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DEUTSCHE ZEITSCHRIFT
fCr
NERVENHEILKUNDE.
UNTEE MITWIRKUNG
der Herren Prof. Bruns-Hannover, Prof. Edinger-Frankfurt a. M.,
Prof. v. Frankl-Hochwart-Wien, Prof. J. Hofl'mann-Heidelberg,
Prof. v. Monakow-Ziirich, Oberarzt Dr. Nonne-Hamburg,
Prof. Oppenheim-Berlin, Prof. Quincke-Iviel
HERAUSGEGEBEN
VON
Prof. Wilh. Erb
emer. Direktor der med. Klinik in Heidelberg.
Prof. Fr. Schultze
Direktor der med. Klinik in Bonn.
Prof. L. Lichtheim
Direktor der med. Klinik in Kbnigsberg.
Prof. A. v. Stnimpell
Vorstand der III. med. Klinik in Wien.
REDIGIERT VON
A. STRUMPELL.
SIEBENUNDDREISSIGSTER BAND.
Mit 40 Abbildungen und Tafel I, II.
LEIPZIG,
V ERL AG VOX F.C.W. VOGEL.
1909.
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Druek von AupuM Pri<> in Lvipzii*.
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Inhalt des siebenunddreissigsten Bandes
Erstes und zweites (Doppel-)Heft.
(Au9gegeben am 25. Juli 1909.)
Seite
I. Aus der I. medizinischen Klinik des Herrn Prof. v. No or den und
dem neurologischen Institut in Wien.
v. Orzechowski, Ein Fall von Kopftetanus mit reflektorischer
Pupillenstarre. 1
II. Aub dem neurologischen Institut an der Wiener Universitat.
Biach, Zur Kenntnis des Zentralnervensystems beim Mongo-
lismus. 7
III. Aus der kdnigl. Poliklinik fur Nervenkranke und der konigl.
Poliklinik fur Hals- und Nasenkrankheiten zu Kbnigaberg i/Pr.
Goldstein u. Cohn, Weitere Beitrage zur Symptomatologie
der Erkrankungen der motorischen Kernsaule.21
IV. Aus der I. med. Universitataklinik in Wien und dem Wiener
neurologischen Universitatsinstitut.
Schweiger, Ober Veranderungen der Spinalganglien in einem
Fall von Landryscher Paralyse (mit Status hypoplasticua) . 35
V. Aus der Abteilung fur Nervenkrankheiten des St. Stephan-Spitals
in Budapest.
Keller, Die Bedeutung des Adduktorenreflexes.49
VI. Aub der medizinischen Klinik zu Leipzig.
Steinert, Myopathologische Beitrage. (Mit 2 Abbildungen) . 58
VII. Aus den radiologischen Instituten der allgem. Poliklinik und des
Sanatoriums Fiirth in Wien.
Kienbock, tFber Wachstumshemmung des Skeletts bei spinaler
Kinderlahmung, (Mit 5 Abbildungen im Text und Tafel I
und II).105
VIII. Mitteiluug aus der Nervenklinik der konigl. tingar. Universitat
in Budapest.
Herzog, Uber die Erkrankung des Zentralnervensystems bei
Polyneuritis degenerativa. (Mit 8 Abbildungen).122
IX. Aus dem Budapester St. Stephan-Krankenhaus.
v. Dieballa, Heredodegeneration und kongenitale Lues . . 149
X. Aus der medizinischen Klinik zu Frankfurt a M.
Claus und Bingel, Uber Messungen der Hauttemperatur bei
Gesunden und Nervenkranken.1G1
*' ^ . v -
1 ^ J
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IV
Inhalt des siebenunddreissigsten Bandes.
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Drittes und yiertes (Doppel-)Heft.
(Ausgegeben am 24. September 1909.)
XI. Aus der II. medizinischen Klinik der kiinigl. Universitat Budapest
(Direktor: Prof. E. Jen dr as si k).
Csiky, Uber einen Fall von Myasthenia gravis pseudoparalytica
mit positivem Muskelbefund. (Mit 5 Abbildungen) ....
XII. Aus der III. med. Abteilung des Neuen allgemeinen Kranken-
bauses Hamburg-Eppendorf (Oberarzt: Dr. Nonne).
Nonne u. Holzmann, Weitere Erfahrungen uber den Wert
der neueren cytologischen, chemischen und biologisehen Unter-
suchungsmethoden fur die Diff'erentiakliagnose der syphilo-
genen Erkrankungen des Zentralnervensystems, gesammelt an
295 neuen Fallen von organisclien Erkrankungen des Hirns
und des Riickenmarks.
XIII. Aus dein stiidtiscben Krankenhaus in Mainz, innere Abteilung
(Direktor: Dr. H. Curschmann) und dem neurologischen In-
stitut in Frankfurt a. M. (Direktor: Prof. L. Edinger), Abtei¬
lung fQr Hirnpathologie (Prof. Dr. H. Vogt, Abt.-Vorstand).
Hellbach, Zur Kenutnis der Ruckenmarkserkrankungen nach
Trauma. (Mit 2 Abbildungen).
XIV. Teleky, Zur Kasuistik der Bleiliihmung. (Mit 11 Abbildungen)
XV. Aus der medizinischen Universitatskliuik der Universitat Bres¬
lau (Direktor: Geh.-Rat v. Strum pell).
Strassner, Uber die ditl'usen Geschwulste der iveichen Rucken-
markshaute mit besouderer Berucksichtigung der extramedul-
liiren Gliomatose. (Mit 3 Abbildungen).
XVI. Aus der medizinischen Klinik zu Leipzig.
Stadler, Paramyoclonus multiplex mit Muskelatrophie .
XVII. Aus der Poliklinik fur Nervenkranklieiteu von Prof. H. Oppen-
lieim in Berlin.
Hertz, Ein Fall von Psammom der Araclinoidea des oberen
Dorsalmarks. iMit 3 Abbildungen).
Li t era tu rubersicli t.
Seite
175
195
221
231
309
323
33S
347
Funftes unit sechstcs (Doppcl-)IIeft.
(Ausgegeben am 21. Oktober 1900.)
XVIII. Foerster, Uber den Lalimungstvpus bei cortikaleu Herden. (Mit
S Abbildungen)..
XIX. Fabrititis, Ein Fall von Stiehverletzung des Uiiekenmarks. Zu-
gleieh ein Beitragzur Frage liber die Eeitungsbalinen ini Riieken-
mark. : ..415
XX. v. Fran k 1 -Hocliwart, Uber die Diagnose der Zirbeldriise. (Mit
2 Abbildungen). 455
XXI. IIa seb e- K1 ii nder, I)t*r bakteriologBehe Refund bei .Meningitis
eerebm^pinalis und seine gerielitsarztliehe JVdeutung .... 40(1
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I.
Aus der I. mediz. Klinik des Herrn Prof. v. Noorden und dem
nenrologischen Institut (Hofrat Obersteiner).
Ein Fall yon Kopftetanus mit reflektorischer Pupillenstarre.
Von
Dr. K. t. Orzechowski,
Assistent des neurologischen Institats.
Fr. P., Kutscher, 47 Jahre alt, wurde am 9. IV. 1908 F auf die Klinik
v. Noorden aufgenommen.
Aus der Anamnese ist zu erwahnen, dass Pat. im 13. Lebensjahre
eine Verletzung durch Hufschlag erlitten baben soil. Davon ist rechts,
ca. 5 cm unterhalb der Crista, eine kreuzergrosse, eingedrtickto Stelle am
knochernen Schiidel zurtlckgeblieben. Kein Anlialtspunkt ftir Lues. Pat.
ist seit 13 Jabren verheiratet, bat ein gesundes 12jahrigcs Kind; keine
Frfihgeburten seiner Frau. Pat. war fnlher stets gesund. Potus: 1 Liter
Bier taglich.
22. II. 1908 wurde Pat. von einem Pferdebufscblag an der rechten
Schlafe und auf der Brust getroffen, trug aber nur einige kleine Haut-
abschbrfungen davon. Obne dass weiterhin Schmerzen an der Wundflache
bestanden, schwoll die Augen- und Sclilafengegend an, nacb 2—3 Tagen
war aber die Scbwellung wieder verscliwunden und die Wuude nacb ganz
kurzer Zeit verbeilt. Seit einer Wocke traten reissende Schmerzen an der
Stirn auf, die Lippen wurden scbwer beweglich und scbliesslieli konnte
Pat. die recbte Mundhiilfte nicht melir otfnen. Damit im Zusainmenliang
konnte er keine feste Nahrung zu sich nelmien, nur gelegentlich nalirn
er einen Loftel Milch. Pat. klagt seit.her liber Feblen der Appetenz und
starken Durst. Ungefiibr seit derselben Zeit vermag er das recbte Auire
nicht zu schliessen, welches aucli beim Schlaf offen blieb. Am 7. III. trat
ein allgemeiner Krampf mit Opisthotonus auf. Die Frau des Pat. weiss
nicht anzugeben, ob der Krampf am Unterkiefer begonnen liat, doch
scheinen die unteren Extremitiiten am wcnigsten beteiligt gewesen zu sein.
Der Krampf wahrte nur wenige ]Minuten. Dabei war Pat. angeblich be-
wusstlos. Nachher fulilte er sich wieder wohl und schmerzfrei. Am 8. III.
stellte sich Pat. in der Ambulanz der Klinik v. Noorden vor.
Seit 3—4 Tagen hustet er viel, ist ludser und klagt uber ein Gefiihl
der Yerengerung der Imftrohre.
Status praesens (identisch mit dem tags vorher in der Ambulanz
erhobenen Befund). 9. III. Pat. ziemlich gross, von gut entwiekeltem
Knochenbau und Muskulatur und massigeni Panniculus. Die Hunt ist gut
gefarbt. Temp. 36,7°. Die Stelle der vor kurzeni orlittenon Verletzung
Deutsche Zeitschrift f. Xerveuheilkunde. 37 . Ihl. 1
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I. Orzechowski
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aussen und unten vom rechten Auge ist nur durch eine kleine Narbe ge-
kennzeichnet. Der Sch&del ist nirgends druckempfindlich. Sensorium frei.
Pupillen sind sehr eng, die rechte etwas enger als die linke,
sie reagieren wenig auf Akkomodation und gar nicht aufLicht-
einfall. Die Bewegung des rechten Auges nach aussen ist nicht
im maximalen AusmaB mfiglicb, sonst sind die Augenbewegungen frei. Am
rechten Auge erfolgt kein Lidschluss, auch bei grosster Anstrengung wird
das Oberlid nur bis etwa zur Mitte der Cornea gesenkt, dabei bewegt sich
der Bulbus nach aussen und oben. Ausgesprochene Lahmung des rechteu
Facialis in alien seinen Asten. Am linken Auge Blepharospasmus. Die
linke, nicht gel&hmte Gesichtshalfte ist cigentttmlich starr, es fehlt ein
eigentliches Mienenspiel. Die Zunge kann nur mit Mtthe gerade vorge-
streckt werden. Es besteht Krampf der Kaumuskulatur in mittlerem Grade.
Der Pat. vermag die Zahnreihen nur auf ungefahr 2—5 cm von einander
za entfernen. Deshalb und, da auch jede BerQhrung zu einer Steigerung
des Krampfes ftthrt, ist eine nahere Inspektion der Rachenorgane unmoglich.
Pat. verschluckt sich httufig. An den Lungen normaler Perkussionsbefund,
die Auskultation ergibt vesikulares Atmen mit vereinzelten mittelblasigen
fcuchten Rasselgerauschen. Atmung von costo-abdominalem Typus, ziem-
lich oberflachlich, Frequenz = 20. Pat. hustet viel. Herzbefund normal.
Arteria radialis etwas verdickt, der Puls, 90, normal. Blutdruck nach
Gartner 100. Abdomen unter dem Thoraxniveau, Bauchmuskeln stark
gespannt. Innere Organe normal. PSR leicht auslosbar. Alle Qualitaten
der Sensibilitat ttberall erhalten. An der linken Hand findet sich eine
eigentttmliche Steifigkeit der Finger, besouders der ersten 3 radialen Finger;
dieselben werden in den Intraphalangealgelenken gestreckt gehalten, doch
konnen alle Bewegungen, wenn auch mit einer gewissen Langsamkeit, aus-
geftthrt werden. Pat. bekam 20 ccm Antitetanusserum Hochst.
10. III. Blepharospasmus des linken Auges deutlicher. Temp, in der
Frtthe 37,5°, Resp. 20, Puls 110, nachmittags 38,5°. Therapeutisch: Injek-
tion von 20 ccm Antitetanusserum.
11. III. Uber der ganzen Lunge feuchte Rasselgerausche. Temp, in
der Frtthe 37,5°, nachmittags 38,0°, Resp. 26, Puls 120. Injektion von
20 ccm Antitetanusserum und Darreichen von 5,0 g Urethan, Injektion
von 0,002 Morphium.
12. III. Acht Anfalle hochgradigster Ateninot. Pat. ringt nach dem
Atem, springt aus dem Bett, nach wenigen Sekunden wirft er sich im
starken Opisthotonus quer fiber das Bett. Die Augenbewegung beim
Blick nach oben gehemmt. Temp. 39,0°, Resp. 36, Puls 130. In¬
jektion von 20 ccm Serum, 0,02 Morphium, 5 g Urethan.
13. III. Clieyne-Stokessches Atmen, Respiration von 30 Atemzttgen
in der Minute, die Pausen sind moist von 8 Sekunden Dauer. Blitzartige
Zuckungen in der linken Gesichtshalfte. Der Trismus hat noch zuge-
nommen. Pat. deutet wiederholt auf die Kehlkopfgegend, hat offenbar Be-
schwerdcn beim Schlucken.
14. III. In der Frtthe Exitus.
Obduktionsbefund (Prof. Ghon): Die Ilaut leicht ikterisch gefttrbt,
ebenso die Conjunktiven. Die linke Pupille etwa doppelt so weit wie die
rechte. Am rechten Scheitelbein findet sich eine fiache, muldenformige
Impression von etwa 3 cm Durchinesser. Am Boden derselben sieht man
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Ein Fall von Kopftetanus mit reflektorischer Pupillenstarre. 3
einen 2 cm im Dnrchmesser haltenden Defekt, begrenzt von unregelmQssigen
Randern und bedeckt von einer derbhautigen Membran. Dem ausseren
Rande dieses Defektes entsprechend erscheint der Knochen in das Sch&del-
innere hineingedrtlckt und ist dort als flache Leiste von etwa 4 cm Lange
mit zackigen Randern sichtbar. Die Dura mater ist hier angewachsen
und die rechte Konvexitat zeigt diesen Yeranderungen entsprechend im
Bereiche der vorderen und hinteren Zentralwindung eine 4 cm im Durch-
messer haltende trichterfOrmige, fast 1 cm tiefe Mulde, deren Rand gleich-
massig abgerundet ist und deren Basis mit gefasshaltigen, z. T. weisslichen
Mcrabranen bedeckt erscheint. Im Qbrigen erscheinen die inneren Hirn-
haute an der Konvexitat etwas verdickt, an der Basis sind sie im allge-
meinen zart. Die Gefasse der Hirnbasis, besonders die beiden Carotiden,
verdickt und klaffend. Die Unterhaut, Binde- und Fettgewebe im Bereiche
der kleinen Narbe Qber dem Jochbogen, zeigt keine Veranderung, der
Knochen weist am ausseren Augenrand einen ganz kleinen Defekt auf. Milz,
Follikel am Zungenrande und Tonsillen ohne pathologischen Befund. Beider-
seitige fibrinOs-eitrige Pleuritis. Bronchopneumonie der Unterlappen, eitrige
Bronchitis. Im Exsudat der Bronchien wurde ein reichlichps Gemenge
verschiedener Mikroorganismen festgestellt. Degeneration des Herzmuskels
und der Leber. Embryonale Lappung der Nieren. Andere Organe samt
RQckenmark ohne wesentliche makroskopische Veranderung.
Eine bakteriologische Untersuchung der Hautnarbe wurde unterlassen.
Histologische Untersuchung. In den Kernen des 3., 4., 5., 6. und
7. Hirnnerven linden sich normale Verhaltnisse. Nur im Facialiskern der einen
Seite war in der ventro-medialen Ecke eine Gruppe von 4 chromatolytischen
Nervenzellen vorhanden (Thioninfarbung, Serienschnitte.) Die Unter¬
suchung der Zentralwindungen (mit Ausnahme der im Sektionsprotokoll
erwahnlen Narbe) und des Kleinhirns ergab negativen Befund. Auch sind
normale Verhaltnisse im Cervikal- und Lumbalteil des RQckenmarks zu
finden. Bloss die Dorsalsegmente weisen eine grosse Anzahl von zumeist
weit von einander versprengten Vorderhornzellen mit vorgeschrittener
zentraler Chromatolyse, etwas exzentrischem, nie randstandigem Kern, in
welchem sich ein verlagerter Nucleolus befindet. Auffallend war das Bild
der Kernkorperchen in solcben Nervenzellen. Wahrend im allgemeinen
die Nucleoli der sonst normalen grossen Nervenzellen des Bulbus, der
Purkinjezellen und des RQckenmarks ziemlich zahlreiche, ncben einander
liegende kleine, runde Vakuolen aufwiesen, zeigten die Kernkorperchen
der chromatolytischen, seltener die der anscheinend normalen Vorderhorn¬
zellen grOssere Anzahl, 6—10 Vakuolen in ihrem Innern, welche ver-
streut im Leibe der Kernkorperchen lagen und von unregelmassiger, dem
Grundkontur eines Rechteckes oder Viereckes naher liegender Form waren.
Manche Vakuolen lagen unter der Peripherie der Kernkorperchen, dieselbe
an verschiedenen Stellen vorbauchend. Im allgemeinen fiirbten sich alle
Nucleoli etwas blasser als normal. Die geschilderten Bilder waren am
besten an Thioninpraparaten nach der Formolhartung zu sehen. Die
Ma rchifQrbung misslang. Die anderen Farbungsmetlmden ergabeu keine
neuen Details; insbesondere haben sich die in Beziehung zur rotlektorischen
Pupillenstarre gebrachten Cervikalsegmente bei der Weigert-Pal-Farbung
als intakt erwiesen.
Das Interesse dieses Falles liegt in dem Verhalten der Pnpillen,
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I. Oezechowski
welche vollkommen lichstarr bei ziemlich gut erhaltener Konvergenz-
reaktion waren. Dabei waren beide Pupillen, bevor noch die Morphium-
medikation begonnen hat, miotisch und ungleicb, und zwar war die
Pupille an der Seite mit VII-Lahmung weniger eng als die linke. Rechts
war eine leichte Vl-Parese 'nachweisbar. Die Pupillenstarre wie auch
die Abducensparese sind schon im ambulanten Stadium der Erkrankung
beobachtet worden und bestanden unverandert im ganzen Verlaufe der
Krankheit. Erst einige Tage spater gesellte sich eine geringe Be-
hinderung der Augenbewegungen beim Blick nach oben hinzu.
Bekanntlich konnen beim Kopftetanus neben Facialislahmung Er-
scheinungen von seiten vieler Hirnnerven und insbesondere Lahmungen
aller Augenmuskeln vorkommen. Obgleich ihre direkte Abhangigkeit
von der Tetanusnoxe von Rose und anderen bestritten und dieselbe als
Folge der allgemeinen finalen Erschopfung aufgefasst worden ist,
scheint jetzt ihre Parallelstellung zur VH-Paralyse keinem Zweifel mehr
zu unterliegen. Es sind ja seither Falle mit frbhzeitigem Auftreten
der Augenmuskellahmungen bekannt worden, es sind auch XII-Lah-
mungen oder sensorische und sensible Storungen im Bereiche der
Hirnnerven in Fallen von Kopftetanus beobachtet worden, und es tiber-
dauerte scbliesslich manchmal die Lahmung das Zuriickgehen der
VH-Paralyse, bez. die Heilung vom Tetanus. Dass das Tetanusgift
als solches auch ausser am Facialis Ursache von Lahmung sein kann,
beweist die einen Fall von gewohnlichem Tetanus betreffende Be-
obachtung von Zak mit IV-Parese. Die Erklarung der Lahmungen,
als auf Erschopfung beruhend, konnte nur fur wenige Falle gelten,
in denen sie nur fliichtig, wenig ausgesprochen und sub finem auf-
traten. Durch Erschopfung ist vielleicht die im vorliegende Falle
beobachtete Behinderung der Augenbewegungen nach oben verursacht.
Bei einigen anderen Fallen von Kopftetanus konnte an die Moglichkeit
des Konnexes mit Scbadeltrauma gedacht werden. Es erscheinen noch
mehr verdachtig die Falle, in denen das Trauma direkt die Bulbi in
Mitleidenschaft gezogen hatte. Unter den 6 Fallen mit isolierter einsei-
tiger oder beiderseitiger Ptosis scheint manchmal der Orbiculariskrampf
mit der paralytischen Ptosis verwechselt worden zu sein. Krampf
scheint auch in den 2 Fallen mit Strabismus vorgelegen zu haben.
Trotz dieser Einschrankungen bleiben in der Kasuistik des Kopftetanus
mit Hirnnervenlahmungen, welche schon liber 20 Falle zahlt, einige
einwandfreie Falle tibrig, welche zur Geniige die Meinuug von der
V ulnerabilitat auch der anderen Hirnnerven ausser jener des VII sttitzen.
Als diese wurde ich insbesondere die Falle von Rockliffe, Schnitzler,
Schupfer, Neumann-Schrbtter, Holub, Ross, May weg, Lepine
et Sarvonnat, Minet et Gaehlinger rechnen. Fiir die Pathogenese
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Ein Fall von Kopftetanus mit refiektoriacher Pupillenatarre.
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des Kopftetanus sind solche Beobachtungen insofern von Bedeutung,
weil die Multiplizitat der Lahmungen und ihre Entfernung von der
die Infektion vermittelnden Wunde fur die zentrale Angriffsstatte der
Tetanustoxine pladieren. In diesem Sinne ist besonders das Symptom
der reflektorischen Pupillenstarre zu verwerten. Dieselbe scheint ausser
in dem hier mitgeteilten Falle nur bei Schupfer vorgelegen zu haben.
Sonst wird das Fehlen der Reflexe bei weiten Pupillen als Teil-
erscheinung der Ill-Labmung erwahnt, wahrend es sich in anderen Fallen
mit Miosis und tragen oder starren Pupillen entweder um absolute
Pupillenstarre handelt oder Sphinkterkrampf, bez. Dilatatorparese vor-
banden war (Lannois: Miosis, Lichtstarre, Konvergenzreaktion wird
nicht angegeben; Preobraschensky: Punktformige, lichtstarrePupilleD,
Enopbtalmus, fiber Konvergenzreaktion wird nichts gesagt; Robs:
Pupille auf der Seite der Facialislahmung erweitert, Fehlen der Licht-
und der akkomodativen Reaktion derselben).
Bei der Bedeutung, welche der Nachweis der reflektorischen
Pupillenstarre fur die Tbeorie des Kopftetanus beanspruchen muss,
dfirfen die Einwande gegen die Stichhaltigkeit der hier mitgeteilten
Beobachtung nicht ausser acht gelassen werden. Vor allem decken
sich die Pupillenreaktionen bei nicht ganz prompter Konvergenzreaktion
nicht vollkofnmen mit dem typischen Bilde der reflektorischen Pupillen¬
starre, obwohl sie doch naher der letzteren als der absoluten Pupillen¬
starre zu stehen scheinen. Andererseits ist die Zusammengehorigkeit der
Pupillenstarre zum Tetanus nicht fiber alien Zweifel sichergestellt, sie
hatte auch vielleicht ein isoliertes Residuum des vor Jabren gesetzten,
nacb dem Obduktionsbefund schweren Traumas sein konnen. Es sind
ja solche, allerdings sehr sparliche Falle einer absoluten und sogar
reflektorischen Pupillenstarre (Axenfeld) als isoliertes Symptom des
stattgehabten Traumas beschrieben worden. Ffir die luetische Herkunft,
des Pupillenpbanomens liessen sich keine Anhaltspunkte geftinnen.
Die Miosis war in unserem Falle Bestandteil der reflektorischen
Pupillenstarre. Als isoliertes Symptom wird in Fallen von Kopftetanus
Miosis nicht selten und zwar haufig auch beiderseitige Miosis erwahnt.
Oft war sie bloss die Folge der Morphiumtherapie. Die gleichzeitig
vorhandenen Sympathicusstorungen deuteten in manchen Fallen auf
die Sympathicuslahmung als ihre Ursache. Am haufigsten wird es
sich um den Sphinkterkrampf gehandelt haben, welcher in die Parallele
mit anderen Tetanuskontrakturen zu setzen ist.
E9 braucht kaum des weiteren erortert werden, dass die reflek-
torische Pupillenstarre nicht einer cortikalen Reizung, analog der
Pupillenstarre in epileptischen und hysterisehen Anfiillen, ihren Urspruug
verdankt, sondern auf eiuer materiellen Liision des pupillaren Licht-
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I. Orzechowski, Ein Fall von Kopftetanus usw.
reflexbogens beruhen muss. Die Pupillenstarre in den Anfallen der
grossen Neurosen scheint ja eine absolute zu sein, jedenfalls mani-
festiert sie sich bei weiten Pupillen. Das Zustandekommen der reflek-
torischen Pupillenstarre ware also mit der die Lahmungen der Hirn-
nerven verursachenden zentralen Lasion identisch und musste auf Unter-
brecbung des Reflexbogens beruben.
Der oben angefubrte bistologische Befund bestatigt die bekannte
Disproportion der klinischen Symptome und der histologischen Ver¬
anderungen beim Tetanus. In diesem Falle von Kopftetanus sind
gerade alle Hirnnervenkerne frei und die Veranderungen finden sich
im Rfickenmark, und zwar hier fast ausscbliesslicb in dessen Brust-
segmenten. Auffallig waren die Veranderungen an den Kernkorperchen.
Lasionen der Nucleoli sind zwar gerade beim Tetanus des ofteren
beschrieben und abgebildet worden (Goldscheider und Flatau,
Goebel, Matthes, v. Halban, Sjovall und Kron), doch scheint von
den genannten Autoren eine derartige Vakuolisierung der Kern¬
korperchen, wie wir sie gefunden haben, nicht haufig, wenn flberhaupt,
gesehen worden zu sein.
Der vorliegende Fall ist der Klinik des HermProfessor v.Noorden
durch den Herm Dozenten Erben zugewiesen worden. Ich erlaube
mir diesen beiden Herren fur seine tlberlassung meinen verbindlicbsten
Dank auszusprecben.
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II.
Aus dem neurologischen Institut an der Wiener Universitat (Vorstand:
Hofrat Obersteiner).
Zur Keniitnis des Zentralnerrensystems beim Mongolismus.
Von
Dr. Paul Biach,
Demonstrator am Institut.
(Mit 4 Abbildungen.)
Wahrend die Klinik den Typus der mongoloiden Idiotie von
anderen cbarakteristischen Idiotieformen wohl abzngrenzen vermag
and dem Mongoloid gewisse ganz eigentumliche Merkmale zuerkennen
kann, iat dies, soweit die Pathologic und namentlich die patho-
logiscbe Anatomie in Frage kommt, vorlaufig nieht der Fall. War
man doch lange Zeit sich nicht iiber das Verbalten der Schild-
druse bei solchen Idioten im Klaren! Ganz besonders aber gilt die
Unkenntnis vom Zentralnervensystem, jenem Organ, von dem wohl
bei gelegentlich so schweren psychischen Schadigungen in erster Linie
merkliche Veranderungen erwartet werden konnten. Um so fiber-
rascbender, dass es bis jetzt nicht gelang, einigermassen charakteristiscbe
Veranderungen des mongoloiden Zentralnervensystems festzustellen.
Freilich, genaue Untersuchungen, vor allem die mikroskopischen
unter Anwendung neuerer Farbemethoden, sind so sparlich angestellt
worden, dass schon aus diesem Grunde erspriesslichere Resultate nicht
gewonnen werden konnten. So wie die Englander beschrankte sich
anch eine Reihe deutscher Autoren, wie Fromm, Thiemich, Lange,
lediglich auf die makroskopischen Verhaltnisse des Gehirns, sein
Gewicbtusw., ohne auf mikroskopischeForschungeinzugehen. Heinrich
Vogt ist wohl der einzige unter ibnen, der genauere Daten fiber das
mikroskopische Verhalten liefert. Ja, auch die Thesen von Seris und
Desgeorges haben ffir unser Thema kaum besondere Aufklarungen
gebracht.
Bei der verhaltnismassigen Seltenheit des Materials habe icb einen
mir zur Verffigung stehenden Fall aus diesem Gruud einer genaueren
mikroskopischen Untersucbung unterzogen').
1) Obduktionsbefund und Krankengeschichte des mir in liebenswiirdigster
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II. Biach
Das Gehira liess bei der Betrachtung erkennen, dass Medulla
oblongata und Kleinhirn im Vergleich zum Mittel- und Zwischenhirn
sowie zu den Hemispharen geringer entwickelt war und auffallend
klein erschien. Aber auch die Breitenausdebnung des verlangerten
Markes und der BrQcke erschien verkleinert im Verhaltnis zur Breite
der ganzen Gehirnbasis, besonders, wenn man bier Gehirne normaler
Kinder zum Vergleich heranzog.
Dass Kleinhirn und verlangertes Mark bei mongoloider Idiotie tat-
sachlich unterentwickelt sein kbnnen, darauf baben zuerst die Englander
Sutherland und Wilmarth hingewiesen; auch Lange und
Lewkowicz betonen die Kleinheit dieser Regionen in ihren Fallen,
wahrend Thiemich und Fromm im geringen Gesamtgewicht des
Gehirns eine mangelhafte Ausbildung zu sehen glauben.
Namentlich mit Bezugnahme auf die AusfQhrungen bei den letzten
beiden Autoren sowie auch bei Lange und Comby sei bier noch
eines Befundes an der linken Hemisphare Erwahnung getan, ehe wir
zur Besprechung der mikroskopischen Bilder schreiten. Es fanden
sich im Bereich des linken Parietallappens nach vorne zu bis zu den
obersten Stirnwindungen (im Operkularteil) die "Windungen etwas
breiter als im entsprecbenden Abscbnittt der anderen Seite, niedrig
und auch abgeflacht; da jedoch ein Artefakt nicht mit Sicherheit aus-
zuschliessen war, sei jedwede Schlussfolgerung aus diesem Befund,
den ganz ahnlich die erwahnten drei Autoren erheben konnten, unter-
lassen.
Zur mikroskopischen Durchsicht wurden kleine Stticke der Frontal-,
Zentral-, Temporal- und Oecipitalwindungen entnommen und nach
vorhergehendem kurzen Aufenthalt in Formol teils mit Alkohol zwecks
Zellfarbungen (Thionin) behandelt, teils in MQllerscher Flussigkeit
gehartet, ura sie den Methoden von Pal-Weigert, van Gieson, der
Weigertschen Originalfarbung und der einfachen Hamalaun- mit
und ohne Eosinnachfarbung zu unterwerfen. Die mit einzelnen,
direkt dem Formalin entnornmenen Stlicken versuchte Tinktion nach
Bielschowsky ergab keine schonen Bilder.
Fiirbung mit Thionin. Die Rinde des Frontallappens zeigt an
manehen Punkten den fllnfsehichtigen Bau etwas undeutlich. an den meisten
Stellen jedoch liisst sich derselhe mit Sicherheit erkennen, freilich mehr
in den inechauisch trcnnenden Zwischenriiunien, als durcli die den einzelnen
Schichten sonst charakteristischen Zcllt’ormen; letztere zeigen hier alle
Weise von Assistenten I)r. Poliak zur Verfiigung gestellten Fades sind leider
nicht erluiltlich gewesen. Das Kind war, wie aus dem Amhulanzprotokoll er-
sichtlich ist, 0 Monate alt und starb an einer Pneumonie. Die Zeichen des
Mongolismus waren sehr ausgepragt.
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Zur Kenntnis des Zentrnlnervensystcms beim Mongolismus.
9
eine gewisse Uniformit&t sowohl hinsichtlich Form und Grosse als auch
bezilglich der Struktur. Bereits in der Molekularschicht finden sich allent-
halben Nervenzellen mit mehreren Fortsatzen; ihnen schliessen sich zentral-
w&rts an die kleinen und grossen Pyramidenzellen, beide nur wenig in
der Gr8sse verschieden; ihre Form ist weniger dreieckig als rundlich
Oder oval, die Tigroide nirgends ausgebildet, sondern durch ein fein-
korniges Protoplasma ersetzt; in einer Reilie von Pyramidenzellen zeigen
sich zwei Kerne, deren jeder ein wohlausgebildetes, gut tingiert.es Kern¬
korperchen enthalt, wobei es mitunter den Anschein hat, als vvaren
beide Kernmembranen, die man getrennt recht gut jede ftir sich nachweisen
kann, noch Oberdies von einer gemeinsamen
Kernmembran umgeben. Beide Kerne be-
stehen aber vollkommen getrennt, ohnc dass
etwa verbindende Elemente, Faden im Plas¬
ma oder dergleichen bemerkt werden kOnnen.
Weit grosser ist aber die Zahl derjenigen
Pyramidenzellen und besonders derjenigen
Nervenzellen der vierten Schicht, welche an
Stelle des verdoppelten Kerns lediglich einen
Kepn, diesen aber mit zweifachem KernkOr-
perchen versehen aufweisen. Beide Kern¬
korperchen lassen sich meistens inmitten
des Kerns nachweisen, sind entweder gleich
gross oder differieren unbedeutend; sic unter-
scheiden sich von denjenigen Zellen, wo,
wie dies in kadaverOs veranderten Bezirken
nach v. Orze chow ski zu finden ist, die
basophilen Kornchen vom I^rnkOrperchcn
wegwandern, erstens durch die gleiche Fig. 1.
Grosse beider KOrpercheu und ihr gleich- Zweikernige Pyramidenzelle
artiges Verhalten Farbstoffen gegenQber, aus der vorderen Zentralwin-
zweitens aber auch dadurch, dass das ein- dung,
zelne KOrperchen bei starkeren VergrOsse-
rungen oft genug zwei, manchmal drei oder vier angelagerte basophile
Kornchen erkennen lasst.
Besonders die vierte Schicht ist an solchen, zwei Kernkorperchen
enthaltcnden Nervenzellen sehr reich; es wechseln Stellen, wo ausschliess-
lich einkernige polymorphe, kleinere Zellen, die Qbrigens auch hier etwas
eckig und in ihrer Form und Struktur fast gar nicht ditfereuzicrt sind,
sich finden, mit Inseln, die wiederum fast ausschliesslich von Elementen
mit zweifachem Kernkorperchen zusammengesetzt sind. Die Rinde der
Zentralwindungen ist im Vergleich zu der des Stirnhirns weit besser
ausgebildet. Nicht nur, dass die Schichtung eine tadellose ist, es sind
auch die Formunterschiede zwischen den zelligen Bestaudteilen verschie-
dener und einer und derselben Schicht weit ausgepragter; Pyramiden¬
zellen zeigen hier typische Gestalt, ohne dass aber auch hier Tigroide
deutlich zu erkennen waren. Die rundlichen bis eckigeu, nicht charaktc-
ristischen Zellen, die im Stirnhirn in Qberwiegender Majoritat auftraten,
sind hier weniger zahlreich vertreten. In den als Pyramidenzellen gut
differenzierten Gebilden sind doppelte Kernkorperchen seltener, in den an-
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II. Biach
deren, nur wenig scharf differenzierten Nervcnzellen weitaus haufiger, ohne
jedoch so oftmals aufzutreten wie im Frontallappen. Die Fortsatze der
Pyramidenzellen sind manchmal korkzieherartig gewanden, dann aber aucli
in ihrem Zelleib selbst stark geschrumpft, so dass diese Sehlangeluug wohl
ohne Zweifel ein Kunstprodukt ist. Die Molekularschicht hingegen enthalt
grOssere Ganglienzellen schon etwas reichlicher. Eine Mittelstellung
zwischen Stirnhirn und Zentralwindungen nimmt der Hinterbauptslappen
mit seinen strukturellen Besonderheiten ein. Wir tinden daselbst wohl
ausgebildete Pyramidenzellen, meist einkernig und aucli bloss ein einziges
Kernkorperchen enthaltend, nebst rundlichen bis eckigen, mehr unregel-
massigen Nervenzellen in der zweiten und dritten Schicht, letztere fast
aussckliesslich sich an der Zusammensetzung der folgenden Sckickten be-
teiligend, grossenteils zwei Kernkorperchen enthaltend; zweikernige Nerven¬
zellen fanden sich in diesen Gehirnpartien
seltener. Parietal- und Temporallappen bieten
ein Bild, das, von den eben beschriebenen
nur wenig abweichend, sich in ihren Rahmen
einfQgt.
Die Pia der gesamten Gehirnoberflache
ist kleinzellig intiltriert; am starksten zeigt
sich diese Infiltration Qber dem Klein him,
schwacher Qber den Grosshirnhemispharen,
den geringsten Grad erreicht sie an der
Basis. Teilweise lasst sich die Infiltration
langs der Gefasse aucli in die Rinde selbst
verfolgen, wo sich dann haufig an den Gang¬
lienzellen Neuronophagie beobachten lasst.
Die in das Zellinnere eindringendeu Oder
eingedrungenen Kerne der Neuronophagen
lassen sich leiclit von einem etwa vorhan-
denen zweiten KernkOrperchen unterscheiden
und lassen eine Verwechselung mit einem solchen kaum zu.
Die Markscheidenfarbung nach der Weigertschen Original-
methode ergab gleichmassig allenthalben das Felilen von Tangentialfasern,
vielleicht stellenweise etwas rarefizierte Markstrahlen, wahrend das inter-
radiare Flechtwerk Qberall deutlich hervortrat. Die interradiare Faserung
war nicht immer gut entwickelt; so war sie im Bereich der Stirnwindungen
betrachtlich verschmalert im Gegensatz zu ihrer Ausdehnung innerhalb der
motorischen Sphare.
Zur Beurteilung der Verhaltnisse der Glia und des Bindegewebes
wurden Praparate nach van Gieson angefertigt, die aber keine wie immer
geartete Abweichung von der Norm erkennen liessen. Auch die Gefasse
verhielten sich, abgesehen von der mitunter beobachteten Infiltration ihrer
Adventia, die bereits erwahut wurde, durchaus normal.
Der Thalamus wurde, um eine gcnaue Durchsicht zu ermOglichen,
in Seric geschnitten und jeder Schnitt abwechselnd mit Thionin oder
Hamalaun-Eosin gefarbt.
Die Anomalien traten nur in den Zellen auf; die Markscheidenfarbung
vermochte in den Faserverhaltnissen keinerlei Abuormitat zu zeigen.
Fig. 2.
Nervenzelle aus der Stirnhirn-
rinde. (Der Kern enthalt zwei
Kernkorperchen.)
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Zur Kenntnis dee Zentralnervensy stems beim Mongol ismus.
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Die Ver&nderungen einzelner Ganglienzellen des Sehhflgels waren im
Prinzip dieselben wie die in der Rinde; nur traten sie weit sparlicher
auf and schienen nns im oraleren Thalamusanteil gehaufter aufzutreten
als im caudalen. Wahrend in einem Gesichtsfeld von 40 bis 50 Rinden-
zellen dnrchschnittlich sich bis zu 10 Zellen mit zweifachem Kern-
kOrperchen fanden, gab es solche im Thalamus bei gleichem Gesichtsfeld
kanm 5; noch sparlicher waren zweikernige Nervenzellen vertreten, von
denen man bei der Durchsicht kaum in jedem 4. Gesichtsfeld 1 bis 2
finden konnte.
Auffallend waren im oralen Thalamusanteil Zellgruppen, die aus Ele-
menten bestanden, welche sonst nirgends sich fanden: es waren dies meist
dreieckige Gebilde, grosser als eine Pyramidenzelle, aber kleiner als eine
Vorderhornzelle, die in Form und GrOsse durchaus einer Ganglienzelle
sehr ahnelten; auch ihr Protoplasma Hess bis zu einem gewissen Grade
eine Identifizierung zu. Ihr Kern jedoch zeigte den Typus des Kerns
einer Gliazelle; durch Thionin blaulich tingiert, mit zahlreichen kleinen
Granulis versehen, liess er ein deutliches KernkOrperchen kaum hervor-
treten, war aber selbst sehr scharf konturiert und kleiner als ein Ganglien-
zellkern. Am meisten konnte man diese Zellen mit denen in Vergleich
ziehen, die nicht nur in neuroglidsen Bildungen, resp. Neubildungen bei Er-
wachsenen abgebildet werden (Pellizzi, Stroebe, Bonome, Sano n. a.),
sondern auch im kindlichen Zentralnervensystem eine Rolle zu spielen
scheinen (Neurath, Pellizzi, Vogt, Ranke).
Auch der restliche Teil des Hirnstamms wurde serienweise
behandelt, nur dass hier die Pal-Weigertsche Methode, meist kom-
biniert mit der Alaun-Cochenillenachfarbung dfters zur Anwendung kam.
Bemerkenswert war, dass die Zellveranderungen, wie sie bis jetzt be-
schrieben wurden, caudalw&rts vom Thalamus fast vollkommen aufhdrten,
wenngleich man hier und da noch doppelte KernkOrperchen auftreten sehen
konnte; die auff&lligen Abweichungen, auf die noch aufmerksam gemacht
sei, weil sie besonders augenfallig wurden, wenn man Schnitte dieser
Regionen mit ebensolchen von normalen Kindern verglich, bestanden in
grossem Zellenreichtum, wobei die einzelne Nervenzclle nicht von der Norm
abwich. Dieser reichliche Zellgehalt konnte in zweifacher Weise sich
manifestieren. Im Pons, wo die Brttckenkernc sonst betrachtliche Zwischen-
r&ume zwischen sich lassen, lagen die Zellen dichtgedrSngt neben einander,
so dass fast jede Zelle die andere berdhrte; der Zellenreichtum zeigte sich
also so zu sagen diffus.
In gleicher Weise trat ein analoges Verhalten in den beiderseitigeu
Nuclei laterales des verlangerten Marks hervor, deren zellige Ent-
wicklung ebenfalls eine verhaltnismassig starke war.
Anders dokumentierte sich der Reichtum an Ganglienzellen in der
Medulla oblongata. Hier traten vorwiegend in den Kernen der Hinter-
str&nge, teilweise im Hypoglossuskern, endlich auch im sogenannten
Rollerschen Kern Bildungen auf, die entfernt vielleicht jenen ahnlieh sind,
welche als „Zellkolonien“ in Spinalganglien missbildeter oder luetischer
Neugeborener sowie gelegentlich im Thalamus bescliriehen werden, wie-
wohl ihre Bedeutung in der Form, wie sie hier erschienen, fraglich ist.
Die einzelne „Kolonie“, von denen eine grossore Anzahl sich an der Zu-
sammensetzung eines ganzcn Nerveukerns beteiligt, besteht aus 5 bis
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II. Biach
6 Ganglienzellen, die sehr nahe aneinander gelagert sind, oline dass jedoch
in der Regel die Zellgrenzen fiir den Untersucher vollkommen ver-
schwinden; es imponieren wohl gelegentlich auch solche Verbande bei ober-
flachlicberer Betrachtung als zwei- Oder auch mehrkernige Nervenzellen.
Am ausgesprochenstcn konnte man eine solche Anordnung in den Kernen
des Gollschen und Burdachschen Stranges, im Rollerschen Kern wahr-
nehmen, wahrend sie im Hypoglossuskern so schwach angedeutet war, dass
sie dort allein sicherlich gar nicht beachtet worden w'are.
Fig. 3.
K kolonienartige Bildungen aus dem XII-Kern.
Am Schlusse dieser Befunde ware noch eines eigentttmlicben Verhaltens
der Substantia gelatinosa V. zu gedenken, die, abgesehen davon, dass sie
zahlreiche Heterotopien bildete, selbst macktig ausgebildet, aus einer Reihe
von Einzelteilen sich zusammensetzte, welche windungsahulich konfiguriert
waren. Radienformige Markstrahlen zogen, die Radix spinalis V. quereud,
schrag durcli die gelatinose Substanz zentralwarts.
Zusammengefasst ergibt sich also folgender Befund:
Im Gehirn eines Gmonatlichen Kindes, das den Typus
des Mongolismus zeigte, findet sich makroskopisch anschei-
nend Verkleinerung des Kleinhirns samt Briicke und ver-
langertem Mark. Mikroskopisch erweist sich die Hirnrinde
mangelhaft differenziert in verschiedener Hinsicht: 1. in
der Zellform, die nur in manchen Regionen sich zu jener
der Pyramidenzelle entwickelt.
Am geringsten ist die Differenzierung hierbei im Stirn-
hirn fortgeschritten.
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Zur Kenntnis des Zentralnervensystems beim Mongolismua. 13
2 . in der Anwesenheit zweifacher Kerne oder doppelter
Kernkorperchen in einer Reibe von Rindenzellen.
3. in der mangelhaften Ausbildung der Tigroide, die
aber aucb auf Leichenchromatolyse zurttckgeffihrt werden
kann. Daneben Zellenreicbtum, diffus im Pons and den
Lateralkernen, in Form von Zellhaufchen innerbalb des
Rollerschen Kerns und der Hinterstrangkerne.
Sehr wichtig und auffallend ist hierbei ftir uns der Zustand der
Rinde, weil an uns die Frage herantritt, ob und in wie weit wir diese
Hirnrinde als patbologisch anzuseben berechtigt sind. Es ware ja
ausserordentlicb verlockend, schon allein mit Rficksicht auf den Be-
fund von zweikernigen Nervenzellen und solchen mit doppeltem Kern¬
korperchen in dieser Hirnrinde eine Entwicklungsstorung anzunehmen,
besonders, wenn man in Betracht zieht, wie in anderen Fallen ein
solcher Befund aufgefasst wird. v. Orzechowskis kritische Sichtung
der Literatur uber zweikernige Nervenzellen enthebt uns bier der
Mfihe, neuerdings eine tjbersicht zu geben, aber so viel kann man aus
den Angaben der Autoren seben, dass ffir die gleicben pathologiscben
Verhaltnisse im kindlichen Zentralnervensystem, besonders des ersten
Lebensjabres und denen, wie sie binsichtlicb der Veranderungen in
der Hirnrinde etwa bei erwachsenen ldioten bestehen, ein ganz ver-
scbiedener Mafistab augelegt werden muss.
Die sicb teilweise widersprechenden Angaben der Literatur 1 ) waren
die Veranlassung zur Anfertigung von Kontrollpraparaten anscheinend
normaler Rinden ungefahr aus dem gleichen Lebensalter. Auch in
diesen fanden sich nun Ganglienzellen, hauptsachlich wenig aus-
gesprochene polymorphe Elemente, mit zweifachem Kernkorperchen,
wahrend Zellen mit zwei Kernen anscheinend nicht vorhanden waren.
Trotz alledem glauben wir dem gehauften Vorkommen von Zellen mit
zweifachem Kernkorperchen, in erster Linie in der Hirnrinde, in vor-
liegendem Fall eine pathologiscbe Bedeutung nicht absprechen zu
konnen, wenn man die Zahlenverhaltnisse berficksichtigt. Bei der
Durchsicbt von 10 Kontrollpraparaten normaler kindlicher Hirnrinden
fanden sich 36 Zellen mit doppeltem Kernkorperchen, wahrend unser
Fall in einer gleichen Praparatenanzahl fiber 80 derartige GaDglien-
zellen bot; dabei wurden nacb Moglichkeit beide Male Schnitte aus
bomologen Hirnregionen verwendet. Wenn also auch beim normalen
Neugeborenen Zellen mit zwei Kernkorperchen in der Hirnrinde zu
den normalen Elementen gehoren, worauf bis nun meines Wissens
nicht hingewiesen wurde, so sind sie dennoch in unserem Falle weit
1) Siehe auch hieriiber Probst, Gehirn und Seele des Kindes. 1904.
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II. Biach
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eber als Ausdruck einer Entwicklungsstorung oder besser einer mikro-
skopischen Hemmungsbildung anzusehen: erstens wegen ibres ungemein
zahlreichen Auftretens, zweitens weil es sich hier bereits um ein
6 Monate altes Individuum handelte, das docb unter normalen Be-
dingungen sicherlich zum mindesten weniger derartige Zellenbilder hatte
aufweisen mQssen als die normalen Neugeborenen, von denen unsere
Kontrollpraparate meist stammten.
Besonderes Gewicht muss auch hierbei auf den Umstand gelegt
werden, dass, nach Regionen gezahlt, der Stirnlappen die grosste An-
zahl derartiger Zellenbilder enthielt, dessen Rinde also als am meisten
in der Entwicklung verspatet erscbeint im Gegensatz zu den exquisit
motorischen Gebieten, deren Storung weniger ausgesprocben war.
Auch mit dem klinischen Bild lasst sich dieser Befund ganz gut in
Einklang bringen, wenn in den klinischen Arbeiten fiber den Mon¬
golism us nirgends sich ein Hinweis auf Motilitatsdefekte oder Be-
wegungsabnormitaten findet. Dass umgekehrt Weygandt, Vogt u. a.
von einer Besserung der psychischen Leistungsfahigkeit, die wahrend
einiger Jahre moglich ist, berichten, kann gleichfalls nicht wunder
nehmen; es mfissen sich ebenso wie beim Normalen diese, Entwick-
lungsstadien darstellenden Phasen sei es weiter aus-, sei es zurfick-
bilden, um annahernd die Verhaltnisse der spateren Lebensalter zu
erreichen. Wenn dies bei einer so in der Entwicklung zurlick-
gebliebenen Hirnrinde, wie in unserem Fall, iiberhaupt noch moglich
ist, so bleibt doch noch immer die Frage offen, ob die Rinde voll-
kommen funktionstiichtig sein kann; auf jeden Fall scheint sie uns
minderwertig in aktiver Hinsicht wie in ihrer Resistenzfahigkeit.
Sowohl fiber das normale als auch fiber das pathologische Vorkommen
von Ganglienzellen mit zwei Kernkorperchen in der kindlichen
Hirnrinde stehen in der uns zuganglichen Literatur Angaben aus. Ja
selbst fiber zweikernige Ganglienzellen uud ihr seltenes Vorkommen
in der Hirnrinde weiss nur Alzheimer zu berichten, wahrend Vogt
zweikernige Nervenzellen und in Teilung begriffene Kerne in der
Rinde mikrocephaler Idioten fand. Uber das Vorkommen von zwei-
kernigen Ganglienzellen im fibrigen Zentralnervensystem ist ja weit
mehr bekannt, und es genfigt, hier nochmals auf die diesbezfigliche
Publikation v. Orzechowskis zu verweisen. Nur betreffs der doppelten
Kernkorperchen im Zentralnervensystem mit Ausnahme der Hirnrinde
sei hier der Arbeiten Wagners (Vorderhorn), Sibelius' u. Marburgs
gedacht, deren Ergebnisse hinsichtlich der Spinalganglienzellen mit den
hier fur die Hirnrinde niedergelegten grosse Ahnlichkeit besitzen,
wenn auch die letzteren normalerweise Kerne mit zwei Kernkorperchen
in Spinalganglienzellen fanden und erst ihr Vorkommen in grosserer
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Zur Kenntnis des Zeutralnervensystems beim Mongolismus.
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Anzahl als pathologisch ansprechen. Das Moment des Alters ziehen
sie gar nicht in Betracht
Weniger Gewicht kann auf die Feststellungen gelegt werden, die
sich mit Form und Tigroidgehalt der Rindenzellen, besonders der
Pyramidenzellen, befassen. Wir fanden besonders im Stirnhirn
die Zellformen wenig ausgepriigt, meist u nregelmassig
oval oder eckig, am ehesten den
polvmorphen Nervenzellen der
uormalen Hirnrinde zu ver-
gleichen. Die Tigroide, aucli in . ■ . . . .
den ausgesprochenen Pyrami¬
denzellen, selten entwickelt.
Obgleich bei der Vorbehandlung
des Materials die moglichste Scho-
nung angewendet wurde, muss den-
nocb betont werden, dass es nicht
moglich ist, hier eventuelle Artefakte
auszuschliessen. Die spate Obduktion
des Kiudes, der Umstand ferner, dass
aus ausseren Griinden das ganze Ge-
hirn fiber 4 Tage in Formalin ver-
weilen musste, lassen es nicht zu, zu
entscheiden, ob die geschilderten mor-
phologischen Veranderungen patholo-
gischer Natur oder Leichen-, resp.
Fixationserscheinung sind. Ihr al 1-
gemeiner Aspekt ware mit einer gan-
zen Reihe von Angaben seitens Auto-
ren, die sich gerade mit der patholo-
gischen Anatomie der Idiotie beschai-
tigen, recht gut in Einklang zu
bringen. In erster Linie sind hier
Vogts Untersuchungen heranzuziehen, der bei Mikrocephalie und
Mongolismus zahlreiche „NeurobIasten“ iu der Hirnrinde land.
Herr Dozent Dr. Vogt, der persbnlieh die Gfite batte, meine
Praparate einer Durchsicht zu unterziehen, konnte sich ebenfalls in
diesem Sinn aussprechen, und ich darf wohl an dieser Stelle mich ant
seine Autoritat berufen, wenn er die Kinden- und spez iell die Eyrsi-
midenzelleD in ihrer Entwieklumi defekt fund und denjeni^en identi-
fizieren konnte, die er als Xeuroblasten tiezeirlmet.
Einen ahnlichen Befund verzeiclinen bei Mikroeejdmlie Bourne-
ville und Oberthur, nur mit dem Untersriiied, dass sie den Xustand.
Fig. 4.
Rindenpurtic aus dervorderen Zen-
tralwindung. Meist polymorphe
Nervenzellelemente. Wenig Pvra-
niidenzellen. Die Selii<1 itunir stellen -
weise versd 1 woinnieii.
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II. Biach
wo die Nervenzellen „plutot de oeuroblastes que des cellules nerveuses
differencees“ sind, als „atrophie extreme" auffassen, wahrend Pellizzi
seine „anomalie di forma, di disposizione, di orientazione degli elemenii
nervosi della corteccia cerebrale" in Idiotengehirnen gleich Vogt als
Entwicklungsdefekt bezeichneb
Mierzejewski gibt als anatomisches Substrat der Idiotie Neuro-
blasten in Inseln gleichzeitig mit polymorphen Nervenzellen an,
ahnlich Schuttleworth und Fletcher Beach, deren Angaben nach
mikrocephale Idiotengehirne einfach geformte, meistens runde Oder
ovale Rindenzellen mit wenig Anhangen enthielten.
Endlich fand Takasu in einem klinisch mit Littlescher Krankheit
kombinierten Fall von Idiotie die Pyramidenzellen nicht in typischer
Weise ausgebildet.
Ob der Fall von Bourneville und Tissier, wo eine Intellekts-
storung im AnschluB an Kopftrauma auftrat, hierher zu zahlen ist,
scheint unsicher, wenngleich nach Ansicht beider Autoren die Gang-
lienzellen der Hirnrinde mangelhaft entwickelt und ahnlich denen bei
jungen Tieren waren.
Alle diese Angaben konnen wohl kaum geeignet erscheinen, unsere
eigenen Befunde zu stiitzen, die sich am ehesten denen Vogts an-
schliessen. Nur scheint es vielleicht doch zu weit gegangen, direkt
von „Neuroblasten“ zu sprechen, und ich mochte mich in dieser
Hinsicht nicht vorsichtig genug aussprechen.
Anders verhalt es sich mit der mangelhaften Ausbildung der
Nissl-Schollen; der Zeitpunkt ihres normalen Auftretens findet beson-
ders in einer Publikation Maschtakows und Marinescos Beriick-
sichtigung, wiihrend van Biervliet sich nur mit den Vorderhorn-
zellen befas9t. Seiner Darstellung nach erscheint das Bild der Schichten
und ZelleD mit alien ihnen zukommenden Eigenttimlichkeiten im
4 . Embryonalmonat differenziert, um welche Zeit auch speziell die
ersten chromatophileu Elemente auftreten.
In unserem 6 Monate alten Fall zeigten die Pyramidenzellen der
Zentralwindungen, die auch Maschtakow bei seinen Untersuchungen
beniitzte, keinerlei Nissl-Schollen, sondern es farben sich Zelle und
Kern diffus; wir hatten also, wenn nicht vielleicht Leichenchromatolyse
dieser Erscheinung zugrunde liegt, hier sehr wahrscheinlich auch hierin
eiu Zeichen verspateter Entwicklung zu erblicken, um so mehr, als die
einzelnen Rindengebiete in mehr oder minder mangelhaftem Vor-
liandensein von Tigroiden auch unter einander kontrastierten, ein Ver-
halten, das in seiner normalen Entwicklung noch nicht studiert ist
und deswegen auch nicht niiher berucksichtigt wurde.
Soweit die Weigertsche Originalfarbung Aufschluss iiber den
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Zur Kenntnia des Zentralnervensy9tems beim Mongolismus.
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Markfaserreichtum gibt, fehlten in unserem Fall die Tangentialfasern,
ohne dass man hierin, nach den Kontrollpraparaten zu urteilen, ein
Abweichen von der Norm zu erblicken hatte. Auch die Rarefikation
einzelner Markstrahlenbundel, besonders im Occipitallappen, sei nicht
naber erortert. Es lasstsich hier nicht konstatieren, ob, wie Dell’Isola
angibt, Myelinisation und Bildung der chromatophilen Substanz gleichen
Schritt halten.
Auch die Markscheidenbildung in diesem Zentralnervensystem
konnte eine verlangsamte gewesen sein, wenn wir Flechsigs Unter-
suchungen in Betracht ziehen, der Frontal-, Operkular-, Angular- und
Orbitalwindungen seinen „intermediaren“ Gebieten der Markreifung
(1. Mon at) zurechnet.
Bevor wir die Besprechung der Hirnrindenbefunde abschliessen,
sei noch jener ziemlich grossen Anzahl von Nervenzellen gedacht,
die man in der sonst zellarmen Molekularschicht antreffen konnte.
