervenbfindel zurtickgeffihrt werden 
konnten. Um iibrigens nach dieser Richtung uberhaupt koine Zweifel auf- 
kommen zn lassen, babe ick eine Reihe normaler Gehirne untersucht, eine 
Untersuchung, die anch aus anderen spftter zu erorternden Griinden noth- 
wendig war. 


Untersuchungsmethode. 

Als Untersuchungsmethode w&hlte ich in einzelnen Fallen die Weigert- 
sche Methode, in der weitaus grossten Mehrzahl der Ffille jedoch die 
Marchi’sche Methode und zwar wurde hauptsfichlich die von Teljatnik 
angegebene Modification derselben (Wissenschaftl. Vers, der Aerzte der 
St. Petersburger Klinik ffir Nerven- und Geisteskranke 26. Sept. 1896. 
Ref. Neurol. CentralbL 1897, Nr. 11, S. 521) in Anwendung gezogen. Ich 
kann diese Modification sehr empfehlen. 

Die Marchi’sche Methode hat wie so manche andere Methode be- 
kanntermassen einige Mangel und mochte ich in Kiirze bier einige Mit- 
theilungen fiber meine Erfalirungen mit dieser Methode machen. 

Von allergrosster Wichtigkeit beztiglich der Verwerthung der mit der 
Marchi’schen Methode erhobenen Befunde ist es zu wissen, inwieweit auch 
im normalen Gehirn schwarze Schollen an den markhaltigen Nerventasem 
gefunden werden. Ich muss auf Grund meiner Befunde sagen, dass auch 
beim normalen Gehirn, besonders bei der Katze, schwarze Schollen an 
einzelnen Stellen in grosser Zahl, vorkommen. Es warden diese Schollen 
gefunden an Gehirnen, die unter alien bekannten, fur die Marchi’sche 
Methode nothwendigen Cautelen behandelt worden waren. Die meisten der 
am normalen Gehirn vorkoramenden schwarzen Pfinktchen und Schollen 
sind jedoch mit Leichtigkeit von den sogenannten Degenerationsschollen 
zn unterscheiden und bieten sich hier auch fur den nur einigermassen Ein- 
gefibten keinerlei Schwierigkeiten. Die meisten der im normalen Gehirn 
vorkommenden Schollen sind kleiner, haben in der Regel eine rundliche 
Form, ihre Farbe ist eine mehr grauschwarze oder es ist ein leichter Stich 
vom Schwarzen ins Br&unliche vorhanden, dahingegen sind die sogenannten 
Degenerationsschollen klumpige, meist grossere, von unregelmfissiger Form, 
von mehr rein schwarzer Farbe und liegen vielfach in dichten Haufen 
beisammen. 

Nun giebt es aber auch im normalen Gehirn gewisse Stellen — ich 
nenne von den uns hier speciell interessirenden Partien: die Radifirfasern. 
die Haubenkreuzung, die Oculomotorius- und Trocheariswurzelbtindel, die 
absteigende Wurzel des Nervus quintus, den Oculomotorius- und Trochlearis- 
kern, den Pedunculus, die liintere Commissur, das hintere Lfingsbfindel, 
wo Schollen vorkommen, die in ihrera Aussehen von den Degenerations¬ 
schollen sich in Nichts unterscheiden. Es kann an diesen Stellen nur 
eventuell die grfissere Zahl von Schollen ffir pathologische Verhaltnisse 
sprechen, allein auch in dieser Hinsicht ist eine grosse Vorsicht geboten, 
da an vereinzelten Stellen z. B. den Oculomotorius- und Trocbleariswurzel- 
bfindeln, sowie im Kerngebiet dieser Nerven sogen. Degenerationsschollen in 
grosser Zahl unter normalen Verhfiltnissen vorkommen kfinnen, besonders 
ist dies nach meiner Erfahrung bei der Katze der Fall. — Es scheinen sich 
nicht alle Gehirne, auch wenn sie ganz frisch sind, gleich gut ffir die 


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Experimentelle Untersuchungen und Studien aber den Verlauf etc. 43 1 


Marchi'sche Method© zu eignen. Ich erhielt die besten Resultate bei der 
Taube, dann kam das Kaninchen, dann der Affe, dann die Katze. Mit aller 
Reserve mochte ich im Hinblick auf ein Resultat beim Affen bemerken, 
dass ganz jnnge Thiere sich vielleicht weniger gat fur die Marchi’sche 
Methode eignen. 


Dauer des Versuches. 

In der Regel w&hlte ich eine Versuchsdauer von 4 Wochen, in einigen 
Fallen von 14 Tagen bis 3 Wochen, bei einigen Versnchen auch einen 
l&ngeren Termin und zwar 6 Wochen. Diese l&ngere Versuchsdauer wurde 
aus einem ganz bestimmten Grande gewfthlt. Es ist namlich die Ver- 
muthung ausgesprochen worden, dass die Pupillarfasern vielleicht 
weniger rasch degeneriren konnten als die Sehfasern. Es hat, wie ich 
voraufnehmen will, das Untersuchungsresultat keine Stiitze fiir diese Hypo- 
these ergeben. Der zweckm&ssigste Termin zur Beendigung des Versuchs 
ist ein Zeitraum von 3—4 Wochen. 

Ich habe bis jetzt die Evisceratio bulbi an folgenden Thieren ausfuhren 
konnen: Taube, Kaninchen, Katze und Affe. 


Taube. (Hierzu Fig. 1 auf Tafel IX, X.) 

Ich besitze 1 liickenlose Serie durch ein normales Gehirn, 1 Serie vom 
Chiasma bis hinter den Trochleariskern von einer Taube, bei welcher 
17 Tage zuvor der rechte Bulhus eviscerirt war, weiter 1 Serie vom 
Chiasma his zum Halsmark von einer Taube bei welcher 4 Wochen zuvor 
der rechte Bulbus eviscerirt worden war. Behandlung nach der von Tel- 
jatnik modificirten Mar chi’ schen Methode. S&mmtliche hier zur Be- 
sprechung kommenden Serien von der Taube sowohl wie von den anderen 
Thieren und dem Menschen sind Frontalschnittserien. Meistens wurde 
in der Richtung der austretenden Oculomotoriuswurzelbiindel, d. h. schrag 
von hinten (distal) oben nach vom (proximal) unten geschnitten; in 
einigen Serien wurde im Hinblick auf die Angaben Bernheimer’s eine 
noch mehr schr&g von hinten oben nach vorn unten gerichtete Schnitt- 
ebene gewkhlt. 


Normal© Taube. 

In den Sehnerven, dem Chiasma und den Tractus findet man eine An- 
zahl kleiner graubr&unlicher, selten reinschwarzer Punktchen hauptskchlich 
von runder oder ovoider Form. Die meisten Schollen fand ich am Isthmus- 
btindel des Opticus, also innen oben am Lobus opticus an der Umbiegungs- 
stelle der Opticusfasem in dem kurzen horizontalen Schenkel. Daselbst 
sehen wir auch etwas grobere, aber nahezu ausnahmslos graubrkunliche, 
nicht reinschwarze Schollen. 

In den Oculomotoriuswurzelbiindeln, in der austretenden Trochlearis- 
wurzel, sehen wir eine grosse Zahl sogen. Degenerationsschollen, in ge- 
ringerer Zahl vorhanden und etwas feiner sind sie im Oculomotorius - und 
Trochleariskern. 

An den iibrigen Partien des Lobus opticus finde ich nur ganz ver- 
einzelte, feinste schw&rzliche Punktchen. Ueberhaupt sind bei den mir 


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432 


XXVI. Bach 


vorliegenden Serien von der Taube, die nicht als Degenerationsschollen an- 
zu8prechenden Schollen im Vergleich zu den in normalen Kernparthien der 
anderen yon mir untersnchten Thiere vorkomraenden Schollen fiusserst 
gering an Zahl. 


Evisceratio bulbi bei der Taube. 

Die Taube wurde 4 Wochen nach dem Eingriff getodtet. 

Im gleichseitigen rechten Sehnerven linden sich massenhaft grobe 
und auch feinere schvvarze Schollen iiber dem ganzen Querschnitt yertheilt. 
Der Sehnerv der entgegengesetzten Seite enthalt nnr ganz vereinzelte 
feine br&unlich - schwarze Pfinktchen, die nicht als Degenerationsschollen 
angesehen werden konnen. 

Im Chi asm a sehen wir eine strohmattenartige Durchflechtung der 
Sehnerven; es wechseln daselbst Stellen, die massenhaft Schollen enthalten. 
mit solchen die keine enthalten. 

Ira gekreuzten (linken) Tractus finden wir ebenso wie im gleich¬ 
seitigen Sehnerven eine grosse Anzahl von Degerationsschollen uber den 
ganzen Querschnitt vertheilt. Im Tractus der gleichen Seite sehen wir 
gar keine Degenerationsschollen. 

In der Opticusfaserung des gekreuzten Lobus opticus sehen wir 
massenhaft Degenerationsschollen, in dem Lobus opticus der gleichen Seite 
dagegen gar keine Degenerationsschollen. 

Kurz nach der Durchflechtung der Sehnerven im Chiasma geht vom 
Tractus ein Zug Opticusfasern ab, die in den Lobus eintreten und in dem- 
selben dorsalwfirts ziehen. Eine directe Beziehung dieses Bfindels, welches 
in gewisser Beziehung an den Tractus peduncularis transversus beim Kanin- 
chen erinnert, mit dem Oculomotoriuskern besteht nicht. — Auf der dorsalen 
Seite des Lobus biegt nach der Mittellinie am sogenannten Isthmus die 
Opticusfaserung um und zieht eine kurzeStrecke in nahezu wagerechter Richtung 
nach aussen, um dann zu enden. Auch von diesen dorsal verlaufenden Opticus¬ 
fasern aus giebt es keine directe Verbindung mit dem Oculomotoriuskern. 

Oculomotorius- und Trochleariskern: In beiden Kernen sehen 
wir sowohl auf der Seite des Eingriffs wie auf der entgegengesetzten Seite 
eine ziemliche Anzahl grober schwarzer Schollen, auf der Seite des Ein- 
griffes sind sie zahlreicher. Vereinzelte feinere Schollen liegen auch in 
den dorso-lateralen (Wes tphaP sehen?) Gruppen, gar keine Schollen sehe 
ich in den Ed in ger*sehen dorso-medialen kleinen Zellgruppen. 

In den Wurzelbtindeln des Oculomotorius, im Stamme des Ocu¬ 
lomotorius, in der austretenden Trochleariswurzel findet sich eine grosse 
Zahl sogenannter Degenerationsschollen vor. In den Oculomotorinswurzel- 
bfindeln der gleichen Seite sind die Degenerationsschollen etwas zahl¬ 
reicher wie auf der entgegengesetzten Seite. 

An den Querschnitten des hinteren L&ngsbfindels findet sich eine 
Anzahl feiner Schollen. 

In der Haubenkreuzung sind ebenfalls feinere schwarze Schollen in 
grosser Zahl vorhanden. 

Bei einer 2. Taube, bei welcher 17 Tage zuvor die Exenteratio bulbi 
vorgenommen worden war, boten sich dieselben Verhfiltnisse, nur war 
die Zahl der Degenerationschollen im Opticus etwas geringer. 


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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 433 

Von der ersten Taube mit der Exenteratio bulbi liegt mir auch ein 
Theil der Schnitte vom Aufhoren der Lobi optici bis zum Halsmark vor. 
Eine directe Verbindung des Opticus mit dem Halsmark konnte 
ich nicbt feststellen. 


Kaninchen. (Hierzu Fig. 2 und 3 auf Tafel IX, X.) 

Ich besitze 6 nach der Marchi’schen oder nach der von Teljatnik 
modificirten Marchi’schen Methode, 1 nach der Weigert’schen Methode 
behandelte Frontalschnittserie vom Chiasma bis hinter den Trochlearis- 
kem. 2 Marchi-Serien sind Controlserien durch das normale Gehirn, die 
5 anderen Serien stammen von Kaninchen, an denen ich theils die Evis- 
ceratio bulbi (3mal), theil die Enucleatio bulbi (2mal) vorgenommen hatte 
und zwar 4—7 Wochen vor dem Todten des Thieres. 

Von dem Gehirn eines Kaninchens, bei dem 5 Wochen vorher die 
Enucleatio bulbi vorgenommen worden war, liegt mir eine liickenlose Serie 
vom Chiasma bis nahe zum Halsmark vor. — Alle Eingriffe warden auf 
der rechten Seite vorgenommen. 

Die 4 Marchi-Serien der Kaninchen, bei denen 4—6 Wochen vorher 
die Evisceratio oder Enucleatio bulbi vorgenommen worden war, bo ten in 
Bezug auf die Befunde keine irgend wichtigen Unterschiede, wes- 
halb die Besprechung zusammenfassend erfolgen kann. 

Chiasma: Im Chiasma sehen wir theils Stellen mit massenhaften 
Degenerationsschollen, theils Stellen, die ziemlich frei davon sind. 

Tractus optici: In dem Tractus der entgegengesetzten Seite 
sehen wir eine sehr grosse Zahl von Degenerationsschollen ziemlich 
gleiclim&ssig fiber den ganzen Querschnitt vertheilt. 

Im Tractus opticus der gleichen Seite linden wir ebenfalls Degene¬ 
rationsschollen, jedoch keinen Vergleich mit der Zahl der Degenerations¬ 
schollen auf der entgegengesetzen Seite. Die Degenerationsschollen des 
Tractus der gleichen Seite linden wir ebenfalls in der ganzen 
Lftnge des Tractus fiber den ganzen Querschnitt vertheilt. 

Beraerkt sei hier, dass im Nervus und Tractus opticus sowie im 
Chiasma des normalen Kaninchenhirnes so gut wie gar keine groberen 
Schollen, sondern nur feinere und die meist in geringer Zahl vor- 
kommen. 

Thalamus: Im Stratum zonale des Thalamus der gekreuzten 
Seite findet man eine grosse Zahl von Degenerationsschollen. Diese 
Schollen lassen sich bis nahe zur Taenia heran verfolgen. Mit Beginn der 
Commi8sura posterior treten die Degenerationsschollen bis fast zur Median- 
linie heran. 

Im Stratum zonale der gleichen Seite sah ich nur ganz vereinzelte 
D egerationsschollen. 

Ganglion habenulae: Im Ganglion habenulae fand ich beiderseits 
keine Degenerationsschollen. 

Corpus quadrigeminum: Mit Beginn der Vierhfigel sieht man die 
Degenerationsschollen, die im Thalamus am dorsalen Rande gelegen waren, 
von der Oberflfiche etwas abrticken. Wir sehen sie im Vierhfigel in der 
sogenannten mittleren weissen Schicht hauptsfichlich, sie reichen bis zum 
medialen Rande des Vierhtigels heran. Wir konnen die Degenerations- 


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434 


XXVI. Bach 


8 chollen vom Beginn der Vierhiigel bis iiber den Trochleariskern hinans 
verfolgen, sie liegen stets in derselben Zone des Vierhiigels. 

Anf der gleichen Seite fand icb im Vierhiigel keine Degeneration. 
In einer Serie sab ich einzelne etwas grfissere Schollen, ein Befund, dem ich 
keine patbologische Bedentnng zumessen mochte. 

Commi8sura posterior: In der Commissura posterior fand ich keine 
Degenerationsschollen. 

Corpus geniculatum ventrale et dorsale: Anf der gekrenzten 
Seite finde icb eine grosse Zabl von Degenerationsschollen, anf der gleichen 
Seite dagegen nor vereinzelte. 

Tractus peduncularis transversns: Im Tractus peduncularis 
transversus der gekeuzten Seite fin den sich Degenationsscbollen in grosser 
Zahl. Auf der gleichen Seite sah ich keine. 

Radiftrfasern: Vereinzelte feinere und grobere Schollen auf beiden 
Seiten. Nur an wenigen Stellen sehen wir etwas mehr grobere Schollen 
beisammenliegen. Ganz die gleichen Verhfiltnisse finde ich am 
normalen Gehirn. 

Eine directe Verbindung von Endigungen der Opticusfasern 
(Pupillarfasern) mit dem Oculomotoriuskern, somit eine directe 
Reflexubertragung vom Opticus auf den Oculomotoriuskern 
besteht beim Kaninchen nicht. 


Katze. (Hierzu Fig. 4 und 5 auf Tafel IX, X.) 

Verfasser besitzt 9 Frontalschnittserien nach Mar chi oder March i- 
Teljatnik bebandelt durch das Mittelhim der Katze. 2 davon sind von 
normalen Gehirnen als Controlserien angefertigt. 3 Serien stammen von 
verschieden grossen Katzen, bei denen 4 Wochen vorher die Evisceratio 
bulbi vorgenommen war. Zwei weiteren Serien liegt eine 6 und 6 ^ wSchent- 
liche Versuchsdauer zu Grunde, es war hierbei einmal die Evisceratio bulbi, 
einmal die Enucleatio bulbi ausgefuhrt worden. Bel einer Serie war 14 Tage 
zuvor, bei einer 3 Wochen zuvor die Evisceratio bulbi ausgefuhrt worden. — 
Ausserdem besitze ich eine nach Weigert behandelte Serie durch das 
Mittelhim einer Katze, bei welcher 6 Wochen vorher die Enucleation eines 
Auges ausgefuhrt worden war. 

Als beste Versuchsdauer empfiehlt sich nach den mir vorliegenden 
Serien far die Katze eine Zeit von 14 Tagen bis 4 Wochen. 6 Wochen 
nachher war die Zahl der Degenerationsschollen bereits eine geringere. 


Resultate meiner Untersuchungen nach der Evisceratio oder 
Enucleatio bulbi bei der Katze. 

Nach der Evisceratio oder Enucleatio bulbi findet man eine Unmasse 
grober schwarzer Schollen im gleichseitigen Sehnerven fiber den ganzen 
Querschnitt vertheilt. Im Sehnerven der entgegengesetzten Seite sehen 
wir nur einzelne, meistens feinere Schollen, wie wir sie auch im normalen 
Sehnerven der Controlserien vorfinden. 

Im Chiasma finden wir desgleichen eine sehr grosse Zahl grober 
Degenerationsschollen. 


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Experimen telle TJntersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 435 • 


Gar kein Zweifel kann bestehen, dass auch in beiden Tractus eine 
grosse Zabl von Degenerationsschollen vorhanden ist. Auf der ge- 
kreuzten Seite ist die Zabl der Degenerationsschollen eine grfissere. 
Am dichtgedrfingtesten fand ich die Schollen im vorderen und be- 
sonders im temporalen Abschnitt des Tractus. Diese letztgenannten 
Verhfiltnisse traten deutlicher an Serien von 6 Wochen, bei denen die Zabl 
der Schollen im Allgemeinen eine etwas geringere war, als in Serien von 
4 Wochen, hervor. 

Thalamus: Im Stratum zonale des Thalamus findet sich beider- 
seits ein schmales oberflfichlich liegendes Band von Degenerationsschollen. 
Die Zahl der Schollen ist auf der dem Eingriff entgegengesetzten Seite 
stftrker als auf der gleichen Seite. Im distalen Bereich des Thalamus 
der gleichen Seite verschwinden die Degenerationsschollen fast ganz. 

Corpus geniculatum externum: Ein Theil der Fasern des Tractus 
tritt direct in das Corpus geniculatum externum ein, ein Theil umgreift 
zunfichst dasselbe. Die Mehrzahl der im Corpus geniculatum dorsalw&rts 
ziehenden Fasern liegt auf der medialen Seite. In einigen Serien finde 
ich das Corpus geniculatum externum ziemlich gleichmfissig von Schollen 
durchsetzt, in anderen Serien linden sich die Schollen vornehmlich ventral 
und medial. Die Verftnderungen linden sich im Corpus geniculatum exter¬ 
num beiderseits, zahlreicher jedoch auf der dem Eingriff entgegen¬ 
gesetzten Seite. — Vom medialen unteren Bande des Corpus geniculatum 
externum zieht ein schmales Band von Degenerationsschollen eine kurze 
Strecke ventralwarts gegen den Pedunculus zu. 

Corpus geniculatum internum: Im Inneren des Corpus geniculatum 
internum fand ich keine Degenerationsschollen. Bestehen Beziehungen des 
Opticus zu dem Corpus geniculatum internum, so kann es sich hier 
nur um Fasern handeln, welche am lateralen Bande desselben ihr Ende 
linden. 

Corpus quadrigeminum: Im vorderen Vierhfigel linden wir beider¬ 
seits Degenerationsschollen. Dieselben strahlen pinselartig vom vorderen 
Vierhfigelarm nach dem Stratum zonale des Vierhfigels aus. Ihr Ende 
linden die Degenerationsschollen am medialen Bande des Vierhfigels etwas 
oberhalb der Commissura posterior. Sie linden sich stets in derselben 
Zone, also auch in derselben Hfihe im Vierhtigeldach. Die Zahl der 
Schollen im entgegengesetzten Vierhfigel ist zahlreicher als auf der 
gleichen Seite. Beim Durchsehen der Serie verschwinden die Degene¬ 
rationsschollen auf der gleichen Seite nach dem distalen Bereich zu eher 
wie auf der dem Eingriff entgegengesetzten Seite. Im entgegengesetzten 
Vierhfigeldach kfinnen wir die distal immer spftrlicher werdenden Schollen 
bis an das distale Ende des Ocfilomotoriuskemes verfolgen, auf der 
gleichen Seite hfiren sie schon etwas frtiher auf. 

Die Zahl der Degenerationsschollen im Vierhfigel der Katze 
ist geringer als die beim Kaninchen. 

Bogen- und Badifirfasern der Haubenregion: In den Bogen- 
und Badifirfasern (Fasern des tiefen Markes, Formatio reticularis) linden 
wir, wie bereits erwfthnt wurde, eine Anzahl von sogen. Degenerations¬ 
schollen. Wir sehen in diesen Fasern solche Schollen bereits vor Beginn 
des Ocnlomotoriuskernes bis distal fiber den Oculomotoriuskern hinaus. 
Obwohl die Zahl der Degenerationsschollen im Stratum zonale des Vier- 
Deutsche Zeitachr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 29 


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436 


XXVI. Bach 


hiigels (Endigungsstelle der Opticusfasern) auf der Seite des Eingriffes eine 
geringere ist wie auf der entgegengesetzten Seite, bemerken wir in der 
Zahl der in dem eben genannten Fasersystem enthaltenen Schollen 
keinen Unterschied zwischen rechter und linker Seite. Daraus 
sowohl, sowie im Hinblick darauf, dass die Zahl der in den Radi&r- and 
Bogenfasern vorhandenen Schollen eigentlich eine grossere ist wie in dem 
vorderen Vierhiigelarm, im Hinblick ferner darauf, dass wir diese Schollen 
in den Radi&rfasern und Bogenfasern in gleicher Weise auch im normalen 
Gehirn — wo die Schollen im Stratum zonale des Vierhugels so gut wie 
ganz fehlen — vorfinden, glaube ich schliessen zu diirfen, dass keinerlei 
Beziehungen zwischen den in den Radi&rfasern und Bogen¬ 
fasern wahrnehmbaren Schollen und dem Eingriff (Evisceratio 
bulbi) bestehen. Es ist mir auch niemals gelungen, einen un- 
mittelbaren Zusammenhang der Schollen des genannten Fasern- 
systemes mit den Degenerationsschollen resp. mit der Degene- 
rationszone in der Schicht der Opticusausbreitung im vorderen 
Vierhugeldach nachzuweisen, obwohl liickenlose Serien vor- 
liegen, die proximal und distal weit uber die in Betracht kom- 
menden Partien hinausreichen. Speciell betonen mfichte ich nock, dass wir 
das mediale Ende der Opticusfasern immer im selben Niveau des Vierhfigeldaches 
linden, dass nirgends ein Zusammenhang, ein Ineinanderfibergehen 
der daselbst vorhandenen Schollen und der Schollen an der 
seitlichen Begrenzung des centralen Hfihlengraues nachweis- 
bar war. 

Oculomotorius- und Trochleariskern, Wurzelfasern dieser 
Nerven: Wir sehen in dem ganzen Bereich des Oculomotorius- 
und Trochleariskernes beiderseits, ferner in den Wurzelbfindeln 
dieser Nerven eine grosse Anzahl zum Theil recht grober Schollen. 


Affe. (Hierzu Fig. 6 auf Tafel IX, X.) 

Herr College Cofler in Triest hatte die grosse Liebenswfirdigkeit, 
ffir mich an 2 Affen die Exenteratio bulbi vorzunehmen, woffir ich ihm 
auch an dieser Stelle meinen herzlichen Dank ausspreche. Die Versuchs- 
dauer betrug 4 Wochen. — Behandlung des Gehirns nach der von 
Teljatnik modificirten Marchi’schen Methode. — Die mir vorliegenden 
Frontalschnittserien reichen vom Chiasma bis eine Strecke hinter den 
Trochleariskern. Die Schnittrichtung ist bei dem einen Affen eine stark, 
bei dem anderen eine weniger stark frontale von hinten oben nach vorn 
unten. — Bei dem einen Affen, einem jungen Thiere, gab mir obige 
Methode ein nur wenig befriedigendes Resultat, hingegen ist die liickenlose 
Serie von dem anderen Affen vollauf befriedigend. Ich hoffe, im Sommer 
dieses Jahres gelegentlich anderer Versuche beim Affen noch 1 oder 2 mal 
obige Operation ausffihren zu konnen, urn dem Ein wand einer zu geringen 
Versuchszahl zu begegnen. Der Grund, weshalb ich meine Befunde beim 
Affen schon jetzt mit verwerthe, liegt darin, dass dieselben in vielen 
Punkten mit denen Bernheimer’s beim Affen, in nahezu alien Punkten 
mit denen Dimmer’s beim Menschen fibereinstimmen. 


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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 437 

Befund nacb der Evisceratio bulbi. 

Der Sebnerv der Seite des Eingriffes ist vollgepfropft mit 
Degenerationsschollen. Im Sehnerv der entgegengesetzten Seite sehen 
wir nur vereinzelte feinere Schollen. 

Im Chiasma sehen wir eine grosse Zahl von Degenerationsschollen. 

Das Gleiche gilt fiir beide Tractus. Die Zahl der Degenerations¬ 
schollen auf der gekrenzten Seite ist eine grossere. Ich finde be- 
sonders im Beginn der Tractus mehr Schollen auf der temporalen Seite 
des Tractus, docli finden sick dieselben auch fiber den ganzen Tractus- 
querschnitt zerstreut und zwar ist dies um so mehr der Fall, je n&her wir an 
das Corpus geniculatum externum herankommen. Zwischen den Degenerations¬ 
schollen sieht man auch die normalen, graugelblichen Fasern in grosser Zahl. 

Im Corpus geniculatum externum finde ich beiderseits in der ganzen 
Ausdehnung desselben Degenerationsschollen in grosser Zahl. Am zahl- 
reichsten sind sie in den medialen und mittleren Partien zu sehen. 

Am Corpus geniculatum internum finde ich nur an der Grenze 
zum Corpus geniculatum externum Degenerationsschollen. 

Von der medialen Partie des oberen Randes des Corpus geniculatum 
externum zieht ein schmales Band degenerirter und normaler Fasern zum 
vorderen Vierhugelarm, um dort angekommen f&cherformig aus- 
zustrahlen. Die Zahl der Degenerationsschollen ist daselbst beiderseits 
eine sp&rliche, dieselben sind nur eine kurze Strecke in das oberfl&chliche 
Mark des vorderen Vierhfigels zu verfolgen. Einen nennenswerthen Unter- 
schied in der Zahl der Degenerationsschollen auf der rechten und linken 
Seite fand ich nicht. Eine directe Verbindung dieses Bundels 
von Degenerationsschollen mit dem Oculomotoriuskern konnte 
ich nicht feststellen, obwohl ich natfirlich wegen der Angaben 
Bernheimer’s darauf speciell geachtet babe. 

Beziiglich der in den Radifir- und Bogenfasern, in den Oculo- 
motorius- und Trochleariswurzelfasern, in der Radix descendens 
nervi quinti, in dem Oculomotorius- und Trochleariskem u. s. w. 
vorhandenen Schollen finde ich ann&hemd dieselben Verh&ltnisse wie 
beim Kaninchen, d. h. weniger zahlreiche Schollen wie bei der Katze. 

Im Stratum zonale des Pulvinar in der Nfihe des vorderen Vier- 
hiigelarmes findet sich ebenfalls beiderseits eine Anzahl Degenerations¬ 
schollen. 

Beziehungen zum Corpus Luys und zum Ganglion habenulae konnte 
ich nicht feststellen. 


Mensch. 

Durch die Liebenswurdigkeit des Herm Professor C. Rieger war es 
mir auch moglich, die Sehnerven, das Chiasma, die Tractus optici und einen 
Theil des Gehirnstammes eines alten Mannes zu untersuchen, der viele Jahre 
eine linksseitige Phthisis bulbi und einige Jahre ein Leucoma 
adhaerens mit Secundfirglaukom auf dem rechten Auge hatte. 

Sehnerv, Chiasma, Tractus optici und primftre Opticusganglien wurden 
nach Weigert behandelt, und mfichte ich des Befundes, soweit es hier 
interessirt, Erw&knung thun. 

29* 


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XXVI. Bach 


In dem Sehnerven des atrophischen Anges sehe ich nur 2 feine 
schwarze F&serchen, die etwas weiter nach dem Bulbus zu zu verfolgen 
sind als die v. Mich el*sehen Chiasmaschlingen. 

In dem Sehnerv des Bulbas mit dem Leacoma adhaerens and 
Secund&rglaukom sehe ich eine partielle Atrophie ohne bestimmte 
Localisation; der grossere Theil der Fasern ist normal 

Obwohl in dem dem phthisischen Auge zugehorigen Seh¬ 
nerven nur in der Nfihe des Chiasma noch 2 schwfirzlich ge- 
ffirbte Fasern zu sehen waren, weiter nach dem Auge zu aber 
keine einzige normale Opticusfaser mehr zu sehen war, fanden 
sich in beiden Tractus normale Fasern. Die grossere Zahl der 
normalen Fasern fand ich in dem linken Tractus, also auf der entgegen- 
gesetzten Seite des Sehnerven mit der partiellen Atrophie. Die 
normalen Fasern lagen mit den in der Mehrzahl vorhandenen 
atrophischen Fasern untermischt und waren fiber den ganzen 
Querschnitt vertheilt. Lateral und vorn sah ich etwas mehr normale Fasern. 