Koutrollpr¶te normaler Neugeborener zeigten regelmassig ganz
analoge Ganglienzellen, von gleicher Form, gleicher Lage, schliesslich
auch gleicher Anzahl. Es scheint, dass diese Zellgebilde den Cajalschen
Zellen zu identifizieren sind, wobei ihre Anzahl im vorliegenden Fall
immerhin einige Beachtung verdient. Lediglich Koppen spricht von
Ganglienzellen, die bei einem 12.jahrigen epileptischen Idioten mit
Mikrogyrie in die „aussere Rindenschicht" hinausgeschoben waren.
Ob damit die gliose Rindenschicht oder die Molekularschicht gemeint
ist, lasst sich ebensowenig eutscheiden, wie die Frage, ob nicht
Schrumpfungsvorgange (Koppen beschreibt sklerotische Herde in
seinem Fall) diese anscheinend abnorme Lagerung bewirkt haben.
Es bliebe uns noch die beschriebene Zellvermehrung in der Briicke
und den Seitenstrangkernen sowie die partielle Bildung von zell-
kolonienartigen Bildungen im verlangerten Mark zu besprechen
Qbrig. Ftir die Briicke konnen wohl nur mechanische Momente heran-
gezogen werden, um so mehr, als ein Mangel der Stutzsubstanz aus dem
Verhalten der Zellen zu den Gefassen sich nicht ergab; aber die ausser-
liche Ausdehnung der ganzen Briicke war, verglichen mit der Norm,
eine geringere, so dass viel eher das Aneinanderrucken der Zellen als
vollkommene Ausbildung der Bruckenkerne gelten kann, die trotz der
ungQnstigen raumlichen Bedingungen, allerdings auch in Inkongruenz
mit ihnen, von statten ging.
Anders verhalt es sich mit dem Nervenzellengehalt der Nuclei
laterales, dem man auch kaum eine besondere Bedeutuug beimessen
konnte, hatte nicht Mingazzini in einem Fall von mikrocephaler Idiotie
einen ahnlichen Befund erheben konnen. Die Medulla oblongata seines
l’2jahrigen Patienten enthielt Seitenstrangkerne von ausserordentlich
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. 21 . Bd. 2
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II. Biach
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starker Entwicklung, aus Zellen bestehend, die nicht nur sehr gross
waren, sondem auch viel dichter lagen und in der Formatio reticularis
einen zweifellos grosseren Baum einnahmen als im Normalzustand.
Wenn Mingazzini zu diesem seinem Befunde, der mit dem unsrigen
nabezu fibereinstimmt, bemerkt, dass diese starke Entwicklung des
Seitenstrangkerns, der auch bei Saugetieren (Meerschweinchen, Kanin-
chen) eine enorme Grosse erreicht, auf einen atavistischen Rtlckschlag
hindeutet, so besteht far den vorliegenden Fall, wo die Entwicklung
allerdings keine so exzessive war, kein Grund, sicb seiner Meinung
nicht anzuschliessen, ja nocb mebr, die Tierahnlickkeit konnte man in
unserem Fall noch weiter leiten! Es scheinen auch die starke Aus-
bildung der Substantia gelatinosa V und ihre windungsartige Zu-
sammensetzung fur eine Analogie mit Rfickenmarksbefunden zu sprechen,
fiber die ich in Kiirze erst vor noch nicht langer Zeit berichtet habe.
Leider enthalt sich Mingazzini fiber diesen Punkt naberer Angaben.
Die kolonienartige Lagerung von Ganglienzellen, wie sie v. Or-
zechowski (Thalamus), Sibelius und Marburg (Spinalganglien) be-
schrieben haben, entspricht eigentlich nicht sebr dem vorliegenden
Typus. Wahrend alle drei Autoren, besonders v. Orzechowski,
monstrose, unfertige Zellgebilde abbilden, bandelt es sich hier meistens um
wohlentwickelte Ganglienzellen (Hinterstrangskerne), ffir die selbst wohl
das Moment einer Entwicklungshemmung kaum Geltung findet; eher
noch konnte man daran bei den Kolonien im Rollerschen Kern denken,
wo die Zellen grosser und in Form und Struktur weit weniger
differenziert sind. Kommt also ffir die Zellelemente selbst eine ver-
spatete Ausbildung kaum in Betracht, so muss man dennoch einen
solchen Mangel ffir die Zwischensubstanz annehmen, die sich in den
Kontrollpraparaten gerade in den Zwischenraumen zwischen den Gang*
lienzellen innerhalb der Nervenkerne in der Regel breiter erwies. Ich
mochte aber diesem etwas abnormen Verhalten gerade hier nur wenig
Bedeutung beilegen, schon deshalb, weil die ganze Anlage der Ent-
wicklungsstadien, in denen sich die verschiedenen Regionen des
Zentralnervensystems befinden, eine von der Hirnrinde aufsteigende
Reihe darstellen: Hirnrinde am tiefsten stehend in ihrer mangelhaften
Konfiguration, wenig holier bereits der Thalamus; das bereits fast nor-
male Mittelhirn bildet die Mitte der Reihe und leitetzu der am hochsten
(was die Bildung der nervosen Elemente anbelangt) stebenden Medulla
oblongata fiber.
Auch die feinere histologische Untersuchung des Zentralnerven¬
systems bestatigt also im wesentlichen die auf anderem Weg von
Sutherland, Fromm, Thiemich, Comby, Philipp u. Oberthur,
Vogt, Weygandt u. a. gefundene Tatsache, dass der Mongolismus
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Zur Kenntuis des Zentralnervensvstems beirn Mongolismus.
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eine Hemmungsbildung sei; sie scheint aber geeignet zu sein, ein Licht
darauf zu werfeD, welcher Art diese Hemmungsbildung, die man besser
als Entwicklungsstorung bezeichnen konnte, ist. Sie besteht in unserem
Fall aus zwei Komponenten:
1. der retardiertenEntwicklung dernervosen, besondersder zelligen
Elemente in Lage, Schichtung, Form (?) und Struktur inner-
halb des Vorder-, teilweise auch des Zwischenhirns, vornehm-
lich der Grosshirnrinde;
2. einem atavistischen Rlickschlag in der hinsichtlich der einzelnen
Elemente auf normaler Entwicklungsstufe stehenden Medulla
oblongata.
Das Zentralnervensystem war also in doppelter Beziehung minder-
wertig, onto- und phylogenetiscb, wobei die Frage, inwieweit die erste
Minderwertigkeit einer Korrektur fabig ist, ohne BelaDg ist. Konnten
auch die verspatet entwickelten Teile sicb zur Vollkommenbeit weiter
differenzieren, die Tatsache, dass sie funktionell minderwertig bleiben,
lasst sich wobl kaum leugnen, wenn nicht schon vorher dieses wenig
resistenzfahige Nervensystem einer ausseren Krankheitsursache erliegt.
Charakteristisch fur die mongoloide Idiotie scheint weder die atavistische,
noch die ontogenetische Komponente zu sein. Wir linden die ana-
logen Abnormitaten auch bei der mikrocephalen Idiotie ausgepragt
und kiinnen auch klinisch derartige Ubergange sehen, fUr die unser
Fall auc,h eine anatomische Grundlage bietet. Mit histologischen Ent-
wicklungshemmungen, wie den beschriebenen, konnten gewisse Falle
von Mongolismus zu anderen Idiotieformen (gleicher Atiologie?) uber-
leiten, denen gegeniiber ein prinzipieller Unterschied nicht besteht;
sie alle konnen qualitativ gleichartig, quantitativ aber verschieden sein.
Literatur.
(Nur die namentlich im Text angefuhrten Autoren sind liier verzeichnet.)
1) Besta, Due idioti microcefali. (Riv. sperira. di Freniatria 1901. Vol.
XXX. p. 572.)
2) Derselbe, Ricerche iutorno alia Genesi ed al niodo di formazione
della cellula nervosa etc*. (Riv. sperim Freniatria. Vol. XXX. p. 90.)
3) Biach, Zur Tierahnlichkeit im menschliehen Ruckenmark. (Neurolog.
Zentratbl. 1908.)
4) Bourneville, Sur Tanatomie pathologique de Fidiotie. (Ref. Archives
de Neurologie. 1900. Vol. 10. p. 319.)
5) Derselbe, De Fidiotie niongolienne. (Le Progri^s medical 1903.)
6) Bourneville et Oberthur, Idiotie mierocephalique cerveau pseudo-
kystique. (Arch. d. Neurologie. 10<Jl. XI. p. 273.)
i) *
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II. Biacii, Zur Kenntnis des ZentralnervensystemB usw.
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7) BourneviJle et Tissier, Arrieration intellectuelle consecutive h une
brulure de la t§te etc. (Progrfes medical. 1890. p. 52.)
8) Comby, Nouveaux cas de mongolisme infantile, (Zitiert nach Ref.
Jahrbuch f. Khlk. 1907. 8. 66.)
9) Dell* Isola, Le variazonidi struttura della cellulanervosa nelle diverse
epoche di sviluppo. (Riv. Path. nerv. e ment. 1898. 9.)
10) De Sanctis, II Mongolismo. (Riv. path. nerv. e ment. 1907. XII.)
11) Desgeorges, Contribution & Petude de Pidiotie mongolienne. (Thfcse
de Paris 1905.)
12) Fromm, Sektionsbefund bei einem Falle von Mongolismus. (Monats-
schrift f. Khlk. IV. 5.)
13) Kaes, Neuere Arbeiten zur pathologischen Anatomic der Idiotie.
(Monatsschr. f. Psych, und Neur. 1897. I.)
14) Koppen, Beitrage zum Studium der Hirnrindenerkrankungen. (Arch,
f. Psych. 28. 1896.)
15) Lange, Beitrage zur pathologischen Anatomie des Mongolismus. (Monat-
schrift f. Khlk. 1906. 5. 233-243.)
16) Lewkowicz, Uber Mongolismus. (Ref. Monatschr. f. Khlk. 6.)
17) Magini, Sur la nevroglie et les cellules nerveuses cdrebrales chez le
foetus. (Arch. ital. de Biologie IX. I. p. 59.)
18) Marburg, Zur Pathologie der Spinalganglien. (Arbeiten aus dem
Wiener neurol. Inst. Bd. 8.)
19) Mierzejewski, 8ur Panatomie pathologique de Pidiotie. (Ref. Archives
de Neurologie 1900. 10. S. 313.)
20) Mingazzini, Beitrag zum klinisch-anatomischen Studium der Mikro-
cephalie. (Monatsschr. f. Phys. u. Neur. 1900. Bd. 7. H. 6.)
21) Orzechowski, Uber Kernteilungen in den Vorderhornzellen des Men-
schen. (Arbeiten aus dem Wiener neurol. Inst. Bd. 13.)
22) Derselbe, Zur Pathologie und Pathogenese der Chorea minor. Fest¬
schrift f. Obersteiner. Arbeiten aus dem Wiener neurol. Inst. Bd. 15.)
23) Pellizzi, Contributo alia Istologia ed alia Patogenese dei Tumori di
Tessuto nervoso. (Riv. sperim. di Freniatria. Bd. 27. 1901.)
24) Derselbe, Studii clinici ed auatomo-patologici sull* Idiozia. Torino 1901.
25) Philippe et Oberthur, Exaraen histologique de deux cerveaux
d’idiots mongoliens. (C. R. de Bourneville 1902).
26) Pfister, Uber das Gewicht des Gehirns und einzelner Hirnteile beim
Saugling und alteren Kinde. (Neur. Zentr. 1903. S. 562.)
27) Seris, Le mongolisme infantil. 1D0G. These de Paris.
28) Sibelius, Zur Kenntnis der Entwicklungsstdrungen der Spinalgang-
lienzellen usw. (Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1901. Bd. 20. S. 35.)
29) Shuttle worth und Fletcher, Beach, Anatomie pathologique de
Pidiotie. Ref. Archives de Neurologie. 1900. Vol. 10. p. 301).
30) Takasu, Beitrage zur pathologischen Anatomie der Idiotie. (Monats-
schrift f. Psych, u. Neur. 21. 19u7.)
31) Thiemich, Sektionsbefund bei einem Falle von Mongolismus. (Monats-
sekrift f. Kinderheilkunde. 1903. II. 3.)
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III.
Aus der konigl. Poliklinik fiir Nervenkranke (Prof. E. Meyer) and
der konigl. Poliklinik flir Hals- und Nasenkranke (Prof. Gerber) zu
Konigsberg i/Pr.
Weitere BeitrSge zur Symptomatologie der Erkrankungen
der motorischen Kernsaule.
Von
Priv.-Doz.
Dr. Kurt Goldstein, und Dr. Georg Cohn,.
I. Assistant. 1. Assistant.
Die Seltenheit isolierter Erkrankungen der motorischen Kern-
gebiete der Oblongata und des Mittelhirns dtirfte die Mitteilung fol-
gender Falle rechtfertigen, bei denen es sich bei verschiedenartigster
Atiologie und Verlauf um mehr oder weniger weit ausgedehntes Be-
fallensein der Kernsaule der motorischen Hirnnerren handelt.
Die ersten Falle reihen sich einer friiheren Veroffentlichung des
einen von uns (G. *)) an, indem sie wesentlich die Augenmuskeln be-
treffen und in das Bild der Ophthalmoplegia progressiva externa
hineingehoren.
Fall l. 1 2 ) Robert B., 26 Jalire alt, Schornsteinfeger.
Familienanamuese o. B. Keine Nerven- und Augenkrankheiten in
der Familie. Als Kind will Pat. ausser Rachitis immer gesund gewesen
sein, seine Geburt soli normal gewesen sein, in der Scliule hat er gut ge-
lernt, an den Augen ist nie etwas aufgefallen.
Seit mindestens 8 Jahren zunchmendes Herabhangen des
rechten Augenlides.
M&ssiger Alkoholismus in letzter Zeit. Vor 4 Jaliren Tripper. Lues
negiert. Ausser den Augenbeschwerden keinerlei Beschwerden. Kein
Schwindel, kein Kopfweh usw.
Objektive Untersuchung am 11. II. 1908:
Schadel o. B. Angewachsene Ohrlappchon, holier Gaumen, sonst koine
Degenerationszeichen. Hirnnerven I, II, o. B. Ill, das rechte Augenlid
b&ngt stark herab und kann gar nicht gelioben werden.
1) Archiv fur Psychiatric. 1900.
2) Fur die Erlaubnis der Veroll’entlichung dieses und der beiden folgeu-
den Falle sagen wir Herrn Prof. Kriickmann (Direktor der konigl. Augeu-
klinik, hier) unseren verbindlichsten Dank.
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III. Goldstein u. Coiin
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tJbrige Oculomotoriusmuskulatur o. B. Pupillen in jeder Beziehung
frei. IV o. B., V sensorisch und motorisch o. B., VI: Beim Blick nach aussen
treten besonders rechts zeitweise cinzelne nystagmusartige Zucknngen auf,
links auch etwas, aber weniger. Es besteht eine geringe Funktions-
schwache des rechten Externus.
VII: Mundfacialis beim Zaknezeigen rechts etwas weniger be-
wegt als links. Mundschluss beiderseits gut. Stirn ist gerunzelt, Funktion
beiderseits gut, recbte Augenbraue steht dauernd hOher als die linke, elekt-
risch nirgcnds Storungen.
VIII, IX, X, XI, XII o. B. Motilitatund Sensibilitat des KOrpers Oberall
ohne Stdrungen, Romberg, Sehnen und Hautreflexe o. B. Keine Ataxie.
keine Storungen der passiven Beweglichkeit; gesteigerte mechanische Muskel-
erregbarkeit und vasomotorisches NachrOten besteht nicht. Innere Organe
o. B. Urin frei.
Zusammenfassung. Bei einem 26jahrigen Manne hat sich ini
Laufe von 8 Jahren eine zunehmende Ptosis des rechten Auges, eine
geringe Schwache des rechten Abducens und vielleicht eine solche des
rechten Facialis entwickelt. Bei dem Fehlen aller sonstigen Storungen
muss eine isolierte Erkrankung im rechten Oculomotorius- und Abdu-
censkern angenommen werden, die in das Bild der Ophthalmoplegia
progressiva gehort. Die Tatsache, dass die Erkrankung an zwei
Stellen eingesetzt und ein dazwischen gelegenes Gebiet (Trochlearis)
verschont hat, widerspricht nicht den gewohnlichen Erfahrungen; auch
in dem von G. mitgeteilten friiheren Falle war die Erkrankung keine
kontinuierliche. Das leichte Befallensein des Facialis ist ebenfalls bei
der progressiven Augenmuskellahmung schon wiederholt beobachtet.
worden.
Fall 2. Anna J., 20 Jahre alt, Schneiderin.
Familienanamnese o. B. Keinerlei Nervenkrankheiteu in der Familie,
keine Augenkrankeiten. Keine Muskelkrankbeiten.
Patientin selbst nie besonders krank gewescn. In der Schule mSssig
gelernt.
Vor 2 Jahren angeblich Kopfroso. Seitdem — jedoch nicht sofort
darauf — beinerkt Pat., dass an ibren Augen etwas nicht in Ordnung sei.
Vorlier war niclits an den Augen aufgefallcn. Zuerst fiel ihr auf, dass
das linke Auge herabhing, dann auch das recbte, allmahlich wurden
sehr langsam hinter einander alle Bcwegungen in beiden Augen
schwerer, bis sie schliesslich die Augen nicht mehr bewegen
konnte, so dass sie beim Selien immer den Kopf bin- und herbewegen
musste. Sonst keinerlei Beschwerden, keine Schmerzen, kein Reissen in den
Beinen, keine Schwindelanfalle, keine Unsicherheit, beim Gehen, auch nicht
im Dunkeln. Nicmals voriibergehende Lahmungen oder Schwache einzelner
Glieder. Keine Storungen beim Wasscrlassen, bei der Stublentleerung.
Keine Storungen der Qbrigen Sinnesorgane. Keine StOrung beim Sprechen
oder Schlucken. Das Gedachtnis babe in letzter Zeit gelitten, sie vergesse
b'ichter, babe auch viol von ibren friiheren Kenntnissen vergessen, sie habe
aber immer ein schlcchtes Gedachtnis gehabt.
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Weitere Beitrage zur Symptomatologie usw.
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Im Jahre 1907 wurde Pat. in der hiesigen Augenklinik untersucht;
aus dem uns von dort freundlichst zur Verftlgung gestellten Befund ent-
nehmen wir: Beiderseits Ptosis. Fast vdllige L&hmung der Interni, In-
feriores, Superiores und der Obliqui inferiores. Geringe Funktion des
Obliquus superior. Beide Abduceutes etwas beweglich. Konvergenz fehlt.
Pupillenreaktion direkt und indirekt gut. Ebenso Lidschlussreaktion, fast
koine Reaktion bei Akkomodation. Die Akkoraodation ist leicht paretisch
(ca. + 1,5 D).
Untersuckung am 7. YI. 1907.
Mittelgrosses, gut gebautes Madchen in mittlerem Ernabrungszustand,
leidlich gutes Aussehen. Am Gesickt fallt eine gewisse Gespanntheit auf,
etwas wenig Mimik. Die Stirn ist hochgezogen, weist dauernd mebrere
tief eiugegrabene Falten auf, die auch bei Augenschluss nicht schwinden.
Dio Augenbrauen sind dauernd stark hochgezogen, die Lidspalte ist beider¬
seits sehr niedrig, et\v;a 3—4 mm hoch. Das linke Auge steht in der Ruhe
etwas nach aussen gewendet, wahrend das rechte etwa gcradeaus sieht.
Bei krampfhaftem Aufreissen der Augen werden die Lidspalten auch nicht
wesentlich weiter. Es besteht also sehr ausgesprochene beiderseitige Ptosis.
Rechts: Internus inferior und superior sowie Obliquus inferior sind fast
vollig gelabmt. Die Akkomodation ist gut. IV: Obliquus superior zeigt
eine gewisse Funktion, indem beim Versuch, nach unten zu sehen, eine
geringe Rollung auftritt. VI: Externus ist etwas beweglich beiderseits, links
besser als rechts. Pupillen beide ttber mittelweit, rechte enger als linke.
H L beiderseits prompt +, aucb konsensuelle Reaktion positiv. R/C fehlt,
Konvergenz unmdglioh. Akkomodation +, R/A +. Conjunktival- und
Cornealreflex beiderseits schwach. Der Gesichtsschadel ist asymmetrisch.
Die Zunge weicht beim Herausstreckcn etwas nach rechts ab,
ist sehr schlaff, Bewegungen nach beiden Seiten gleich gut. Der weiche
Gaumen wird links etwas mehr verzogen als rechts. Rachenreflex +. Der
Mund hangt in der Ruhe etwas links, wird beim Sprechen rechts
etwas mehr bewegt als links. Elektrische Untersuchung: Faradisch
Facialis nichts. Zunge rechts geringe, aber deutliche Herab-
setzung der Erregbarkeit. Galvanisch nirgends Storungeu.
Ubrige Hirnnerven o. B.
Die Untersuchung des Obrigen KOrpers ergibt von seiten des Nerven-
systems nichts Pathologisches, keine Zeichen fhr eine Hysterie, keine spas-
tischen Erscheinungen an den Extremitaten, nirgend Paresen, keinerlei Ano-
malien der Reflexe, keine Druckpunkte. Romberg nicht, Sensibilitiit tiberall
ohne Stdrung, ophthalmoskopisch normaler Befund. Die inneren Organe
zeigen keine wesentliclie StOrung. An der rechten Zungenhiilfte eine etwa
fhnfpfennigstOckgrosse, blutgefQllte, wenig erhabene Gcschwulst (Angiom?)
Die Psyche der Pat. ist zweifellos nicht gauz intakt. Es fallt
sclion bei der Unterhaltung ein albcrn-lappisches Benehmen, haufiges un-
inotiviertes Lachen auf. Bei der Exploration zeigt sich, dass die Ivenntnisse
recht gering sind. Pat. sagt auch selbst, dass sie vieles vergessen liabe.
Einfache Rechenaufgaben kann sie nicht losen, uur das Einfachste gelingt
ihr. Ebenso ist ihr Urteilsvermdgen ein recht geringes. Es besteht im
ganzen wohl ein betrUchtlichcr Grad angeborenen Sellwachsinns.
Fhr die Annahme einer akuten Geistesstorung irgend einer Art liegen
keine Anhaltspunkte vor.
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III. Goldstein u. Cohn
Zusammenfassung: Ein 24jahrigesMadchen erkrankfc angeblich
nach einer Kopfrose, aber nicht in direktem Anschluss an
dieselbe mit einer allmahlich fortschreitenden Lahmung samt-
licher ausseren Augenmuskeln und des Akkoraodations-
muskels, so dass etwa 2 Jahre nach Beginn eine fast vbllige Lah¬
mung der vom Oculomotorius versorgten ausseren Augen-
muskeln,geringe Lahmung der Trochlearis- und noch leichtere,
aber auch betrachtliche der Abducensmuskulatur konstatiert
werden kann. Dazu gesellt sich eine Schwache der rechten Zungen-
muskeln, desGaumens,derlinken Mundfacialismuskulaturmit
Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit in der rechten
Zungenhalfte.
Im (ibrigen weist das Nervensystem vollig normale Verhaltnisse
auf. Zur Erklarung des Befundes bleibt kaum eine andere Annahme
als eine fortschreitende Erkrankung in den Kerngebieten der be-
troffenen Nerven ubrig. Die Erkrankung begann anscheinend mit der
Levatorlahmung, also im Oculomotorius-Kerngebiet, und schritt von
da auf die librigen Oculomotoriuskeme und die Kerne von Troch¬
learis, Facialis, Abducens und Hypoglossus fort. Das Symptomenbild
geht liber die reine Ophthalmoplegie hinaus, die Erkrankung steht
aber mit ihr zweifellos in engster Beziehung. Ein ahnliches Befallen
auch nicht zum Augenapparat gehoriger Muskeln nach lang isoliert
bestehender Ophthalmoplegie hat u. a. Koelichen 1 ) beschrieben.
Bemerkenswert ist an dem Falle zunachst der Beginn: der angeb-
liche Anschluss an die Kopfrose. Wahrscheinlich haben wir in der
infektiosen Erkrankung nur das auslosende Moment fUr das Auftreten
der Kernerkrankung zu sehen. Sicherlich handelt es sich nicht etwa
um eine infektiose Poliomyelitis wie in den spater zu erwahnenden
Fallen; dagegen spricht das Auftreten erst einige Zeit spater nach der
Infektionskrankheit und das ganz langsame, allmahliche Fortschreiten
des Prozesses.
Die bei der zweiten Untersuchung festgestellte geringe Besserung
gegeniiber dem J /2 Jahr vorher erhobenen Befunde spricht nicht gegen
die Annahme einer progredienten Kernlahmung. Derartige Schwan-
kungen sind auch bei anderen Fallen der progressiven Ophthalmoplegie
beobachtet worden. Auffallend ist das Mitbetroffensein der Akkomo-
dation, jedoch findet sich etwas Ahnliches auch schon in vereinzelten
Fallen der Literatur, z. B. bei Strumpell 2 ). Gerade die Akkomodations-
1) Uber die Ophthalmoplegia externa chron. progr. Gazeta lekarsk. 1904;
ref. in Neurolog. Zentralbl. v. 10. Miirz 1900.
2) Neur. Zentralbl. f>. 1SS0.
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Weitere Beitrage zur Symptomatology usw.
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lahmung verschwand spater so gut wie ganz. Bei beiden mitgeteilten
Fallen ist das relativ hohe Alter der Kranken — im ersten begann
die Erkrankung iin 18., im zweiten im 24. Lebensjahre — hervor-
zuheben* Gewohnlich setzt die Erkrankung weitfruher ein. Bemerkens-
wert ist schliesslich im ersteu Falle das Vorhandensein von Degenerations-
zeichen, im zweiten das der Schadelasymmetrie und des betrachtlicben
angeborenen Schwachsinns. Aueh in dem friiher von G. mitgeteilten
Falle bestand Imbezillitat. Vielleicht gestattet das haufige Zusammen-
treffen der progressiven Ophthalmoplegie mit derartigen Zeichen einer
gestorten Anlage des gesamten Nervensystems einen RQckschluss auf
die Atiologie der Ophthalmoplegie, die wahrscheinlich auf eine ab-
norme Anlage zurQckzufnhren ist.
Ziehen 1 ) zahlt auch in seinem kiirzlichen Vortrag die infantile
progressive Bulbarparalyse — und dazu gehoren ja Falle wie die
unsrigen — zu den „auf kongenitaler Anlage beruhenden erworbenen
atrophischen Lahmungen".
Der 3. Fall fuhrt zu einigen weiteren Beobachtungen, die von
den bisherigen mitgeteilten einerseits durch die weitere Ausdehnung
des Prozesses in der Kernsaule, andererseits durch eine be-
stimmte exogene Atiologie ausgezeichnet ist.
Fall 3. Minna N., 36 Jahre alt, Arbeiterin.
Familienanamnese o. B. Pat. will bis zur jetzigen Krankheit nie
besonders krank gewesen sein. In der Jugend sicber keine Stdrung an
den Augen.
1901 erkrankte Pat. mit Fieber, Kopfschmerzen, Schmerzen in den
Augen; kein Erbrechen, keine Nackensteifigkeit, keine Halsschmerzen. Sie
war 8 Tage krank. In dieser Zeit traten ziemlieh pldtzlick die Sto-
rungen an den Augen auf. Zeitweise war auch die Spracke schlechter,
kein Yerschlucken. Der Mund wurde schief; kein Kribbeln, kein Taubheits-
gef&hl usw. Die Stdrung besserte sick nur wenig und blieb die gauze
Zeit ziemlieh stationkr. Pat. kommt jetzt in Behandlung der kgl.
Universitkts-Augenklinik, weil das Sehen infolge einer beiderseitigen Kera¬
titis e lagophthalmo gestfirt ist. Die objektive Untersuckung am 27. VIII.
1907 ergibt:
Kleine Person, Schildelumfang 53, bifrontal 11, biparietal 14, fronto-
subocciptal 17 cm. Keine Prognathic; angewachsene Okrlappcken; sonst
keine Degenerationszeicken.
Hirnnerven: I, II o. B., Ill, IV, VI fast vollstkndige Lilhmung
skmtlicher kusseren Augenmuskeln; nur minimale Beweglichkeit.
Pupillen normal in jeder Beziehung, V o. B., VII Stirnrunzeln beider-
seits schwach. Der Mund stekt in der Ruke links etwas tiefer
1) Beziebungen zwisehen angeborenen Muskeldefekten, iufantilem Kern-
schwund und Dystrophia muscularis progressiva infantilis. Berl. kliu. Woekeu-
schrift 1908. Nr. 34.
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III. Goldstein u. Cohn
wie rechts, er wird nach beiden Seiten bin wenig verzogen, sub-
jektiv nach rechts besser als nach links. Beim Sprechen links
weniger bewegt als rechts.
Elektrisch: Stirn beiderseits sehr stark herabgesetzt, so-
wohl faradisch wie galvanisch beiderseits trage Zuckung, An =
Ka. Kinn- und Mundmuskulatur beiderseits stark herabgesetzt,
sowohl faradisch wie galvanisch; links trage Zuckung, An = Ka.
Rechts gute Zuckung, Ka starker als An. Facialisreflexe fehleu
beiderseits, Masseterreflex -f-.
VIII o. B., IX Geschmack ohne Stdrung, X, XI Puls regelraassig, be-
schleunigt, 106. Atmung ebenso. Sternocleidom. funktionell beider¬
seits ohne Stdrung, galvanisch beiderseits etwas trage Zuckung,
An = Ka. Cucullaris: Keine abnorme Stellung, fftblt sich links starker
an. Beiderseits scbwache Kraft, keine sichere Funktionsstbrung.
Elektrisch: Links obere Partie trage Zuckung bei galvani-
scher Reizung, Anode deutlich starker als Ka; rechts auch
etwas trage, weniger als links, sonst o. B.
Gaumensegel: Links wesentlich schlechter als rechts, doch
beiderseits schlecht beweglich. Das Zapfchen steht in der Rube
nach links mit der Spitze verzogen. Reflexerrcgbarkeit der Uvula vbllig
erloschen, Gaumen- und Rachenreflex o. B.
Kehlkopf: Bei der Respiration ist die Abduktionsbewegung beider
Stimmbander, und zwar des rechten mehr behindert, so dass die
Rima glottidis in ihrer grbssten Ausdelinung nur eine Weite von 3 mm hat
Die Adduktionsbewegungen sind anscheinend normal, Sensibilitat herab¬
gesetzt.
XII: Zunge wird etwas nach links herausgestreckt.
Elektrisch: Rechts o. B., links trage Zuckung. An = Ka.
Motilitat der Extremitaten in jcder Bezieliung frei; passive Beweg-
lichkeit: Links im Kniegelenk deutliche Spannungen, rechts o. B. Sen¬
sibilitat o. B Pat.-Reflex beiderseits +, Achillesreflex o. B., Fussohlen-
reflex fehlt beiderseits, kein Babinski, kein Oppenheim-Mendel dorsal.
Abdominalreflex Reflexe der oberen Extremitaten o. B. Geringer
Romberg. Es besteht keine Mastodynie und Ovarie. Mechanische Muskel-
erregbarkeit und vasomotorisches Xachroten lebhaft. Es besteht beider¬
seits Keratitis e lagophtkalmo.
Innere Organe: Herzgrenzen o. B., erster Ton an der Spitze un¬
rein, verlangert, 2. Pulmonalton unrein und klappend, 2. Aortenton o. B.
Puls regelmiissig, beschleunigt, 106. Lungen und die tlbrigen Organe o. B.
Uriu frei. Eine spatere Nachuntersuchung ergab den gleichen Befund.
Zusammenfassung: Bei einer 27jabrigen Arbeiterin stellen sich
im Verlauf einer fieberhaften Erkrankung Stbrungen an den
Augenmuskeln und der Mundmuskulatur ein, der Zustand bleibt
im wesentlichen stationar und eine Untersuchuug 4 Jahre spater ergibt
fast vbllige Liihmung siimtlicher ausseren Augenmuskeln
bei Intaktbeit der inneren, Scbwache beider Faciales, besonders
des linken, mit ausgesprochen elektrischer Veriinderung im
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Weitere Beitrage zur Symptomatologie usw.
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linken Facialisgebiet. Elektrische Veranderung geringen
Grades im Stemocleidom. und im Cucullaris, besonders links
ohne deutliche Funktionsstorung, funktionelle Schwache
der beiderseitigen Uvulamuskulatur, besonders des linken,
Schwache der Postici, besonders des rechten, Parese der
linken Zungenmuskulatur. Wir finden also eine atrophische
Lahmung von verschiedener Starke im Oculomotorius,Trochlearis,
Abducens, Facialis, Hypoglossus und Vagoaccessorius. Teil-
weise sind beide Seiten (III, IV, V) in gleieher Weise, teilweise die eine
starker wie die andere (VII, IX, X), oder nur die eine (XII) getroffen. Es
besteht elektrisch in einzelnen Gebieten partielle EaR. Zur Erklarung
dieser atrophischen Lahmung in. verschiedenen Himnerven ist kaum
eine andere Ursache, als eine Erkrankung der Kerngebiete anzunehmen.
Eine periphere Lasion kommt wegen der Multiplizitat der erkrankten
Nervengebiete, dem Fehlen von Schmerzen beim Ausbruch der Er¬
krankung, der eigentnmlichen Auswahl, die nur die motorischen Nerven
und auch von diesen nicht samtliche Aste betrifft, wohl gar nicht
in Betracbt Eine extramedullare Wurzelerkrankung ist wegen der
geringen Allgemeinerscheinungen bei der grossen Ausdehnung, die der
Prozess an der Basis gehabt baben musste, auch von der Hand zuweisen.
Auch ware dann das Verschontbleiben der sensorischen Nerven kaum
zu erklareu. Das Bild, das die Kranke jetzt bietet, ist ein dauernd
gleiches und ein Residualzustand einer friiheren akuten Erkrankung,
die als Polioencephalitis acuta zu bezeichnen ist.
Bemerkenswert ist, dass in einzelnen Gebieten die Storung sich
nur in elektrischer Veranderung kund gibt, wiihrend die Parese fast
vollig fehlt. Auch dieses Moment lasst sich am ehesten fur die An-
nahme einer Kernerkrankung verwerten, ebenso, wie die Auswahl im
Vagoaccessorius dafur spricht, von dessen Gebiet die Postici am
starksten betroffen sind, wahrend die Adduktoren ganz frei sind. Vom
Vagus sind wahrscheinlich auch sensible Abschnitte geschadigt. Es
zeigt sich eine Herabsetzung der Sensibilitat im Kehlkopf und der
Reflexerregbarkeit der Uvula am Gaumen und Rachenreflex. Die
dauernde Pulsbeschleunigung lasst auch vielleicht auf eine Parese des
Herzvagus schliessen.
Atiologisch kommt in diesem Falle w r ohl zweifellos die infektio.se
Erkrankung in Betracht, deren Charakter allerdings zweifelhaft ist,
aber anscheinend den influenzartigen Erkrankungen nahe steht. Diese
Infektion ist hier nicht, wie im vorigen Falle, das auslbsende Moment
ftir die Kernerkrankung gewesen, sondern die eigentliche Ursache.
Dafur spricht der ganz akute Charakter der Erkrankung, ihr volliger
Stillstand, nachdem die akuten Erscheinungen verschwunden sind. Wir
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III. Goldstein u. Cohn
mfissen danach von einer Polioencephalitis acuta infectiosa
sprechen, wie sie ja schon, wenn auch selten, beschrieben worden ist.
Der Fall steht dadurcb nahe dem folgenden, der schon von Herrn Prof.
Gerber 1 ) mitgeteilt wurde, den wir aber im Zusammenhang nochmals
anfuhren, besonders auch deshalb, weil sein weiterer Verlauf von
Interesse ist.
Fall 4. Heinrich J., 45 Jahre, Lokomotivftthrer.
Anamnese: Eltern leben und sind gesund, ebenso Geschwister. Eine
Schwester vor 8 Jahren an Tuberkulose gestorben. Pat. war frtther nie-
mals krank, Frau gesund, ein Partus praematurus, keine Kinder. Gonorrhoe
koncediert, Lues negiert.
Mitte Januar 1905 bekam Pat Ohrenscbmerzen, Halsschmerzen und
Influenza. Sp&ter erysipelatdse ROtung und Schwellung der Ohrmuschel.
Nach Abschwellung der letzteren Perforation des Trommelfells, gleichzeitig
mit dieser wurde das Gesicht schief. Er hatte keine Schmerzen, wurde
heiser, beim Essen Hustenreiz, Schluckbeschwerden; besonders kam flQssige
Nahrung stets durch die Nase zurtlck.
31. I. 1905. Pat. ist ein grosser, gesund aussehender Mann, dessen
rechte Gesichtshalfte vOllig geliihmt ist. Beim Anlauten steht die rechte
Gaumenhalfte vollig still. Das Trommelfell im hinteren oberen Quadranten
gerfltet, zeigt in der Mitte eine ganz kleine Perforation. HQrprOfung:
Flttstersprache links normal, rechts ad concham = 0. Konversationssprache
links normal, rechts 6 m. Weber nach rechts, Rinne beiderseits positiv,
C links bei f. K. A., Fis 4 rechts bei starkstem Anschlag.
Schadel sonst o. B. Kopfperkussion nicht schmerzhaft, Pupillen =, unter
mittelweit. R/L +, R/C +, AB frei.
V vOllig frei, auch Schleimhaut des Mundes und Rachens.
VII: Rechte Nasolabialfalte etwas tiefer als linke, rechter
Mundwinkel etwas holier. Pat. spricht nur mit der linken Gesichtshalfte.
Deutliche Parese samtlicher Aste des rechten Facialis. Augen-
schluss rechts moglich, aber kraftlos.
Elektrisch: Faradisch: Galvanisch:
links reclits links rechts
Stamm 80 —
Nerv. 1. Ast 105 95 1. Ast 3,0 —
„ 2. „ 95 85 2. „ 3,5 -
„ 3. „ 95 75 3. „ 2,5 —
Musculus frontalis und cygomaticus und orbicularis oculi rechts bei
schwilcheren Stromen als links, rechts sehr starker Ausschlag. aber trage.
Ka —An.
VIII: Acusticus o.B., IX: Geschmaek beiderseits unsicher, dochohneBe-
sonderlieit. X: Rechte Kehlkopfhiilfte sowohl bei Phonation wie bei
der Respiration unbeweglich, in Kadaverstellung, Sprache heiser.
Rechter Gaumenbogen steht tiefer, bei Bewegungen rechts
schwiiclier als links, Gaumen wird nach links herttbergezogen.
1) Gerber, Arch. f. Ohrenlieilkunde. 1900.
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XI: Deutliche Atrophie des rechten Musculus cucullaris mil
Funktionsschw&che. Sternocleidomastoideus nicht deutlich atrophisck.
Elektrisch: Cucullaris galvanisch rechts starke Herabsetzung, Ka =
An, trage Zuckung.
XII: Zunge gerade, zittert stark, besonders rechts.
Motilitat der Extremitaten frei, grobe Kraft beiderseits sehr gut,
Gang etwas unsicher, schwankeud, kein Romberg, Sensibilitat tiberall frei.
Gaumenreflex, Wfirgreflex, Reflexe der Extremitaten =
Kniereflex und Achillesreflex -f-; Plantarreflex o. B., ebenso Abdomen-
und Kremastareflex.
12. IV. 1905. Bcsseres Befinden. Pat. ist seit dem 4. IV. wieder in
Dienst ohne Beschwerden, hat an Gewicht etwas zugenommen. Bewegungen
in der rechten Schulter vollig frei, auch das Heben derselben und die
Kraft gut.
Elektrisch: Trage Zuckung, keine Umkehr. Facialis besser, aber
noch deutlich paretisch. Augenschluss noch nicht vdllig moglicb, am
schlechtesten Musculus frontalis.
29. IV. Lidschluss erfolgt vollstandig, wenn auch trage, bei Stirn-
runzeln bleibt die rechte Seite zurtlck. Rechtes Trommclfell geschlossen.
Rechts: Links:
FlQstersprache ad concham normal
C, positiv positiv
Fis 4 bei Anchlag positiv
Sprache klar, sonst Status idem.
16. V. Fis 4 noch immer negativ.
5. X. Pat. ftthlt sich wohl, hat keinen Schwindel, klagt fiber Ohrcn-
sausen. Parese des Facialis fast vollig geschwunden. Elektrisch kein
Befund mehr. Lidschluss normal, Zunge wird gerade herausgestreckt, Segel
steht gerade, bewegt sich gut. Rechte Kehlkopfhalfte normal, ebenso die
linke. Das rechte Stimmband erscheint etwas breiter als das linke, be¬
wegt sich bei Phonation wie Respiration gut, nur bleibt beim Glottisschluss
eine leichte Excavation. Rechte Supraclavikulargrube zeigt noch deutliche
Delle. Die sternale Partie des Sterneleklo und des Trapezius deutlich
atrophisch, wenn auch vielleicht etwas weniger als frfiher.
29. X. 1908. Pat ffihlt sich vollig wohl, hort auf dem rechten Olire
schleckt. Rechte Gesichtshiilfte normal, Augenschluss gut, Zunge wird ge¬
rade herausgestreckt, zeigt leichte fibrillfire Zuckungen rechts, Gaumensegel
steht gerade, retrahiert sich gut.
Laryngoskopisch: Vollig in Ordnung.
Ohr: Rechts fast vollige Taubheit fur Fluster- und Konversations-
sprache, Fis 4 nur bei stiirkstem Anschlag, links -f-.
Rinne positiv, Weber nach links.
Geschmack, Geruch normal.
Zusammenfassung: Bei einem 4Djahrigen Manne treten iiu
Verlauf einer Influenza neben einer Otitis media perf. dextra
rechtsseitige atrophische Lahmung desN. VII, desN. recurrens
und accessorius, Andeutung von atropbischer Liihmung im
rechten Hypoglossusgebiet und eine zweifelhaftc Affektiou des
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30
III. Goldstein u. Cohn
N. VIII auf. Schon nach kurzer Zeit tritt mit Ausnahme der Hor-
fahigkeit eine erhebliche Besserung ein, so dass 3 V 2 Jahre spater nur
noch geringe Spuren der Storung im Facialis und Trapezius zu finden
sind, abgesehen von der unverandert bestehenden Schwerhorigkeit.
Bei der Beurteilung ist zunachst die Horstorung wahrscheinlich auf
eiue Affektion des Ohres zuruckzuflihreD. Der Umstand, dass sie
nicht, wie alle tibrigen nervosen Stbrungen, zurUckgegangen ist, legt
jedenfalls den Gedanken nahe, dass es sich nicht um eine den Lah-
mungen gleicbstebende Storung, etwa im Gebiet des N. acusticus,
gehandelt hat Aus diesem Grunde konnen wir die HorstSrung bei
der Beurteilung des Gesamtprozesses ausser acht lassen. Ahnliche Er-
wiigungen wie im vorigen Falle lassen zunachst eine ganz peripker
gelegene Lasion, z. B. eine Polyneuritis, ausschliessen; besonders spricht
auch gegen ein^ solche die vollige Einseitigkeit der Affektion, die auch
gegen die Annahme einer extramedullaren Erkrankung zu verwerten
ist, abgesehen von den anderen Momenten, die hier wie im vorigen
Falle die Annahme einer solchen unwahrscheinlich machen. Es bleibt
also auch hier die Annahme einer medullaren Erkrankung ubrig,
fur deren Atiologie die Influenza, seien es ihre Bakterien oder
ihre Toxine, heranzuziehen ist. Das Fehlen aller auderen nervosen
Storungen seitens der Muskulatur, Sensibilitat usw. berechtigen zur
Annahme, dass auch hier der Prozess sich auf die motorischen
Kerngebiete beschrankt hat. Die gesteigerten Sehnenreflexe, die
vielleicht zunachst gegen diese Annahme zu sprechen scheinen, bestehen
auch heute noch fort und sind auf zweifellosen chronischen Alkoholis-
mus zuriickzufiihren. Auffallend ist, dass in diesem Falle so schnell
eine Besserung eintrat, wahrend in dem vorhergehenden, der eine
gleiche Atiologie hatte, der Prozess sich in keiner Weise zuruckbildete.
Eine sichere Erkliirung hierfiir liisst sich nicht geben, doch spricht der
Umstand, dass in ersterem Falle der Umfang der Erkrankung viel
ausgedehnter war, fiir eine schwerere Lasion, die keine Restitution
mehr zuliess.
Fall 5. Paul J., 40 Jalire alt, Vorschlosser.
Familienananine.se 0 . B. Pat. war als Kind im allgemeinen gesund,
hat im Jalire 1800 eine Lues aequiricrt, die auf Sehmierkur schwand.
Spiiter bekam er Gesehwtlre auf Brust und Rtlcken. Seit langer Zeit
links Ohrenlaufen und Schmcrzen im Kopf.
Mai 1900 tiel ihm ein ciserner Gegenstaud auf die Stirn, nach sechs-
wochentlicher Krankheit vollige Besserung.
Oktober 1900. Erste Erscheinungen der jetzigen Krankheit. Die
Sprache wurde undeutlich, lispclnd, gleichzeitig wnrde die
Zunge auf der liuken Seite schrniiler, er konute sie schlechter
herausstreeken. Ni ein als Schrnerzen.
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Weitere Beitrage zur Symptomatologie usw.
31
Dezember 1906 wurde er lieiser, dann bekam er Schluckbe-
schwerden, er konnte Flttssiges besser herunterbringea als feste Speisen,
doch kam ihm die Nabrung oft durch die Nase zurOck. Nie Herzklopfen,
nie Atembeschwerden, keine Stdrung der Blase. Nach Quecksilber-
and Jodbehandlang etwas Besserung. Spater traten Schmerzen in
tier Schulter, hin und wieder Schwindel, Reissen in den Beinen and Kalte-
gefohl vom Knie abwarts auf.
29. V. 1907 Untersuchung.
Schadel stark asymmetrisch seit der Geburt. Augen: Linke Pupille
etwas weiter als rechte, R/L, R/C +, Conj., Corn. -J-. AB frei, etwas
mangelnde Konvergenz der Augen, Lidspalten gleich.
V o. B., VII: Vielleicht etwas schwRchcre Beweglichkeit der linken Seite,
aber wohl mit der Asymmetrie des Schadels und Gesichtes zusammen-
hiingend. Keine eigentliche Parese. Keine elektriscbe StOrungen.
Larynx: VollstRndiger StillstaDd der linken Kehlkopfhftlfte
in Medialstellung bei Respiration und Phonation. Die rechte Halfte normal.
Anatoraisch keine Ver&nderung.
Schulter links gegen rechts etwas abgeflacht, der obere
Schulterblatteil des Cucullaris fOhlt sich wesentlich dflnner als der rechte
an. Sonstige Muskeln der Schulter o. B. In der Muskulatur links
Flimmern.
Elektrisch: Herabsetzung, An = Ka, trage Zuckung.
XII: Zunge stark nach links verzogen, linke Halfte viel
schm&ler und khrzer als rechts, deutlich geschrumpft, ftthlt sich
auffallend derb und hart an. Elektrisch links stark gegen rechts
herabgesetzt, trage Zuckung, An = Ka. Gaumensegel hebt sich
links schlechter als rechts. SeusibilitRt Oberall normal, kein Rom¬
berg, kein Westphal. Pat.-Reflex +, beiderseits gleich, Achillesreflex
, =. Fussohlenreflex o. B., obere Extremitatenreflexe -(-, =,
mechanische Erregbarkeit der Muskeln +. Keinerlei Spasmen in den
Extremitaten, innere Organe o. B.
Am Kdrper eine Anzahl grosser strahliger, typisch luetischer Narben.
Otoskopisch im linken Trommelfell eine kleine runde Perforation unten,
fdtider Eiter, der von unten her bei Luftverdiinnung kommt. Rinne ne-
gativ, Weber nach links, FlOsterzahlcn 2 1 / 2 m.
Therapie: Sublimatinjektion, hohe Dosen von Sajodin innerlich.
Nachuntersuchung Dezember 1907: Zunge unverandert, Parese
des Recurrens geschwunden, Cucullaris funktiouell wesent¬
lich besser, aber noch ausgesprochene elektriscbe Verande-
rungen.
Fall 6. Gregor M., 32 Jahre.
Mutter an Geisteskrankheit gestorben, Vater lebt, soli gesund sein.
Pat. ebenso wie seine 2 Schwestern sind selir nervos, hat sonst keine be-
sonderen Krankheiten durchgemacht. Yor 10 Jahren luetische Infektion,
Kur von 9 Suhlimatinjektionen. Kein Ausschlag, keine Beschwerden bis
August 1907. Hier begannen allmahlich Schluckbeschwerden,
Pat. verschluckte sich und wurde lieiser. Sprache sonst o. B. Zwei
Monate Jodbehandlung und Faradisation wie Strychnininjektion erzielten
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32
III. Goldstein u. Cohn
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keine wesentliche Besserung. Er bekam Doppeltsehen, stolperte nach
der rechten Seite, weil er dort. nicht ordentlich sehen konnte. Anfangs
Schwindel und Kopfschmerzen, besonders im rechten Hinterkopf, in den
Beinen h&ufig Stiche. Blase o. B.
Befund von Mitte Oktober 1907:
Hagerer, blasser Mann. Innere Organe o. B., Schadel o. B.
I u. II o..B. Bei Blick geradeaus weicht das rechte Auge
nach der Nase zu ab. Bei extremer Blickrichtung nach rechts
bleibt der temporale Cornealrand etwa 1V 2 —2 nim vor der
ausseren Kommissur stehen. Bei Fixation gerade vor ihm
stehender Personen treten die typischen Doppelbilder der Ab-
ducenslakmung auf. Pupillenreaktion und Augenhintergrund 0 . B.
V: Druckempfindlichkeit des ersten Astes rechts, sonst keine Sensi-
bilitatsstOrung. Facialis fnnktionell und clektrisch ohne Stdrung, vielleicht
nicht ganz glcichmassig innerviert, ohne dass jedoch eine Parese festgestellt
werden kann.
Larynx: Epiglottis liegt tief und steht mit der Basis nach rechts,
die rechte Kehlkopfhalfte sowohl bei Phonation wie Respira¬
tion vollstandig still. Linke bewegt sich normal. Gaumensegel
steht links schon in der Ruhe etwas holier als rechts, wird
links hdher gehoben als rechts, jedoch rechts ebenfalls deutliche
Bewegung. Rachenreflex +. Cucullaris: Deutliche Atrophie der
Scapularportion des Cucullaris. Fossa suprascapular is sehr
abgeflacht, eloktrisch starke Herabsetzung fttr faradischen und
galvanischen Strom. Keine qualitativen Anomalien. Der Sterno-
cleido fehlt rechts fast ganz, sowohl bei der einfachen Be-
sichtigung wie funktionell; clektrisch ist keine Erregbarkeit
zu erzielen. Die Zunge weicht stark nach rechts ab, ihre rechte
Halfte ist schmiiler und dtinner und zeigt quere Faltungen.
Elektrisch: Deutliche wurmformige Zuckung auf der rechten
Seite, An starker als Ka.
Peetoralis und Deltoideus sowie siimtliche Obrigen Schultermuskeln
0 . B., Qberhaupt sonst keine Motilitiitsstorungen, keine Ataxie, nirgends
Sensibilitiitsstorungen. Pat.-RoHex beiderseits deutlich gestcigcrt, ebenso
Aciiillesreflex. Keine Cloni, Fussohlenreflex 0 . B., ebenso Abdominal-
und Kremasteretlex. Obere Extremitiiten zeigeu lebhafte Reflexe. Mecha-
uische Muskelerregbarkeit lebhaft, ebenso vasomotorisches Nachroten.
Pat. selbst ist sehr emptindlich und nervos.
Therapie: Encrgische Schmierkur, Einreibungen mit Jothion-
salbe, innerlich Sajodin. Die Augensymptome haben sich er-
heblich gebessert, wahrend die tlbrigen Erscheinungen bei der
Entlassung des Pat., die vorzeitig erfolgen musste, noch keine
Anderung zeigten.
Zusainmenfassung: Fall 5 und 6 zeigen eiDe weitgehende
syraptomatische Ubereinstimmung. Wenn wir bei Fall 6 von der Uber-
empfindlichkeit ini N. V und den gesteigerten Sehnenreflexen sowie
den iibrigen Zeieheu vermehrter nervbser Erregbarkeit, die auf seine
allgemeine nervose Konstitution zurtickzufubren sind, absehen, so
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Weitere Beitrage zur Syinptomatologie usw.
33
haben wir in beiden Fallen einseitige atropbische Lahmungen,
resp. Paresen mehrerer Himnerven: X, XI und XII. Im Fall 6
kam noch voriibergebend eine Parese des N. VI hinzu. Bei
der Lokalisation der Diagnose konnen wir wiederum auf die schon
bei Fall 3 gemachten Erorterungen zuruckgreifen und auch hier nach
ahnlichen Erwagnngen eine periphere oder basale extramedullare Er-
krankung ausschliessen. Im besonderen spricht noch gegen eine basale
Erkrankung die Einseitigkeit der Affektion und im Fall 6 die Mitbe-
teiligung des Abducens beiFreibleiben von VII und VIII. Also mtissea
wir auch hier eine medullare Erkrankung und zwar eine der
motorischen Kernsaule annehmeD. Es unterliegt wohl keinem
Zweifel, dass die Lues in beiden Fallen atiologisch allein in Be-
tracht kommt. Bei beiden Patienten ist die Infektion sichergestellt
und auch der Erfolg der antiluetischen Kuren lasst sich im selben
Sinne verwerten.
Zur Beurteilung der Art der vorliegenden Erkrankung diirfte es
zweckmassig sein, sie mit ahnlichen, in der Literatur niedergelegten
Fallen zu vergleichen. Es kommen besonders, soweit wir die Literatur
iibersehen, die Falle von Rautenberg 1 ) und Pel 2 ) in Betracht.
Besonders der Fall Pels zeigt eine fast vollstandige Uberein-
stimmung mit den von uns beschriebenen. Dies ist um so bemerkens-
werter, als in diesem Falle dieselbe Atiologie wie in unserem Falle
vorlag — die Lues. Wie schon Pel annimmt, haben wir wahrschein-
lich eine luetische Gefassaffektion gewisser Aste der Arteria spinalis
anterior vorauszusetzen, die zur Verstopfung der Gefasse und Alteration
der Blutversorgung der betreffenden Kernzonen gefuhrt hat. Es ist
besonders nach Duret bekannt, dass das hintere Gebiet der Rauten-
grube, also das Kerngebiet des Vagoaccessorius und Hypoglossus, von
einem gemeinsamen Gefass versorgt wird. Es wurde sich durch die
Annahme einer Erkrankung gerade dieses Gefiisses einfach erklaren,
warum gerade Hypoglossus und Vagoaccessorius wiederholt allein
befallen gefunden wurden.
Moglicherweise handelt es sich aber urn eine Kernerlcrankung
auf luetischer Basis, wie sie im Anschluss an Charcots Lehre von
den parenchymatbsen Poliomyelitiden von verschiedenen Autoren ver-
teidigt wird. Allerdings ist bei einer derartigen Annahme die
Neigung zur Restitution in unseren Fallen auffallend. Eher konnte
noch eine Meningoencephalitis, die nur in hervorragendem Malle,
wie etwa in dem von Preobraschewski jiiugst (Xeurolog. Zentralbl.
li Rautenberg, Berl. klin. Wochenschr. 10i'2. Nr. 7.
2) Pel, Berl. klin. Wochenschrift 1SS8. Nr. 20.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. 37. Bd. •”>
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34 III. Goldstein u. Cohn, Weitere Beitrage zur Symptomatologie usw.
1908 ) beschriebenen Falle von syphilitischer Poliomyelitis, die vordere
Kernsaule betrifffc, ein Bild, wie das unsere Patienten zeigen, in Be-
tracbt kommen. Eine sicbere Entscheidung lasst sich nicht treffen.
Das wesentliche Charakteristikum der Falle ist auch hier wie bei
der cbronischen progressiven Ophthalmoplegie, wie bei den infektiosen
Encephalitiden die ausschliesslich motoriscbe Storung.
Obne dass wir weiter in eine theoretiscbe Erorterung fiber die Ur-
sacbe der Bevorzugung der motoriscben Kernsaule bei so verscbieden-
artiger Atiologie eintreten wollen, schien es uns wert, diese bemerkens-
werte Tatsache durch einige neue und zum grossten Teil recht seltene
Falle neu zu belegen.
Zum Schluss sagen wir gem unseren verehrten Chefs, Herren
Prof. Meyer und Herrn Prof. Gerber, flir die Erlaubnis der Publi-
kation der Falle unseren besten Dank.
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IV.
Aus der I. med. Universitatsklinik in Wien und dem Wiener neuro-
logischen Universitatsinstitut.
liber Verftnderungen der Spinalganglien in einem Fall yon
Landryscher Paralyse (mit Status hypoplasticus). 1 )
Von
Dr. Ludwig Schweiger.
Aasistent am neurologischen Institnt in Wien.
(Mit 3 Abbildungen.)
Wiihrend das klinische Bild der Landryschen Paralyse seit den
ersten Publikationen von Landry, Westphal u. a. keine wesentliche
Bereicherung erfahren hat, schwankt das pathologisch-anatomische
Substrat dieser Krankbeit noch immer, und es lassen sich kaum fur
alle Falle in gleicher Weise charakteristische Veranderungen nach-
weisen. Ich glaube daher, dass es von Interesse sein dfirfte, Befunde
mitzuteilen, die noch bei keinem der bisher veroffentlichen Falle kon-
statiert wurden.
Der Fall wurde mir von der I. med. Univ.-Klinik zur Bearbeitung
iiberlassen, wof&r ich Herrn Prof. v. Noorden zu besonderem Danke
verpflichtet bin. Die KrankeDgeschichte wurde von Herrn Dr. Bondi
verfasst und mir in tiberaus liebenswiirdiger Weise zur Verfugung
gestellt
P. R., 27 Jahre alt, Schneiderin.
Anamnese (nach Angabe der Mutter der Pat.): Der Vater starb au
Hemiplegie, die Mutter ist gesund. Ein Bruder starb an Phthisis pulmonum
im 15. Jahre, zwei BrQder in frtiher Kindheit zwei Geschwister siml
gesund.