Im Stratum zonale des Pulvinar, besonders rechterseits, war 
deutliche Atrophie sichtbar. 

Eben angedeutet fand sich ein Faserschwund im vorderen Vier- 
hfigelarm beiderseits. 

Der Befund scheint mir vor Allem deshalb eine grosse Bedeutung zu 
haben, weil hier in dem Sehnerven des lange Jahre phthisischen Bulbus so 
gut wie keine normale Faser sich mehr fand, dahingegen in beiden 
Tractus normale Fasern vorhanden waren. 

Wegen des absoluten Mangels normaler Fasern in dem dem Auge 
nfiher gelegenen Abschnitte des linken Sehnerven darf wohl angenommen 
werden, dass auch die sogenannten centrifugalen Opticusfasem, die ihre 
Zellen vornehmlich Oder ausschliesslich im Dach des vorderen Vierhtigels 
haben, geschwunden waren, obwohl kein pathologischer Process im Vier- 
hfigel sich fand, der diese Thatsache erklfiren konnte. 


Zusammenfassung der nach vollstandiger einseitiger 
Zerstorung der Netzhaut erhaltenen Befunde. 

Was zunachst die Kreuzungsfrage der Sehnervenfasern im 
Chiasma anlangt, so fand ich bei der Tanbe eine vollstandige, 
bei dem Kaninchen, der Katze, dem Affen und Menschen eine 
partielle Kreuzung. 

Beim Kaninchen bleibt nach dem Ergebniss der Marchi’schen 
Methode nur eine kleine Zahl von Fasern ungekreuzi Ich 
finde im Tractus die ungekreuzten Fasern fiber den ganzen Quer¬ 
schnitt vertheilt. Von einem geschlossenen temporalen unge¬ 
kreuzten Bttndel kann keine Rede sein. 

Bei der Katze bleibt ein grosser Theil der Fasern — 
ca. ein Drittel — ungekreuzi Die ungekreuzten Fasern finde ich vor¬ 
nehmlich an der vorderen und temporalen Seite des Tractus, doch 


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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 439 


fiberzeugt man sich leicht mittels der Marchi'schen Methode, dass 
fiber den ganzen Querschnitt des Tractus sich ungekreuzte 
Fasern finden. Je weiter wir bei der Betrachtung von dem Chiasma 
uns entfernen und dem Corpus geniculatum externum uns nahern, 
um so schoner tritt eine gleichmassige Vertheilung fiber den ganzen 
Tractusquerschnitt hervor. Es dfirfte wohl die Annahme der Wirk- 
lichkeit entsprechen, dass auch im Sehnerven kein geschlossenes 
Bfindel temporal liegender ungekreuzter Fasern existirt. Es 
werden in alien Partien der Sehnerven ungekreuzte Fasern sich finden, 
wenn ja auch zugegeben werden mag, dass die ungekreuzten Fasern 
vornehmlich im temporalen Abschnitt der Sehnerven gelegen sind. 

Beim Affen bleibt ebenfalls ein grosser Theil der Sehnerven- 
fasern — ca. V 3 — ungekreuzt. Bezfiglich der Lagerung der unge¬ 
kreuzten Fasern finde ich die Verhaltnisse beim Affen ziemlich analog 
denen bei der Katze. Speciell betont sei, dass, wenn auch zu Beginn 
des Tractus die Mehrzahl der ungekreuzten Fasern temporal sich 
findet, doch in alien Abschnitten des Tractus ungekreuzte 
Fasern vorhanden sind. 

Auch ftir den Menschen darf ich aus meinen Weigertpraparaten 
wohl denselben Schluss ziehen, denn trotzdem der eine Sehnerv so 
gut wie gar keine normalen Fasern mehr zeigte, waren in beiden Tractus 
normale Fasern in grosserer Zahl zu sehen. Es scheint ausgeschlossen, 
dass im vorliegenden Falle die normalen ungekreuzten Fasern als centri¬ 
fugate Fasern aufzufassen sind. 

PrimSre Optlcusganglien: Bei der Taube finden wir die 
Ausbreitung der Opticusfasern am Lobus opticus rings herum, strecken- 
weise dringen sie ventral und dorsomedial etwas in denselben ein. Zur 
naheren Orientirung wolle man die Abbildungen in Kolliker's Hand- 
buch der Gewebelehre S. 414, in Edinger’s Vorlesungen S. 146 und 
147 sowie meine Abbildung Fig. 1 auf Taf. IX, X nachsehen. 

Beim Kaninchen finden wir Endigungen von Opticusfasern im 
dorsalen und ventralen Kniehocker, im Pulvinar thalami, im 
vorderen Vierhfigel und im proximalen Abschnitt des hinteren 
Vierhfigels. Bemerkenswerth halte ich die Thatsache, dass die un¬ 
gekreuzten Opticusfasern beim Kaninchen sich bis in den Knie¬ 
hocker und ganz vereinzelt bis in das Pulvinar thalami, 
nicht aber bis zum Vierhfigel verfolgen lassen. Es ist dieser 
Befund wegen des Mangels der consensuellen Pupillarreaction be¬ 
merkenswerth. 

Bei der Katze finden wir beiderseits Endigungen von 
Opticusfasern im Corpus geniculatum laterale, im Stratum 
zonale des Pulvinar und im proximalen Vierhfigel. Die Zahl 


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440 


XXVI. Bach 


der Opticu9fasern im Thalamus und Vierhligel ist geringer als beiin 
Kaninchen. 

Beim Affen finden sich Endigungen von Opticusfasern haupt- 
sachlich im Corpus geniculatum laterale, in massiger Zahl im 
Stratum zonale des Pulvinar und im vorderen Vierhtigel. Die 
Zahl der Opticusfasern im Vierhligel des Affen ist wiederum geringer 
wie bei der Katze, des Weiteren finden sich dieselben fast nur im late- 
ralen Bezirk, speciell im vorderen Vierhugelarm. 

Beim Menschen finde ich die beztiglichen Verhaltnisse analog 
denen beim Affen. 

Ganglion habenulae: Endigungen von Opticusfasern im Ganglion 
habenulae konnte ich nicht nachweisen. 

Corpus Luys (Corpus hypothalamicum): 

Directe Beziehungen, d. h. Endigungen von Opticusfasern im 
Corpus Luys fand ich nicht Ich halte den v. Monakow'schen 
und nicht den Bernheimer'schen Standpunkt fftr den richtigen. 

Tractus peduncularis transversus: Beim Kaninchen fand 
ich nach einseitiger Evisceratio bulbi im gekreuzten Tractus peduncularis 
transversus sehr zahlreiche Degenerationsschollen. Einen analogen 
Faserzug konnte ich bei der Katze, dem Affen und dem 
Menschen nicht feststellen. 

Directe Verbindung des Opticus mit dem Oculomotoriuskern. 

In Folge der bestimmten Angaben Bernheimer's habe ich 
speciell darauf geachtet, ob eine directe Verbindung des Opticus mit 
dem Oculomotoriuskern besteht. Es wurde die Versuchsdauer und 
die Schnittrichtung verschiedentlich modificirt, um hierliber moglichste 
Klarheit zu bekommen. Ich glaube nun in Uebereinstimmung mit 
v. Monakow 22 ) Dimmer 8 ) und Anderen mit Bestimmtheit angeben zu 
konnen, dass keine directe, sondern eine indirecte Verbindung 
des Opticus mit dem Oculomotoriuskern besteht. Ich glaube 
mich iiberzeugt zu haben, dass Bernheimer’s 5 ) Angaben auf Be- 
obachtungsfehler zurtickzuftihren sind. Bevor ich in* eine genauere 
Motivirung meines Standpunktes eintrete, mochte ich bemerken, dass 
es mir bei der Durchsicht der Literatur nicht gelungen ist, eine Stfitze 
ftir Bernheimer's Angaben zu finden, denn soviel ich sehe, ist an 
keiner Stelle ein wirklicher Zusammenhang centripetaler 
Bahnen mit centrifugalen, speciell mit motorischen Ganglien- 
zellen erwiesen. 

Auf Grund der Resultate meiner experimentellen Forschungen bin 
ich aus folgenden GrOnden gegen Bernheimer’s Annahme der directen 
Verbindung von Opticus und Oculomotoriuskern: 

Bei der Taube besteht, wie aus der Zeichnung schon hervorgehen 


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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 44 1 

dfirfte — ich bemerke, dass meine sammtlichen Zeichnungen natur- 
getreu, nicht schematisch sind — auch nicht im entfemtesten die 
Moglichkeit, eine solche directe Yerbindung anzunehmen. Ende des 
Opticus- und Oculomotoriuskern sind in alien Schnitten der Serie 
durch eine ziemlich breite, ganz komchenfreie Zone von einander 
getrennt. Auf dem Wege der directen, nachsten Verbindung geht 
Qberhaupt gar kein Faserzug vom Opticusende zum Oculomotorius¬ 
kern hin. 

Beim Kaninchen finde ich beiderseits in den Radiar- und 
Bogenfasern, tiberhaupt in den Fasern, die das centrale Hohlengrau 
begrenzen, die gleichen Schollenverhaltnisse, obwohl bei einseitiger 
Evisceratio bulbi die Degenerationschollen des Opticus nur im ge- 
kreuzten Vierhtigel sich nachweisen lassen. Auch beim normalen 
Kaninchen finde ich in den in Frage stehenden Faserztigen dieselben 
Schollen in gleicher Zahl. Es ist stets ein kornchenfreier Zwischen- 
raum zwischen den Degenerationsschollen in den aussersten Opticus- 
endigungen und den Schollen des tiefen Graues der Haubenregion etc. 
vorhanden. 

Bei derKatze finde ich in den Radiar- und Bogenfasern, in den 
das centrale Hohlengrau begrenzenden Faserzligen etc. auch im no rmalen 
Gehirn eine grossere Zahl Schollen. Dieselbe ist grosser als die Zahl 
der daselbst beim Kaninchen vorhandenen Schollen. Nach einseitiger 
Evisceratio bulbi ist die Zahl der Schollen im gekreuzten Vier- 
htigeldach grosser wie im gleichseitigen, die Zahl der Schollen 
in den genannten Faserztigen jedoch eine gleiche auf beiden 
Seiten. Ein directer Zusammenhang der Degenerationsschollen in 
den Opticusfasern mit den Schollen in den Bogen- und Radiarfasern 
ist nicht nachweisbar. 

Bei dem Affen konnte ich die Degenerationsschollen nur in der 
lateralen Halfte des Vierhtigeldaches nachweisen. Ein nennenswerther 
Unterschied in der Zahl der beiderseits vorhandenen Schollen bestand 
nicht. In den das centrale Hohlengrau begrenzenden Faserztigen, in 
den Radiar- und Bogenfasern finde ich eine massige Zahl kleiner 
Schollen, nur einzelne grobere Schollen. Ich finde die Degenerations¬ 
schollen des Vierhtigeldaches stets in derselben Zone desselben und 
konnte nirgends einen Zusammenhang dieser Schollen mit den Schollen 
in den genannten Faserztigen der Haubenregion nachweisen. Ein 
directer Zusammenhang der Opticusfasern mit den Zellen des Oculo- 
rnotoriuskemes, ein Endigen von Opticusfasern im Oculomotoriuskern 
konnte somit auch beim Affen nicht nachgewiesen werden. 

Meine Untersuchungen haben mir keine Anhaltspunkte 
ftir die Annahme gebracht, dass die sogenannten Pupillar- 


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XXVI. Bach 


fasern spater degeneriren, wie die Sehfasern. JEs besteht da- 
her kein Grund zu der ADnahme, dass in dem von Dimmer 8 ) unter- 
suchten menschlichen Gehim die directe Verbindung der Pupillarfasern 
mit dem Oculomotoriuskern deshalb nicht festgestellt werden konnte, 
weil der Termin fttr die Degeneration der Pupillarfasern ein zu kurzer 
war. Dimmer hat ebenso wie v. Monakow 22 ) und ich den Zu- 
sammenhaug des Opticus mit dem Oculomotoriuskern nicht nachweisen 
konnen, weil er factisch nicht existirt. Bernheimer’s gegentheilige 
Angabe beruht auf Untersuchungsfehleru. 

Ramon y Cajal 7 ) nimmt bei der Darstelluug seiner Ergebnisse 
fiber die Opticusendigungeu, die er mit der Marchi’schen Methode 
erhielt, nicht eigens Bezug auf die Frage einer directen Verbindung 
des Opticus mit dem Oculomotoriuskern. Es dlirfte die Annahme be- 
rechtigt sein, dass auch Ramon y Cajal nichts davon hat constatiren 
konnen, denn sonst hatte er der Sache Erwahnung thun mfissen, da 
seine Untersuchungen speciell mit der Golgi*schen Methode ergeben 
haben, dass die centripetalen Opticusfasern im Stratum zonale des Vier- 
htigels endigen und dort ihre Erregung auf andere Zellen fiber- 
tragen. 

In gleichem Sinne aussert sich v. Kolliker ,5 ). Wer sich genauer 
fiber die Art und Weise und den Ort der Endigung der centripetalen 
Opticusfasern, den Beginn der centrifugalen Opticusfasern orientiren 
will, den verweise ich speciell auf v. Kolliker's Handbuch der Ge- 
webelehre und auf Ramon y Cajal’s Arbeit: „Beitrag zum Studium 
der Medulla oblongata etc.“ ins Deutsche flbersetzt von J. Bresler, 
Verlag von J. A. Barth, Leipzig 1896. 

Ich halte mich fiir berechtigt, auf Grund der im Vorstehenden mitge- 
theilten eigenen Untersuchungsergebnisse, auf Grund der Mittheilungen 
von v. Monakow, Dimmer, v. Kolliker, Ramon y Cajalund Anderen 
die Behauptung aufzustellen, dass ebenso wie an anderen Stellen 
des Nervensystems ein directer Zusammenhang centripetal 
leitender Nerven mit einem motorischen Nerven nicht nach- 
gewiesen ist, auch der Nachweis einer directen Verbindung 
des Opticus mit dem Oculomotoriuskern nicht erbracht ist, 
dass dagegen ziemlich sicher bewiesen sein diirfte, dass nur 
eine in directe Verbindung des Opticus mit dem Oculomotorius¬ 
kern besteht. 


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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 443 


Studien fiber die yon den prim&ren Opticusganglien zum 
Rfickenmark absteigende und yon da zum Oculomotoriuskern 
(Ganglion cillare?) aufisteigende Pupillarreflexbahn. 

I: 

Yon den primaren Opticusganglien, speciell vom Vierhtigel 
zum Rfickenmark absteigende Reflexbahn — Reflexcentrum. 

Man ist vielfach der Meinung gewesen, auch in neuester Zeit haben 
sich Stimmen hervorragender Anatomen daffir ausgesprochen, dass die 
in derHaubenregion sichtbaren Bogen- und Radiarfasem ffir dieUeber- 
tragung der Opticuserregung in Betracht kamen. Die Zellen dieser Fasem 
liegen zum Theil dicht neben den Enden der Opticusfasem und es 
ware somit ganz gut moglich, dass die Opticuserregung auf die Zellen 
der Bogen- und Radiarfasem uberginge. Ich muss auf Grand meiner 
Untersuchungen zugeben, dass vielleicht ein Theil der Bogen- und 
Radiarfasem in den Oculomotoriuskern eintritt und daselbst endet, 
der weitaus grosste Theil dieser Fasem tritt jedoch nicht in den 
Oculomotoriuskern ein, und wir mfissten deshalb annehmen, dass die 
Bogen- und Radiarfasem jedenfalls noch anderweitige Functionen zu 
erfullen haben, als den Pupillarreflex auszulosen. Kommen diese 
Fasem als Hauptbahn zur Auslosung des Pupillarreflexes in Betracht, 
dann losen sie den Reflex nicht auf dem kflrzesten Weg aus, sondem 
sie ziehen erst nach der Haubenkreuzung im Hirnstamm gegen die 
Medulla hin und fibertragen erst im obersten Theil des Ruckenmarks 
ihre Erregung indirect auf motorische Elemente. 

In meiner Arbeit: „Zur Lehre von den Augenmuskellahmungen 
und den Storungen der Pupillenbewegung etc.“ habe ich auf Grand 
der Mittheilungen von v. Forster und Rieger 25 ), von Meynert, und 
Stilling 16 ), von Exner 16 ), von Rosenthal nndMendelssohn 26 ) und 
von G. W olf 29 ), auf Grand von Decapitationsversuchen, die ich angestellt 
hatte, die Ansicht ausgesprochen, dass die Vierhfigelgegend nicht das 
Reflexcentrum flir die Pupillenverengerung sein konne. In dieser 
Annahmewurde ich bestarkt durch Untersuchungen von Gaupp 10 ), die mir 
damals leider nicht bekannt waren, durch hohe Ruckenmarksdurch- 
schneidungen, die ich an Kaninchen und Katzen vomahm und die ich 
nachher noch leben liess, besonders auch durch das Studium der Literatur 
der Vierhtigel- und Zirbeldrusenerkrankungen (siehe Nr. 3 des Literatur- 
verzeichnisses). 

In gewissem Sinne durften die vorstehend mitgetheilten Unter- 
suchungsergebnisse auch gegen die Annahme sprechen, dass das 
Vierhiigeldach das Reflexcentrum ffir die Pupillenverenge¬ 
rung ist und zwar aus folgenden Grtinden: 


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XXVI. Bach 


Bei dem Kaninchen, bei dem die Pupillenverengerung auf Licht- 
reiz eine wenig ausgiebige ist, sehen wir nach der Evisceratio 
bulbi die starksten Veranderungen im Vierhflgeldach auftreten, bei 
der Katze, die eine lebhafte und ausgiebige Pupillarreaction be- 
sitzt, sind die Vierhtigelveranderungen trotz der doppelseitig auf- 
tretenden Schollen viel geringer, noch geringer sind die Veranderungen 
beim Affen und Menschen. 

Es steht somit die Zahl der zum VIerhflgel hlnzleheiiden 
Opticusfasern, die ja doch zur Zeit ausschliesslich als die soge- 
nannten Pupillarfasern aufgefasst werden, im umgekehrten Ver- 
h&ltniss zur Lebhaftigkeit der Pupillenreaction. 

Die beim Kaninchen und bei der Katze zum Vierhttgel hin- 
ziehenden Opticusfasern durften somit wahrscheinlich auch fftr die 
Sehfunotion in Betracht kommen. Um so auffalliger ist dann aller- 
dings der Umstand, dass beim Kaninchen die wenigen ungekreuzten 
Fasern nur bis zum Kniehocker und Thalamus sich verfolgen lassen, 
nicht aber bis zum Vierhugel. 

Es dlirfte im Hinblick auf diese Thatsache vielleicbt nicht unan- 
gezeigt erscheinen, den zum Thalamus ziehenden Opticusfasern in 
Bezug auf ihre Function fhrderhin besondere Aufmerksamkeit zu 
schenken. 

Nachdem ich die gelaufige Annahme, dass das VierhUgeldach als 
das Reflexcentrum anzusehen sei, als unbegrtindet bezeichnet, dagegeu 
behauptet hatte, dass das Reflexcentrum in den untersten Be- 
reich der Medulla oder die oberste Partie des Halsmarkes zu 
verlegen sei, war ich in gewissem Sinne nun auch verpflichtet, darnach zu 
forschen, welche Faserbahn desHirnstamms alsabsteigender Schenkel 
yon den primaren Opticusganglien aus zum Halsmark, welche Bahn 
als aufsteigender Schenkel zum Oculomotoriuskern oder Ganglion 
ciliare in Betracht zu ziehen sei. 

Dass als aufsteigender Schenkel wohl das hintere Langs* 
btindel in Betracht kommen konnte, habe ich friiher schon als wahr¬ 
scheinlich bezeichnet, iiber den absteigenden Schenkel jedoch war 
ich zunachst vollkommen ‘im Unklaren und Anfragen bei einigen 
mir bekannten Anatomen haben dieses Dunkel nicht zu lichtcn 
vermocht. 

Durch das Studium der Werke von v. Kolliker 15 ), Edinger 9 ), 
v. Bechterew 4 ), v. Monakow 22 ) und einiger neuer Arbeiten bin ich 
zunachst zu der Ansicht gekommen, dass am wahrscheinlichsten die 
Schleife als absteigender Schenkel der Pupillarreflexbahn in Be¬ 
tracht kommen diirfte. 

Es scheint mir angezeigt, einige Ansichten liber Ursprung und 


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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 445 

Ende der Schleife, ihre Lagerung im Hirnstamm, speciell 
auch fiber ihre Verbindungen mit den primaren Opticus- 
ganglien einerseits und dem Rttckenmark andererseits hier 
anzufiihren. Ich halte mich hierbei zunachst an das Werk 
y. Bechterew’s: „Die Leitungsbahnen im Gehirn und Rfickenmark w . 


Die Schleife, welche nach den vergleichend anatomischen Unter¬ 
suchungen Edinger’s nnd den experimentellen Ergebnissen v. Monakow’s 
die secundaren sensorischen Bahnen enthfilt, bildet einen Haupt- 
bestandtheil der Haube. Unter Haubenregion versteht man dasjenige 
Hirngebiet im Mittelhirn, welches nach oben vom Thalamus opticus, vom 
Meynert’schen Biindel und beiden Corpora geniculata, dorsal und medial 
von der Vierhiigelplatte und dem centralen Hfihlengrau des Aquaeductus 
Sylvii, ventral von der Substantia nigra und weiter caudalwarts von der 
Querfaserung des Pons begrenzt wird. Die Haubenregion geht ohne Grenzen 
in die Oblongata fiber (Forel). 

In der Haube ist die Fortsetzung sfimmtlicher Faserztige 
zu suchen, welche im Rfickenmark je ubereinanderliegende Quer- 
schnitte grauer Substanz mit einander verkntipfen. Die Fasern 
der Hinterstrfinge treten am unteren Winkel der Rautengrube mit den 
Kernen des zarten Stranges und des Keilstranges in Verbindung. Aus 
den Neuriten der Zellen dieser Kerne entwickeln sich Fasern, welche 
grossentheils zur Bildung der hinteren oder oberen Kreuzung (Schleifen- 
kreuzung) zusammentreten. Letztere stellt also die cerebrale Fort¬ 
setzung der Hinterstrfinge vor und besteht sowohl aus Fasern der 
Burdach'schen als auch der Goll’schen Kerne. 

Es sei hier an die Befunde von Gaupp und G. Wolff erinnert. 
Gaupp wies auf Grund eines Materials von 38 Paralytiker-Rtickenmarken 
nach, dass immer, wenn Pupillenstarre bestanden hatte, Degenerationen in 
den Hinterstangen sich nachweisen liessen, die durchaus denen bei Tabes 
glichen, und zwar auch bei Fallen, die im Leben keine sonstigen klinischen 
Symptome von Tabes geboten hatten. Umgekehrt h&tten die Falle, welche 
nur Seitenstrangdegeneration aufwiesen, intra vitam normalen Pupillen- 
befund geboten. Ebenso wie mit den Pupillenstorungen verhalte es sich 
mit den Augenmukelstorungen, Opticusatrophie u. s. w. W T o sie vorhanden 
waren, bestanden Hinterstrangsverfinderungen. 

Wolff fand bei den Paralytikern, welche Pupillenstarre zeigten, 
Degeneration in den Hinterstrfingen des Halsmarks, bei den Fallen, wo 
der Pupillenbefund normal war, wurde die Degeneration im Halsmark vermisst. 

Bei zuktinftigen Untersuchungen von Rfickenmarken von Paralytikern 
undTabetikern ware speciell darauf zu achten, wie die alleroberste Partie 
des Halsmarks sich bei dem Fehlen der Pupillenverengerung auf Licht- 
einfall und umgekehrt bei normaler Pupillenreaction verhfilt. Es ware weiter 
auch dieWeite der Pupillen zu beach ten und zu erforschen, ob bei 
den Fallen mit spinaler Miosis die Veranderungen schon weiter unten 
beginnen und daselbst etwas mehr ausgeprfigt sind als bei den Fallen ohne 
spinale Miosis. 

Ich fahre nun fort in der Beschreibung der Schleife. Als Schleifen- 
schicht bezeichnet man eine Lage von weissen Markfasern, welche die 


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XXVI. Bach 


Fortsetzung von Fasern bilden, die ans dem Nucleus funiculi cuneati zu- 
nftchst in die Olivenzwischenschicht gelangen. Die bereits in der unteren 
Briickengegend deutliche Scheibe riickt, wfthrend ihr neue Faserzuge aus 
anderen Quellen zufliessen, in der Vierhiigelgegend nach und nach an die 
laterals Seite der Haube und bietet daselbst auf Querschnitten die Form 
einer medianw&rts offenen Sichel dar. Diese Gestalt bewahrt die Schleife 
bis zu den oberen Abschnitten des vorderen Vierhiigels. 

In topographischer Beziehung werden in der Schleifenscbicht gegen- 
w&rtig verschiedene Theile unterschieden. Hier sei nur bemerkt, dass die 
Hauptschleife, der wesentlichste Bestandtheil der Schleifenschicht, sich durch 
den gesammten Hirnstamm erstreckt. 

Zu der Schleife gesellen sich auch Faserzuge der Vorderseiten- 
str&nge, welche in der vorderen Ruckenmarkscommissur sich kreuzen. 
Dieselben lassen sich vom oberen Theil des Riickenmarkes bis zum Seh- 
hiigel verfolgen. 

Es wurde bereits erwllhnt, dass die Schleife auch Bundel enthalt, 
welche aus den Hinterstrangen des Riickenmarkes hervorgehen. Diese 
Bundel schlagen 2 verschiedene Richtungen ein. Die einen beginnen schon 
in der hinteren Vierhiigelgegend l&ngs dem Rande des Hirnschenkels distal¬ 
warts umzubiegen, worauf sie alsbald mit dem lateralen Schleifenkern (Corpus 
parabigeminum), welcher zwischen den beiden Vierhugelpaaren in der 
lateralen Haubengegend liegt, in Verbindung treten. Der gross ere 
Theil jedocli der aus den Hinterstrangen des Riickenmarkes 
stammenden Fasern der Schleife erreicht die laterale Gegend 
des vorderen Vierhiigels. Ich erlaube mir hier auf die Abbildungen 
567 und 568 des Handbuches der Gewebelehre von Kblliker und die 
Abbildung 220 in Edinger’s Vorlesungen zu verweisen. Mit diesen Ab¬ 
bildungen waren dann die dieser Arbeit beigegebenen Abbildungen, speciell 
auch die auf den Affen sich beziehende (Fig. 6) zu vergleichen. Man wird 
dann begreifen, dass die Schleife sehr gut als secundare sensorische Bahn 
des Opticus in Betracht. kommen kann. 

Bemerkt sei hier auch, dass ein Theil der Schleifenfasern die 
Meynert’sche Commissur mitbildet und daselbst sich kreuzt. 

Auf die directen Beziehungen der Schleife zur Gehirnrinde glaube 
ich hier nicht naher eingehen zu sollen, ich erwahne nur, dass eine solche 
Verbindung angenommen wird. 

Es wird angegeben, dass in der Schleife sowohl aufsteigende wie 
absteigende Fasern vorhanden sind. Einige der zum Beweis dieser An- 
nahme dienenden pathologischen Falle sollen hier kurz erwahnt werden. 

Meyer (Arch. I Psych. Bd.. XVII. 1886) beobachtete nach einer 
Affection ventral von den Hinterstrangkernen mit Uebergang auf die 
Fibrae arciformes internae Degeneration in der contra-lateralen Oliven- 
zwischen- und Schleifenschicht bis hinauf zum vorderen Vierkugel. 

Schaffer beschreibt einen Fall von ZerstOrung der Burdach’schen 
und Goll’schen Kerne durch einen Tnberkel im rechten hinteren Theil der 
Rautengrube. Es fand sich aufsteigende Degeneration der linken Oliven¬ 
zwischenschicht und Schleife bis hinauf zur Gegend des vorderen Vierhiigels. 

Weitere Beobachtungen bitte ich in v. Bechterew’s genanntem Buch 
S. 246, 247 und 248 nachzusehen. 

Weiterhin linden sich in der Literatur nicht wenige F&lle, wo neben 


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Experi men telle Untereuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 447 

aufsteigender auch absteigende Degeneration der Schleife be- 
obachtet wnrde; zahlreicher noch sind die Ffille, in welchen nur ab¬ 
steigende Degeneration der Schleifenschicht vorlag. 

In einem von v. Bechterew veroffentlichten Falle von syphilitischer 
Sklerose sass ein Herd von Hanfkorngrosse unterhalb des hinteren Vier- 
hiigels im Gebiete der Schleifenschicht und erstreckte sich theilweise in 
die Region der centralen Haubenbahn hinein. Es bestand absteigende 
Degeneration dieser Haubenbahn, sowie auf- und absteigende Degeneration 
der Schleifenschicht. Die absteigende Faserdegeneration in der Schleife 
ging dicht bis zu den atrophischen Hinterstrangkernen, die aufsteigende 
reichte von dem vorhin erw&bnten Herd bis zu dem hinteren Abschnitte 
des Thalamus. 

F&lle von absteigender Degeneration der Schleife sind bereits in grosser 
Zahl bekannt. Einige derselben seien bier kurz erwfihnt. 

In einem von Hfisel (Arch. f. Psychiatr. XXV. 1893) erwahnten Falle 
sass in dem Haubengebiet des rechten Hirnschenkels ein Herd, welcher bis 
in die Gegend des hinteren Sehhiigelabschnittes, des Pulvinar und der 
inneren Kapsel sich erstreckte. Die Untersuchung ergab unter anderem 
Degeneration der Schleifenschicht, von den contralateralen Hinterstrang¬ 
kernen beginnend, durch die sensible Kreuzung hindurch lfings des Hirn- 
stammes bis zur Capsula interna. 