Die 27jahrige Pat war als Kind kr&ftig, lernte frdh laufen; doch
hatte sie bis zum 5. Jahre Rachitis, mit 6 Jaliren Variolois (Variola?),
der eine zwei Monate andauernde Entzllndung dcs rechten Auges folgto,
das seither atrophisch wurde. Auch hatte sie dainals Olirenschmerzen und
Otorrhoe und ist seit dieser Zeit etwas schwerhdrig. Mit 8 Jaliren hatte
Pat. einen 14 Tage dauernden, mit Fieber verbundenen Darmkatarrh. Pat.
hatte nie Menses, doch traten jeden Monat unbedeutende Schmerzen im
1) Demonstriert auf der 2. Tagung des Vereins Deutscher Nerveniirzte
zu Heidelberg 4. —6. Oktober IDuS.
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36
IV. SCHWEIGER
Abdomen auf. Fluor war nie vorhanden. Sonst. war Pat. immcr gesutid,
hat weder Lungensymptome noch Herzbeschwerden. Sie hat 5 Volks-
schulklassen durchgemacht und kam mit 14 Jahren in die Lehre. Sie ist
starke Alkoholikerin. For Lues keine Anhaltspunkte.
Die gegenwSrtige Erkrankung begann am 9. Februar; am 8. fOhlte
sich Pat. noch vdllig wohl und ging ihrer Beschaftigung als Schneiderin
bis 9 Uhr abends nach. Auch die vorhergehenden Tage war Pat. be-
schwerdefrei, insbesondere hat sie keine Erkaltungskrankheiten durchge¬
macht Am 9. klagte sie Qber Ameisenlaufen in den Handen und Zehen,
am Nachmittag konnte sie noch etwas niihen, bemerkte jedoch, dass sie
die Nadel nicht spflre. Am 10. und 11. war der Gang der Pat. selir
scblecht und langsam. Der Arzt wies sie an ein Nervenambulatorium, wo-
hin die allerdings schon sehr schwer bewegliche Pat. an beiden Tagen
noch mit der Mutter in der Tramway fahren konnte. An diesen beiden
Tagen hatte sie kein Ameisenlaufen, doch, wie sie spontan angibt, in
Handen und Ftlssen kein GefQhl mehr; nur am 11. hat sie geringfUgige
stechende Schmerzen in beiden Fflssen. Kaltegefiihl trat nicht ein, da-
gegen ftthlte sie sich abends stets heiss und hatte in beiden Nachten lang
andauernde starke Schweissausbrticbe. Am 12. morgens konnte Pat. sich
nicht mehr erheben und war seither gelithmt und bettliigerig. Gleichzeitig
klagte sie Qber heftige Schmerzen, die nach ihrer Angabe hauptsachlich
in der Kreuzgegend lokalisiert waren, von wo sie gOrtelfdrmig urn den
Leib ausstralilten. Auch konnte sie nur mehr schwer atmen, hatte Schluck-
beschwerden und konnte selbst FlGssigkeiten nur mit Mflhe herunterwGrgen;
dock trat weder Verschlucken noch Erbrechen ein. Die Sprache war sehr
erschwert. Seit 10. hatte Pat. stark herabgesetzten Appetit, seit dem 11.,
an welehem Tage Pat. noch freiwilligen Stuhlgang von normaler Be-
schatfenheit hatte, Obstipation. Dieser Zustand hielt vom 12. bis zum 14.,
dem Tag ihrer Aufnahmc ins Krankenhaus auf die Abteilung des Herrn
Dozenten Salomon, der sie bereits ausserhalb des Krankenhauses unter-
sucht hatte, unverandert an. Kopfschmerzen oder irgend welche patholo-
gischen Erscheinungen von seiten des Magens oder Darmtraktes traten
nicht auf, auch im Urin und seinen Absonderungen waren keine Ande-
ruiigen zu konstatieren. Pat. hat sich nie beniisst.
Status praesens nervosus (am 14. Februar, dem Tage ihrer Auf-
nalnne ins Krankenhaus): Die sehr fett-leibige Pat. nimmt passive RGckenlage
ein und kann sich nicht selbstandig aus ihr erheben. Sie klagt tlber
keinerlei Schmerzen, doch macht sie einen schwerleidcnden Eindruck. Sie
liegt ruhig im Bett und hat keine Kriimpfe oder sonstige anfallsweise
auftretenden Erscheinungen. Die Spraclie ist sclnverfallig, manchmal
lallend und von eigenttlmlicher Betonung. Auf alle Fragen gibt sie rich-
tige, doch etwas miihsame Antworten. Eine eingehende psychische Unter-
suchung ist wegen der sclnveren Prostration nicht ausftihrbar, doch scheint
keine grdbere psychische Alteration vorzuliegen.
Gchirnnerven:
I nicht geprtift.
II: Trtibung der reehten Cornea, Augenspiegelbefund beiderseits normal.
Ill, IV, VI: Augenbewegungen nach alien Seiten frei. Deutlicher Nystag¬
mus. Die rechte Lidsj>alte ist enger als die linke. Pupillen reagieren
prompt auf Licht und Akkomodation.
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Uber Veranderuogeu der Spinalganglien (mit Status hvpoplasticus). 37
V: Keine Druckpunkte, Sensibilitat im Gesicht ftberall erhalten. Kau-
bewegungen normal.
VII: Stirnfalten, Augenliderheben und Mundwinkelverziehon ungestort,
ebenso Speichelsektretion. Verstrichensein besondcrs der rechteu Nasola-
bialfalte.
VIII: Nicht geprttft.
IX, XII: Die Zungc wird nacli alien Seiten frei bewegt.
X: Atembewegung deutlich erschvvert. Keine Pulsverlangsamung.
XI: Kopf passiv nacli alien Seiten frei beweglich. Aktiv vermag
Pat. den Kopf nicht zu bewegen.
Rumpf: Keine Atropbien, keine fibrillaren Zuckungen. Pat. kann sicli
aktiv nicht erheben, bei passiver Bewegung deutliche Schmerzempfindung.
Die Wirbelsaule ist gerade, kein Gibbus, die Dornfortsatze der unteren
Brustwirbel sind schmerzempfindlich, ebenso die Dornen der Lendenwirbel-
siiule. Sonst nirgends Druckpunkte. Die ausschliesslich geprhften taktilen
Emptinduugen ttberall erbalten. Bauchdeckenreflexe fehlen (Adipositas?).
Vasomotoren: Bei Bestreichen der Rumpfhaut bleiben rote Flecken.
Obere Extremitaten: Keine deutlichen Atrophien, doch sind die Extre-
mitiiten stark abgemagert. Leichte Atrophien der interdigitalen Muskelu
vorhanden. Die Gelenke sind passiv frei beweglich, der erhobene Arm
fallt aber bald kraftlos nieder. Auch im Schultergelenk kann Pat. nur
geringe Exkursionen machen. Im Ellenbogen kann sie nur nach innen
flektieren, supinieren kann sie nicht. Passiv ist die Pronation im Ellen¬
bogen mOglich, ebenso die Streckung des gebeugten Armes. Die Finger
der rechten Hand kann Pat. nicht vdllig strecken. Im Handgelenk sind
alle Bewegungen mdglich, nur rechts die Abduktion eingeschriinkt. Die
Sensibilitat, soweit sie bei der Pat. prdfbar ist, erhalten. Bicepsreflex er-
lialten, Tricepsretlex fehlt, ebenso Radialis- und Ulnarisreflex.
Untere Extremitaten: Keine Atrophie, keine fibrillaren Zuckungen.
Die aktive Beweglichkeit ist ganz vernichtet, bei passiver Bewegung kein
passiver Widerstand. Alle Reflexe sind ganz aufgehoben, nirgends Druck-
empfindlichkeit der Nervenaustrittsstellen. Sensibilitat ist nicht gut
prtifbar. Elektrisch wurden Nerven und Muskeln bei dem raschen Ver-
fall der Pat. nicht geprQft, doch hatteu sie kaum irgend welche patho-
logischen Verhaltnisse aufgedeckt, da Anderungen der elektrischen Erreg-
barkeit gewdhnlich erst in der 2. Krankheitswoche auftreten.
Blasen- und Mastdarmfunktion erhalten, ira Ham kein Zucker, etwas
Serumalbumin.
Am 15. Februar 12 Uhr mittags Lumbalpunktion. Die ersteu Tropfen
scheinen unter hohem Druck zu stehcn, die Messung ergibt 140 min Druck.
Die Fltlssigkeit ist vbllig klar. Es wird abgelassen, bis der Druck auf
90 mm sinkt. Keine Pulsanderungen. Die im pathologisch-anatomischen
Institut vorgenommene Untersuchung (Erdheim) ergab: Wcder Exsudat-
zelleu noch Bakterien nachweisbar.
Decursus: Am 15. Februar nachmittags urn 3'/ 2 Uhr begann die At-
mung oberflachlich zu werden, erfolgtc nur nielir mit der Halsmuskulatur,
starke Cyanose trat ein, die auf Sauerstoll'inhalation zuruckging. Nacli
einer Kampherinjektion wird die Atmung leichter, die Cvanose verschwindet.
Dieser Zustand halt unverandert bis 1 /.,7 Uhr an. Urn ’ 4 8 Uhr werden
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IV. SCHWEIGEE
2 Tropfen einer 1 proz. AtropinlSsung in jedes Auge getr&ufelt (zwecks
Augenuntersuchung).
Hierauf trat dnrch 10 Minuten rasende Pulsfrequenz auf. Sonst ist
der Puls normal, dio Spannung eher hoch. Dann verflacht die Atmung
wieder, Cyanose tritt ein; Pat. erhfilt durch die nachsten 1% Stunden
Sauerstoff, zum Schluss arbeitet nur mehr der Facialis. Nach l j 2 9 Ubr
sistiert der Puls, kOnstliche Atmung noch bis 9 Uhr. Exitus nach sieben-
tagiger Dauer der Krankbeit.
Das Bild, das uns der Verlauf der Krankheit bietet, ist in seinen
wesentlichen Zugen das typische der Landryschen Paralyse (Oppen-
heim). Es handelt sich hier um eine schlaffe Lahmung, die zuerst
und sebr intensiv in den unteren Extremitaten auftrat, sich dann in
schneller Folge auf die oberen Extremitaten und auf die Bulbarnerven
erstreckte und in 7 Tagen zum Exitus fuhrte. Der letale Ausgang
bei Landryscher Paralyse ist haufig, ja ist nach Ansicht Hartoghs
fur alle typischen Falle dieser Krankheit charakteristisch. Ebenso ist
es das Fehlen der Blasen- und Mastdarmstorungen. Die Temperatur
war bis auf eine leichte Steigerung ante exitum normal wie in den
meisten Fallen. Bemerkenswert aber, insbesondere in Bezug auf den
histologischen Befund im Nervensystem, sind die Storungen der Sen-
sibilitat, der Vasomotoreu und der Schweissekretion, die zwar im
einzelnen schon bei Landryscher Paralyse beschrieben wurden, sich
aber selten so ausgepragt fanden wie in diesem Falle, was ich be-
sonders mit Rucksicht auf die spater beschriebenen histologischen
Veranderungen schon jetzt betonen will. Ira Beginn klagte Pat. liber
Ameisenlaufen und Parasthesien, dann iiber geringfugige, spontane
Schmerzen in beiden Fussen und iiber heftige spontane Schmerzen,
die nach ihrer Angabe hauptsachlich in der Kreuzgegend lokalisiert
waren, von wo sie giirtelformig um den Leib ausstrablten. Letzteren
ahnliche konnte ich in der Literatur der Landryschen Paralyse nicht
finden. Dann waren die Dornfortsatze der unteren Brustwirbelsaule
und der Lendenwirbelsaule druckempfindlich. Weiter hatte sie Schmerz-
empfindlichkeit in der Bauchmuskulatur bei passiver Bewegung, starke
Schweissausbriiche (Pal), wobei die Kranke nur ante exitum eine leichte
Steigerung der Temperatur hatte, und vasomotorische Erscheinungen.
Eine feinere Prlifung der Sensibilitat musste leider bei dem hoch-
gradigen Schwachezustand der Pat. unterbleiben.
Klinisch reiht sich somit dieser Fall an die in der Literatur ver-
zeichneten an, ohne irgend eine wesentliche Besonderheit zu zeigen.
Die Obduktion (Obduzent Dr. Bartel) ergab Folgendes: Akutes Odem
der Leptomeningen, Hyperplasie der Zungengrundfollikel, der Hals-
und Mesenteriallymphdriisen, Follikelschwellung der Milz, Thymus-
persistenz; kasige, zum Teil verkreidete Tuberkulose in den media-
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Uber Veranderungeu der Spinalganglien (mit Status hypoplasticus). 39
stinalen, bronchotrachealen und portalen LymphdrOsen; Tuberkulose
des Uterus mit Atresie im Corpus uteri und Bildung eines Uterus
bicornis; alte fibrinose Verwachsung der Adnexe und der Darm-
schlingen, sowie Verwachsung beider Lungen, leicbte Hypertropbie
des Herzens, geringgradige Stauung der Nieren.
Die histologische Untersuchung nahm ich im neurologischen Univ.-
Institut des Herrn Hofrat Obersteiner vor, dem ich fur die giitige
Forderung meiner Arbeit an dieser Stelle meinen Dank aussprechen
mochte. Sie erfolgte an folgenden Organen: Medulla oblongata, ROcken-
mark, zwei Lumbal- und einem oberen Dorsalganglion (Seite unbekannt);
von den spinalen Ganglien wnrden nur diese drei zwecks anderer Unter¬
suchung herausgenommen; hintere Cervikal- und Lumbalwurzeln in
Zusammenbang mit dem Riickemnark und den Spinalganglien; an
Quer- und Langsschnitten folgende Nerven: Vagus, Phrenicus, Ulnaris,
Ischiadicus und Tibialis; weiter an exzidierten Muskelstuckchen des
Musculus biceps humeri und Vastus femoris.
Die angewendeten Farbungsmethoden waren die nach Pal-Wei-
gert mit Nachfarbung, nach Czokor, Hamalaun-Eosin, van Gieson
und Marchi; das Rtickenmark und die Ganglien wurden auch nach
Nissl behandelt.
In der Medulla oblongata fand sich bis zur Hohe des oberen
Endes der Oliven eine starke Hyperamie der Kerne, insbesondere des
Vagus- und Hypoglossuskerns.
Im Riickenmark fand sicb, vom Sakralmark angefangen, bis ins
Cervikalmark eine ausserordentlich starke Hyperamie der grauen
Substanz der Vorderhorner, des commissuralen Graus und in geringem
Grade der Clarkeschen Sauleu. Auch die Hinterhorner mit Ausnahme
der Rolandoschen Substanz sind beteiligt. Die Kapillaren sind
strotzend geflillt, auch sind zahlreiche frische Blutextravasate vor-
handen. Am starksten sind diese Veranderungen im Dorsalmark
ausgepragt. Auch partielles Odem der grauen Substanz und leichte
Verdickung nebst starkem Blutreichtum der Pia sind zu konstatieren.
Nur wenige Ganglienzellen /.eigen leichte Schwellung oder schlechte
Tinktion der Nisslkorperchen. Die grosse Mehrzahl ist intakt. In¬
filtrate fehlen vollkommen. In der weisscn Substanz sind weder nach
Pal-Weigert, noch nach Marchi Veranderungen nachzuweisen.
Die hinteren Wurzeln, soweit sie im Zusammenhang mit dem
Riickenmark untersucht wurden, zeigen hauptsachlich Hyperamie,
nach Marchi keine Veranderungeu; unmittelbar am Lumbalganglion
untersuchte hintere Wurzeln weisen dagegen eine Infiltration wie die
peripheren Nerven auf.
In den untersuchten Quer- und Liiugssclmitten (Fig. 1) des Nervus
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40
IV. SCHWEIGF.R
vagus fiel eine hocligradige interstitielle Neuritis ins Auge. Der
ganze Nerv ist von zelligen Elementen durchsetzt, die stellenweise
herdformige Infiltrate bilden. Dagegen sind die Gefasse nur massig
gefiillt; mit Marchi-Farbung erwiesen sich die einzelnen Fasern als
normal. Eine ebensolche interstitielle Neuritis ist im Nervus phre-
nicus, ischiadicus und tibialis vorhanden, wogegen der Nervus ulnaris
wenig affiziert ist, was auch dem klinischen Bilde entspricht. Nach
Pal-Weigert und Marchi erwiesen sich alle untersuchten Nerven
bis auf wenige Etzholzsche Kbrperchen unverandert.
Die Oberarm- und Oberschenkelmuskeln zeigen eine akute gra-
nulare, fettige Degeneration, die sich auf einzelne Fibrillenbundel
Fig. 1.
Nervus vagU9. Hatnalaun-Eosinfarbung. Reichert Oc. 4, Obj. 4.
beschraukt und den bei akuten Infektionskrankheiten beschriebeuen
Verauderungen (Lorenz) entspricht, und wenige kleinzellige Infiltrate.
Einen iiberaus bemerkenswerten Befund bieten die drei unter¬
suchten Spiualganglieu. Die Sclmitte sind 10 fi dick. Sie zeigen
(Fig. 2) einen eminenten Reichtum an zelligen Elementen und Kernen.
Das Bindegewebe zwischen den einzelnen Ganglienzellen ist mit Haufen
von rundlichen und oblongen Zellen infiltriert, von denen ein Teil
blass gefiirbt ist Letztere sind als gewucherte Kapselendothelien auf-
zufassen. Die iibrigen sind bei Hatnalaun-Eosinfarbung dunkel und
erwiesen sich zum Teil als Bindegewebskerne, zum Teil als Lympho-
cyten; auch Leukocyten sind vorhanden. Eine Gefassftillung tritt
nicht hervor, was im Zusammenhalt mit der auch in den peripheren
Nerven mangelnden Gefassuberfullung auf das Fortschreiten der
Krankheit langs der Lymphgefasse scliliessen liisst. Wesentliche Yer-
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Uber Veranderungen der Spinalganglien (rait Status hypoplasticus). 41
anderungen haben die Ganglienzellen erlitten (Fig. 3). In den meisten
findet sich „homogene Kernschrumpfung 44 (Marburg), die sich ins-
besondere in ihren ersten beiden Stadien, in der lichten homogenen
Fig. 2.
Spinalganglien (lumbal). Hamalaun-Eosinfarbuug. Reichert Oc. 4, Obj. 5.
r
&
Fig. 3.
Spinalganglien (dorsal). N issl-Fiirbung. Reichert Oc. 4, Obj. 5.
Fiirbung des Kernleibes, weiter in der Sclirumpfung des Kerns uud
Schwellung des Nucleolus ausgepnigt findet. Fie Ganglienzellkbrper
sind fast durchwegs patbologisch verandert. Es gelang kaum, Zellen
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42
IV. SCHWEltiER
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zu finden, die noch die in Normalzellen vorhandenen groberen Scholl en
und die typische Anordnnng der Nisslkorperchen aufweisen. In
einigen ist auch Randstellung des Kerns vorhanden (2. Stadium der
axonalen Degeneration nach Marburg). In einzelne Ganglienzellen
sind zellige Elemente eingedrungen. Die Nervenfasern sind nach
Pal-Weigert und Marchi intakt. Plasmazellen konnten nur ganz
vereinzelt nachgewiesen werden.
Ich fand Spinalganglienveranderungen bei Landryscher Para¬
lyse nur bei einem, allerdings langsamer verlaufenden (20 Tage),
aber im histologischen Befunde des Nervensystems meinem rfecht
ahnlichen Falle von Pal erwahnt, die sich in einzelnen mikro-
skopischen Blutaustritten und anscheinender Kernvermehrung im inter-
stitiellen Gewebe ausserten, weiter in einem Falle von Sherman und
Spiller, der einen 2ljahrigen Mann betraf und in 38 Stunden letal
geendet hatte. Er beschreibt eine intensive Infiltration der lumbalen
Spinalganglien und eine deutlich ausgesprochene Proliferation der
Kapselendothelzellen; an einigen Stellen haben die Endothelzellen die
Nervenzellenkorper zerstort. Er erwahnt noch kleine Hamorrhagien
in den Ganglien bei gleichzeitiger intensiver Entzundung des Zentral-
nervensvstems und starker perivaskuliirer Zellinfiltration. Die beige-
gebene Abbildung gleicht ganz den in meinem Fall vorhandenen
Bildern. Uber die peripheren Nerven und die dorsalen Spinalganglien
werden keine Angaben gemacht. Spiller hebt hervor, dass der pa-
thologisch-anatomischen Ahulichkeit dieser Veranderungen bei Rabies
und Landryscher Paralyse auch die Ahulichkeit des klinischen Bildes
der paralytischen Wut, die ebenfalls in der Form einer aufsteigenden
Lahmung verlauft, und der Landryschen Paralyse entspricht. Klinisch
ist im Vergleich mit meinem Fall auf das Auftreten von roten
Flecken auf Abdomen und Brust als Symptom einer wahrscheinlich von
der Erkrankung der Spinalganglien abhiingigen Lahmung der Vasomo-
toren hinzuweisen. Sonst entgingen die Spinalganglien der Untersuchung.
Nach dem eben geschilderten Befunde meines Falles konnen wir
die Landrysche Paralyse hier pathologisch-anatomisch als Poly¬
neuritis ascendens acutissima definieren. Der Prozess in den
Nerven ist eine interstitielle Entzundung, die die Nevenfasern in ihrer
Funktion schwer schadigt, aber so rasch verlauft, dass keine bistolo-
gisch nachweisbaren Veranderungen, keine Marchi-Degenerationen
auftreten konnen.
Auch Nauwerck und Barth beschreiben in ihreu Fallen von
Landryscher Paralyse als hauptsachlichste Veranderung eine inter¬
stitielle Neuritis des lschiadicus, der vorderen und hinteren Wurzeln
und heben hervor, dass die degenerativ-atrophischen Prozesse in den
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Uber Veranderungen der Spinalganglien (mit Status hypoplasticus). 43
Nerven viel weniger ausgepragt und sekundarer Natur sind. C entann i
beschreibt ebenfalls eine interstitielle Neuritis nebst geringftigigen Ver¬
anderungen im Ruckenmark.
Anatomisch wurde wiederholt eine Polyneuritis acuta als haupt-
sachlichste oder einzige Grundlage der Landryschen Paralyse fest-
gestellt, so von Eichhorst, Roth (von oben nach abwarts fortschrei-
tend), Ross, Eisenlohr (interstitielle und parenchymatbse Neuritis
und Ruckenmarksveranderungen), Dejerine und Got/. (Neuritis der
vorderen Wurzeln), Krewer (er bezeichnet die Landrysche Paralyse
als 2. und 3. Stadium einer chronischen degenerativen Neuritis, an die
sich eine akute diffuse degenerative Myelitis anschliesst), Roily, der
nach dem Resultate der Befunde eines Falles auf die Untersuchung der
feinen Muskelaste der Nerven bes’onderes Gewicht legt, da nach seiner
Ansicht die Noxe zuerst auf die peripberen Teile des Nervensystems
einwirkt und von dort aus sich weiter verbreitet. Diesen gegentiber
stehen Befunde, die ausschliesslich Veranderungen im Ruckenmark als
die Grundlage der Landryschen Paralyse bezeichnen. So Jagic,
Monckeberg (Poliomyelitis anterior acutissima), Lohrisch (Polio¬
myelitis acuta disseminata), Wickman (der sie als eine Form der
Heine-Medinschen Krankheit bezeichnet und sie ebenfalls als akute
Poliomyelitis auffasst) u. a.
Durch meine Befunde einer Entztindung in den Spinalganglien
bei gleichzeitiger interstitieller Entztindung der peripheren Nerven und
den geringfQgigen Veranderungen im Riickenmark, die sich haupt-
sachlich als Hyperamie darstellen, wird nun die Diskrepanz zwischen
den einzelnen Untersuchungsresultaten unserem Verstandnis niiher ge-
bracht, da in diesem hier beschriebenen Falle das Wesentliche der
pathologisch-anatomischen Veranderung eine ascendierende Neuritis
acutissima ist. Der ascendierende Charakter tritt in unserem Falle
durch die starkere Beteiligung der Spinalganglien und die geringere
der Medulla in Erscheinung. Sie gehort somit in die grosse Gruppe
der akuten toxischen Erkrankungen des Nervensystems, die sich bald
als Polyneuritis, bald als Poliomyelitis, bald als Poliencephalie ausseru.
Das Toxin der Landryschen Paralyse ergriff demnach hier primar die
peripheren Nerven, wanderte von hier naeh aut'warts, ergriff die Spinal¬
ganglien und weiter das Riickenmark.
Die heftige Entztindung des Nervus vagus ist ebenfalls, wenn wir
nach den geschilderten Verhaltnissen der Medulla oblongata schliessen
durfen, primar und hat die Respirationsliihmung und damit den letalen
Ausgang verursacht. Die Mitbeteiligung der peripheren Enden des
Vagus ist aus dem Eintritt der rasenden Pulsfrequenz nach Atropin-
eintraufelung zu schliessen.
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44
IV. SCHWEIGER
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Wir mtissen wohl in ihrem ascendierendem Charakter und in der
Tendenz zur Invasion der bulbaren, resp. der Respiration dienenden
spinalen Nerven das unterscheidende Merkmal der neuritischen Form
(v. Leyden) der Landryschen Paralyse von anderen akuten Polv-
neuritiden sehen, bei denen intensive, auch parenchymatose Verande-
rungen ini peripheren Nervensystem vorhanden sind, ohne direkt das
Leben zu gefahrden (Eisenlohr). Femer ware bier auch auf die
Alkoholpolyneuritis zu verweisen, die ja bisweilen ein der Landry-
scben Paralyse ahuliches Bild erzeugt (Myrtle, Broadbent, Jolly),
sicb aber doch in einzelnen Symptomen und in ihrem Gesamtver-
lauf von dem klinischen Bild der Landryschen Paralyse unterscheidet,
wie das Remak und jiingst auch in klinischer Hinsicht Buzzard
beleuchtet haben. In unserem Falle durfte der Alkohol wie in den
Fallen Krewers die Disposition zur Landryschen Paralyse abge-
geben haben.
Die hier vorhandene plastische Entzundung in den Spinalganglien
gleicht dem in den Spinalganglien beschriebenen Prozess der Neu-
ronophagie und zwar hauptsachlich der von Foissuer und Sjovall
nach Ruckenmarksbefunden neuerdings bestatigten primaren Form, da
die Bindegewebswucherung und Kernvermehrung im Vordergrund steht,
die Ganglienzellen zwar in verschiedenem Grade affiziert, doch nur in
wenige von ihnen zellige Elemente eingedrungen sind.
In der Literatur fand ich die geschilderte Veranderung in den Spinal¬
ganglien bei Mannkopf (akute Myelitis), Arndt (in 2 Fallen von
progressiver Paralyse), Eisenlohr (bei akuterMyelitis dorsalis), Babes,
van Gehuchten und Nelis, Golgi, Daddi, Crocq, Sanou. a. (bei
Rabies), Crocq (in einem Falle von Krup mit analogen Anderungen
im Ganglion plexiforme vagi), Head und Campbell (in 17 Fallen von
Herpes zoster, bei dem sie nach ihren Untersuchungen die Spinal-
ganglienveranderung als atiologischen Faktor auffassen), Marburg
(in einem Falle von progressiver Paralyse, bei einer Sulphonal-Trional-
vergiftung, weiter in je einem Falle von Krup, Tetanie und Herpes
zoster und in 3 Fallen von Pemphigus), Thomas und Hauser (in
einigen Fallen von Tabes). Experimentell fand diese Veranderung
ausser den bei Rabies genaunten Forschern Tirelli, der aseptische
Gauglienliisionen untersuchte, und auch bei Tieren wurde sie gefundeu
(Arndt, Timofeew, Bose u. a.). Weiter ziihlt Sand noch eine
Anzahl Krankheiten auf, bei denen diese Veranderung beschriebeu
wurde. Es ist mir von vornherein unwahrscheinlich, dass diese Affektion
des Ganglion, da sie sich bei so verschiedenartigen Krankheiten findet
und niclit stets trophische Veranderungen der Haut vorhanden sind,
gerade bei einer davou stets filr das klinische Symptomeubild verant-
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Uber Veranderungen 'der Spinalganglien (mit Status hypoplasticus). 45
wortlich gemacht werden mtisste. Es gilt dies insbesondere von Herpes
zoster, bei dem seit den eingehenden Untersuchungen von Head und
Campbell die3e akute, tiberaus heftige hamorrhagische Entzundungdes
Spinalganglions fur die Hautveranderungen verantwortlich gemacht
wird. Die auf Grund dieser Uberlegung gewoDnene Ansicht wird
ubrigens durch Untersuchungen von Lesser und Dubler gestiitzt,
welche diese Veranderungen nicht in alien Fallen von Herpes fauden
und sie dort, wo sie vorhanden war, als fortgeleitete EntzOndung auf-
fassen. Auch Spitzer kommt in seiner zusammenfassenden Arbeit
iiber Herpes zoster zu dem Schlusse, dass nur ftir eine beschrankte
Zahl von Zostereu die Spinalganglienerkrankung die Bedeutung ernes
iitiologischen Faktors habe.
Es scheint vielmebr, dass diese Affektion durch die aufgezahlten
Infektionen oder Toxine bedingt werden kann, von denen Rabies und
Herpes als Hauptursachen in Betracht kommen. An diese reiht sich
nun nach der Untersuchung dieses Falles die Landrysche Paralyse.
Es sind auch in dem klinischen Bild die starke herpesahnliche Mitbe-
teiliguug der Sensibilitat und trophiscbe Storungen auflallend: Ameiseu-
laufen und Partisthesien im Beginn, dann Anasthesie, spontane stechende
Sehmerzen in den Fiissen, insbesondere aber die herpesahnlichen giirtel-
fdrmigen Sehmerzen, die starken Schweissausbriiche und Lahmungs-
erscheinungen der Vasomotoreu (wie auch bei Spiller und Pal). Das
differente Verhalten der Sensibilitat, der Schweissekretion und der
Yasomotoren in den einzelnen Fallen der Landryschen Paralyse diirfte
somit auf die starkere oder schwachere Beteiligung der Spinalganglien
zurlickzufiihren sein.
Leider wird demnach durch die Feststelluug dieser Veranderungen
in den Spinalganglien bei Landry.seller Paralyse deren nosologische
Stellung keineswegs fixiert, sondern wir werden wieder nur auf ein
Toxin als Ursache dieses Symptomenkomplexes und der verschieden-
gradigen histologischen Veranderungen hingewiesen.
Die bakteriologische Untersuchung der Lumbalflussigkcit ergab
wie in den Fallen von Seifert, Kapper, Hunter u. a. ein negatives
Resnltat, so dass, wie schon friiher ervviihnt, die Annahiue eines spezi-
tisch wirksamen Toxins unvermeidlich wird.
Zum Schlusse will ich nocli darauf hinweisen, dass der Fall von
Bartel unter den von ihm untersucliten Fallen hypoplastischer Kon¬
st itution angefuhrt wird. Er gehiirt mit zu den besonders ausgepriigten,
da er alle cbarakteristisclien Merkmale zeigt: Die Korperliinge ist 8 cm
geringer als der Durchscbnitt, Thymus persistent, die Follikel der Milz
und der Mesenteriallympbdrusen sind vergrbssert, mangelude Menstrua¬
tion, Rachitis und als Entwicklungsanomalie Uterus bicornis. Es
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46
IV. SCHWEIGER
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liegt nun sehr nabe, anzunehmen, dass die mit diesem Zustande stets
verbundene verminderte Widerstandsfahigkeit des ganzen Organismus
sich hier darin geaussert bat, dass das Toxin der Landryscben Para¬
lyse so rasch die Lebensfabigkeit des Nervensystems untergraben und
zum Exitus gefuhrt hat.
Ahnliche tlberlegungen wurden von Chvostek fQr die Myasthenie
darzulegen versucht. Doch kann auf Gruudlage meines einzelnen
Falles die Frage, ob fur die Atiologie und fdr den Verlauf der Landry-
schen Paralyse der Status thymico-lymphaticus als wesentlicher Faktor
mit in Betracht kommt, nicht entschieden werden. Vielleicht dQrfen
wir aber hierin die Ursache erblicken, warum die einzelnen Falle oft bei
anscheinend ganz gleichen histologischen Veranderungen heilen oder
rasch letal endigen.
Literatur.
1 ) Arndt, Rudolf, Untersuchungen uber die Ganglienkorper der Spinal-
gauglien. Arch. f. mikrosk. Anatomie. 1875. 11. S. 140.
2) Babes, Viktor, Studien uber die Wutkrankheit. Virch. Archiv. 1SS7.
110. S. 562.
3) Bartel, Julius, Uber die hypoplastische Konstitution und ihre Be-
deutnng. Wiener klin. Wochenschr. 1908. 21. Nr. 22. S. 783.
4) Bose, Des lesions du syst&me nerveux dans la clavel^e, leur assimi¬
lation avec les lesions de la rage et la syphilis. Comptes rendus de la society
biol. 25. Juli 1908. XV. Nr. 27.
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actions. 1884. LXVII. S. 133.
6 ) Buzzard, Farquhar, Certain acute infective or toxic conditions of
the nervous system. The Lancet 1907. LVIII. I. S. 705. 785. 863.
7) Centanni, Ein Fall von Landryscher Paralyse. Beitr. zur patholog.
Anatomie und allgemeinen Pathologic. 1S90. VIII. S. 358.
8 ) Chvostek, Myasthenia gravis und Epithelkorper. Wien. klin. Wochen-
schrift 1903. 21. Nr. 2. S. 37.
9) Crocq, Les lesions anatomo-pathologiques de la rage sont-elles sp^ci-
liques? Journ. d. Neurol. 1900. p. 241.
10 ) Daddi, Contribute alTanatomia pathologica della rabbia neiruomo.
Boll. Soc. Med. chir. di Pavia. 1897.
11 ) Dejerine et Goetz, Note sur un cas de paralysie ascendante aigue.
Archives de physiol. 1S76. XVIII. S. 312.
12) Eichhorst, Hermann, Neuritis acuta progressiva. Virchows Archiv.
1377. 69. S. 265.
13) Eisenlohr, Neuropathologische Betrachtungen. III. Akutc Myelitis
dorsalis, Veranderungen der vorderen Wurzeln, Spinalganglien und Extremi-
tatennerven. Virch. Arch. 1S7S. 73. S. 82.
14) Derselbe, Uber Landrvsche Paralyse. Deutsche med. Wochenschr.
1890. 16. Nr. 38. S. 841.
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Uber Veranderungen der Spinalganglien (mit Status hypoplasticus). 47
15) Golgi, Uber die pathologische Histologie der Rabies experimentalis.
Berl. klin. Wochenschr. 1894. 31. S. 325.
16) Gunnar Foissnerund Ejnar Sjovall, Uber die Poliomyelitis acuta
saint einem Beitrag zur Neuronophagiefrage. Ztschr. f. kl. Med. 1907. 53. S. 1.
17) Hartogh, Beitrag zur Atiologie der Landryschen Paralyse. Mitteilgn.
avis den Hamburger Staatskraukenanstalten. 1S01. S. G2G; refer, in Jahres-
ber. f. Neur. u. Psych. 1902. 5. S. 387.
18) Head uud Campbell, The Pathology of Herpes zoster and its Bea¬
ring on sensible Localization. Brain 1900. 23. S. 353.
19) Hunter, Review of neurology 1900.
20) Jagie, Zur Kenntnis der akuten Poliomyelitis der Erwachsenen (akute
aufsteigende Spinallahmung). Wiener med. Wochenschr. 1S99. 49. S. 394.
21) Jolly, Uber akute aufsteigende Paralyse. Berl. klin. Wochenschr. 1S94.
31. Nr. 12. *8. 281.
22) Kapper, Julius, Beitrag zur Klinik der Landryschen Paralyse mit
besonderer Beriicksichtigung ihrer Bakteriologie und Histologie. Wien. klin.
Wochenschr. 1900. 13. Nr. 7. S. 152.
23) Krewer, Zur pathologischen Anatomie und Atiologie der akuten auf-
steigenden Spinalparalyse (Landry). Zeitschrift f. klin. Med. 1897. 32. S. 115.
24) Landry, Note sur la paralyse aseendante aigue. Gazette hebdamo-
daire. 1857.
25) Lesser und Dubler, zitiert nach Lugaro.
20) v. Leyden, Uber multiple Neuritis und akute Paralyse nach Influenza.
Zeitschr. f. klin. Mediz. 1894. 24. S. 1.
27) v. Leyden u. Goldscheider, Die Krankheiten des Riickenmarks uud
der Medulla oblongata. Nothnagel X.
28) Lohrisch, Ein Beitrag zur pathologischen Anatomie der Landryschen
Paralyse. Arch. f. Psych. 1905. 40. 8. 422.
29) Lorenz, Die Muskelerkrankungen. Nothuagcls Handbuch.
30) Lugaro, Pathologische Anatomie der Spinalganglien. Handbuch der
pathologischen Anatomie des Zentralnervensystems. 1904. 1.
31) Macnamara, Eric, und Bernstein, Julius, Landry-Paralysis. Brit,
med. Journal. 1900. II. S. 24S.
32) Mannkopf, Berliner klin. Wochenschr. 1801.
33) Marburg, Otto, Zur Pathologic der Spinalganglien. Arbeiten aus
dem neurologischen Institut an der Wiener Universitat. 19o2. S. S. lo3.
34) Monckeberg, Munch, med. Wochenschr. 1903.
35) Myrtle, On a case of acute ascending Paralysis: chronic alcoholism.
Brit. med. Journ. 1882. II. S. 312.
30) Nauwerck und Barth, Zur Pathologic der Landryschen Lahmung.
Zieglers Beitrage zur pathologischen Anatomic. 1SS9. 5 . 8. 1.
37) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheitcn. 5. Anil. 1908. 8. 018.
38) Pal, Uber multiple Neuritis. 1891. 8. 22.
39) Remak, Neuritis und Polyneuritis. Nothnagel XT, 3. Toil. 8. 429.
40) Roily, Zur Kenntnis der Landryschen Paralyse. Miinehn. medizin.
Wochenschr. 1903. 50. 8. 1283.
41) Ross und Bury, On peripheral neuritis. D93.
42) Roth, Neuritis disseminata acutLsima. Korrcspondenzbl. der 8,-lnveiz.
Arzte. 18S3. 13. S. 317.
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48
IV. Schweiger, Uber Veranderungen der Spinalganglien usw.
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43) Sand, La Neuronophagie. M£moires couronndes, publ. par Pacad6mie
de Belgique. 1906. T. 19. p. 1.
44) Sand, Un cas de rage humain suivi d’autopsie. Journal de Neuro-
logie. Bruxelles 1S98. p. 132.
45) Seifert, Uber Landrysche Paralyse. Festschrift zur Feier des SOjahr.
Bestehens des Stadtkrankenhauses zu Dresden-Friedriehstadt; refer. Neurol.
Zentralbl. 1900. S. 523.
46) Sherman u. Spill er, A case of Polioencephalomyelitis in an Adult
(Landrys Paralysis). Philadelphia medical Journal. 1900. 5. S. 734.
47) Spiller, William, Remarks on the importance of the so-called spe¬
cific lesions in rabies. University Medical Magazine. 1901. XIII. p. 776.
4S) Spitzer, Ludwig, Neuere Erfahrungen fiber Herpes zoster. Zentral-
blatt ffir die Grenzgebiete der Medizin u. Chirurgie. 1901. S. 497 u. 545.
49) Thomas et Hauser, Les alterations du ganglion rachidien chez les
tabdtiques. Nouvelle Iconographie de la Salpetrifere. 1904. XVII.
50) Tirelli, Dei processi riparativi nel ganglio intervertebrale. Annal. di
Freniatria e scienc. affin. 1895. p. 9.
51) Timofeew, Betraehtungen fiber den Bau der Nervenzellen derSpinal-
ganglien und des Sympathicus beim Vogel. Monatsschr. f. Anatomie u. Phys.
1898. S. 259.
52) van Gehuchten u. Neiis, Les lesions histologiques de la rage chez
les animaux et chez l’homme. Le Nevraxe. Bd. 1. 1. Heft. S. 79.
53) Westphal, Beobachtungen und LJntersuchuDgen fiber die Krankheiten
des zentralen Nervcnsystems. Uber einige Falle von akuter todlicher (sogen.
akuter aufsteigender) Paralyse. Arehiv f. Psychiatrie. 1876. 6. S. 765.
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V.
Aus der Abteilung ffir Nervenkrankheiten des St. Stephan-Spitals in
Budapest (Oberarzt Prof. Dr. Julius Donath).
Die Bedeutung des Adduktorenreflexes.
Von
Dr. Koloman Keller,
Assistenz&ixt.
Die eingehende Untersuchung der Reflexe des gesunden und
kranken Organismus bat nicht nur unsere Kenntnisse auf dem Gebiete
der Nervenpathologie bereichert, sondern gab uns damit auch ein wich-
tiges Hilfsmittel zur Erkennung zahlreicher Nervenerkrankungen an
die Hand. Die Entdeckung des Babinskiscben Phenomena bietet
eine rasche und verlassliche Orientierung bei der Unterscheidung
organischer und funktioneller Nervenleiden; dies regte verschiedene
Forscher an, nach gleichwertigen Reflexen zu suchen, welche in jenen
Fallen, wo das Babinskische Zeichen fehlt, geeignet waren, Aufklarung
zu verschaffen.
Wenn wir unsere gegenwartigen Kenntnisse tiber diese Frage uber-
scbauen, durfen wir sagen, dass dieses Phanomen in der Diagnose von
Nervenleiden — einige besondere Falle ausgenommen — unsere Er-
wartungen im grossen und ganzen erfullt hat. Dennoch tauchen hier
und da Mitteilungen auf, welche sich mit der Erorterung neuerer
differentialdiagnostischer Symptome bescbaftigen. Mit dieser Arbeit
inochte ich die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Adduktoren-
reflexes lenken, insofern es gelungen zu sein scheint, eine gewisse Ge-
setzmassigkeit im Verhalten dieses Reflexes sowohl im gesunden als
kranken Zustand nachzuweisen.
Der Adduktorenreflex ist als das Prototyp der an den unteren
Gliedmassen auslosbaren Knochenhaut- bezw. Knochenreflexe sclion seit
laugerem bekannt, ohne dass jedoch die Forscher ihm eine besondere
pathologische oder diagnostisehe Bedeutung zuerkannt hiitteu. Vielleieht
hat der Umstand, dass es gelingt, denselben von den verschiedensten
Gebieten auszulosen, ferner dass er nicht nur als selbstaudiger Reflex
vorkommt, sondern auch oft die reflektorische Kontraktion auderer
Deutsche Zeitschritt f. Ncrvenhoilkundc. o7. Bd. 4
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50
V. Keller
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Muskelgruppen begleitet, den klaren Einblick in sein Verhalten getrubt.
Tatsache ist, dass dieser Reflex auf den ersten Augenblick und nur
an einzelnen Krankheitsfallen geprOft, sich — ich mochte sagen —
ziemlicb launenhaft verhalt, aber bei eingehenderer Beschaftigung zeigt
sich dennoch die Gesetzmassigkeit der Erscheinung. Die Ergebnisse
fruherer Forscher sind demzufolge rbapsodiscber und nicht systema-
tischer Art. Erb z. B. lost den Adduktorenreflex derselben Seite yon den
Muskelsehnen der Adduktoren, des Gracilis und Sartorius, aus und be*
merkt dabei, dass dieser eventuell sogar von dem inneren Rande des
Oberschenkels auslosbar sei. Gleicherweise gelang es ihm nocb durcb
Beklopfen der Sebne des Tibialis post., wobei sich nicht nur dieser
verkurzte, sondern auch als Begleiterscbeinung die Kontraktion der
Adduktoren zu beobachten war. Strflmpell lost den Reflex durcb
Beklopfen des inneren Condylus der Tibia, der Dornfortsatze der
Lendenwirbel sowie der Lendengegend aus. Hierbei hatte er Gelegen-
heit, auch die eontralaterale Zusammenziebung wahrzunehmen. Wenn
wir noch erwahnen, dass das obere Drittel der vorderen Tibiaflache,
das Capitulum fibulae, der Malleolus intemus geeignet sind, den Reflex
auszulosen, so baben wir die reflexogene Zone annahernd in ihrer
ganzen Ausdehnung geschildert. Sternberg hat in seinem bekannten
Werke fiber die Reflexe bemerkt, dass der Adduktorenreflex selten
auszulosen sei, und Sahli vermochte diesen von der vorderen Kante
der Tibia nur in 5 Proz. der Fiille auszulosen.
Im Jahre 1899 untersuchte Ganault 1 ) an Hemiplegischen das Ver¬
halten des contralateralen Adduktorenreflexes und fand, dass dieser
bereits 24 Stunden nach erfolgter Affektion erscheint. An Hemiple¬
gischen alteren Datums konnte er von der gesunden Seite aus bei
Perkussion der Patella in etwa 70 Proz., von der gelabmten Seite aus
jedoch in 20 Proz. der Falle den Reflex auslosen. Bei gesunden Indi-
viduen war er nur in 10 Proz. vorhanden.
Huismans 2 ) sah in Fallen von Syringomyelie und Neuritis (Neu¬
ritis plex. lumbosacralis), bei welchen auf der einen Seite der Patellar-
sehuenreflex fehlte, aut Beklopfen dieser Patellarsehne eine Kontrak¬
tion der gegcnseitigen Adduktoren eintreten. Interessant erscheint auf
jeden Fall die Tatsache, dass es bei fehlendem Patellarsehnenreflex
gelingt, von ebenderselben Patellarsehne aus den contralateralen
Reflex hervorzurufen, und es zeigt sich hier das schon vielfach be-
merkte eigentiimliche Yerhalten dieses Reflexes, so dass Huismans
1 ) Contribution it lYtude de quelqucs Reflexes duns l’Hemiplegie de cause
organique. These de Paris ISOS. Ref. Revue N’eurolngique 1S00. p. 173.
2i Huismans, Gekreuzte Adduktorenreflexe bei Syringomyelie und Neu¬
ritis. Deutsche med. Wochenschr. 1002. N'r. 40. If. s v 2.
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Die Bedeutung des Adduktorenreflexes.
51
den Grand des bei Neuritis auf der erkrankten Seite zu beobachtenden
Reflexes in der Neurasthenic sucht, wabrend er dessen Vorkommen
bei Syringomyelie als vollstandig unerklarbar bezeichnet.
Hirschberg 1 ) beschrieb 1903 den Fussadduktorenreflex als einen
exquisit pathologischen, weil es ihm unter physiologischen Verhalt-
nissen niemals gelungen ist, diesen zu linden. Nach seinen Unter-
suchungen ist der Fussadduktorenreflex stets zugegen, wenn das Ba-
binskiscbe Phanomen vorhanden ist, ja, er gebt so weit, dass er in
Fallen, wo Babinski fehlt, dem etwa vorhandenen Fussadduktoren¬
reflex diagnostiscbe Wichtigkeit beilegt und hieraus eine organiscbe
Erkrankung des Zentralnervensystems folgert.
Hirscbbergs Beobachtungen haben jedocb, wie wir sehen werden,
nur Teilerscheinungen klargelegt, indem er den Reflex nur vom
inneren Rande des Fusses auslost; mit der reflexogenen Zone in ihrem
vollen Umfange hat er sich nicht beschaftigt, sondern nur mit deren
periphersten Grenze. Seine auf das Babinskische Zeicben Bezug
nebmenden Aufstellungen bestehen jedocb nur in einem Bruckteil der
Falle zu Recbt; docb konnen wir diesen Reflex auch dann dem Ba-
binskischen Zeichen keineswegs als gleichwertig erachten, und zwar
aus dem Grunde, weil — wie das meine Beobachtungen nachweisen
sollen — der Adduktorenreflex auch bei funktionellen Nervenerkran-
kungen eine enorme Steigerung erfahren kann. Ausserdem loste
Hirschberg den Reflex in der Weise aus, dass er mit einer Nadel
langs des inneren Fussrandes streicht. Es ist sehr wahrscheiulich,
dass auf diese Weise ein pathologischer Sohlenreflex zustande kam,
zu welchem sich auch eine Oberschenkeladduktion gesellte. Wohl
wissen wir, dass die verschiedenen Arten der Reflexe mittels verschie-
dener Weise ausgelost werden, z. B. gelingt es nicht, den Fussohlen-
reflex, den man bekanntlich durch Streichen auslosen kann, selbst mit
sehr kraftigen Schlagen hervorzubringen, auch dann nicht, wenn die
Hautreflexe gesteigert sind.
Ziemlich wichtige Beitrage hieruber enthiilt die Arbeit von Valo-
bra und Bertolotti 2 ). Diese untersuchten gesunde ludividuen mittels
eines mit schwerem und breitem Gummikopf versehenen sog. Deje-
rineschen Hammers. Bei 35 Proz. der untersuchten PersoDen trat
auf Beklopfung des inneren Knochels auf derselben Seite eine Kon-
traktion der Schenkeladduktoren ein. Von der unteren Flache der
1) R. Hirschberg, Note sur un Reflexe adducteur du j)ied. Revue neu-
rologique 1903. p. 702.
2 ) J. Valobra u. M. Be rtolotti, Uber einige none Knochcnrefiexe der
unteren Gliedmassen im gesuuden und pathologischen Zustande. Neurolog.
Zentralbl. 1904. Nr. 24.
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52
V. Keller
Ferse konnten sie in 40 Proz. den contralateralen Adduktorenreflex
von dem inneren Condylus des Femur oder der Tibia, von der Patella
oder von der Oberflache der Tibia in 60 Proz. den Reflex auf derselben
Seite und in 50 Proz. auf beiden Seiten hervorrufen.
Sie betonen, dass die Auslosung dieser Reflexe einzig und allein mit
dem erwahnten Dejerineschen Hammer gelingt, dagegen nicht mit
dem gewohnlichen Perkussionshammer. Dass dieser Reflex sich ahnlich
den Sehnenreflexen verhalt, wurde bei vielen funktionellen und or-
ganischen Nervenleiden, sowie in anderen akuten und cbronischen
Intoxikationszustanden nachgewiesen. Bei cerebralen Hemiplegien
und Reizzust&nden der sensitiven Bahnen (Iscbias, Rbeumatismus)
wurde in vielen Fallen die Steigerung des Adduktorenreflexes kon-
statiert. Bei der Neuritis des Iscbiadicus kann man neben dem
Ausfall des Achillessehnenreflexes sowohl den homolateralen als auch
den contralateralen Reflex in seiner ganzen Integritat auslosen und
daraus auf eine wirkliche Dissoziation der Sehnen- und Knochen-
reflexe schliessen.
Bei Neuritis multipl. und Tabes bat man ahnliche Beobachtungen
gemacbt. Mir ist es nicbt gelungen, diese Dissoziation der Reflexe
zu linden; bei den von mir untersuchten Tabikern und anderen, mit
Verminderung der Sehnenreflexerregbarkeit einhergehenden Leiden
zeigte der Adduktorenreflex den Charakter der Sebnenreflexe, indem
bei Fehlen der Sebnenreflexe der Adduktorenreflex ebenfalls ausblieb.
Deshalb konnen wir die von Yalobra und Bertolotti aufgestellte
Folgerung, dass der bei Fehlen des Achillessehnenreflexes bestehende
Adduktorenreflex auf eine Dissoziation derselben, also auf ihre ver-
schiedene Natur hinweise, keineswegs fur rich tig ansehen; dann mtisste
man auch die verschiedene Natur des Patellar- und des Achilles¬
sehnenreflexes annehmen, wenn bei Gegenwart des einen der andere
fehlte. Sie haben tibrigens in Bezug auf die Pathogenese dieses Re¬
flexes auch eine neuere Hypothese aufgestellt und zwar in dem Sinne,
dass sie die infolge der Perkussion im Knochengerust der unteren
Extremitat entstehende Vibration als einen Reiz der hinteren Wurzeln
ansehen, von wo diese auf den gewohnlichen Bahnen (Vorderhomer
usw.) fortgeleitet, die Reflexbewegung hervorruft.
Noica und Strominger 1 ) Ibsen den Adduktorenreflex von der
Gegend der Tuberositas tibiae aus, halten deuselben fur gleichen Ur-
sprunges mit den Sehnen- und Hautreflexen und lokalisieren ihn in
dieselben Zentren des Rtickenmarks wie die ubrigen Reflexe.
1 ) D. Noica u. L. Strominger, Reflexes osseux. Revue neurologique
1906. Nr. 21. p. 969.
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Die Bedeutung des Adduktorenreflexes.
53
Forster 1 ) ruft durch Beklopfen des oberen Astes des Scham-
beins eine Adduktorenkontraktion hervor. Aucb seiner Ansicbt nach
verhalt sich der Reflex analog den Sehnenreflexen und er folgert aus
dem Umstand, dass der Reflex bei Tabes haufig erhalten ist, dass sein
Zentrum im Rttckenmark urn ein Segment boher liege als das des
Patellarreflexes, und dieses daher gegebenen Falles eine topische Dia¬
gnose ermogliche. Er halt das Fehlen dieses Reflexes fur patho-
gnostiscb.
Ich untersuchte den Adduktorenreflex ausser an Gesunden in 100
Fallen von funktionellen sowie organischen Erkrankungen des Nerven-
systems gleichzeitig mit samtlichen fibrigen Reflexen und gelangte
auf Grund dieser meiner Untersuchungen zu dem Resultate,
dass nicht nur das Vorhandensein oder Fehlen des Adduk¬
torenreflexes uberhaupt bei der Unterscheidung normaler
und krankhafter Zustande des Nervensystems von Bedeu-
tung ist, sondern auch die Ausbreitung der reflexogenen
Zone ausschlaggebend ist. Diese reflexogene Zone hangt
von derNatur des Leidens, aber auch von dessen Intensitat
ab, mit der sie sich im geraden Verhaltnis verbreitert oder
verengert. Dadurch gewann dieser Reflex auch prognostische
Bedeutung, indem beim Fortschreiten des Prozesses die
reflexogene Zone sich erweiterte und bei der Besserung des
Zustandes sich wieder verengerte.
Betrachten wir nun das Verhalten unseres Reflexes sowohl
bei Gesunden als auch bei Erkrankungen, die mit Verande-
rung der Sehnenreflexe (also Verringerung, Fehlen oder Steigerung)
einhergehen.
Bei gesunden Individuen gelingt es, im Liegen bei gebeugten und
ein wenig nach aussen rotierten unteren Extremitaten, wobei wir zur
Kontrolle unsere linke Hand auf die Gegend der oberen Insertion des
M. adductor magnus andrticken, den Adduktorenreflex auszulosen und
zwar von dem Gebiete der Fossa poplitea, der medialen Oberflache
des Kniegelenks, ferner dem inneren Condylus der Tibia wie auch
von den Sehnen der Kniebeuger und der Adduktoren. Dies erfolgt
bei 30 Proz. der Gesunden. Gelegentlich, jedoch selten, gelingt es,
mittelst kraftigen Schlages des Perkussionshammers von dem oberen
Drittel der vorderen Tibiaflache den Reflex auszulosen. Nach meinen
Beobachtungen fanden sich bei solchen scheinbar gesunden Indi-
1) Forster, Ober Bauchdecken- und Adduktorenreflexe. Berliner Ge-
sellschaft f. Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Sitzung vom 17. Febr. 1!)03.
Ref. Neurolog. Zentralbl. 1903. Nr. 5.
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54
V. Keller
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viduen, wo mit dem gewohnlichen Perkussionshamraer vom inneren
Fussknochel aus der Reflex ausgelost werden konnte, bei eingehender
Untersuchung stets zum mindesten funktionelle Reizerscheinungen
des Nervensystems.
Demzufolge gilt bei Gesunden als reflexogene Zone die
mediate Gegend des Kniegelenks und reicht dieselbe hoch-
stens bis zum oberen Drittel der Tibia.
Eine besondere Erscheinung ist, dass bei Kind era — auch bei
vorbandener Steigerung der Sehnen- und Hautreflexe — der Adduk-
torenreflex bis zum 12. Lebensjahr sehr scbwer auszulosen ist und
zwar sowohl bei gesunden, als aucb bei funktionell erkrankten. Den
Grund hierfQr darf man wobl in der schwacheren Entwicklung des
kindlichen Adduktors erblicken. Nattirlich fehlte der Reflex bei Lah-
muDgen nach Poliomyelitis anterior acuta, wahrend er bei einem an
genuiner Epilepsie leidenden 15jabrigen Madchen mit allgemein ge-
steigerter Reflexerregbarkeit bis hinunter zum inneren Knochel aus¬
gelost werden konnte.
Bei einer durch Fall zustande gekommenen Yerletzung des Rllcken-
marks in der Hohe des 2. Lumbalsegments, wo samtliche Sehnen- und
Hautreflexe feblten und Anasthesie vorlag, fehlte der Adduktoren-
reflex auf beiden Seiten. Gleicherweise fehlt der Reflex bei Spondy-
litiden, wo die Reflexzentren im lumbalen Teil des Ruckenmarks zu-
grunde gegangen sind. Bei einer beginnenden juvenilen Tabes, wo die
Achillessehnenreflexe bereits geschwunden waren, die Patellarreflexe
jedoch nocb geutigend lebhaft waren, fehlte der Reflex auf beiden
Seiten; meine Beobachtungen widersprecben demnach denen Valobras
u. Bertolottis. Bei den vorgeschrittenen Tabesfallen fehlte mit den
Sehnenreflexen zugleich auch der Adduktorenreflex. Bei Polyneuritiden
alkoholischen oder unbekannt infektiosen Ursprungs und in einem
Falle, wo es sich um Diabetes handelte, fehlte der Adduktorenreflex
auf beiden Seiten, wenn auch im letzteren Falle der linke Patel-
larreflex ein wenig gesteigert war, wahrend die (ibrigen Reflexe
feblten. Im allgemeinen darf man daher den Satz aus-
sprecheu, dass bei Erkrankungen des Nervensystems,
welche mit Verringerung oder Fehlen der Sehnen reflexe
einhergehen, der homolateral e Adduktorenreflex eben-
falls schwacher wird oder ausbleibt, und in solchen Fallen,
wo der Reflex dennoch vorhanden ist, die reflexogene Zone
von dem medialen Condylus des Oberschenkels bis hochstens
zum oberen Drittel der Tibia reicht. Diese Beobachtungen ge-
statten keineswegs eine Folgerung auf die Dissoziation der Knoehen-
und Sehnenreflexe.