In einem Falle, den Henschen 14 ) erwahnt, bestand rechterseits eine 
Narbe im fiusseren Theil des vorderen Vierhiigels, die den mittleren Ab- 
schnitt der Schleifenschicht in Mitleidenschaft gezogen hatte. In Abh&ngig- 
keit von dieser Narbe entwickelte sich absteigende Degeneration der 
Schleife, Atrophie der rechten Olivenzwischenschicht, der Fibrae arcuatae 
internae und des Nucleus funiculi cuneati linkerseits. 

v. Monakow erwahnt in seiner Gehirnpathologie, dass es nach grosseren 
Blutergussen in der oberen Brfickenetage zu einer allerdings langsam ver- 
laufenden, aber schliesslich mit einer nahezu volligen Vemichtung ihrer 
Fasern endigenden secundaren Entartung der Schleife und zwar nicht nur 
in aufsteigender, sondern — wenn auch erst nach Monaten — auch in 
absteigender Richtung gekommen sei. Im Verlauf von Jahren geht die 
absteigende Degeneration auf die Kerne der Hinterstrange der gegenfiber- 
liegenden Seite fiber. 

Mott 23 ) durchschnitt bei einem Affen die linke lateral© Schleife dicht 
fiber dem Pons, zugleich erfolgte eine leichte Lfision des linken Thalamus 
opticus, sowie eine schwere des linken unteren Vierhiigels und des Corpus 
geniculatum externum. Es fand sich eine absteigende Degeneration der 
Schleife, besonders in ihren mittleren Partien, eine solche des Corpus 
trapezoides und des Stratum interolivare links, rechts eine solche der inneren 
Fibrae uniformes und der Hinterstrangkerne. 

Es darf aus den erwahnten und einer Anzahl weiterer Beobach- 
tungen gefolgert werden, dass die Schleifenschicht ausser aufstei- 
genden Bahnen zweifellos auch eine Anzahl absteigender Fasern be- 
sitzt. Welche Theile der Schleife in letzter Hinsicht hauptsachlich in 
Betracht kommen, dariiber haben weitere, speciell experimentelle Unter- 
suchungen mit der Marchi’schen Methode definitiv zu entscheiden. 


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XXVI. Bach 


Aus Edinger’s Vorlesungen, worin wir viele wichtige, auf ein- 
gehenden Untersuchungen beruhende Angaben fiber die Schleife und 
deren Beziehungen finden, will ich bier nur einige Bemerkungen fiber 
die Schleife im Zusammenhang mit Angaben tiber die vorderen 
Vierhiigel citiren. 

Edinger sagt, vom Vierhiigeldach sei Folgendes sichergestellt: 

Fasern aus dem Opticus, die der Retina entstammen, und Fasern aus 
der Sehstrahlung, also vom Occipitallappen her. Es sei bekannt, dass aus 
Zellen im Vierhiigeldach Fasern entspringen, die in den Sehnerv gelangen, 
und solche, welche sich basalwarts zur Schleife wenden. Ausserdem sei 
nachgewiesen, dass in dem mittleren Grau des Vierhugels zahlreiche Zellen 
vorhanden sind, deren Axencylinder zum grossten Theil hinab in die 
Schleifenschicht gelangen, deren Dendriten sich aber um die feinen End- 
pinsel verasteln, welche der Sehnerv in das oberfl&chliche Grau schickt 
Das tiefe Mark der Vierhiigel enthalte die aus den Vierhiigeln entspringen- 
den und die einmiindenden Fasern der Schleifenschicht. 

Zur weiteren Orientirung fiber die Schleife und speciell auch ihrer 
Beziehungen zum vorderen Vierhiigel verweise ich ferner auf 
v. Kollikers eingehende Untersuchungen, die er in seinem Handbuch 
Seite 405 und ff. niedergelegt hat. Wir finden daselbst auch treff- 
liche, wesentlich zur Orientirung beitragende Abbildungen. 

Auch in Ramon y Cajal’s Abhandlung: „Beitrag zum Studium 
der Medulla oblongata, des Kleinhirns und des Ursprungs der Gehirn- 
nerven M sowie in seiner Monographic „fiber die Structur des Chiasma 
opticum nebst einer allgemeinen Theorie der Kreuzung der Nerven- 
bahnen“ findet sich eine Reihe von Angaben, die hier interessiren. 
Einige derselben sollen hier Erwahnung finden. 

Bei der Besprechung der optischen Bahnen des Thalamus sagt 
er (S. 107): „Sie unterscheiden sich in eine oberflachliche und eine tiefe 
Bahn. Die oberflachliche tritt aus den oberflachlichen Zonen des Corpus 
geniculatum externum und vielleicht aus der Gegend des Stratum zonale 
hervor. Diese Bahn gesellt sich zum Theil der Fortsetzung des Tractus 
opticus selbst bei und wendet sich, im Pedunculus cerebri angelangt, nach 
innen, um in die obere Portion des letzteren einzutreten. 

Die tiefe Bahn ist viel wichtiger; sie sammelt die Axencylinder der 
tiefen Zellen des Corpus geniculatum sowohl wie des Stratum zonale, 
ordnet sich in Bogen mit nach aussen gerichteter Concavitat und tritt in 
die centrale optische Bahn ein. 

Eine interessante Thatsache miissen wir hier beziiglich der Art, wie 
die Opticus-Stabkranzfasern in der centralen Bahn enden, constatiren. Die 
Fortsetzung in die Pedunculusfasem findet zuweilen mittels einfacher Um- 
biegung statt, ofters aber mittels Bifurcation; der aufsteigende Ast tritt 
mit dem centralen Opticusbiindel in das Corpus striatum, der absteigende 
zieht mit dem Pedunculus vielleicht bis in die Gegend der Haube hinab; 


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Experimen telle Untersuchungen und Studien iiber den Verlauf etc. 449 


es diinkt uns nicht nnwahrscheinlich, dass dieselben eine Reflexbabn zwischen 
den Sehcentren nnd den motorischen Herden des Auges, des Kopfes und 
des Halses bilden. M 

Verweisen will ich hier auch auf die Seite 114 und 115 befindlichen 
Angaben iiber das absteigende Biindel der Haube, das er vom vorderen 
Vierhiigel bis unter die Briicke verfolgte. 

Bei der Beschreibung des vorderen Vierhiigelpaares sagt Ramon y 
Cajal, dass in dem vorderen Vierhiigel eine Zone von markhaltigen Nerven- 
fasern existire, welche aus dem Tractus opticus stammen. Die Fasem 
dieser Schicht senden Collateralen aus, theils aufsteigende zum dariiber 
liegenden grauen Stratum, theils absteigende, die sich in der centralen 
grauen Substanz verzweigen. Er hat diese absteigenden Collateralen sowohl 
bei M&usen als bei Kaninchen und Katzen impr&gnirt. Dieselben sind sehr 
zahlreich, lang und entspringen aus dem ganzen Gebiet der Opticusfaser- 
schicht; sie losen sich in den tiefen Schichten, besonders in dem Stratum 
profundum album cinereum (Tartuferi) in ausgedehnte Verzweigungen 
auf, welche die optische Erregung den grossen Zellen dieses 
Stratum zufiihren. Da einige der letzteren, besonders die 
lateral gelegenen, ihre Nervenforts&tze zur Medulla oblongata 
senden (absteigendes Biindel des vorderen Vierhiigels), diirften 
mittels der erwahnten Collateralen optisch-muscul&re Reflexe 
zu Stande kommen konnen, an welchen auch das hintere Lflngsbiindel 
betheiligt ware. Auch in dem centralen Hohlengrau enden viele absteigende 
Collateralen. 

In seiner Abhandlung iiber das Chiasma u. s. w. sagt Ramon y Cajal 
von den optischen Reflexbahnen Seite 43 Folgendes: „Bekanntlich gehen 
vomLobulu8 opticus der niederen Wirbelthiere sowohl wie vom 
vorderen Vierhiigel der S&ugethiere absteigende Bahnen aus, 
dazu bestimmt, die Lichteregung auf die motorischen Centren 
der Medulla oblongata et spinalis zu iibertragen. Diese Bahnen 
bilden 2 Ziige, einen kleinen gleichseitigen und einen ent- 
gegengesetzten st&rkeren. Letzterer kreuzt die Mittellinie und in 
dem Lobulus der entgegengesetzten Seite angekommen, wendet er sich zum 
grossen Theil abwarts, vorzugsweise das absteigende Biindel der Haube 
bildend. Es existiren in der That gekreuzte Fasern iiber dem Aquaeductus 
Sylvii und ebensolche unterhalb des hinteren L&ngsbiindels. 

Wir wollen hier diese optischen Reflexbahnen nicht im Detail erortern; 
ihre motorischen Verbindungen sind noch in recht tiefes Dunkel gehiillt. 
Es liegt uns nur daran zu zeigen, dass die allgemeine Anordnung dieser 
Bahnen mit der Theorie iibereinstimmt. Da n&mlich die fundamentale 
Krenzung der Sehnerven und das Vorwiegen der, der Seite der Erregung 
entsprechenden Muskelreflexe eine gegebene Thatsache ist, so war zu er- 
warten, dass die optische Reflexbahn der entgegengesetzten Seite die homo- 
laterale an Bedeutung ubertreffen wiirde, und eben dies ist wirklich der 
Fall. Bei den Vertebraten mit panoramischem Sehen, bei welchen jedes 
Auge unabh&ngig functionirt (monolaterale Pupillenreation, Mangel der 
Convergenz u. s. w.), sind die gleichseitigen optischen Reflexfasern sehr 
sp&rlich. E dinger, der diesen Punkt bei den Fischen, Reptilien und 
Batrachiem sehr genau studirt hat, beschreibt und zeichnet als gekreuzt 
die grosse Mehrzahl der absteigenden, im Lobulus opticus entspringenden 


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450 


XXVI. Bach 


Btindel (Tractus tecto-spinales und tecto-bulbares), nicht zu gedenken der 
dorsalen Kreuzung des Tectums, welche yielleicht den absteigenden, in der 
ventralen Region dieses Organs nicht gekrenzten Fasern entsprechen kbnnte. 
Wir glanben trotzdem nicht, dass, selbst bei den niederen Wirbelthieren, 
die homolateralen Fasern ganz fehlen, da das Znsammenwirken gewisser 
Angenbewegongen (Erliebung nnd Senknng der Augen, Accommodation 
anf Entfernnngen n. s. w.) die bilaterale Contraction einiger Muskeln er- 
fordert. u 

Wenn auch die voraufgehenden Mittheilungen es wahrscheinlich 
machen, dass wir in der Schleife die secundare sensorische 
Bahn des Opticus zu suchenhaben, so sinddieDarlegungendoch weit 
entfernt, hierflir den Beweis zu erbringen. Weiteren Untersuchungen 
ist es vorbehalten,das beziiglich der optischenReflexbahn noch berrschende 
Dunkel zu lichten. 

Erwahnen will icb hier noch die sehr wohl discutirbare Ansicht 
v. Bechterew's, dass die Haubenkreuzung optische Reflexe zu 
den Organen der Motilitat leitet. Es wtirde somit schon auf 
reflectorischem Wege eine Uebereinstimmung zwischen Gliedmassen- 
bewegung und Lichteindriicken herbeigeflihrt Die mit dem vorderen 
Vierhtigel in Verbindung stehende laterale Schleife wurde den Organen 
der Bewegung gleichzeitig acustische Reize ttbermitteln. 

Ich habe bei meinen obigen Ausflihrungen der herrschenden An- 
nabme mich angeschlossen, dass hauptsachlich oder sogar ausschliess- 
lich die zum vorderen Vierhiigel hinziehenden Opticusfasern als die 
optischen Reflexfasem (Pupillarfasern) in Betracht kommen. Nun ist 
aber meiner Meinung nach kein strikter Beweis hierflir erbracht und 
es ware immerhin moglich, dass auch die zum Thalamus ziehenden 
Opticusfasern zum Theil optische Reflexe vermitteln konnen. Es ent- 
springen daselbst ebenfalls zahlreiche Schleifenfasern. 

H. 

Vom Riickenmark zum. Oculomotoriuskern (Ganglion ciliare?) 
au&teigende Reflexbabn. 

Wahrend wir die von den primaren Opticuscentren nach der Medulla 
oblongata oder dem obersten Theil des Halsmarkes absteigende 
optische Reflexbahn noch als sehr wenig sichergestellt bezeichnen 
mussten, besteht etwas mehr Sicberheit daftir, dass als aufsteigende 
Bahn das hintere Langsbiindel in Betracht kommen diirfte. Es 
ist von verschiedenen Seiten, auch vom Verfasser, mit Bestimmtheit 
angegeben worden, dass zahlreiche Fasern des hinteren Langsbflndels 
in den Augenmuskelkernen enden, deren Function wohl kaum eine 


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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 45 1 

andere sein kann, als die von Zaleitang sensibler Einflfisse vom 
Rttckenmark her. 

In Folgendem will ich kurz verschiedene Ansichten fiber 
das hlntere Lfingsbiindel anffihren. 

Ich folge hierbei der Darstellung Ramon y Cajal's, die kurz und 
dabei doch ziemlich erschopfend ist. Einige Bemerkungen entnehme 
ich der 6. Auflage von Edinger’s Vorlesungen, sowie einer schriftlichen 
Mittheilung des Herrn Privatdocenten Dr. A. Tschermak in Leipzig. 
Ffir sein liebenswfirdiges Entgegenkommen sage ich Herrn Collegen 
Tschermak auch hier meinen verbindlichsten Dank. 

Eine eingehende Betrachtung hat v. Kolliker dem hinteren Langs- 
bfindel gewidmet, worauf ich zur weiteren Information verweisen will. 

Ramon y Cajal sagt: Die physiologische Bedeutung des hinteren 
Lfingsbtindels sowie der Ursprung und das Ende seiner Fasern bilden einen 
der meist umstrittenen Punkte der Neurologie. 

Edinger z. B. betrachtet das L&ngsbtindel als ein System von Fasern, 
dazu bestimmt, die motorischen Centren des Sehapparates (Oculomotorius-, 
Trochlearis- und Abducenskern) mit den tibrigen motorischen Kernen des 
Bulbus rachiticus zu verbinden. 

Es ffihrt Bahnen aus der Thalamusgegend ’ und dem Mittelhirn weit 
hinab bis zum Riickenmark, nimmt unterwegsT nicht nur vielfach neue 
Ztige auf, sondern giebt auch, tiberall besonders an die Kerne der Hirn- 
nerven, Collateralen ab. Die frontalsten Ztige stammen nach Edinger 
zweifellos aus einer dtinnen Commissur am caudalen Ende der Thalamusbasis. 
Von da erheben sich die Btindelchen dorsal warts, um ganz nahe der Median- 
linie unter dem centralen Gran am Boden des Aquaeductusanfanges rtick- 
wtirts zu biegen. Hier gesellen sich mtichtige Fasernmassen bei, die alle 
aus einem grossen Kern stammen, der, vorn im Haubenwulste liegend, bis 
in den Thalamus hineinragt. 

Spitzka misst dem hinteren Lfingsbtindel die Bedeutung bei, die Seh- 
sphtire mit den Ursprungskernen der motorischen Augennerven, sowie mit 
denen der Muskeln des Kopfes und des Halses zu verbinden. 

Nach Jakowenko, welcher diesen Punkt mittels der Degenerations- 
methode studirt hat, soli das Ltingsbtindel kurze Bahnen enthalten, dazu 
bestimmt, getrennte Punkte der grauen Substanz mit einander zu ver¬ 
binden, ausserdem lange, aufsteigende Bahnen vielleicht sensibler Natur. 

Obersteiner nimmt an, dass das Lfingsbtindel kurze Bahnen enthfilt, 
mittels deren sich von der Medulla bis zum Gehirn alle motorischen Kerne 
unter einander verbinden. Vielleicht berge dieser Strang auch directe 
motorische Axencylinder, z. B. solche, die in den Kernen des Trochlearis und 
Oculomotorius entspringen und nach einem longitudinalen Verlauf sich den 
motorischen Wurzeln einverleiben. 

Held huldigt in der Hauptsache der Idee, dass dieses Btindel eine 
zwischen den optischen und akustischen Centren einerseits und den moto¬ 
rischen Kernen des Auges andererseits etablirte Reflexbahn darstellt. Nach 
diesem An tor enthfilt das hintere Lfingsbtindel ab- und aufsteigende Axen¬ 
cylinder: die absteigenden stammen aus Zellen, die im vorderen Vierhugel 
Deutsche Zeitscbr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 30 


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XXVI. Bach 


in der Nahe der hinteren Commissur gelegen sind; diese Forts&tze sind 
directe und gekreuzte. Im Langsbiindel angelangt liefern sie Collateralen 
fur die motorischen Augenkerne and das Deiters’sche Ganglion and setzen 
sich schliesslich in den Vorder-Seitenstrang der Medulla fort. 

Die Herkunft der aufsteigenden Fasern ist Held unbekannt. 

v. Kblliker halt das genannte Biindel fur die Fortsetzung des Vorder- 
seitenstranges der Medulla und misst ihm die Bedeutung einer gekreuzten 
sensiblen Bahn bei, dazu bestimmt, die spinalen sensiblen Herde mit den 
hoher gelegenen motorischen Kernen in Verbindung zu setzen. 

Cramer versichert, dass der grosste Theil der Fasern des hinteren 
Langsbiindels aufsteigenden Verlauf hat und in dem von Darkschewitsch 
angegebenen Herd endet. Nach unten soil dieses Biindel, wie v. Kolliker 
und Held angeben, in den Vorderseitenstrang der Medulla sich fortsetzen. 

van Gehuchten hat das hintere Langsbiindel bei der Forelle studirt 
und betrachtet es als eine motorische absteigende Bahn, deren Ursprungs- 
zellen an verschiedenen Punkten der Medulla oblongata und des Mittelhirnes 
liegen und deren Axencylinder zahlreiche Collateralen zu den motorischen 
Kernen senden sollen. 

Mahaim hat nach Exstirpation der motorischen Augennerven 
(Gudden’s Methode) einen Theil der Fasern des hinteren Langsbiindels 
verschwinden sehen; er halt es deshalb fur wahrscheinlich. dass die ver- 
schwundenen Fasern einer zwischen dem sensiblen Endkern des Trigeminus 
und dem Oculomotorius bestehenden Associationsbahn entsprechen. 

Ramon y Cajal hat seine Studien iiber das hintere L&ngsbiindel 
hauptsachlich an Sagittalschnittserien von Mauseembryonen angestellt. 

Die Fasern des hinteren Langsbundels, besonders diejenigen, welche 
zum Oculomotorius- und Trochleariskern Collateralen senden, werden, bei 
der letzten Gruppe motorischer Zellen anlangend, ausserst diinn und enden 
mit freien Verzweigungen theils in Edinger’s Kern des hinteren Langs¬ 
bundels, theils viel spater, mitten im Thalamus opticus. 

Die Fasern des hinteren Langsbiindels reprasentiren auf- 
steigende sensible Fasern zweiter Ordnung, daneben sollen aber 
auch absteigende Fasern im hinteren Langsbiindel vorhanden sein. Des 
Weiteren sollen neben den absteigenden sensiblen Fasern in das Langs- 
biindel kraftige Axencylinder eintreten, welche ihre Ursprungszellen im 
rothen Kern haben. Die sensiblen und sensorischen Ziige des hinteren 
Langsbiindels stammen aus dem Deiters’schen Kerne, aus dem Trigeminus 
und aus den Zellen der weissen reticuiaren Substanz. 

Von diesen sensiblen Faserzugen ist der wichtigste der des Deiters- 
schen Ganglions. Aus diesem Ganglion gehen hauptsachlich jene groben 
aufsteigenden Fasern hervor, welche zahlreiche Collateralen zu den moto¬ 
rischen Augenkernen senden. 

Die Existenz von Vestibularisfasern zweiter Ordnung im hinteren Langs- 
biindel tragt einem den Physiologen wohlbekannten Phanomen Rechnung, 
namlich der Erzeugung compensatorischer und associirter Bewegungen der 
Augen, wahrend der Kopf und der Korper ihre Gleichgewichtslage andern. 

A. Tschermak, der sich mit dem Studium des hinteren Langs¬ 
biindels eingehend beschaftigt hat (siehe sub 24 des Lit-Verz.), theilte 
mir brieflich dartiber Folgendes mit: 


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Experimentelle UntersuchuDgen und Studien fiber den Verlauf etc. 453 


Bei einzelnen Thieren, speciell bei der Katze, nicht so beim Menschen, 
zeigt die Faserlage ventral vom Aquaeductus in der ganzen Ansdehnnng 
der Medulla eine sehr dentliche Gliedemng in ein dorsales Bfindel (das 
hintere Lfingsbfindel sensn strictiori) und in das von Tschermak be- 
sonders beschriebene und benannte pr&dorsale Lfingsbtindel. Beide gehen 
in den Vorderstrang fiber. Held hat beide als „Vorderseitenstrangrest 
der Mittellinie w zusammengefasst. 

Im prfidorsalen Lfingsbfindel unterscheidet Tschermak zwei 
Systeme: 

1 . Das kreuzende Spinalsystem, aus dem vorderen Paar der Vierhftgel 
absteigend bis in das Lendenmark. 

2. Das aufsteigende kreuzende Linsenkernsystem, welches aus unbe- 
kannter Quelle durch den Hirnstamm in die Commissura hypothal. dorsalis 
Forel’s aufsteigt. 

Im eigentlichen hinteren Lfingsbfindel steckt eine grosse Zahl 
auf- und absteigender Systeme. Sichergestellt sind bisher folgende: 

1 . Ein aus dem Rfickenmark in den Hirnstamm aufsteigendes 
System, welches u. a. auch an die Augenmuskelkerne sowie an die Formatio 
reticularis beiderseits zahlreiche Collateralen abgiebt und bis zur hinteren 
Commissar (bezw. bis zum oberen Lateralkem und dem Darkschewitsch- 
chen Kern der hinteren Commissur) der Regio thalamica hinaufreicht. 
Dieses System kfinnte wohl die von mir angenommene, vom 
Rfickenmark aufsteigende Reflexbahn darstellen. 

2. Ein aus der Formatio reticularis (unterer, mittlerer, oberer Central- 
kern und Lateralkem) stammendes, im hinteren Lfingsbfindel derselben und 
auch der Gegenseite bifurcirtes System, dessen absteigende Theilungsfiste 
in das Rfickenmark, dessen aufsteigende zu den holieren Abschnitten der 
Format, ret. gelangen. 

3. Ein im hinteren L&ngsbfindel bifucirtes gekreuztes und ungekrenztes 
System aus dem Vestibularendkernlager, speciell aus dem Deiters’schen 
Kern, dessen absteigende Theilungs&ste bis ins obere Brustmark, dessen 
aufsteigende unbekannt woliin gelangen, jedoch sichere Collateralen an den 
Abducenskern, wahrscheinlich auch an den IV. und III. Kern abgeben. 

4. Ein kreuzendes, im hinteren Lfingsbfindel der Gegenseite bifurcirtes 
Secundfirsystem der Trigeminusleitung, entspringend aus der Subst. gel. V, 
unbekannter Endigung. 

Aus diesen Mittheilungen dfirfte, wie oben bereits gesagt wurde, mit 
grSsster Wahrscbeinlichkeit hervorgehen, dass ffir dieLeitung des Pupil- 
larreflexes vom Rfickenmark zum Oculomotoriuskem oder zum Ganglion 
ciliare das hintere Langsbfindel mit in erster Linie in Betracht kommt. 


Erorterungen fiber die Physiologie und Pathologic derPupillar- 
bewegimg. (Hierzu Fig. 7, S. 454 und Schema II auf Tafel VIII.) 

In Folgendem will ich an der Hand zweier Schemata die 
normalen und pathologischen Verhaltnisse der Pupillar- 
reaction erortern. Es wird sich dabei Gelegenheit geben, die 

30* 


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454 


XXVI. Bach 


Richtigkeit der im Vorstehenden niedergelegten Ansichten liber die 
Pupillarreflexbahn zu prfifen und auf einzelne Punkte der bestehenden 
Differenzen naher einzugehen. 

Nehmen wir auf Grund vorstehender Mittheilungen an, dass die 
vom Vierhfigel zum Rfickenmark ziehende secundar sensorische Bahn 
in der Schleife verlauft oder nehmen wir an, dass die Hauben- 
kreuzung hierffir in Betracht kommt, so wird man zunachst fiber die 

Kreuzung dieser Bahn frappirt 
sein und denken, dass damit die 
klinischen Erscheinungen wohl 
kaum in Einklang gebracht wer- 
den konnen. 

Sehen wir zu, wie dem ist, und 
beginnen wir bei den einfachsten 
Verhaltnissen, bei der nur einsei- 
tigen u. zw. gleichseitigenPupillen- 
verengerung auf Lichterregung. 
Wir wollen uns hierzu desneben- 
stehenden Schemas bedienen. 

Bei Beleuchtung des rechten 
Auges tritt bei einem Geschopf 
mit totaler Sehnervenkreu- 
zung nur eine Verengerung der 
Pupille des belichteten rechten 
Auges auf. Nehmen wir wie 
bisher an, dass die Sehnerven- 
fasern nach der Kreuzung im 
Chiasma und der Ausbreitung im 

Vwische^^d'en^ 11 'Sphincterkernen". Vierhiigel (Lobulus opticus) in- 
III K = Oculomotoriu8kern. IV fl = direct oder direct mit dem 

Oculomotoriuskern der gekre^- 
(Annahme Bernheimer’s). ind. Verb. = ten linken Seite in Verbin- 

d “”8 h * b “ 

2. sens. Kreuz. = 2. sensorische Kreuzung. bei der Belichtung des rech¬ 
ten Auges nicht eine Verenge- 
rung der rechten Pupille, sondem der linken Pupille zu erwarten, 
wenn wir uns nicht der zum mindesten gezwungenen Annahme hingebeu, 
dass die zum 1 i n k e n Vierhiigel (Lobulus opticus) gelangten Sehnervenfasern 
des rechten Auges in den linken Oculomotoriuskern zwar eintreten, 
dessen Zellen aber nicht erregen, sondem lungs der vonBernheimer 
angenommenen V erbindungsbrucke zwischen beiden Sphincterkernen hin- 
ziehen und lediglich die Zellen des rechten Sphincterkernes erregen. 


L. Baibas 


R. Baibas 





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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 455 

Nehmen wir hingegen eine zweite Kreuzung an, dann wird es 
nach dem Schema sofort klar und ist selbstverstandlich, dass bei 
totaler Sehnervenkreuzung bei Beleuchtung des rechten Auges nur eine 
Verengerung der rechten Pupille erfolgt. 

Wie steht es mit der Annahme einer Verbindung der beiden 
Sphincterkerne? 

Bestande wirklich eine so weit gehende anatomische und functio- 
nelle Verbindung und Zusammengehorigkeit beider Sphincterkerne. 
wie sie von manchen Seiten angenommen wird, dann miissten wir wohl 
auch bei Thieren mit vollstandiger Sehnervenkreuzung eine indirecte 
Pnpillarreaction wahrnehmen. 

Der Einwand, dass bei den Thieren mit totaler Sehnervenkreuzung 
die Verhaltnisse im Oculomotoriuskern anders liegen werden, wie bei 
Geschbpfen mit partieller Kreuzung, ist nicht so ohne Weiteres als rich tig 
anzusehen, denn wir sehen z. B. bei der Taube trotz der lediglich mono- 
lateralen Pupillenreaction eine weitgehende Confluenz des vorderen Oculo- 
motoriusabschnittes, in den man ja den Sphincterkem zu verlegen pflegt. 

Es zeigten uns librigens die Verhaltnisse und Erfahrungen bei der 
Taube, wobei ich nach einseitiger Bulbusevisceration doppelseitige 
Kernveranderung bekam, dass die Beeinflussung der interioren Muscula- 
tur einesjeden Auges von beiden Seiten des Kerngebietes bei derLicht- 
reaction der Pupille gar keine Rolle zu spielen braucht. Es besteht 
die doppelseitige Beeinflussung der interioren Musculatur vielleicht nur 
wegen der immer gemeinschaftlich an beiden Augen erfolgenden 
Accommodation und Convergenz. Wir konnten im Hinblick auf die 
klinischen Erscheinungen an der Pupille ruhig annehmen, dass dieReflex- 
fasern gar nicht auf Zellen im Oculomotoriuskern einwirken, sondem erst 
auf die Zellen des Ganglion ciliare, wo ein Ueberfliessen derErregung 
von einer Seite auf die and ere nicht mehr erwartet werden kann. 

Sehen wir nun weiter zu, ob bei den Geschopfen mit partieller 
Kreuzung der Opticusfasern im Chiasma,bei denen neben directer 
Lichtreaction der Pupille auch eine indirecte Reaction erfolgt, die 
Annahme einer Kreuzung der secundar sensorischen Bahn die Er- 
klarung der klinischen Symptome an der Pupille unmoglich macht 
oder auch nur erschweri Wir werden sehen, wie ich vorweg be- 
merken will, dass das Gegentheil der Fall ist. 

Nehmen wir eine zweite Kreuzung derart an, wie sie im beigebenen 
Schema 2 (auf Taf. VIII) angegeben ist, nehmen wir ferner an, dass ebenso 
wie die grossere Zahl der Sehfasern sich auch die grossere Zahl der Pupil- 
larfasern im Chiasma kreuzt, dann kommt inFolge der zweiten Kreuzung 
dieses starkere Btindel von Pupillarfasern wieder auf die Seite des 
Auges, von dem es ausging. Dies muss ich auch als wahrscheinlich 


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456 


XXVI. Bach 


bezeichnen, denn nach einer Anzahl von Beobachtungen, die aUerdings 
durch eine grossere Reihe systematischer Untersuchungen zu erweitem 
waren, glaube ich der Annahme sein zu sollen, dass die directe 
Pupillarreaction die indirecte an Starke, an Ausgiebigkeit 
nbertrifft Es ist dies eine Annahme, die mit der gelaufigen An- 
schauung in Widerspruch steht, deren Richtigkeit mir aber ziemlich 
sicher zu sein scheint. Man kann sicb davon bei der Untersuchung 
der Pupillarreaction im Dunkelzimmer bei seitlich einfallendem Licht- 
kegel und ungleicher Beleuchtung beider Augen leicht iiberzeugen. Ich 
mochte hier auch die vielfach zu findende Angabe, dass trotz einseitig 
hochgradiger Herabsetzung der Sehscharfe, ja trotz Amaurose. z. B. 
bei einseitiger Embolie oder Thrombose der Centralarterie der Netzhaut 
sich immer Pupillengleichheit findet, als unrichtig bezeichnen. Jeden- 
falls kann ich, um bei dem Beispiel der Thrombose zu bleiben, fhr eine 
Anzahl von solchen Fallen, die ich im letzten Jahre daraufhin unter- 
suchte, behaupten, dass die Pupille des amaurotischen Auges weiter war 
bei gleicher Belichtung der Augen, aber auch bei Herabsetzung der 
Sehscharfe aus anderen im Auge oder im Sehnerven liegenden 
Ursachen ist die Pupille des schlechter sehenden Auges oft weiter. 