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Die Bedeutung des Add uktoren re flexes.
55
Wir wollen nan sehen, wie sich unser Reflex bei Erkrankungen
mit gesteigerten Sehnenreflexen verhalt.
Bei organischen Erkrankungen, wie Entzundungsprozessen der
Rfickenmarkshaute, luetischen oder andersartigen Myelitiden, luetischer
Meningomyelitis, kombinierten Systemerkrankungen, Sclerosis multiplex,
cerebraler Hemiplegie, Hirngummi, Hirnarterienverkalkung, Encephalo-
malacie, Hydrocephalus, wo die ein- oder beiderseitige spastische Lah-
mung von einer Steigerung der Sehnenreflexe, beziehungsweise von Fuss*
oder Patellarklonus begleitet war — in alien.diesen Fallen war der Adduk-
torenreflex stets scbon durch sehr leichten Hammerschlag auslosbar, vor-
ausgesetzt, dass der hochgradige Spasmus die Auslosung der Qbrigen
Sehnenreflexe nicht gleichfalls beeintrachtigte. Proportional zur Stei¬
gerung der Sehnenreflexe findet man die reflexogene Zone
fiber die normale Grenze hinausgeriickt und zwar nach unten
fiber die vordere Flache der ganzen T ibia bis auf den inneren
Fussknochel, die mediale Flache des Fusses,ja so gar in Fallen
sehr gesteigerter Reflexerregbarkeit bis zum ersten Meta-
tarsalknoche n. Besonders wichtig erscbeinen meine Beobachtungen
bei cerebralen Hemiplegien sowie anderen Prozessen, welche mit halb-
seitiger Steigerung der Sehnenreflexe einhergehen; hier zeigt sich,
dass auf jener Seite, wo die Sehnenreflexe in hoherem Grade
gesteigert sind oder eventuell auch Fuss- und Patellar¬
klonus vorhanden ist, das Auslosungsgebiet des homolate-
ralen Adduktorenreflexes stets tiefer reicht, als auf der
normalen oder relativ gesunden Seite, ja sogar unter Um-
standen bis zur untersten Grenze hinunterreichen kann.
Ferner konnte ich bei luetischer Myelitis und Meningomyelitis die
interessante Erscheinung beobachten, dass im Beginn oder auf der
Hohe der Erkrankung die reflexogene Zone ein- oder beiderseitig so¬
gar die unterste Grenze erreichte, dass dann mit der Besserung des
Zustaudes die reflexogene Zone sich mehr und mehr einengte, wenn-
gleich dabei keine nachweisbare Verringerung der im fibrigen erhohten
Sehnenreflexerregbarkeit eintrat, mit der Verschlimmerung des Zu-
standes aber (Bettlagerigkeit, Exitus in einein Falle) die reflexogene
Zone aufs neue Ausdehnung gewann. Auf Grund dieser und obiger
Tatsachen dfirfen wir den Satz aufstellen, dass in der Erweiterung
oder Verengerung der reflexogenen Zone des Adduktoren¬
reflexes ein objektives MaG fur die Steigerung oder Ver¬
ringerung der allgemeinen Sehnenreflexerregbarkeit ge-
geben ist.
Als eine beachtenswerte Frage erscheint fernerhin, ob nicht dieser
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V. Keller
gesteigerte Adduktorenreflex in diagnostischer Beziehung gleichwertig
ist mit dem Babinskischen Phan omen?
Obschon mehr als 50 Falle mit ausgesprochenem Babinskischen
Zeichen zu meiner Verfhgung standen, vermochte ich zwischen Ba¬
binskischen Phanomen und Intensitat des Adduktorenreflexes sowie
Ausdehnung der reflexogenen Zone keinen Zusammenbang zu finden, so
dass der Adduktorenreflex zu der Diagnose degenerativer
oder irgend welcher Affektionen der Pyramidenbahnen un-
geeignet ist.
Dasselbe beweisen auch die Beobachtungen bei den sogenannten
funktionellen Nervenleiden. Bei Neurasthenic, Hysterie (darunter
Astasie-Abasie), traumatischen Neurosen finden wir stets im geraden
Verhaltnis zur Reflexibilitat eine weitere, bezw. engere reflexogene
Zone, welche bei einem an sexueller Neurasthenie leidenden Individuum
ebeuso grosse Ausdehnung zeigte, wie sie sich bei irgend einer mit
Clonus einhergehenden spastischen Labmung findet. Zu beachten ist
in diesen Fallen, dass wir den Adduktorenreflex nicht mit der hier
haufig hervorzurufenden allgemeinen Reflexirradiation verwechseln,
was wir durch wiederholte Yersuche oder durch Ablenkung der Auf-
merksamkeit des Kranken vermeiden konnen.
Bei diesen funktionellen Nervenerkrankungen erstreckt
sich die reflexogene Zone gewohnlich von dem oberen Drit-
tel der Tibia bis zum inneren Fussknochel.
Meine Ergebnisse lauten demnach wie folgt:
1. Der homolaterale Adduktorenreflex verhalt sich voll-
standig analog den Sehnenreflexen.
2. Die pathologische sowie die klinische Bedeutung des
Adduktorenreflexes besteht nicht so sehr in der Starke der
Muskelkontraktion, als vielmehr in der Ausdehnung der
reflexogenen Zone, und zwar ist dieser bei Prozessen, welche
mit Reflexmangel einhergehen, verringert, oder er fehlt, und
reicht dann die reflexogene Zone hochstens bis zum oberen
Drittel der Tibia; dagegen in Fallen von Sehuenreflexstei-
gerung, sei es auf funktioneller, sei es auf organischer
Grundlage, beziehungsweise bei spastischer Lahmung kann
die reflexogene Zone sogar bis zur medialen Flache des
Fusses hinunter reichen.
3. Die Ausdehnung der reflexogenen Zone des Adduk¬
torenreflexes ist der allgemein erhohten Sehnenreflexerreg-
barkeit proportional, gleichviel, ob wir es mit organisohen
oder funktionellen Leiden zu tun haben. Die Verringerung,
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Die Bedeutuog des Adduktorenreflexes.
57
beziehungsweise Steigerung der Sehnenreflexerregbarkeit
geht mit der Einengung oder Erweiterung der reflexogenen
Zone einher. Dadurch nimmt der Adduktorenreflex eine
Sonderstellung unter den Reflexen ein.
4. Das Vorhandensein oder Fehlen des Adduktoren¬
reflexes sowie die Grosse der reflexogenen Zone stehen mit
krankhaften Zustanden der Pyramidenbabnen — also aucb
mit dem Babinskischen Phanomen — in keinerlei Zusam-
menbang.
Meinem verehrten Chef, Herrn Prof. Donath, spreche icb fQr das
Interesse, welches er dieser Arbeit stets zugewendet hat, meinen ver-
bindlichsten Dank aus.
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VI.
Aus der medizinischen Klinik zu Leipzig.
Myopathologische Beitr&ge.
Von
Privatdozent Dr. Hans Steinert,
1. Assistenten der Klinik.
I. Cber das klinische nnd anatomische Bild des Muskelschwunds
der Myotoniker.
Mit einer Mitteilung zur Kenntnia der tabiformen Hinterstrangs-
degenerationen.
(Mit 2 Abbildungen.)
Im Jahre 1904 hatte ich Gelegenheit, der Leipziger medizinischen
Gesellschaft drei Falle von Thom sen scher Krankheit vorzustellen, die
mit progressiver Dystrophie der Muskulatur kompliziert waren.*) Die
Yerteilung der Dystrophie war eine recht eigenartige und in alien drei
Fallen dieselbe. Meine Mitteilung ist bisher an einer allgemein zugang-
lichen Stelle noch nicht veroffentlicht worden**) und demgemass auch
fast ganz unbeachtet geblieben.***) Noch immer geht die allgemeine
Meinung selbst derjeoigen Autoren, die sich speziell mit dieser Frage
beschsiftigt haben, dahin, dass die Dystrophien der Myotoniker keiner
durchgehenden Regel folgten, sondem eine in verschiedenen Fallen
ganz verschiedene Verteilung zeigten und auch verschieden zu deuten
seien. In manchen Fallen sind myopathische, in anderen spinale Atro-
phien angenommen worden. Nur hie und da wird ganz beilaufig er-
wahnt, dass bestimmte Muskelgebiete verhiiltnismassig haufig befallen
werden. Hoffmann u. Hans Curschmann nennen die Gesichts- und
lvaumuskeln, Rindfleisch ausserdem noch die Muskeln des Halses.
Von einem regelmassig wiederkehrenden Typus ist aber auch bei diesen
Forschern durchaus nicht die Rede.
Ich mochte nun im Folgenden an der Hand meiner damals be-
schriebonen Falle, meiner unterdessen erweiterten klinischen Erfahrung
und miter kritischer Berucksichtigung der Literatur zeigen, dass bei
*) Falle 1—3 der vorliegeiuleu Arbeit.
**j Sie ist nur in der Buchausgnbe der Gesellscbaftsberichte enthalten.
***) Nur Zanietowskv hat sie, soviel ich selie, einer niilieren Bespreehung
gewurdigt. Zeitsehriit fiir Elektrotherapie. 6. Jahrg. S. 424 tf.
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Myopathologische Beitrage.
59
der flberwiegenden Mehrzahl der Falle von Muskelatrophie bei Myo-
tonikern ein ganz bestimmter, durch cbarakteristische Symptomgrup-
pierung und Verlaufsweise ausgezeichneter Typus myopathischer Dys-
trophie vorliegt, so regelmassig wiederkehrend, wie nur bei irgend
einer anderen Form von progressiver Dystrophie, und so eigenartig,
dass man angesichts dieses Bildes die Thomsensche Krankbeit mit
grosster Bestimmtheit vermuten darf, auch wo die Klagen des Patienten
zunachst nicht darauf bindeuten.
In einem der im Jabre 1904 demonstrierten Falle haben wir unter-
dessen die Autopsie vornehmen konnen. Bisber liegt tiberbaupt nur
ein einziger Sektionsbefund eines Myotoniekranken vor.*) Ein Obduk-
tionsbefund von dystropbiscber Myotonie ist iiberhaupt noch nicbt
veroffentlicht worden. Somit mussten wir aucb aus diesem Grunde
auf das Tbema der Myotonia atrophica zurtickkommen.
Ich gebe zunachst das klinische Bild der 6 von mir selbst be-
obachteten Falle. Mit Ausnahme des letzten, ganz neuen, sind sie
zwar samtlich auch anderen Arzten scbon bekannt geworden und
haben an dieser oder jener Stelle der Literatur, meist in Sitzungs-
berichten, Erwahnung gefunden. Einer der Krauken (Nr. 1) gehort
sogar zu den bekanntesten unter den Leuten, die gegenwartig als
interessante Falle die deutschen Kliniken bereisen. Eine genauere
Beschreibung liegt aber nur von einem der Patienten (Nr. 3) vor, und
auch sie gibt nicht das vollentwickelte Krankheitsbild wieder. Es ist
also nicht Qberfllissig, auch von diesen Fallen die Krankengeschichten,
wenn auch nicht in aller Breite, so doch in ihrem wesentlichen Inhalt
mit mogliebster Vollstandigkeit mitzuteilen.
Fall 1. G. R., Backer**).
Befund vom Februar 1904.
Anamnese. In der Familie des damals 31jahrigen Patienten scheinen
Falle von Thomsenscher Krankbeit bisher nicht vorgekommen zu sein.
*) Dejerine u. Sottas, Revue de m£d. 1895. — In dem Bericht von Cad¬
bury u. Leopold fiber die pathologisch-anatomische Literatur Nordamerikas
von 1902—190(5 (Lubarsch-Ostertags Ergebnisse d. allg. Path. 12. Jahrg. 1908.
S. 3S2) findet sich die Angabe, dass neuerdings ein zweiter Obduktionsbel'und
von Myotonie veroffentlicht worden sei. Die Angabe beruht auf einem Irrtuni.
In der fraglichen Arbeit von Spiller (Univers. Pa. med. Bull. XVII. 1904 5,
p. 342) handelt es sich um Myatonia congenita, nicht um Thomsensche
Krankbeit.
**) Vgl. Strfimpell, Miinch. med. Wochenschr. 1903. Nr. 27. — Steiuert,
1. c. 1904. — T. Cohn, Neurol. Zentralbl. 1904. S. 111S. — Berg, Dissert.
Bonn 1904. — Nonne, Neurol. Zentralbl. 19U5. S. 142. — Siemcrling, Munch,
med. Wochenschr. 1905. S. 1072. — Rindfleisch, Deutsche med. Wochenschr.
1905. S. 1414. — Hoffmann u. Hoche, Arch. f. Psych. 42. Bd. $. 259 u.
Neurolog. Zentralbl. 190(5. S. 5715. — Hoche, Miinch. med. Wochenschr. 1900.
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60
VI. Steinert
Der Kranke selbst war in jQngeren Jahren vOllig gesund und hat
1895/6 ohne irgend welche StOrungen im Gebrauch seiner Gliedmassen als
Artillerist gedient. Der Herr Regimentsarzt hat die Gefalligkeit gehabt,
uns diese Angabe des Kranken zu bestatigen. Ans dem amtlichen Bericht
geht weiter hervor, dass R. in der Militarzeit einen schweren Gelenkrheu-
matismns Oberstanden hat und wegen Lungenspitzenkatarrhs und „hoch-
gradiger Blutarmut“ als dienstunbrauchbar entlassen worden ist.
Im Jahre 1899, etwa ein Jahr nach einem zweiten Gelenkrheumatis-
mus, bemerkte R. die ersten Erscheinungen seines jetzigen Leidens, ein Ge-
fQhl der Taubheit in den Fingcrspitzen und eine anfangs ganz leichte „Steifig-
keit“ myotonischen Charakters in den Fingern. Die letztere Beschwerde
nahm allmahlich zu und breitete sich nach und nach fiber fast die gesamte
KOrpermuskulatur aus.
Annfihernd gleichzeitig mit der Bewegungsbehinderung entwickelte sich
ein Muskelschwund in den jeweils befallenen Gebieten.
Nach den Armen wurden vor l 1 ^—2 Jahren Gesicht und Zunge be¬
fallen. Es bildete sich eine SprachstOrung und eine habituelle Luxation
des Unterkiefers aus. Die Muskeln des Halses und der Beine sollen erst
im letzten Jahre ergriffen worden sein.
Der Kranke will wissen, dass ein Arzt schon 1902 bei ihm das Fehlen
der Patellarsehnenreflexe konstatiert habe.
Status: Grosser, blasser, stark abgemagerter Mann.
Die Behaarung des Kopfes, besonders des Scheitels, sehr spftrlich.
Wir besprechen zuerst als Hauptbefunde die Symptome der uns hier
speziell besch&ftigenden Affektion, die sich in folgende Gruppen teilen lassen.
a) Die dystrophischen Erscheinungen.
Facies myopathica. Leichter Lagophthalmus, wulstige Lippen. Mimik
fast vOllig erloschen.
Masseteren und Temporales ganz mager und schwach. Offenbar da-
durch bedingte habituelle Luxatio mandibulae.
Parese des Gaumensegels.
Eigentfimliche SprachstOrung, die zweifellos der Ausdruck eines
dystrophischen Prozesses der beteiligten Muskulatur ist. Der Kranke
spricht:
1. offen nasal (Gaumenparese).
2. leicht heiser. Die Laryngoskopie zeigt neben einer Internusparese
ein seitliches Verschwinden der Stimmlippen in der Ruhelage, was wohl
durch eine hochgradige Atonie der Adduktoren sich erklfirt.*)
S. 1833. — Mannel, Diss. Kiel 1907. — Bingel, Munch, med. Wochenschr.
1908. S. 1717. — Schonborn-Krieger, Klin. Atlas der Nervenbrankheiten.
Heidelberg 1908. Tafel 24. — Chvostek, Zentralbl. f. innere Med. 1909. S. 394. —
Knoblauch, Krankheiten des Zentralnervensystems. Berliu 1909. S. 128/9. —
Bingel nennt noch eiuige andere Autoren, die sich fiber den Fall geaussert
haben sollen.
*) Herr Prof. Prey sing, damals Assisteut der Leipziger Ohrenkliuik, dem
ich den Fall vorstellte, bestiitigte diese Auffassung. Audi Siemerling (1. c.)
hat spater, gestiitzt auf eine Untersuchung dureh Prof. Friedrich, die Meinung
ausgesproehen, dass eine Dvstrophie der Adduktoren vorliige. (Vgl. den ana-
tomischen Befund unseres Falles 2.)
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Myopathologisehe Beitrage.
61
3. Der Patient schleudert die Worte heraus. Wenn er auf besondere
Aufforderung bin leiseund langsam spricht, ist seine Sprache deutlich und ver-
stftndlich, die Lantbildung ohne Tadel. Doch strengt ihn das sichtlich an, und
er verffillt bald wieder in das schwer verstandliche Poltern und Schleudern.
Man wird annehmen dfirfen, dass der Kranke hauptsachlich deshalb
mit so kraftigen Exspirationsstbssen spricht, weil er sich dadurch die An-
strengung eines exakten Glottisschlusses erspart. Weil eine normale Sprache
gerade die erheblicher geschadigten Teile starker in Anspruch nehmen
wQrde, ist er auf eine an sich zwar auch angestrengte und mfihsame, aber
ihm augenscheinlich immer noch bequemere Art zu sprechen verfallen, bei
der wenig Oder nicht geschwftchte Muskeln, die exspiratorischen Hilfsmus-
keln, eine starke UnterstQtzung leisten kbnnen. Diese Sprechweise ist bis
zu einem gewissen Grad mit der Art, wie er seine Glieder bewegt, in Ana¬
logic zu bringen. Auch dabei erspart er durch das schleudernde Verfahren
paretischen Muskeln einen Teil ihrer Arbeitsleistung.
4. Der Kranke spricht gequetscht, mit starker Verengerung des Isth¬
mus faucium und Hebung des Kehlkopfs. Diese Anomalie wird auch bei
Gesunden als Begleiterscheinung abnormer, forcierter Sprechweisen nicht
selten beobachtet Zum Teil hangt sie bei unserem Kranken aber wohl
auch mit dem durch die starkere Atrophie einzelner Muskeln gestQrten
Kraftgleichgewicht der beim Sprechakt beteiligten Muskulatur zusammen.
Wir glaubten wenigstens, uns auch bei der elektrischen Untersuchung ttber-
zeugen zu kdnnen, dass die Heber des Kehlkopfs besser erregbar waren
als die den Kehlkopf gegen das Sternum fixierenden Muskeln.
Wenn Patient leise und langsam spricht, kann er das Quetschen ziem-
lich gut vermeiden.
In ihrem Gesamtbild hat die SprachstOrung etwas hbchst Eigenartiges.
Die Klangfarbe der Sprache ist eigentfimlich blechern, ihre Toulage liegt
fiber der mittleren.
Hals. Die Sternocleidomastoidei sind nur als dflnne, funktionslose
Strange zu ffihlen. Nur durch die elektrische Untersuchung kann man
nachweisen, dass noch Reste kontraktiler Substanz in ihnen erhalten sind.
Wenn der Kranke seinen Kopf in den Nacken zurfickgelegt hat, kann er
ihn nicht ohne Hilfe der Hand wieder aufheben.
Schultergfirtel und Arme. Die Schultern sind etwas nach vorn
gesunken, die Scapularspitzen stehen vom Thorax ein wenig ab. Die Cu-
cullares sind sehr stark atrophisch, reclits ist sogar nur durch die elek¬
trische Untersuchung noch das vorderste clavikulare Bfindel als kontrak-
til nachzuweisen. Wenn der Kranke die rechte Schulter hebt, verwendet
er unter anderem die oberste costale Portion des Pectoralis maior als
Hilfskraft. Die beiden Latissimi dorsi sind fast vollstfindig geschwunden
und gelahmt. Die ttbrige Muskulatur des Schultergfirtels ist verhiiltnisinassig
viel weniger gesch&digt, aber doch auch durchweg dtirftig und wenig
krfiftig. Nur die Rhoniboidei fallen durch eine reclit gute Entwickluug
und Leistung auf. An den Deltoidei ist der proximate Abschnitt allein
Anschein nach viel starker atrophisch als der distale Teil.
Die Vorderarnie sind stark atrophisch, die Brachioradialcs fast vdllig
geschwunden. Die Oberarnnnuskeln sind weniger stark reduzicrt, ebenso
die kleinen Handmuskeln, die in ihrem Volumen etwa der allgemeinen
Magerkeit entsprecheu durften.
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62
VI. Steinekt
An den Erectores trunci, den Bauchmuskeln war nichts Krankhaftes
zu bemerken.
Die Muskulatnr der Beine ist gleichmilssig mager, ihre grobe Kraft
durchweg gering. Beim Gehen leichtes Beckenschaukeln.
b) Myotonische Erscheinungen bei willkQrlichen Bewegun-
gen sind in folgenden Muskeln nackweisbar.
Zun&chst im Levator palpebrae. Da die Heber der AugSpfel das myo¬
tonische Pkanomen nicht zeigeu, so bleiben, wenn der Kranke nach vorange-
gangener Hebung der Blickebene die Augen wieder senkt, nur die Lider zurtlck,
so dass das Bild des Gr&feschen Symptoms entsteht (sog. „Pseudo-Gr&fe“).
Ferner zeigen die Gesichtsmuskeln, Kaumuskeln, die Zunge, die Ex-
tensoren des Kopfs, die Muskeln der oberen Extremit&ten die myotonische
Behinderung in der gewOhnlichen Weise. Nach langerem Schweigen ist
eine myotonische SprachstOrung vorhanden. For die Orbiculares oculorum
ware die kleine Besonderheit hervorzuheben, dass der Lidschluss auch nach
vielfachen Wiederholungen myotonisch behindert bleibt. Auch bei Be-
wegungen des rechten Knies, beider Ffisse und der Zehen tritt die typische
Steifigkeit zutage.*)
c) Myasthenische Erscheinungen. Der Kranke klagt, dass seine
Kaumuskeln nach Ablauf des Stadiums der Steifigkeit sehr rasch ermQdeten.
Objektiv ist das nicht recht deutlich zu beobachten., Sehr auffallend ist
dagegen das rasche Nachlassen der Fahigkeit, zu schlucken. Nachdem
einige Bissen vdllig glatt geschluckt wordeu sind, bleiben die n&chsten im
Schlund stecken und kcinnen nur unter grossen Schwierigkeiten und durch
Nachspfilen mit Fliissigkeit weiter befordert werden. Dann muss der
Kranke eine Pause maclien, wahrend deren sich der Schluckapparat rasch
erholt. Durch diese StOrungen erstreckt sich die Nahrungsaufnahme des
Kranken liber „den ganzen Tag“. Endlich tritt beim Gehen eine ErmOd-
barkeit der Muskulatur hervor, die durchaus den Charakter des Myastheni-
schen tragt. Nach Ablauf der myotonischen Hemmung geht der Kranke
eine Zeit lang ganz gut, mit geringem Beckenschaukelu, wie es bestandig
vorhanden ist; dann nimmt aber bald das Beckenschaukeln zu, die Kniee
werden abnorm durchgedrQckt, die Ftisse fangen an zu „tapsen, als wenn
zwei Personen gingen“; wenn die Hacke aufgesetzt ist, klappt die Sohle
unmittelbar nach.
Nach diesen hauptsiichlichen Symptomkomplexen sind noch einige
sonstige Befunde nachzutragen.
Innere Organe. Kleine Struma.
Atmungs- und Kreislaufsorgane oline Besonderheiten. Die Blutdruck-
schwankungen im kQnstlichen Nauheimer Bad verliefcu in der normalen
Kurve.**)
Die Untersuchung der Bauchorgane ergab einen kleinen Milztumor.
Die l)ampfung war vergrossert, der untere Milzpol palpabel.
*) Hoche liat spiiter (1. c.) nocli Myotonic des Sphincter iridis bei unserem
Kranken festgestellt. Als wir lbul den Kranken beobachteten, bestand keine
myotonische Pupillenreaktion.
**) Diese Untersuchung wurde vorgenommen, weil icb friiher bei einem
Myastheniker eine eigenartige abnorme Kurve gefunden babe. Archiv f. klin.
Med. Bd. 78.
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Myopathologische Beitriige.
63
Die Harnausscheidang war quantitativ nnd qualitativ normal, norniale
Tag- und Nachtmengen, kein Eiweiss, kein Zucker, nornialer Gehalt an
Harnsfiure und Kreatinin.
Normaler Blutbefund.
Aus dem Nervenstatus ist noch hervorzuheben:
Insuffizienz der Konvergenz.
Areflexie der oberen Extremitaten, Fehlen der Patellar-, Achilles-
sehnen- und Kremasterreflexe.
Sensibilitat: Starke Hypiisthesie der Haut an den Fingern und
Zehen und an zwei symmetrischen, etwa in der Form von Beinschienen
fiber beiden Schienbeinen gelegenen Streifen. Herabsetzung der Gelenk-
emptindung an den oberen und unteren Extremitaten (andere Qualitaten
der tiefen Sensibilitat wurden nicht geprfift). Allgemeine Analgesie fttr
den faradischen Strom.
Bewegungen der Extremitaten werden im Bett bei Augenschluss
ausgesprochen unsicher und ausfahrend, ataktisch, ausgefQhrt, dagegen ist
kein Rombergsches Phanomen vorhanden und auch bei schwierigen Geh-
fibungen keine Ataxie wabrzunehmen.
Endlich sei noch erwahnt, dass der Kranke eine beginnende Kontrak-
tur der Palmaraponeurose der linken Hand aufwies.
Mechanische Erregbarkeit: Unerregbar ist der N. facialis und
fast sein gesamtes Muskelgebiet.
Hochgradige Herabsetzung, teilweise bis zur Unerregbarkeit, zeigen
dieMuskeln des Nackens, Rfickens und die meisten der unteren Extremitaten.
Zuckung mit Nachdauer geben die Zunge, die Depressoren der Mund-
winkel, die Muskeln der oberen Extremitaten, der Unterschenkel und Fflsse.
Gelegentlich wird ein feinfascikulfires Nacbwogen (Bechterew) nach der
mechanischen Reizung beobachtet.
Elektrische Erregbarkeit: Nirgends EaR.
Faradische Untersuchnng. Nerven: Quantitativ nirgends grobere
Anomalien. Die myotonische Nacbdauer der Kontraktion feblt nur bei
Reizung der Radialnerven. In den unteren Extremitaten tritt sie nur bei
starken StrOmen ein.
Muskeln: Die starker atrophischen zeigen eine Herabsetzung ilirer
Erregbarkeit. Nacbdauer meist erst bei stfirkeren Stromen, an den unteren
Extremitaten fehlt sie.
MyaR (nur bei direkter faradischer Reizung) in den Daumen- und
Kleinfingerballen, den Bicipites brachiorum, dem rechteu Pronator teres.
Andeutungen noch in anderen Muskeln.
Galvanische Untersucbung. Nerven: Quantitativ annfihernd
normale Verhaltnisse. Nacbdauer feblt an den Nn. VJI, radiales (selbst
bei 25 M.-A.) und im Bereich der unteren Extremitaten. An den tibrigen
Nervcnstfimmen (Hypoglossi, Mediani, Ulnares) ist sie bei stfirkeren Stromen
naclnveisbar.
Muskeln: Die Erregbarkeit der starker atropliischen ist lierabgesetzt.
Myotonische Nacbdauer geben bei stfirkeren Stromen sfimtliclie Mu<-
keln der oberen Extremitaten, viele abcr erst bei etwas Lingerer, niebt bei
sehr kurzer Reizdauer. Die Kontraktionen der myotonisch reagierenden
Muskeln steigen langsam an. In den Extensoren am Unterarm ist die
myotonische Nachdauer am wenigsten deutlieh ausgesprochen. Dagegen ist
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64
VI. Steinert
auch in den Zungenmuskeln nnd im Depressor anguli oris MyoR nach-
weisbar.
Die Muskeln der unteren Extremitaten sind frei von erheblichen
Anomalien.
Ferner * fin den wir in vielen Muskeln der oberen KOrperhalfte die
merkwtlrdige Erscheinung, dass die schwachsten Oberhaupt uachweisbar
wirksamen Strdme schon tetaniscbe Kontraktionen hervorrufen, und zwar
gilt das besonders fQr die Anodenschliessungsreizung. Wir nnden bei den
minimalen wirksamen Stromstarken ASTe neben KSZ oder auch ASTe und
KSTe, und zwar ASTe > KSTe.
Im Februar 1907 wurde R, wieder in der Elinik beobachtet.
Die Dystrophie der Muskeln der unteren Extremitaten ist deutlicher
geworden. Das Beckenschaukeln tritt mebr bervor, und es bat sich eine
doppelseitige Parese der Dorsalflexoren der Fftsse entwickelt. Rechts
Steppergang. Vielleicht sind auch die Erectores trunci nicht mehr intakt
Die myasthenischen Erscbeinungen waren zu dieser Zeit nicht nach-
weisbar.
Die SensibilitatsstOrungen und die eigentOmlichen, den Charakter des
Ataktischen tragenden BewegungsstOrungcn der Glieder bei Bewegungen
im Bett sind verschwunden. Wir wollen gleicb hier betonen, dass es uns
zweifellos erscheint, dass beides, Sensibilitats- und Bewegungsstbrungen,
hysterischer Natur gewesen ist. Die Ataxie, die nur im Bett zu beobacbten
war, zeigte denselben eigentOmlichen Widerspruch, der die hysterische
Dysbasie charakterisiert. Bei dieser kann der Kranke schlecht gehen. im
Bett sind die Bewegungen seiner Beine normal. Hier sahen wir das Um-
gekehrte: Ira Bett eigenartige ataktische Symptome, die beim Gehen vdllig
verschwanden.
Fall 2. K. S., Handelsmann.*)
Befund von 1904. 44jakriger Patient.
Die myotonischen Erscbeinungen bestehen seit der Kinderzeit. Vater
und Bruder sollen. an Myotonie gelitten haben.
Seit Ende der 90 er Jahre hat sich ein Muskelschwund entwickelt, an-
fangs vorwiegend im Gesicht, in den Sternocleidomastoidei, an den Handen.
Mit der Zeit hat er die gesamte KOrpermuskulatur ergrili'en.
Status: Grosser, skelettartig magerer, blasser Mann mit vollig kalilem
Scheitel.
Chronische Lungentuberkulose.
Myotonische Storung beim Offnen und Schliessen des Muudes, bei
seitlichen Bewegungen der Zunge, bei den moisten Bewegungen der Extre¬
mitaten. Fruher war das Phanomen noch ausgebreiteter. Nach augen-
arztlichem Bericht ist es auch beim Accommodationsvorgang nachweisbar
gewesen. Die Handotlnungsbewegung ist im Gegensatz zum Handschluss
nicht von nivotonischer llemmung gefolgt.
Die Dystrophie. Fast ganz gleichmiissig und symmetrisch liber den
ganzen Kdrjier ausgebreitete enorme Abmagerung der Muskulatur. Noch
starker als die tllu igen sind die kleinon Ilandmuskeln reduziert, insbeson-
dere ist der reclite Daumenballen fast vollig geschwunden. Facies myopa-
*) Vgl. Ki'ister, Leipziger mod. Gesellscliaft vom 10. VI. 02. Ref. Munch,
med. Wochensehr. I'jn2. Steinert, 1. c. 19U4.
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Myopathologische Beitriige.
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thica. In dem totenkopfartigen Gesicht treten die Lippen wulstig hervor.
Leichte Ptose beiderseits. Die Atrophie der Kaumuskeln hat auck in
diesera Falle zu einer habituellen Unterkieferluxation geftlkrt. Die Sprache
ist in genau derselben eigentftmlichen Art ver&ndert wie im Falle 1.
Hochgradige allgemeine Muskelschwacke. Der rechte Daumenballen
vOllig gelilhmt..
Die Gangart nach Ablauf der myotonischen Storung zeigt deutlich die
hochgradige Parese aller beteiligten Muskeln.
Von weiteren Befunden verdient Erwfthnung das Fehlen der
Patellar- und Achillessehnenreflexe bei erhaltenen Biceps- und Triceps-
rcflexen. Geffthlsvertaubung nur in der Haut der Zcken.
Elektrisches Verhalten. Nirgends EaR.
Die Erregbarkeit der atrophischen Muskeln ist herabgesetzt.
MyoR bei direkter galvaniscber und faradischer Reizung mit starkeren
Strbmen und bei etwas langerer Dauer der Reizung in einer Reihe von
Muskeln der oberen Extremitaten. In den Streckern am Unterarm fehlt
die Erscheinung.
Hier und da finden wir myotonisches Verhalten auch bei der mechani-
schen Reizung der Muskulatur.
Der Sektionsbericht dieses Falles folgt spater.
Pall 3. J. J., Schuhmacher.*)
Befund von 1904. Der 30 Jahre alte Patient entstammt angeblich
einer Thomsenfamilie. In der Lehrzeit traten die Erscheinungen der
Myotonie zuerst deutlicher hervor. In den letzten Jahren sind sein Ge¬
sicht und seine Vorderarme abgemagert.
Status: Kraftig gebauter Mann.
Missbildung des rechten Ohres (Coloboma lobuli).
Innere Organe ohne Besonderheiten.
Die Muskulatur im ganzen von mehr als normalem Volumen. Ab¬
gemagert sind dagegen die Vorderarme. Auch die Tricipites brachiorum
sind mager. An den kleinen Ilandmuskeln ist mehr ihre verhaltnismiissig
schlaffe Konsistenz als e.ine eigentliche Abmagerung auffallig.
Facies myopathica. Die Kaumuskeln dagegen voluminos.
Auffallend mager sind endlich noch die Sternocleidomastoidei.
Die Muskelkraft ist fast durchweg geringer, als dem Muskelvolumen
entspricht. Besonders schwach sind die Muskeln der Arme, mit Ausnahme
der Heber der Schultern, und vor allem die mageren Muskeln der Vorder¬
arme und hier wieder in erster Linie die Strecker. Die Finger kOnnen
nur unvollkommen extendiert werden.
Alle Bewegungen haben, nach Ablauf der anfanglichen myotonischen
Hemmung, fttr gewbhnlich etwas Sclilatfes, Schleuderndes.
Die myotonische BewegungsstOrung ist fast liber die gesamte
Muskulatur verbreitet. „Pseudo-Grafesches“ Phiinomcn wie bei R. Frci
*) Die Literatur, die iiber diesen Fall existiert, siehe bei Jensen, Deutsches
Arch. f. klin. Med. Bd. 77. — Siehe ferner Schultze, Deutsche med. Woehen-
schrift. 1897. Ver.-Beil. S. 184. — Schiefferdecker-Schultze, Deutsche Zeit-
schrift f. Nervenheilkunde. 25. Bd. — Steinert, 1. c., ID**4. — Berg, Mtiskcl-
atrophie bei Thomsenscher Krankheit. Diss. Bonn 1904.
Deutsche Zeitschrift f. Nerveulieilkuude. 37 . bd. 5
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VI. STEINERT
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sind alle Muskeln der Augiipfel und das Gebiet dcs Stirnfacialis. Audi
das Schlucken, Sprechen und Atmen ist ungestOrt.
Mechanische Erregbarkeit. Fast samtliche Muskeln geben auf
Beklopfen nachdauernde Kontraktionen. Nur im Stirngebiet, in den Kau-
muskeln und - in den Erectores trunci fehlt diese mechanische MyoR.
Die mechanische Erregbarkeit beider Nervi faciales ist gesteigert.
Elektrische Erregbarkeit. Nirgends EaR.
Faradische Untersuchung. Nerven: Quantitativ in den Radiales
vielleicht leichte Herabsetzung, sonst normal. Langsamer Tetanusanstieg.
Bei starken Strdmen tlberall, ausser im Stirnast des Facialis, Nachdauer.
Muskeln: Uberall — in den unteren Extremitftten erst bei slarkeren
Stromen — Nachdauer. MyaR im linken Daumenballen.
Galvanische Untersuchung. Nerven: Quantitativ normale Ver-
haltnisse. Uberall myotonische Nachdauer, ausser bei Reizung des Facialis-
stirnastes und des Radialis.
Muskeln: Audi hier keine erheblichen quantitativen Anomalien. Bei
stiirkeren StrOmen Qberall Nachdauer. In der Radialisgruppe der Unter-
arme sind jedoch extreme Stromstiirken notig, urn sie hervorzurufen.
In einigen Muskeln der Streckergruppe an beiden Unterarmen findet
sich bei normaler quantitativer direkter und indirekter Erregbarkeit for beide
Strcime eine exquisit wurmformige KSZ und ASZ bei direkter galvanischer
Reizung, dagegen ist die AOZ vollig prompt. Nach einer Anzahl von Rei-
zungen kommen auch auf Schliessungsreize vollig prompte Zuckungen. Die
betr. Muskeln geben keine MyaR, wold aber bei starkeren faradischen
und selir starken galvanischen Stromen die gewohnliche Form der mvo-
tonischen Reaktion.
Auch bei diesen Kranken begegnen wir der eigenartigen, auch im
Fade 1 beobachteten Erscheinung, dass niimlich in einer Anzahl von Mus¬
keln der oboren Extremitiiten der minimale Reizeffekt schon den Cbarakter
des Tetanus triigt. Es gilt dies wiederum hauptsachlich fftr die AS-Reizung,
so dass wir bei den schwaehsten wirksamen Stromen ASTe neben KSZ,
gelegentlich aber auch ASTe und KSTe linden, wohci der ASTe bei einem
nocli etwas selnvacheren Strome als der KSTe eintritt. Dieser miuimale
Tetanus iiberdauert hier und da auch schon die Reizungsfrist etwas, so
dass also schon bei der minimalen, tiberhaupt wirksamen Reizgrosse MyoR
besteht.
Aus dem Norvenstatus ware sonst nur noch hervorzuheben, dass
die Patellarsehnenretloxe etwas schwach waren, was die Folge einer 1899
bei dem Kranken vorgcnommenen blutigen Dehnung beider Crurales
sein kann.
Als nicht uninteressante Nebenbefundc ldeiben uns noch einige
Anomalien im Bereich des Gelenkapparats zu erwidinen tlhrig. Zuniichst
eine pathologische Stellung der Humoruskopfe, die nach vorn verlagert
erscheinen. In den beiden Schultergelenken Ivrepitation und eine erlieb-
liche Einschrankung der Beweglichkeit. Ferner ist die voile Extension
der Ellenbogen nieehaniseh etwas behindert. Endlich besteht eine leichte
Subluxation des Carpalgelenks des reehten Daumens, durch die cr habituell
in leichter Opposition steht.
Es gelang uns auch mittels des Rontgenverfahrens und mit speziali-
stischem chirurgisehen Beirut nicht. diese Anomalien befriedigend zu erkliiren.
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Myopathologische Beitriige.
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An der Beugeseitc des linken Yorderarms eine jedenfalls als Sehnen-
scheidenschwellung zu deutende l&ngliche wulstfdrmige Prorainenz.
Ausgesprocbener Dermatographismus. Bei mftssig tiefen Nadel-
stiehen fliesst kein Blut, um die StichOffnung herum bildet sich ein linsen-
grosser weisser Fleck, genauer gesagt, ein ganz flacber Wall, der sich erst
nach einiger Zeit rotet. Diese wohl auch sonst bei starkem Dermato-
grapbisraus sich findende Erscheinung ist von Kron*) einmal bei Myotonic
geseben und speziell beschrieben worden.
Pall 4. M. H., 36 Jabre alt, Buchdrucker, Bruder des folgenden
Falles.**) Weitere Myotoniefalle sind in der Familie nicht rait Sicherheit
nacbweisbar.
Als Kind war Pat. „der dickste in der Schule und sebr kraftig“. Seit
der Lebrzeit ist er allgemein abgemagert. Seit etwa 6 Jahren bemerkt
er eine Schwache und Abmagerung der rechten Hand und etwa ebenso-
lange das myotonische Verhalten derselben. Yiel spater seien dieselben
Erscheinungen auch in der linken aufgetreten. In den letzten Jabren ist
dem Kranken eine Veranderung seiner Sprache und eine mehrere Winter
hinter einander sich zeigende Neigung zum „Erfrieren“ der Hande auf-
gefallen. Die Angaben sind anscbeinend nicht reclit zuverlassig.
Status: Grosser, sebr magerer Mann. Die Behaarung von der Stirn
zurhckgewichen, Scheitel fast kahl. Seborrboea sicca der Kopfhaut.
Wir stellen zunachst wieder die Hauptbefunde zusammen:
1. Die Erscheinungen der Dystrophie. Typische Facies myo¬
pathica. Die Kaumuskeln dtlrftig und schwach. Wir fOgen gleicb binzu,
dass die Kiefergelenke beim Offnen des Mundes schmerzen. Ferner sind
die Halsmuskeln und in besonders hohem Grade die Sternocleidomastoidei
abgemagert und paretiscb. Die Daumenballen fast vollig geschwunden und
gelabmt. In geringerem Grade dystrophisch sind die Interossei der Hande.
Die Fingerstreckcr sind ausgesprochen paretiscb.
Die Sprache ist leise, etwas verwaschen, in tlbermittlerer Tonlage.
2. Myotonische Erscheinungen. Von den willktlrlichon Bewe-
gungen ruft nur der Handschluss ein deutliches myotoniscbes Pbanomen
hervor, und zwar tritt es schon bei sanften, jede Kraftanstrengung ver-
nieidenden Bewegungen ein und verscbwindet auch nach hautiger Wieder-
holung nicht.
Contralaterale Mitbewegungen beim aktiven Handschluss sind nachweis¬
bar. Ich erwahne sie, weil Passler, als er den Kranken beobachtete, sie
vermisst hat und das ausdrticklich hervorbebt.
Mechaniscbe Erregbarke.it. Sebr ausgesprocbenes myotonisches
Verhalten der Zunge, Andeutungen in einzelnen Muskeln der Anne, viel-
leicbt auch des Gesichts.
Rechts Chvosteks Facialispbanomen.
Elektrische Erregbarkeit. Die elektriscbe Erregbarkoit der
Daumenballen ist erloschen, sonst nirgends sebr erbebliche quantitative
*) Berliner klin. Wochensclir. 18HS.
**) Beide Bruder demonstriert. von Piissler auf der XILVersammlung niittel-
deutscher Neurologen und Psychiater zu Dresden. Kef. Is’eurolog. Zentralldatt.
1906. S. 1064.
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68
VI. Steixert
Anomalien. Nirgends EaR. MyoR nur von den Nervi mediani aus und
nur mit starken faradischen StrOmen.
In einzelnen Muskeln an den oberen Extremitaten fanden wir bei
direkter galvanischer Reizung ausgesprochene Zuckungstrftgheit, die aber
nach einigen wiederholten Reizungen verschwand, um vdllig prompten Kon-
traktionen Platz zu machen. Wie wir seben werden, handelt es sich dabei
wohl um eine eigenartige Form myotoniscber Reaktion. Nachdauer der
Kontraktion, MyoR im gewGhnlichen Sinne konnte, wie scbon ausgedrQckt,
bei direkter Reiznng nirgends beobachtet werden.
Hier und da (Interossei, Flexor carpi rad. dext.) trat schon beim
minimalen wirksamen Reiz eine tetaniscbe Kontraktion ein, an Stelle der
zu erwartenden KSZ schon ein KSTe, sei es, dass die anfangs zuckungs-
fdrmig verlaufende Kontraktion in ihrem absteigenden Schenkel in einen
niedrigen Tetanus Gberging, sei es, dass der Muskel auf der Hebe seiner
Kontraktion bis zur StroraOffnung verharrte.
Von den sonstigen Befunden nennen wir zunachst die an den
inneren Organen.
Kleine parenchymatGse Struma.
Chronische Lungentuberkulose.
Mitralinsuffizienz.
Starke peripberische Arteriosklerose.
Atrophie der Testes. Varicocele links. Libido und Potenz, die frflher
normal waren, vollkommen erloschen.
Im Blute zahlreiche basophil gekOrnte Erythrocyten. (Der Kranke
hat frtther an Bleikoliken gelitten.)
Vom Nervenstatus ist nur noch zu erw&hnen, dass an beiden Ober-
schenkeln die typischen Zeicben der Meralgia paraesthetica — angeblich
seit Jahren — bestehen.
Wenn der Kranke sich bGckt, tritt in der Glutaalmuskulatur ein
fascikulares Wogen auf.
An den Handen ist das haufige, von einem GefGhl des Absterbens be-
gleitete leichenhafte Erblassen der Finger auffallig.
Fall 5. R. H., 34 jiihr. Steinschleifer, Bruder des vorigen.
Vor ca. 10 Jahren bemerkte Pat. eine Schw&che seiner Arme, die all-
mablich zunahm, so dass er 1 Jahr nach dem Auftreten der ersten Sym-
ptome seine Berufsarbeit einstellen musste.
Um diese Zeit kamen nun auch noch neue StGrungen im Gebrauch
der Hande binzu, die nach der ganz charakteristischen Schilderung des
Patienten sofort als myotonisch angesprochen werden mttssen. Zur gleichen
Zeit wie in den Handen merkte der Kranke auch beim Gehen und beim
Kauen gleicbartige Steifigkeitsbeschwerden.
Bald nachher soli die Abmageruug seiner Hande und Arme begonnen
haben.
Er klagt endlich noch fiber hantiges und leichtes Erfrieren (Rot-,
Wund- und Taubwerden) seiner Finger und Zohen in winterlicher Kalte.
Status: Kleiner, sehr magerer Mann, dfirftige Kopfbehaarung wie
beim Bruder.
Erscheinungcn der Dystrophic. Facies myopathica.
Doppelseitige, angeblich von jelier bestehcnde, vielleicht angeborene,
hochstens in den lctzten Jahren etwas verschlimmcrte I’tose.
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Myopathologische Beitrage.
69
Atrophie and Parese der Kaumuskeln. Beira Offnen des Mundes rfickt
das linke Capitulum mandibulae in pathologisckem Grade weiter nach vorn
als das rechte.
Atrophie nnd Parese der Sternocleidomastoidei.
Die gesamte Muskulator der Arme ist stark und annahernd gleich-
mfissig abgeniagert und schwach. Der rechte Daumenballen ist fast vollig
geschwunden und gelahmt.
Die myotonische StOrung der willkfirlichen Bewegungen ist nur
beim Handschluss deutlich zu beobachten. Sie zeigt dieselbeij Besonder-
heiten, wie wir sie beim Bruder geseben baben, dass sie auch beim vor-
sichtigen Schliessen der Faust auftritt und nach bfteren Wiederholungen
uicht. uachlasst.
Die mehr subjektiv empfundene als recht demonstrable myotonische
Steitigkeit in den Beinen tritt dagegen nur bei anstrengenden Bewegungen,
wie Treppensteigen, und erst beim 8. oder 4. Schritt ein, um nach eiuigen
weiteren wieder zu verschwinden.
Mechanische Erregbarkeit. Mechanische MyoR nur in der Zunge.
Beiderseits Chvosteks Facialisphanomen.
Elektrische Erregbarkeit. Die Erregbarkeit des rechten Daumen-
ballens ist nahezu vollstfindig erloschen. Sonst finden sich keine sehr er-
heblichen quantitativen Anomalien.
Nirgends echte EaR.
MyoR in manchen Muskeln der Arme, vielleicht am deutlichsten in
den Beugern am Unterarm, und zwar bei starker direkter und indirekter
faradischer und direkter galvanischer Reizung. Auch beim Einschleichen
des galvanischen Stroms tritt die nachdauernde Kontraktion ein, wie
Passler bemerkt, aber nach unsereu Beobachtungen doch nur bei einer
Geschwindigkeit der Stromstfirkeanderung, die auch beim Gesunden Mus-
kelkontraktionen auslust. Wegen des etwas ungewohulichen Verhaltens
des myotonischen Phanomens beim willkfirlichen Handschluss heben wir
bier besonders hervor, dass nach wiederholten elektrischen Reizungen die
Nachdauer aufhbrte.
Auch in diesem Falle wieder beobachteten wir mehrfach, dass als
Etl'ekt des miniinalen wirksanien galvanischen Reizes keine Zuckuug vom
gewbhnlichen Verlaufe auftrat, die abschwellende Zuckung ging vielmehr
in einen niedrigen Tetanus fiber. Bei starkeren Strbmcn bekam man einen
Tetanus gewOhnliclier Form, schliesslich auch Nachdauer.
Die Interossei der Hftnde gaben eine Pseudoentartungsreaktion. Bei
labiler galvanischer Reizung der Muskeln erhielten wir eine exquisit wurm-
furmige Zuckung. Die niihere Untersuchung zeigte, dass es sich um
einen trfige ansteigenden und auch nur triigc wieder abschwellenden KSTe
und ASTe handelle, die beide zugleich beim miniinalen Reizwert (1,8 M.-A.J
eintraten. Die Tragheit blieb auch bei wiederholten Reizungen bestehen.
Bei starkeren faradischen und galvanischen Strbmcn trat Nachdauer auf.
Von sonstigen Befunden, zuniichst an den inneren Organen,
ist nur weniges nachzutragen. Die Brust- und Bauchhbhle ergeben nor-
male Befunde.
Interessanterweise haben wir bier wieder eine Atrophie der Testes.
Libido und Potenz siud erloschen. Links Varicocele.
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70
VI. Steinert
Die weitere Untersuchung des Nervensystems ergab nichts Be-
merkenswertes.
Der rechte Zeigefinger ist durch eine posttraumatische Narbenkon-
traktur ulnar abduziert und in der Streckung der ersten Phalanx etwas
behindert. Auch in den flbrigen Fingcrn der rechten Hand ist die Streckung
der Metacarpophalangealgelenke leiclit beeintr&chtigt, vielleicht durch eine
beginnende Dupuytrensche Kontraktur.
Pall 0 . R. B., 32jahriger Arbeiter.
Anamnese: Vater an Phthise, Mutter nach langj&hrigem Aufenthalt
in der Irrenanstalt gestorben. Von den Geschwistern ist keins fiber
16 Jahre alt geworden. Uber das Vorkommen von Myotonie in der Fa-
milie ist nichts bekannt.
Patient ist wegen Krampfadern milit&rfrei.
Angeblich seit einer 1902 erlittenen Brustquetschung besteht ein
Lungenleiden.
Eine Schwiiche seiner Hfinde und Arme fiel dem Kranken schon in
der Schulzeit auf. Er konnte schlecht festhalten, nicht klettern.
In der Lehrzeit bemerkte er zuerst eine Erschwerung der HandOffnung
nach dem Zufassen. Seit Jahren ist manchmal im Beginn des Sprechens
die Zunge steif, so dass er kein Wort herausbringt. Im letzten Jahr ist
eine Shnliche Steifigkeit auch im linken Bein vorgekommen, fast nur beim
Treppensteigen, selten beim Gehen auf ebener Erde. Das rechte Bein war
nie betroffen. Dass gerade das linke befallen ist, schiebt er auf eine An-
zahl chirurgischer Krankheiten, die er vor Jahren gerade an diesem Bein
durchgemacht habe (2 „GeschwQre“, 1 Abszess, eine Verletzung mit der
Sense).
Seit einer im Jahre 1905 erlittenen Verletzung der linken Schulter
(nach den mir gUtigst zur Einsicht tiberlassenen Unfallsakten wahrschein-
lich einer Luxatio humeri) hat sich nach der Angabe des Kranken eine
wesentlich stiirkere Storung in der Gebrauclisfiikigkeit besonders der linken,
aber auch der rechten Hand entwickelt. Hiinde und Vorderarme sind ab-
geinagert, die linke Hand konnte bald nicht melir vollstilndig geschlossen
werden.
In den vorliegenden firztlichen Berichten ist die Myotonie nicht er-
vahnt und lediglich von einer Erkrankung des linken Arms die Rede, die
auf Verletzung peripherischer Nerven bezogen worden ist. Es soli EaR
festgestellt worden sein. Pat. bezieht, eine Unfallrente.
In den letzten Jaliren — so lauten weiter die Angaben des Kranken —
ist sein Gesicht mager, sind die Lippen dick geworden. Doch schon 1902
sei ilnn gesagt worden, dass er mit offenen Augen schlafe.
Ebenfalls in den letzten Jahren hat die Potenz stark abgenommen.
Libido felilt jetzt vdllig, Pollutionen kommen gar nicht melir, Erektionen
nur noch selten vor. Seine Hoden sind kleiner geworden.
In der letzten Zeit fallen ihm seine grossen Ilarnmengen auf. Es be¬
steht alier keine Nykturie.
Im Winter 1902/3 hat er einmal die linke Hand erfroren. Seit dem
Unfall von 1905 fallt ihm auf, dass die Hand, besonders in der Kiilte,
leiclit dick und blau wird.
Befund: Abgemagerter Mann von unregelmiissiger Schfidelform und
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Myopathologische Beitrage.
71
Zahnbildung, Progenie, eigentflmlicher Zungenform (an Stelle der Spitze
eine Einkerbung.) Dllrftige Scheitelbehaarung.
Dystrophische Erscheinungen. Facies myopathica.
Vom Platysma ist beiderseits nichts nachzuweisen.
Die Zunge — abgesehen von ihrer Missform — gerunzelt, diinn,
ausserordentlich schlafF.
Die Temporales sehr mager, vielleicht dystrophisch.
Die Sprache leicht nasal, aber wohl infolge der bestehendeu adenoiden
Vegetationen und Nasenmuschelschwellungen.
Hochgradigc Atrophie und fast vOllige Lahmung der Sternocleido-
mastoidei.
Hocligradige Abmagerung und entsprechende Parese bcider Vorder-
arme, besonders der Streckmuskeln. Die Brachioradiales vollig oder fast
vollig geschwunden.
Links sind auch die kleinen Handmuskeln atropbiscb.
Auf die UnraOglichkeit, die linke Hand vbllig zu schliessen, kommcn
wir noch zurflck.
Myotonische Erscheinungen. Die typische myotonische StOrung
der intendierten Bewegungen ist in der Zunge und beim Schluss der Finger
deutlich zu beobachten.
Mechanische Erregbarkeit. Mechanische MyoR in der Zunge,
den Musculi bicipites brachiorum, den Beugemuskeln an den Vorderarmen,
den kleinen Handmuskeln.
Beiderseits Chvosteksches Phanomen.
Elektrisches Verhalten. Herabaetzung der Erregbarkeit der dys-
trophischen Muskeln. Nirgends EaR.
MyoR bei direkter faradisclier Reizung in denselben Muskeln, die
auch mechanische MyoR gaben, in den Beugern am Unterarm auch bei
indirekter faradischer Reizung. Bei direkter galvanischer Reizung konnte
MyoR in der Zunge und in den kleinen Handmuskeln nachgewiesen werden.
Innere Organe. Tub. pulmonum.
Herztfine sehr leise. Zeitweise Bradykardie.
Hoden stark atrophisch, von Sperlingseigriisse.
Polyurie, bis ca. 4000 ccm taglich. Spez. Gew. um 1008, kein Eiweiss,
kein Zucker.
Vom Nerve ns tat us ist wenig nachzutragen. Es ist auffallend, dass
von den Sehnen- und Periostredexen der oberen Extremitaten (Radius,
Triceps, Biceps) nur der rechte Trieepsreflex deutlich ausliisbar ist, wahrend
die Reflexe an den uutercn Extremitaten sich normal verhalten.
Der Kranke friert ausserordentlich leicht und beginnt dann stark
zu zittern.
Grosse Neigung zu Crampis.
Als eigeuartige Nebeubefumle sind merkwUrdige Sellnenkontrak-
turen zu erwiihnen. Die Strecksehnen am linken Vorderarm sind verkUrzt,
uodurch sich die Behinderung des Fingerschlusscs erklart. Auch die linke
Bicepssehne ist leicht verkUrzt und dadurch die Streckung des Ellenbogens
um ein weniges eingeschrankt.
Die Endglieder beider Daumen stelien bestandig in llyperextension,
ohne jedoch in dieser Stellung fixiert zu sein.
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72
VI. Steinekt
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Wer die Krankengeschichten dieser 6 Falle, auf die ich zunachst
im einzelnen nicht weiter eingehen will, auch nur flfichtig durchsieht,
wird iiberrascht aein, wie ausserordentlich diese Falle sich ahneln, wie
geradezu stereotyp gewisse Zuge ganz eigener Art sich bei ihnen immer
von neuem wiederholen. Wir kommen gleich darauf zurnck.
Zunachst ist angesichts dieser Tatsache ein Blick auf die Litera-
tur der mit Muskelschwund verbundenen Falle von Myotonie unerlass-
lich. Es drangt sich da sofort die Notwendigkeit auf, wie es auch
Hoffmann getan bat, aus dem ziemlich sparlichen Material die Falle
von vornherein auszuscheiden, in denen die Muskelatrophie zweifellos
den Charakter einer mehr oder minder zufalligen Komplikation tragt.
Es sind dies zunachst die schon von Hoffmann abgelehnten 5 Falle,
die er selbst*), die Dana, Deleage (2 Falle) und Bettmann publi-
ziert haben. In dem Falle Hoffmanns und in einem, wenn nicht
beiden von Deleage, hat es sich wohl um neuritische Affektionen ge-
handelt, bei Dana um eine Muskelatrophie nach einem chirurgischen
Eingriff und bei Bettmann vielleicht um einen angeborenen Defekt.
Ebenfalls auszuscheiden sind die Falle von Braun (Fall 6 seiner Arbeit,
der eine Bleilahmung bei einem Myotoniker betrifft), Wertheim-Salo-
monson (anscheinend eine Komplikation mit cerebraler Kinderlahmung),
Rindfleisch (Komplikation mit Syringomyelie), die ganz unklaren,
nur kurz mitgeteilten Falle von Bregman und v. Voss (Fall 5 in
dessen Arbeit), der anscheinend nie veroffentlichte, nur einmal in einer
Diskussionsbemerkung erwahnte, von seinem Autor als Syringomyelie
gedeutete Fall vou Frankl-Hochwart**).