Anders liegt die Sache bei Augen, wo bei bestehender Amblyopie 
das Auge selbst und der Sehnerv normal befunden werden wie .dies 
z. B. bei Schielenden der Fall sein kann. Hier konnte ich mich bei einigen 
Fallen, die ich in letzter Zeit daraufhin untersuchte, iiberzeugen, dass 
trotz hochgradiger Amblyopie eines Auges die Pupillen gleich sind. Es 
konnte dieser Umstand zu der Annahme fiihren, die Ursachen der Amblyo¬ 
pie des Schielauges n ich t im Auge, sondern in derHirnrinde zu suchen. 
Wir hatten sorait in dem Verhalten der Pupillen in manchen Fallen 
einen Fingerzeig ftir den Sitz der die Amblyopie bedingenden Storung. 

Zur Erklarung der consensuellen Reaction und auch der 
Pupillengleichheit huldigt man ziemlich allgemein der Ansicht, dass 
eine innige anatomische und functionelle Verbindung beider 
Sphincterkerne besteht, dass von den Zellen der Mm. sphincter 
pupillae im Oculomotoriuskern immer Reize in gleichem Grade zu 
beiden Augen ausgehen. Spricht dagegen schon in gewissem Sinne die 
eben erwahnte Thatsache, dass die directe Pupillenreaction die indi¬ 
recte tiberwiegt, so spricht vor allem gegen eine so innige functionelle 
Verbindung der Sphincterzellen die von Anderen und mir selbst be- 
obachtete einseitige reflectorische Pupillenstarre. Wir m&ssten, 
um diese bei dem Bestehen einer innigen anatomischen und functio- 
nellen Zusammengehorigkeit der Sphincterkerne zu erklaren, eine 
doppelte Lasion annehmen und zwar an ziemlich weit von einander 
liegenden Stellen. Dass diese Erklarung aber eine sehr gezwungene und 


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Experimentelle Untersuchungen und Stadien fiber den Verlauf etc. 457 


nur sehr schwer acceptable ist, wird besonders derjenige zu ermessen 
wissen, der sich mit dem anatomischen Bau des Oculomotoriuskernes 
und der Pupillarreflexbahn etwas eingehender beschaftigt hat. 

Ich glaube die Annahme als unrichtig erklaren zu dfirfen, dass 
sich die consensuelle Reaction aus der Verbindung der 
beiden Sphincterkerne ergiebt 

Die consensuelle Pupillarreaction tritt mit der partiellen 
Sehnervenkreuzung, eventuell mit dem Vorhandensein bifur- 
cirter Fasern auf. 

Als Ausnahme yon der Regel glaubteman bislang das Kaninchen 
bezeichnen zu mfissen. 

Ich glaube, meine Befunde geben den Schltissel zur Erklarung 
dieser Ausnahme. Meine Befunde geben Denen Recht, welche eine 
partielle Kreuzung beim Kaninchen annehmen, sie tragen aber trotz- 
dem vielleicht zur Erklarung der nur monolateralen Pupillenreaction bei, 
da ich namlich bei meinen Marchi-Praparaten Schollen nur im gleich- 
seitigen Tractus und Corpus geniculatura, nur ganz vereinzelt im gleich- 
seitigen Pulvinar und gar nicht im Yierhfigel nachweisen konnte. 
Man konnte daraus vielleicht den Schluss ziehen, dass beim Kaninchen 
einige Sehfasern ungekreuzt bleiben, dagegen alle Pupillarfasern 
sich kreuzen. Ich mochte hier des Weiteren der Vermuthung Raum 
geben, dass beim Kaninchen vielleicht nur sogenannte bifurcirte Fasern 
in den gleichseitigen Tractus kommen. In Bezug auf dieDeutung 
der bifurcirten Fasern ware neben anderen Punkten wichtig 
zu wissen, ob die Zahl der bifurcirten Fasern bei Thieren 
mit totaler Kreuzung vollstandig fehlen, ob die Zahl der 
bifurcirten Fasern bei den Thieren, wo wir annehmen, dass 
viele Fasern ungekreuzt bleiben, auch in grosser Zahl vor- 
handen sind etc. 


Erlfiuterung des Schema 2 auf Taf. VIII. 

Lfisionsstelle 1. Nehmen wir an, der rechte Sehnerv sei bei 1 voll- 
stfindig durchtrennt, so wird die rechte Pupille weiter sein als die linke, 
falls die schon gemachten Angaben fiber das Ueberwiegen der directen 
Lichtreaction fiber die indirecte auf Richtigkeit berulien. Bei Belichtung des 
rechten Anges wird weder die Pupille dieses Auges noch die Pupille des linken 
Auges reagiren, hingegen wird sich bei Belichtung des linken Auges sowohl 
die Pupille des linken als des rechten Auges verengen. — Verengerung der 
Pupillen bei der Convergenz, Sympathicusreaction, Hirnrindenreflex normal. 

L&sionsstelle 2. Bei sagittaler Durchschneidung des Chiasma werden 
die Pupillen gleichweit sein. Es erfolgt beiderseits sowohl directe als 
indirecte (consensuelle) Reaction. Die Verengerung wird weniger ausgiebig 
erfolgen als in der Norm. — Die consensuelle Reaction hat nicht ihren 


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XXVI. Bach 


Grand in der von manchen Seiten angenoramenen Verbindung der Spkincter- 
zellen im Oculoraotoriuskern, sondern darin, dass die im Chiasma ungekreuzt 
bleibenden Fasern in der zweiten sensorischen Kreuzung grossentheils anf 
die andere Seite gelangen, w&hrend nar ein wohl kleiner Theil auf der- 
selben Seite bleibt nnd die directe Reaction zn Stande kommen lasst. Eb 
besteht Grand zn der Annahme, dass bei sagittaler Chiasmadnrchschneidung 
die consensnelle Reaction ausgiebiger ist als die directe. Gegebenen Falles 
w&re darauf zn achten. Eigens betont sei, dass. in dem Vorbandensein der 
consensnellen Reaction bei sagittaler Chiasmadurchschneidung kein Beweis 
liegt fur die Verbindnng der Sphincterkerne. — Da bei sagittaler Chiasma¬ 
durchschneidung bitemporale Hemianopsie zn erwarten ist, so ware an- 
znnehmen, dass die Pnpillenreaction ausgiebiger erfolgt bei Belichtung der 
temporalen Netzhauth&lften. Es scheint angezeigt, fiber die Frage der 
hemianopischen Pnpillenreaction mit moglichst einwandfreien Methoden 
weitere Erfahrungen zu sammeln. 

Convergenz- und Sympathicusreaction sowie der Hirnrindenreflex sind 
bei L&sionstelle 2 normal. 

Lasionsstelle 3. Es besteht rechtsseitige homonyme Hemianopsie. 
Zu beriicksichtigen bleibt fur die Tractuslasionen, dass die Verhaitnisse 
schematisch dargestellt sind, denn es liegen die ungekreuzten Fasern 
nicht zu einem gescblossenen Bundel vereinigt, sondern untermischt mit 
den gekreuzten Fasern. Es haben in diesem Punkte die neueren Unter- 
suchungen die friiheren Angaben v. MichePs vollauf best&tigt. Es kann 
somit keine Rede davon sein. dass bei einer L&sion z. B. nahe dem Corpus 
geniculatum, die nur das temporale Drittel des Tractus trifft, nur unge- 
kreuzte Fasern l&dirt werden. 

Die Pupille des rechten Auges diirfte etwas weiter sein als die Pupille 
des linken Auges, da nach friiheren Auseinandersetzungen Grand zur An¬ 
nahme besteht, dass der grossere Theil der Pupillarfasern im Chiasma 
sich kreuzt. — Nach den Angaben der Mehrzahl der Autoren ist hierbei 
hemianopische Pupillenreaction vorhanden. Es wiirde danach bei Belichtung 
der medialen Netzhauth&lfte des linken Auges die Pupille besonders medial 
ausgiebiger reagiren wie bei Beleuchtung der temporalen Netzhautb&lfte. 
Bei Belichtung des rechten Auges wiirde die st&rkere Pnpillenverengernng 
bei Reizung der temporalen H&lften eintreten. — Wegen der wahrscheinlicb 
partiellen Kreuzung in der secund&r sensorischen Bahn ware die consensnelle 
Reaction beiderseits auslosbar. — Convergenz-, Sympathicusreaction nnd 
Hirnrindenreflexe beiderseits normal. 

Lasionsstelle 3a. Je nach Ausdehnung der Erkrankung kann es sein, 
dass entweder dieselben Erscheinungen zu beobachten sind wie bei 3, oder 
dass nur Hemianopsie auftritt. die Pupillenreaction dagegen nur wenig oder 
nicht gestort ist. 

L&sionsstellen 4 und 4a. Die linke Pupille wird sowohl bei Be¬ 
lichtung des linken wie des rechten Auges reagiren. Die rechte Pupille 
wird ebenfalls sowohl direct als indirect, wenn anch sehr schwach reagiren. 
Es kommen fur die directe Reaction des rechten Auges die im Chiasma und 
in der zweiten sensorischen Kreuzung ungekreuzt bleibenden Fasern des 
rechten Auges in Betracht. Die indirecte Reaction kommt zu Stande durch 
die im Chiasma gekreuzten (blauen) Fasern des linken Auges, von denen 
vielleicht ein Theil in der zweiten sensorischen Kreuzung ungekreuzt, d. h. auf 


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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 459 

der rechten Seite bleiben wird. Es muss natiirlich Gegenstand weiterer Unter- 
8 uchungen sein, ob diese zun&chst lediglich theoretischen Ausfiihrungen stimmen. 
— Es ist wahrscheinlich, dass die rechte Pnpille etwas weiter ist als die linke. 

Convergenz- und Sympathicusreaction, Hirnrindenreflex vorhanden. 

L&sionsstelle 4b. Ftir die L&sionsstelle 4b gilt das eben Gesagte, 
nur dass hier die rechte Pnpille prompt und die linke Pupillesehr schwach 
reagiren wird. 

Lasionsstelle 5, 5 a und 5 b. Es besteht rechtsseitige reflectorische 
Starre, d. h. die rechte Pnpille ist bei directer und indirecter Lichterregnng 
starr. Es ist unterbrochen die im Chiasma gekreuzte Bahn des rechten Auges, 
die im Chiasma ungekreuzte Bahn des linken Auges; es sind weiter unter¬ 
brochen die in der secund&r sensorischen Bahn ungekreuzt bleibenden Fasem 
(ungekreuzte Fasern des rechten Auges, gekreuzte Fasem des linken Auges). 

Die linke Pnpille reagirt bei Belichtung sowohl des linken als des 
rechten Auges. 

Bei Lftsion in 5 wird wahrscheinlich die rechte Pnpille weiter sein. 

Bei L&sion in 5 a und 5 b kommen verschiedene Variationen in der 
Pupillenweite vor, die wahrscheinlich von Mitbetheiligung sympathischer 
Fasem (Reizung Oder Lahmung) abh&ngen. In wie weit, oder besser gesagt, 
wie hfi-ufig neben den Sympathicusfasern fur die interiore Musculatur des 
Auges auch die iibrigen mit dem Auge in Verbindung tretenden sympathi- 
schen Fasern hierbei betroffen werden, muss Gegenstand systematischer 
Untersuchungen sein. Es soli hier nur erw&hnt werden, dass gelegentlich 
die sympathischen Fasern der Lider auff&llig mit afficirt sind, gelegentlich 
eine Stfirung derselben zu fehlen scheint. 

Die Convergenzreaction kann hiebei lange Zeit vollst&ndig normal sein. 

Die Sympathicusreaction wird sich vielleicht verschieden verhalten. Es 
sind hieruber erst noch Erfahrungen zu samraeln. 

Hirnrindenreflex normal. 

Das Sehvermogen kann selbst bei doppelseitiger Affection viele Jahre 
normal bleiben. In anderen F&llen tritt schon fruhzeitig Herabsetzung der 
Sehsch&rfe in Folge Opticusatrophie ein. Es bestehen ziemlich sicher keine 
directen Beziebungen zwischen der reflectorischen Starre und der 
Opticusatrophie, sondern nur indirecte, insofern, als die Pupillenstarre 
vielleicht auf den Stoffwechsel, Fliissigkeitswechsel im Auge schftdigend 
einwirkt. Wir konnen uns vorstellen, dass durch die bei der reflectorischen 
Starre ofters vorhandenen Sympathicusstorungen, durch Ver&nderung des 
Gefasstonus im Auge leichter sich Giftstoffe, die auf die Ganglienzellen der 
Netzhaut sch&dlich wirken, ansammeln konnen, wir kfinnen ferner vielleicht 
annehmen, dass die Fortbewegung und Erneuerung der intraocularen Lymph- 
flii 88 igkeit wegen des anormalen Pupillenverhaltens gestort ist. Verschieden- 
heiten im Bau des Auges so wie andere Factoren, die hier nicht n&her 
erortert werden sollen, kfinnten weiterhin von Bedeutung fur das Zustande- 
kommen der Sehnerven^trophie sein. Es handelt sich bei diesen Ausfuhrungen 
lediglich um eine Hypothese, die mir jedoch mindestens ebenso viel Berech- 
tigung zu haben scheint, wie die anderen fiirdieGenese derSehnerven- 
atrophie bei Tabes aufgestellten Hypothesen. 

LasionsstelleG. Es besteht linksseitige reflectorische Starre, d. h. 
es mangelt links sowohl die directe als indirecte Lichtreaction. Im Uebrigen 
gilt das ftir 5 a und 5 b Gesagte. 


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XXVI. Bach 


Ich will hier noch bemerken, dass bei einseitiger reflectoriscber Starre 
eigentlich hemianopische Reaction vorhanden sein mtisste, falls wir an- 
nehmen, dass die Papillarfasem gleichmfissig fiber die ganze Netzhaut ver- 
tbeilt sind, was allerdings noch nicbt bewiesen ist. Die Frage nach dem 
Vorhandensein der hemianopischen Reaction wfirde sich besonders in den 
wobl seltenen Fallen entscbeiden lassen, wo die eine Pupille reflectorisch 
starr ist, wfihrend die Pnpille des anderen Anges noch prompte directe 
und indirecte Lichtreaction zeigt. 

Lasionsstelle 7. Bekanntlich verlaufen die Wnrzelbtindel des Oculo- 
raotorius getrennt bis zur Hirnbasis, erst da vereinigen sie sich zum 
Stamme. Es soil die ansgezogene schwarze Linie das Bfindel fur den 
M. ciliaris darstellen. Wir hatten bei Zerstornng desselben eine isolirte 
Lahmung des M. ciliaris zu erwarten. Die Weite der Pupillen dfirfte 
neueren Untersuchungen zufolge hierbei gleich sein, also keine geringe Er- 
weiternng der rechten Pupille, wie man bislang annahm. 

Lasionsstelle 8. Es soil das punktirte Bfindel das Faserbtindel zum 
M. sphincter pupillae darstellen. Bei Zerstornng desselben ist die Pnpille 
stark erweitert, direct und indirect lichtstarr, unbeweglich bei der Convergent 
also absolut starr. — Auf der rechten Seite des Schemas wurde angenommen, 
dass die den Pupillenreflex vermittelnden Fasern gar nicht auf Zellen des 
Oculomotori8kernes, sondern direct auf Zellen des Ganglion ciliare einwirken. 

Lasionsstelle 9. Es ist die rechtsseitige Sehstrahlung zerstort und 
tritt in Folge dessen linksseitige gleichseitige Hemianopsie auf. Der 
Pupillarreflex bei Belichtung des Auges ist vollkommen normal. Specieil 
bemerkt sei, dass bei solchen Lasionen keine sogenannte hemianopische 
Reaction zu erwarten ist, was als differentialdiagnostisches Merkmal 
gegenfiber Tractusaffectionen in Betracht kommt. — Bisweilen soil bei 
derartigen Herden ein Uebergewicht des gesunden Sympathicus auf der- 
selben Seite bemerkbar sein, was sich durch rdthere Gesichtsfarbe, Er- 
weiterung der Pupille u. s. w. kundgiebt (y. Monakow). Ganz gesetz- 
massige Wirkungen sind jedoch in dieser Hinsicht durchaus nicht ermittelt 

Lasionsstelle 10. Der Faserzug mit der Lasionsstelle 10 soli die 
Bahn yon der Hirnrinde zum Oculomotoriuskern darstellen, auf welcher der 
sogen. Haab’sche Hirnrindenreflex zu Stande kommt. Man versteht darunter 
eine Verengerung der Pupille, die eintritt, wenn man bei einem Individuum 
lediglich die Vorstellung einer Lichtquelle wachruft; es soil dabei die Be¬ 
lichtung und Accommodation des Auges gleich bleiben. Dieser Reflex wfirde 
bei Lfision 10 fehlen. 

Lasionsstelle 11. Bei der Lfision 11 ist die Annahme gemacht, 
dass eine Unterbrechung noch hypothetischer sympathischer, wohl in der 
Pyramidenbahn verlaufender Fasern erfolgt. Ware die Bahn beiderseits 
unterbrochen, so wfirde z. B. die Pupillenerweiterung bei gemfithlichen Er- 
regungen ausbleiben. 

Lasionsstelle 12. Es ist bei einer Lfision in 12 die Uebertragung 
der Hautreize auf den Sympathicus nicht mehr moglich. Die Pupille bleibt 
selbst bei starken Hautreizen unbewegt. 1st die Unterbrechung auf die 
Partie des unteren Halsmarkes beschrfinkt, so soli Pupillenerweiterung 
durch Erregung der Medulla oblongata sowie durch corticale Einfltisse (ge- 
mfithliche Erregungen) noch reflectorisch zu Stande kommen konnen. — Bei 
Durchschneidung des Sympathicus oberhalb des 8. Cervicalnerven erfolgt 


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Experimented Untersuchungen und Studien uber den Verlauf etc. 461 

bei Affen und Katzen doppelseitige Pupillenverengerung, bei einseitiger 
Lasion auf der zugehorigen Seite. — Es sei hier bemerkt, dass mit dem 
7. Cervicalnerven und mit einigen hoheren Wurzelfasern aus dem Sym- 
pathicus Fasern in das Riickenmark eintreten, welcbe bei der Innervation 
des Auges und der gleichseitigen Gesichtshalfte in Betracbt kommen. Sie 
verlaufen in diesem ungekreuzt cerebralwarts. Deshalb macben Unter- 
brechungen der 7. Wurzel ebenso wie Riickenmarksdurchtrennungen ober- 
balb des 7. Segmentes immer gleicbseitige Miosis, geringe Ptosis und oft 
auch Abnabme des Gesicbtsturgors. 

Nicbt unerw&hnt will ich weiter bier die Angabe lassen, dass die 
reflectorische Pupillenerweiterung auf Reizung sensibler Nerven nicbt durch 
den Sympatbicus erfolgt, sondern als eine passive Erweiterung, bedingt durcb 
Hemmung des Tonus des N. oculomotorius, anzuseben ist (Braunstein). 

Lasionsstelle 13. Durcb eine Lasion des Sympathicus bei 13 wiirde 
die Pupillenerweiterung dieser Seite auf Sympathicusreizung vollstandig er- 
loschen sein. Es ware die Pupille sehr eng, sie wiirde aber auf Lichtreiz 
direct und indirect prompt, wenn aucb weniger ausgiebig reagiren. Aucb 
die Verengerung bei der Convergenz wiirde prompt erfolgen. — Ausserdem 
bestande geringe Ptosis, eventuell Enophthalmus, Herabsetzung des intra- 
ocularen Druckes und Gefasswanderscblaffung. 

Lasionsstelle 14. Durch eine Zerstorung des Ganglion ciliare wiirden 
die zu den glatten Muskelfasern des M. ciliaris und M. sphincter pupillae 
gehSrigen Nervenzellen zerstort Wir hatten danach eine Accommodations- 
lahmung, ferner Mydriasis in Folge Sphincterlahmung. Die Pupille ware 
bei Lichteinfall und Convergenz unbeweglich. — Wahrscheinlich wiirden 
durcb die Zerstorung des Ganglion ciliare auch die Zellen einer Anzahl 
sympatbischer Fasern, die zur Gefassmusculatur und zum Musculus dilatator 
pupillae ziehen, zerstort. Ob aucb die zum M. palpebralis ziehenden Fasern 
dadurch zum Tbeil betroffen werden, ist fraglich. Des Weiteren ware 
durch Zerstorung sensibler Nervenastchen eine, wenigstens voriibergehende, 
Sensibilitatsstorung am Auge zu erwarten. — Auf der rechten Seite des 
Schemas ist vom Oculomotoriuskern aus das zum Ganglion ciliare hin- 
ziebende Oculomotoriusbiindel des M. ciliaris als scbwarz ausgezogene Linie 
eingezeichnet. — Die noch nicht voll aufgeklarten Beziehungen des Sym¬ 
pathicus zum Ganglion ciliare sind auf beiden Seiten verschieden ange- 
nommen. Es besteht namlich die Moglichkbit, dass ein Theil der sym- 
pathischen Fasern im Ganglion endet, ein anderer Theil vorbeizieht. Sehr 
wobl moglich ist, wie dies auf der rechten Seite dargestellt ist, dass alle 
der Pupillenerweiterung dienenden sympathischen Fasern des Auges in gar 
keiner Beziebung zum Ganglion ciliare steben. 


Ergebnisse. 

Fasse ich zum Schluss die Ergebnisse meiner Studien zusammen, 
so sind es kurz folgende: 

Bei der Taube besteht eine totale Kreuzung der Sehnerven- 
fasern im Chiasma. 

Beim Kaninchen, bei der Katze, bei dem Affen und bei dem 
Menschen besteht eine partielle Kreuzung der Sehnerven- 


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XXVI. Bach 


faserri im Chiasma, vielleicht handelt es sich theilweise auch nur 
um eine Bifurcation von Fasern vor dem Chiasma. 

Beim Kaninchen ist die Zahl der ungekreuzten Fasern eine 
geringe. In dem Vierhiigel sind keine ungekreuzten Fasern 
beim Kaninchen nachweisbar. 

Bei der Katze, dem Affen und Menschen betragt die Zahl 
der ungekreuzten Fasern circa V 3 der Sehnervenfasern. 

Ein geschlossenes temporales Biindel ungekreuzter Fasern 
existirt nicht. Meine Befunde stimmen mit v. Michel's Angaben 
fiberein. 

Die Angaben Bernheimer’s uber eine directe Verbindung 
der zum Vierhttgel hinziehenden Opticusfasern mit dem 
Oculomotoriuskern konnte ich nicht bestatigen. 

Die nur gleichseitige Pupillenverengerung auf Belich- 
tung eines Auges bei Geschopfen mit totaler Sehnerven- 
kreuzung ist mit den Angaben Bernheimer's kaum vereinbar. 

Ebensowenig besteht die von Perlia 24 ) angegebene directe 
Verbindung des Tractus peduncularis transversus mit dem 
Oculomotoriuskern beim Kaninchen zu Recht. 

Es gelang mir nicht, den Tractus peduncularis transversus 
bei der Katze, dem Affen und Menschen nachzuweisen. Endigungen 
von Opticusfasern im Ganglion habenulae und Corpus subthala- 
micum (Corpus Luys) konnte ich nicht feststellen. 

Es besteht keine directe, sondern eine indirecte Verbindung 
des Opticus mit dem im Halsmark oder der Medulla oblon¬ 
gata gelegenen Reflexcentrum der Pupille. 

Abgesehen von der Kreuzung der Pupillarfasern im 
Chiasma besteht noch eine zweite Kreuzung dieser Fasern. 
Von klinischen Symptomen spricht daftir speciell die nur 
horaolaterale Pupillenreaction nach Netzhautbelichtung bei 
Thieren mit totaler Sehnervenkreuzung. 

Die Annahme einer innigen anatomischen und functio- 
nellen Verbindung der Zellen fdr die Mm.-sphincter pupillae 
im Oculomotoriuskern zurErklarung der Pupillensymptome 
ist nicht nothwendig. 

Als absteigende Pupillarreflexbahn von den primaren 
Opticusganglien zu derMedulla oblongata oder demHalsmark 
kommt wahrscheinlich die Schleife in Betracht. 

Als aufsteigende Pupillarreflexbahn zum Oculomotorius¬ 
kern oder Ganglion ciliare ist ziemlich sicher das hintere 
Langsbiindel anzusehen. 


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Experimentelle Untersuchungen and Studien liber den Verlauf etc. 463 

Wenn auch die Bearbeitungen unserer Themas speciell in den 
letzten Jahren manche Aufklarung gebracht haben, wenn vieUeicbt 
auch meine Untersuchungen und Erorterungen wieder eine kleine 
Forderung der behandelten Fragen bedeuten wttrden, so bleibt doch 
noch sehr Vieles spateren Untersuchungen vorbehalten. — Je mehrlnteresse 
ich im Laufe der letzten 9 Jahren den Erscheinungen an der Pupille 
entgegengebracht habe, je mehr Gelegenheit, Interessantes zu sehen, 
mir das soreiche Material der hiesigen Augenklinik und der psychiatrischen 
Klinik, das ich stets in Folge der liebenswfirdigen Aufforderung des 
Herrn Professor Dr. C. Rieger untersuchen durffce, bot, umso mehr 
wuchs meine Freude und meine Befriedigung bei diesen Untersuchungen, 
da immer neue Gesichtspunkte, immer neue, noch zu losende Fragen, 
ja immer neue Rathsel auftauchten. 

Es ist mit Freuden im Hinblick auf die Diagnostik zu begrtissen, 
dass das Interesse an den Pupillenerscheinungen in weiteren Kreisen 
in den letzten Jahren erheblich gewachsen ist, dass speciell auch ein 
reges Zusammenarbeiten der verschiedenen Disciplinen, besonders 
der Neurologen und Ophthalmologen mehr und mehr zu beob- 
achten ist. 


Literatur. 

Auf die Literatur der optischen Bahnen bin ich aua dem Grunde nicht naher 
eingegangen, weil dieaelbe in der letzten Zeit von Bernheimer und Dimmer 
in ihren sub 5 und 8 verzeichneten Arbeiten eingehender berficksichtigt wurde. 
Ich hielt ea, um meine Arbeit nicht allzu umfangreich werden zu lassen, angezeigt, 
einfach darauf zu verweiaen. 

1) Bach, L., Experimentelle Untersuchungen fiber den Verlauf der Pupillar- 

faaern und das Reflexcentrum der Pupille. Bericht fiber die XXVII. Ver- 
aammlung der ophthalm. Gesellschaft zu Heidelberg. 1898. S. 98. 

2) Derselbe, Zur Lehre von den Augenmuskellahmungen und den StSrungen 

der Pupillenbewegung. v. Graefe’s Arch. f. Ophthalm. XLVII. Bd. 
2. u. 3. Abth. S. 339 u. 551. 

3) Derselbe, Zusammenfassende Darstellung und kritische Betrachtung der 

Erkrankungen der Vierhugelgegend und der Zirbeldrfise mit specieller 
Berficksichtigung der ocularen Syraptome. Zeitschr. f. Augenheilkunde. 
Bd. I. 1899. S. 315. 

4) v. Bechterew, W., Die Leitungsbahnen im Gehirn und Ruckeumark. 

Deutsch von R. Weinberg. Verlag von A. Georgi. Leipzig 1899. 

5) Bernheimer, St., Die Reflexbahnen der Pupillarreaction. v. Graefe’s 

Archiv f. Ophth. XLVII. S. 1. 

6) Cajal, Ram6n y, S., Beitrag zum Studium der Medulla oblongata, des 

Kleinhirns und des Ursprungs der Gehirnnerven. Deutsch von J. Bresler. 
Verlag v. J. A. Barth, Leipzig 1896. 


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XXVI. Bach 


7) Cajal, Ram6n y, S., Die Structur des Chiasma opticum nebst einer all- 

gemeinen Theorie der KreuzuDg der Nervenbahnen. Deutsch von J. Bresler. 
Verlag v. J. A. Barth, Leipzig 1899. 

8) Dimmer, F., Zur Lehre von den Sehnervenbahnen. v. Graefe’s Arch. f. 

Ophth. Bd. XLVHI. 3. Abth. S. 473. 1899. 

9) Edinger, L., Bau der nervosen Centralorgane. Verlag von F. C. W. Vogel. 

Leipzig 1900. 

10) Gaupp, Ueber die spinalen Symptome der progressiven Paralyse. Psychiatr. 

Abhandl. Herausgegeben von C. Wernicke, 1898. Ref. Neurol. Cen- 
tralbl. Nr. 3. 1899. S. 127. 

11) Gudden, Leber die Kreuzung der Sehnervenfasern im Chiasma. v. Graefe’s 

Arch. f. Ophth. XXV. Bd. 1. u. 4. Abth. 1879. 

12) Heddaeus, E., Die Pupillarreaction auf Licht. Verlag v. J. F. Berg- 

mann. 1886. 

13) Derselbe, Die centripetalen Pupillenfasern und ihre Function. Festschrift 

des Vereins der Aerzte des R.-B. Diisseldorf. Verlag v. J. F. Bergmann. 

14) Hen sc hen, S. E., Klinische u. anatom ische Beit rage zur Pathologie des Ge- 

hirnes. 1.—2. Theil. Upsala, Almqoist u. WikselPs Buchdruckerei. 1892. 
1894 u. 1896 Commissionsverlag K. F. Koehler, Leipzig. 

15) v. KoHiker, A., Handbuch der Gewebelehre des Menschen. Verlag v. 

W. Engelmann. 1896. 

16) Landois, L., Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Wien 1887. 

17) Leeser, J., Beitrage zur Physiologie der Pupillarbewegung. Inaug.-Diss. 

Halle a. S. 1881. 

18) Liebrecht, Ueber das Wesen der Pupillenerscheinungen und ihre dia- 

gnostische Bedeutung. Deutsche med. W. 1899. Nr. 25 u. 26. 

19) Marina, A., Das Neuron des Ganglion ciliare und die Centra der 

Pupillenbewegungen. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. XIV. 
S. 356. 1899. 

20) v. Michel, J., Ueber Sehnervendegeneration und Sehnervenkreuzung. Fest¬ 

schrift. Wurzburg 1887. 

21) Derselbe, Ueber die Kreuzung der Sehnervenfasern ira Chiasma. Bericht 

fiber die 24. Vers. d. ophth. Gesellsch. z. Heidelberg. 1895. 

22) v. Monakow, C., Gehirapathologie. IX. Bd. I. Theil der speciellen Patho¬ 

logie und Therapie, herausgegeben von H. Nothnagel. Wien 1897. 
Verlag v. A. Holder. 

23) Mott, F. W., Unilateral descending atrophy of the fillet, arciform fibres 

and posterior column nuclei resulting from an experimental lesion in the 
monkey. Brain 1898. 

24) Perlia, Anatomie des Oculomotoriuscentrums beim Menschen. v. Graefe’s 

Arch. f. Ophth. Bd. XXXV. 4. 1889. 

25) Riegel, C. und S. v. Forster, Auge und Rfickenmark. v. Graefe’s Archiv 

f. Ophthalmol. XXVII. Bd. Abth. 3. 

26) Rosenthal und Mendelssohn, Neurologisches Centralblatt. 1897. Nr. 21. 

27) Schmidt-Rimpler, H., Die Erkrankungen des Auges im Zusammenhang 

mit anderen Krankheiten. H. Nothna gel’s Specielle Pathologie und 
Therapie. XXI. Bd. A. Holder’s Verlag. Wien 1898. 

28) Tschermak, A., Ueber den centralen Verlauf der aufsteigenden Hinter- 

strangbahnen und deren Beziehungen zu den Bahnen im Vorderseiten- 


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Experimentelle UntersuchuDgen und Studien iiber den Verlauf etc. 465 


strang. Arch. f. Anatomie und Entwicklungsgeschichte. 1898. IV. u. 
V. Heft. Verlag v. Veit & Cie., Leipzig. 

29) Wolff, P., Das Verhalten des Riickenmarkes bei reflectorischer Pupillen- 
starre. Arch. f. Psychiatrie. Bd. 32. Heft 1. S. 1. 


Erkl&rung der Abbildungen auf Tafel IX und X. 

Fig. 1. Frontalschnitt durch den Lobus opticus derTaube in der Gegend 
des Oculomotoriuskernes. Tr. O. = Tractus opticus. Str. z. — Stratum zonaie. 
Isthm. B. d. 0. = Isthmusbundel des Opticus. H. L. = Hinteres Langsbundel. 
N. Ill = Nucleus des Oculomotorius. W. b. d. Ill = Wurzelbiindel des 
Oculomotorius. Es lassen sich mit Leichtigkeit die Degenerationsschollen von 
Tr. O. bis zum Isthm. B. d. O. verfolgen. Auf der anderen Seite waren gar 
keine Schollen vorhanden. Die Evisceratio bulbi dextri war 17 Tage vor dem 
Todten der Taube ausgefuhrt worden. In N. Ill und in W. b. d. HI sehen 
wir ebenfalls eine Anzahl von Degenerationsschollen beiderseits. Auf der Seite 
des Eingriffes sind sie etwas zahlreicher. In dem iibrigen Bereich des Lobus 
opticus sehen wir vereinzelte feinere Schollen. Eine directe Verbindung der 
Degenerationsschollen in der Opticusausbreitung mit dem N. Ill war nirgends 
nachweisbar. — 8fache Vergrosserung. — Schnitt 38 der Serie. 

Fig. 2. Frontalschnitt durch den vorderen Vierhugel eines Kaninchens 
in der Hohe des proximalen Oculomotoriuskernes, bei welchem 4 Wochen 
zuvor eine einseitige Evisceratio bulbi vorgenommen worden war. v. V. D. = 
Vorderes Vierhugeldach. Bog. u. Bad. f. = Bogen- und Radiarfasern im tiefen 
Mark des vorderen Vierhugels und an der Grenze zum centralen Grau. c. Gr. = 
Centrales Grau. A. = Aquaeductus Sylvii. N. Ill = Oculomotoriuskern. 
W. b. d. IH = Wurzelbiindel des Oculomotorius. H. k. = Haubenkreuzung. 
P. p. = Pes pedunculi. Tr. p. tr. = Tractus peduncularis trausversus. Im 
Stratum zonaie des vorderen Vierhugeldaches sieht man sofort auf der einen 
Seite die schwarzen Degenerationsschollen, auf der anderen Seite fehlen sie ganz 
oder sind jedenfalls nicht in grosserer Zahl vorhanden wie am normalen Gehirn. 
An den Bogen- und Radiarfasern sieht man beiderseits die gleiche Menge 
von Schollen. Es besteht keine directe Verbindung dieser Schollen mit den 
Degenerationsschollen in der Opticusausbreitung. An der Grenze des centralen 
Graues sieht man hier und da etwas starkere Schollenanhaufungen. Im N. ni 
ist beiderseits dieselbe Schollenzahl vorhanden, desgleichen in den W. b. d. IH. 
Mit grosser Deutlichkeit treten auf der einen Seite die Degenerationsschollen 
im Tr. p. tr. hervor. — Vergrosserung 5:1. — Abbildung aus den Schnitten 59, 
61, 72 der Serie zusammengesetzt. 

Fig. 3. Frontalschnitt durch den proximalen Theil des hintoren Vier¬ 
hugels eines Kaninchens, bei dem 4 Wochen zuvor einseitig die Evisceratio 
bulbi vorgenommen wurde. Gegend des Trochleariskemes. h. V. D. = hinteres 
Vierhugeldach. N. IV = Trochleariskem. B. kr. — Bindearmkreuzung. Die 
ubrigen Bezeichnungen wie bei Fig. 2. Wir sehen hier wieder auf der einen 
Seite deutlich die Degenerationsschollen im Stratum zonaie des Vierhugeldaches, 
auf der anderen Seite sind nur vereinzelte Schollen, wie wir sie im normalen 


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466 


XXVI. Bach 


Gehirn auch finden. Auch in dieser Gegend des Vierhiigels sehen wir in den 
Bogen- und Radiarfasern eine Anzahl Schollen beiderseits. Die Zahl derselben 
ist beiderseits ziemlicb gleich. An der Grenze des centralen Graues finden sich 
diese Schollen manchmal etwas gehauft. Es besteht nirgends ein directer Zu- 
sammenhang mit den Degenerationsschollen des Opticus. Auch im Trochlearis- 
kern, im hinteren Langsbundel und besonders in der B. kr. sehen wir Schollen. — 
Vergrosserung 5:1. — Schnitt 18 der Serie. 

Fig. 4 Frontalschnitt durch den vorderen Vierhugel im Bereich des pro- 
ximalen Abschnittes des Oculomotoriuskernes einer Katze, bei welcher 
(3 Wochen zuvor einseitig die Evisceratio bulbi vorgenommen wurde. 
v. V. D. = vorderes Vierhfigeldach. Bog. u. Rad. f. = Bogen- u. Radiarfasern. 
A. d. v. V. = Arm des vorderen Vierhugels. c. Gr. = centrales Grau. A. = 
Aquaeductus Sylvii. N. Ill = Oculomotoriuskern. C. g. m. = Corpus genicu- 
latum mediale. L. m. = Lemniscus medialis. P. p. = Pes pedunculi. H. kr. = 
Haubenkreuzung. W. b. d. Ill = Wurzelbiindel des Nervus oculomotorius. 
Wir sehen im Stratum zonale des Vierhugeldaches beiderseits Degenerations¬ 
schollen, auf der dem Eingriff entgegengesetzten Seite ist die Zahl der Schollen 
bedeutender. Ausserdem sehen wir beiderseits in ziemlich gleicher Zahl Schollen 
in den Bogen- und Radiarfasern, besonders am Rande des centralen Hohlen- 
graues, in dem Kern- und dem Wurzelbiindel des N. oculomotorius. — Ver- 
grosserung 5:1. — Schnitt 62 der Serie. 

Fig. 5. Frontalschnitt durch den vorderen Vierhugel an der Grenze des 
distalen und mittleren Bereiches des Oculomotoriuskernes einer Katze, bei der 
6 Wochen zuvor eine einseitige Evisceratio bulbi vorgenommen wurde. Die 
Erklarung der Bezeichnungen ist bei Fig. 4 zu ersehen. Die Abbildung giebt 
die der Seite des Eingrifies entgegengesetzte Halfte wieder. Die andere Halfte 
zeigt dieselben Verhaltnisse, nur sind die Schollen in dem Stratum zonale des 
Vierhugeldaches etwas weniger zahlreich. Obwohl die Abbildung einen viel 
weiter distal gelegenen Abschnitt wie die Abbildung 4 wiedergiebt, ist auch hier 
nichts von einer Verbindung, einem Zusammenhang der Schollen im Stratum 
zonale mit den Schollen in den Bogen- und Radiarfasern und den Fasem am 
Rande des centralen Graues zu sehen. Auch in dem distalen Bereich des 
N. Ill sehen wir noch Schollen, des Weiteren in H. k., vereinzelt im P. p. etc. 
Vergrosserung 6:1. — Schnitt 39 der Serie. 

Fig. 6. Frontalschnitt durch den vorderen Vierhugel eines Affen, bei 
dem 4 Wochen zuvor eine einseitige Evisceratio bulbi vorgenommen wurde. Die 
Abbildung bringt die der Seite des Eingrifies entgegengesetzte Halfte. Die 
gleiche Seite bietet fast durchweg ganz dieselben Verhaltnisse. C. g. 1. = 
Corpus geniculatum laterale. Pulv. = Pulvinar. Tr. = Tractus opticus. Die 
ubrigen Bezeichnungen wie bei Fig. 4. Die Degenerationsschollen sind deutlich 
im Tractus opticus, im Corpus geniculatum laterale, in dem Verbindungsstuck 
zum vorderen Vierhiigelarm und eine Strecke im vorderen Vierhugel zu sehen. 
Einige Schollen sieht man auch in den Bogen- und Radiarfasern, in den Fasern 
am Rande des centralen Hohlengraus, speciell des Ferneren im Oculomotoriuskern. 
Ein Zusammenhang dieser letztgenannten Scholien mit den Degenerationsschollen 
des Opticus war nicht zu ermittelu. — Vergrosserung 5:1. — Schiiitt 78 der Serie. 


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Experimentelle Untersuchungen und Studien fiber den Verlauf etc. 467 


Erkl&rnng der Abkttrzungen des Schema II auf Tafel VIII. 

Symp. = sympathische Fasern zum Dilatator pupillae. Oil. pup. u. cil. 
acc. = Nervi ciliares zum M. sphincter pupillae u. M. ciliaris. G. cil. = Ganglion 
ciliare. C. gen. ext. = Corpus geniculatum externum. B. acc. = Wurzelbfindel 
des N. oculomotorius, welches die Fasern fur den Accommodationsmuskel ent* 
halt. B. sph. = Wurzelbfindel des Nerv. oculom. fur den Sphincter pupillae. 
ss. =« Sehstrahlung. F. Acc. u. Pup. = Faserzug von der Hirnrinde zu den 
Zellen des M. ciliaris u. M. sphincter pupillae im Nucl. Ill — Haab’sche 
Hirnrindenreflexbahn. Ill K. = Oculomotoriuskern. IV H. = Vierhfigeldach. 
Refl. b. z. 4 Hugel = centripetale Reflexbahn vom C. gen. ext. zum Vierh. 
centripet. B. z. M. sp. — centripetale Reflexbahn vom Vierhugel zur Medulla 
spinalis, centrif. Reflexb. — Centrifugale Reflexbahn vom Halsmark zum Oculo¬ 
motoriuskern od. Gangl. cil. C. m. Refl. C. = Cervicalmark, Gegend des Reflex- 
centrums. G. 6.—7. C. u. 1. D. nervenp. = Gegend des 6.—7. Cervicalnerven- 
u. 1. Dorsalnervenpaares. G. sp. = Ganglion spinale. G. c. s. = Ganglion 
cervicale supremum. Symp. B. = sympathische Bahn von der Hirnrinde zum 
Rfickenmark. 


Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XVII. Bd. 


31 


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XXVII. 

Aus Prof. Koshewnikoff’s Klinik (Moscau). 

Zur Symptomatology der trophischen Stornngen bei der 
Syringomyelie (Osteomalacie). 1 ) 

Von 

Dr. Serge Nalbandoff. 

(Mit 3 Abbildungen.) 

Das buntfarbige Bild trophischer und vasomotorischer Storungen, 
an welchen die Syringomyelie so reich ist, wird immer wieder von 
neuen Symptomen dieser Art erganzt. Hierher gehort die von Mari- 
nesco beschriebene main succulante und der von Marie bescbriebene 
thorax en bateau. Meine Mittheilung hat den Zweck, Ihre Aufmerk- 
samkeit auf eine bei Syringomyelie auftretende eigenartige Storung im 
Knochensystem zu lenken, welche bisher in der Literatur noch nicht 
beschrieben ist. Am 26. Jan. 1899 wurde in die Klinik fur Nervenkrank- 
heiten Nikanor Bykoff, 31J. alt, aufgenommen. Klagt tiber Schwache 
im linken Arm. 

Anamnesis. Eltern des Patienten sind am Leben, und gesund. Vater 
55 J. alt, Nichttrinker; Mutter 50 J. alt; von Seiten der Verwandten 
nicht 8 Bemerkenswerthes. Mutter hatte 8 Kinder, von denen nur 5 am 
Leben sind. Die Uebrigen starben in friiher Kindheit an acuten Krank- 
heiten. Patient ist unter den Geschwistern der zweite. Von seiner Ge- 
burt erzahlt er laut Angabe seiner Mutter, dass die Entbindung eine 
schwere und langdauernde war, da das Kind von grossen Dimensionen war. 
Diesem Umstande ist es augenscheinlich zuzuschreiben, dass er mit einer 
Kopfgeschwulst (Haematoma) geboren wurde, welche jedoch bald verschwand. 
Pat begann zu gehen und zu sprechen vor Ablauf des ersten Lebensjahres. 
Von Kindheit an frappirte Pat. seine Umgebung durch seinen m&chtigen 
Korperbau. Seine durch Grosse und Kraft sich auszeichnenden H&nde 
warden von seinen Altersgenossen als r Barentatzen u bezeichnet. Fussbe- 
kleidung musste fur ihn immer besonders bestellt werden. 

Vom 8 .—12. J. besuchte Pat. die Schule, folgte dem Unterricht ohne 
Miihe. Im Alter von 11—12 J. Schlag auf den Kopf in der Occipital- 
gegend der linken Seite. Bewusstlosigkeit im Laufe von 5—10 Min., 


1 ) Mitgetheilt in der neuropathol. und psychiatr. Geseilschaft in Moscau. 
19. Nov. 1899. 


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Zur Symptomatology der trophischen Storungen bei der Syringomyelie. 409 


hemach leichter Schwindel. Bis znm Beginn seiner jetzigen Krankheit 
fuhlte sich Pat. vollkommen gesund, gait als Herkules, ging allein anf die 
B&repjagd; 22 J. alt wurde er als milit&rpflichtig einberufen, jedoch wegen 
privilegirender Familienverh&ltnisse der Reserve zugez&hlt. Anch hier er- 
regte er durch seine Gestalt Aufsehen bei den die Rekrutirung leitenden 
Soldaten. 

22 J. alt trat Pat. in die Ehe and hatte 5 Kinder, von denen nur 3 am 
Leben sind; 2 starben in friiher Kindheit; Ursachen nnbekannt. Bis 
23—24 J. fuhlte sich Pat. vollkommen gesund. Seit dieser Zeit jedoch 
begann er zn bemerken, dass seine linke obere Extremist, haupts&chlich 
Hand und Vorderarm, dicker warden, was besonders nach Arbeit in die 
Angen del. Nach einiger Erholungspause nahm das Volnmen wieder et- 
was ab; doch blieb sie constant dicker, als die recbte Extremit&t. (Patient 
1st nicht linksh&ndig.) In diese Zeit verlegt Pat. anch das Auftreten von 
Schw&che and Par&sthesien in dieser Extremist, sie begann zu „tauben u . 
Dm dieselbe Zeit (vor 8—9 Jahren) bildete sich am Nagel des dritten 
Fingers der linken Hand obne jede ersicbtliche Ursacbe eine Blase and 
der Nagel del ab. Besonderen Schmerz fuhlte er nicht. An Stelle des 
fruberen Nagels wucbs ein neuer, etwas deformirter, auf. Allm&hlich be¬ 
gann Pat. wabrzunehmen, dass die Haut der linken Handd&che in absonder- 
licher Weise rauh wurde, es bildeten sich sogar Scbwielen, und in diesen 
Ritzen, welche zur Bildung kleiner oberd&chlicher Abscess© fiihrten. 

Der Beginn der Erkrankung des linken Schultergelenks ist mit 
Sicberbeit nicht festzustellen: er gebort einer l&ngst vergangenen Zeit an, 
und das, was dariiber mehr oder weniger sicber bekannt ist, beziebt sich 
auf den April des Jahres 1896. 

Wie dem anch sei, Pat. bemerkte schon ldngst, vor mehreren Jahren, 
da88 die Beweglichkeit im Schultergelenk merklich immer mehr abnabm, 
wobei jedoch weder Ver&nderungen in der dusseren Configuration, noch 
irgendwie erhebliche Schmerzen zu constatiren waren. 

Im April 1896 zog sich Pat., wie es scheint, eine Erk&ltung zu, als 
er leicbtgekleidet an einem kalten und windigen Tage im Felde arbeitete. 
Am Abend zeigten sich allgemeine Schw£che, Hitze, Frost, und am fol- 
genden Tage musste er das Bett hiiten von einer Infection, wahrschein- 
lich typbbsen Cbarakters, ergriffen. Pat. war iiber einen Monat bettldgerig, 
und als er sehon zu reconvalesciren begann, bemerkte er, dass sein linkes 
Schultergelenk frappant an Umfang zugenommen hatte und die Haut fiber 
demselben gespannt, beiss anzufiiblen war und hyperdmisch war. Die 
Axillar- und Infraclaviculardriissen waren geschwollen. Pat. fuhlte keinen 
stdrkeren Schmerz im Gelenk, doch empfand er im Gelenk eine Art 
Stechen oder Stossen, welches sich zuweilen heftig steigerte. Anfangs be- 
bandelte Pat. sein Gelenk mit Hausmitteln, als er jedoch keine Besserung 
bemerkte, im Gegentheil das Gelenk immer mehr anschwoll, bielt er mit 
seiner Behandlung inne. Die Entziindungserscheinungen begannen zuriick- 
zugeben, die Gescbwulst wurde etwas kleiner, doch sein AUgemeinzustand 
besserte sich nicbt, der Schwdchezustand blieb bestehen. Erst im Sep¬ 
tember 1896 wandte sich Pat. an drztlicbe Htilfe aus Anlass seines Gelenks. 
Der Arzt bemerkte bei Untersuchung des Zustandes der Gelenke da zum 
er8ten Male ein Knirschen, welches Pat. vorher niemals wahrgenommen 
hatte. Im Krankenhause wurde die erste Incision in der Schultergegend 

31* 


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470 


XXVII. Nalbandoff 


gemacht, wobei sich gegen vier Glas einer vom Arzt (nach Angabe von 
Pat) als eitrig bezeicbneten Flfissigkeit entleerte. Die Operation war 
eine schmerzlose. Pat blieb im Krankenhause etwas fiber eine Woche, 
begab sich dann nach Hause, wo er nachher alltfiglich ans der Gelenkhfihle 
eine „eitrige“ Flfissigkeit auspresste. Pat erholte sich merklich. Nach circa 
drei Monaten heilte die Oeffnnng zn. Nach einiger Zeit begann das Ge- 
lenk wieder zn schwellen, nnd 3—4 Monate spfiter brach es vom unter- 
halb des Schlfisselbeins anf. Anfs Nene begann eine Flfissigkeit sich ans 
dem Gelenke auszusondem, was nnn Monate lang anhielt nnd erst aufhfirte, 
als die Oeffnnng vernarbt war. Dieses wiederholte sich im Lanfe der 
Jahre 1896 nnd 97 mehrere mal, jedesmal nach einer Panse von einem Monate 
oder etwas darfiber, wfihrend welcher das Gelenk sich anfs Nene fhllte. 
Dabei setzte Pat. seine Beschfiftignng fort Im Jannar 1898 zog sich Pat. 
wieder eine Erk&ltnng zn, woranf dann das Gelenk in einer Nacht heftig 
anschwoll. Pat wandte sich wieder ins Krankenhaus, wo eine zweite. 
grfissere Incision der Schnlter vollzogen wnrde, welcbe fast schmerzlos war; 
dabei wnrde eine grosse Menge Flfissigkeit entleert Erst im September 
des Jahres 1898 heilte die neugebildete Oeffnnng zn, ans welcher w&hrend 
der ganzen Zeit ihres Bestehens sich Flfissigkeit, wie es scheint, serosen 
Gharakters abgesondert hatte. Im Jnni—Juli gelang es Pat. zwei 
Knfichelchen von sehr geringen Dimensionen, welche ans der Wnnde ragten. 
heransznziehen; ans letzterer schieden sich gleichfalls sandfihnliche Kornchen 
ans. Erst einen Monat spfiter, als die Wnnde verheilt war, ffillte sich 
das Gelenk anfs Nene mit Inhalt. Diesmal entschloss sich Pat, selbst 
zn operiren; zu diesem Behnf „durchstach“ er mit einem Messer die Ge- 
schwnlst an dem Ort, wo sie am meisten flnctuirte, d. h. vorn nnterhalb des 
Schlfisselbeins; der Gelenkhfihle entfloss circa 1V 2 Glas milchgelber, fibel- 
riechender Flfissigkeit. Die Oeffnnng verheilte schnell. Daranf wiederholte 
sich dasselbe, was frfiher vorging: das Gelenk begann sich anfs Nene zn 
ffillen. In solchem Znstande gerieth Pat. zn nns. Vor drei Monaten (Ende 
October 1898) verletzte sich Pat beim Beschneiden des Nagels am Danmen 
der linken Hand den Finger, wobei er jedoch keinen Schmerz ffihlte. 
Die Wnnde war nnbedentend nnd Pat. mass ihr keine Bedentnng zn, 
setzte seine Arbeit fort nnd nnternahm nichts. Einige Zeit (circa eine 
Woche) sp&ter bemerkte er, dass sein Finger zn schwellen begann, sich 
rfithete und heiss anznfuhlen war. Die Schwellnng verbreitete sich all- 
mfihlich anch anf die anliegenden Bezirke — die Gegend der Emin, 
thenaris nnd znm Theil der Handflfiche. Schmerz nnbedentend. Nach 
weiteren 1 x / 2 —2 Wochen bemerkte Pat., dass am Nagel, an der Radial- 
seite, sich ein Abscess zu formiren begann; der Nagel begann sich abzn- 
schalen. In der Voranssetzung, dass sich nnter dem Nagel ein Splitter be- 
finde, riss Pat. einen Theil des Nagels ab, einen anderen Theil schnitt er 
ab, wobei es ihm jedoch nicht gelang, ein an der Ularseite haftendes 
Stiick, dessen Znsammenhang mit dem Nagelbett angenscheinlich nicht 
nnterbrochen war, zn entfernen. Die ganze Operation vollzog Pat., ohne 
dabei den geringsten Schmerz zn empfinden. 

Knrz daranf wnrde die Hant der Badialseite des Fingers, in der 
Nfihe des Nagelbetts, dfinn und es bildete sich eine Oeffnnng, ans der Eiter 
sich abzusondern begann. Einige Zeit nachher achieden sich 2—3 kleine 
Rnfichelchen ans.. 


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Zur Symptomatologie der trophischen Storungen bei der Syringomyelie. 47 1 


Status praesens. Pat. von mittlerem Wuchs, breitschulterig, 
macht den Eindrnck eines robnsten Menscben. Beim ersten Blick ersicht- 
licb, dass seine linke Hand etwas dicker ist f als die rechte. 

Beifolgend ausfahrliche Messangsresnltate: 


Abstand vom Boden bis zum Scheitel (Wuchs) 

1674 

mm 

n n 

n 

„ „ kusseren Gehorgang 

1530 

n 

n n 

n 

„ „ Proc. acromion. 

1377 

” I 



L&nge des Oberarms 

— 

1347 mm 

rs n 

n 

„ „ Proc. olecranon 

1030 

- ) 



L&nge des Vorderarms 

— 

242 „ 

» » 

11 

„ „ Pr. styloid, radii 

788 

?1 



L&nge der Hand 

— 

213 „ 

?i n 


„ „ Spitze des Mittelfingers 

575 




L&nge des Zeigefingers 

108 

»» 



„ ,, Mittelfingers 

115 


Vom Boden bis 

z. 

Troch. maj. 

847 

1 



Oberschenkel 

— 

[ 387 „ 

n 11 11 

?i 

Epicond. ext. 

460 

n I 



Unterschenkel 

— 

1 390 „ 

n j; » 

» 

Malleol. ext. 

70 

>1 i 



L&nge des Fasses 


280 „ 


linkerseits rechterseits 

Umfang d. Oberarms maxim. (165 mm vom Acromion) 345 mm 328 mm 

„ „ Yorderarm „ (150 „ „ Ellbogen) 275 „ 265 „ 

„ „ Hand im Niveau d. Capital, oss. metacarpi 255 „ 250 „ 



1 . 

F. 2 . F. 

3. F. 

4. 

F. 5. 

F. 

„ „ Basalphalanx rechts: 

85i 

mm 87mm 

83 mm 

77 mm 77 

mm 

links: 

128 

5 > ^4 „ 

90 „ 

81 

„ 77 


,, „ Nagelphalanx rechterseits: 

83 

,, 70 „ 

70 „ 

66 

.. 63 


linkerseits 

125 

» 73 „ 

73 „ 

68 

» 68 

n 




links 

rechts 

„ „ Oberschenkels (25 cm. von 

der 

Sp. ant. sup) 522 

mm 

530 

mm 

,. „ Unterschenkels maxim. 



387 

?» 

397 


„ Fusses (auf d. flbhe d. Unterschenkels) 

270 

ii 

270 

i> 

„ „ 1 . Fingers (Basalphalanx) 



95 


95 

M 

Halsumfang 



385 

» 

— 



Brustumfang ( auf d. H5he d. Brustwarzen) 990 „ 

Querdurchmesser d. Kopfes 156 mm 

L&ngsdurchm. „ „ 184 „ 

Kopfumfang horizontal 577 „ 

„ vertical 385 „ 

„ transversal 388 „ 

Gesichtsl&nge von d. Haargrenze bis Kinn 177 mm 

Abstand d. oberen Randes d. Schneidez&hne vom Kinn 47 „ 

Der Sch&del zeigt einige Formanomalien rechtsseitig deutlicher ausge- 
pr&gt. Ganmen flach and breit. An den Ohren nichts Bemerkenswerthes. 


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472 


XXVII. Nalbandoff 


Volamen des linken Schultergelenks bedeutend vermehrt, besonders 
sagittaler Durchmesser. Vom tritt eine Schwellung hervor, welche bei 
Palpation fluctuirt (periarticul&rer Abscess). Haattemperatnr an dieser 
Stelle erhoht. In der Schultergegend befindet sich eine Narbe in Form 
einer bogenfbrmigen Linie (Lange 115 mm), deren mittlere Partie ein- 
gezogen and mit den Geweben, welche sie bedeckt, verschmolzen ist Die 
Haat ist stellenweise pigmentirt, an einigen Stellen verdickt and schwer 
za falten. An verschiedenen Stellen der Scholtergegend and Vorderseite 
des Gelenks eingezogene Narben-Stellen friiherer Perforationen der Gelenk- 
hbhle. Das snbcatane Bindegewebe zeigt vermehrtes Volamen. Das linke 
Schltisselbein steht hbher als das rechte, was besonders am Acromialende 
ins Ange f&llt. Bei Palpation des Gelenkes bleibt kein Zweifel, dass das 
distale Ende der Spina scapulae, d. h. der Proc. acromial abgebrochen war, 
sich gesenkt hat and mit den benachbarten Geweben verschmolzen ist, 
was besonders deutlich bei rotatorischen Bewegangen des Oberarmbeins sich 
constatiren l&sst. In der Gegend des abgebrochenen Theils der Spina ist 
deatlich eine Einsenkang darchzafuhlen. Eine detaillirtere Untersuchang 
des Gelenkes ist darch die Fliissigkeitsanh&ufung in demselben erschwert 
Willkiirliche, sowie auch passive Bewegangen im Gelenk sind beschr&nkt; 
Pat. kann den Arm nur bis Horizontallage anfheben: mechanisches Hinder- 
niss. Bei Bewegangen deatliches Knirschen. Mares sind nicht durch- 
zufuhlen. Axillar- and Infraclavicalardriisen vergrbssert Die Untersachung 
des Gelenkes, sowie die Verdeatlichang einiger pathologischer Erscheinongen 
dieses Falles verdanken wir Prof, Spisharny, welchem wir an dieser Stelle 
Dank sagen. 1 ) Am linken Arm, namentlich der Streckseite, im Gebiet der 
Scholter und des linken Epigastrinm befinden sich Narben von verschiedener 
Grbsse — Spuren ehemaliger Blasen, Schorfe and Ambusturen. Im Bereich 
der genannten Stellen ist das subcutane Bindegewebe unvergleichlich reicher 
entwickelt als rechterseits: die Hautfalten mitsammt dem Unterhautgewebe 
sind in diesem Gebiete viel dicker. Mit diesem Factum steht auch die bei 
Besichtigung and Messang constatirte Volumenzunahme der linken oberen 
Extremit&t in engem Zasammenhang. 