Ferner muss der Fall von Pelz (Fall 1 seiner Arbeit) unbertick-
sichtigt bleiben, da klinisch eine eigentliche Atrophie nicht festzustellen
war und der mitgeteilte anatomische Befund einer solchen mir nicht be-
weisend zu sein scheint. Wenn wir allerdings hbren, dass der Patient eine
Parese besonders der linken Hand, einen maskenhaften Gesichtsausdruck
und augenscheinlich auch eine Kaumuskelschwache gehabt hat, so er-
geben sich aus diesen und anderen Einzelheiten ftir den, der die nach-
folgenden Ausfuhrungen bereits iibersieht, so enge Beziehungen zur
Myotonia atrophica, dass ich personlieh nicht zweifle, dass der Fall in
diese Gruppe gehort. Aber diese Auffassung liisst sich eben erst ruck-
schaueud gewinnen und sie bleibt eine, wenn auch recht sichere
Vermutung.
Endlich iibergehen wir auch solche Falle, bei denen gar nicht mit
Sicherheit von einer Atrophie, sondern nur davon die Rede ist, dass
*) Zeitschrift f. Nervenlieilkunde. 9. Bd. S. 272 und Neurolog. Zentralbl.
1895. S. 618.
**) Wiener klin. Wochenschr. 1901. S. 722.
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Myopathologteche Beit rage.
73
etwa die Vorderarme verhaltnismassig mager gewesen seieD, wenn
schon da, wie spater klar werden wird, sicher das erste Stadium einer
myotonischen Dystrophie vorgelegen haben kann.
Ich moehte auf diese aus der folgenden Besprechung ausgeschlossenen
Falle nicht noch einmal zuriickkommen und deshalb gleich hier bei-
laufig erwahnen, dass diese Gruppe doch mancberlei Beachtenswertes
bietet In 3 oder 4 Fallen sind neuritische Affektionen anzunehmen
gewesen. Wir werden noch 2 Falle kennen lernen (Lannois, Schon-
born), in denen neben einer echten Myotonikerdystrophie vielleicht
noch eine neuritische atrophische Parese als Komplikation bestand.
Auch unser Fall 4 hat eine neuritische Erkrankung, die doppelseitige
Meralgia paraesthetica. Jedenfalls wird man die Haufigkeit der peri-
pherisch-neuritischen Komplikationen als auffallend bezeichnen durfen.
In einem der Falle wurde ein Muskeldefekt als augeboren aufge-
fasst. In dem Vossschen Falle von myotonischer Dystrophie bestand
ein sicher angeborenes Fehlen eines Teils der Bauchmuskulatur. Das
wiederholte Vorkommen angeborener Missbildungen des Muskelappa-
rats bei einer Krankheit, die ohnehin den dringenden Verdacht einer
endogenen Anomalie der Muskelanlage erwecken muss, darf gewiss
auf Beachtung Anspruch machen. Voss erinnert bei dieser Gelegen-
heit daran, dass Steche in der Zeitschrift ftir Nervenheilkunde (Bd. 28,
S. 250) von einem Madchen mit progressiver Dystrophie zu berichten
weiss, dessen Mutter einen vielleicht kongenitalen partiellen Defekt
eines Cucullaris aufwies. Leider ist die Deutung des Falles ganz frag-
lich. Jedenfalls warden solche Zusammenhange. wenn sie ofter zu
finden waren, auf die PathogeDese der familiaren Myopathien ein inte-
ressantes Licht werfen konnen. In der Literatur ist ja von Beziehungen
zwischen progressiver Muskeldystrophie und kongenitalen Muskel-
defekten ofters die Rede.*) Einwandfreies Material habe ich aber
nirgends gefunden.
Uber Missbildungen uberhaupt und sog. Stigmata degenerationis
wird bei Thomsenscher Krankheit, soviel ich sehe, ohne die Literatur
speziell daraufhin dureharbeiten zu konnen, nicht haufig berichtet.
Wir wollen im Anschluss an den eben erwiihnten Punkt doch gleich
darauf hinweisen, dass im Bereich uuseres Materials einige Mai Dinge,
die hierher gehoren, beobachtet worden sind. Gleich der eben er-
wahnte Fall Voss hatte neben seiuem Bauch muskeldefekt und Kryptor-
chismus noch eine Missbildung der Ohren. Unser eigener Fall 3 hatte
ebeufalls ein missgebildetes Ohr, Fall 6 neben anderen Stigmaten eine
*) Kalischer, Neurolo<r. Zentralld. S. 0S.3 u. 732. — Binjr, Deut¬
sches Archiv f. klin. Med. 83. Bd. S. 1 ! 19 .
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74
VI. Steixert
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Fonnanomalie der ZuDge. Im Sinne eines primaren Fehlers der Kor-
peranlage konnte auch die Komplikation mit Syringomyelie gedeutet
werden, von der, wie wir sahen, in 2 Fallen berichtet wird. In dem
genauer bescbriebenen Falle Rindfleischs wird man sich der Diagnose
des Autors anschliessen mnssen. Oppenheim erwahnt in seinem Lehr-
bucb, dass eine Komplikation der Thomsenschen Krankheit mit psy-
chischen Storungen, Epilepsie, Migrane usw., nicht ungewohnlich sei.
Im Anschluss daran ware an die Hysterie unseres Falles 1 zu erinnern.
Auch der Fall von Lortat-Jacob et Thaon ist w'ahrscheinlich
hysterisch gewesen.
Wir kehren nach dieser Abschweifung zu unserem Thema zuruck.
In der Literatur bleiben noch 26 Falle tibrig. Ich mochte sie samt-
licb, zum Teil im Gegensatz zu den Autoren, als myotonische Dystro-
phie ansprechen. Es sind dies die 2 Falle von Hoffmann, 2 von
Fuchs, 3 von Pelizaus, 2 von Furnrohr, je 1 Fall von Schon-
born, Jolly, Cassirer, Kornhold (Obs. II), Jaquet, Bernhardt,
Longard, Rossolimo, Frohmann, Hans Curschmann, Nogues
et Sirol, Lannois (Fall 1), Schott, Gaupp, Lortat-Jacob et
Thaon, Berg (Fall 3) und Voss. Ich mochte nicht diese Falle alle
im einzelnen hier durchnehmen, glaube vielmehr durch eine Gesamt-
nbersicht dieser und meiner eigenen Beobachtungen der Wertung und
Deutung auch des Einzelfalles am besten zu dienen.
Aus dem literarischen Material mochte ich zunachst 2 Falle, die
beiden von Hoffmann beschriebenen Geschwister, herausgreifen und
neben meine Beobachtungen stellen, weil die Ahnlichkeit hier *m
grossten ist und am unmittelbarsten eiuleuchtet. In alien diesen 8
Fallen tritt die Pradilektion bestiinmter Muskeln sehr deutlich hervor.
Alle 8 haben eine Facies myopathica, wobei wir hinzufiigen mochten,
dass wenigstens 6 von ihnen — um von unserem in dieser Beziehung
nicht sicheren Falle Nr. 6 abzusehen — auch eine starke dystrophische
Parese der Kaumuskeln haben. Bei alien sind von den Halsmuskeln
allein oder vorzugsweise die Sternoeleidomastoidei befallen. Bei alien
endlich bestohen dystrophische Prozesse an den oberen Extremitaten, und
zwar sind iiberall gewisse distale Muskelgruppen, die Muskeln derVorder-
arme oder die kleinen Handnmskeln, ganz ausgesprochen bevorzugt.
Neben und nach den Pradilektionsmuskeln konnen dann freilich
auch andere Gruppen befallen werden und schliesslich kann jenes Bild
hoebgradiger allgeineiner Ainyotrophie entstehen, wie wir es in Fall 2
vor uns batten.
Mit der Entwicklung des Muskelschwunds gingen iiberall wie bei
den allgemein bekannten Formen progressiver Dystropliie die ent-
sprechenden Storungen in der Funktion der Muskeln parallel.
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Myopathologische Beitrage.
75
Der durch die Bevorzugung desHand-Vorderarmgebiets, derSterno-
cleidomuskeln und des Gesichts ausgezeichDete Verteilungstyp ist in
hokem MaBe charakteristisch ftir die Muskelatrophien der Myotoniker.
Unter anderen Bedingungen ist eine gleiche Verteilung kaum beschrie-
ben worden. Nur in einem eigentumlichen Falle einer Myopathie,
den Baumler und Rein hold beschrieben haben, und der durch spon-
tane Zungenkrampfe und seltsame Schwankungen im Grade der funk-
tionellen Storungen ausgezeichnet ist, finde ich ein analoges Bild. Als
mir der Fall 6 dieser Arbeit als ein Dystrophiefall von ungewohnlicher
Art vorgestellt wurde, sah ich mich durch eben die Verteilung der
Atrophie sofort veranlasst, nach Erscheinungen der Myotonie zu for-
schen, die dem behandelnden Arzte bis dahin entgangen waren. Sie
liessen sich unscbwer finden.
Ist es ein Typus Oder ist es der Typus der Muskelatrophien der
Myotoniker, den wir hier vor uns haben? Ich nehme das letztere an,
und es wird sich fragen, ob diese Annabme vor der Betrachtung des
tibrigen vorliegenden Materials bestehen kann.
Es sind ausser den genannten noch 4 weit fortgeschrittene Falle
beschrieben worden, von Nogues und Sirol, von Ftirnrohr (Fall 2
seiner Arbeit) und 2 Falle von Fuchs. Leider erfahren wir tiber
diese Falle nicht alles, was zu wissen wfinschenswert ware. In dem
erstgenannten liegt nur ein fragmentarischer Status vor, der sich anf
die Bescbreibung der Atrophie von Arm- und Beinmuskulatur be-
schrankk Allerdings scheint das beigegebene Bild uber eine hoch-
gradige Atrophie der Gesichts-, Kau- und Halsmuskeln keinen Zweifel
zu lassen. Auch im Falle Ffirnrohrs handelt es sich um eine extreme
Ausbreitung der Atrophie, die kaum einen Muskel am ganzen Korper
verschont hatte. Diese beiden Falle bieten also das terminale Stadium
unseres Falles 2, nur dass wir leider nicht darfiber unterrichtet werden,
ob bei der Entwicklung dieser Bilder die Bevorzugung uuserer Pradi-
lektionsmuskeln deutlich hervorgetreten ist Jedenfalls wird aber auch
nichts mitgeteilt, was diese Falle von unserem Typus unterschiede.
Hat schon die finale, ganz diffuse Atrophie an sich etwas Eigenartiges,
so kommen ffir den Fall Ffirnrohrs, fiber den wir genauer orien-
tiert werden, noch einige absonderliche, zum Teil spiiter noch zu er-
wahnende Einzelheiten des klinischen Bildes in Betracht, die seine
Zugehorigkeit zu unserer Gruppe erharten. Ich nenne bier nur die
Hodenatrophie, von deren verhaltuismiissig hiiufigeni Vorkommen bei
unseren Fallen auch noch weiterhin die Bede sein soli. Die beiden Falle
von Fuchs werdenains nur kurz geschildert, aber es ist dock so viol
ersichtlich, dass sie eine Atrophie der Gesichts-, Hals- und Armnniskeln
hatten. Von dem einen wird ausdrficklick hervorgehobeu, dass die
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76
VI. Steinert
Sternocleidomastoidei und die Vorderarmmuskeln besonders befallen
gewesen seien, der andere babe sich im ganzen ebenso verhalten. Es
scheint also kaum zweifelhaft, dass auch diese Falle das von uns als
charakteristisch erkannte Verhalten dargeboten baben.
Diejenigen Falle, fiber deren Entwicklung wir ausreichend unter-
richtet sind, lehren uns, dass der regelmassige erste Ort des atrophi-
scben Prozesses an den distalen Teilen der oberen Extremitaten, an
den Vorderarm- oder kleinen Handmuskeln zu suchen ist. Wir werden
also den Tatsacben keinen Zwang antun, wenn wir Falle, in denen
die Atrophie auf diese Stellen mehr oder weniger beschrankt ist, als
initials Falle des typischen Prozesses ansprechen. Hier kommen zu-
nachst die Beobachtungen von Bernhardt, Jolly, Jaquet, Lon-
gard, Hans Curschmann und Gaupp in Betracbt. Die Patienten
sind meist junge oder doch noch nicht lange von dem Muskelschwund
befallene Individuen. Neben den Hand- oder Vorderarmmuskeln
waren in den Fallen Gaupps und Jaquets auch die Deltoidei oder
Teile derselben betroffen. In den Fallen von Bernhardt, Gaupp und
Hans Curschmann war scbon die Tragheit der Mimik den Autoren
aufgefallen, ohne dass sie sich aber entscblossen batten, sie als sicher
pathologisch zu betracbten.
Es sind nun noch einige weitere Falle in der Literatur beschrieben
worden, bei denen von den Pradilektionsmuskeln und fiberhaupt im
Bereich der oberen Korperhalfte nur erst Hand- und Vorderarmuskeln
erkrankt waren, wahrend doch scbon einige Muskeln der unteren Ex¬
tremitaten eine deutliche Atrophie erkennen liessen. Wir wollen schon
hier hervorheben, dass die Beteiligung der unteren Extremitaten in
jedem Stadium des Prozesses eintreten kann, insofem also einer be-
stimmten Regel nicht folgt. Wir kommen auf diesen Punkt spater
zurfick.
Es ist hier zunachst Fall 1 von Ffirnrohr zu nennen, bei dem
neben einer Atrophie der Vorderarme, vielleicht auch der Daumen-
ballen, eine Abmagerung an der Vorderseite beider Oberschenkel
festgestellt worden ist Im Falle Korn ho Ids fand sich neben der
Dvstrophie der Hand- und Vorderarmmuskeln an den Beinen eine
leichte Atrophie eines Teils der Muskulatur. Der Autor meint, dass auch
eine Schwliehe und Abmagerung der Sacrolumbales bestanden habe.
In dem Falle Bergs (Fall 3 seiner Dissertation) war neben einer
Atrophie der Unterarme und einer Schwache der Pectorales wieder
eine Abmagerung im Gebiet der Quadricipites femorum zu beobachten.
Frohmann beschreibt einen 19jahrigen Mann mit Atrophie der In-
terossei der Hande und der Cucullares. Dazu meint der Verfasser
in den klinisch nicht atrophisch erscheinenden Wadenmuskeln histo-
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Myopathologiscke Beitrage. 77
logisch atrophische Fasern in kornigem Zerfall nachgewiesen zu
haben.*)
Eine etwas besondere Stellung nehmen die Falle von Lannois
nnd Schonborn ein, in denen von „Steppage“, doppelseitiger Pero-
neuslahmung, berichtet wird, wahrend im iibrigen die Atrophie auf
die Vorderarme bezw. Vorderarme und Hande beschrankt war. In
diesen beiden Fallen hat die Entwicklung der Peroneuslahmung das
ganze Krankbeitsbild eingeleitet. Zum mindesten fttr den Fall Schon¬
born wird man aber die Moglichkeit nicht ablehnen konnen, dass es
sich um eine komplizierende postinfektiose Neuritis an den Beinen ge-
handelt hat.
Haben wir so den voll entwickelten, weit fortgeschrittenen Fallen
eine Qruppe initialer Falle gegenhberstellen konnen, die durch das
mehr oder minder ausschliessliche Befallensein distaler Muskelgruppen
der oberen Extremitaten charakterisiert sind, so schieben sich die
iibrigen bekannten Beobachtungen als tlbergangsfalle zwischen djese
beiden Gruppen zwanglos ein.
Schon einzelne unserer initialen Falle deuteten den "Obergang an,
in dem bei ihnen schon die Facies myopathica sich vorzubereiten schien.
In dem Falle von Schott und bei den 3 Geschwistern, die Pelizaus
beschreibt, ist nun die Facies myopathica neben der Atrophie distaler
Muskeln der oberen Extremitaten, zu der sich bei den Kranken von
Pelizaus wieder eine Atrophie der Deltoidei gesellte, mehr oder
weniger vollstandig ausgesprochen. In Cassirers nur kurz mitge-
teiltem Falle besteht neben einer ziemlich ausgedehnten Muskelatro-
phie an den Armen eine solche der Gesichtsmuskeln, in Rossolimos
auch noch der Kaumuskeln. Der Fall von Lortat-Jacob undThaon
hat eine Atrophie der Muskeln der Arme und des Schultergiirtels, des
Gesichts und der Zunge. Der Vosssche Kranke hat atrophische kleine
Hand- und Vorderarmmuskeln und Stemocleidomastoidei, dabei einen
„mttden u Gesichtsausdruck. Uberall also die eigenartige Pradilektion
scharf ausgesprochen, der Ubergang zu den voll entwickelten Fallen
unverkennbar. Wir sehen in einem Teil dieser Ubergangs falle wieder
einzelne oder zahlreichere Muskeln auch der unteren Extremitaten mit
ergriffen, bei Voss eine Atrophie an dem einen Unterschenkel, bei dem
Fall von Cassirer sind die Glutaen, bei dem von Lortat-Jacob
und Thaon Beckengurtel und vordere Oberschenkelmuskeln betroffen,
der Kranke von Rossolimo hatte sogar eine diffuse Atrophie der Beine.
*) Wer eine grossere Erfahrung in der Histologie meiiscliliclier Muskeln
besitzt, wird mir freilich zugeben, dass man aus diesem Befuude nicht auf eine
Muskelatrophie im klinisch-pathologisehen Sinne sehliessen kann.
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VI. Steinert
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Wenn wir das hiermit, soweit ich sehe, vollstandig vorliegende
Material reslimierend Qberblicken, so wird trotz aller scheinbaren und
wirklicben Verschiedenheiten der Falle doch die durchgehende Gesetz-
massigkeit in Entwicklung und Lokalisation des atrophischen Prozesses
nicht zu verkennen sein.
Ausnabmslos sind in alien Fallen gewisse Muskelgruppen der oberen
Extremitaten, die Muskeln der Vorderarme und die kleinen Handmus-
keln, befallen, entweder die einen oder die anderen oder beide zusam-
men. Hier bat, wie wir sahen, die Dystrophie in alien Fallen, deren
Entwicklung wir genauer kennen, ihren Ausgang genommen. Hier
finden wir auch in den weiter fortgeschrittenen Dystrophien immer
die am starksten oder mit am starksten erkrankten Muskeln. Das
zeigen unsere Beobacbtungen wie aucb die der Literatur, und nur in einem
Falle, dem von Nogues und Sirol, ist die Schilderung so summarisch,
dass wir liber die Einzelheiten nichts Bestimmtes aussagen konnen.
Die Entwicklung geht im allgemeinen symmetrisch vor sich. In
einzelnen Fallen ist die eine obere Extremitat geraume Zeit vor der
anderen erkrankt, und zwar war dann fast immer die rechte zuerst be-
troffen, wie in unserem Falle 4 und bei dem Patienten Schonborns.
Auch spater noch sehen wir hier und da einzelne Muskeln des rechten
Arms starker als die des anderen ergriffen. Im Falle 6 war die linke
Extremitat vielleicht friiher, jedenfalls starker betroffen, anscheinend
unter dem begunstigenden Einfluss eines Traumas.
Die weitere Ausbreitung des Ubels geht sehr verschieden schnell
vor sich. Manche Falle bleiben Jabre lang im Initialstadium. Auf
die Atrophie an den Vorderarmen und Handen folgt die Entwicklung
der Facies myopathica, wahrend gelegentlich auch schon andere Ge-
biete an den Armeu und Schultern in Mitleidenschaft gezogen werden.
Die Deltoidei waren in manchen Fallen besonders friih mit erkrankt.
Es folgen weiter die Sternocleidomastoidei. Im Falle Voss waren sie
— etwas abweichend von dem Verhalten der anderen Falle — schon
atrophisch, ebe die Facies myopathica ganz deutlich ausgesprochen war.
Ganz besonders oft siud in diesen Stadien auch die Kaumuskeln stark
befallen. Schliesslich kaun, wie wir sahen, die Abmagerung die ganze
Korpermuskulatur ergreifen. Die Pradilektion des Prozesses flir be-
stimmte Gebiete wird dann wolil meist noch einigermassen kenntlich
sein, so wie wir sie bei unserem Falle 2 noch auf dem Sektionstische
bei der Besichtigung der Leiche festzustelleu vermochten. Vielleicht
ist aber flir das Spiitstadium doch auch gerade die ausserordentlich
diffuse, keinen Muskel ganz verschonende und verhiiltnismassig recht
gleichmassige Ausbreitung der Dystrophie bis zu einem gewissen Grade
charakteristisch. Dabei ist die Gebrauchsfiihigkeit der Glieder flir die
Cl
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Myopathologisehe Beitrage.
79
leichtereD, einfacheren Leistungen des taglichen Lebens auch in den
sehwersten Fallen, die wir kennen, leidlich erhalten geblieben. Zur
volligen Lahmung ist es immer nur in vereinzelten Muskeln gekommen.
Sehr schwer geschadigt, ja so gut wie vollstandig geschwunden
sind in einer grosseren Zahl von Fallen die Daumenballen und die
Brachioradiales gewesen. Ich nenne zum Beleg fur die ersteren unsere
Falle 2, 4 und 5, fur die letzteren unsere Falle 1 und 6, die eine der
Hoffmannschen Beobachtungen, die Falle von Cassirer, Fuchs und
Voss. Auch Gaupp halt flir nOtig, den „Supinator longus" beson-
ders zu erwahnen.
Zu dem Entwicklungsgange, wie wir ihn geschildert haben, kann
nun in jedem Stadium die Beteiligung der unteren Extremitaten hin-
zutreten. In 2 Fallen ist eine atrophische Parese des Peroneusgebiets
der Entwicklung der Dystrophie der oberen Extremitaten sogar voraus-
gegangen, wir sahen aber, dass die Deutung dieser Vorkommnisse nicht
absolut sicher ist. Teilen wir die fibrigen Falle unseren obigen Aus-
fiihrungen entsprechend in 10 initiale, 12 voll entwickelte und 8 Uber-
gangsfalle ein, so entfallen auf jede dieser Gruppen 4 Falle mit amyo-
trophischen Veranderungen an den unteren Extremitaten, wobei aller-
dings in dem eiuem der initialen Falle die Atrophie nur aus einem
vieldeutigen mikroskopischen Befuude diagnostiziert worden ist.
Unter den 4 Fallen der 2. Gruppe finden sich die drei, in denen
es zu einer ganz allgeraeinen hochgradigen Atrophie gekommen war,
alle 3 auch mit einer diffusen Atrophie der unteren Extremitaten (Fall 2
dieser Arbeit, der 2. Fall Furnrohrs und der von Nogues et
Sirol). Der 4., unser Fall 1, steht den eben genannten nicht viel
nach, auch bei ihm waren schliesslich wohl die Muskeln der unteren
Extremitaten samtlich nicht mehr normal, wenn auch vielleicht die
Glutaen und die Dorsalfiexoren der Fiisse am starksten ergrilfeu waren.
Auch unter den Ubergangsfallen, bei dem Patienten Rossolimos,
begegnet uns noch einmal eine fast diffuse Dystrophie der Beine. In
Cassirers Fall waren die Glutaen, in dem von Lortat-Jacob et
Thaon Glutaen und Quadricipites, in dem von Voss der eine Unter-
sehenkel betroffen.
Von den initialen Fallen war bercits die Rede.
Auch an den unteren Extremitaten scheint eine Vorliebe fur be-
stimmte Muskeln unverkennbar zu sein.
Dieser Umriss des kliuischen Bildes soil im Folgenden durch einige
Einzelheiten ergiinzt werden.
Auffallend haufig finden w r ir ausser der Gesichts- und Kaumuskel-
atrophie noch weitere Stbrungen in bulbiiren Muskelgebieten. Die hbclist
eigenartige, ganz gleiche Sprachstbrung unserer beiden ersten Falle hat
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VI. Stexsebt
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in der Krankengeschichte des Falles 1 ihre eingehende Darstellung
gefunden. Wir glaubten ihre hauptsachlichen Zfige aus einer Dys-
trophie der Keblkopf- und Gaumenmuskeln ableiten zu konnen. Den
unsere Diagnose bestatigenden Sektiousbericht des Falles 2 geben wir
am Ende dieser Arbeit. Fall 4 hatte eine verwaschene Spracbe.
Cassirers Patient sprach bulbar und hatte Schluckstorungen. 2 von
den 3 Fallen von Pelizaus sprachen undeutlich und nasal, alle 3
hatten Schluckstorungen. Schotts Kranker sprach „schwerfallig u ,
Gaupps Patient „monoton“ und nasal, auch ein Fall Hoffmanns
nasal. Schonborns Patient naselte von Jugend auf. Auf die nasale
Sprache unseres Falles 6 ist kein Gewicht zu legeD, dagegen ist die
Zuugenatrophie bemerkenswert, der wir auch bei Lortat-Jacob et
Thaon begegnen. Jedenfalls haben mehr als ein Drittel aller be-
kannten Falle noch abgesehen von der Facies myopathica Schwache-
zustande in den Apparaten des Sprechcns und Schluckens. Ausser im
Falle Schonborns ist eine Facies myopathica immer dabei, bei Gaupp
ist wenigstens die Tragheit der Mimik notiert
Im Bereich der Augenmuskeln kommt nur Ptose vor. Wir sahen
sie in unseren Fallen 2 und 5, ferner wurde sie von Gaupp und von
Furnrohr (bei seinem 2. Fall) beschrieben. Voss’Patient hatte tief-
stehende Lider, die aber gut gehoben wurden.
In Verbindung mit der Kaumuskelatrophie sind mehrfach Ano-
malien der Kiefergelenke gesehen worden, habituelle Luxationen in
den Fallen 1 und 2, leichtere Storungen in den Fallen 4, 5 und bei
dem Patienten Rossolimos.
Ein weiterer Punkt betrifft das Verhaltnis der Beuger und Strecker
an den Unterarmen zu einander. Hans Curschmann hat besonders
hervorgehoben, dass in seinem Falle nur gewisse Muskeln der Strecker-
gruppe dystrophisch und paretisch waren, wahrend die myotonischen
Erscheinungen sich auf deren Antagonisten, eiuige Beugemuskeln, be-
schrankten. Vielleicht liegt hier doch nicht eine individuelle Eigen-
heit des Falles, sondern nur ein besonders eklatanter Ausdruck einer
auch sonst sich ofters wieder findenden Verteilungsweise vor.
Was zunachst die myotonischen Phanomene anlangt, so nimmt in
dieser Ilinsicht in alien meinen hier mitgeteilten Fallen das Gebiet
der Strecker am Unterarm insbesondere den Beugern gegenuber eine
Sonderstellung eiu. Ich habe das fiir die ersten 3 Fiille in meinem
friiheren Bericht schou hervorgehoben. Viermal, in den Fallen 2, 4, 5
und G, sehen wir wohl beim Schliessen, aber nicht beim Offnen der
Finger eine inyotouisehe Steifigkeit eintreten, und in den beiden anderen
Fallen /.eigen sich wenigstens bei der elektrischen Priifung die myo-
tonischen Anomalien im Bereich der Streckmuskeln viel weniger voll-
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Myopathologische Beitrage.
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standig ausgebildet als in den Beugern. Also eine ausgesprochene Vorliebe
der myotonischen Storungen fiir bestimmte Beugemuskeln, wie in dem
Curschmannschen Falle, in alien unseren 6 Beobachtungen. tlbrigens
tritt uns das auch in den nicht atrophischen Fallen von Thomsen-
scher Krankbeit ofters entgegen.
Dazu haben wir nun auch in drei von unseren Fallen (3, 4 und 6)
Paresen ausschliesslich Oder vorzugsweise in antagonistiscben Muskeln,
in der Streckergruppe. Zweimal ist die Ahnlichkeit mit dem Cursch¬
mannschen Falle besonders gross: in den Fallen 4 und 6 haben wir
eine starke Parese der Fingerstrecker neben Myotonie der Fingerbeuger.
Aber auch in der Literatur wird Ahnliches berichtet. In den
Fallen von Voss und Gaupp bestand eine vorzugsweise starke Atro-
phie und Parese der Strecker, wahrend das myotonische Phanomen
besonders beim Schlus9 der Finger hervortrat.
Wir verlassen die Frage der Verteilung der Dystrophie und wenden
uns zu einer Anzahl ofters wiederkehrender Begleiterscheinungen.
Zunachst ein Kuriosum, das zu der grossen ausseren Ahnlich¬
keit, die viele der Falle unter einander zeigen, immerhin beitragt: die
partielle Kahlkopfigkeit. 5 von unseren 6 Fallen haben einen kahlen
Scheitel. In der Literatur wird dasselbe gelegentlich ausdrucklich er-
wahnt, in anderen Fallen ist es aus den beigegebenen Photogrammen
zu erkennen (Falle von Hoffmann, Rossolimo, Nogues et Sirol,
Lannois, Furnrohr). Bettmann wirft bei der Beschreibung seines
Falles, der zu den von uns oben abgelehnten gehort, seltsamerweise
die Frage auf, ob wohl eine Alopecie eine innere Beziehung zur
Thomsenschen Krankheit haben konne.
Sehr merkwurdig ist die Haufigkeit der Hodenatrophie. Wir haben
sie viermal gesehen (Falle 2, 4, 5 und 6), und zweimal ist sie in der
Literatur, namlich von Gaupp und im Falle 2 von Furnrohrs Arbeit
beschrieben worden. In unserem Fall 2 war der Zustand seiner Hoden
erst bei der Autopsie bemerkt worden. In unseren ubrigen 3 Fallen
war die frtiher normale Potenz allmiihlich erloschen. Der Fall Gaupps
scheint von jeher absolut impotent gewesen zu sein. Furnrohrs
Kranker besass die Potentia coeundi noch, war aber kinderlos.
Weiter sind die recht haufigen Storungen auf vasomotorischem
Gebiete bemerkenswert. Bei den Brlidern H. (Fall 4 und 5 unserer
Arbeit) bestand eine Neigung zum Erfrieren der Hiinde, der wir auch
bei den Patienten Hoffmanns (Fall 1 der Arbeit) und Furnrohrs
(Fall 1) wieder begegnen. Bei den beiden H. wurden ausserdem an-
fallsweise die Finger unter unangenehmen Pariisthesien kadaveros bleich
und kalt, besonders in der Kiihle. Auch dera genaunten Kranken
Ftirnrohrs erstarrten die Hiinde leicht iu der Iviilte und waren immer
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkundo. 37. Bd. 6
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82
VI. Steinert
kalt Unser Fall 6 hatte ebenfalls seine linke Hand einmal erfroren
und klagte, dass seine Hande, besonders die linke, leicht ganz blau
warden. Dieser Mann war ganz abnorm frostig und geriet, wenn man
ibn entblosste,in heftiges Zittern. Schonborns und Gaupps Patienten
hatten livide, kuble Hande.
Die tiefen Reflexe speziell an den Beinen sind bei der atrophischen
Myotonie haufig herabgesetzt oder aufgehoben. Es zeigen das unsere
Falle 1 und 2, die Beobachtungen von Rossolimo, Hans Cursch-
mann, Nogues et Sirol, Kornhold, Voss und die beiden Falle
Fiirnrohrs. Bei dem Kranken von L anno is fehlen ausserdem auch
die Sohlenreflexe. In unserem Falle 6 bestand eine partielle Areflexie
der oberen Extremitaten. Cassirer berichtet, dass in seinem Fall die
Sehnenpbanomene an den Armen fehlten. Vielleicbt darf man die Er-
scheinung ahnlich deuten, wie analoge Vorkommnisse bei der Myasthenie
von mir*) und anderen gedeutet worden sind, als eine dem Grundpro-
zess koordinierte, aus den gleichen ursachlichen Bedingungen hervor-
gegangene Storung. Manehe Beobachter haben an eine tabische Kom-
plikation gedacht, ohne aber klinisch ausreichende Anhaltspunkte fQr
ihre Annahme beibringen zu konnen.**) Wir kommen bei Besprechung
der pathologischen Anatomie auf diesen Punkt zuriick.
Da wir eben von tabischen Symptomen sprecben, darf die leichte
Inkontinenz der Blase in dem Curschmannschen Falle nicbt uner-
w&hnt bleiben.
Sensibilitatsstorungen sind bier und da beobachtet worden, leichte
Gefuhlsvertaubung an den distalen Teilen der Extremitaten in unseren
beiden ersten Fallen, ferner von Berg und Rossolimo. Grobere
Ausfallserscheinungen waren immer durch Komplikationen bedingt.
Bei den vorubergehenden schwereren Anasthesien unseres ersten Patienten
und wohl auch in dem Falle von Lortat-Jacob et Thaon hat es
sich um Hysterie gehandelt, in unserem 4. Falle um eine doppelseitige
Meralgia paraesthetica.
In einigen Fallen linden wir eigentlimliche Sehnen- und Gelenk-
anomalien, wie sie wohl auch bei anderen Dystrophieformen gelegent-
lich vorkommen. Dupuytrensche Kontraktur haben wir zweimal
gesehen, in den Fallen 1 und 5, schwer zu deuteude Gelenkverandc-
rungen im Falle 3, Sehuenkontrakturen eigener Art im Falle 6.
Endlich wollen wir noch ganz beilaufig erwahnen, dass in 4 Fallen
Strumen der Schilddruse gefunden worden sind: in unserem Falle l und 4,
ferner von Gaupp und von Bernhardt. Eine leichte Milzschwellung
*) Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 78.
**) Vergl. diizu Hoffmann, Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 18.
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Myopathologische Beitrage.
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haben nur wir einmal gesehen (Fall 1). Die auffallende Polyurie
unseres ersten Falles erinnerte uns an einen gleichen Befund in einem
von uns beschriebenen Fall von Myasthenie.*)
Wie sind nun diese Falle von atrophischer Myotonie zu
deuten?
1. Dass es sich um echte Thomsensche Krankheit handelt, ist
nicht zweifelhaft Das hat vor allem auch Hoffmann betont. Melir-
fach sind es ganz typische Falle von Myotonia congenita gewesen, die
von der Dystrophie befallen worden sind, wie unsere Falle 2 und 3.
In beiden waren die myotonischen Storungen fiber den ganzen Korper
ausgebreitet, in beiden sind die Bescbwerden frfihzeitig hervorgetreten,
in dem einen bestanden sie seit der Kinderzeit, bei dem anderen baben
sie sich, wie so oft, in der Pubertats- und Lehrzeit manifestiert. So-
viel wir horen, sollen in den Familien beider auch sonst Falle von
Myotonie vorgekommen sein. Der Fall 3 ist wiederholt zum Gegen-
stand prinzipieller Untersuchungen fiber die Thomsensche Krankheit
gemacht worden.
Wenn die Myotonie nun in einer ganzen Reihe unserer Falle
weniger typisch in die Erscheinung getreten ist, so werden wir diese
darum doch nicht von den Obrigen abtrennen mogen. Einmal zeigt
schon der einheitliche Typus des dystrophischen Prozesses, das wir
es hier mit einer in sich geschlossenen Gruppe zu tun haben, und
weiter ist nicht zu ttbersehen, dass das Bild der echten Thomsen-
schen Krankheit sich mit den Jahren erweitert hat, dass wir etwas
abweichende Formen kennen gelernt haben, dass manche Eigentfim-
lichkeiten, die wir bei dystrophischen Myotonien finden, auch sonst,
bei nicht atrophischen Fallen, vorkommen, die schon durch ihre Farni-
lienzugehorigkeit als echte Thomsensche Krankheit charakterisiert
sind. Ich denke an das spate Manifestwerden der Thomsenschen
Erscheinungen, an die geringe Intensitat und Ausbreituug der Storungen
iu manchen Fallen. Als solche dfirftig, ja rudimentar entwickelte
Myotonien nennen wir aus dem Kreise unseres Materials die Falle
von Gaupp, Curschmann, Cassirer, unsere Falle 4 —6. Auffallend
spat manifestiert hat sich die Myotonie bei unserem ersten Fall und
bei dem Kranken Kornholds. Beide Patienten haben ihre ganze
Militarzeit noch ohne irgend welche Storungen von seiten ihres Be-
wegungsapparats durchgemacht Auch in den Fallen Jollvs,
Cassirers und Rossolimos ist die Krankheit auffallend spat be-
merkt worden. Endlich wird auch der mangelnde Nachweis der
Familiaritat nicht gegen die Diagnose der Thomsenschen Krank-
*) Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 7S.
0 *
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VI. Steinert
heit angeftihrt werden durfen, da ganz tjpische Falle gelegentlich iso-
liert vorkommen.
2. Die Myotonie ist das Primare in diesen Fallen. Auch hierin
wird man Hoffmann nur beistimmen konnen. Die Dystrophie ist
als eine Yerlaufseigentnmlichkeit mancher Falle von Thomsenscher
Krankheit anzuseben.
Einzelne Beobachtungen konnten fur sich allein allerdings im
Sinne einer Prioritat und Superioritat der Dystrophie gedeutet werden.
Wir begegnen einige Male der bestimmten Angabe, dass die myoto-
niscben Erscheinungen erst hervorgetreten seien, als die Dystrophie
scbon bestanden habe (Hans Curschmann, Kornhold, Lannois).
In anderen Fallen (unsere Falle 4—6) war die Dystrophie weiter aus-
gebreitet als die myotonischen Erscheinungen.
Das Yerhaltnis zwischen Myotonie und Dystrophie ist aber in
diesen Fallen nur scheinbar verschoben.
Entscheidend ist, dass wobl Myotonien ohne Dystrophie, dass aber
niemals — allem Anscheine nach — Dystropbien des hier vorliegenden
Typus obne Yerbindung mit Myotonie beobachtet werden. Die An-
lage zur Myotonie ist zweifellos angeboren. So mag es vorkommen,
dass einmal die Anfange der Dystrophie die erste deutliche Ausserung
dieser Anlage bilden. Dass die eigentlichen myotonischen Phanomene
mancbmal erst recht spat in die Erscheinung treten, wissen wir ja
auch aus sonstigen Erfahrungen. Dabei ist eins nicbt zu vergessen:
wenn ein Kranker uns sagt, „seine Steifigkeit" oder sein „Krampf“
sei erst urn diese oder jene Zeit aufgetreten, so beweist das ganz ge-
wiss nieht, dass die Myotonie vorher auch ftir eine sorgsame arztliche
Untersuchung latent gewesen ware. Die myotonische Behinderung
kann so gering sein, dass der Kranke sie kaum beachtet. In dem
Falle Lortat-Jacob et Thaon wurde man erst bei der elektrischen
Priifung der atropbischen Muskeln auf die myotonischen Phanomene
aufmerksam, die daraufhin auch bei willkiirlichen Bewegungen nach-
gewiesen wurden. In unserem Fall 6 veranlasste uns, wie gesagt, erst
die Typizitat des Atrophiebildes, nach den Symptomen der Thom-
senschen Krankheit zu fahnden.
Endlich ware auch das verstandlich, dass das Auftreten dystro-
phischer Schwachezustande mit den nunmehr erhohten Anforderungen
an die Innervationsanstrengungen des Kranken gelegentlich zur Mani-
festierung latenter myotonischer Veriinderungen beitriige. Wir wissen
ja, wie gern myotonische Storungen gerade dann zu allercrst sich be-
merkbar machen, wenn hdhere Anforderungen an die Kraftleistung
des Kranken herantreten.
Die Myotonie oder die myotonische Yeranlagung ist also der
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Myopathologische Beitrage.
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Boden, auf dem die Myotonikerdystrophie sich entwickelt; dass myo-
tonische Erscheinungen umgekehrt sich erst auf der Grundlage irgend
einer Dystrophieform herausbildeten, ware ubrigens auch ohne jede
Analogie. L anno is hat eine zweite Beobachtung seiner Arbeit in
diesem Sinne gedeutet. Doch ist die Annahme, dass die von ihm be-
schriebenen Krampfe myotonische seien, keineswegs gentlgend begrlindet.
Ebensowenig sind die Falle, die Magneval in diesem Sinne deutet,
einwandfrei.
3. Die Dystrophie der Myotoniker ist ein primar myopathischer
Prozess. Dem voll entwickelten Bilde gegeniiber mit seiner Facies
myopathica wird niemand eine andere Vermutung hegen, und damit
ist nach unseren Ausfuhrungen der Schluss ohne weiteres gegeben, dass
dieser Auffassung auch fttr die tibrigen Falle der Gesamtgruppe Geltung
gegeben werden muss. Es ist immer wieder der vermeintliche Nach-
weis von Entartungsreaktion gewesen, der zu abweichenden Erklarungen
einzelner Falle gefuhrt hat. Daneben nattlrlich auch die grosse aussere
Abnlichkeit, die das Bild des Initialstadiums mit den spinalen pro-
gressiven Atrophien verbindet.
Wie steht es nun mit den elektrodiagnostischen Befunden?
Ehe wir uns zur Frage der Entartungsreaktion und ihrer Yortau-
schung wenden, soil von einer anderen eigenartigen Erscheinung die
Rede sein, die darin besteht, dass in manchen Fallen bei der direkten
galvanischen Reizung eiuzelne Muskeln schon auf die minimalen
Stromstarken mit tetaniformen Dauerkontraktionen *) reagierten, Zuck-
ungen also tiberhaupt nicht zu erzielen waren, ohne dass die Reiz-
schwelle etwa abnorm tief gelegen hatte.
Wir haben das in 4 Fallen (1, 3, 4 und 5) beobachtet. Bei star-
keren Stromen trat dann vielfach in den betr. Muskeln auch Nach-
dauer der Kontraktion, also die gewohnliche Form der myotonischen
Reaktion ein. Einmal fanden wir, im Falle 3, dass schon bei der
minimalen Reizgrosse die tetaniforme Kontraktion einzelner Muskeln
die Reizungsfrist etwas uberdauerte. Eine ahnliche Neigung zum Ein-
tritt von Dauerzuckungen hat Eulenburg**) bei Paramyotonie ge-
sehen. Remak***) fasst sie als „unvollstandige myotouische Reaktion"
auf. Unsere Beobachtungen scheinen flir diese Deutung zu sprechen.
Wenn vielfach von Entartungsreaktion bei der atrophischen Myo-
tonie berichtet wird, so ist zunachst zuzugeben, dass zweifellos in
*) Ich vermeide den'Ausdruck tetanisch, urn nichta zu prajudiziereu, trotz
der ausseren Gleichformigkeit.
**) Neurolog. Zentralbl. 18S6. S. 2G5.
***) Elektrodiagnostik. Wien und Leipzig, 1895. S. 80. Vergl. auch Pelz,
Arch. f. Psychiatrie. XLII. S. 70S.
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VI. Steinert
nicht wenigen dieser Falle trage, ja wurmformige Zuckungen bei
direkter galvaniscber Reizung zur Beobachtung kommen. Wenn man
nun darin nach der gebrauchlichen, aber docb eben nicht ganz aus-
nahmslos gtiltigen Regel das patbognomonische Merkmal der Ent-
artungsreaktion sieht, so liegt eine Verwechslung ausserordentlich
nabe. Icb selbst babe 3 mal diese Zuckungstragheit gesehen, glaube
aber mich in jedem Falle durch die nahere Analyse der Erscheinung
Qberzeugt zu haben, dass es sicb in der Tat nicht um Entartungs-
reaktion bat bandeln konnen.
Zunachst in unserem Falle 3 war die Zuckungstragheit nur bei
Scbliessungsreizungen nachweisbar, wahrend die Anodenoffnungszuckung
vollig prompt verlief. Nach offerer Wiederholung der Reizung ver-
loren auch die Schliessungszuckungen ihren tragen Charakter. Ganz
ahnlich lagen die Dinge im Falle 4. Im Fall 5 bekamen wir bei
labiler Reizung in einzelnen Muskeln eine exquisit wurmformige Kon-
traktion. Bei naherem Zusehen konnten wir feststellen, dass es.sich
in diesem Falle um ein trages An- und Abschwellen sogenannter Dauer-
zuckungen handelte, wie wir sie oben als „unvollstandige myotonische
Reaktion" kennen gelernt haben.
Die Eigenbeiten der Zuckungstragheit unterscheiden unsere Be-
funde durchaus von der Entartungsreaktion und bringen sie vielmehr
zu der gewohnlichen Form der myotonischen Reaktion in enge Be-
ziehung. Ich mochte aus folgenden GrQnden annehmen, dass es sicb
nicht um Entartungsreaktion, sondern um eine besondere Form myo-
tonischer Reaktion gehandelt hat. Erstens gehort ein toniscb-trages
An- und Absteigen der Kontraktion ganz allgemein zum Bilde der
myotonischen Reaktion. Zweitens stimmt die Erscheinung, dass in
unserem Falle 3 nur die Schliessungserregungen, die bekanntlich die
starkeren sind, eine trage Zuckung hervorriefen, gut mit der Tatsache
tiberein, dass die myotonische Reaktion vielfach nur bei starkeren Rei-
zungen deutlich hervortritt. Auch ein dritter Punkt, das Nachlassen
der Zuckungstragheit bei wiederholten Reizungen (Fall 3 und 4), ent-
spricht dem gewohnlichen Verhalten der myotonischen Reaktion, bei
wiederholten Reizungen zu versehwinden. Die eben an 2. und 3. Stelle
genannten Erscheinungen sind dagegen der Entartungsreaktion durch¬
aus fremd. Im Falle 5 tauschte, wie wir sahen, die sog. „unvollstan-
dige myotonische Reaktion" die Entartungsreaktion vor.*) Gegen die
*) Hier liess die Triigheit bei wiederholten Reizungen nicht nach; dieser
Fall zeigte aber auch bei wiederholten willkiirlichcn Bewegungen nicht das ge-
wi'iludiche Nachlassen der myotonisehsn Stbrungen, wahrend allerdings die bei
starkeren elektrischen Stromen auftreteude Naclidauer durch eiuige Wieder-
liolungen des Versuchs zu erschopf'en war. Ich trage bei dieser Gelegenheit
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Myopathologisshe Beitrage.
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Annahme einer Entartungsreaktion sprach ferner in alien Fallen das vol-
lige Fehlen der charakteristischen quantitativen Erregbarkeitsanomalien,
fttr myotonische Reaktion noch die Beobachtung, dass, wenigstens in
den Fallen 3 und 5, bei weiterer Steigerung der Reizstarke myotoni¬
sche Reaktion von der gewohnlichen Form in den betreffenden Mus-
keln auftrat
Man sieht aber, wie leicht eine Pseudoentartungsreaktion die echte
vortauschen kann. Ich mochte es deshalb durch die schlichte Angabe
„EaR“, wie wir sie bei Jolly, Pelizaus, Schonborn, Rossolimo,
Schott, Hans Curschmann und Voss finden, doch nicht als be- .
wiesen ansehen, dass es sich wirklich um Entartungsreaktion gehan-
delt hat. tjbrigens sind einer ganzen Reihe von Autoren selbst Be-
denken liber die Deutung ihrer Befunde gekommen. Pelizaus halt
die Entartungsreaktion fur modifiziert durch myotonische Erscheinungen,
Schott hat den Eindruck, als ob Entartungs- und myotonische Reak¬
tion kombiniert waren, Cassirer rechnet ganz direkt mit der Moglich-
keit, dass die EaR nur vorgetauscht sein konnte. Hoffmann hat,
wohl als erster, auf die Gefabr einer Verwechslung hinge wiesen.
Eine weitere Eigenart der Reaktionsweise auf den elektrischen
Reiz besteht darin, dass vielfach auf kurzdauernde galvanische und
faradische Reize keine nachdauernde Kontraktion erfolgte, wiihrend sie
sofort eintrat, sobald man den Strom — bei unveranderter Stromstarke
— etwas langer geschlossen liess. Ich habe diese Erscheinung zuerst
bei den Fallen 1 und 2 beobachtet und beschrieben. Passler hat sie
spater bei den Gebriidern H. funseren Fallen 4 und 5) gesehen und
beschreibt sie folgendermassen: „Bei der galvanischen Stromschwan-
kung tritt nicht wie bei der gewohnlichen MyR ein rascher Anstieg
mit nacbfolgender Dauerkontraktion ein, sondern es erfolgt erst unter
dem Einfluss des konstanten Stromdurchflusses eine allmahlich zu-
nehmende tonische Kontraktion, die nur ganz langsam wieder abnimmt."
Man kann vermuten, dass dieses Phanomen zu 2 mehr oder minder
regelmassigen Merkmalen der myotonischen Reaktion enge Beziehungen
hat: erstens zu der Tragheit des myotonischen Zuckungsanstiegs und
zweitens zu der Tatsache, dass der Eintritt der Nachdauer in sehr
vielen Fallen eine gewisse Energie der Muskelkontraktion voraussetzt.*)
naeh, dass ich eine Erschbpfbarkeit der unvollstandigen myotoniselion Reaktion
in dem Sinne, dass allmahlich an Stelle der Dauerkontraktioncn Znckungen
getreten waren, nicht beobachtet habe.
*) ▼. Bechterew hat besonders darauf hingewiesen, dass im allgemeinen
durch die Kraft der Kontraktion Eintritt und Starke der Nachdauer gefbrdert
werden. Das ist keine atypische Erscheinung, wie gclegentlieh z. B. von l’elz
angenommen zu werden scheiut. fiber diese und einige anderc Besonderheiten
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68
VI. Steinert
Wird die Reizung friih unterbrochen, so ist der Muskel noch nicht
auf der Hohe der Kontraktion, und es kommt deshalb nicht zur Nach-
dauer. Da man die Erscheinung, wie gesagt, auch bei galvanischer
Reizung beobacbtet, so gewinnt es in der Tat den Anschein, als ob
nicht nur die Stromschwankung, sondern aucb der gleichmassige Fluss
des Stroms in diesen Fallen eine Reizwirkung auf den Muskel aus-
tibte. Passler hat sich, freilicb ohne weitere Priifung, ob es wirk-
lich so sei, diese Annabme zu eigen gemacbt und weitgehende Schlfisse
fiber das Wesen der Myotonie darauf aufgebaut. Er hat das Phanomen
nur in atrophischen Muskeln gefunden. Auch meine Beobachtungen
darfiber betrafen mehr oder weniger stark atrophische Muskeln.
Ich mochte auf weitere elektrodiagnostische Einzelheiten nicht ein
gehen und mich nur noch mit der Frage der myasthenischen Reaktion
beschaftigen, die unser Fall 1 voll ausgebildet darbot und die auch
im Fall 3 nicht ganz fehlte. Ich habe schon frfiher auf eine sympto-
matologische Beziehung zwischen myotoniscben und myasthenischen
Erscheinungen gelegentlich hingewiesen.*) Neuerdings hat Rind-
fleisch myasthenische Reaktion bei seinem mit Syringomyelie kom-
plizierten Falle von Myotonie beobachtet, Voss hat sie in seinem Falle
von atrophischer Myotonie (in nicht atrophischen Muskeln) gesehen
und zitiert — ohne Ortsangabe — eine weitere Beobachtung von
Kleist fiber myasthenische Erscheinungen bei der Thomsenschen
Krankheit. In der Literatur unseres Gebiets finden sich weiter noch
Angaben von Nogues et Sirol fiber Ermudbarkeit bei willkfirlichen
Bewegungen und von Rossolimo fiber Nachlassen der Wirkung des
faradischen Stroms. Doch sind diese Bemerkungen zu kurz und un-
bestimmt, um recht verwertbar zu sein. Wir fanden in unserera Falle
bei rhythmischer faradischer direkter Muskelreizung zunachst die myo-
tonische Reaktionsweise, dann eine Anzahl anscheinend normaler Kon-
traktionen, dann aber nahrnen diese an Hohe rasch ab, bis endlich
die Reizung fiberhaupt keinen sichtbaren Effekt mehr hervorrief. Auch
eine Dauerreizung von mehreren Minuten blieb jetzt erfolglos. Meine
Beobachtungen sind von Nachuntersnchern des Falles bestatigt worden.**)
Dagegen hat man sich gegenfiber den gleichzeitig von mir beobach-
teten myasthenischen Erscheinungen bei willkfirlichen Bewegungen
der ja durchaus nicht stereotypen, sondern in fast jedem Falle wieder ihre
eigenartigen Ziige zeigenden mvotonischen Phiinomene finden sich gerade mit
Bezug auf unsere h'iille einige liier nicht wiederholte Bemerkungen in der Buch-
ausgahe der Sitzuugsberiehte der Leipziger mod. Gesellschaft von 1904. S. 17.
*) Deutsches Arcliiv f. kliu. Med. 78. Bd. S. 301 5.
**) Vgl. T. Colin, Neurolog. Zentralbl. lft()4. S. 1118 und Rindfleisch,
Deutsche med. Wochenschr. 1905. S. 1414.
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Myopathologische Beitrage.
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skeptisch verhalten. Ich glaube dennoch nicht, dass sie auf hysteri-
schem Boden erwachsen oder gar simuliert waren. Dafur waren sie,
wie ich mit T. Cohn bebaupte, zu charakteristisch. Die myastheni-
sche Reaktion, die wir dabei beobachtet haben, spricht doch ganz ge-
wiss viel gewichtiger flir die echt myasthenische Natur, als es dagegen
sprechen konnte, dass der Mann unzuverlassig in seinen Angaben und
hysterisch war.
Erwahnen mochte ich noch zum Schluss der klinischen Ausfuh-
rungen das verhaltnismassig nicht seltene Vorkommen der mechani-
schen Ubererregbarkeit der Nervi faciales, des sog. Chvostekschen
Phanomens, das bekanntlich im Krankheitsbilde der Tetanie eine grosse
Rolle spielt Wir haben es in 4 von unseren 6 Fallen (3, 4, 5 und 6)
gefunden. Auch Hans Curschmann, Rossolimo, Berg und Schott
haben es bei der amyotrophischen Myotonie gesehen. Hans Cursch¬
mann hat in seinem Falle sehr eingehend nach alien anderen Symptomen
der Tetanie gefahndet, ohne aber irgend eines von ihnen nachweisen
zu konnen. Eine Verbreitung der mechanischen tjbererregbarkeit auf
andere Nervenstamme habe ich nicht beobachtet. In eigenartigem
Gegensatz zu diesen Befnnden steht die vollige mechanische Unerreg-
barkeit der Nervi faciales in unserem ersten Falle.
Pathologisch-anatomischer Teil.
Der Patient K. S. (Fall 2) ist in der Nacht zum 9.1. 1905 im
hiesigen stadtischen Pflegehaus unter den Erscheinungen allgemeinen
Krafteverfalls gestorben. Der Chefarzt der Anstalt, Herr Sanitatsrat
Dr. Lohse, hatte die Freundlichkeit, mir die Autopsie des Falles zu
uberlassen, die dann auf meine Bitte im pathologischen Institut der
Universitat durch Herrn Dr. Verse am Morgen des 10. I. vorgenom-
men wurde.
Bei der ausseren Besichtigung der Leiche fiel die ausserordentliche
Dystrophie fast der gesamten Muskulatur sofort in die Augen. Dabei
trat aber doch noch die Pradilektion bestimmter Gebiete deutlich hervor.
Die Daumenballen waren so gut wie vollig gesehwunden, die Gesichts- und
Eaumuskeln aufs ausserste reduziert, wahrend nur die Lippen eigentftrnlich
wulstig hervortraten; von den Sternocleidoinastoidei war zunachst weder
durchs Gesicht noch durchs Geflilil irgend etwas nachzuweisen. Neben der
schweren Muskelabraagerung verdient Erwiilmung, dass ein sparliches Fett-
polster erbalten geblicben war. Das Sektionsprotokoll bezeichnet den Er-
nilhrungszustand als leidlich.
Uber den Befund au den inneren Organen lautet die Sektionsdia-
gnose: Tuberculosis obsoleta et induratio nigra apicis pulmonis utriusque.
Pleuritis chronica fibrosa adhaesiva bilateralis. Emphysema pulmonum.
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VI. Steinert
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Bronchitis. Tracheitis. Atrophia fusca myocardii. Dilatatio cordis, prae-
cipae atrii et ventriculi dextri. Insufficientia valvulae tricuspidalis. In-
duratio cyanotica hepatis et renum. Intumescentia levis lienis. Atrophia
maxima testis utriusque.
Bei der Sektion des zentralen Nervensystems zeigte sich die
Arachnoidea des Gehirns weisslich verdickt, sowohl an der Konvexit&t als be-
sonders auch an der Basis. Das Gehirn war ziemlich schwer, von durchaus
normaler Konfiguration. Es wurde mit lOproz. Formalin injiziert und
in dieselbe Fltlssigkeit eingelegt. Die spatere Untersuchung auf zahlreichen
Durchsclinitten ergab ebenfalls ftkr die Betrachtung mit blossen Augen
ganz normale Verhaltnisse.
Am Kflckenmark war ausserlich auch nichts Abnormes zu erkennen.
Es wurde im ganzen in 10 proz. Formalin eingelegt. Auch auf den spater
angelegten Querschnitten war der makroskopische Befund normal.
Von der Autopsie der Mu skein ist Folgendes zu bemerken. Der
rechte Daumenballen ist fast vollig geschwunden, nur vereinzelte, ganz blass
rotlich gefarbte Faserbttndel sind in der bindegewebigen Masse, die an
seine Stelle getreten ist, noch erkennbar. Auch der Interosseus primus
ist selir verdQnnt und von gleicher Farbung. Der Adductor pollicis er-
scheint dagegen gut erhalten, von braunlichroter Farbe, ebenso die Interossei
des 2. Interstitiums. Auch an der linken Hand ist der Daumenballen sehr
stark atrophisch und nur der Adductor verhaltnismassig gut. Die Mus-
keln am Vorderarm, die rechts nachgesehen wurden, waren ebenfalls von
mehr briiunlich-roter Farbe, wenn auch ziemlich stark atrophisch.
Fast ganz geschwunden ist der Orbicularis oris im Bereich der Ober-
lippe, nur einige schwach rbtlich gefarbte Bfludel sind noch nachweisbar.
Auch die Temporales sind ausserst dtlnn, etwas besser die Masseteren.
Der Uuterkiefer ist in seinen Gelenken abnorm frei beweglich.
Die Muskeln des Kehlkopfs, der nach langerem Verweilen in 10 proz.
Formol genau prapariert wurde, erwiesen sich als viel blasser, derber,
trockener, w’olil auch dflrftiger als die eines zum Vergleich herangezogenen
etwa gleichalterigen muskelgesundcn Mannes.