Die linke Handflkche ist schwielig verdickt, stellenweise zeigt sie Ritzen. 
Der Daumen mitsammt dem umliegenden Bezirk zeigt vermehrtes Volamen; 
seine Haat ist stark gespannt, gl&nzend, trocken and roth. Abschappung 
der Epidermis; Haattemperatnr erhbht. Der ganze Finger stellt eine 
gleichfbrmige Masse von sehr fester Consistenz dar. Bei Druck gelingt 
es nirgends, Bildnng von Griibchen hervorzurufen. Bewegangen in den 
Articalationes interphalangeae fast gar nicht vorhanden. Das Nagelbett 
ist entblbsst. Nageliiberrest am Grande des Nagelbetts. Am ausseren 
Winkel des Nagelbetts eine Oeffnung, welche Eiter absondert. Fluctuation 
ist nicht merkbar, Druck nicht schmerzhaft. Bei eingehender Unter¬ 
sachung der Phalangenknochen liess sich feststellen, dass sie etwas 
weicher anzufohlen and bis za einem gewissen Grade biegsam waren. 
Badioskopiren der linken Hand zum Zweck einer Controlirang obiger Er- 
scheinangen (Anfang Febraar) bestatigte auf das Schlagendste unsere Vor- 
aussetzung: wir erhielten das Bild aller Knochen der linken Hand, aos- 


1 ) Pat. wurde beziiglich der Arthropathie von Pr. Spisharny in der chirurg. 
Gesellsch. demonstrirt. 


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Zur Symptomatology der trophischen Storungen bei der Syringomyelie. 473 

genommen beide Phalangen des Daumens, welche fast ganz fehlten. Die 
Badiographie gab folgendes Bild: Im Bereich der Nagelphalanx hatte der 
Schatten im Allgemeinen die Form eines Dreiecks, dessen Spitze gegen 
das Ende des Fingers gerichtet war. Von den beiden Seiten, welche die 
Spitze des Dreiecks bildeten, schien die Ulnarseite etwas starker schattirt. 
Unmittelbar nnterhalb des radialen Schenkels liess sich eine Schattirnng 
in Form eines kleinen Eeils erkennen, welcher jedoch mit dem ersteren 
Schatten ersichtlich nicht znsammenhing. Im Gebiet der ersten Phalanx 
war nichts zn vermerken, ansgenommen deren Basis nnd einen schwach 
schattirten diinnen Streifen, welcher sich vom radialen Schenkel des ge- 
nannten Dreiecks zam Capitalam ossis metacarpi zieht. In der Basalgegend 
der ersten Phalanx zeigte sich eine kleine, sehr nndeutliche Schattirnng. 
Der erste Mittelhandknochen zeigte, mit Ausnahme des Capitnlum, dessen 



Fig. 1. 


Contouren undeutlich verwischt waren, keine pathologische Veranderungen. 
Am dritten Finger etwas deformirter Nagel. 

Nervensystem. Sehen normal. Keine Verengerung des Sehfeldes. 
Pupillen gleich gross, reagiren kraftig. Kein Nystagmus. N. facialis zeigt 
normale Verhaltnisse. Mm. corrngatores snpercil. sind bestandig etwas 
gespannt. Znnge breit nnd knrz, bedeckt beim Heransstrecken kanm die 
Mncosa der Unterlippe; weicht dabei nicht von der Mittellinie ab. Linksseitig 
an der Znnge nnbedentende fibriliare Zncknngen. Weicher Ganmen normal. 
Bede, Schlucken, Kanen normal. Geruch, Geschmack, Gehor normal. Be- 
wegnngen von Kopf nnd Bnmpf regelrecht, von ansreichender Amplitude 
nnd Starke. An den oberen Extremitaten active sowohl, als passive Be- 
wegungen unbehindert nnd von geniigender Amplitude nnd Starke, aus- 
genommen nnr das linke Schnltergelenk. Bechte Hand nach Dynamom. 


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474 


XXVII. Nalbandoff 


52 Kilo, linke 50 Kilo. Im Ellenbogengelenk lasst sicli iibernormale Be- 
weglichkeit constatiren. Muskelabmagerung nirgends zu constatiren. Die 
noch erhaltenen Bewegungen im linken Schnltergelenk sind bis za einem 
gewissen Grade geschw&cht. Die elektrische Erregbarkeit der Muskeln der 
linken Scbnlterzone erwies sicli bios quantitativ etwas verringert. 

Reflexe vom Biceps rechterseits vorhanden, links nicht vorhanden. 
Die Bewegungen des linken Beines stehen an Kraft denen des rechten 



Fig. 2. 


etwas nach. Passive Bewegungen normal. Sohlen-, Achillessehnen- und 
Kniereflex linkerseits lebhafter. Cremaster- und Bauchwandreflex nicht 
vorhanden. Pat. klagt fiber dumpfen Schmerz in der Gegend des linken 
Schultergelenkes. Nervenst&mme bei Drnck nicht schmerzhaft, nicht verdickt 
Untersnchnng der Sensibilitat. Die tactile Sensibilitat ist nnr 
wenig herabgesetzt, anf der linken Halfte des Kopfes, des Gesichts, des 
linken Armes, der Schulter und der linken Brust- und Riickenhftlfte. Vorn 


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Zur Symptom&tologie der trophlschen Storcmgen bei der Syringmoyelie. 475 


geht die Grenze bis zu einer durch den Proc. xyphoideus gezogenen Linie, 
hinten bis zum 10.—11. Brustwirbel. Pat. fUhlt Beriihrung deutlich, 
localisirt sie richtig. Die herabgesetzte Schmerzempfindlichkeit beschr&nkt 
sich anf dasselbe Gebiet, nnr ist zu bemerken, dass am ganzen Arm bis 
zur Schulter hinauf (Gegend des Muse, deltoid.) namentlich an der Badial- 
seite vollstandige Schmerzanasthesie herrscht. An der Ulnarseite des 
Oberarmes und theilweise Vorderarmes ist Pat gegen Sticb empfindlich, 
jedoch nur schwach. Im Gebiet der linken Schulter ist die Sensibilit&t 
weniger herabgesetzt. Im Bereiche der linken Brust-, Mcken- und Ge- 
sichtshaifte ist die Sensibilit&tsabnahme eine unbedeutende. Die Herab- 
setzung der Temperaturempfindlichkeit umfasst dasselbe Gebiet. Unter- 
suchung mit extremen Graden. Eine Temp, von + 45° wurde von Pat. an 
der ganzen linken oberen Extremit&t als lauwarm empfunden; bei Unter- 
suchung mit einer Temp, von + 5° zeigte die Extremist in denselben Grenzen 
vollstandige Psychroan&sthesie. An alien anderen Stellen wurden Tempera- 
turen von + 45° und -|- 5° von Pat. richtig, entsprechend als heiss und 
kuhl bezeichnet, beide jedoch wurden hier weniger intensiv empfunden, als 
an den gleichen Stellen der rechten Seite. Untersuchung mit mittleren 
Graden: An Gesicht und Brust unterschied Pat. Temperaturdifferenzen 
von 2°, an Hals und Schulter — von 5°, am Arm — 14°. 

Vasomotorische Storungen. Bei herabhangenden Armen (im Laufe einiger 
Zeit) nimmt die linke Hand blauliche Farbung an, welche bei Veranderung 
der Lage verschwindet. Schweissabsonderung zeigt nichts Abnormes. 

Psychik normal. 

Innere Organe gesund. Beckenorgane in Ordnung. Temperatur normal. 

Ver lauf. Pat. war in der Klinik vom 26.1. bis zum 14. IV. 99 in Behand- 
lung. Schon wenige Tage nach Aufnahme in die Klinik horte d ie Eiterabsonderung 
aus der Nagelphalangengegenddes linken Daumens anf und die Oeffnungvernarbte. 

Der periarticulare Abscess, welcher sich urn das Schultergelenk hildete, 
reifte immer mehr, die Fluctuation wurde starker und die Haut so dtinn, 
dass eine kleine Incision zur Erbffnung des Abscesses genugte. Letztere 
wurde am 2. II. von Prof. Spisharny ausgeftihrt. Aus der Abscesshbhle 
entleerte sich gegen 2 Glas serbs-eitriger Fliissigkeit ohne Geruch und mit 
einer grossen Menge fibrinbser Gerinnsel. Die mikroskopische Unter¬ 
suchung derselhen ergab eine geringe Anzahl Streptokokken. Gelegent- 
liches Sondiren der Hbhle ergab Folgendes: Die Abscesshbhle communicirte 
mit der Gelenkskapselhohle, so dass nach einigen Manipulationen die Sonde 
ungehindert in die letztere gerath. Bei Untersuchung der Gelenkhbhle, 
deren Umfang sich als bedeutend vermindert erwies, gleitet die Sonde nir- 
gends iiber eine glatte Fiache, wie sie dem Gelenk eigen ist, sondern 
stosst iiberall auf Hindernisse in Gestalt kleiner sackformiger Vertiefungen. 
Weder freiliegende Kbrper, noch Entblbssung des Knochens waren dabei 
zu constatiren. In Snmma blieb kein Zweifel iibrig, dass sowohl die 
ganze Gelenkkapsel, als auch die letztere umgebenden Gewebe bedeutend 
verdickt waren, und zwar durch in grosser Menge gewuchertes Bindegewebe. 
Untersuchung sowie Incision waren vollig schmerzlos; doch die Sonde wurde 
von Pat. hei Untersuchung des Gelenks gefuhlt. Der angelegte Verhand war 
gegen Abend durchnasst und wurde gewechselt. Temperatur nicht erhoht. 

8 . II. Verband abgenommen. Die Schnittstelle war ganz ohne Eiterung 
zugeheilt. 


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476 


XXVU. Nalbandoff 


14. II. Zur Controlirung der fiber den Znstand der Phalangenknochen 
des Danmens mittelst Badiographie erhaltenen Aufechliisse wurde von Prof. 
Spisharny im Gebiete der I. Phalanx des genannten Fingers eine nahezn 
perforirende Punction ausgeflihrt. Die Nadel drang nnbehindert dnrch die 
Hant nnd das hinter derselben gelegene Gewebe, stiess dann auf ein leichtes 
Hinderniss in der Knochensnbstanz der Phalanx, welches sich jedoch bei ge- 
ringer Anstrengong seitens des Operirenden ohne Miihe iiberwinden liess. 
So bohrte sich die Nadel immer tiefer in die Knochensnbstanz nnd drang 
schliesslich ohne erhebliches Hinderniss bis znr Volarseite der Phalanx vor. 
Damit war die Bestfttigung erlangt, dass wir es in der That nicht mit Knochen, 
sondem einem an dieser Stelle von Kalksalzen freien Gewebe (wenn anch viel- 
leicht nicht vollkommen) zn thnn hatten. Die ganze Operation war fiir Pat. 
absolnt schmerzlos. Finger verbnnden. 

16. II. An den linken Danmen elastischer Verband angelegt Diese Be- 
handlnng wurde einen Monat lang fortgesetzt, dann aber unterbrochen, als es sich 
erwie8 y dass nnter dem Verbande kleine Ulcerationen sich zn bilden begannen. 

Theils nnter dem Einflnss dieser Maassregel, theils wohl anch im Zusam- 
menhang mit der Bessernng im Allgemeinznstande des Kranken nahm der 
Danmen merklich an Umfang ab, so dass eine am 2. VI. angestellte Messnng 
filr die I. Phalanx 115 mm, fiir die II. 100 mm ergab. 

Von Zeit zn Zeit wurde der Danmen palpatorisch untersucht, wobei 
es sich zeigte, dass die bei den ersten Untersnchnngen constatirte Biegsam- 
keit des Knochens allm&hlich zn schwinden nnd die Phalangenknochen 
Festigkeit zn gewinnen anfingen. 

10./IV. wurde die zweite Badiographie abgenommen, welche Folgendes 
ergab: Die Schatten im Gebiete beider Phalangen des linken Danmens waren 
diesmal ganz eigenartig vertheilt. Das schattirte Dreieck, welches in der 
ersten Badiographie kanm angedeutet war nnd der Nagelphalanx des 
Danmens entspricht, trat hier dentlich hervor. Die Knochensnbstanz der 
Nagelphalanx zeigte sich beim Vergleich mit dem entsprechenden Abschnitt 
der rechten Hand ersichtlich hyperplasirt. Vor dem Schattendreieck, ent- 
sprechend dem distalen Ende des Nagelphalangenknochens, war ein Schatten 
mit nndentlichen Contouren zn sehen. Hinter dem Dreieck, an der Stelle 
der Articnlatio interphalangea, ging der Schatten fast nnunterbrochen ins 
Gebiet des ersten Phalangenknochens fiber. Hier legten sich die Schatten, 
wenn anch im Ganzen an die Form der ersten Phalanx erinnernd, ausserst 
wnnderlich. An der Ulnarseite der Phalanx, dicht an deren Basis, starrten 
zwei stalactitenartig schattirte Vorsprfinge, welche iibereinander gelegen, 
gegen das Capitnlnm des Mittelhandknochens herabhingen. Innerhalb des 
dem Knochen selbst entsprechenden Schattens war an der Badialseite der 
Phalanx eine dunklere ringfbrmige Schattimng zn sehen, welche an eine Auf- 
treibnng des Knochens erinnerte. Das Capitnlnm des Os metacarpi war jetzt 
dentlich nnd scharf begrenzt. Anch die Articnlatio metacorpo-phalangea war 
zn sehen. 

Wahrend der ganzen Zeit seines Anfenthaltes in der Klinik klagt Pat. 
fast bestftndig hber dumpfen Schmerz in der Schultergelenkgegend, woran 
er anch zn Hause litt. Wichtig ist der von Pat. selbst constatirte Um- 
stand, dass sein Schultergelenk die ganzen 2 ] l 2 - Monate, die er in der 
Klinik verbrachte, an Umfang nicht znnahm. r Zu Hause h&tte sich in 
dieser Zeit wohl schon etliche Male aus dem Gelenk Flhssigkeit entfernt 4 * — 


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Zur Symptomatology der trophischen Stbrungen bei der Syringomyelie. 477 


ausserte sich Pat — Dass sicb dieses in der That so verb alt, dafnr kann 
ein unl&ngst eingetroffener Brief von ihm als Bestatigong dienen. Pat. 
schreibt, dass er kaum seine gewohnliche Banernarbeit wieder anfgenommen 
hatte, als das Gelenk wieder zn schwellen begann, nnd einen Monat nach- 
her (um den 10. April) dnrchstach er bereits eigenh&ndig die Geschwulst 
mit einem Nagel. Ausfluss ans dem Gelenk, schreibt Pat, dauert noch 
fort (der Brief ist vom 1. September datirt). 



Fig. 3. 


Tkerapie. In der Klinik beschr&nkte sich die Behandlung aufHaut- 
reize, wie spaniscbe Fliegen, Cauterisation. Innerlich Natr. jodat. Ausser 
Besserung des Allgemeinzustandes und subjectiven Wohlbefindens waren 
im Zustande des Kranken keine Ver&nderungen zu constatiren. 

Indem wir nun zur Analyse des gegebenen Falles iibergehen, ge- 
denken wir keineswegs alle interessanten Einzelheiten desselben ins 


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478 


XXVII. N ALB AN DOFF 


Auge zu fassen. Die Besprecbung des Gelenkleidens unterlassen wir 
ganz in der Absicht, dasselbe in einer besonderen Arbeit za erSrtern, 
beschranken uns also auf den Hinweis, dass unser Patient einen Fail 
von Macrosomia totalis darstellt. 

Der Schwerpunkt unserer Mittheilung ist der Process am Daumen 
der linken Hand. Wir haben hier einen Fall volligen Verschwindens 
der Kalksalze aus den Knochen der Daumenphalangen vor uns, das 
sowohl klinisch, als radioskopisch constatirt ist; dann aber deren all- 
mahliche Wiederumbildung in osteoides Gewebe, welches jedoch un- 
regelmassig und fiberschttssig abgelagert ist. Womit haben wir es non 
hier zu thun und wie ist dieser ganze Process zu erklaren? 

Pathologische Process© in den Knochen, welche mit einem Ver- 
schwinden der Salze aus den letzteren einhergehen, ftihren in der Patho- 
logie den Namen Halesteresis. Dieser Process wird bei den verschiedenen 
Krankheitsformen in hoherem oder geringerem Grade angetroffen, 
am deutlichsten ist er jedoch bei der Osteomalacie ausgesprochen. 

Nach den jlingsten Arbeiten fiber diese Krankheitsform zu urtheilen 
(vergl. Vierordt, in dem Sammelwerke von Nothnagel) sind die 
Anschauungen fiber die pathologische Anatomie der Osteomalacie als 
noch nicht ganz feststehend zu betrachten. 

Doch wollen wir zwei Momente dieser Krankheit naher ins Auge 
fassen: das Bild ihrer hochgradigsten Entwicklung und das Stadium der 
Regeneration in relativ schwach ausgepragten Fallen von Osteomalacie. 

Es gilt als Regel, dass in Fallen hochgradiger Osteomalacie die 
aussere Rindenschicht des Knochens sebr lange dem Erweichungs- 
process Widerstand leistet, wobei sich um denselben eine dfinne, feste 
Schale bildet. Wenn der Process noch weiter geht, so „wird die er- 
weichte, gallertartige Innenmasse im Wesentlichen vom verdickten Periost 
wie in einem hautigen Sack zusammengehalten“, (Vierordt). 

Bei diesem Zustande kann von einer Regeneration des Knochens 
natfirlich nicht die Rede sein. 

Regeneration des Knochens tritt gewohnlich bei Stillstand des 
Krankheitsprocesses ein, in Fallen, wo er relativ schwach ausgepragt ist, 
und vollzieht sich selbstverstandlich in den am meisten afficirten 
Theilen, d. h. in den centralen, regelrecht, wobei sich jedoch ein weit 
compacteres und festeres Gewebe bildet als bei normalen Verhaitnissen. 

Was sehen wir bei unserem Kranken? 

Der Krankheitsprocess, welcher, nach der Radiographie zu ur- 
theileu, in fast volliger Entkalkung der Phalangenknochen seinen 
Ausdruck gefunden, war in diesem Falle zu weit vorgeschritten, bis 
hart an die Grenze, jenseits welcher keine Regeneration der ge- 
schwundenen Knochensubstanz mehr eintritt; nichtsdestoweniger tritt 


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Zur Symptomatology der trophischen St5rungen bei der Syringomyelic. 479 

ein Moment ein, wo in das osteoide Gewebe sich Kalk einzulagem 
beginnt, doch ist die Ablagerung eine irregulare: sie geht von der 
Peripherie aus und fuhrt zu dberschiissiger Knochenbildung. 

Die Zusammenstellung dieser Facta macht die Diagnose einer 
klassischen Osteomalacie in unserem Falle unzulassig. Wir hatten 
einen wenig bekannten, eigenartigen Process vor uns, welcher der 
Osteomalacie nur annahernd ahnlich sah. 

Da ich nicht die Moglichkeit habe, Ihnen zum Vergleich von 
Osteomalacie afficirte Knochen zu prasentiren, will ich mich darauf 
beschranken die von Gocht in seinem Leitfaden der Radioskopie ge- 
machte Beschreibung von Photographien anzufiihren. Letzterer be- 
schreibt in Ktirze eine Radiographic des oberen Endes vom Ober- 
schenkelbein eines an Osteomalacie gestorbenen Kranken. Die histo- 
logisch-anatomische Untersuchung ergab eine tiefgreifende Veranderung 
des Knochen; fast vollige Zerstorung desselben im Centrum und Zer- 
fall des compacten peripherischen Theils in einzelne dunne Fasem. 
Beim Radiographiren gab dieser Knochen keinen Schatten. Ein zweiter 
Fall von Radioskopie der Knochen bei Osteomalacie gehort GobeL 
Letzterer verfolgte dabei den Zweck einer Untersuchung der Callus- 
bildung und des Zustandes der Bruchenden bei einer Kranken, welche 
im Laufe von 5 Jahren zehn Fracturen der oberen Extremitaten liber- 
standen hatte und ersichtlich an Osteomalacie liti Zum Erstaunen 
des Autors gab der Knochen keinen Schatten, wahrend in den librigen 
Knochen der oberen Extremitaten eine ausserst originelle Vertheilung 
der Schatten zu beobachten war: beschattet erwiesen sich nur die 
peripheren Theile der Knochen, und auch diese ungleich schwacher, als 
bei normalen Verhaltnissen; das Centrum war vollkommen hell. Leider 
ist dieser Fall ausserst kurz beschrieben. 

Die zweite Frage, welche wir uns vorlegten, war die nach der 
Entstehung des Processes. 

Aus der Anamnese war bekannt, dass dem Verschwinden der 
Kalksalze aus den Knochenphalangen Abscessbildung in denselben 
und consecutive phlegmonose Entzlindung vorhergegangen waren. 
Diese Umstande liessen einen Zusammenhang zwischen den beiden Er- 
scheinungen vermuthen. 

Das Studium der pathologischen Anatomie der chronischen ent- 
zlindlichen Processe in den Knochen, sowie der Radiographien dieser 
Processe, welche uns von Dr. Sabaschnikoff in liebenswiirdigster 
Weise zur Verfligung gestellt waren, gaben jedoch ein negatives 
Resultai Bei alien chronischen Processen destruirt gewohnlich der 
Krankheidsherd das afficirte Gebiet mit Bildung eines Knochen- 
geschwlirs Oder Knochenfrasses, neben welchem Schwund der Knochen- 


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480 


XXVII. Nalbandoff 


substanz, Osteoporose, sich vollzieht. Die Radiographie eines solchen 
Processes giebt ein vollkommen mit demselben ttbeinstimmendes Bild. 

Eine zweite Vermuthung, welche sich uns aufdrangte, war fol- 
gende: Ob nicht die chronische phlegmonose Entzlindung bei den an 
Syringomyelie Leidenden einen eigenartigen Verlauf nimmt, wobei das 
Krankheitsbild entsteht, welches wir bei unserem Kranken constatiren? 
Aber auch diese Voraussetzung bestatigte sich nicht. 

Aus der Praparatencollection der chirurgischen Hospitalklinik von 
Prof. L. L. Lewschin hatte ich dank seiner freundlichen Erlaubniss 
die Moglichkeit, die aputirte obere Extremitat einer Kranken, bei 
welcher wir Syringomyelie diagnosticirt hatten, zu erhalten. Patientin 
wurde mit ausgedehnter phlegmonoser Entztindung der Hand, tief- 
greifender Zerstorung der Articulatio brachio-carpea, Nekrose der 
Carpalknochen und einer Masse Fistelgange in die Klinik aufge- 
nommen. Der Process zog sich schmerzlos an die drei Monate hin. 

Die Radiographie der amputirten Extremitat, welche Dr. Sawosfc- 
janoff so liebenswtirdig war abzunehmen, gab folgendes Bild: Tief- 
gehende Zerstdrung des Brachio-Carpalgelenks und der Carpalknochen. 

Die Contouren der Gelenkenden an den Vorderarmknochen er- 
schienen auffallend verandert, wie zerfressen. Die Contouren der 
Knochen des Carpus, mit Ausnahme von zweien, welche ihrer Lage 
nach dem Os triquetrum und dem Os pisiforme entsprachen, waren in 
einem Gesammtschatten, der sich jedoch von dem Schatten der weichen 
Gewebe abhob, verschmolzen. Ein ebensolcher verschwimmender 
Schatten liess sich in der Basalgegend der Metacarpusknochen con¬ 
statiren, wobei jedoch nicht bios die Contouren, sondem auch die 
Knochen selbst zu unterscheiden waren. Kurz, an den Basalenden 
der Ossa metacarpi hatten wir es nicht mit einem volligen Ver- 
schwinden der Kalksalze aus den Knochen, sondern mit einer Osteo¬ 
porose zu thun ; welche augenscheinlich mit dem phlegmonosen Process 
in Zusammenhang steht. Der Schatten des Os triquetrum und des Os 
pisiforme ist ein recht intensiver. *) 

Die Betrachtung des anatomischen Praparats best&tigte aufs Beste 
alles, was wir an der Radiographie constatirt hatten: das Brachio- 
carpalgelenk war stark destruirt und bildete eine mit Eiter und Ge- 
websdetrit geftillte Hohle. Die Gelenkenden der Vorderarmknochen 
waren des Knorpels beraubt und zeigten eine rauhe, unebene Flache. 
In die Geschwiirshohle ragte von der Seite der Metacarpalknochen ein 
entblosstes und augenscheinlich nekrotisirtes Knochelchen hinein — 
das Os triquetrum, welches, kaum angertihrt, herausfiel, also mit den 


1) Die Radiographie wurde in der Gesellschaft demonstrirt. 


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Zur Symptomatology der trophischen Storungen bei der Syringomyelie. 481 

anterliegenden Geweben ganz und gar nicht zusammenhing. Unter 
diesem Knochelchen befand sich das rareficirte Os pisiforme. Die 
iibrigen Knochen der ersten Reihe des Metacarpus waren nicht vor- 
handen. Von den Knochen der zweiten Reihe des Metacarpus hatte 
am meisten das Os multangulum majus gelitten. Von demselben war 
nur das mit dem ersten Metacarpalknochen in Gelenkverbindung be- 
findliche Sttick erhalten. Das Gelenk war erhalten, obgleich es ersicht- 
lich gelitten hatte: starke Trtibung des Knorpels. Die des Knorpels be- 
raubten und rareficirten Os multangulum minus, capitatum et hamatum 
liegen frei in der Hohle des Brachio-carpalgelenks. Ihre gegen die 
Knochen des Metacarpus gerichteten Gelenkflachen sind statt des 
Knorpels mit Eiter und Detritus des nekrotisirten Knorpelgewebes be- 
deckt. Dasselbe muss von den (carpo-metacarpalen) Gelenkflachen der 
vier letzten Mittelhandknochen gesagt werden. Die Basen der Mittel- 
handknochen erscheinen rareficirt, jedoch in geringerem Grade, als die 
erhaltenen Knochen der Handwurzel. 

So konnten wir denn, auf dem letzten Falle basirend, bei unserem 
Kranken zwei Erscheinungen: die vorhergegangene phlegmonose Ent- 
zflndung und den an den Knochen der Phalangen w&hrend seines 
Aufenthaltes in der Klinik beobachteten Process, durchaus nicht mit 
einander in Zusammenhang bringen. Der letztere Process war allem 
Anschein nach als ein isolirter aufzufassen; auch wenn er, was ja 
schliesslich moglich ist, mit dem vorhergegangenen phlegmonosen 
Process zusammenhing, so war jedenfalls dieser Zusammenhang ein 
entfernter, mittelbarer, reflektorischer. 

Den Versuch einer exacten Erklarung der von uns beobachteten 
Erscheinungen mflssen wir aufgeben und uns auf einige diesbezugliche 
Erwagungen beschranken, welche uns mehr oder weniger annehmlich 
erscheinen. Im Jahre 1895 erschien im Archiv flir Physiologie eine 
Arbeit von Hallion et Comte, in welcher sie von der Veranderung 
des Blutumlaufs in den Hautcapillaren unter dem Einfluss aller mog- 
lichen Reize Mittheilung machen und eine auffallende Umkehrung der 
gewohnlichen Reaction der Gefasse bei einigen Fallen von Syrin¬ 
gomyelie anflihren. Wahrend normal auf Hautreize die peripherischen 
Gefasse mit Contraction reagiren, wird bei einigen Fallen von Syrin¬ 
gomyelie das Entgegengesetzte — Dilatation der Gefasse — beob- 
achtet. Eine solche Storung lasst sich nach Ansicht der Autoren 
durch Erkrankung des reflectorischen vasomotorischen Bogens an der 
einen oder anderen Stelle desselben erklaren. Er fragt sich nun, ob 
wir nicht in unserem Falle dasselbe haben? Zweifellos handelt es sich 
bei unserem Kranken gleichfalls um eine deutlich ausgepragte Be- 
theiligung der Vasomotoren an dem Process, und zwar der Vaso- 


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482 XXVII. Nalbandoff, Zur Symptom a t ologie der trophischen Storungen etc. 

motoren, welche eine vermehrte Blutzufuhr sichern; daffir sprachen, ausser 
der myxodematosen Anschwellung des Fingers, dieErscheinungenerhohter 
Hauttemperatur. Unter solchen Umstanden diirfte es von Interesse sein, 
eine Hypothese zu erwahnen, welche zur Erklarung der Entstehung von 
Osteomalacieangeflihrtwird,derHypothese vonRin dfleisch, welcher das 
Verschwinden derKalksalze aus denKnochen mit einer vermehrten Blut- 
ansammlung in dem Venensystem des Knochens in Verbindung stellt, wo- 
durch iiberschtissigeKohlensaure producirt wird, welche dieKalksalze I5st. 

Zum Schluss wollen wir noch ein paar Worte ilber das Interesse 
dieses Falles beiftigen. Von den Processen in den Knochen, welche bei 
Syringomyelie spontane Fracturen und Arthropathien bedingen, ist 
uns nur wenig bekannt. Wie ist es zu verstehen, dass nach Fractur 
einer Extremitat, welche bei einer ganz gewohnlichen Bewegung ein- 
trat, sich, freilich nach langerer Zeit als normal, an der Bruchstelle 
Callusbildung vollzieht, welche den Bruch vollkommen consolidirt. 
Wie ist der Widerspruch zu Ibsen, der im Vorhandensein zweier 
Processe in demselben Knochentheil — der Brlichigkeit und der con- 
solidirenden, mehr als ausreiGhenden Callusbildung — steckt? Wir 
glauben, dass unser Fall bis zu einem gewissen Grade die intime 
Seite der pathologischen Processe, welche sich bei Syringomyelie in 
den Knochen abspielen, beleuchtet und den Weg zu einem wenigstens 
aunahemden Verstandniss des obengenannten Widerspruchs andeutet 
Der bei spontanen Knochenbrtichen bei Tabes von Regnard mittelst 
chemischer Analyse bewiesene Zustand von Osteomalacie entspricht 
dem, was wir an der ersten Radiographie bei unserem Kranken sehen. 
Die zweite Radiographie entspricht der ttberschtissigen unregelmassigen 
Knochensubstanzproduction, wie sie bei der Callusbildung sich vollzieht 

Es ist mir eine angenehme Pflicht, Herrn Prof. A. Koshewnikoff. 
fUr die Erlaubniss, den gegebenen Fall zu benutzen, meinen tiefge- 
fiihlten Dank auszusprechen. 


Literatur. 

As tie. Le thorax en bateau de la Syriugomyelie. Th&se de Paris 1897. 

Gobel, Osteomalacie mittels Rontgenstrahlen zu diagnosticiren. Deut. med. 
Woch. 1897. Nr. 17. 

Gocht, Lehrbuch der Rontgenuntersucliung. Stuttgart 1898. 

Hanot, Osteomalacie. Lehrbuch d.Patholog.undTherapie v.Brouardel(Rus.). 1S9S. 

Hal lion et Comte, Sur les reflexes vaso-moteurs bulbo-medullaires dans 
quelques moladies nerveuses. Arch, de phys. norm et path. 1898. N. 1. 

Marinesco, G. Main succulente et atrophie musculaire dans la syring. Thfes* 
de Paris. 1897. 

Regnard, Note sur la composition chimique des os dans l’arthropathie des 
ataxiques. Gazette medicale de Paris. 1S80. N. 6. 

Vierordt, Rhachitis und Osteomalacie. Spec. Pathol, et Therap. von Nothnagel 
Wien 1896. 


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XXVIII. 


Aus der Abtheilung flir Nervenkranke von Dr. Bregman im israelitischen 

Spital in Warschau. 

Znr Klinik der Akromegalie. 

Von 

Dr. med. L. E. Bregman, 

Primararzt. 

(Mit 2 Abbildungen.) 

In der neurologischen Literatur des letzten Jahrzehnts nimmt die 
Akromegalie einen hervorragenden Platz ein. Noch mehr, als bei 
anderen neu entdeckten Krankheitszustanden wachst hier in rascher 
Folge die Zahl der publicirten Einzelbeobachtungen. Die im Jahre 1897 
erschienene ausgezeichnete Monographic von Sternberg *) stlitzte sich 
auf 210 Falle, in den folgenden zwei Jahren sind zum Mindesten je 
weitere 20—30 Falle beschrieben worden. Es hat dies wohl weniger 
in der Haufigkeit der Krankheit seine Begrtindnng, die Akromegalie 
gehort sicher zu den seltener vorkommenden Erkrankungen, als in 
dem Umstande, dass ihre Diagnose, sobald sie einmal den Aerzten als 
besondere neurologische Form bekannt geworden war, Angesichts 
der auffalligen ausseren Erscheinungen ungemein leicht wurde. Wir 
konnen wohl annehmen, dass ein grosser Bruchtheil aller vorkommen- 
den Falle zur Veroffentlichung gelangt, um so mehr, als das Leiden dank 
seiner Seltenheit nnd MerkwtLrdigkeit das allgemeine Interesse in 
hohem Maasse zu fesseln im Stande ist und — trotz der so vielfachen 
Bearbeitung — Vieles daran noch rathselhaft geblieben ist 

Die erste Frage, die sich allerseits aufdrangt, ist die nach dem 
Zusammenhang der abnormen Wachsthumsvorgange mit 
einer Erkrankung der Hypophysis 1 ) cerebri. Wahrend einer- 
seits die sich mehrenden Obductionsfalle mit einer nahezu stereotypen 
Regelmassigkeit Veranderungen der genannten Drftse aufweisen, werden 
andererseits mancherlei Bedenken gegen einen directen causalen Zu¬ 
sammenhang geaussert Es werden zunachst die nicht gar so spar- 


1) Stern burg, M., Die Akromagalie. Specielle Pathologie und Therapie 
von H. Nothnagel. Bd. VH. 2. Halfte. 

Deutsche Zeitschr. f. NervenheilkuDde. XVII. Bd. 32 


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484 


XXVIII. Breoman 


lichen Falle angefuhrt, wo trotz des Bestehens von Hypophysisver- 
anderungen kein akromegalisches Wachsthum eingetreten war (Wolf, 
Bryce-Baedles, Packard, Handford, Levy, Burr, Hunter 
u. A.). Falls eine Storung der Drtise wirklich die Ursache der abnormen 
Grossenzunahme der Korperrenden ausmacht, ist das Vorkommen der- 
artiger Falle schwer zu begreifen, um so mehr, als in der Mehrzahl 
derselben die Erkrankung der Hypophysis weder der In- noch der 
Extensitat nach hinter den bei Akromegalie gefundenen Veranderungen 
zurttckblieb und als auch die Qualitat der Erkrankung nichts fur 
Akromegalie Specifisches bietet, Es sollen ferner die Falle Bertick- 
sichtigung finden — hierher gehort auch der weiter unten zu be- 
schreibendeFall—, in denen irgend welche fur einen Hypophysis- 
tumor charakteristischen Symptome (Symptome des gesteigerten 
Hirndrucks, Chiasmasymptome) im klinischen Bilde vollkommen 
fehlten. Es ware freilich nicht begrlindet, daraus den Schluss zu 
ziehen, dass die Hypophysis normal geblieben sei, denn es kann, wie 
z. B. im Falle von Linsmayer 1 ) die Drtise erkrankt und dennoch 
nicht vergrossert sein, oder, wie Sternberg betont, der Tumor wachst 
in einer derartigen Richtung, nach unten in die Keilbeinh5hle, dass er 
weder allgemeinen Hirndruck, noch speciell einen Druck auf das 
Chiasma auszutiben vermag. Immerhin wirkt aber ein derartiger 
mangelhafter Parallismus zwischen der Akromegalie und den Symptomen 
eines Hypophysistumors, sowie auch das nicht selten zu beobachtende zeit- 
liche Vorangehen der Wachsthumsstorungen, worauf Striimpell 2 ) 
aufmerksam macht, mit Bezug auf das vorausgesetzte Causalitatsver- 
haltniss wenig uberzeugend und es ist die vom letztgenannten Autor 
ausgesprochene Meinung, dass es sich hierbei vielmehr um coordinirte Er- 
scheinungen handele, sehrwohl zuberticksichtigen. Die eigentlicheUrsache 
der Akromegalie bildet nach Striimpell eine abnorme endogene 
Veranlagung des Korpers, welche einerseits zu den pathologischen 
Wachsthumsvorgangen und zur Veranderung der Hypophysis, anderer- 
seits aber zu mancherlei constitutionellen Anomalien (Glykosurie, 
sexuelle Storungen) fiihrt. Ob diese abnorme Veranlagung direct in 
die Gewebe, oder in die Korpersafte, oder etwa in das Nervensystem, 
den in der Trophik des Korpers die leitende Rolle flihrenden Theil, 
zu verlegen ist ; dartiber aussert sich Striimpell nicht. Die letztere 
Moglichkeit dtinkt uns als die wahrscheinlichste, zumal ja auch die 
begleitenden Symptome, sowohl die Glykosurie als die sexuellen 

(1 Linsmayer, L., Ein Fall von Akromagalie. Wiener klinische Wochen- 
schrift. 1894. S. 294. 

2) Striimpell, Ein Beitrag zur Pathologie nnd pathologischen Anatomic 
der Akromegalie. Deutsche Zeitschrift fur Nervenheilkunde. Bd. XL S. 51. 


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Zur Klinik dor Akromegalie. 


485 


Storungen, gleichfalls von Veranderungen des Centralnervensystems 
abhangig sein konnen. Ob die in manchen Fallen — so auch in dem 
weiter unten folgenden — neben dem abnormen Grossenwachsthum 
beobachtete Muskelatrophie spinalen Ursprunges, oder, wie Manche 
wollen, interstitiell-neuritischen Ursprunges ist, ist noch nicht ent- 
8cbieden, die erstere Annahme ist f&r uns die wahrscheinlichere. 

Bevor wir jedoch auf weitere Einzelheiten eingehen, moge die 
Bescbreibung des von uns beobachteten Falles, der mir die Veran- 
lassung zu den obigen Ausffthrungen gab, folgen. 

Jos. Ossia, 44 J. alt, wurde am 28. VII. 99 auf die Nervenabtheilung 
aufgenommen. 

Der Vater des Pat., 64 J. alt, ist bis auf rheumatiscbe Knie- 
schmerzen vollkommeu gesund. Die Mutter leidet an Durchfall. Von 
8 Geschwistern — 5 Tbchter, 3 Sohne — ist Pat. der Reihe nach der 
zweite. Seine um 2 Jahre jiingere Schwester hat seit jeher sehr dicke 
Daumen, im Uebrigen ist sie gesund, sie ist von niedrigem Wuchs. 

Pat. entwickelte sich als Kind vollkommen gut, lernte fleissig. Auch 
bei ihm waren beide Daumen, ahnlich wie bei seiner Schwester, von der 
Kindheit auf nngewohnlich gross und dick. Mit 18 Jahren trat er als 
Arbeiter in eine Weberei ein und hatte mit dem linken Fusse eine schwere 
Maschine in Bewegung zu setzen; in Folge dessen bekam er nach 
l 1 ^ Jahren starke und sehr hartn&kige Schmerzen in der linken Ges&ss- 
haifte. Trotzdem er die Fabrik verlassen hatte, dauerte es circa 2 Jahre, 
bis er seine Gesundheit zuriickgewann. Vor 5—6 Jahren begab sich Pat. 
nach Amerika; er hatte daselbst als Colporteur schwere Lasten — bis 
zu 3 Pud — auf der linken Schulter zu tragen und musste nicht selten 
damit belastet auf hohe Berge steigen. Schon bald fuhlte er sich durch 
diese Beschaftigung sehr geschw&cht und nach 2 Jahren, als er sail, dass 
er ihr nicht gewachsen sei, ging er wieder nach Europa zuruck. Er hatte 
sich in dieser Zeit so sehr ver&ndert, dass seine Frau ihn nicht wieder er- 
kannte. Seine Gesundheit hat er seitdem nicht wieder erlangt, die allge- 
meine Kftrperschw&che schritt allmahlich weiter, jetzt ist fur ihn sogar 
l&ngeres Gehen beschwerlich: er empfindet dabei Athembeschwerden sowie 
Schmerzen in den Leisten. Die linke Kbrperhaifte ist vom Beginne 
und auch jetzt in hoherem Grade geschwftcht. Seine Potenz nahm in 
den letzten Jahren erheblich ab. Schon seit langerer Zeit wird Pat. durch 
starken Durst gequalt, vermag aber nicht bestimmter das Auftreten dieses 
Symptoms anzugeben. Die Vergrbsserung seiner Hande und Fiisse 
habe noch vor seiner Reise nach Amerika, vor circa 10—12 Jahren 
begonnen. Vor einem Jahr trat plotzlich, ohne irgend eine bekannte Ur- 
sache, eine Anschwellung in der Umgebnng des rechten Auges 
auf; dieselbe war schmerzlos, dauerte circa 2 Wocben. Die Untersuchung 
seines Harns, vor 4 Monaten zum ersten Mai ausgeftihrt, ergab einen be- 
deutenden Zuckergehalt. Vor 1 Monat ging seine Sehkraft rapid zu- 
riick. Trotz aller Symptome war Pat. bis zuletzt als Waldh&ndler be- 
schaftigt, verblieb fast immer ausserhalb des Hanses, ernahrte sich unzweck- 
massig und war den ungiinstigsten Wetterverhalt-nissen ausgesetzt. 

Pat. raucht viel, trank Schnaps und Bier in massiger Quantitat, seit 

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XXVIII. Breeman 


einigen Monaten aber auf Befehl der Aerzte nicht mehr. Seit der Ent- 
deckung von Zncker im Harn, antidiabetisches Regime (nicht ganz stricte). 
Heine venerische Erkrankung, kein Trauma, vom Militardienst befreit gewesen. 

Seine Frau gebar 3 S5hne: der alteste, 14 Jahre alt, ist mager, aber 
gesund. Der zweite starb vor 1 Jahr an Typhus, war gleichfalls mager, aber 
gut entwickelt und gesund. Der jiingste, 4 Jahre alt (geboren schon 
nach der Riickkehr aus Amerika) ist ein kraftiger, gut entwickelter Knabe 

mit ebensolchen grossen 
Daumen, wie sie der Vater 
hat, auch soli bei ihm schon 
lange grosser Durst bestehen. 
(Leider war es mir nicht m6g- 
lich, den Knaben zu Gesicht zu 
bekommen, da Pat. aus einem 
entfernten Orte im Gouver- 
nement Grodno stammt). 

Status praesens. Pat. 
ist vom krafdgem Korperbau, 
anscheinend guter Emahrung. 
Kbrperlange 171 cm, K5r- 
pergewicht 210 Pfund (rus- 
sische). Auf den ersten Blick 
fallt die ungewohnliche 
Grbsse des Gesichts, der 
Hande und Fusse auf. Im 
Gegensatz zum vergrbsserten 
Gesicht ist die Stirn niedrig 
und schmal, mit stark ausge- 
pragten (auch in der Ruhe), 
schrag nach oben und links 
verlaufenden Falten. Gesicht 
ausdruckslos, schlaff, Blick 
triibe; die linke Lidsp&lte 
weiter als die rechte; Lage 
der Bulbi normal. Im rechten 
oberen Lid ein kleines har- 
tes Geschwulstchen (Fibrom?). 
Augenbrauenbbgen stark 
hervorgewblbt; die Augen- 
brauen stehen (in der Ruhe) 
sehr hoch, senken sich bedeu- 
tend beim Zusammenziehen, 
wobei sich auch die Stirn 
glattet. Augenbewegungen normal, keine Diplopie. Sehscharfe sehr ver- 
mindert, besonders rechts, kann nur mit Mtihe die allergrossten Buchstaben 
in nachster Nahe lesen. Pupillen gleich, mittelweit, reagiren gut auf Licht, 
sowohl direct als auch consensuell, bei der Accomadotion verengt sich die 
linke besser. Gesichtsfeld normaL 

Die Nase ist unfbrmig verdickt, besonders an der Basis sehr breit, 
aber auch der Nasenriicken stark verbreitert. Die Jochbeinbbgen treten 



Fig. 1. 


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Zur Klinik der Akromegalie. 


4S7 


sehr vor, die Gegend des Oberkiefers erscheint daher eher eingezogen, die 
Haut liegt hier gut dem Knochen an. Die Ohren nicht vergrbssert, 
aber stark abstehend. Der Unterkiefer sehr vergrbssert, verdickt und 
nach vorne vorragend. Die Lippen dick, gleichsam ektropionirt so dass 
sowohl an der oberen als an der unteren das Lippenroth zu seben ist. 
Die Unterlippe scheint etwas vorzustehen. 

Die Zunge im Ganzen nicht bedeutend vergrbssert, weicht mit der 
Spitze stark nach links ab; die linke Zungenh&lfte hochgradig atro- 
pbisch mit tiefen Quer- und L&ngsfarchen und starkem fibrill&ren Zittern; 
die Oberfl&che der Zunge auf der linken Seite trockener Und rbtber 
als rechts. 

Die Z&hne wurden seit drei Jabren scblecht, fielen yon selbst heraus 
oder liessen sich mit Leicbtigkeit und schmerzlos herausziehen. Die 
untere Zahnreihe steht urn einige mm yor der oberen. Zahnfleisch 
atrophisch, derartig, dass die Wurzeln mancher Z&hne sichtbar werden. 
Einige Zbbne wackeln. 

Pat. bffnet und schliesst den Mund, zeigt die Z&hne gut, zu pfeifen ist 
er nicht im Stande. Das Gehbr auf dem linken Ohre etwas schlechter als 
auf dem rechten: Uhr links in 2 cm, rechts in 12 cm Entfernuiig. 

Gaumen, Rachen normal. Schlucken gut. Pat. klagt fiber Trocken- 
heit im Munde und im Halse. Seine Stimme ist laut, rauh, wie 
heiser. 

Der Kopf leicht nach vorne geneigt, scheinbar zwischen die Schultern 
eingedriickt. Der Hals sehr kurz. Der Brustkasten sehr gross, sowohl 
im frontalen als auch im sagittalen Durchmesser, nach unten zu verbreitert 
er sich noch mehr. Die Rippen sehr breit. Die Schliisselbeine treten 
stark vor, sind sehr breit und dick, verlaufen mehr schr&g nach oben und 
aussen; das linke Schliisselbein ist noch dicker als das rechte, namentlich in 
seinem akromialen Theile. Die Fossae supraclaviculares sind vertieft. In den 
Muskeln des Schultergiirtels deutliche Atrophie, namentlich in den 
Mm. supra- et infraspinati, daher die Fossae supra- et infraspinata 
sehr stark vertieft; auf der linken Seite die Atrophie st&rker, die M. deltoides 
dagegen zeigen guten Ern&hrungszustand. 

Ober- und Vorderarme ann&hernd normal, ihr Volum nicht vergrossert. 
Dagegen sind die H&nde durch ungewbhnliche Grbsse ausgezeichnet, auch 
die Finger sind sehr gross: sowohl die H&nde, als auch namentlich die 
Finger sind in der Querrichtung noch st&rker vergrbssert als in der 
L&ngsrichtung. Die Pulpa der letzten Phalangen verdickt, die N&gel 
breit und kurz; die Nagelphalanx des Daumens ist nahezu kugelig, der 
Nagel selbst halbmondfbrmig; die Grundphalanx ist bedeutend schm&ler. 
Thenar und Hypothenar gut entwickelt, ihr Tonus etwas herabgesetzt. Die 
Haut der Vola manus ist so weit vergrbssert, dass bei Streckung der 
Finger ihre Falten nicht verschwinden. Die Ver&nderungen an beiden 
H&nden symmetrisch. 

Im dorsalen Theile der Wirbels&ule starke bogenfbrmige Kyphose, 
dagegen die Lordose des Lendentheiles schwach ausgebildet. Percussion 
der Wirbels&ule nirgends schmerzhaft. 

Geschlechtsorgane gut entwickelt. Beckengiirtel, Ober- und Unter- 
schenkel normal. Die Knochel sehr verbreitert. Fiisse sehr gross, die 
Zehen verl&ngert und sehr breit. 


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XXVIIL Bregman 


Grundphalanx 


Durch genaue Messung erhielten wir folgende Zahlen: 

Kopfamfang (durch Glabella und Prom, occipitalis) = 61,0 cm 

Von Glabella bis zur Prominentia occipitalis l&ngs der Sagittalnaht = 35,0 „ 
Nasenbreite an der Basis = 6,0 „ 

XJnterkieferbreite (von einem Winkel bis zum anderen) = 14,0 „ 

Umfang des Oberarmes in der Mitte (rechts = links) = 28,0 „ 

Vorderarmes in der Mitte (rechts = links) = 24,5 „ 

„ am Handgelenk = 20,0 „ 

Nagelphalanx des Daumens rechts = 10,2 „ 

„ links = 9,8 „ 

„ rechts = 8,5 „ 

„ links = 8,6 „ 

zweiten Fingers rechts = 9,0 „ 

„ „ links = 8,4 „ 

fimften „ rechts = 8,0 „ 

,, w j» » » « links = 7,4 „ 

L&nge des dritten Fingers (rechts = links) = 9,8 „ 

Umfang des Oberscbenkels 18 cm fiber der Patella rechts = 44,5 „ 

„ „ ,, 18 ,, ,, „ „ links = 45,0 „ 

„ „ Unterschenkels, maxima]er, rechts = 35,0 „ 

„ „ „ „ links = 36,7 „ 

„ in der H5he der Malleoli rechts = 28,0 „ 

„ „ „ „ „ „ links = 29,0 „ 

L&nge des Fusses vom Calcaneus his zum Ende der grossen 

Zehe (rechts = links) = 30,0 „ 
L&nge des Fusses vom Calcaneus bis zum Ende der kleinen 

Zehe (rechts = links) = 25,0 „ 

Umfang der Nagelphalanx der grossen Zehe (rechts = links) = 12,5 „ 

L&nge der grossen Zehe bis zum Khpfchen des Metacarpal- 

knochens rechts = 7,5 „ 

L&nge der grossen Zehe bis zum Khpfchen des Metacarpal- 

knochens links = 7,7 „ 
Umfang der Grundphalanx der zweiten Zehe rechts = 6,3 „ 

„ „ „ ,, „ „ links = 6,5 „ 


Die grobe Kraft der Muskeln iiherall herabgesetzt, in den links- 
seitigen Extremit&ten erheblich geringer als in den rechtsseitigen. Der 
Dynamometer (Mathieu) zeigt rechts 75, links 65. Der linke Arm wird 
nicht so gut erhoben als der rechte. Pat. kann nicht rasch gehen, im All- 
gemeinen ermtidet ihn das Gehen sehr und er nimmt mit Vorliebe die 
horizontale Lage ein. Auf dem rechten Beine kann er stehen, auf dem 
linken dagegen nicht. Romberg negativ. 

Der Muskeltonus iiberall herabgesetzt. Knieph&nomen (auch bei 
Jendrassik) beiderseits schwach, Achillessehnenreflex nicht ausl5sbar. Fuss- 
8ohlenreflex beim Kitzeln abwesend, beim Stechen schwach. Cremasterreflex 
rechts m&ssig, links schwdcher, Bauchreflexe ra&ssig. 

Die Untersuchung mit dem elektrischen Strom ergab in den 
Schultergfirtelmuskeln herabgesetzte Erregbarkeit, namentlich im M. in¬ 
fraspinatus (bei maximalen Strbmen sehr schwache Zuckungen). Keine 
deutliche EaR, jedoch im Deltoideus A u. Z = KSZ. 


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Zur Klinik der Akromegalie. 


489 


Die Sensibilitftt zeigte sich anf der linken Gesichtshftlfte in 
der N&he des Ohres deutlich herabgesetzt (besonders das Schmerzgef&hl), 
im Uebrigen war objectiv keine Storung nachweisbar, subjectiv gab 
Pat. an, dass er anf der linken Kbrperhftlfte die Kftlte weniger gut 
empfindet. 

Anf der linken Kopfseite stftrkere Hantabschnppnng nnd sp&r- 



Fig. 2. 


licheres Haar: lant Angabe des Pat. begann die Abschnppnng nnd der 
Haaransfall vor einigen Monaten. 

Die Herzdampfung vergrdssert, bis znr dritten Rippe, bis znr Linea 
mamillaris sinistra. Herzstoss stark, diffus in der ganzen Herzgegend 
sichtbar. Tone rein. Puls 96, mittlerer Spannung, Arterie weich. Athmnng 
regelmftssig, abdominal. 

Das t&gliche Harnqnantnm vermehrt, ca. 4 Liter. Der Harn yon 


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XXVIII. Bregman 


strohweis8gelber Farbe, durchsichtig, reagirt saner, enth&lt (Dr. Sterling) 
Zucker: 3^2 Proc.; feste Bestandtheile 44,17 (in 1000 ccm) bei einem 
spec. Gewicht 1019; Harnstoff 27,0 g; Chloride vermehrt, Phosphate ver- 
mindert, Spnren von Indican; kein Eiweiss. Im sehr spfirlichen Niederschlag 
waren enthalten hauptsachlich Krystalle von oxalsaurem Kalk, wenig 
Urate, einzelne Lenkocyten, ziemlich viele Plattenepithelien (von den 
Harnwegen). 

Die ophthalmoskopische Untersnchung (Dr. Muttermilch) zeigte 
folgenden Befund. 

Rechtes Ange: Sehnervenpapille hyperfimisch, Venen erweitert. Im 
verkehrten Bilde zur Seite der Papille zwei Blutaustritte: einer hat die 
Grhsse eines Stecknadelkopfes, der andere viel grosser (etwa 1 qcm), fiber 
dem ersten. Retina in der ganzen Umgebnng der Papille stark geschwollen, 
von grauer Farbe; an der Stelle der Macula lutea eine grosse Zahl kleiner 
weisser Flecke, die an manchen Stellen auch zu grosseren Flecken 
conflniren. 

Visas = 20/200. Hypermetropia , / 24 . 

Linkes Ange: Die Papille and Retina in ihrer Umgebnng wie im 
rechten Ange, nach aussen von der Papille (im verkehrten Bilde) einige 
kleine Blutaustritte. An der Macula lutea dieselben Ver&nderungen 
wie rechts. 

Visas = 20/200. Hypermetropia 1 / 24 . 

Die Radiogramme der Hand und des Gesichts, ausgefuhrt in meinem 
Rfintgenlaboratorium, bieten ein sehr charakteristisches Bild: wir sehen, 
dass die Vergrdsserung der Hand zum Theil die Folge einer Vergrosserung 
der Knochen ist, die nicht einmal sehr hochgradig ist, hauptsfichlich aber 
auf einer enormen Entwicklung der Weichtheile beruht; der L&ngs- 
durchmesser der einzelnen kleinen Knochen ist in geringerem Maasse ver- 
grdssert als der Querdurchmesser; die Verdickung der Knochen betrifft 
hauptsfichlich die Diaphysen, an den letzten Phalangen sind auch die 
Epiphysen stark aufgetrieben; die Verdickung ist ziemlich gleichm&ssig, 
eine deutliche Unregelm&ssigkeit des Contours — Exostose — findet sich 
nur an der ersten Phalanx des dritten Fingers; die Entfernung zwischen den 
Gelenkenden der einzelnen Phalangen und namentlich den ersten Phalangen 
und den Metacarpalknochen ist vergrdssert. 

Es handelt sich urn einen der ausseren Erscheinung nach typischen 
Fall, in welchem die Diagnose Akromegalie fiber alle Zweifel erhaben 
ist. Das abnorme Grossenwachsthum der Korperenden 
war durchaus charakteristisch, der eigenthfimliche Gesichts- 
typus flir Jeden, der auch nur eine gute Abbildung eines Akromegalie- 
kranken gesehen hat, unverkennbar. Wie in den meisten Fallen war 
der Gesichtsausdruck schlaff, apathisch. Die auffallende Ver- 
langerung des Gesichts, die enorme Entwickelung des 
Unterkiefers, das Vorstehen der unteren Zahnreihe, das 
starke Hervorragen der Jochbeinbogen, wodurch die Wange 
gleichsam wie eingezogen erschien, das Hervorgewolbtsein der 
Augenbrauen durch die starkere Entwicklung der oberen Rander 


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Zur Klinik der Akromegalie. 


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der Orbita und die wohl dadurch bedingte starke Faltung der 
Stirn seien noch einmal besonders hervorgehoben. Der Schadel- 
amfang war zwar bedeutend vergrbsserh Typisch war der kurze 
Hals, der scheinbar zwischen die Schultern eingedrUckte 
Kopf, der ungewohnlich breite und weite Brustkasten, mit stark 
vorspringendem Sternum, die Kyphose im Brusttheil der Wirbel- 
saule, die verlangerten und verdickten Schltissselbeine, die 
enorm grossen Hande und Fiisse bei verbaltnissmassig normalem Volum 
der Arme und Schenkel. 

Die Hande und Finger waren zwar auch in der Langsrichtung, 
hauptsachlich aber in der Querrichtung gewachsen, entsprechend dem 
type massif von Marie; 1 ) es scheint dies das h&ufigste Verhalten zu 
sein, wahrend der type long desselben Autors bei der echten Akro¬ 
megalie wohl selten angetroffen wird. Wie das beigefttgte Rontgo- 
gramm zeigt, sind an der Verdickung in erster Linie die Weich- 
theile betheiligt, wahrend die Knochen in geringerem Grade ge¬ 
wachsen sind; es deckt sich dieser Befund mit denen von Schultze, 2 ) 
Marinesco, 3 ) Edel, 4 ) Sternberg 5 ) und Schlesinger 6 ) u. A. 

Die Verdickung der Knochen betrifft vorztiglich die Diaphysen, 
nur an den letzten Phalangen waren auch die Epiphysen aufgetrieben; 
die Verdickung war ziemlich gleichmassig; Osteophyten konnten nur 
an einer Stelle constatirt worden. 

Die Verdickung der Haut an der Hand liess sich, wie es auch 
Strtimpell bemerkt hatte, daran erkennen, dass beim Strecken der 
Finger die Fatten der Vola manus sich nicht glatteten, sondern ziem¬ 
lich dicke Wlilste bestehen blieben. Dagegen war die Haut im Ge- 
sicht vom stark vorspringenden Jochbeinbogen zum vergrosserten Unter- 
kiefer ziemlich stramm gespannt, dem Knochen (Oberkiefer) an- 
liegend, derarfc, dass die Wange eher eingezogen zu sein schien. 

Ein ungewohnliches Symptom ist die starke Hautabschuppung 
und vermehrter Haarausfall auf der linken Kopfhalfte. In den 
meisten Fallen von Akromegalie blieben die Haare unverandert (vergl. 
Sternberg S. 49), in wenigen waren sie verdickt und vermehrt. 


1) Marie, Sur deux types de deformation des mains dans Facromegalie. 
Bull, et memoires de la Society des H6pit. de Paris. 1896, 1. Mai. 

2) Schultze, Die Hand der Akromegalischen in der Beleuchtung durch 
Rontgenstrahlen. Niederrh. Gesellsch. f. Nat. in Bonn. 1896, 10. Febr. 

3) Marinesco, Etude des mains d’acromegaliques au moyen des rayons 
du Rontgen. 0. R. de la Soc. de Biologie. 1891. 

4) Edel, Rontgenbilder bei Akromegalie. Neurol. Centralblatt. 1897. S. 95. 

5) Schlesinger, Neurologisches Centralblatt. 1897. S. 596. 

6) Sternberg, 1. c. 


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XXVIII. Bregman 


Haarausfall beobachtete nur Doogson 1 ), Es ist hervorzuheben, dass 
der Haaraasfall in unserem Falle dieselbe Seite betraf, anf welcher 
auch andere Storungen, yon denen waiter unten die Rede sein wird, 
yorherrschten. 

Zur Kategorie der vasomotorischen Symptome gehort wohl 
die bei unserem Kranken freijich bios anamnestisch erhobene An- 
schwellung um das rechte Auge. Dieselbe trat plotzlich auf, war 
durcbaus schmerzlos und schwand nach Verlauf yon zwei Wochen. 
Aehnlich vorttbergehende Anschwellungen wurden yon mehreren Autoren, 
Erb, 2 ) Sternberg, 3 ) Fratmich, 4 ) Jorgo 5 ) im Anfangsstadium des 
Leidens beobachtet, im Falle St rum pell's 6 ) bildeten sie eine Prodo- 
malerscheinung, die um yiele Jahre dem Auftreten der Akromegalie 
yorausging. 