Die Sternocleidomastoidei priisentieren sich als blass gelblich-braunliche,
ausserst dlirftige Biindel, die Pectorales, die Bauchmuskeln sind leidlich
gut erhalten, die RQekenmuskeln starker atrophisch.
Die Muskulatur der unteren Extremitaten wurde auf der rechten Seite
genauer untersucht. Der Quadriceps femoris ist ziemlich stark reduziert, der
isartorius ist besser. Die Gastrocnemii erscheinen noch ziemlich intakt und
sind von dunkelroter Farbe.
Mikroskopisclie I'ntersnchungeii. l. Hirnrinde. Es wurden
aus der Armregion der linken Hemisphare Blbcke entnommen, die beide
Zentralwindungen umfassten. Zellfiirbung nach einer etwas modifizierten
Nissl-IIeldschen Methode, Markscheidcnfarbung nach Weigert.
Die Untersuchung auf pathologische Veranderungen ergab bei beiden
Methoden ein negatives Resultat. Die Ganglienzellen zeigten ein in alien
wesentlichen Punkten nonnales Verlialten, die mit Methylenblau farbbare
Substanzportion war vielfach etwas dtlrftig entwickelt, krUmelig ttber den
Zclleib verstreut, aber grbbere VeriUnlerungen fehlten durchaus.
Mittelst der Markseheidenmethode bekamen wir ein normal entwickeltes
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Netz grOberer and feiner Fasern, nirgends war ein Faserausfall zu be-
obachten.
2. Ruckenmark. Bldcke aus alleu Hohen wurden ebenfalls sowobl
der Zellfarbung mit der — um der vorangegangenen Formalinfixierung
willen — etwas modifizierten Nissl-Heldschen Methode und mit Neu-
tralrot als auch der Weigertscken Markscheidenfdrbung unterworfen.
Die Zellf&rbung gab im wesentlichen normale Bilder, jedenfalls keine
Veranderungen, die mit der Muskelatrophie in irgend eine Beziehung zu
bringen gewesen whren. Die Ganglienzellen speziell der Vorderhorner
waren Qberall in normaler Zahl nacbweisbar. Die Details des Zellbildes
wichen hier und da von der Norm ein wenig ab, so fanden wir nicht
selten eine etwas unrcgelmassige Anordnung und teilweise Zerbrockelung
der N i s s 1 korper. In einzelnen Zellen bestand stiirkere Chromatolyse, be-
sonders in der Umgebung dss Kerns, so dass nur an der Zellperipherie
noch deutliche Schollen lagen, ganz ausnahmsweise war die ckromopliile
Substanz als feinstes Pulver diffus tlber die ganze Zelle verteilt, die dann
gewohnlich etwas aufgetrieben war und abgerundete, plumpe Formen
zeigte (homogene Scbwellung). In verhaltnismiissig vielen Zellen fanden
sich grosserc Masscn von Pigment, die dann hitufig an der Stelle, wo sie
lagen, den Zelleib vorbuchteten.
Eine erhebliche Vermehrung der Gliazellen war nirgends zu bemerken.
Fig. 1.
Markscheidenfarbung. Lendenan sell well ung (Fig. 1. Photo-
gramm). In den Ilinterstriingen besteht ein starker, ziemlich scharf uni-
schriebener Faserausfall. Die Degenerationszone nimmt beiderseits ein drei-
eckiges Feld ein. Die Dreiecke sind so gelegen, dass je eine Ecke ventral,
eine dorsal und eine lateral gericlitet ist. Die beiden ventralen Ecken be-
rQliren sich etwa an der Grenze des ventralen und des mittleren Drittels des
Septum posterius. Eine ganz leichte Lichtung erstreckt sich von dieser Stelle
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VI. Steinert
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aus beiderseits unmittelbar am Septum bis an die hintere Commissur heran.
Die medialen Dreiecksseiten schliessen zwischen sich ein intaktes Feld ein,
das dem Dorsomedialbtlndel entsprickt. Die dorsale Ecke des Degenerations-
feldes reickt nicht bis an die Peripherie des Marks heran, so dass das
Dorsomedialbtlndel mit dem ebenfalls intakten hinteren seitlichen Feld in
Zusammenhang steht. Mit der lateralen Ecke legt sich das helle Gebiet
im Bereich der Wurzeleintrittszone dem Hinterhorn an. Das ventrale
Hinterstrangsfeld, bzw. die vorderen seitlichen Felder sind intakt. In den
hinteren seitlichen Feldern zeigt noch ein lateralster, neben der Stelle des
Wurzeleintritts an der Peripherie des Marks gelegener Bezirk beiderseits
eine leichte Aufhellung.
Die Fascrn der extramedullilren hinteren Wurzeln sind stark gelichtet.
Im Gebiet der Wurzeleintrittszone und des Hinterhorns fallt vor allem die
Dtlrftigkeit der bogenfdrmig in das Hinterhorn einstrahlenden Fasern auf.
Das Fasernetz der Vorderhflrner sowie die vorderen Wurzeln sind da-
gegen vbllig intakt.
Brustmark. Die Hinterstriinge sind fast in ihrer ganzen Ausdeh-
nung etwas gelichtet. Stark degeneriert sind die Gollschen Strange.
Weniger scliarf heben sich zwei beiderseits im Zentrum der Burdachscken
Strange gelegene streifenformige Degenerationsgebiete ab. Gut erkalten
sind die vorderen und hinteren seitlichen Felder. In den Gollschen
Strangen ist ein schmales Bflndel durch seine gute Erhaltung ausgezeich-
net, das so gelegen ist wie im unteren Lendenmark das Dorsomedialbtlndel,
das dort eben seiner Lage wegen als „Centrum ovale" bezeichnet wird.
Halsanschwellung. Stark gelichtet sind die Gollschen Strange,
besonders in ihfen medialen, dem Septum anliegenden Partien, ferner
zwei schmale, etwa der Grenze zwischen Gollschen und Burdachsclien
Strangen entsprechende, dorsal sich etwas verdickende und leicht lateral
abgebogene Streifen, endlich beiderseits ein Gebiet im Zentrum des mitt-
leren Drittels des Burdachsclien Strangs, das sich der Wurzeleintritts¬
zone annahert. Ganz gut sind die vorderen und hinteren seitlichen Felder.
Wiederum starker Faserausfall in den hinteren Wurzeln, leichte
Lichtung in der Wurzeleintrittszone, besonders sind wieder die Bogenfasern
dOrftig.
Vordere Wurzeln, das Fasernetz der Vorderhorner, wie hier noch ein-
mal betont sei, vollstandig normal.
Oberes Halsmark (Fig. 2. Photogrannn). Degeneration der Gollschen
Strange. In den Burdachsclien Strangen ist beiderseits ein streifenformiges
Gebiet aufgehellt, das zum grossten Teil am Rande des Gollschen Stranges
verliiuft, im dorsalen Teil der Hinterstrange aber mit einer scharfen
Knickung seitlich abgebogen ist.
In diesem Gebiet zeigen die hinteren Wurzeln keinen erheblichen
Fasernausiall mebr, und dementsprechend ist aucli die Wurzeleintrittszone
gut entwickelt.
3. Muskulatur und peripherische Nerven. Als wir an die Unter-
suchung der Muskeln herantraten, bestand keine Totenstarre melir. Es
wurden zuniichst Zupfpniparate vom frisehen Muskel angeferf igt, das Qbrige
Material wurde in lOproz. Formol eingelegt, z. T. spiiter noch in Osmium-
saurelosungen und Joresscbe Fltlssigkeit tlbertragen. Paraftineinbettung,
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93
Farbung nach vanGicson. Einzelne Praparate warden auch nach Heiden-
bain mit Eisenalaunhiimatoxylin behandelt.
M. orbicularis oris, Oberlippe.
Frisches Praparat. Zwischen reichlichen Streifen fibrdsen Binde-
gewebes nur vereinzelte erhaltene Muskelfasern. Dieselben zeigen eine
unregelmissige, meist recht starke Kornelung. Die Querstreifung ist
stellenweise nur undeutlicb sichtbar. Auf Essigsfturezusatz versclnvindet
der grSsste Teil der Kornchen. Muskelnerven vollig normal.
Paraffinschnitte. Das Bild lftsst sich am besten als Muskelcirrhosc
bezeicbnen. Die spiirlichen atropliischen Muskelfasern durch breite Binde-
gewebsstreifen von einander getrennt, die Muskelfasern im alien Stadien
des Schwundes. Stellenweise linden wir nur nocli vereinzelte Fibrillen um
einen Oder einige Kerne gelagert, an anderen Orten ganz „leere“ Kern-
Fig. 2 .
schlauche, ohne alle Reste von kontraktiler Substanz. Die verschiedenen
Kernformen stark vermehrt, aber Binnenkerne nur vereinzelt. Ofters sind
es grosse blbschenformige Kerne, die jnan auch im Innern der Fnsern an-
trifft. Vielfach ganze Haufen und Ketten von Muskelkernen. Die Langs-
streifung der Muskelfasern tiberall sehr ausgesproclien. Die Querstreifung
fehlt hie und da. An den Langsschnitten linden sich gelegentlich stabchen-
formige Kerne in spindelfbrmige Raume eingelagert, die durch ein ort-
liches Auseinanderweichen der Fibrillen entstanden sind. An den Polen
der Kerne sieht man vielfach eine feiue Kornelung des Sarkoplasma. In
langeren solchen interlibrillarcn Rbumeu liegen auch manchmal gauze Reihen
von Kernen, deren jeder von seinem Nachbar durch einen kleinen Zwischen-
raum getrennt ist. Vereinzelt wachsige Faserdegeneration. Die quer ge-
troffenen Fasern zeigen eine sehr deutliche Fibrillenfelderung.
Temporalis (Paraffinschnitte). Neben besser erhaltenen stark cir-
rbotische Partien. Faserdicke ganz wechselnd. Neben annahernd runden
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94
VI. Stein ert
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oder regelmassig polygonalen ganz difforme verdrGckte Querschnitte. Die
Querstreifung fast ttberall deutlich, im einzelnen von sehr verschiedener
Besohaffenheit, manchmal fein, after grbber, die hellen Querstreifen haufiger
von Qberwiegender Breite. Die Hensenschen Streifen oft gut sichtbar.
Die Langsstreifung Qberall ausgespochen. Die Querschnitte meist sehr
deutlich gefeldert. Ziemlich reichlich Vakuolen, wie sie weiterhin noch
naher beschrieben werden. Hie und da Binnenkerne. Nerven ohne Be-
sonderheiten.
Masseter. Frisch: Zwischen reichlichem Bindegewebe stark ge-
kbrnte Muskelfasern, die Querstreifung vielfach undeutlich. Auf Essig-
saurezusatz verschwindet der grbsste Toil der Granula. Nerven vollig
normal.
Paraffinschnitte von osm. Material. Die Fasern zeigen die ver-
schiedensten, z. T. sehr hohe Grade von Atrophie. Zahlreiche und grosse
Muskelkerne aller Formen, z. T. in gewaltigen Haufen und Reihen, hie
und da Kerne und Kernreihen, die nur noch vereinzelte Fibrillen mit sich
fQhren. Sparliche Binnenkerne. Das Bindegewebe erscheint verhaltnismassig
weniger stark gewuchert als in anderen Muskeln.
Quer- und Langsstreifung stark ausgesprocben. Der Hensensche
Streifen ist stellenweise sichtbar. An den Querschnitten deutliclie
Fibrillenfelderung.
In manchen Fasern verlaufen die Fibrillen auffallend gewellt, in ver-
einzelten sind grbbere Strukturanomalien vorhanden, homogen glasige Be-
schaffenheit, verworrene Anordnung der Fibrillen, wachsige Degeneration
in grbsseren oder ktlrzeren Faserabschnitten. Hie und da befinden sich
Vakuolen, wie sie uns noch wieder begegnen werden. Manchmal liegen
Binnenkerne in grbsseren Lticken zwischen den Fibrillen.
Kornelungen sind nicht nachweisbar, doch ist zweifellos in einigen
wenigen Fasern Fett vorhanden gewesen, das aber trotz der Osmierung ge-
lost worden zu sein scheint. Dass es vorhanden war, ist aus der siebfbr-
migen Querschnittsstruktur jener Fasern zu schliessen (vgl. die Schieffer-
deckersche Abbldg. 20c, die dritte der gezeichneten Fasern auf Tafel 9/10
des 25. Bds. der Zeitschr. f. Nervenheilkunde). Grbsscre Fettmassen zwischen
den grbsseren Muskelabschnitten haben die Fiirbung leidlich gut an-
genommen.
Nerven normal. Die Radspeichenstruktur der Markscheiden vielfach
selir schbn hervortretend.
An den Muskelspindeln nicltts Bemerkenswertes.
Kehlkopfmuskeln, Cricoarvtaeno'ideus posterior und lateralis und
Arytaeno'idei; Zupfpriiparate und Gcfriersclinittevon formolfixiertem Material.
Die Priiparate vom Crieoaryt. post, wiclien vom normalen Vergleichsbilde
verhaltnismiissig wenig ab. Fine Reilie von Proben aus dem lateralis
zeigte liauptsiichlieh cine durrhgehende Verschmiichtigung der Fasern,
dabei iJberwiegon der Langsstreifung, hie und da Granulierung des Proto-
plasmas an den Polen der Kerne. In den Arytaeno'idei traten sehr grobe
Veranderungen der Faserstruktur neben den Zeiehen der Atrophie beson-
ders stark hervor. In dem vermehrten, hie und da lipomatosen Zwischen-
bindegewebe lagen neben ganz dtlnnen, oftenbar atrophischen Fasern sehr
zahlreiche ganz besonders dicke Fasern, die aber nicht etwa hypertrophisch,
sondern infolge eines Degenerationsprozesses aufgeschwollen waren. Je
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95
dicker eine Faser oder ein Faserabschnitt, desto grSber war im allgemei-
nen die Struktur verhndert. Die Fasern waren mit wenigen Ausnahmen,
die dicken Fasern fast obne Ausnahme, trtlbe und schlecht durchsichtig,
sehr im Gegensatz zu den lichten und klaren Fasern der Vergleichsraus-
keln. Die Langsstreifung ausserordentlich stark ausgesprochen, die Quer-
streifung sehr zurhcktretend. Vielfacb stark welliger, ja verworrener Verlauf
der Fibrillen, an vielen, sehr stark aufgetriebenen Stellen Zerfall dcr
Substanz in schollige, wie aufgekaufte Massen von krtimelig-korniger
Struktur.
Es erscheint sehr interessant, dass gerade die Stimmbandadduktoren,
deren Dystrophie wir klinisch diagnostiziert batten, die grdbsten anatomi-
schen Veranderungen aufwiesen.
Rechter Daumenballen. Das frische Bild gleicht dem vom Orbi¬
cularis oris. Auch hier ganz normale Nervenastchen.
Paraffinschnitte. Ausserordentlich stark cirrhotischer Zustand.
Dflrftige Muskelfasern in miichtigen Bindegewebsmassen einzeln einge-
sprengt. Wiederum sind einzelne Fasern auf wenige Fibrillen reduziert,
die einen oder einige Kerne lose umgeben. Wiederum auch vdllig leere
Kernschlauche. Kerne in alien Formen, zahlreich, vielfach sehr gross,
blaschenfflrmig. Binnenkerne vereinzelt. Die Querstreifung meist gut
ausgesprochen, die dunkeln Hauptstreifen den hellen gegenQber an Breite
zurttcktretend. Die feineren Details der Querstreifung treten deutlich her-
vor, insbesondere ist die Hensensche Mittelscheibe in der anisotropen
Substanz recht gut sichtbar. Die Langsstreifung ist so scharf ausgeprkgt,
dass die Fasern vielfach geradezu in ihre Fibrillen aufgelbst erscheinen.
Auf den Querschnitten sind die Fibrillen deutlich sichtbar, anscheinend
kommen verhaltnismassig wenige auf die Faser. Die Fasern sind nicht
immer recht scharf umgrenzt. Vereinzelte Fasern haben ein homogenes,
glasiges Aussehen. Hie und da sind die Kerne von hellen Hofen um¬
geben. Auch in den Muskelspindeln erscheinen die Fasern atrophisch.
Die intramuskularen Nerven sind vOllig normal.
Sternocleidomasteideus. Paraffinschnitte von osmiertem und von
mit Joresscher Fltlssigkeit behandeltem Material.
Der Querschnitt dieses Muskels umschliesst Partien sehr verschieden-
artigen Aussehens: manche, die, abgesehen von der Schmachtigkeit der
Fasern, einen fast normalen Eindruck machen, andere von stark cir-
rhotischem Charakter, die inmitten reiclilichen, derben Bindegewebes viele,
besonders stark atrophische Fasern beherbergen, dazwisdien Streifen von
Fettgewebe. Neben den einfach verdunnten Fasern viele von verdrtlcktem,
ditformem Querschnitt in „atrophischer Degeneration" (Schiefferdecker.)
Die Langs-, aber auch die Querstreifung zunieist sehr deutlich ausgesprochen,
vielfach sind die feinsten Strukturdetails sehr gut kenntlich. Besonders
an dQnnen L&ngsschnitten treten die einzelnen Fibrillen oft sehr scharf
hervor. Die Querschnitte zeigen vorzugsweise Reihenfolderung, oft in sehr
scharfer und klarer Auspragung.
Die Muskelkerr.e aller Art sind ausserordentlich zahlreich und treten
oft in machtigen Reihen auf, insbesondere linden sich viele grossc belle,
rundliche und stabfdrmige Kerne an der Peripherie und im Innern der
Fasern. Die Binnenkerne sind in diesom Muskel so reichlich, dass kaum
eine Faser ohne solche zu linden ist, manche Fasern einc grosse Zahl
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96 VI. Steinekt
davon umschliessen. Zehn auf die Faser konnten wir vielfach zahlen.
Neben den dunkel gefiirbten kleinen und den schon genannten grossen
hellen Formen kommen auch viele ganz grotesk gebildete Exemplare vor.
Auf den Querschnitten waren eigenartige Faserabspaltungen zu kon-
statieren, derart, dass aus einer grossen Faser ein sektorenfbrmiger Ab-
schnitt wie ein Stack aus einer Torte herausgelost schien, das nun durch
eindringendes Perimysium intern, von der Mutterfaser getrennt wurde.
Einzelne Fasern zeigten stark welligen oder verworrenen Verlauf der
Fibrillen, einzelne eine gleichmassig feine kornige Struktur, wie Mattglas.
Sehr haufig fanden wir Yakuolen verschiedener Art. Manche imponierten
nur als Lttcken zwischen den etwas auseinander gedrangten Fibrillen-
btlndeln. In den so entstekenden Hdfen lagen manchmal grosse blaschen-
fdrmige Kerne. In anderen Fallen w r aren aber an der Stelle der Vakuolen
die Fibrillen zweifellos zugrunde gegangen, unregelmassig, aber scbarf
begrenzte Defekte erschienen auf dem Querschnitt ausgefallen oder heraus-
geschlagen. Manchmal waren diese Yakuolen mit einer feinkbrnigen Masse
erftlllt. Solche R&ume bekerbergte manche Faser in grosser Anzahl, so
dass der Querschnitt eine wabige Struktur oder etwa das Aussehen eines
angeschnittenen Schweizerkases erhielt. Vereinzelt sahen wir kreisrunde,
verhaltnisnnissig dick erscheinende, dunkler gefarbte Fasern, die sogenann-
ten Kontraktionsknoten, auf dem Querschnitt. Vakuolen der genannten
verschiedenen Arten kamen auch in den Muskelfasern der zahlreich vor-
handenen Spindeln vor.
Die Beugemuskulatur vom rechten Vorderarm wurde im einer
ganzen Anzahl von Stttcken an osmiertem und an mit Joresseher FlQssig-
keit behandeltem Material untersucht.
Wir fanden auch hier recht abwechslungsvolle Bilder: neben kleinen,
anscheinend einfach atro]diischen Partien sehr ausgedehnte Abschnitte in
alien Stadien der C'irrhose. Das Bindegewebe ist von wechselnder Reieh-
lichkeit, stellenweise so massenhaft, dass die erlialtenen Fasern vbllig ver¬
einzelt hie und da eingesprengt erscheinen. Seiner Beschaffenheit nacli
ist es mehr oder minder derb, an vielen Stellen verhaltnism&ssig kern-
reieh. An einigen Stellen hat es lipomatbse Einlagerungen. In den
starker cirrhotischen Partien ganz besonders stark atrophische Fasern,
manche ausserst diinn, nur nocli aus wenigen Fibrillen bestehend, auf dem
Langsschnitt manchmal nur noch eine liingstaserige Beschaffenheit zeigend.
Nicht selten auch von kontraktiler Substanz vcillig leere Kernschlauche.
Vielfach fill It die mangelhafte, unscharfe Begrenzung der Fasern auf.
Die Muskelkerne sehr stark vermehrt, oft in enorm grossen Haufen,
Zeilen und Zopfen auftretcnd. Auffallend reichlich Binnenkerne. In der
Struktur der einzelnen Fasern trat die Langsstreifung Qberall sehr scharf
liervor, widirend aber auch die Querstreifung in alien Details in der Regel
deutlich kenntlich war. Manche stark atrophische Faser erschien fast
strukturlos, vereinzelt wurde wachsige Degeneration gesehen.
Vereinzelt osmiumgeschwarzte Kdrnchen in den Fasern.
In recht vielen Fasern hat ten wir auch hier eine starke Vakuolisierung
zuniichst in der beim Sternocleidomastoideus beobachteten Form einfacher
Protoplasmahofe in der Umgebung von Binnenkernen, aber auch wabige
Bilder, wie sie dort geschildert wurden. Manche Fasern waren mehr
homogen geworden, die Vakuolen waren aus der Substanz der Faser wie
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Myopathologische Beitrage.
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mit dem Locheisen aasgestanzt, von regelm&ssig runder oder ovaler, scharfer
Begrenzung. Hier and da lagen Kerne anch in diesen LQcken. Manche
Fasern zeigten in einem Teil ihres Querschnitts, sei es in der Peripherie
oder im Zentrum, eine milchglasartige Beschaffenheit, w&hrend der Rest
eine deutlich fibrilllire Struktur erkennen liess. Hier und da fand sich
auch diejenige Degenerationsform, die Schiefferdecker in den Muskel-
spindeln von Paralysis agitans gefunden hat nnd in seiner mehrfach er-
wahnten Arbeit (Zeitschr. f. Nervenheilkde. 25. Bd.) auf Seite 217 beschreibt
und auf Abbildung 22 abbildet. Bei unserem Fall waren es nicht Spindel-
fasern, die die Veranderung zeigten. Auf Langsschnitten zeigen sich hier
und da Reihen dichtgedrangter oder durch kleine Abstande von einander
getrennter Kerne in langgestreckten LQcken gelagert, die zwischen den
auseinandergewichenen Fibrillen gelegen sind.
Von den zahlreichen Muskelspindeln mOchte ich hervorheben, dass ihre
Muskelfasern auch hQuiig Binnenkerne enthielten. Die Nerven in und
ausserhalb der Spindeln waren wiedernm vdllig normal.
Rechter Quadriceps femoris.
Paraffinschnitte.
Deutliche Atrophie. Vermehrung des Zwischengewebes, das reichlich
Bindegewebskerne, aber auch Muskelkernzeilen enthalt Die Bindesubstanz
ist verhaltnismassig locker gewebt, hier und da sind lipomatOse Partien
eingelagert. An den Muskelfasern fQllt die Starke LQngsstreifung auf.
Die Muskulatur der rechten Wade hot in frisch gezupfter Probe
keine erheblichen Anomalien.
Zum Schluss eine kurze Diskussion der anatomischen Befunde.
Was lehren sie uns?
Unser Wissen tlber das anatomische Verhalten des Zentralnerven-
systems bei der Tbomsenschen Krankbeit grundet sich bisber auf den
einzigen bekannten Sektionsbefund, den Dejerine und Sottas in einem
klinisch nicht atrophischen Fall erhoben baben.
Auch wir haben in unserem atrophischen Fall, um von der
Hinterstrangsdegeneration zunachst abzusehen, wie die genannten For-
scher in alien wesentlichen Punkten normale Verhaltnisse gefunden.
Keine kranbhaften Veranderungen bei der makroskopischen und mikro-
skopischen Durchforschung, insbesondere gaben die motorischen Bahnen
von den Rindenzellen bis zu den feinen Nervenastchen der Muskeln
ein vollkommen normales Bild. Die einzige Anomalie im Bereich des
motorischen Apparats lag in der Muskulatur selbst, eine Bestatigung,
wenn man will, der sich fast ganz allgemeiner Anerkennung erfreuen-
den royopathologischen Auffassung des Kraukheitsbildes. Also auch
die Dystrophie sicher myopathischer Natur.
Ehe wir auf den Muskelbefund zurlickkommen, seien ein paar
Worte fiber die Hinterstrangsdegeneration gestattet Siebotdas typische
Bild der initialen Tabes, war ganz sicher keine funikulare Myelitis,
keine pseudosystematische Degeneration. Neben der eigentUmlich elek-
tiven Degeneration bestimmter Fasersysteme in der Medulla haben
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkumie. 37. Bd. 7
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VI. Stein ert
wir die starke Entartung der extramedullaren hinteren Wurzeln. Die
Pathogenese dieser Degeneration erortern, hiesse die ganze Lehre von
der Entstehung der Tabes hier aufrollen.
Aber auf die Frage diirfen wir einen kurzen Blick werfen: Was
bedeutet dieser Befund far unseren Fall, fDr die atrophische Myotonie
tiberhaupt?
An eine zufallige Komplikation mit einer gewohnlichen Tabes wird
nicht zu denken sein. Die klinischen Symptome reichten bei dem
Patienten zur Diagnose einer Tabes bei weitem nicht aus, so wenig
wie bei all den anderen Fallen von atrophiscber Myotonie, die ein-
zelne tabische Symptome dargeboten haben. Aber eben tabische
Symptome sind bei vielen solchen Fallen vorhanden. Die Idee, dass
in unserem Fall diese Erscheinungen ihre anatomische Grundlage
in Wurzel- und der Hinterstrangsdegeneration gehabt haben, ist ge-
wiss unabweisbar, und der Gedanke liegt nahe, dass in anderen
gleichen Fallen eine ahnliche Rtickenmarksveranderung zugrunde liegen
mochte.
Die myotonische Erkrankung rGckt damit in eine gewisse interes-
sante Nachbarscbaft zum Diabetes mellitus. Aucb bei ihm linden wir
zwar keine typische klinische Tabes, aber haufig tabische Symptome,
ebenso wie bei der Thomsenschen Krankheit Und als anatomischen
Befund haben wir dabei, wie die interessanten Untersuchungen von
Schweiger*) aus dem Obersteinerschen Institut an einer ganzen
Reihe von Fallen gezeigt haben, eine im strengen Sinne des Worts
tabiforme Degeneration.
Bemerkenswerterweise ist noch eine andere sehr pragnante Er-
scheinung ebenfalls beiden Krankheiten, dem Diabetes mellitus und
der atrophischen Myotonie, eigen, namlich die mit Impotenz verbundene
Hodenatrophie, die in bald einem Viertel unserer Falle festgestellt
worden ist
Wir wollen der Versuchung widerstehen, nach weiteren Analogien
zu suchen, etwa davon zu reden, dass wir es bei der Thomsenschen
Krankheit mit einer Muskelerkraukung zu tun haben und bei Diabetes
mit Storungen gewisser Stoffwechselleistungen, die zum Muskelsystem
bekanntlich sehr enge Beziehungen haben. Es ist denkbar, dass in
beiden Fallen pathologische Stoffwechselprodukte die ursachlichen
Trager der Riickenmarks- und der Hodenerkrankung sind. Liegen doch
manche Erfahrungen vor, die auf einen abnormen Stoffwechselverlauf
bei der Myotonie hindeuten. Vielleicht konnten aber diese Kompli-
kationen auch als direkte Ausserungen einer hereditaren Minderwertig-
*) Wiener med. Wochenschr. 1007. Nr. 32.
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Myopathologieche Beitrage.
99
keit der Anlage angesprochen werden, gemass den neueren Erfahrungen
fiber die Vielseitigkeit, mit der sich die „heredo-degenerative Krankheit"
an den verschiedensten Organen und Systemen des Korpers zu aussern
vermag. Diese Andeutungen sollen geniigen, damit wir nicht mfissigen
Spekulationen verfallen.
Interessant ist, dass auch bei anderen Myopathien tabiscbe Sym-
ptome im oben bezeichneten Sinne vorkommen.*)
Nun zu den Befunden an der Muskulatur!
Unsere bisherigen Kenntnisse fiber die Histologie der myotonischen
Muskeln gehen zurfick erstens auf die Untersuchungen Erbs und
seiner vielen Nachfolger an excidierten Muskelproben, zweitens auf
den einzigen dem unserigen vorangegangenen vollstandigen Sektions-
befund von Dejerine und Sottas, und endlich drittens auf die Unter¬
suchungen Schiefferdeckers, die sich allerdings auch nur auf eine
excidierte Probe — aus dem Deltoideus unseres Falles 3 — bezogen,
aber mit neuer und ganz besonders grfindlicher Methodik durchgefuhrt
worden sind. Was wir sicher wissen, ist ausserordentlich wenig. Die
Muskelfasern sind hypertrophisch. Schiefferdecker hat dazu bei
seinen Untersuchungen eine Veranderung der „Muskelkurve“ festge-
stellt. Dies® Muskelkurve stellt graphisch dar, in welchen Prozent-
zahlen sich Fasem verschiedener Querschnittsflache an dem Aufbau
des Gesamtmuskels beteiligen. Diese Verhaltnisse hat er also gegen-
fiber dem seiner Meinung nach sehr konstanten Verhalten der Norm
verschoben gefunden. Die Muskelkerne sind vermehrt. Schieffer¬
decker hat mittels sehr mfihevoller Untersuchungen festgestellt, dass
es sich um eine Hypertrophie und Hyperplasie der Kerne handelt, dass
aber die relative Kernmasse auf den Gesamtmuskel berechnet dabei
normal bleibt. Uber die feineren Strukturdetails liegen ganz wider-
sprechende Angaben vor. Man kann zusammenfassend sagen, dass
einzelne Fasern mit alien moglichen degenerativen Veranderungen,
einzelne atrophische Fasern auch in den klinisch nicht atrophischen
Fallen recht haufig gefunden werden. Schiefferdecker hat Veran-
derungen gefunden, die er fur spezifisch halt: eine feine, nur bei ganz
bestimmter Fixationsweise, namlich bei Anwendung von Joresscher
FlQssigkeit, bervortretende Kornelung des Sarkoplasmas und gewisse
Veranderungen, Verdickung, Entrundung des Querschnitts, Verklum-
pung der Fibrillen, dabei Abnahme der relativen Fibrillenmenge.
*) Vgl. Steinert, tjber Myasthenie und mvasthenische Keaktion. Deut¬
sches Arch. f. klin. Med. 78. Bd. S. 358.
Der an dieser Stelle beschriebene geheilte Fall von Myasthenic bot auf der
Hcihe der Krankheit recht ausgesprochene tabi.sche Symptome uud dabei wieder-
um auch Impotenz und zwar absolute Iinpotenz mit vollig erloschener Libido.
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100
VI. Steinert
Die bisherigen Bericbte fiber die Ergebnisse von Probeexcisionen
aus den Muskeln atrophischer Myotonie bieten wenig Charakteristisches:
Atropbie, Kernvermehrung, Vermehrung des Bindegewebes, daneben
aucb degenerative Veranderungen von Muskelfasern.
Unsere eigenen Untersuchungen belehrten uns in erster Linie fiber das
Bild der Atrophie. Am auffallendsten war ein Zustand, den man wobl
als Muskelcirrhose bezeichnen kann, nur dass er nicht fiberall, nicht in
alien Partien des Muskelqnerschnitts gleich stark ausgepragt war. Neben
den cirrhotischen fanden sicb andere Partien, die mebr das Bild der ein-
fachen Atrophie oder der „einfachen atrophischen Degeneration" mit
zahlreichen deformierten, an ihrenNachbarn abgeplatteten und zwischen
ihnen verdrfickten Fasern zeigten. Das, wie gesagt, an vielen Stellen ganz
ausserordentlich stark vermehrte Zwischengewebe war bald von lockerer,
kernreicher, bald von derber Beschaffenheit. Neben den einfach fibrosen
fanden sich lipomatose Partien. In das Bindegewebe waren die
Muskelfasern eingebettet, bald in kleinen Gruppen, bald ganz vereinzelt
in machtigen fibrosen Massen. Die Fasern selbst sind in alien Stadien
des Schwundes, nicht selten nur noch sparliche Reste kontraktiler
Substanz, sparliche Fibrillen in der Umgebung gewucherter Muskel-
kerne, schliesslich auch vollig leere Sarkolemmschlauche. An solchen
Stellen bezeichnen nur noch Haufen oder Reihen von Muskelkernen
den Ort der geschwundenen Fasern. Auch an den besser erhaltenen,
besonders aber an den stark atrophischen Fasern fallt oft die unscharfe
Abgrenzung gegen das Bindegewebe auf.
Die Muskelkerne sind stark vermehrt, sie treten sehr vielfach in mach¬
tigen Haufen und Reihen auf, und es fallt besonders auch der Reich-
tum an grossen hellen Kemen auf. Neben wohlgestalteten kommen
groteske Formen vor. Binnenkeme finden sich in den meisten unter-
suchten Muskeln nur vereinzelt, in dem Sternocleidomastoideus und
den Beugern vom Unterarm in ganz ausserordentlicher Menge, so dass
fast jeder Faserquerschnitt eine grossere oder geringere Zahl davon
umschliesst.
Was das feinere Faserdetail anlangt, so heben wir hervor, dass
die Querstreifung im allgemeinen sehr gut und deutlich und oft bis
in die feinsten Einzelheiten kenntlich ist. Stellenweise schienen uns
die Fasern durch ein Dberwiegen der isotropen Substanz auffallend hell.
Auch der Hensensche Querstreifen ist oft in vielen Praparaten sehr
gut zu sehen. Daneben ist aber doch fiberall auch die Langsstreifung
zu erkennen, oft tritt sie stark hervor und manche stark atrophischen
Fasern erscheinen wie aufgelbst in eine mebr oder minder sparliche
Zahl von einzelnen Fibrillen. Auf den Querschnitten fast fiberall sehr
klar ausgesprochene Felderung.
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101
Grannlierungen, die auf Essigsaure zum grossten Teil verschwanden,
fanden wir mehrfach in den frischen Praparaten, an denen dadurch die
Qnerstreifung oft etwas getrtlbt erschien. Anl gefarbten und osmierten
Querschnitt konnten wir ganz vereinzelt Fettkornchen nachweisen.
Grobere Strukturanomalien fanden sich immer nur an einer
kleinen Minderzahl von Fasern, am banfigsten noch ein auffallend
welliger, mancbmal ein direkt verworrener Verlauf der FibrilleD, ver¬
einzelt auch homogene, mattglasartige Beschaffenheit, wacbsige Dege¬
neration und andere Entartungsformen.
Verhaltnismassig haufig kamen auch Yaknolen vor, in denen manch-
mal Kerne lagen. Es handelte sich entweder um Lucken, die durch
einfaches Auseinanderweichen der Fibrillen entstanden schienen, in
anderen Fallen war aber an Stelle der Vakuolen die fibrillare Substanz
zweifellos zugrunde gegangen.
Auch nur vereinzelt sahen wir die sogenannten Kontraktionsknoten.
Endlich mochte ich noch die eigenartigen Faserzerspaltungen erwahnen,
wie ich sie beim Sternocleidomastoideus beschrieben habe.
Die Atrophie, die Vakuolenbildung betraf hier und da deutlich
auch die Fasern der Muskelspindeln.
Wenn wir das Ganze fiberblicken, so handelt es sich um Verande-
rungen, wie wir sie im wesentlichen ahnlich oder gleichartig bei den
verschiedensten Formen von Muskelatrophie linden. Wenn f&r die
Myotonie wesentliche und spezifiscbe Veranderungen bekannt waren,
so batten wir hoffen diirfen, sie auch in unserem Fall zu finden, denn
trotz der schweren Atrophie waren die myotonischen Pbanomene bis
in die letzte Lebenszeit hin nachweisbar geblieben. Dass Erscheinungen
von Hypertrophie noch vorhanden sein wiirdeu, war nicht zu erwarten.
Aber die Veranderungen, in denen Schiefferdecker die spezifisch
myotonischen gefunden zu haben hofft, hatte man vielleicht nachweisen '
konnen. Die eigenartigen Kornchen im Sarkoplasma sind nun —
frisches Material hat Schiefferdecker nicht untersucht —anscheinend
nur bei einer ganz bestimmten Fixierungsweise darzustellen, namlich
bei der Fixierung in der FlQssigkeit von Jo res, deren Salze dabei
offenbar von ausschlaggebender Bedeutung sind. Unser Material war
leider zunachst in 10 proz. Formol eingelegt worden. Da ich nicht
glaubte, a priori ausschliessen zu dtirfen, dass eine nachtragliche Be-
handlung mit der Fllissigkeit von Jores noch Erfolg haben konnte,
machte ich den Versuch, konnte aber die fragliche Granulierung nicht
beobachten. Bezfiglich der weiter von Schiefferdecker als wesent-
lich beschriebenen Fibrillenveranderungen, vor allem der Entrundung
des Fibrillenquerschnitts mochte ich ein ganz sicheres Urteil fiber
meinen Fall nicht abgeben wegen der ausserordentlicheu Schwierig-
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102
VI. Steinebt
keiten, diese unendlich feinen Details der Faserstruktur ganz zuver-
lassig fe8tzustellen. Die neuen Untersuchungsmethoden yon Schieffer-
decker, die Bestimmnng der Muskelkurve, der relativen Kernmasse
usw. anzuwenden, habe ich mich nicht entschliessen konnen. Einmal
sind diese Untersuchungen so mfihsam, dass sie far jemanden, der nicht
seine ganze Arbeitszeit diesen Dingen zu widmen vermag, nur schwer
durchfubrbar sind, und dann konnten wir bei unserem Material yon
atropbischer Myotonie obnehin nicht Resultate zu gewinnen hoffen,
die mit denen Schiefferdeckers, die sich auf nicht atrophische myo-
toniscbe Muskeln bezieben, vergleichbar gewesen waren. Sollte die
weitere Entwicklnng unseres Wissens fiber diese Dinge es wiinschenswert
machen, diese Luckeunserer Untersuchungen auszuffillen, so wird das ge-
scbehen konnen, denn das Material bleibt selbstverstandlich aufbewabrb
Eine Frage mochten wir nicht unterdrucken. Sind es denn wirk-
lich spezifiscbe Veranderungen, die Schiefferdecker gefunden bat,
und sind sie geeignet, wie dieser Forscher hofft, das Wesen der Krank-
heit unserem Verstandnis erheblich naher zu bringen? Vielleicht ist
der Histolog, der vorzugsweise normales Material bearbeitet, doch zu
rasch geneigt gewesen, flir eine Krankheit „spezifische“ Veranderungen
anzunehmen. Wer viel pathologische Muskeln untersucbt, wird in dieser
Beziebung immer vorsichtiger und kommt leicbt dem Standpunkt nahe,
in der Variabilitat und Unregelmassigkeit der Befunde geradezu die
Regel innerhalb eines weiten Gebiets der pathologischen Histologie
der Muskeln zu sehen.
Es ware gewiss sehr interessant und wertvoll, wenn die Zukunft
erwiese, dass die Schiefferdeckerschen Befunde ganz regelmassig
jedem Falle von Myotonie zukamen. Aber ware wirklich ein Ver¬
standnis der Krankheit damit gewonnen? Doch zunachst nur im be-
- scheidendsten Sinne und Umfange. Von einem Verstandnis patholo-
gischer Muskelzustande konnte man meines Erachtens erst dann reden,
wenn es gelungen ware, zwischen bestimmten Strukturveranderungen
des Muskels und bestimmten Storungen seiner Funktionen auch eine
innere ursachliche Beziehung nachzuweisen. Solange diese Lficke
klafft, werden die Ergebnisse auch der sorgsamsten histologischen
Durchforschung der Fasern, der genauesten Untersuchungen des Mus-
kelaufbaus doch immer nur eine symptomatische Bedeutung haben und
giinstigsten Falls unsere Meinung liber den muskularen Sitz eines
Leidens zu stutzen geeignet sein.
Also nicht vou der Histologie allein, sondern yon der experimen-
tellen pathologischen Physiologie der Muskeln sind hier die nachsten
dringend notigen Aufschliisse zu erhoffen. Freilich sind auf diesem
Gebiet bisher wenig mehr als die ersten tastenden Schritte getan.
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Myopathologischer Beitrag.
103
Knoblauch hat neuestens in einigen anregenden Arbeiten der
Idee Ausdruck gegeben, dass fflr die Beurteilung pathologischer Mus-
kelzustande aus der Berncksichtigung des verschiedenen anatomischen
und physiologischen Verhaltens der roten und weissen Muskelfasern,
die normalerweise in den menschlichen Muskeln gemischt auftreten
sollen, wichtige Ergebnisse wQrden gewonnen werden konnen. Er hat
auch die Myotonie ins Bereich seiner Spekulationen gezogen. Auch
auf diesem Gebiet fehlt vorlaufig noch jeder feste Grund und Boden.
Wir werden in einem spateren Stuck dieser myopathologischen Bei-
trage Gelegenheit haben, mit ein paar Worten auf diese Frage ein-
zugehen.
Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchungen mochte ich
dahin zusammenfassen, dass ich glaube gezeigt zu haben, dass es sich
in jedem Falle von sogenannter amyotrophischer Myotonie um ein
typisches Krankheitsbild handelt, und zwar um eine myopathische pro¬
gressive Dystrophie, von der echte ThomsenBche Falle befallen werden.
Das klinische Bild dieser Muskeldystrophie ist ein ganz scharf .um-
scbriebenes, einheitliches, in hohem MaCe charakteristisches, es kommt
in dieser Form nur bei der Thomsenschen Krankheit vor. Eine
Reihe mehr oder minder haufiger Einzelziige und Begleiterscheinungen
heben die Eigenart des Bildes noch scharfer hervor. Nur an die ver-
haltnismassig haufige Impotenz und Atrophie der Hoden mochte ich
hier noch einmal besonders erinnern.
Der vorstecheudste anatomische Zug ist eine weit verbreitete
Cirrhose der Muskulatur. Im Bereich des Nervensystems fanden wir
lediglich eine echte tabiforme Hinterstrangsdegeneration, die wohl nicht
als eine zufallige Komplikation, sondern als die anatomische Grund-
lage einiger der Begleiterscheinungen der Krankheit anzusprechen ist.
Die Entstehungsbedingungen der Rtickenmarksveranderungen sind wahr-
scheinlich mit der Grundkrankheit gegeben.
Literatur.
(Vergl. auch die Zitate im Text.)
1) Baumler-Reinhold, Arch. f. Psych. 8. S. 1 und Zeitschr. f. Ner-
venheilkde. 4. S. 189.
2) Berg, Muskelatrophie bei Thomsenscher Krankheit. Diss. Bonn 1904.
3) Bernhardt, Deutsche med. Wochensehr. 1899. S. 109.
4) Bettmann, Z. f. Nervenheilkde. Bd. 9.
5) Braun, Thomsensche Krankheit. Diss. Leipzig 1902.
6) Bregman, Neurol. Zentrlbl. 19(>8. S. 875.
7) Cassirer, Neurol. Zentrlbl. 1904. S. 39.
8) Hans Curschmann, Berl. kliu. Wochensehr. 1905. Nr. 37.
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104
VI. Steinert, Myopathologisehe Beitrage.
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9) Dana, zit. bei Hoffmann (15).
10) Del^age, zit. bei Hoffmann (15).
11) Frohmann, Deutsche med. Wochenschr. 1900. Ver.-Beil. S. 6.
12) Fuchs, Neurolog. Zentrlbl. 1905. S. 783 und Wien. klin. Wochenschr.
1904. S. 722.
13) Fiirnrohr, Z. f. Nervenheilkde. 33. S. 14.
14) Gaupp, Zentrlbl. f. Nervenhlkde. S. 65.
15) Hoffmann, Z. f. Nervenhlkde. IS.
16) Derselbe, Arch. f. Psych. 42. S. 259 u. Neurol. Zentrlbl. 1906. S. 576.
17) Jaquet, Semaine mdd. 1903. S. 3S1.
18) Jolly, Neurolog. Zentrlbl. 1896. S. 140.
19) Kornhold, Maladie de Thomsen. Th£se de Paris 1S97.
20) Lannois, Iconogr. d. 1. Salpctr. 1904. XVII. S. 450.
21) Longard, Deutsche med. Wochenschr. 1898. Ver.-Beil. S. 91.
22) Lortat-Jacob et Thaou, Arch, de neurol., 2. Serie. XX. 1905. S. 132.
23) Magneval, Des myotonies atrophiques, These de Lyon 1904.
24) Nogu£s et Sirol, Iconogr. d. 1. Salpetr. 1899. XII. S. 15.
25) Passler, Neurolog. Zentrlbl. 1906. S. 1064 5.
26) Pelizaeus, Berl. klin. Wochenschr. 1897. S. 609.
27) Pelz, Arch. f. Psych. 42. S. 704.
28) Rindfleisch, Z. f. Nervenhlkde. Bd. 33.
29) R os soli mo, Iconogr. d. 1. Salpetri^re. 1902. XV. p. 63.
30) Schonborn,Z. f. Nervenheilkde. 15- S. 274.
31) Schott, Z. f. Nervenhlkde. Bd. 21.
32) Steinert, Verhandlungen der medizinischen Gesellschaft zu Leipzig,
1904. Buchausgabe. S. 12.
33) v. Voss, Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie. 1900. Bd. 8. S. 85.
3-4) Voss, Z. f. Nervenheilkde. Bd. 34. S. 465.
35: Wer th eim-Salonion son, Ref. Neurol. Zentralbl. 1S99. 8. 223.
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VII.
Aus den radiologischen Instituten der allg. Poliklinik und des
Sanatoriums Fiirth in Wien.
Cber Wachstnmshemmnng des Skeletts bei spinaler Kinder-
lfthmung.
Von
Priv.-Doz. Dr. Robert Kienbock.
(Mit 5 Abbildungen im Text und 10 Hildern auf Tafel I. II.)
Die sogenannte spinale Kinderlahmung, Poliomyelitis anterior acuta
infantum, wurde ausftihrlich zuerst von J. Heine 1 ) (1840,1860) studiert;
er wendete seine Aufmerksamkeit auch dem Zustande des Skeletts an
den gelahmten Extremitaten zu. Nach Eintritt der Lahmung — sagt
Heine — magert nicht nur die Muskulatur ab, es bleibt vielmehr auch
das gelabmte Glied beira Vergleich mit dem gesunden allmahlich in
der Langsentwicklung zuriick, der Arm ist schliesslich oft um 1—2 Zoll,
das Bein oft um 2—6 Zoll ktirzer als das gesunde. Die Wachstums-
hemmung verteilt sich proportionell auf Hand, Vorder- und Oberarm,
auf Fuss, Unter- und Oberschenkel. Ferner sind die Knochen diiuner
als normal, dieEpiphysen und die iibrigeu normalen Kuochenvorspriinge
sind kleiner. Der Umfang der Patella, des Schulterblattes, der Schulter
ist oft um V 3 kleiner, das Becken kann z. B. nach 12 odor 20 .lahren
viel zu klein sein und dadurch in auffallendem Kontrast zmn kriiftig
gebauten Oberkbrper stehen. Nicht selten entstehen bei para- und
hemiplegischen Patienten laterale „paralytische“ Riickgratsverkrummun-
gen, die sich spater bis zu den grossteu Deformationen des ganzen
Korpers ausbilden konnen. Muskelatrophie und Knochenatrophie gehen
gewohnlich parallel, doch kann auch Missverhiiltnis zwischen beiden
bestehen.
In der Folge wurde die bei spinaler Kinderlahmung an den ge¬
lahmten Teilen vorhaudene Hypoplasie der Knoehen oft studiert —-
1) J. Heine, Lahmuntrszustantle tier unieren Kxtrmntiiten usiv. K. Kohler,
Stuttgart 1840, und Spinale Kinderlahmung (Monograjdiie). Cotta, Stuttgart
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106
VII. Kienbock
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fast von alien Neurologen —, handelte es sich doch um eine sehr haufige
Erkrankung und um augenfallige Erscheinungen. *)
Die Hypoplasie der Skelettabschnitte kann durch die Erkrankung
des Vorderhorns der grauen Rtickenmarksubstanz erzeugt sein und
so der Muskelatrophie und -hypoplasie gleichwertig sein; zum Teil wird
die Knocbenatropbie auf die Inaktivitat durch Labmung der Musku-
latur zurttckgeftihrt, ist dann dieser subordiniert Ausser der Unter-
entwicklung der Knochen gibt es aucb eine Stellungsanomalie der
Knocben und eine von Lahmung und Kontraktur abhangige Deforma¬
tion. Die Knocben sind aber nicht nur in ihrer Grosse und Form
schlecht entwickelt, sondern auch in ihrem GefQge, sie besitzen eine
dllnnere Kompakta (Diaphysen der Rohrenknochen) und weitmascbige
Spongiosa. Durch Bruchigkeit und angeblicb auch Erweichung kann
es zu Verbiegung, Infraktionen und Frakturen und somit weiteren
Formveranderungen kommen.
Im Radiogramm lassen sich die Knochenveranderungen sehr
schon erkennen. Der Schatten des hypoplastischen Robrenknochens
ist im Vergleich mit dem normalen knrzer, der diaphysare Teil stark
verdunnt, der epiphysare Teil weniger, aber auch verkleinert. Der
zarten Diaphyse scheinen zu grosse Epiphysen aufgesetzt zu sein. Der
Schatten ist ferner weniger dunkel als normal, namentlich am epiphy-
saren Abschnitt; hier sieht man auch weitmaschigere Strukturzeich-
nung, die dadurch besonders deutlich hervortritt Am Diaphysenteil
zeigt sich die Corticaliszone verdtinnt. Auch die oben genannten
Formveranderungen, Verbiegungen, Infraktionen usw. lassen sich gut
erkennen. 1 2 )
Auf Veranderungen des Thorax und des Beckens — die bisher
nicht haufig studiert worden sein durften — sei hier an der Hand
von mehreren bemerkenswerten Fallen von spinaler Kinderlahmung die
1) Was die „paralytisehe Skoliose“ nach spinaler Kinderlahmung betriflt,
so wird sie von Messner, Hoff a u. a. durch 3 Momente, charakterisiert: sie
fixiert sich erst spat oder gar nicht, es kommt nur selten zu hochgradiger
Rippenbuckelbildung uud die Achsendrehung der Wirbelsaule tritt sehr in
den Hintergrund.
2) Radiologische Untersuchungen bei Hypoplasie der langen Rohren-
knochen nach spinaler Kinderlahmung wurden verofi'entlicht: von Nonne, Uber
radiographisch nachweisbare akute und chronische Knochenatrophie bei Ner-
vcnerkrankungen. Fortschritte auf dem Gcbiet der Riintgenstrahlen. Bd. 5.
1901—1902. S. 293; Neurath, Uber selteuere Knochendeformitaten nach spi¬
naler Kinderlahmung. Wiener med. Presse 1901. Nr. 4 (Verlangerung der ge-
liihmten Extremitaten); v. Rutkowski, Ein Beitrag zum Rontgenverfahren
im Dienste der Neurologic. Oharit/’-Annalen 1904; Furnrohr, Die Rontgen-
strahlen im Dienste der Neurologie. Karger, Berlin 1906.
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Uber Wachstumshemmung des Skeletts bei spinaler Kindcrliihmung. 107
besondere Aufmerksamkeit gelenkt, und zwar namentlich soweit sich
die Veranderungen im Radiogramm nachweisen lassen.
I. Thoraxform.
Fall 1 . 34 Jahre alter Mann. Folgezustand nacli Polio¬
myelitis anterior acuta infant.: hochgradige Muskel- und
Knochenatrophie an der rechten Thoraxhalfte, rechten Schulter
und Oberextremitat, paralytischer Torticollis, paralytische
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108
VII. Kienbock
Skoliose, asymmetrischer paraly tischer Thorax. Die erste rechte
Rippe einen Tumor vortfiuschend.
Karl SI., 34 Jahre alt, Commis. Untersuchung am 9. Januar 1907,
ttbersandt von der chirurgischen Abteilung der Poliklinik (Professor
Alex. Fraenkel) zur Feststellung der Natur eines in der rechten Supra-
clavikulargegend vorhandenen, prominenten, knoclienharten, festsitzenden
„Tumors“ mittelst Rdntgenuntersuchung.
Patient, der die Lahmung des rechten Armes seit Kindheit hat und
vor 10 Jahren luetisch infiziert wurde, klagt fiber Schmerzen in der
Gegend des Tumors seit 1 Jahr.
Fig. 2.
Skizze zum Dorsalbild von Fall 1. Die arabischen Ziffern bezeichnen die
AVirbelkorper und dorsalen Teile der Rippen, die romischen Ziffern die ventralen
Rippenenaen. Die Rippen mit ungeraden Zahlen sind des leichteren Verstand-
nisses der Zeichnung wegen dunkler gehalten als die Rippen mit geraden Zahlen.
Zwerchfell, Herz- und Gef&sskonturen, sowie Trachea sind durch punktierte
Linien markiert.
Klinischer Befund. Mittelgrosser Mann; Knochenbau und Musku-
latur im nicht erkrankten Gebiet krfiftig. Uber den Lungen Erscheinungen
von Tuberkulose. Herzbefund normal.
Die Haltung des Patienten ist eine eigentttmliche: Der Hals erscheint
„nach vorne rechts verschoben“, die rechte Nackenschulterlinie ist stark
verkfirzt, der Kopf wird etwas nach vorne links vorgestreckt gehalten, das
Kinn ist gehoben und etwas nach rechts gedreht (char. Haltung bei Torti¬
collis paralytica durch Lfihmung eines M. sternocleidomastoideus, vgl.
Hoffa). Die Wirbelsfiule zieh tvom Lumbalteil in gerader Lipie schrfig
nach rechts oben; dadurch befindet sich die Kopfachse des Mannes in einer
Vertikalen, die den Fussboden lateral von der rechten Ferse trifft (paralytische
Skoliose durch Schwfiche der r. Rumpfmuskulatur). (Textfigur 1.)
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Uber Wachstumshemmung des Skeletts bei spinaler Kinderlahmung. 109
Die rechte Schulter ist nicht nur rauskelatrophisch, sondern auch
viel kleiner als die linke, die rechte Clavicula kflrzer and dflnner als
die linke. Der Thorax ist stark asymmetrisch und vorne auffallend flach.
Die Rippen ziehen von der Wirbelsaule sehr steil nach vorne unten,
namentlich rechts, daher liegt das Sternum mit dem Schultergtlrtel sehr
tief. Die Ebene z. B., in welcher die rechte 9. Rippe auf ihrem dorso-
ventralen Weg verlftuft, bildet mit der Yertikalen nur etwa 40°. Das
Brustbein liegt ferner schr&g und ist vom Ansatzpunkte der 3. Rippen-
knorpel abwirts deprimiert. Auch die anterolateralen Teile der Brustkorbes
sind links und rechts etwa von der 4. Rippe abwarts flach eingedrtickt
(asymmetrischer paralytischer Thorax).
Links ist die Muskulatur gut entwickelt, rechts dagegen sind M. cu-
cullaris, deltoideus, pectoralis, ferner die Muskeln des Oberarms, Vorder-
arms und der Hand hochgradig atrophisch. Der rechte Arm ist auch in
alien Teilen verkttrzt, die rechte Hand verkleinert Der rechte Arm ist
im Schultergelenk aktiv nur wenig beweglich, Halswirbelsaule und’Kopf
werden gut bewegt.
Die Thoraxtiefe betragt in mittlerer HOhe 18 V 2 cm, der Brustumfang
in MamillarhOhe 80 cm.
Lange des Armes
(Akromion bis
Mittelfingerspitze r * 72 '2’ 1 78 cnv
bei Streckung)
Umfang des Oberarmes r. 15,3, 1. 26,5 cm
„ „ Yorderarmes r. 19,5, 1. 26,5 cm
„ der Mittelhand r. 19,0, 1. 23,3 cm.
Radiologischer Befund. Obere Rumpfhalfte. Dorsalbild
(bei ROckenlage des Mannes, Focusplattendistanz ca. 80 cm). Der Schatten
der Dorsalwirbelsaule verlauft fast geradlinig von oben rechts nach unten
links, der Schatten des Sternum ist nicht zu sehen. Infolge der Skoliose
ist das rechte Thoraxfeld viel breiter als das linke. Die Schatten der
Rippen ziehen im Bogen weit nach abwarts (obwohl der Focus der Rohre
nicht weiter kopfwarts stand als etwa senkrecht Ober der Mitte des Corpus
sterni); so ist z. B. vou der 1. rechten Rippe das sternale Ende etwa 10 cm
weiter unten projiziert als das KOpfchen, von der 3. Rippe um 17,
von der 5. Rippe um 22 cm tiefer. Die Schatten der Schulterblatter liegen
tief (statt von der 2. bis 7. von der 4. bis 9. und 10. Rippe). Der
Schatten des rechten Schulterblattes liegt der Wirbelsaule viel naher als
der des linken und ist entsprechend der veritpderten Lage des Knochens
am Thorax anders gestaltet. Der obere Winkel des rechten Schulterblatt-
schattens ist vom Wirbelsaulenschatten 3 cm (gegen 9 cm links) entfernt,
wahrend die unteren Winkel beiderseits von dem Wirbelsaulenschatten
ziemlich gleich weit abstehen. Der Schatten des Akromion ist rechts viel
kleiner als links, noch grosser ist der Unterschied an den Schatten der
Schlttsselbeine; dieses erscheint rechts 13 cm lang (gegen 19 cm links), ver-
schmalert und aufgehellt, das sternale Ende ist aueh deformiert. Der
Schatten des ersten Rippenpaares ist auffallend hell, die Konturen ver-
laufen unregelmftssig — entsprechend hochgradiger Porose der Knoehen
und Jnfraktionen.