Die Glykosurie, die allgemeine Korperschwache und leichte 
Ermttdbarkeit, die Abnahme der Potenz gehoren zu den be- 
kannten Symptomen unseres Leidens. Ebenso wurde auch die Hyper- 
trophie und Dilatation des Herzens, die Abnahme der 
Patellarreflexe schon von Vielen gefunden und beschrieben. 
Sehr bemerkenswerth dagegen ist bei unserem Kranken die ziemlich 
stark ausgedrdckte Schwache der einen — der linken — K5rper- 
halfte, yerbunden mit einer geringen, feist nur subjectiv nachweis- 
baren Geffthlsabstumpfung (besonders f&r Kalt). Eine deutliche ob¬ 
jective Sensibilitatsstorung fand sich nur im Gesicht, in der Umgebung 
des linken Ohres. 

Auf der gleichen Seite konnte eine hochgradige Atrophie der 
Zunge constatirt werden: dieselbe wich mit der Spitze stark nach 
links ab, die linke Zungenhalfte zeigte tiefe Quer- und Langsfurchen 
und starkes fibrillares Zittem und im Vergleich mit der rechten Halfte 
eine starke Volumsaboahme, wahrend die Gesammtgrosse der Zunge 
nicht erheblich verandert war. Das gewohnliche Verhalten bei Akro¬ 
megalie ist bekanntlich das, dass die Zunge an der Vergrosserang der 
Korperenden theilnimmt, in manchen Fallen war sie sogar in dem 

1 ) Doogson, Harvejan Society of London 1896, March 5. The Lancet 
1896. I. p. 772. 

2) Erb, Naturhist. med. Verein in Heidelberg. Mdnch. med. Woch. 1894. 
S. 544. 

8 ) Sternberg, Beitrage zur Kenntniss der Akromelagie. Zeitschr. f. klin. 
Med. XXVH. 1894. S. 25. 

4 ) Fratmich, Ein Fall von Akromelagie, Allg. med. Zeitung. 1892. 
S. 405 u. 1893 S. 451. 

5) Jorgo, Contributions & l’4tude de l’Acromegalie. Archivio di Psichi- 
atria. 1894. Vol. XV. p. 412. 

6 ) StrUmpell, 1. c. S. 68. 


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Zur Klinik der Akromegalie. 


493 


Maasse vergrossert, dass flir sie in der Mundhohle kein genugender 
Platz sich fand. Trotz dieser Vergr&sserung ergab die mikroskopische 
Untersuchung nicht selten yerschiedenartige Degenerations- und Atro- 
phiezustande der Muskelfasern. Eine makroskopisch sichtbare, zumal so 
stark ausgesprochene Atrophie einer Zungenhalfte wie in unserem 
Falle wurde in keinem der mir zuganglichen Falle beobachtet und 
wird auch in den bezttglichen Monographien nicht erwahnt. 

Dagegen wurden atrophische Zustande an der Korper- 
musculatur schon yielerseits beobachtet und namentlich von Du* 
chesneau, 1 ) der sie mit der progressiven Muskelatrophie verglich, 
grundlich studirt. In unserem Falle war die Atrophie am deutlichsten in 
den Schulterblattmuskeln und zwar gleichfalls starker auf der linken 
Seite; damit yerband sich eine 1 sehr bedeutende, bis auf ein Minimum 
reducirte, Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeii 

Dass Erscheinungen einer Hirngeschwulst und speciell einer Er- 
krankung der Hypophysis yollkommen fehlten, habe ich schon in der 
Einleitung erwahnt: der Kranke hatte nie Kopfschmerzen, das Ge- 
sichtsfeld zeigte keine nachweisbare Storung, es bestand keine Stauungs- 
papille. Dagegen fanden sich im Augengrunde Veran derun gen, wie 
sie meines Wissens bei Akromegalie noch nicht beschrieben wurden: 
zahlreiche weisse Flecke, namentlich in der Gegend der Macula lutea, 
Blutextravasate, graue Verfarbung der Retina, venose Hyperamie der 
Retina und der Sehnervenpapille, kurz das Bild einer Retinitis, 
wie sie laut Ausspruch des Augenarztes vornehmlich bei Albuminurie 
beobachtet wird. Da wir jedoch trotz wiederholter Untersuchungen 
kein einziges Mai Eiweiss im Harn nachweisen konnten (auch keine 
Cylinder), dflrfen wir wohl diesen ungewohnlichen Befund auf die 
Glykosurie zurttckf&hren, bei welcher eine ahnliche Erkrankung der 
Netzhaut, wenn auch seltener (vergL Fuchs, Lehrbuch der Augen- 
heilkunde. S. 439) angetroffen wird. 

Kurz noch einmal unseren Fall zusammenfassend, handelt es sich 
um einen Fall von Akromegalie, welcher ausgezeichnet ist 

1. durch das Fehlen von Symptomen einer Hirngeschwulst und einer 
Hypophysiserkrankung; 

2. Glykosurie und diabetische Retinitis; 

3. hochgradige Atrophie der linken Zungenhalfte und Atrophie der 
Muskeln des Schultergttrtels, namentlich der M.-supra et infra- 
spinati (links starker); 


1) Duchesneau, Contribution & l’6tude anatomique et clinique de 
l’acromegalie et en particulier d’une forme amyotrophique de cette maladie. 
Thfese de Lyon. 1891. 


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494 XXVIII. Bregman 

4. leichte Parese der linken Korperhalfte mit unbedeutenden Sensibili- 

tatsstbrungen (besonders im Oesicbt). Haarausfall auf der linken 

Kopfhalfte. 

Wenn man alle diese Symptome zusammenhalt, so gewinnt man 
wohl kaum den Eindruck, dass eine Erkrankang der Hypophysis die 
primare Ursache derselben vorstellen konne. Es ist viel wahrschein- 
licher, dass eine Affection des Nervensystems vorliegt, welche alle ge- 
nannten Erscheinungen und nicbt minder auch* das abnorme GrSssen- 
wachsthum der Korperenden verschuldet. 

Wie steht es um die Aetiologie unseres Falles? 

Pat. beschuldigt schwere korperliche Arbeit und namentlich 
das Tragen schwerer Lasten auf der linken Schulter bei beschwer- 
lichem Bergsteigen. Es kann nicht geleugnet werden, dass dieses 
Moment einen schadigenden Einfluss ausiiben konnte, die vorherrschend 
auf der linken Seite localisirte Muskelatrophid konnte sogar als Stutze 
dafttr angeftthrt werden. Dass dies aber die eigentliche Ursache des 
Leidens sein soli, ist durchaus unwahrscbeinlich. Pat. giebt selbst an, 
dass die Vergrosserung seiner Extremitaten bereits vor 12 Jahren, 
also noch vor seiner Beise nach Amerika und der anstrengenden 
Thatigkeit daselbst begonnen babe. Ferner aber baben wir in der 
Anamnese noch einen anderen wicbtigen Hinweis darauf, dass es sich 
um eine abnorme Veranlagung des Korpers handelt 

Laut Angabe des Pat. zeichnete er sich seit der Kindheit durch 
die ungewohnliche Grosse seiner Daumen aus; die gleiche Anomalie 
finde sich bei seiner um zwei Jahre jlingeren und im Uebrigen gesund 
gebliebenen Sch wester, so wie bei seinem jflngsten, nunmehr vier Jahre 
alten Kinde.Wenn diese Angaben richtig sind, woran zu zweifeln 
kein Grund vorhanden ist, so haben wir einen angeborenen (famili- 
aren) partiellen Riesenwuchs (Makrosomie, Makrodaktylie) vor 
uns, aus dem sich bei unserem Pat. die Akromegalie herausgebildet 
hat Die nahen Beziehuugen zwischen dem allgemeinen Riesenwuchs 
und der Akromegalie sind schon lange bekannt. Nach der Berech- 
nung Sternberg's 1 2 ) sind"20 Proc. aller Akromegalen Riesen und 
40 Proc. aller Riesen werden nachtraglich akromegaliscb. Von 
mancher Seite, so besonders von Brissaud, 3 ) wurde auf Grund dessen 

1) Ob bei dem Kinde, das angeblich grossen Durst zeige, andere Krank- 
heitserscheinungen vorliegen, kann ich nicht bestimmen, da es mir unmoglich 
war, den Knaben zu Gesicht zu bekommen. 

2) Sternberg, Akromegalie und Riesenwuchs. Zeitschr. f. klin. Medicin. 
XXVII. S. 104. 

3) Brissaud et Meige, Gigantisme et Acromegalie. Journ. de M4d. et 
Chir. 1895. p. 49. 


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Zur Klinik der Akromegalie. 


495 


die Identitat beider Vorgange behauptet, „die Akromegalie sei der 
Eiesenwuchs des in seiner Entwicklung yollendeten Individuums, der 
Riesenwuchs die entsprechende Wachsthumsstorung der Entwicklungs- 
periode“. Dem widerspricht aber, wie Sternberg richtig betont, dass 
der Riesenwachs keine eigentliche Krankheit ist, dass die Riesen 
vielmebr ihr Leben lang vollig gesnnd bleiben konnen. Dagegen ist 
die Akromegalie ein emster Krankheitszustand, begleitet von ver- 
schiedenartigen anderen Symptomen, welche langsam fortschreitend, 
das Individuum zu Grunde richten. Ob es auch, wie Strtimpell 
vermuthet, einen akromegaliscben Habitus, als blosse Wachsthums- 
anomalie oline complicirende Krankheitssymptome, giebt, muss einst- 
weilen dahingestellt bleiben. Jedenfalls aber erscheint die Thatsache 
von grosser Bedeutung, dass die Akromegalie^ sich auf dem Boden 
angeborener Wachsthumsstorungen entwickeln kann und zwar nicht 
nur aus allgemeinen Abweichungen des Korperwachsthums, wie der 
Riesenwuchs (auch der Zwergwuchs zeigt bei manchen Cretinen gewisse 
Beziehungen zur Akromegalie), sondern auch, wie hier gezeigt wurde, 
aus partiellen Storungen, der partiellen angeborenen Makrosomie. 


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XXIX. 


Nachtrag 

zur Arbeit „Ueber periodische Oculomotoriusl8hmung“ von P. J. Mobius 
in Leipzig im 3./4. Heft dieses Bandes. 

Am 3. Juli kam die anf S. 294 bescbriebene Kranke mit completer link- 
seitiger Oculomotoriusl&hmung von Neuem zu mir. Vor 3 Tagen hatte sie 
nach einem heftigen Aerger wieder Kopfschmerzen and Aagenschmerzen 
links bekommen, hatte alle paar Stunden erbrechen miissen. Oestern ist 
das Aage zngefallen. Die Erscheinongen waren wie friiher, nor ist die 
lin&seitige Hyp&sthesie sehr gering, and es sind die Unterschiede der 
Arterienweite weit weniger stark als friiher. Aach sollen die Schmerzen 
diesmal nicht so heftig gewesen sein. In der Zwischenzeit hat die Pat. 
sich wohlbefanden, nor ist das Schwarze im linken Auge immer gross 
geblieben and sie hat mit diesem Auge „etwas bleicher u gesehen. 

Die L&hmung ging diesmal rascher zuriick, schon am 18. Juli war die 
Ptosis beseitigt. Am 15. August war alles wieder normal bis auf Starke 
Mydriasis. 


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XIX. 

Besprechnngen. 

1. 

P. J. MBbius, Ueber die Anlage znr Mathematik. Mit 51 Bildnissen. 

Leipzig, J. A. Barth. 1900. 331 Stn. 

An die Lectiire des vorliegenden Baches werden die meisten medi- 
cinischen and wohl noch mehr die mathematischen Leser mit einem gewissen 
Misstrauen gehen. Zwar weiss Jeder, der die friiheren Schriften des Vert 
kennt, dassAlles, was Mb bins schreibt, aus einem scharfsinnigen, unab- 
h&ngigen Denken entspringt, daher ein dnrcbans originelles Gepr&ge zeigt 
und in stets fesselnder, zuweilen gl&nzender Form dargeboten wird. Allein 
die vorliegende neneste Stndie des Verf. bertihrt ein von der Wissenschaft 
scheinbar bereits so vbllig iiberwundenes Gebiet, dass der Versuch einer Neu- 
belebnng desselben zun&chst gewiss bei den meisten Lesem ein bedenkliches 
Kopfschiitteln erregen wird. Handelt es sicb doch am nichts Anderes, als 
nm die Wiedererweckung der l&ngst todt geglanbten Gairscben „Phre- 
nologie“, jener Lehre, von der wir jetzigen Aerzte und Pbysiologen bis- 
her kanm mehr gewusst haben, als die spasshafte Erinnerung an einen 
kahlen Modellkopf in irgend einem Schaufenster, bemalt mit einer Unzabl 
abgezirkelter Felder und beschrieben mit den Namen aller moglichen Ta- 
lente, Tugenden und Laster. 

Wer so von vornherein mit spottischem Unglauben an das Buck 
herantritt, dann empfehle ich vor Allem zuerst den „Anhang“ (S. 197—331) 
zu lesen, in dem Mbbius einen kurzen, aber ftusserst interessanten Ueberblick 
iiber das Leben, die Personlicbkeit und die wissenschaftlichen Leistungen 
Franz Joseph Gall's (geb. 1758 in Tiefenborn bei Pforzheim, gest. 1828 
bei Paris) giebt. Man ersieht hieraus, dass Gall durchaus nicht der ver- 
schrobene Sonderling war, fiir den man ihn vielfach gehalten hat, sondera 
ein echter Forscher von klarem Verstande und nhchtemem Thats&chlich- 
keitssinn, der in seinen Anschauungen und Kenntnissen von der Anatomie 
und Physiologie des Nervensystems alien seinen Zeitgenossen weit voraus 
geeilt war. Es ist bewunderungswiirdig, iiber wie viele, erst sp&ter allge- 
mein anerkannte Thatsachen Gall bereits vollst&ndig richtige Ansichten 
ge&ussert hat. Seine Zeitgenossen haben ihn vielfach bekftmpft und ange- 
feindet. Heute wissen wir, wie oft er Recht hatte und seine Gegner Unrecht. 

Auch uber die Phrenologie Gall's werden wir heute, selbst wenn 
wir die meisten einzelnen Schlussfolgerungen Gall’s ftir irrthiimlichhalten,doch 
wesentlich anders urtheilen miissen, als man es bis vor 30—40 Jahren gethan 
hat. Wir miissen den Grundgedanken, dass jede individuelle Eigenart des 
geistigen Lebens und Konnens unmittelbar mit einer individuellen besonderen 
Beschaffenheit des Gehiras zusammenh^ngt, unbedingt als wahr anerkennen. 
Ebensokannes im Allgemeinen keinemZweifelunterliegen, dass die Grbsse und 
die ftussere Beschaffenheit des Schftdels (die ftussereKopfform) bis zu einem ge- 


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498 


XXX. Besprechungen. 


wissen Grade von der Beschaffenheit des Gehirns abhangig ist. Weit schwie- 
rigerzn entscheiden sind aber die beiden sich daran anschliessenden Fragen, 
ob diese besondere Beschaffenheit des Gehirns aach im Einzelnen einen 
erkennbaren anatomischen Ausdruck findet nnd in wie weit sie uber- 
haupt an eine uraschriebene Stelle des Gehirns gebnnden ist Die erste 
dieser Fragen ist natiirlich nnr auf dem Wege der Beobachtong zu ent- 
scheiden; die andere fiihrt nns zur Nothwendigkeit einer genanen Analyse 
der einzelnen Charaktereigenthiimlichkeiten nnd „Talente“ des Menschen. 
Je einfacher nnd „einseitiger“ die betreffende Eigenschaft oder Thatigkeit 
des Geistes ist, nm so mehr diirfen wir sie anch als gebnnden an eine um- 
schriebene Stelle des Gehirns erachten. Es ist daher sicher ein berechtigtes 
wissenschaftliches Vorgehen von Mb bins, bei der Nachprfifhng der 
Gall’schen Lehren nicht sofort die ganze Mannigfaltigkeit der Gaben nnd 
Eigenheiten des Geistes, sondern zun&chst nnr ein einziges nnd zwar ein 
mbglichst eng nngrenzbares, einseitiges Talent znm Gegenstand der Unter- 
snchnng zn machen. Als solches w&hlte er die „Anlage zur Mathematik“. 
In scharfsinniger Weise werden die Besonderheiten dieses beim Menschen 
verh&ltnissm&ssig seltenen Talentes (auf 20. Schuler der hbheren Gymna- 
sialklassen kommt hbchstens einer, dem man rathen konnte, Mathematik zn 
stndiren) erbrtert, dnrch zahlreiche Beispiele wird das Angeborensein dieses 
Talentes nnd seine Unabh&ngigkeit von anderen Geistesfthigkeiten darge- 
than. Es ist nach der Gall’schen Terminologie eine Grundkraft nnd 
eignet sich daher besonders gnt zur Prufung der Frage, ob dem ausge- 
sprochenen Vorhandensein des mathematischen Talentes das Vorhandensein 
eines besonderen mathematischen Organes entspreche. Gall hatte 
das „Organ des Zahlensinns“ in demjenigen Theile des Stirnhirns gesncht, 
welcher auf den am meisten lateralen Theil der Daches der AngenhQhle 
anfliegt, in einer Fnrche oder Einsenknng, die von vorn nach hinten zieht. 

Nun kommt der dritte nnd entschieden bedenklichste Pnnkt der Gall- 
schen Lehre. Der nmschriebenen ungewohnlichen Entwicklnng des be- 
treffenden Gehirntheils (des eigentlichen „ Organs “ fiir das Talent) soil eine 
ausserlich am Schadel (bez. Eopf) erkennbare Bildnng entsprechen. 1st 
nfimlich die oben genannte Gehirnpartie besonders stark entwickelt, so 
wird nach Gall der ftnssere Theil des Daches der Orbita dnrch sie herab- 
gedriickt, der art, dass die ftussere Halfte des oberen Randes der Augen- 
hbhle zn einer Geraden wird, die schrag von oben innen nach nnten 
anBsen zieht. Oft wird anch der laterale Theil der Orbita zngleich nach 
anssen geriickt, so dass der Proc. zygomaticns oss. frontis seitlich vorspringt 
nnd eine besonders stark entwickelte „Stirnecke u entsteht. 

Diese Angaben Gall’s hat Mbbins an einer Reihe von Kbpfen leben- 
der Mathematiker, an zahlreichen, mit grbsstem Fleiss gesammelten Bildern 
nnd Bhsten nachgeprhft nnd dnrchaus bestatigt gefunden! Den Ans- 
fuhmngen Gall’s fiigt M. noch drei Anmerknngen hinzn: 1. Die Natnr 
variirt die Form starker, als es nach Gall’s Beschreibnng scheinen mbchte. 

2. Das mathematische Organ ist in der Regel links starker entwickelt 

3. Das mathematische Organ besteht znm Theil in einer Verdicknng der 
Weichtheile. Die beiden ersten dieser Satze sind dnrchans plansibeL Der 
letzte erweckt freilich a priori wiedemm betrachtliches Zweifeln — ganz 
abgesehen von der nnpassenden Terminologie. Das ^mathematische Organ u 
als solches kann nnr im Gehirn seinen Sitz haben nnd nicht in den Weich- 


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XXX. Besprechungen. 


499 


theilen. Die st&rkere Entwicklung der Weichtheile (Haut, Fettpolster) 
fiber dem betreffenden Organ ware nicht gerade unerkiarlich, giebt aber 
docb mindestens zn starken Bedenken Anlass. 

Uebrigens stehe ich vollstandig auf dem Standpunkt, dass alles aprio- 
ristische Kritisiren nichts niitzt und man unbefangen die Thatsachen 
sammeln und genan priifen soil. Dass ich von den Mobius’schen Angaben 
aber das ftusserlich am Schfidel erkennbare mathematische Organ voll¬ 
standig hberzengt bin, kann ich nicht sagen, wohl aber, dass sich die von 
Gall hervorgehobenen Eigenthiimlichkeiten sehr oft in tiberraschender Weise 
bei mathematisch Begabten linden. Ich habe dies anch bei einigen von 
mir selbst gemachten gelegentlichen Beobachtnngen bestatigt gefunden. 
Jedenfalls sollte man die von Mfibius nen gegebenen Anregnngen nicht 
einfach bei Seite liegen lassen, sondern weiter verfolgen and nachprfifen. 
Al8 das Hanptverdienst des vorliegenden Baches betrachte ich es, erstens 
einem vielfach verkannten Manne die verdiente Stellung in der Wissen- 
schaft wiedergegeben, sodann aber auf einen neuen Weg der individual- 
psychologischen Forschnng hingewiesen zn haben, der mindestens ebenso 
anssichtsreich erscheint, wie manche anderen Methoden der modernen „exacten 
Psychologic 44 . Selbst wenn man dem Verf. in vielen Einzelheiten nicht 
wird beistimmen kdnnen, wird man ans der Lecture seines Buches doch 
Neues und Interessantes lernen und reiche Anregung zn weiterem Nach- 
denken and Beobachten finden. Es ist nicht unmdglich, dass in der Gal 1- 
Mbbias’schen Betrachtungsweise die Keime fur eine sp&tere Entwicklung 
der Anthropologic liegen, die wir jetzt noch kaum ahnen kbnnen. 

Striimpell. 


2 . 

R. Lomer (Hamburg), Znr Beurtheilung des Schmerzes in der Gynakologie. 

J. F. Bergmann, Wiesbaden 1899. 82 Stn. 

Es ist ein zweifelloses Verdienst Lomer’s, dnrch diese Schrift dar- 
gelegt zn haben, wie h&uflg es vorkommt, dass Frauen wegen rein hyste- 
rischer Beschwerden gyn&kologisch hehandelt und sogar eingreifenden 
Operationen unterworfen werden. Sehr hftufig finden sich bei Frauen um- 
schriebene hyperfisthetische Stellen in den Bauchwandungen, die lehhafte 
Beschwerden hervorrnfen nnd dann haufig auf ein thatsftchlich nicht be- 
stehendes Leiden der Geschlechtsorgane bezogen werden. Meist lassen sich 
in derartigen Fallen hysterische Stigmata nachweisen. Charakteristisch ist 
namentlich das psychische Verhalten der Kranken („ Furor operari“, Ueber- 
treibung n. s. w.), sowie oft die Verschlimmerung der Klagen im Ajnschluss 
an psychische Eindrucke. Mitunter lassen sich anch — meist gering- 
fiigige — gynakologische Leiden nachweisen, die dann als Agents provocateurs 
der latenten Hysterie gewirkt haben. Meist ist aber der Befund an den 
Geschlechtstheilen ein regelrechter. Die hyperasthetischen Hautzonen finden 
sich am hftufigsten in der Ovarialgegend; durch die combinirte Unter- 
suchung and besonders dnrch Kneifen der Haat kbnnen dann die geklagten 
Schmerzen sofort ausgelbst werden. Neben dem Nachweis hysterischer 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilknnde. XVII. Bd. 38 


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500 


XXX. Besprechungen und Literatur. 


Stigmata beweist auch der h&ufig sehr rasche Erfolg der Therapie (Sugges¬ 
tion, Galvanisation, Eisenpraparate) die hysterische Natur des Leidens. 
Lomer berichtet eine grSssere Reihe ansfiihrlicher Krankengeschichten von 
Fallen, die zum Theil sehr eingreifenden Operationen ohne jeden Erfolg 
unterworfen worden waren und in denen durch die genannte Therapie eine 
rasche Heilung oder Besserung des Zustandes erreicht wurde. 

Im zweiten Theile der Arbeit, den Lomer selbst als einen Versuch 
bezeichnet, werden die Schmerzen bei gynakologischen Erkrankungen im 
Allgemeinen besprochen und dabei die Intensitat der Schmerzen, ihre 
Qualitat, ihr Ausstrahlen nach entfernteren Korpergegenden genau erortert. 
Lomer theilt die einzelnen Schmerzen in traumatische, contractile, ent- 
zundiiche, neuralgiforme und hysterische Schmerzen ein. Nach dieser Ein- 
theilung geht Verf. dann die Schmerzen an den einzelnen Abschnitten der 
weiblichen Geschlechtstheile durch. An alien einzelnen Abschnitten sind 
die als Hyperasthesien sich aussernden hysterischen Schmerzen geeignet, 
wirkliche Erkrankungen vorzutauschen. 

Wenn das Buch auch geschrieben ist, urn den Gynakologen auf das 
„ungemein h&ufige Vorkommen“ dieser hysterischen Schmerzen an den 
weiblichen Geschlechtstheilen aufmerksam zu machen, so wird doch auch 
der Nervenarzt vieles fiir ihn Interessante in dem Buche finden. 

A. Gessner-Erlangen. 


Literatur. 

Alt, K., Allgemeines Bauprogramm fur ein Landesasyl zur ausgedehnteren 
Einiuhrung der familiaren Irrenpflege. Mit 2 Tafeln. Halle a. S., C. Mar- 
hold. 1900. 39 S. 

Baldwin, Das sociale uud sittliche Leben erklart durch die seelische Ent- 
wicklung. A us dem Danischen ubersetzt von R. Rudemann. Mit einem 
Vorwort von P. Barth. Leipzig, A. Barth. 1900. 466 S. 

v. Bunge, Die zunehmende Unfahigkeit der Frauen ihre Kinder zu stillen. 
Ein Vortrag. Munchen, E. Reinhardt. 32 S. 

Danziger, F., Schadel und Auge. EineStudie uber die Beziehungen zwischen 
Anomalien des Schadelbaues und des Auges. Mit 7 Figuren. Wiesbaden, 
J. F. Bergmann. 56 S. 

Edinger, Hirnanatomie und Psychologie. Berlin, A. Hirschwald. 25. S. 

Gorke, Die Fflrsorge ffir geistig zurflckgebliebene Kinder. Breslau 1900. 30 S. 

Hertoghe und Spiegel berg, Die Rolle der Schilddruse bei Stillstand und 
Hemmung des Wachsthums und der Entwicklung. Mfinchen, J. F. Leh¬ 
mann. 1900. 69 S. 

Hirth, G., Die Mutterbrust, ihre Unersetzlichkeit und ihre Gewohnung zur 
frfiheren Kraft. H. Auflage. Munchen 1900. G. Hirth’s Verlag. 107 S. 

Derselbe, Ideen zu einer Enqugte uber die Unersetzlichkeit der Mutterbrust. 
Munchen 1900. G. Hirth’s Verlag. 64 S. 

Hoche, Die Frtihdiagnose der progressiven Paralyse. II. Auflage. Halle a. S. 
C. Mar ho Id. 1900. 63 S. 


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Literatur. 


501 


Derselbe, Die Aufgaben des Arztes bei der Einweisung Geisteskranker in die 
Irrenanstalt Halle a. S. Karl Marhold. 1900. 32 S. 

Hochsinger, Die Myotome der Sauglinge und deren Beziehungen zur Tetanie. 
Wien, M. Perles. 1900. 64 S. 

Kroell, Der Aufbau der menBchlichen Seele. Eine psychologische Skizze, 
Leipzig, W. Engelmann. 1900. 392 S. 

M5bius, Ueber den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Halle a. S. 
C. Marhold. 1900. 26 S. 

Moilier, 8., Ueber die Statik und Mechanik des menschlichen Schulterg&rtels 
unter normalen und pathologischen Verhaltnissen. Mit 71 Abbildungen. 
Jena, G. Fischer. 1900. 81 S. 

Obersteiner, Arbeiten aus dem neurologischen Institut an der Wiener Univer- 
sitat YU. Heft. Leipzig und Wien, F. Deuticke. 1900. 316 S. 
Pesker, Un cas d’affection familiale & sympt6mes c6r6bro-spinaux. Pans, 
G. Steinheil. 1900. 73 p. 

Vincelet, Etude sur l’anatomie pathologique de la maladie de Friedreich. 
Paris, Carr4 et Nand. 1900. 154 p. 

Windscheid, Pathologie und Therapie der Erkrankungen des peripherischen 
Nervensystems. Leipzig, C. G. Naumann. 244 S. Mit 44 Abbildungen. 
Ziehen, Leitfaden der physiologischen Psychologie in 15 Vorlesungen. Fdnfte 
umgearbeitete Auflage. Jena, G. Fischer. 1900. 267 S. 


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ENCYKLOPADIE 

DEE 

HAUT- UND GESCHLECHTS- 
KKANKHEITEN 

Her&nsgegeben 

von 

Professor Dr. E. Lesser in Berlin 

Bearbeitet von 

Dk. HLAPOLANT, Berlin. Privatdocent Dr. BARLOW, WHtcasx. Dr. E. BEIEB, Lsobo. Dr. BLaSGHKO 
Bsin. Dr. BRUHNS, Berlin. Dr. BOSCHKE, Berlin. Prof. Dr. CASPARY, KOnigsberq. Prof. Dr FINGER. 
Wien. Prof. Dr. von FRET, WDrzburo. Prof. Dr. GREEFF, Berlin. Pbimarabzt Dr HABTTUNG, 
Brwh.au. Prof. Dr. ELAYAS, Budapest. Dr HELLER, Berlin. Oberarzt Dr. HERXHEIMER, Frankfurt a. M. 
Prof. Dr. HBYMANN, Berlin. Prof. Dr JADASSOHN, Bern. Prof. Dr JANOWSKI, Prao. Privat- 
docbnt Dr JANSEN, Berlin. Dr Bax JOSEPH, Berlin. Dr R. ISAAC, Berlin. Prtvatdocemt Dr LA KHR, 
Berlin. Dr. LEDERMANN, Berlin. . Prof. Dr E. LESSER, Berlin. Dr F. LOBWENHARDT, Breslau. 
Prof. Dr MRA&EK, Wien. Prosector Dr HOLLER, TObinoen. Geb. Bed. Rath Prof. Dr NEJSSKR, 
Breslau. Privatdocent Dr PASCHKIS, *Wien. Pror Dr von PETERSEN, ST. Petersburg. Prof. Dr 
POSNER, Berlin. Prof. Dr. RILLE, Innsbruck. Prof. Dr BONA, Budapest. Dr O. ROSENTHAL, Berlin. 
Dr SAALFELD, Berlin. Privatdocent Dr SCHAFFER, Breslau. Prof. Dr SEIFERT, W&rzbuko. 
Dr 8TERNTHAL, Braunschweio. Privatdocent Dr ULLMANN, Wien. Hoprath DrVEIEL, Cannstatt. 
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1900 



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11 . 

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