Die Zwerchfellkuppenlinie liegt beiderseits tief, der Ilerzschatten ist
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VII. Kienbock
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median gestellt. Einige unregelm&ssige Schattenherde in den Lungenfeldern
weisen auf Tuberkel hin.
Der Schatten der ganzen Schulter (Muskulatur) ist rechts klein und
hell, so z. B. auch des Cucullaris, so dass die 1. Rippe rechts der Haut-
oberfl&che genfthert erscheint. Der mit dem Finger in der rechten Supra-
clavikulargegend getastete knochenharte Tumor stellt nichts anderes als die
Konvexitat der 1. Rippe dar. Die Prominenz und leichte Tastbarkeit erklart
sich durch den steil abfallenden Verlauf der Rippe, den Tiefstand des
Schultergtlrtels und die Abwesenheit der normalen Muskelschicht. R. Hu¬
merus subluxiert. (Tafelflgur 1 , Skizze dazu in Textflgur 2.)
Radiogramme der Hande. Die rechte Hand erscheint in alien
Dimensionen kleiner als die linke, Knocben und Muskeln hypoplastisch;
natOrlich ist auch der Schatten heller.
Handlange (Radiusende gegenfiber Os lunatum bis Mittel-
fingerspitze)
Handbreite (in mittlerer Metacarpalregion)
Carpallange (Os lunatum proximal bis Os capitatum distal)
Lange des Metacarpus III
Lange der Grundphalanx des Mittelfingers
„ „ Mittelphalanx „ „
„ „ Endphalanx „ „
Die Endphalanx ist also an der affizierten rechten Hand zwar auch
schmachtiger, aber langer als an der linken Hand. (Tafelfiguren 2 u. 3.)
rechts
links
19,5
22,8
7.5
10,1
3,2
3,5
6,4
7,0
4,4
4,6
2,9
3,0
1,9
1,7
Ahnliche Falle von einseitiger Entwicklungshemmung des Thorax
bei spinaler Kinderlahmung wurden zuerst von Messner (Uber Asym-
metrie des Thorax und Kontrakturen der Wirbelsiiule nach Kinder¬
lahmung. Zentralblatt fflr Chirurgie 1892, Nr. 44) beobachtet.
Differentialdiagnostisch interessanter Fall.
Franz U., 34 Jahre alt, Untersuchung an der Klinik Professor
v. SchrOtters im Mai 1898.
Der rechte Ann des sonst wohlgewachsenen Manues ist um 10 cm
kiirzer als der linke, angeblich nach Erkrankung im dritten Lebensjahr.
(Niihere Details unbekannt.) Das rechte Schultergelenk ist ein
Schlottergelenk, der Muse, deltoideus sehr atrophisch, der Arm im
librigen aber imr wenig atrophisch. Koine Hautnarbe.
Das Radiogramm der Schulter zeigt, dass der Kopf des Humerus
fehlt, der obere Teil der Diaphvsc ist verdickt, unregelmassig abgerundet
und etwas durchsichtiger; weiter abwarts zeigt der Knocben normale Dicke
und Form. Das Schulterhlatt sclieint etwas verkleinert, namentlich die
Pfanne, die Processus acromialis und coracoideus aber kraftig entwickelt.
Clavicula verdiinnt. M. cucullaris und deltoideus atrophisch, Oberarm-
muskulatur genOgend voluminos. (Tafelflgur 4.)
Das Bild wurde vom Verfassei - im Wiener med. Klub am 23. November
1898 deinonstriert (Wiener klin. Wochenschrift 1898, S. 1163); damals
wurde der Fall als Folge von spinaler Kinderlahmung aufgefasst. Heute
glaube ich aber, es handle sich elier um die Folge eines Entztindungs-
prozesscs, noch •walirscheinlicher aber einer Geburtsverletzung.
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tjber \Vach8tnmshemmung des Skeletts bei spinaler Kinderltihmung. m
II. Beckenform.
Fall 2. 41 jahriger Mann. Schlaffe Paraplegie seit dem
5. Lebensgjahr. Ausser Muskolatrophie aucli bedeutende Hypo-
plasie des Beckens und der Unterextremitaten, welche dadurch
in starkem Kontrast zur krSftigen Entwicklung der oberen
Korperbafte stehen. Skoliose.
Georg P . .. k, 41 Jakre alt. Untersuchung des Mannes am 19.
November 1902.
Fig. 3. Fall 2.
Anamnese. Patient ist aus gesunder Familie aus Mistelbacli (Niedcr-
Osterreicb).
Im 5. Lebensjahre geriet er nach seiner Angabe unter die Pferde
eines Wagens und erlitt bedeutende Hautabschtlrfungen an den Unter-
schenkeln (jetzt sind an beiden Waden unregelmassige, verastelte, z. T.
eingezogene Hautnarben sichtbar); er war nicht gelahmt Er wurde durcb
mehrere Wochen im Bett gehalten und behandelt, konnte dann wieder
gut gehen und war weiterhin ganz gesund. Nach mebrercn Monaten
wachte er eines Morgen mit Paraplegie auf; sie hatte sich nachts
im Schlafe eingestellt, ohne dass Kriimpfe, Fieber etc. bemerkt worden
waren. Seitdem sind die Beine gelahmt. Keine Blasen- und Mastdarm-
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VII. Kienbock
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stOrungen. Geschlechtsfunktionen normal In der letzten Zeit ab und zu
Magenbeschwerden.
Klinische Befund. Der Mann bewegt sich auf der Strasse, wo er
bettelt, auf einem ganz niederen kleinen Wagen sitzend fort, indem er
mittelst einer Hebelvorrichtung die Rader dreht. Im Zimmer „geht er
mit den Httnden", indem er sich auf die Arme stQtzt und den KOrper
vorwarts hebt. Das rechte Bein lenkt er mit der rechten Hand, das linke
hat er in die rechte Leistenbeuge eingeschlagen. (Textflgur 3.)
Habitus. Es besteht ein grosser Kontrast zwischen dem sehr kraf-
tigen OberkOrper (Kopf, Hals, obere Rumpfhalfte und Armen) und dem
kleinen UnterkOrper mit den atrophischen gelahmten Unterextremitaten.
Kopf gut entwickelt, norraales Haupthaar, guter Bartwuchs, sehr gute
Inteliigenz, Pupillenreflexe normal. Thorax samt Muskulatur, ebenso die
Arme sehr kraftig entwickelt. Becken verhaltnismassig zu klein; Gesfiss-
muskulatur sehr atrophisch. Unterextremitaten fast vollstandig gelahmt;
sie sind hochgradig atrophisch und deutlich verkttrzt, nur die Gelenke
sind verhaltnismassig gross; Pes equinus, rechts mehr als links ausgespro-
chen. Haut der Unterschenkel starke behaart, Fttsse etwas cyanostisch.
Penis und Hoden gut entwickelt
Die linke Unterextremitat kann aktiv in keinem Gelenk bewegt werden,
die rechte Untererxtremitat im Kniegelenk gar nicht, in Httft- und Sprung-
gelenk ein wenig, in den Zehengelenken ziemlich gut Die Gelenke
zeigen Kontrakturen: Die Httft- und Kniegelenke kdnnen passiv nicht ganz
gesteckt werden, letztere nur bis zu einem Winkel von 120°. In den
Sprunggelenken ist nur sehr wenig Kontraktur.
Patellar- und Achillessehnenreflexe sowie Fussohlenhautreflexe fehlen.
Bauchdeckenreflex beiderseits lebhaft, ebenso Anal- und Kremastereflex.
Keine Spontanbewegungen in den Beinen.
Sensibilitat fttr alle Qualitaten normal, auch in der Genitoanal-
gegend und an den Beinen bis hinunter.
Im Dorsolumbalteil ist die Wirbelsaule stark nach rechts
skoliotisch mit Kyphose; weiter oben besteht leichte Linksskoliose. Be-
wegungen des Rumpfes beim Sitzen sehr gut. Patient kann sich auch
mit etwas Beihilfe der Hande vom Liegen am Rttcken aufsetzen, wobei
sich die Bauchmuskeln gut kontrahieren. Beim Liegen kann Patient — wenn
die gebeugten, aufwitrts sehenden Kniee festgehalten werden — auch das
Becken vom Boden aufheben und drchen. Wahrend die Gesttssmuskulatur
dttrftig ist, zeigt die Rttckenmuskulatur kraftige Ausbildung.
MaLle: Sitzhohe (Boden bis Scheitel) 80 cm. Siebenter Cervikaldorn
57 cm fiber dem Boden. Kopfumfang 57 cm, GesichtshOhe 19. Hals-
uinfang 40. Distanz Jugulum — Sym])hyse 54. Brustumfang 99, Bauch-
urnfang 90, Biakromialdistanz 42. Antero-posteriorer Thoraxdurchmesser
in Mamillarhdhe 22 1 / 2 , sagittaler Beckendurchmesser (Sacrum — Sym-
pliyse) 18 1 / 2 - Dist. crist. 24, spin. 21 l / 2 . Lange des Oberarms (Akro-
inion bis Olekranon) bei Beugung 33, des Yorderanns (bis Stylus ulnae)
26, der Hand (bis Mitteltingerspit/.e) 18 1 / i . Arnilange bei Streckung72. Um-
fang des Oberarms in der Mitte 33, des Vorderarms maximal 29, Faust-
breite 10 1 / 2 . Umfang des Oberscbenkels (Mitte) 27, der Wade 21, des
Mittelfusses 21 1 2 . Fussliinge r. 19 1 / 2 , 1. 20. Beinliinge (von Sp. a. s.
seitlich zum Knicgelcnksspalt und danu bis zur Soble) 72. Lange des
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Ober Wachstumshemmung des Skeletts bei spinaler Kinderlahmuog. 113
Oberschenkels (grosser Trochanter bis Patella bei Beugung) 39, des
Unterschenkels und deformierten Fusses (oberer Rand der Patella bis Sohle)
44, der Tibia 29, der Fibula 80 cm.
Die Hypoplasie des Beckens und der Unterextremitaten zeigt sich
besonders gut bei einem Yergleich mit den MaBen eines normalen
mittelgrossen Mannes.
Patient Normaler
Distantia cristarum. 24 31
Lange des Oberschenkels. 39 43
„ „ Unterschenkels (Tibia). 29 39
„ „ Fusses. 20 25
Umfang des Oberschenkels. 27 47
„ der Wade.21 37
Fig. 4. Fall 2. Skizze zum dorsalen Beckenbild.
Die VerkrUmmung dcr Wirbelsaule samt Hypoplasie des Beckens und
der GesSssmuskulatur hat zur Verkleinerung der SitzhOhe von 100 auf
80 cm geftlhrt.
Radiologische Untersuchung. Anteroposteriores Becken¬
bild (Dorsalbild), beim Liegen am RQcken bei 65 cm Focusplattendistanz
aufgenommen. Es liegt das Projektionsbild eines allgemein nahezu gleich-
mSssig verengten Beckens vor; das linke Sitzbein scheint etwas kleiner
als das rechte zu sein, entsprechend der vollstandigeren Lahmung der
linken Unterextremitat. (Textflgur 4.)
Zum Vergleich ist das unter ziemlich gleichen Umstanden aufgenom-
mene Radiogramm des Beckens eines gesunden Mannes herangezogen.
MaBe (durch Projektion stark vergrOssert, namentlich an den von
der Platte weit entfernten Teilen; so betragt die Dist. cristarum im Proj.-
Bild beim Pat. 29 statt 24, beim Gesunden z. B. 37^2 s t at t 31):
Deutsche Zeitschrift f. Nervenhellkunde. 37. Bd. 8
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114
VII. Ki exbock
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Patient
Gesunder
Hohe des Beckens .
... 20
26
Distant, cristar.
... 29
37 1 2
„ spinar. post, sup.
... 11
12 1 2
Querer Durchmesser des Beckeneingangs . .
. . . 13 \' 2
14 1 2
„ „ „ Beckenausgangs
(Tuber.
ischii) ca. 8 1 ,' 2
ca. 10
Distant, foss. acetab .
. . .15—1614V 2 — 15V 2
Distant, spinar. ischii .
... 9 V 2
10
Die Radiogramme vom Kniegelenk
und Fuss zeigen
nament-
lich die betrachtliche Verkleinerung der Knochen.
III. Allgemeine Hypoplasie des Korpers, „Infantilismus“.
Pall 8 . 25jahriges Madchen. Akat fieberhafter Beginn im
11. Lebensjahr, Zurtlckbleiben von hochgradiger schlaffer
atrophischer Lahmung der Hals- and Rumpfmuskalatur, hoch¬
gradiger Parese der Unterextremitaten, mittelgradiger Parese
der Oberextremitaten. Keine Sensibilitats- and Sphinkteren-
stbrungen. Hirnnerven and Psyche normal. Wachstumsstill-
stand des ganzen KOrpers. Neben der ausgebreiteten hoch-
gradigen Atrophie und Hypoplasie der Mnskeln Hypoplasie des
ganzen Skelettes, in der Grosso entspreohend dem 11.—12. Lebens-
jahre, aber Ossiflkation vollendet. Schlangenformige Skoliose
der Wirbelshule. KOrperlange 125 cm. Flaches Gesicht mit zu
kleinem Nasenraum und zu kleinen Nebenhdhlen. Fast voll-
standiger Mangel der Mammon. Periode ziemlich regelmassig.
Bedeutende Adipositas. Exitus nach 19jahrigem Bestand des
Leidens (mit 12jahriger Bettruhe) an den Folgen von eitriger
Proctitis im 30. Lebensjahre. Hochgradige ausgebreitete
Atrophie der Vorderhorner. Harnsaure Nierensteine. Kein
Decubitus.
Pauline B., 25 Jahre alt, Untersuchung auf der Abteilung von Prof.
H. Schlesinger im Kaiser Franz Josef-Spital am 15. November 1902.*)
Anamnese (von der Patient in selbst erhoben). Vater und Mutter
an unbekannter Krankheit gestorben, waren normal gewachsen, auch der
Bruder ist mittelgross. Patientin ist in Wien geboren, hat auch stets
bier gelebt. Sie hat mehrere Kinderkrankheiten durchgemacht, entwickelte
sich aber zun&chst normal, war dick und gesund. Im 11. Lebensjahre
kam eine fieberhaftc Krankheit, angcblich „IIirnliautentzQndung a , und
Patientin lag mehrere 'Page oder Woehen (?) zu Bett. Seither blieb eine
allgemeine Muskelschwache in alien Gliedern zurflck; Pat. wurde sogar all-
mahlich zunehmend schwitcher und vom 18. Lebensjahre an konnte sie
nieht mehr gehen.
1) Ieh bin Herrn Dr. Hitschmann dafiir zu Dank verpflichtet, dass er
mieh auf den Fall aufmerksam machte, und Herrn Prof. Dr. H. Schlesinger,
dass er mir das genaue Studium des Falles gestnttete. Herr Dozent Czyh-
larz war so freundlich, mir den Sektionsbefund von Ilerrn Prof. Kretz zur
Verfugung zu stellen.
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Ober Wachstumshemmung des Skeletts bei spiualer Kinderlahmung. H5
Am 5. Oktober 1897 (i. e. vor 5 Jahren, im 20. Lebensjahre) wurde Pat.
in das Spital mit akut fieberhafter Erkrankung aufgenommen. Die innere
Abteilung wurde damals von Professor H. Lorenz geleitet. Zundchst
schien Typhus vorzuliegen, dann trat am rechten Ohr MittelohrentzQndung
auf; die Temperaturen erreichten durch l&ngere Zeit 89°. Damals wurde
ein somatischer Zustand vorgefunden, der sich vom jetzigen nicht stark
unterscheidet. Passive Bewegungen waren zuweilen schmerzhaft, ebenso
waren die Knochen auf Druck mitunter schmerzhaft; auch traten hin und
wieder Schmerzen in den Gliedern und besonders im Kreuz und um den
Leib auf; haufig Kopfschmerzen. Eine Zeit lang musste Pat katheterisiert
werden, der Harn war frei von Eiter.
Die Menses traten im 13. Lebensjahre auf, waren anfangs unregel-
nuissig und schmerzhaft, in der letzten Zeit ziemlich regelmassig.
Vom 11. Lebensjahre an hOrte die Kranke anscheinend zu
wachsen auf, sic will sogar allmablich kleiner geworden sein (zunehmende
VerkrQmmungder Wirbelsaule). Im Jahre 1897 wurden die folgenden MaBe
erhoben: Kbrperlange 125 cm, Kopfumfang 52, Umfang des Obcrarms
17, des Vorderarms 16 %, des Thorax in Mamillarhohe 67, des Abdomens
in NabelhOhe 47, des Oberschenkels (15 cm oberhalb der Patellen) 32,
etwas Qbcr der Patella 26, der Waden 18 cm. Lange des Oberschenkels
(gr. Trochanter bis Patella) rechts 30, links 32, des Unterschenkels 27 cm.
Befund (Kienbflck) am 15. November 1902. Sehr fettleibiges, infantil
aussehendes, blasses Madchen. KOrperl&nge 125, Kopfumfang 52. Passive
RUckenlage, Temperatur normal, am Puls keine Besonderheiten. Respira¬
tion ruhig, keine Schmerzen in der Ruhe. Ruhiger Gesichtsausdruck.
Befund an Lungen, Herz, Leber und Milz normal. Harnlassen normal,
Harnbeschaffenheit normal. Stuhl nur durch Klysma, welches alle zwei
Tage gegeben wird.
Hautdecken recht blass, etwas trocken, wenig pigmentiert, Achsel-
hbhlen sehr feucht; Qberall sehr bedeutender straffer Panniculus, sowohl
im Gesicht als auch am kurzen Hals, am Rumpf und an den Extremitaten.
Entsprechend der hochgradigen Muskelatrophie und starken Fettsucht
zeigen die Formen, namentlich die Extremitaten, nicht die normale Muskel-
modellierung (Saulenform der Extremitaten). Achselhaare und Scham-
haare massig reichlich. Mammen nicht zu fOhlen, bier auch keine
besondere Fettanhaufung, Warzen kindlich.
Das Haupthaar der Kranken ist blond und ziemlich dicht (in der
letzten Zeit stark ausgefallen). Grosser rundlicher Kopf, Stirnhbcker vor-
stehend, grosses, auffallend breites und Baches, dickes Gesicht. Augen-
brauen gut entwickelt, Ohren proportioniert. Pupillen nach Form, Grosse
und Reaktion normal. Augendistanz ziemlich gross, Nase in den oberen
zwei Dritteln breit, Nasenwurzel nicht eingezogon. Kinn gut entwickelt.
Zabne sehr schlecht, viele sind gerissen, manclie karibs, so auch der rechte
obere Schneidezahn. Die unteren lateralen Schneidezahne besitzen halb-
mondformig excavierte Kronen; keine raehitisehen Furchen. Gaumen
hochgewOlbt Schleimhftute selir blass. Augenbefund normal. Geschmack,
GehOr normal. Keine Facialislahmung. Intclligenz gut, Geduchtnis sehr
gut, GemOtszustand entsprechend, Stimme ziemlich hoch, normal, Sprache
nicht gestbrt, nur durch Zahnverlust erschwert. Schilddrtlse nicht zu
ftihlen (kurzer Hals uuil ThoraxformitiU).
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VII. Kienbock
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Bedeutende Skoliose mit Verkrflmmung des Dorsalteiles nach rechts,
des Lumbalteiles nach links; dabei lftsst sich die Form der Wirbel-
saule durch passive Anderung der Lage sehr verandern. Angulos
Ludovici sehr stark vorspringend, der Rippenbogen ist rechts and links
weit abstehend, die Rander wie aufgekrampelt Rippenenden leicht verdickt.
Rumpflange (im Bogen gemessen vom Jugulum bis zur Scharaspalte) 50 cm.
Urafang der Brust in der HOhe des Rippenbogens 70 cm, des Leibes urn die
Hoften 74 cm. Die Oberextremitaten sind nicht verkrQmmt, sie reichen, wenn
ausgestreckt, bis zur Grenze des ersten und zweiten Drittels des Ober-
schenkels, 57 cm lang, Proportionen der einzelnen Teile normal, Hande
klein, gut geformt, Vorderarmknochenenden leicht verdickt. Mittelhand- und
Fingergelenke sehr schlaff, passive seitliche und dorsale Beweglichkeit ver-
mehrt Lange Armknochen auf Beklopfen nicht schmerzhaft, kaum biegsam.
Der Versuch, die Ober- und Unterschenkelknochen zu biegen, gelingt
bei massiger Gewaltanwendung kaum. Im linken Kniegelenk besteht
Subluxation der Tibia nach hinten. Pes equinus beiderseits. Lange der
U.-E. von Spina ant. sup. bei Streckung abwarts bis Ferse 70 cm, vom
Damm abwarts ca. 53 cm. Fusslange 18 cm. Ftlsse proportioniert gross,
Knochel nicht verdickt
Sensibilitat am ganzen Korper normal.
Drehungen des Kopfes gut, respiratorische Thoraxbewegung gut Die
Kranke kann sich nicht aufsetzen, und wenn man sie aufgesetzt hat, zeigt
sich, dass auch der Kopf gehalten werden muss, er wttrde sonst wegen
Lahmung der Halsmuskulatur herabfallen; doch kann Pat. beim Liegen
den Kopf vor-, rtlck warts und seitlich bewegen. Beim Befehl, sich auf-
zusetzen, spannen sich die Bauchmuskeln nicht an. Pat. kann sich von
der Rttckenlage mit dem Gesass nicht abheben, kann auch den Rumpf
nicht seitlich bewegen, nicht drehen: Rumpfmuskulatur ganz gelahmt.
Wenn Pat. ftlr das Bettmachen aufgehoben wird, hangen die KOrper-
teile wie tot herab; Pat. ist dabei angstlich und hat leichte Schmerzen
im Rilcken. Bauchdeckenreflexe erhalten.
Aktive Bewegungen in alien Gelenken der Arme durchftthrbar, Pat
kann die Schultern und Arme heben, aber alle Bewegungen sehr schwach;
Handedruck sehr schwach. Periostreflexe fehlen. Nirgends Hemmungen
(lurch Kontrakturen.
Die Unterextremitaten kOnnen ebenfalls in alien Gelenken aktiv ge-
beugt, gestreckt und gedreht werden, aber auch nur sehr schwach; die
Gelenke sind schlaff, nur beginnende Kontrakturen an den Sprunggelenken,
Pes equinus. Redressement schmerzhaft.
Radiogramme. 1. Kopf, seitlich. Der Schadcl scheint etwa nor¬
mal gross und normal dick, das Gesichtsskelett aber zu klein; die Nasen-
liohe ist zu niedrig, das ganze Gesichtsskelett viel zu flach (== zu wenig
vorspringend). Die Stirnholilen sind viel zu klein, der Unterkiefer aber
in den aufsteigenden und horizontalen Asten recbt gut entwickelt, die Alveolar-
fortsatzo des Unter- und Oberkiet'ers gut ausgebildet. Die Zahne sind nor¬
mal gross, es sind koine retinierten Zalnie zu finden. Die vordere Flucht
der Schncidczahuc liegt senkrecht, fast in einer Graden, die Zahne sind
nicht nach vorne gerichtet. Die Sella turcica ist von normaler Grdsse.
Atlas und Ejiistoplieus sind etwa normal gross, nach unten zu werden die
Halswirbel allmahlich etwas kleiner.
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Cber Wachstumshemmung des Skeletts bei spinaler Kinderlahmung. H7
Die Distanz der Verbindungslinie der vorderen Wande der beiden
Pori acustici externi zum Nasenstachel ist viel zu klein; sie betragt auf
der Platte 10 (gegen ca. 11 V? cm im Radiogramm normaler Schadel).
Distanz von der Basis der vorderen Schadelgrube (Lamina cribrosa
bis zum harten Gaumen 5 (normal 6), von bier bis zur Kinnspitze 7 cm
(normal ca. 7 x \ 2 ). (Tafelflgur 5.) Die Ma6e bezieben sich durchwegs
auf Radiogramme, sind also grosser als die tatsacblichen.
2. Thorax, Dorsalbild. Die GrOsse entsprichtetwa dein 11.—12. Lebens-
jahr. Es besteht hochgradige bogige Rechtsskoliose der ganzen Dorsal-
wirbelsiule. Hochstand der r., Tiefstand der 1. Zwerchfellhalfte. Im 1.
Lungenfeld kleine Schattenkerde, wie von tuberkulOsen Infiltrationen.
Quere Thoraxbreite in mittlerer HerzbOhe 25 cm (durch Proj. stark vergr., in
Wirklicbkeit ca. 18 cm?). Die Wirbelsbule ist so stark verbogen, dass der
6. Brustwirbel 8 V 2 cm weiter rechts liegt als der 12. Brustwirbel. (Tafel-
figur 0 und Textflgur 5.)
Fig. 5. Fall 3. Skizze zum dorsalen Thoraxbild.
3. Reckter Oberarin, Innenbild. Dicker Panniculus, sebr grazile
Muskulatur, etwa wie bei einem 11—12jahr. Kind; Biceps zu stark durch-
lassig (verfettet), Humerus sebr grazil, zu stark durchiassig, Lange 29 cm.
Ellbogengelenk klein.
4. Rechte Hand, Volarbild. Die GrOsse entspricht dem 11.—12.
Lebensjahr, die Ossifikation ist ganz vollendet, an den Plmlangen sind aber
noch die frbheren Knorpelzonen als Spongiosaverdichtung (Epiphysenmarken)
zu erkennen. Vorderarmknochen, Carpalien, Metacarpen und Phalangen sind
proportioniert und durchwegs deutlich atrophiscb (durchsichtiger, mit dllnuer
Corticalis, weitmaschiger Spongiosa). Die Metacarpen und Fingerknochen
sind dabei plump geformt. Handlbnge (proximale Flacbe des Lunatum
bis Spitze der Endphalanx des Mittelfingers) 14,6 und zwar Carpalteil
(Lunatum und Capitatum) 3,1, Metacarpus III 4,6, Mittelfinger Grund-
phalanx 3,3, Mittelphalanx 2,2, Endphalanx 1,3 cm. Ilandbreite in der
Linie des Metacarpophalangealgelenks Y samt Weicbteilen 6,6 cm. Musku¬
latur gut entwickelt. (Tafelflgur 7.)
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VII. Kienbock
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5. Becken, Dorsalbild. Lendenwirbelsftule nach links skoliotisch>
diese sowie Kreuzbein recht gut entwickelt. Das Becken hat die GrOsse
wie im 11.—12. Lebensjahr; es ist etwas asyrametrisch, quer verengt. Die
Oberschenkelknochen sind oberhalb des kleinen Trochanters gut entwickelt,
weiter abw&rts zu dttnn. Die Oberschenkelmuskulatur links ist sehr stark
durchlassig (atrophisch und verfettet). Das Radiogramm bildet mit dem
Ausdruck der linksseitigen Beckensenkung, Abduktion der linken und Ad-
duktion des rechten Beins ein Spiegelbild zu Fall 2.
MaCe ira Bild: Beckenhtthe 18 (Proj. vergr.), Dist. cristar. 25.7
(projektorisch vergr.). Dist. spin. post. sup. 4,7 (verwertbar). Distanz der
Pfannend&cher 19 (Proj. vergr.). Dist. spin. isch. 6,2 (verw.), Dist. for. acet. 10.
Beckeneingang quer 11 (Proj. vergr.), Dist. tub. isch.. (Beckenausgang quer)
4,8. Breite des Sacrum (Proj. vergr.) 11,7, Lange von Sacrum samt Coccyx
11,3 cm. (Tafelllgur 8.)
6. Rechtes Kniegelenk, medial. Gelenkenden atrophisch, mit
weitmaschiger Spongiosa. Femurdiaphyse grazil, oberhalb der Kondylen
leicht nach hinten abgebogen. Fibula ungemein dttnn. Oberschenkelmus¬
kulatur dttnn und sehr durchsichtig. Panniculus dick. (Tafelfigur 8.)
7. Rechter Unterschenkel, Hinterbild. Panniculus sehr dick,
Wadenmuskulatur sehr dttnn. Unterschenkelknochen in den Diaphysen sehr
schlank (Fibula besonders dttnn), in den Enden sehr atrophisch (weit-
maschige Spongiosa). Die Knochen erscheinen leicht S-f5rmig verkrttmmt:
die oberen Enden lateral, die unteren Enden medial abgebogen. Lange der
Tibia 29,7, der Fibula 30,5 cm. Fusswurzelknochen sehr atrophisch. (Tafel¬
llgur 10.)
8. Rechter Fuss, plantar. Plutnpe, aber atrophische Metatarsen und
Phalangen, Metatarsus III 5,8 cm, 3. Zehe 3,2 cm lang. Gelenke nicht
usuriert Dicker Panniculus. Fussbreite (Mittelfuss in der Mitte) 8,2 cm.
Charakterisierung des Skeletts. Das Skelett entspricht in der
Grttsse beilaufig dem eines 11—12 jahrigen Kindes. Die Ossifikation ist
vollendet; nur an den Phalangen sind noch Epiphysenmarken, i. e. un-
genttgend umgeformte Spongiosa an Stelle der Epiphysenzonen vorhanden.
Der Nasenraum und die NebenhOhlen sind klein, Schadel, Alveolarfortsatze
und Unterkiefer aber gross.
Das Skelett zeigt zahlreicke Deformationen: Die Wirbelsttule ist
hockgradig skoliotisch, das Becken zu klein, querverengt, namentlich im
Ausgang, und asymmctrisch. Die langen Rokrenknochen sind nur an
den Diaphysenkolben etwas verbogen, sonst gerade, sehr grazil. Das
gauze Skelett ist bedeutend atrophisch, in der Spongiosa porotisch, nicht
envcickt.
Verlauf. Durcli die folgenden Jahre blieb der Zustand auch weiter-
hin fast unverandcrt.
Ira Jahre 1907 stellte sich Fieber ein, Patientin wurde im Laufe
einiger Wochen schwiicher und es trat am 30. April 1907 Exitus ein.
Epikrise zum klinischen Befund. Es haudelt sich also bei
einem Miidchen um das akute Eiusetzen einer Erkrankung im 11. Lebens¬
jahr, sofort mit ausgebreiteten Liihmungen einhergehend, welche zum
Teil als atrophische, schlaffe Liihmungen zuruckbleiben und dann ganz
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Uber WachstumsbemmuDg des Skeletts bei spinaler Kinderlahmung. {\ 9
langsam fortschreiten. Es dfirfte demnach Poliomyelitis anterior
acuta vorgelegen haben mit Eintreten in auffallend spatem Lebens-
alter und mit selten grosser Ausbreitung (cervico-dorso-lumbal), viel-
leicht mit spaterem langsamen Fortschreiten. Hirnnerven, Spbinkteren
und Hautsensibilitat sind nicht gestort. Arme und Beine sind unvoll-
standig gelahmt, Bals- und Rumpfmuskulatur ist so bedeutend gelahmt,
dass Kopf und Rumpf, wenn sie nicht gestiitzt werden, wie tot herab-
fallen. Es besteht hochgradige, unfixierte paralytische Skoliose.
Yom 18. Jabre an Unfahigkeit, zu stehen und zu gehen. Zu Kontrak-
turen ist es nur an den Unterextremitaten in geringem MaOe ge-
kommen mit Pes equinus. Im 20., 25. und 30. Lebensjahr wird das
Individuum in einer Korpergrosse vorgefunden, wie sie etwa dem
11.—12. Lebensjahr entspricht Die Korperlange betragt 125 cm —
wenn man sich die Skoliose gestreckt denkt, wurde die Korperlange
etwa 130 cm betragen. Die Muskulatur ist an Rumpf und Extremitaten
und zwar an den Beinen viel mehr als an den Armen hochgradig atrophisch,
dunn und verfettet. Das Skelett ist ebenfalls hypoplastisch und atro¬
phisch, was zum Teil durch die im 11. Lebenjahr einsetzenden Lah-
mungen erklart werden kann (Inaktivitatsatrophie), z. T. aber direkt
durch Erkrankung der Vorderhorner im RQckenmark erzeugt sein
konnte. Der Panniculus ist sehr dick, das Allgemeinbefinden gut. Die
Rtickenschmerzen diirften einfaeh auf Subluxationen in den Wirbelge-
lenken beruhen. Die Menses sind im 13. Jahr aufgetreten, die Brust-
drtisen haben sich aber aus unbekannten Grfinden nicht entwickelt.
Entsprechend der Erhaltung der trophischen Zentren ffir die Haut
im Rtickenmark und der normalen Sensibilitat ist es durch die lange
Zeit der Bettruhe nicht zu Decubitus gekommen.
Die Diagnose konnte nach den anamnestischen Daten und nach
dem klinischen Befund 1902 mit grosser Wahrscheinlichkeit auf akute
Poliomyelitis anterior gestellt werden: man denke an den akut fieber-
haften Beginn mit zurlickbleibenden Labmungen und das Fehlen ini-
tialer Schmerzen — was gegen Neuritis spricht. Querschnittsrayelitis
kam nicht in Betracht, da spastiscke Symptome an den unteren Extre¬
mitaten: Steigerung der Patellarretlexe, Sensibilitats- und Sphinkteren-
storungen, fehlten.
Die von Herrn Professor Kretz am 1 . V. 07 vorgenommene Sek-
tion bestatigte die klinische Diagnose:
„Anatomische Diagnose: Chronische Atrophie eines grossen
Teiles der Vorderhorner des Brust- und Lendenmarks; eitrige
Proctitis; kleine Harnsaurekonkremente in beiden Nieren-
becken; verrucose Endocarditis.
Kleine, abgemagerte weibliche Leiclie, 114 cm lang, mit blasseu
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VII. Kienbock
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Decken und spfirlichen Totenflecken auf der Rfickseite. Breites Gesicht
mit niederem breiten Nasenrilcken; reichliches Kopfhaar; Conjunktiven
und Mundschleimhaut blass; leicht strumOs verdickter Hals. Thorax mit
im unteren Teil eingesunkenem Sternum. Brfiste klein, mit eingesunkenen
Warzenhbfen; Abdomen leicht eingezogen. Die Wirbelsaule im unteren
Brustsegment stark nach links ausgebogen. Die oberen Extremitaten
(54 cm vom Akromion bis zur Mittelfingerspitze) von kindlichem Habitus;
die unteren (60 cm vom Trochanter bis zur Fusssohle) sehr dfinn, rund-
lich, in Htlft- und Eniegelenk in halber Beugestellung und im Enie zu-
gleich nach hinten subluxiert; beiderseits Spitzfussstellung. Schamhaare
reichlich.
Sch&deldach 50 cm Umfang, kurzoval, dfinnwandig, die Eranznaht
im Mittelteile verstrichen und dementsprechend eine leichte Einsattelung
der SchadelwOlbung; Dura leicht abziehbar, innere Meningen zart und
ziemlich blutarm; das Gehirn blutarm, mit engen Ventrikeln. Spinal-
flfissigkeit klar, das Rfickenmark und seine Haute ziemlich blutreich (Hy-
postase bei Rfickenlage); die graue Substanz der VorderhOrner im
Brust- und namentlich im Lendenmark stellenweise ganz reduziert, die
Qbrige Zeichnung ohne nennenswerte Abweichung.
Rachenschleimhaut blass, Halsdrfisen klein; massige Eolloidstruma;
Fettgewebslappen von Thymusgestalt im vorderen Mediastinum. Beide
Lungen frei, wenig pigmentiert, fiberall lufthaltig, von massigem Blutgehalt
Im Herzbeutel wenig klares Serum, das Herz klein, kontrahiert, die
Aortenklappen und die Elappen des rechten Herzens intakt. Die
Mitralsegel miteinander an den Eommissuren etwas verwachsen, die freien
Rander verdickt und mit zahlreichen feinwarzigen, grauen-graurotlichen
Exkreszenzen besetzt Herzfleisch leichter zerreisslich; in der Aorta
in der Gegend der Sinus Valsalvae unregelmassige gelbe Flecken. Leber
unter dem geblahten Colon verborgen, klein, ziemlich blutreich. Etwas
vergrQsserte, scblaffe Milz mit grauroter Pulpa. Beide Nieren von ent-
sprechender GrOsse, embryonal gelappt, daneben kleine eingezogene
Herde in geringer Anzahl; am Schnitte die Zeichnung im allgemeinen
normal, nur den erwahnten Einziehungen entsprechend kleine Rindcn-
defekte fiber den Pyramidenstreifen. Schleimhaut des Beckens blass, etwas
verdickt und beiderseits ein paar hanfkorngrosse Eonkremente von
gelblicher Farbe. Blase fast ganz leer, in ihr ein ahnliches mohnkorn-
grosses Steinchen.
Genitale virginal, Uterus noch mit langer Cervix. Ovarien wenig
gekerbt.
Magen schleimhaut blass, mit ein paar kleinen Ekchymosen im pylo-
rischen Anteil; Dttnn- und Dickdarmschleimhaut gleichfalls ohne wesent-
licheu Befund; dagegen in der Flexura sigmoidea und im Rectum die
Schleimhaut von eitrigem Schleim bedeckt, fleckweise lebhaft injiziert,
aufgelockert und im Rectum fiber dem Sphincter tertius ein paar seichte
talergrosse Geschwfire mit eitrigem Grund.
An den grossen Mu skein der unteren Extremitaten und des Rfickens
neben ihrer zarten Beschaffenheit fettig-gelbe Streifung von verschiedener
Ausdelinung."
Der Fall verdient wie ersichtlich sowohl in allgemein neurolo-
gischer Hinsiclit als auch namentlich wegen des Wachstumsstillstandes
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Deutsche Zeitschrift f. tlervenhellkunde, 37. Band.
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Uber Wachstumshemmung des Skeletts bei spinaler Kinderlahmung. 121
besonderes Interesse; man kann in gewissem Sinne von Infantilismus
sprechen. Die ausgedehnte Vorderhornerkrankung des Riickenmarks
mit ausgebreiteten Lahmungen hat zu hochgradiger Hypoplasie des Ske¬
letts gefuhrt, das in seiner Grosse dera 11.—12. Lebensjalire entspricht,
aber keine epiphysaren Knorpelzonen mehr enthalt. Auch das Genitale
und die BrQste sind unentwickelt geblieben.
Ahnlich lokalisierte, fast generalisierte Hypoplasien des Skeletts
kommen sowobl bei anderen Muskelerkrankungen der Kindheit vor, so
bei neurotischer und idiopathischer Muskelatropbie, als auch bei infan-
tiler Polyarthritis. 1 )
Bemerkungen zur Tafel I and II.
Die Originalradiogramme sind gemeinsam, also auf dasselbe
MaB verkleinert, auf etwas unter i j 3 der natfirlichen Grosse. Da-
durch konnen die Grossenunterschiede der Korperteile bei den Kranken leicht
erkannt werden, uamentlich die hochgradige Hypoplasie im Falle 3 (Fig. 5—10).
Man vergleiche iusbesondere die Grosse von Fig. 1 und 6, von Fig. 3 und 7.
1) Eienbock, Hochgradige Wachstumshemmung des Korpers nach in-
fantilem chronischen Gelenkrheumatismus. Wiener Gesellschaft fur innere Me-
dizin. 5. VI. 1902. Algyogyi, Infantile Polyarthritis chronica mit Hypoplasie
der Rohrenknochen und Halswirbel. Ebendaselbst 1. IV. 1909.
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vni.
Mitteilung aus der Nervenklinik der konigl. ungar. Universitat in
Budapest (Direktor: Prof. Dr. Ernst Jendrassik).
Uber die Erkrankung des Zentralnervensystems bei
Polyneuritis degenerativa.
Von
Dr. Franz Herzog,
Assistent.
(Mit 8 Abbildungen.)
In letzterer Zeit vermebren sich die Beobachtungen von Polyneu¬
ritis mit Veranderungen im zentralen Nervensystem. Diese Verande-
rungen konnen teilweise als sekundare betracbtet werden, als Folge der
pathologischen Prozesse in den peripheren Nerven, teilweise sind diese
Veranderungen aber derartig, dass man sie mit der peripheren Er¬
krankung nicht in ursachlichen Zusammenbang bringen kann. In
letzterem Falle kann man die zentralen Veranderungen nur dadurcb
erklaren, dass das schadigende Gift nicht nur auf das periphere Nerven¬
system, sondern auch auf das zentrale direkt einwirkte und auch hier
Veranderungen verursachte. Nicht bei der rheumatischen, sondern bei den
infolge Giftwirkung entstandenen Polyneuritiden wurden haufig zentrale
Veranderungen gefunden. Der Nachweis der haufigen Beteiligung des
Zentralnervensystems ist vom pathologischen Standpunkt jedenfalls
wichtig, jedoch ist er auch prognostisch nicht gleichgultig, da die
Prognose durch die zentrale Erkrankung ungtinstiger wird.
In dem ersten meiner Falle sprachen die klinischen Symptome
entschieden fur die Beteiligung des Zentralnervensystems, in dem
zweiten wurde dies durch die mikroskopische Untersuchung nach-
gewiesen.
Fall 1 . R. N., 25 Jahre alt, Beamter, wurde am 15. IV. 1903 auf
die Nervenklinik aufgenommen. Seine Eltern leben und sind gesund.
Zwei altere Gesclnvister sind gesund, zwei Gescliwister starben jung an
unbekannter Kranklieit. Von Krankheiten im Kindesalter erwfthnt der
Patient, dass er sieli als 7jahriger Kuabe den rechten Arm verrenkte und
dass er im neunten Lebensjahre drei Tage angeblich wegen Sonnenstich
das Rett luitete. Vor fttnf Jahren hatte er ein Ulcus durum, das nach
zwei Monaten lieilte. Damals waren auch die Leistendrttsen angescbwollen,
sie waren jedoch nicht schmerzhaft. Einige Monate spiiter bekam er am
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Uber die Erkrankg. d. Zentralnervensy stems bei Polyneuritis degenerativa. 123
ganzen KOrper einen Ausschlag and es entstanden am den After GeschwOre.
Zu dieser Zeit machte Patient eine drei Monate dauernde Quecksilberkur.
Seither gebrauchte Patient jahrlich zehn Einreibungen und nahm ausser-
dem zeitweilig Jodkali. Wahrend dieser Zeit hatte er oft heftige Kopf-
sclunerzen, die besonders nachmittags auftraten. Seit einigen Monaten
liatte er oft reissende Schmerzen in den Beinen. Vor zwei Wochen musste
er wegen starken Schwindels einen Tag lang liegen.
Seine jetzige Krankheit begann eine Woche vor seiner Aufnahme mit
Parasthesien in der Gegend des Afters und im rechten Oberschenkel.
An diesen Teilen empfand er BerQhrungen nicht so deutlich wie an anderen
Stellen. Zur selben Zeit warden seine Beine schwacher und auch das
Kauen fiel ihm schwer. Die Kraft der Beine nahm rasch ab und Dach
vier Tagen konnte er nicht mehr gehen. Auch das Schlingen wurde
sohlecht, er verschluckte sich, er musste oft husten, beim Trinken floss
die FlOssigkeit durch die Nase heraus und kompakte Speisen konnte er
kaum hinunterschlucken.
Das Knochensystem und die Gelenke des gut entwickelten, mittel-
niiissig genabrten, etwas blassen Kranken sind normal. Die Schleimhaute
sind blass, vergrOsserte LymphdrQsen sind nicht vorhanden. An den
inneren Organen ist nichts Pathologisches nachweisbar. Sein Appetit ist
gut. Er hat Stuhlverstopfung und beim Beginn des Urinierens muss er
warten. Der Urin enthalt keine fremden Bestandteile. Seine Temperatur
ist bei der Aufnahme 36°, der Puls 80.
Untersuchnng des Nervensystems. Das Runzeln der Stirn, das
Schliessen der Augen und Zeigen der Zahne ist nicht gestdrt und geschieht
beiderseits gleich. Der Kranke beklagt sich jedoch, dass ihm beim
Sprechen das Bewegen des Mundes schwer falle. Die Zusammenziehung
der Kaumuskeln ist kraftlos. Die Zunge bewegt sich gut. Das Schlucken
gelingt unvollkommen, ein Teil des Bissens gelangt in die Nase. Der
weiche Gaumen bewegt sich gut und beiderseits gleichfbrmig. Die Be-
wegungen des Halses, der oberen Extremitaten und des Rumpfes sind nor¬
mal und auch die Bauchmuskeln kontrahieren sich gut. Die Kraft aller
dieser Muskcln ist ungefahr normal.
Der Kranke kann in der RQckenlage seine unteren Extremitaten nicht
heben, das Streckcn und Beugen der Ober- und Unlerschenkel gelingt in
geringem Grade. Die Bewegungen der FOsse und Zehen sind nicht be-
schrankt, die Kraft der Beine ist sehr stark vermindert, er kann weder
stehen noch gehen. Die rechte Unterextremitat ist etwas starker als die
linke.
Die Muskeln sind nicht atrophisch, ihr Tonus ist normal: die Unter-
extremitaten kdnnen bis zu 85° Ober die Wagcreclite gchoben werden.
Die Patellar- und Tricepssehnenreflexe sind vorhanden. Die Achilles-
sohnenreflexe sind schwer auslosbar. Die Sohlenrctlcxe zeigen Bcugetypus,
die Bauch-, Kremaster- und Inguinalreflexe sind auslosbar. Die olektrische
Erregbarkeit der Muskeln ist normal, es bestcht keine Ermildungsreaktion.
Vom Nabel abwhrts fOhlt er die Pinselbertthrungen schwacher, sonst
ist die BerOhrungsempfindung normal. Schmerz-, Kiilte- und Warmesinn
sind nicht beeintrachtigt. Die Nervenstiimme sind nicht druckemptindlich.
Der Kranke fOhlt Kribbeln in den Beinen, im Bauch unter dem Nabel
und in der rechten Hohlhand.
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VIII. Herzog
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Die rechte Pupille ist weiter als die linke and reagiert tr&ge bei
Belichtung and bei Accomodation. Die Reaktionen der linken Pupille sind
normal. Die Bewegungen der Augen sind nicht beschr&nkt. KOrper-
gewicht 65 Kilo.
16. IV. Es werden Einreibungen mit grauer Salbe verordnet (tag-
lich 4 g). Der Kranke trank tagsflber wenig Milch, abends konnte er
jedoch nicht mehr schlucken. Ernahrung per rectum. Temperatur 86,8 °,
Puls 88.
16. IV. Die Sprache ist nhselnd. Temperatur normal. Puls 88.
18. IV. Morgens spricht er kaum verstandlich, abends bessert sich
die Sprache etwas. Er kann nichts schlingen und kann den Mund nicht
bffnen. Hochste Temperatur um 4 Uhr nachmittags 37,8 °. Puls morgens
100, nachmittags 120. Atmung 20. Abends Sublimatinjektion (0,05).
Die Inunktionen bleiben weg.
19. IV. Er kann seine Zunge kaum herausstrecken. Sie weicht da-
bei nach links. Die Bewegungen des weichen Gaumens sind unvollkommen.
Temperatur um 35,5°. HOchste Temperatur abends um 10 Uhr: 86,7°.
Puls vormittags 100, nachmittags 116. Die Atmung ist etwas erschwert.
20. IV. Retentio urinae. Ernahrung durch die Magensonde. Tem¬
peratur morgens 35,4°, Puls 100. Nachmittags steigt die Temperatur
langsam, um 8 Uhr ist sie 89,2°, dann sinkt sie wieder. Um 12 Uhr
nachts 37,1°. Puls nachmittags 4 Uhr 120. Schweres Atmen.
21. IV. Besserung der Sprache und der Zungenbewegungen. Tem¬
peratur 36,9°, Puls 88. Katheterisieren. Ernahrung durch die Sonde.
22. IV. Der Kranke sieht am linken Auge nicht deutlich. Die linke
Pupille ist weit und reagiert weder bei Belichtung, noch bei Accomodation.
Die rechte Pupille ist mittelweit und reagiert gut Herpes an den Lippen
beiderseits, besonders an der Unterlippe. Temperatur normal. Puls 88.
Katheterisieren. Ernahrung wie gestern.
23. IV. 0,05 g Sublimat Temperatur normal. Puls 84. Ernah¬
rung wie gestern. Gesichtsmuskeln fast vollkommen gelahmt. Das Zu-
sammenziehen der Lippen, das Pfeifen gelingt nicht Die Augen kann
der Kranke kaum schliessen. Die Sensibilitat im Munde ist intakt. Die
Zunge bewegt sich schlecht und weicht beim Hervorstrecken nach rechts
ab. Der weiche Gaumen bewegt sich nicht, die Uvula weicht nach links
ab. Katheterisieren. Urotropin.
24. IV. Temperatur normal. Puls 84. Vollstandige Lahmung der
unteren Extremitaten, nur die Bewegung der Zehen ist erhalten.
25. IV. Die elektrische Erregbarkeit aller Muskeln ist normal.
27. IV. Die Kraft der oberen Extremitaten ist vermindert. Das
Schlingen gelingt mit Mtlhe.
28. IV. Das Schlingen geht gut. 0,05 g Sublimat Die Zunge
bewegt sich besser. Die linke Pupille reagiert auf Licht und bei Acco¬
modation.
1. V. 0,05 g Sublimat. Die Bewegungen der Zehen bessern sich.
Die oberen Extremitaten sind starker. Die Muskeln und die Nerven-
s tarn me sind druckempfindlich. Der Kranke hat im ganzen Kdrper
Schmerzen.
4. V. Ilaufiger Harndrang. Im Urin ist ein wenig Eiter vorhanden.
Temperatur abends 8 Uhr 38°, Puls 104. Blasenspillung.
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Uber die Erkrankg. d Zentralnervensy9tems bei Polyneuritis degenerativa. 125
5. V. Temperatur morgens 38,6°, Puls 98.
6. V. Der Kranke ist fieberfrei. 0,05 g Sublimat.
13. V. Sublimatinjektion. Das Katheterisieren bleibt weg.
25. V. Die geiahmten Muskeln reagieren auf faradischen Strom
nicht, bei Reizung mit galvanischem Strom entstehen tr&ge Zuckungen.
Anode = Kathode. Beim Beklopfen der Patellarsehnen entstehen in den
beiden Mm. quadricipites Zusammenziehungen, die Unterschenkel bewegen
sich jedoch nicht.
26. V.—5. VI. Der Zustand des Kranken besserte sich langsam.
Das Schliessen der Augen gelingt. Die Kraft der H&nde ist unver&ndert.
Den rechten Fuss kann er bewegen. Die Empfindlichkeit der Muskeln
und der Nerven ist geringer. Elektrisieren, Massage, lane Bader. Blasen-
spttlung. Protylin.
14. VI. Ham normal. Die Muskeln und Nerven sind nimmer em-
pfindlich.
10. VIII. Sehr langsame Besserung der Lahmungen. Korpergewicht
55 Kilo.
6. IX. Die Patellarsehnenreflexe sind gut auslosbar. Die gelahmten
Muskeln sind wieder faradisch erregbar. Kathode > Anode. Die Erregbar-
keit vom Nerven aus ist gut. An den unteren Extremitaten ist der Tonus
vermindert, besonders an der linken.
28. X. Der Kranke ist starker. Er kann mit UnterstQtzung stehen.
16. XI. In den Muskeln der unteren Extremitaten sieht man fasci-
kuiare Zuckungen.
14. I. 1904. Der Kranke kann gehen, wenn er auf der einen Seite
unterstotzt wird und sich ausserdem auf einen Stock stotzt
Am 8. II. 1904 verlasst er die Klinik.
Am 17. XI. 1904 sucht er wieder die Klinik auf. Inzwischen hat er
90 Einreibungen mit Quecksilbersalbe gemacht, ausserdem wurde er elek-
trisiert, massiert und gebrauchte Bader. Sein Gang ist etwas spastisch.
Die Patellarsehnenreflexe sind gut auslSsbar. Die Achillessehnenreflexe
sind schwach. Beiderseits ausgesprochenes Bab inski sches Symptom. Fuss-
clonus besteht nicht. Der Kranke leidet an geringen Urinbeschwerden
und an Obstipation. Die Zuckungen der Muskeln sind noch immer trage.
26. V. 1905. Die Harnbeschwerden sind geringer. Zeitweilig be-
stehen reissende Schmerzen in den Armen und Beinen. Kein Intentions-
zittern, kein Nystagmus. Der Gang ist spastisch, die Kniee reiben sich
aneinander. Die Patellarsehnenreflexe sind gesteigert. Babinski vorhanden.
Die Achillessehnenreflexe sind schwer auslosbar. Kein Fussclonus. In
den Muskeln sieht man fascikulare Zuckungen. An der Innenseite des
linken Unterschenkels besteht eine Hypasthesie von Handgrdsse.
15. XI. 1907. Der Zustand des Kranken ist beiuahc unverandert. Er
hat zeitweilig reissende Schmerzen in den Extremitaten. In letzter Zeit
entstehen oft schmerzhafte Zusammenziehungen in den Beinen, die seinen
Gang stCren. Wahrend des Gehens kreuzen sich seine Kniee. Beim Uri-
nieren muss er noch immer pressen. Die unteren Extremitaten sind
hvpertonisch, sie kdnnen gestreckt bis ungefahr 60 " gelioben werden. Die
Patellar- und Achillessehnenreflexe sind gesteigert. An beiden Flissen
Babinskisches Zeichen. Die Sensibilitiit ist intakt. Der Kranke kann
nur auf einen Stock gestiitzt gehen. Die linke Pupille ist weit, die reclite
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mittelweit, sie reagieren gut bei Belichtung und bei Accomodation. Die
elektrische Erregbarkeit der Muskeln ist normal. Vor einem halben Jahre
erkiiltete sich Patient. Damals wurde seine linke Hand schwach. Dies
besserte sich, die Kraft der linken Hand ist jedoch auch jetzt noch herab-
gesetzt.
Bei dem 25jahrigen Kranken, der vor 5 Jahren ein Ulcus durum acqui-
rierte, entstaud ziemlich rasch eine Lahmung der Beine, der einige
Monate dauernde reissende Schmerzen vorausgingen. Die Schwache
der Beine nahm schnell zu, so dass der Kranke nach vier Tagen
nicht mehr stehen konnte. Zu dieser Zeit hatte er Parasthesien in den
Beinen. Damals war seine rechte Pupille weiter und ihre Licht- und
Accomodatensreaktion trage. Alsbald entstanden Schlingbeschwerden,
die FlUssigkeit floss beim Schlingen durch die Nase zuriick, und beim
Uriniren musste er pressen. Dann verbreitete sich die Lahmung auf
andere Gehirnnerven, auf die Nervi faciales und die motorischen Teile
der Trigemini, auf die Nn. hypoglossi, auf die Schlingmuskeln, und am
linken Auge entstand eine Accomodationslahmung mit Erweiterung
undStarre der Pupille. Wahrend dessen wurde die Lahmung der unteren
Extremitaten fast vollstandig. Auch die oberen Extremitaten wurden
schwach, das Schlingen wurde unmoglicb, die Sprache kaum verstand-
lich, und es entstand Harnretention. Hierzu kamen unregelmassige
Temperaturerhohungen, zeitweilig subnormale Temperaturen, wahrend
der Puls auch bei normaler Temperatur frequent war. Auch Atem-
beschwerden bestanden haufig. In den Beinen, im unteren Teil des
Bauches und in der rechten Hand hatte der Kranke Parasthesien.
An den unteren Extremitaten fuhlte er die Pinselberuhrungen schwa-
cher. Die Haut- und Sehnenreflexe waren auslosbar, die Achilles- und
Patellarsehnenreflexe waren schwach. Am Ende der zweiten Woche
begann eine geringe Besserung in diesem schweren Zustand. Die
Sprache wurde verstandlicher, die Bewegungen der Zunge besser
und der Puls war weniger frequent. Die elektrische Erregbarkeit
der Muskeln war zu dieser Zeit noch normal. Nach einigen Tagen
ging auch das Schlingen wieder, die oberen Extremitaten wurden
kraftiger und die linke Pupille reagierte wieder auf Licht und
bei Accomodation. Auch die Motilitat der unteren Extremitaten
begann zuriickzukehren. Damals hatte der Kranke im ganzen
Korper Schmerzen und die Nerven und Muskeln waren druck-
emptiudlich. Nach einem Mouat kann der Kranke wieder spontan
urinieren. Anfaugs der siebenten Woche wurde in den gelahmten
Muskeln Entartungsrecktion nachgewiesen. Dann besserte sich die
Lahmung sehr langsam, die Druckschmerzhaftigkeit der Muskeln und
Nervenstamme wurde geringer, die Patellarsehnenreflexe wurden gut
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Uber die Erkrankg. d. Zentralnervensystems bei Polyneuritis degenerative 127
auslosbar, die faradische Errregbarkeit der Muskeln kebrte zurQck,
es entwickelte sich jedoch eine Hypotonie an den unteren Extremi-
taten. Sieben Monate nach Beginn seiner Krankheit kann der Kranke
wieder aufrecht stehen.
Die Symptome und der Verlauf in dieser Periode der Krankheit
machen es unzweifelhaft, dass es sich um eine akute Erkrankung des
peripheren Nervensystems handelte. Die rasch entstehende und sich
schnell verbreitende schlaffe Lahmung der Muskeln, deren baldige
Besserung in manchen Gebieten, die Entartungsreaktion, die Beteiligung
der Gehirnnerven oder von Teilen derselben, die Hypasthesie der
unteren Extremitaten, die Parasthesien in diesen, im Bauch und der
rechten Hand, die Druckschmerzhaftigkeit der Nerven und Muskeln,
die Schmerzen vor Beginn der Lahmungen sprechen entschieden dafur,
dass der Kranke an Polyneuritis litt. Ungewohnte Erscheinungen
sind bei dieser Krankheit das Erhaltensein der Sehnenreflexe, auf
dessen Bedeutung in unserem Falle ich noch zurtickkommen werde,
und die bedeutenden Urinbeschwerden. Ersteres wurde schon ofter
beobachtet, und manchmal waren die Sehnenreflexe sogar erhoht.
Auch die Poliomyelitis konnte in unserem Falle in Betracht kommen.
Dies ist jedoch unwahrscheinlich, da stiirkere Schmerzen und die
Druckschmerzhaftigkeit der Nerven und Muskeln nicht zu den Sym-
ptomen dieser Krankheit gehoren. Auch die Beteiligung der Gehirn-
nerven spricht mehr flir Polyneuritis und die Blasenstorungen passen
noch weniger in das Krankheitsbild der Poliomyelitis, als in jenes
der Polyneuritis. Die Entwicklung der Symptome ware fur die akute
Poliomyelitis zu langsam, fur die subakute zu rasch. Endlich spricht
noch flir Polyneuritis, dass spater alle Symptome verschwanden, die
auf der Erkrankung der peripheren Neurone beruhten.
Der Kranke meldete sich ungefahr 1 1 / 2 Jahre nach Beginn seiner
Krankheit wieder an der Klinik. In dieser Zeit war in seinem Zu-
stande schon eine bedeutende Veranderung eingetreten, es bestand
namlich auf beiden Fussen Babinskisches Zeichen. Sein Gang hatte
sich etwas gebessert, er ist aber ein wenig spastisch geworden. Nach
6 Monaten untersuchten wir den Kranken wieder. Der Gang war in
grosserem MaBe spastisch, die Patellarsehuenreflexe waren lebhaft und
in den Muskeln konnte man fascikulare Zuckungen beobachten. Die
Achillessehnenreflexe waren noch immer schwer auslosbar, und an der
Innenseite des linken Unterschenkels war die Haut hypasthetisch.
Nach 2 V 2 Jahren wurde der Kranke neuerdings untersucht. Er nimmt
eine Veranderung seines Zustandes nicht wahr. Beim Gehen stort
ihn die Hypertonie der Beine. Die Patellar- und Achillessehnenreflexe
sind erhoht, Babinskisches Zeichen an beiden Fussen. Die Sensi-
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VIII. Herzog
bilitat ist intakt. Die elektrische Erregbarkeit der Nerven und Mus-
keln ist normal.
Nach der Besserung der Polyneuritis entstanden also Symptome, die
entscbieden fur eine Erkrankung des Zentralnervensystems sprechen.
Die Hypertonie der unteren Extremitaten, die gesteigerten Sehnen-
reflexe, der Extensionstypus der Sohlenreflexe, der spastische Gang
weisen auf die Erkrankung des zentralen motorischen Neurons bin.
Wahrend dessen besserte sich die Funktion der peripheren Neurone,
die Sensibilitatsstorungen verscbwanden und auch die Entartungs-
reaktion bildete sich zuruck. Die fascikularen Zuckungen in den
Muskeln deuten vielleicht auf die Beteiligung der motorischen Zellen
des Buckenmarks. Nach 4 V 2 Jahren bestehen jedoch noch Blasen-
storungen und die linke Pupille ist noch immer weiter.
Die Symptome der zentralen Erkrankung verschlimmerten sich
nur sehr wenig wahrend langer Zeit (3 Jahre). Zur selben Zeit faud
aber auch eine Btickbildung der peripheren Symptome statt, so dass
es unentschieden bleibt, ob die zentrale Veranderung Fortschritte
machte, oder ob die scheinbare Verschlimmerung der zentralen Sym¬
ptome vielleicht nur darauf beruhte, dass durch Heilung des peripheren
Prozesses die zentralen Symptome offenbar wurden. Wegen der sehr lang-
samen Verschlimmerung halte ich es fur wahrscheinlich, dass auch das
Zentralnervensystem in der ersten Periode der Krankheit, zur Zeit der
Polyneuritis, erkrankt ist, und dass dies nur darum nicht nachgewiesen
werden konnte, weil die peripheren Symptome die zentralen verdeckten.
Dass das Zentralnervensystem zu dieser Zeit erkrankte, daftir spricht
weiter, dass die Sehnenreflexe wahrend der Polyneuritis nur schwacber,
aber nicht verschwunden waren, was auf die Erkrankung der Pyramiden-
bahnen bezogen werden kann. Ebenso waren die Blasenstorungen, die
wahrscheinlich zentralen Ursprungs waren, da sie nach der Btickbildung
aller peripheren Symptome fortbestanden, schon im Beginn der Krank¬
heit’vorhanden, was auch auf die gleichzeitige Erkrankung des peri¬
pheren und zentralen Nervensystems hinweisen wiirde. Es ist also
sehr wahrscheinlich, dass die Erkrankung des Zentralnervensystems
wiihrend der Polyneuritis erfolgte, nach deren Heilung die zentralen
Symptome sich kaum verschlimmerten.
Schwer zu bestimmen ware die Art der zentralen Veranderungen.
Das Krankheitsbild, welches sich nach der Heilung der Polyneuritis
entwickelte, entspricht teilweise der luetischen Paralysis spinalis spa¬
stica Erbs 1 ). Das fur diese Krankheit charakteristische Verhalten, in
1) Erb, liber die spastische und die svphilitische Spinalparalyse und ihre
Existenzberechtigung. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 23. 1903.
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Uber die Erkrankg. d. Zen train erven systems bei Polyneuritis degenerativa. 129
dem bei verhaltnismassig geriDger Hypertonie das Gehen durch sehr
starke Spasmen gestort wird, war auch in unserem Falle vorhanden.
Widersprechende Symptome sind jedoch, dass der Kranke bei der
letzten Untersuchung keine Sensibilitatsstorungen aufwies und dass er
zeitweise Schmerzen hat. Letztere konnten peripheren Ursprungs sein,
ebenso wie die Schwache der linken oberen Extremitat, die einige
Jahren nach dem Beginn der Krankheit entstand und auch am Ende
unserer Beobachtung noch nachweisbar war. Fiir sehr unwahrschein-
lich halte ich es, dass eine transversale Lasion des Rtickenmarks die
zentralen Symptome bedingt, da ein entsprechendes Krankheitsbild zu
keiner Zeit bestanden hat. Transversale Erweichungen wurden bei
Polyneuritis beschrieben (Eisenlohr 1 )). Ob kleine herdformige Er¬
weichungen oder ob systematische, sogenannte primare Degenerationen
die zentralen Symptome verursachen, das kann nicht entschieden werden.
In Folgendem werde ich noch offers den Ausdruck „primare
Degeneration** gebrauchen. Damit will ich nur darauf hinweisen, dass
die Anatomie dieser Degeneration sich von jener der sekundaren unter-
scheidet. Erstere beginnt am Ende der Nervenfaser, letztere egreift
gleichmassig die gauze von ihrer Zelle getrennte Faser. Mit dem
Wort „priraar“ will ich nur auf diesen Unterschied hinweisen, ich
will jedoch damit nicht eagen, dass die Degeneration der Nervenfaser
wirklich primar entsteht. Es ist moglich, dass auch diese Degenera¬
tion sekundar der Erkrankung der Nervenzelle folgt und dass sie sich
nur darum von der" sekundaren Degeneration anatomisch unterscheidet,
weil der Einfluss der Zelle auf die Faser nicht plotzlich aufhbrt.
Die Atiologie dieses Falles will ich nur kurz besprechen. Ausser
der Syphilis war nicbts atiologisch Wichtiges vorhanden. Zwar be-
gann die Polyneuritis erst 5 Jahre nach der Infektion, was nach den
bisherigen Beobachtungen (Cestan 2 ), Remak 3 )) ein verhaltnismassig
langer Zeitraum ist, doch ist andererseits bekannt, dass die syphilitiscke
Spinalparalyse meistens im 2.—6. Jahre nach der Infektion beginnt
(Erb 4 )). In Betracht kommen konnte noch die langdauernde Queck-
silberbehandlung des Kranken. Der atiologische Einfluss des Queck-
silbers kann nicht ausgeschlossen werden, und wenn ich diese
Erkrankung doch eher fiir syphilitisch halte, weil eine intensive
1) C. Eisenlohr, Uber Landrysehe Paralyse. Deutsche med. Wochen-
sehrift. 1890.
2) R. Cestan, La polyndvrite syphilitique. Nouv. Iconogrnpkie de la 8al-
petrit-re. XIII. 1900.
3) E. Remak, Neuritis und Polyneuritis. 1904. Nothnagels spez. Path,
und Therapie.
4) 1. c.
Deutsche Zeltschrift f. Nervenhetlkniule. 37 . Bd. 9
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Quecksilberbehandlung lange (5 Jahre) vor Beginn der Krankheit ge-
macht wurde, so glaube ich doch, dass die Erkrankung des Nerven-
systems nicht in syphilitiscben Veranderungen, sondern in toxischen
Degenerationen besteht.
Pall 2 . H. B., 49 Jahre alt, Maschinist, wurde am 15. VIII. 1907
aufgenommen. Sein Vater starb an einer uubekannten Krankheit im
56. Lebensjahre, seine Mutter 72 Jahre alt an Alterschwache. Fhnf Ge-
schwister leben und sind gesund. Der Kranke erinnert sich nicht in
seiner Kindheit krank gewesen zu sein. Als er 22 Jahre alt war, acqui-
rierte er ein GesehwQr. Daraals machte er 10 Einreibungen mit grauer
Salbe. Im 23. Jahre litt er angeblich an Bleikolik; sein Bauch war
aufgebliiht und er hatte tagelang keinen Stuhl. Nacliher war er 3 Mouate
kr&nklich. Er heiratete mit 25 Jahren. Eines seiner Kinder starb 21 Jahre
alt an Lungentuberkulose, zwei leben und sind gesund. Einmal abortierte
seine Frau. Im 39. Jahre hatte der Kranke angeblich wieder eine
Bleivergiftung, er litt damals an Obstipation und er hatte ungefahr
4 Monate lang Schmerzen in den Armen und Handen. Die Vergiftungen
wurden angeblich durch Minium verursacht Seit 3 Jahren arbeitet er
selten mit bleihaltigen Substanzen. Seit 4—5 Jahren trinkt er taglich
0,8 Liter Wein, ausserdem nocli Bier und Kognak.
Seine Krankheit begann Anfang August 1907 mit Kribbeln in den
Fingern der rechten Hand und spater in den Beinen. Nach einigen Tagen
versptlrte er plotzlich eine Schwache in den Beinen, das Kribbeln wurde
starker und es entstanden Schmerzen in den Knieen und in den FOssen.
Am 5. August konnte er nicht mehr gehen und die Schmerzen wurden
sehr heftig. Seither kann er das rechte Auge nicht ganz offnen. Es ent-
stand Meteorismus und die Lebergegend wurde empfindlich. Schon kurz
vor Beginn seiner Krankheit bemerkte er, dass er beim Uriniren pressen
und warten musste, und dass der Urin sich anfangs nur tropfenweise
entleerte. Seit dem 8 . VIII. musste er taglich katheterisiert werden. Er
hat oft heftige Kopfschmerzen und Parasthesien in der rechten Kiirper-
lialfte. Seit Beginn der Krankheit leidet er an Obstipation.
Das Knochensystera des ziemlich grossen, abgeinagerten Patienten ist
normal. Die Hautfarbe des Kranken ist kachektisch, die Schleimhaute
sind blass. Kein Bleisaum. Die Lymphdrftsen sind nicht vergrossert.
Die Lungen und das Herz sind normal. Die Arteria brachialis pulsiert
sichtbar. Geringer Meteorismus. Der Bauch ist etwas diuckempfindlich.
Durch die diinnen Bauchdecken sieht man den Rand der Leber, der tiefer
stcht und konsistenter ist. im Harn ist wenig Eiweiss vorhanden. Die
Eiterprobc ist positiv. Im Sediment sind zalilreiche Plattenepithelzellen
und Leukocyten; Zylinder wurden nicht gcfundeu.
Der Kranke kann nicht stohon, er kann sich im Bette ohne Hilfe
nicht aufsetzen. Die Muskulatur der unteren Extremitaten ist schlaff, der
Tonus der oberen Extremitaten ist normal. Die passive Bewegliehkeit ist
nicht behindert. Das rechte obere Augenlid hiingt hcrab, diese Augen-
spalte ist schmaler. Reclits gelingt das Runzeln der Stirn weniger gut
als links, das Schliessen des rechten Auges erfolgt mit geringerer Kraft
als links und beim Zeigen der Zalme bleibt der rechte Mundwinkel zurhek.
Die Augonbewegungen sind frei. Koine Diplopie. Die lvaumuskeln funk-
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Uber die Erkrankg. d. Zentralnervensvstems bei Polyneuritis degenerativa. 131
tionieren gut, der weiche Gaumen bewegt sich gut. Das Schlingen ist
nieht behindert. Die Halsmuskeln sind intakt. Der Brustkorb erweitert sich
beira Atmen normal, das Zwerchfell bewegt sich entsprechend. Die aktiven
Bewegungen der oberen Extremitaten sind normal. Die Beine sind fast
vollkommen gelahmt, der Kranke kann nur die Zehen bewegen. Bei Be-
wegungsversuchen erfolgen zwar in den Muskeln Zusammenziehungen, es
entstehen jedoch keine Bewegungen. Die FUsse befinden sich in Plantar-
flexion. Die elektrische Erregbarkeit der Muskeln ist normal.
Die Patellar- und Achillessehnenreflexe sind nicht auslosbar. Die
Tricepsreflexe und Bauchreflcxe sind vorhanden. Die Sohlenreflexe haben
Beugetypus. Kein Fussklonus.
Auf den Zehen, den Fussrttcken und den Sohlen, am Bauch oberhalb
des Nabels und an der vorderen Flache der rechten Brusthalfte bis zur
H6he der Mamilla ist Analgesie vorhanden. Im Bereich der Analgesic
auf der Brust ist die Haut hypasthetisch. Die Obrigen Scnsibilitatsarten
sind intakt.
Die Pupillen sind mittelweit, gleich und reagieren sowohl auf Licht
wie bei Accomodation. Der Augenhintergrund ist normal. Das Geh5r ist gut.
Den Kranken beobachtete ich bis zu seinem Tode, der nach 2 1 I 2 Mo-
naten eintrat. In den ersten Wochen nach seiner Aufnahme verschlimmerten
sich die Symptome. Die Schraerzen in den unteren Extremitaten wurden
immer heftiger, so dass wir neben anderen schmerzstillenden Mitteln
alsbald auch Morphium geben mussten. Die Schmerzen waren konstant,
brennend-reissend und setzten auch ktlrzere Zeit nicht aus, im Gegensatz zu
den tabischen Schmerzen. Die unteren Extremitaten waren bei passiver Be-
wegung und auf Druck stark schmerzhaft. Die Druckschmerzhaftigkeit
war in der Umgebung der Gelenke am grOssten, eine umsehriebene Schmerz-
haftigkeit der Nervenstamme war jedoch nicht vorhanden. In den Gelenken
konnte keine Veranderung nachgewiesen werden. Die Schmerzen erreichten
in der dritten Woche nach der Aufnahme ihren Hohenpunkt, spater wurden
sie geringer und in den zwei letzten Wochen seines Lebens hatte der
Kranke keine Schmerzen. Kurze Zeit (wahrend den ersten 9 Tagen seines
Aufenthalts in der Klinik) hatte der Kranke Kribbeln in der rechten
Gesichtshalfte, ohne dass hier eine Sensibilitatsstorung naehweisbar ge-
wesen ware. Eine Untersuchung am 6. IX. ergab, dass die Ausdehnung
der Sensibilitatsstorung fast dieselbe wie bei der Aufnahme war, nur
hatte sich auch am Bauch und an den Ftlssen eine Anasthesie entwickelt.
Die Sensibilitat der tieferen Teile schien auch jetzt intakt zu sein. Die
Prttfung der Bewegungsempfindung war jedoch nicht verlasslich wegen der
Schmerzhaftigkeit der passiven Bewegungen.
Mit dem Heftigerwerden der Schmerzen wurde auch die motorisehc
Lahmung schwerer. Am 18. VIII. beklagte sich der Kranke Uber Doppelt-
sehen. Es entstanden ungekreuzte Doppelbilder beirn Blick nach rechts.
Diese Diplopie blieb fast vier Wochen unverandert, danu war sie zwei
Wochen zeitweilig naehweisbar, urn spater zu verschwinden. Auch die
Lahmung der unteren Extremitaten verschlimmerte sich in den ersten
Wochen bis zur vdlligen Paralyse, danu begann aber eine langsame
Besserung; zuerst konnten die Zehen, dann die Fflsse bewegt werden.
Die Bewegungen waren nicht ataktisch. Die Facialisparese und die Ptosis
bestanden anfangs unver&udert, dann besserten sich beide langsam und ver-
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schwanden nach einem Monat vollstiindig. Einige Male bekam der Kranke
dyspnoische Anfaile, die Bewegungen des Zwerchfells waren jedoch nicht
beeintrachtigt.
Die elektrische Untersuchung ergab acht Tage nach der Aufnahme
verminderte faradische und galvanische Erregbarkeit der beiden Nn. peronei.
Die faradische Erregbarkeit der entsprechenden Muskeln Avar auch berab-
gesetzt, die Kathode war ein grbsserer Reiz als die Anode. Nach vier Wochen
bestand totale Entartungsreaktion in diesen Nerv’en und Muskeln. Anode
Kathode. Spater kehrte die Erregbarkeit zurfick, so dass einige Tage
vor dera Tode des Kranken diese Muskeln soAVohl direkt als auch indirekt
mit dem faradischen und galvanischen Strom erregbar waren. DieZuckungen
waren aber auch damals noch tr&ge.
Die Blasenstorungen blieben vier Wochen unverandert, der Kranke
musste bestandig katheterisiert werden. Spater konnte der Kranke spontan,
obwohl nur mit Mtthe urinieren. Wahrend der ganzen Dauer unserer
Beobacktung litt er an Obstipation. Der Puls des Kranken Avar fast immer
frequent (um 100).
Der Kranke war bis 10 Tage vor seiuem Tode immer fieberfrei.
Dann hatte er anfangs kleinere, spater grossere (bis 39,2°) und mit Schfittel-
frost einsetzende unregelmassige Temperaturerkcihungen. Zugleich war fiber
beiden Lungen hinten unten Rasseln horbar, perkutorisch war jedoch keine
Verfinderung nachweisbar. Vollstandige Appetitlosigkeit erschwerte schon
vom Beginn der Krankheit an die Ernahrung, so dass der Kraftezustand
des Kranken immer schlechter wurde und mit dem Auftreten des Fiebers
ganzlich verfiel. Am 29. X. 1907 trat der Tod ein.
Schon bei der Aufnahme fiel uns das labile Gemfit des Kranken auf.
Sehr leicht fing er zu weinen an, man konnte ihn jedoch schnell mit einigen
Worten beruhigen. Im fibrigen benahm er sich aber ganz normal und
war vollkommen orientiert. Er verstand die an ihn gerichteteten Fragen
und beantAvortete sie richtig. Drei Wochen vor seinem Tode fing er an,
des Nackts unruhig zu werden und sprach wachend vieles, Avas auf eine
unrichtige Beurteilung seines Zustandes deutete. So Avollte er trotz seiner
vollstandigen Unbeholfenheit aufstehen, um nach Hause zu gehen, und
forderte seine Kleidung.
In einer Nacht sprach er darUher, dass er einen Sack voll Gries
irgemhvohin bringen miisse. Morgens erziihlte er, dass man ihm den Gries
stehlen wollte, und er den Dieben nachgelaufen sei. Doch schien er nicht
ganz sicker darin zu sein, ob dies alles auch Avirklich geschehen sei.
Ein ander Mai beschaftigte er sich mit scinen Genitalien und brachte diese
mit den Maschinen, die er zu versorgen hatte, in Zusammenkang. Einmal
erzahlte er morgens, dass ilm sein Nachbar in ein Gasthaus ffihrte und
ihn betrunken lnackte und dass die fibrigen Giiste ihm zugerufen haben,
er solle sicli ruhig verkalten. Er hake dort gescklafen und sei erst
morgens zurfiekgekomrnen. In Zusammenkang mit dieser Tiiusckung
Avar Avahrscheinlich, dass er seines Rodens Avegen in jener Nacht von
den Kranken otters zur Rulie ermahnt Avurde. Das vor kurzer Zeit Ge-
scheliene vergass er sehr leicht. Es Avusste die Tageszeit nicht anzugeben,
er Avusste nicht, Avas er zu Mittag gegessen hatte und wer ihn den
vorigen Tag besucht hatte. Manchmal erkannte er seine Sclnvester nicht,
dann liielt er die Warterin ffir seine Sclnvester und erkannte sie erst, als
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tber die Erkrankg. d. Zentralnervensy stems bei Polyneuritis degenerativa. 133
er auf seinen Irrtum wiederholt aufmerksara gemacht wurde. Yon seinen
Tauschungen ausgehend kann man ihn zum Erzahlen anderer Tauschungen
bringen.
Die Sektion ergab keine makroskopischen Veranderungen im Zentral-
nervensystem und in den peripheren Nerven. Nur Qber dem Brustmark
waren die weichen Haute mit der Dura mater verwachsen und etvvas dicker
und grauweisslich verfSrbt. Pathologisch-anatomische Diagnose (Dr. F u s z e k):
Nephritis interstitialis chronica. Hepatitis interstitialis chron. Bronchitis
diftusa. Pneumonia catarrhalis bilateralis. Emphysema minoris grad,
pulm. Endo- et Mesoarteriitis chronica def. aortae ascendentis et arcus
gravis, aortae thoracicae in vestigiis. Degeneratio parenchymatosa minoris
gradus myocardii. Atrophia et anaemia univ. Oedema pulmonum.
Durch die mikroskopische Untersuchung konnten ausgedehnte Ver¬
anderungen im peripheren und zentralen Nervensystem nachgewiesen werden.
Ausser der Marchischen und Weigertschen Methode benutzte ich Far-
bungen mit Hamatoxylin-van Gieson und mit Thionin.
Auf diese Weise wurden Sttlckchen aus jedem zweiten Segment des
Rtlckenmarks behandelt. Die Veranderungen waren auf Marchipra-
paraten am starksten und am meisten ausgedehnt. In dem Sakral-, Lum-
bal- und unteren Brustmark (Fig. 1 und 2: 4. Sakral- und 2. Lumbal-
segment) sieht man in den Ilinterstrangen zahlreiche schwarze Kbrner,
die entschieden einer bedeutenden Degeneration entsprechen. Die Seliollen
sind fast gleichmassig auf den ganzen Querschnitt der Hinterstrange vcr-
teilt, nur im ventralen Feld sind sie etwas sparlicher. In dem oberen
Brustmark ist die Degeneration alinlieh, nur sind in dem iiusseren Ab-
sclmitt der Burdachschen Strange weniger Seliollen. Vom 6. Dorsal-
segment (Fig. 3) aufwarts kommt zu der bescliriebenen eine Degeneration
der Seitenstrange hinzu, deren Ausdelinung den Kleinhirnseitenstrangbahnen
entspricht und die in den hoheren Segmenten immer starker wild. In dem
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134
VIII. Herzog
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Halsmark (Fig. 4 and 5: 5. and 1. Cervikalsegment) ist diese Degeneration
noch bedeutender. Sie erreicht die grosste Ausdehnung in den obersten
Cervikalsegmenten. Die Degeneration der Hinterstrilnge ist bier ahnlich
vie ira oberen Brustmark. Auch die Lissauersche Zone enth< zahl-
reiche Schollen.
An den Marchi-Prtiparaten ist auch in den vorderen und hinteren
Wurzeln eine Degeneration sichtbar. Diese ist in den hinteren Wurzeln
des Lumbal- und Sakralmarks am st&rksten, wo man die degenerierten
Fasern bis in das Hinterhorn verfolgen kaun. Sparlicher sind die Schollen
in den hinteren Wurzeln des Dorsalmarks und noch weniger Schollen
sind in den vorderen Wurzeln vorhanden. Im Sakralmark ist auch
der intramedullare Teil dieser Wurzeln degeneriert. Ich will noch er-
wahnen, dass die Marchi-Praparate tadellos gelungen sind, die nicht
erkrankten BOndcln waren frei von Schollen.
Die mit der Weigert- Palschen Markscheidenfarbung hergestellten
Praparate bestarken diesen Befund, nur war die Degeneration bei dieser
Farbung weniger ausgesprochen und in manchen Bttndeln Dberhaupt nicht
nachweisbar. An Langsschnitten erscheinen die degenerierten Fasern ddnner,
stellenweise verdickt. Zwischen den Fasern befinden sich zahlreiche kugel-
fOrmige und langliche Schollen. Einzelne Fasern werden durch kaum
gefiirbte Abschnitte in Segmente geteilt. Im caudalen Teil des RQckenmarks
sind die Hinterstrange gleichmassig degeneriert, im Halsmark ist nur in
den Gollschen Strangen eine ausgesprochene Lichtung der Fasern zu
sehen, wahrend die Burdachschcn Strange nur etwas lichter erscheinen.
Im Dorsalmark sind die' Fasern im Schultzeschen Komma und im ven-
tralen Feld ziemlich gut erhalten. Die hinteren Wurzeln des Lum¬
bal- und Sakralmarks sind gelichtet, die vorderen Wurzeln zeigen keinen
Faserausfall. Die Veranderung der hinteren Wurzeln nimmt nach oben
stetig ab.
In derselben Ausdehnung erscheint die Degeneration auf den mit
Hiiinatoxylin-van Gieson gefarbten Praparaten. Die Markscheiden
farben sich in den degenierten Biindeln schwach, sie besitzen keine scharfe
Grenze, die Achsenzylinder sind stellenweise nicht erkennbar. In der
Kleiuhirnseitenstrangbahn ist weder an diesen, noch an den Weigert-
Praparaten eine Veranderung zu sehen. Die Pia is verdickt, das Binde-
gewebe ist um die Gefasse vermehrt, die kleinen Gefasse scheinen zum
Teil weiter zu sein, ihre Wand ist dicker. Blutungen land ich nicht. Am
ganzen Querschnitt des RGckenmarks sind Amyloidkorperehen zerstreut, am
zahlreichsten liegen sie jedoch in den Hinterstrangen und den Hinter-
hornern. Hier sind aueii die Gliakerne vermehrt. Ausserdem sind die
Hinterstrange gleichmassig durchloehert. Nirgeuds fand ich eine Er-
weichung oder eine kleinzellige Infiltration.
An den mit Thionin gefarbten Sehnitten (Alkoholfixation) zeigten
die Zellen der Vorderhbruer eine Veranderung. die auch bei Hama-
toxylinfiirbung teilweise erkennbar war. Diese Veranderung ist im Sacro-
lumbalmark am starksten. An einzelnen Sehnitten fehlt die Granulation
in alien Zellen und auch der Zell kern fehlt oder er liegt am Rand der
Zelle. Viele Zellen enthalten Vakuolen, manehe Zelle wird davon fast
ganz ausgefullt. Bei schwacher Vergrosserung erscheinen die Zellen
homogen, bei starker sieht man in ihnen sehr feine unregelmassige KOrn-
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Uber die Erkrankg. d. Zentraluervensystems bei Polyneuritis degenerativa. 135
chen. Einige Zellen sind sehr pigmentreich. Im Dorsalmark werden diese
Veranderungen geringer und im Cervikalmark findet man kaum mehr eine
veranderte Zelle. Die Zellen der Spinalganglien und der Clarkeschen
Saulen waren unverandert.
Die Degenerationen im Rtlckenmark kdnnen an Marchi-Praparaten in
das verlangerte Mark verfolgt werden: die der Hinterstrange bis zum
Nucleus funiculi gracilis und cuneati, jene der Kleinhirnseitenstrangbalm iu
in das Corpus restiformc, wo zahlreiche Schollen vorhanden sind (Fig. 6).
An diesen Schnitten sieht man auch eine Degeneration in der sensiblen
Wurzel dcs Trigeminus und im Fasciculns solitarius. In den Wurzcln der
in der Gegend der Brllcke und der Vierhfigel entspringenden Gehirnnerven
Fig. 7.
ist eine Degeneration mit Bestimmtheit niclit erkennbar. In der Gross-
hirnrinde (es wurden Sttlckc aus beiden Lobi frontales, Gyri praecentrales
und Lobi occipitales untersucht) und im Kleinhirn ist der Befund negativ.
An nach Weigert gefarbten Schnitten derselben Hirnteile ist keine
Faserverminderung wahrnehmbar. Mit H&matoxylin-Picrofucksinfarbung
faud ich nirgends eine Erweichung. Im Stirnlappen waren einige kleine
Blutungen vorhanden, die aber nur die Gefasse umgaben und kein Gewebe
zerstOrten. Manches Gefass enthalt kein Blut, sondern eine homogene braune
Masse. An Thioninpraparaten erscheinen die Zellen der genannten Hirn¬
teile normal.
Ausserdem untersuchte ich die Nn. ischiadici und peronei. Auch in diesen
sind die Veranderungen an March i-Praparaten am starksten. Die Schollen
sind aber auf dem Querschnitte der Nerven niclit gleichmassig verteilt,
sondern die einzelnen kleinercn Faserbtiudelchen sind in sehr verschiedenem
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136
VIII. Hkrzog
Grade degeneriert. Einige derselben enthalten Qberhaupt keine Schollen,
andere nur wenige und nianche sind mit Schollen ganz angefOllt.
Dasselbe kann man auch an Liingsschuitten beobacbten. Aknliche
Bilder geben die nach Weigert und die mit Hamatoxylin-Picrofuchsin
gefiirbten Schnitte. An ersteren ist der Faserausfall in den Btlndelchen
sehr verschicden, einige derselben scheinen normal zu sein; an letzteren
entsprecben die starker rot gefiirbten Stellen den degenierten Fasern.
Bei Weigertscher Fiirbung erselieiuen auf Langsschnitten die Mark-
scheiden der degenerierten Fasern als Reihen von Schollen, oder sie
fiirbcn sich tlberhaupt niclit. Diese VerSnderung erstreckt sich aber oft
nur auf einzelne Abschnitte der Nervenfasern, so dass degenerierte mit
Fig. 8.
normalen Strecken abwecliseln. Ausserdem sind die Markscheiden stellen-
weise in Segmente zerfallen, wie das Strtimpell 1 ) besclirieben bat. Im
Bindegewebe der Nerven ist nicbts Abnormes, namentlich konnte ich keine
kleinzellige Infiltration linden.
Aneli die heidcn Mm. tiliiales antici wurden untersucht. Bei Marchi-
Beliandlung sielit man in manehen Muskelfasern, liiiutig innerhalb eines
Bilndels. reilienformige schwarze Seliollen. Bei Hiimatoxylin-v. Gieson-
Farbung Ft an Querselinitten (Fig. 7) die verschiedene Dicke der Fasern
auffallig. I in allgemeitien sind die Fasern diinner (zirka 35 ft) und eine
ziemlieli grosse Anzalil i>t selir dtinn /.. B. 12x20 fi). Einige Fasern
1) A. Striimpell, Beitriige zur Patlndogie und pathologischen Auatomie
tier multipleri Neuritis. Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 04.
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Uber die Erkrankg. d. Zentralnervensystems bei Polyneuritis degenerativa. 137
sind hingegen sehr dick (80—90 fi). Meistens sind in einem Bllndel nur
1—2 solcke Fasern. In einigen dicken Fasern sieht man zahlreiche
(10—15) scharf begrenzte Vakuolen (Fig. 7). Hier kann man im Innern
dieser Fasern Zellkerne beobachten. Zwischen den Fasern ist das Binde-
gewebe etwas vermehrt, doch konnte ich weder hier, noch in der Um-
gebung der Gefasse klcinzellige Infiltration beobachten.
Auch an Langsschnitten ist die verschiedene Faserdicke gut walir-
nebmbar. An den dickeren Fasern ist die Querstreifung gut erhalten, an
ilon dQnnen ist sie verschwommen oder verschwunden. An diesen sieht
man oft eine Langsstreifung. Die Kerne der Fasern sind vermehrt. Sie
sind zura Teil langlich, spindelfOrmig, zum Teil kugelig. Letztere farben
sich oft nor sehr schwach. Die runden Kerne liegen manchmal in einer
Heihe, manchmal sind die Kerne an einer umschriebenen Stelle vermehrt,
abcr auch an solchen Stellen beschrankt sich die Yermehrung auf eine Muskel-
faser. Diese sich stark farbenden Kerne bedecken die Faser teilweise
odor ganz (Fig. 8.). Diese Bilder stimmen mit jenen Qberein, die z. B.
bei Zenkerscher Degeneration der Muskeln als Muskelzellenschlauche be-
scbrieben warden 1 2 ) Diese zellreichen Fasern sind ausserdem stark ver-
arnlert, sie haben ihre Querstreifung verloren, sind homogen und farben
sich gelblichrot. Oft sind die Fasern in meiirere fihnliche grosse Schollen
zerfallen. Auch auf Fig. 8 ist zwischen den Zellkernhaufen die degenierte
Muskelfaser sichtbar. Die Kernhaufcn befinden sich manchmal nicht im
Verlauf der Faser, sondern an doren Ende. Auch an Querschnitten kann
man diese Zellkernansammlungen beobachten, in denen kaum mehr kontrak-
tile Substanz enthalten ist. Ahnliche Kernwucherungen beschreibt Thom a -)
als Zeichen der Regeneration bei wachsartiger Degeneration der Muskeln.
Die starke Vermehrung der Kerne kann nur als Regeneration der
Muskelfasern aufgefasst werden. Es steht dies mit dem Yerlauf der
Krankheit, mit dem Beginn der Besserung im Einklang. Diese Verftnde-
rungen sind jenen ganz ahnlich, die bei Typhus und nach experimenteller
Yerletzung in dem regenerierenden Muskelgewebe beobachtet wnrden.
Die Beurteilung dieses Falles ist nicht schwer. Die unter Par-
asthesien sich schnell entwickelnde Lahmung der unteren Extremitiiten,
das Fehlen der Sehnenreflexe, die sich alsbald einstellende Entartungs-
reaktion der gelahmten Muskeln, die Lahmung des rechten N. facialis,
dann des N. abducens derselben Seite, die Anasthesien an den unteren
Extremitaten und am Rumpf, die Parasthesien in der rechten Hand
und im Gesicht und die sehr heftigen Schmerzen sprechen entschieden
dafiir, dass der Kranke an Polyneuritis litt. Gestutzt wird diese Dia¬
gnose auch noch dadurch, dass ein grosser Teil der Symptome sich
besserte, und dass spater die Zeichen einer Korsakoffschen Geistes-
storung auftraten. Als selteneres Symptom erwiihne ich die bedeu-
tenden Blasenstorungen.
1) H. Lorenz, Die Muskelerkrankungen. Nothnagels spezielle Path, und
Therapie. 1904.
2) Thoma, Lebrbuch der allg. path. Anatomic. 1804.
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13S
VIII. Hebzog
Vom atiologiselien Standpunkt kommt in diesem Falle in Betracht die
Bleivergiftung, das in jtingeren Jahren acquirierte Ulcus, das mit Queck-
silber behandelt wurde, der Potus, die Hepatitis und Nephritis inter-
stitialis und die Arteriosklerose. Das klinische Bild schliesst eine Blei-
lahmung aus und die luetische Infektion geschah vor zu langer Zeit,
um als Ursache der Polyneuritis gelten zu konnen. Die chronischen
Erkrankungen der Leber und der Nieren halte ich nur fur solche Ver¬
anderungen, die durch Schadigung des Stoffwechsels die Entstehung
der Polyneuritis begtinstigt haben infolge schlechter Ernahrung der
Gewebe, die jedoch nicht als die Ursachen der Erkrankung des Ner-
vensystems betrachtet werden konnen. Ich glaube, dass in diesem
Falle der Alkohol die Erkrankung verursachte, dem entsprechen die
Symptome der Krankheit, und dass ausser der Polyneuritis auch die
Hepatitis, Nephritis und Arteriosklerose auf den Alkoholismus zuruck-
zufuhren sind. Besonders das Verhaltnis der Lebercirrhose zur Poly¬
neuritis wurde in letzter Zeit untersucht. Klippel und Lhermitte 1 )
sind der Ansicht, dass die Verminderung der giftbindenden Fahigkeit
der Leber den schweren Verlauf der Polyneuritis bei an Lebercirrhose
leidenden Alkoholisten verursache.
AusfGhrlicher will ich mich mit dem Resultat der histologischen
Untersuchung des Nervensystems beschaftigen. Die Veranderungen
im Zentralnervensystem und in den peripheren Nerven haben den
Charakter von Degenerationen. Die Markscheiden sind in den erkrankteu
Gebieten zerfallen oder sie farben sich schlecht. Letzteres gilt auch
von den Achsenzylindern, die ausserdem keine scharfen Konturen be-
sitzen. Andererseits war keioe Veranderung nachweisbar, die flir Ent-
zundung sprechen wiirde. Die Gefasse des Rtickenmarks sind zwar
etwas weiter und in der Hirnrinde waren einige kleine Blutungen (die
wahrscheinlich in der Agonie entstanden sind), auch waren die Glia-
kerne der erkrankten Strange etwas vermehrt, doch ist dies alles so
wenig ausgesprochen, dass man daraus nicht auf eine Entzuudung
schliessen darf. Ganz iihnliche und sogar starkere Veranderungen findet
man z. B. bei sekundiiren Degenerationen des Ruckenmarks. Ein ahn-
licher Refund ist das durchlocherte Aussehen der degenerierten Gebiete,
das auch in unserem Falle vorhanden war, das ich jedoch noch viel
ausgesprochener sah in den sekundiir degenerierten Biindeln bei zwei
Fallen von Kompressionsmyelitis. Die Erweiterung der Gefasse, die
Blutfullung, die Vermehrung der Glia sind nur die Zeichen jener
Reaktion, die von den Zerfallsprodukten der Nervenfasem hervorgerufen
1) M. Klippel u. J. Lhermitte, Des nevrites au cours des cirrhoses du
foie. La semaine medicale 1008.
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Ober die Erkrankg. d. Zen trainer vensy stems bei Polyneuritis degenerativa. 139
wird, und sie beweisen nicht das Vorhandensein einer wirklicben Ent-
ziindung. Auch in den peripheren Nerven ist nirgends eine klein-
zellige Infiltration oder junges Bindegewebe vorhanden, die Verande-
rung beschrankt sich auch hier auf die regressiven Prozesse in den
Nervenfasern.
Der histologische Befund entspricbt also nicht einer Entziindung,
sondern einer Degeneration. Der verhaltnismassig kurzen Dauer der
Krankheit entsprecbend waren die Veranderungen an den Marchi-
praparaten am deutlichsten, wahrend an nach Weigert gefarbten
Schnitten die Degeneration weniger stark erschien und in manchen bei
Marchifarbung entschieden erkrankten Bahnen iiberhaupt kein Faser-
ausfall bemerkbar war. Von den Befunden mit der Marchischen
Methode ausgebend kann man sagen, dass die langen zentripetal leiten-
den exogenen Fasern und ein Teil der zentripetalen endogenen Fasem
degeneriert sind. Der starken Degeneration der ersteren entspricht,
dass die Hinterstrange im Lumbosakralmark gleichmassig ergriffen
sind, wahrend im oberen Brustmark und noch mehr im Halsmark die
Burdachschen Strange weniger Degenerationsschollen entbalten, und
dass auch das ventrale Hinterstrangfeld nur sparliche Kornchen auf-
weist. Entsprecbendes fand ich bei der Markscheidenfarbung. Im Ein-
klang mit diesem Befund enthielten auch die hinteren Wurzeln intra-
und extramedullar und die Lissauerscbe Zone schwarze Scbollen.
Ausser diesen exogenen sind aber auch endogene Fasern degeneriert.
Solche Fasern sind die der Kleinhirnseitenstrangbahn und yielleicht
teilweise jene des Kommafeldes. Die ersteren sind in den unteren
Abschnitten nicht degeneriert, in den oberen Brust- und den Halsseg-
menten wird ihre Entartung immer starker und im Corpus restiforme
sieht man auffallend viel Degenerationsschollen. Dies beweist, dass
der von den Zellen entfernteste Abschnitt der Fasern degeneriert
ist. Auch die Degeneration der Hinterstrange begann wahrschein-
lich am Ende der Fasern, weil trotz starker Degeneration fast der
ganzen Hinterstrange im Halsmark die hinteren Wurzeln nur wenig
entartet sind.
In den Zellen dieser Fasern, in den Zellen der Spinalganglien und
der Clarkeschen Saulen war keine Veranderung wahrnehmbar. In
den Vorderhornzellen hingegen beobachtete ich unbedingt pathologische
Veranderungen. Diese waren im Sacrolumbalmark am starksten aus-
gepragt und fehlten fast vollkommen im Brust- und Halsmark, was den
klinischen Symptomen entspricht. Ob diese Veranderungen prim&r
oder retrograd entstanden sind, dafiir gibt es keinen Beweis, jedoch
glaube ich, dass es sekundiire Veranderungen sind, weil die Zellen der
soeben beschriebenen Bahnen normal waren, was dafur spricht, das
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140
VIII. Herzog
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der pathologische Prozess von dem Ende der Fasern gegen die Zellen
sich yerbreitete.
Die vorderen Wurzeln waren intra- und extramedullar erkrankt
Ihre Degeneration ist aber um vieles schwacher als die der hinteren
Wurzeln und der peripheren Nerven.
Eine Besonderheit in der Entartung der peripheren Nerven will
ich erwahnen, auf die ich noch spater zurttckkommen werde. Die
Nerven sind nicht in ihrem ganzen Querschnitt gleichmassig degene-
riert, sondern die Entartung ist in den einzelnen Btindelchen von ver-
schiedener Starke und auch innerhalb dieser ungleichraassig. Man kann
also nicht von der Entartung eines Nerven sprechen, sondern nur von
der Degeneration bestimmter Neurone, die wahrscheinlich funktionell
zusammengehoren, wie ich zu zeigen versuchen werde.
Diese Befunde zusamenfassend halte ich die Veranderungen im
peripheren und zentralen Nervensystem nicht fur eine Entztindung,
sondern ffir eine Degeneration, die am Ende der Nervenfasern am
starksten ist und gegen die Zelle hin abnimmt; letztere kann sogar
unverandert sein. Diese Degeneration betrifft im zentralen und wahr¬
scheinlich auch im peripheren Nervensystem funktionell zusammenge-
borende Fasern. Die Veranderungen in den Nerven entsprechen einer
degenerativen Polyneuritis, jene im Ruckenmark einer Systemerkran-
kung. Keines davon ist die Folge des anderen, dies beweist ausser
der primaren Degeneration der Fasern auch die Entartung der Klein-
hirnseitenstrangbahn. Sowohl die peripheren als auch die zentralen
Degenerationen haben eine gemeinsame Ursache und sie stehen zu
einander in keinem ursachlichem Verhaltnis.
Ahnliche Erkrankungen des Zentralnervensystems bei Polyneuritis
findet man in ziemlicher Anzahl in der Literatur beschrieben. Fruher
wurde das Zentralnervensystem vielleicht darum oft unverandert ge-
funden, weil nicht mit der ffir die Erkennung frischer Degenerationen
geeignetsten Marchischen Methode untersucht wurde, oder weil man
von der peripheren Natur des Leidens uberzeugt dem Zentralnerven¬
system nicht genugende Aufmerksamkeit zuwendete.
Diese Degenerationen im Zentralnervensystem, die am haufigsten
bei alkoholischer Polyneuritis vorkommen, sprechen flir die Ansicht
Jendrassiks 1 ), dass bei den infolge Gift- oder Toxinwirkung ent-
stehenden und bei den durch Kachexie verursachten peripheren Ner-
venkrankheiten in den peripheren Nerven die Veranderungen nicht
entziindliche, sondern degenerative sind. Eben deshalb nennt Jen-
drassik diese Erkrankungen nicht Polyneuritis, sondern Degeneration
1) A belgydgvaszat kezikonyve 1804—00.
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Uber die Erkrankg. d. Zentralnervensystems bei Polyneuritis degenerativa. 141
infolge Giftwirkung (Neuritis degenerativa toxica). Stintzing 1 ) gibt
spater eine ahnliche Einteilung. Er unterscheidet ausser der echten
entziindlichen Neuritis (Lepra, Beri-Beri, primare Neuritis) eine degene¬
rative Atrophie (Teleneurosis multiplex degenerativa) und als dritte
Gruppe das gleichzeitige Vorkommen dieser Veranderungen. In die
zweite Gruppe geboren nach ihm die Polyneuritiden infolge Gift- und
Toxinwirkung und Konstitutionskrankheiten, in die dritte gehort die
diphtheritische Lahmung und die Landrysche Paralyse. Diese Ein-
teilungen sind darum von Bedeutung, weil die Symptome der toxischen
Polyneuritis und ihre Verteilung im peripheren Nervensystem leicht
verstandlich werden, wenn die Erkrankung nicht entzundlicher, sondem
degenerativer Natur ist. In ersterem Falle ware es nicht erklarbar,
warum die Entzundung in manchem Nerven gerade gewisse (einen
Muskel versorgende) Nervenfasern verschont; in letzterem Falle ist dies
verstandlich, da es sich um eine Degeneration handelt, die von den in
einein Nerven liegenden funktionell verschiedenen Neuronen nur be-
stimmte physiologisch zusammengehorige Neurone ergreift.
Uberflussig ware es hier, die Verbreitung der Motilitats- und
Sensibilitatslahmung bei den degenerativen Polyneuritiden eingehend
zu beschreiben. Es ist dies aus zahlreichen Beobachtungen bekannt.
Am scharfsten umschrieben erscheint die Bleiliihmung, dann gewisse
Formen der diphtherititischen Lahmung, mehr diffus ist die alkoho-
lische und die Arseniklahmung. Nur auf diese gut bekannten Lah-
mungen will ich mich berufen, in denen je nach dem schadigenden
Gift verschiedene, aber immer zusammengehorige Muskeln ergriffen
werden. Je nach der Ursache ist auch das Verhaltnis der Lahmung
der Motilitat und Sensibiltat verschieden. "Wir kennen die starke
Hyperasthesie und die schweren Gefuhlsstorungen bei der Arsenik¬
lahmung, das Fehlen der Schmerzen und die Seltenheit von Sensibili-
tatsstorungen bei der Bleilahmung, die Parasthesien und Schmerzen
bei der Alkoholneuritis. Nicht weniger charakteristisch ist die Tetra-
plegie fiir Arsenik, die Lahmung des Peroneusgebietes ftir die Alkohol-
lahmung und das Befallensein gewisser Muskeln bei der Bleiliihmung.
Schon Joffroy 2 ) betont, dass die systematische Lokalisation der Ver-
anderung in den motorischen Nervenfasern fiir die parenchymatose
Natur der Entzundung spricht. Nach Oppenheim 3 ) schiidigt die
1) R. Stintzing, Uber Neuritis und Polyneuritis. Miinch. med. Wochen-
schrift 1901.
2) A. Joffroy, De la ntivrite parenchynaateuse spontan<5e, gdn^ralis^e ou
partielle. Archives de phvsiologie 1S79.
B) H.Oppenheim, Allgemeines und Spczielles uber die toxischen Erkrau-
kungen des Nervensvsteins. Berl. klin. Wochenschr. 1891.
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142
VIII. Herzog
Toxinwirkung die Zellen und Fasern gewisser physiologischer Dignitat,
infolge dessen systematisierte Erkrankungen entstehen. Nach Jen-
drassik 1 ) kann man sich leichter vorstellen, dass bei der toxischen
Degeneration der Nerven die Gifte von den verschiedenen Funktionen
dienenden Nervenzellen nur jene einer bestimmten Affinitat auswablen,
als dass sie nur bestimmte Gruppen der wenigstens bisher in ihrem
Bau gleichformigen peripheren Nerven schadigen wiirden.
Die Bleilahmung wurde in dieser Hinsicht von Erb 2 ) und Remak 3 )
eingehend untersucht. Wegen des spinalen Typus und aus anderen
Grunden sucbten sie die Ursache dieser Labmung im Rlickenmark
und, als nachgewiesen wurde, dass oft nur die peripheren Nerven er-
krankt sind und die Vorderhornzellen intakt scheinen, da versucbte
Erb den spinalen Ursprung dadurch zu erklaren, dass er annahm, dass
trotz des negativen Befundes die Funktion der Vorderhornzellen ge-
litten habe. Diese Funktionsstorung verursache die degenerative
Atrophie der Nervenfasern. Schultze 4 ) hingegen halt die Verande-
rung der Nerven flir primar in Anbetracht der haufigen Intaktheit des
Riickenmarks und des primaren C'harakters der Degeneration, und er
sagt, dass man diese Degenerationen als Systemerkrankungen auffassen
kann, die nur bestimmte Bahnen ergreifen. Abnlich ist die Auffassung
von Mobius, der ausserdem auf die Uberanstrengung der gelahmten
Muskeln hinweist, und auch jene Vierordts 5 ), der Schultzes Ansicht
auch auf andere toxische periphere Nervenkrankheiten ausdehnt. Die Blei¬
lahmung sei eine primare elektive Parenchvmerkrankung der peripheren
Nerven, die zugleich svstematisch sei, weil sie nur motorisch-trophi-
sche Storungen verursache. Einen vermittelnden Standpunkt nimmt
Strlimpell 6 ) ein, indem er zwischen Neuritis und Poliomyelitis keinen
grundsatzlichen Unterschied sieht, da man einen Fall von Polyneuritis,
bei dem die Nervenzellen besonders stark geschiidigt sind, als Polio¬
myelitis bezeichnen konnte.
Bevor ich auf die Besprechung dieser Anschauungen eingehe, will
ich einige Symptome meines ersten Falles erwahnen, die darauf hin-
deuten, dass die Lahmung funktionell zusatnmengehorige Neurone be¬
fallen hat. Ein solches Symptom ist die Accomodationslahmung mit
1) 1. c.
2) W. Erb, Handbuch der Elektrotlierapie lSSd. v.Ziemssens Handbucb
d. alls:. Therapie. 3.
H) E. Remak, Zur Patboj:enese der Blciliilimungen. Arch. f. P«ych. Bd. 6.
4) Schultze, Uber Bleiliilimung. Arch. f. Psych. Bd. 10.
5) O. Vierordt, Zur Frage vom Wesen der Bleilahmung. Arch. f. Psych.
Bd. IS.
0) 1. c.
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Cber die Erkrankg. d. Zentralnervensystems bei Polyneuritis degenerativa. 143
Erweiterung und Starre der Pupille. Die Lahmung betraf nur diese
in ihrer Funktion eng zusammengehorenden Fasern des N. oculomo¬
torius, wahrend die ubrigen Fasern dieses Nerven gut funktionierten.
Dass man diese eigentiimliche und scharf begrenzte Lokalisation der
Lahmung nicht mit der Annahrne eines Locus minoris resistentiae er-
klaren kann, das beweisen die Beobachtungen von Fuchs 1 ), der bei
peripheren Lasionen, die den ganzen Oculomotorius gleichmassig trafen,
im Gegenteil oft Ophthalmoplegia externa beobachtete, ohne dass die
inneren Muskeln des Auges gelahmt gewesen waren. Fuchs schliesst
hieraus, dass die zu den inneren Augenmuskeln reichenden Fasern
widerstandsfahiger sind, als die ubrigen Fasern des Oculomotorius.
In meinem Fall betraf die Lahmung gerade die ersteren Fasern, sie
kann also nicht mit der Annahme geringerer Widerstandsfahigkeit er-
kliirt werden.
Fur die diphtheritische Lahmung hingegen ist das Fehlen yon
Pupillensymptomen bei der Accomodationsliihmung charakteristisch.
Bei Alkohollahmung wurde Lichtstarre und vollkommene Starre der
Pupillen beobachtet. Auch aus diesen Beobachtungen folgt, dass
innerhalb eines Nerven bestimmte Fasern von abnlicher Funktion
geschadigt werden konnen. Auf die funktionelle Zusammengehorigkeit
der zu den inneren Augenmuskeln ziehenden Fasern des N. oculo¬
motorius deutet die Einteilung der Kerne dieses Nerven; die Nerven-
fasern der genannten Muskeln entspringen in umschriebenen Kernen
vor den Kernen der ausseren Augenmuskeln.
Ein anderes ahnliches Symptom war in meinem ersten Fall die
Lahmung des motorischen Teiles der Nervi trigemini ohne Schadigung
der sensiblen Fasern. Auch in diesem Nerv ergriff die Lahmung
Fasern von abnlicher Funktion, wahrend andere Fasern desselben
Nerven frei blieben.
Diese Beobachtungen sind damit in Ubereinstimmung, dass bei
der degenerativen Polyneuritis funktionell verwandte Fasern gelahmt
werden, und dass die Lahmung nicht eine Lahmung gewisser Nerven
ist. Oft ist von einem Nerv nur ein Teil von bestimmter Funktion
gelahmt, und wenn die Lahmnng einen ganzen Nerv betrifft, so steht
das mit dieser Auffassung nicht im Widerspruch, wenn die Fasern des
Nerven eine ahnliche Funktion haben. Ob man die Veranderung der
Nervenfasern parenchymatose Entzundung oder primare Degeneration
nennt, das ist von keiner grossen Bedeutung. Wichtig und gewiss
ist jedoch, dass der histologische Befund nicht einer Entzundung der
1) E. F uchs, Oculomotoriuslahnning olme Beteiligimg der Binnenmu.skeln
bei peripheren Lasionen. Arb. a. d. neur. Inst. d. Wiener Univ. 13d. 15.
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144
VIII. Hebzog
Nerven entspsicht, denn diese musste sich mehr oder weniger gleich-
massig anf den ganzen Querschnitt des Nerven verbreiten.
Die Entstehung der in ihrer Ausdehnuug nicht den peripheren
Typus zeigenden peripheren Lahmung versuchen obige Auffassungen
der Autoren zu erklaren. Ein Teil derselben sucht darum die TJrsache
der Lahmung im Ruckenmark und ist zur Annahme von funktionellen,
anatomisch nicht nachweisbaren Schadigungen genotigt, andere halten
die Veranderungen fur systematisch, aber peripherisch. Meiner Er-
achtung ist es iiberfliissig und unrichtig, den zentralen und den peripheren
Ursprung der Veranderungen scharf einander gegentiber zu stellen, weil
bei der Polyneuritis degenerativa nur von der peripheren Veranderung
bestimmter zusammengehoriger Neurone die Rede sein kann und nicht
von einer Erkrankung der peripheren Nerven oder einer Erkrankung
des Ruckenmarks. Durch diese Auffassung der Polyneuritis degeuera-
tiva wird es verstandlich, warum die Verbreitung der Symptome einer
zentralen Lahmung entspricht: es degenerieren die peripheren Enden
ahnlich funktionierender Neurone, und weil diese Neurone im Rucken¬
mark nahe bei einander entspringen, muss der Typus der Lahmung
spinal sein. In diesem Sinne kann die Lahmung systematisch genannt
werden. Zahlreiche Beobachtungen beweisen, dass die Degeneration
eines Neurons an der Faser und an dieser an dem von der Zelle
am entferntesten liegenden Abschnitt beginnen kann, und dass oft an
der Zelle selbst keine Veranderung nachweisbar ist. Nach Striimpell 1 )
degenerieren bei der Tabes zuerst die zentralen und peripheren Fort-
siitze der Spinalganglienzellen und diese Zellen selbst sind tiberhaupt
nicht verandert, oder es tritt dies erst viel spater ein. Es bestehe also
bei der Tabes das gleiche Verhalten wie bei den peripherischen Nerven-
degenerationen nach Vergiftungen und postinfektiosen Intoxikationen.
Bei der spastischen Spinalparalyse beginnt die Eutartung in dem
distalsten Abschnitt der Pyramidenbahnen (E rb 2 )) und auch bei der
aniyotrophischen Lateralsklerose kann die Degeneration nur selten bis
in das Gehirn verfolgt werden, und manchmal sind die Pyramiden-
zellen unverandert (Lugaro 3 )). Ein ahnliches Verhalten fand Kol-
larits 4 ) in einem Falle von hereditarer Nervenkrankheit (hauptsach-
liche Symptome: Nystagmus, Tremor des Kopfes und der oberen
Extremitaten, verlaugsamtes Spree-hen, Muskelatrophien und Ver-
kurzungen, gesteigerte Reflexe, Skoliose), indem er ausser der Entartung
1) 1. c. 2) 1. c.
?>) FI a tau, Jacob sohn, Minor, Hundbuch der patbol. Anatomie des
Nervensystenis. 1'JU4.
4j Kollarits, J., Adatok az Oniklott idegbajok ismeretrhez. Orvosi He-
tilap. l'JOo.
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C’ber die Erkrankg. d. Zentralnervensystems bei Polyneuritis degenerativa. 145
des distalen Teiles der Pyramidenbahn auch eine primare Degeneration
der Gollschen Strange beobachtete.
Diese endogen und exogen entstandenen systematischen Degenera-
tionen des Zentralnervensystems beginnen an den von der Zelle ent-
femtesten Abschnitten der Nervenfasern. Darin und in der systema¬
tischen Verbreitung sind sie der Erkrankung der peripheren Neurone
bei Polyneuritis degenerativa ahnlich. In beiden Fallen entarten ztt-
sammengeborende Fasern primar. Die genannten zentralen Degenera-
tionen schreiten jedoch sehr langsam vorwarts, wabrend bei Polyneu¬
ritis die Entartung viel schneller erfolgt. Nacb meiner Ansicht ist
dies jedoch kein solcher Unterscbied, dass man diese Veranderungen
nicht ffir ahnlich halten dtirfte. Diese Veranderungen sind um so mehr
vergleichbar, da bei Polyneuritis ausser herdformigen Erkrankungen,
die icb hier nur erwahnen will, auch systematische Degenerationen im
Zentralnervensystem gefunden wurden.
Die pathologisch-anatomischen Untersuchungen bei Polyneuritis
bezogen sich aufangs besonders auf das periphere Nervensystem, es
handelte sich ja um den Nachweis der peripheren Natur der Erkrankung.
Die Veranderungen im Zentralnervensystem wurden teilweise (z. B.
jene in den Vorderhomzellen), vielleicht mit Recht, als sekundare, von
der peripheren Lasion bedingte Erscheinungen gedeutet Ich will mich
daher nur auf jene systematischen Degenerationen des Zentralnerven¬
systems berufen, die nicht als Folge der peripheren Erkrankung be-
trachtet werden konnen, die man also auf dieselbe Giftwirkung zuruck-
fuhren muss wie die peripheren Veranderungen.
In meinem zweiten Fall scheint die Degeneration des zentralen
Fortsatzes der Spinalganglienzellen eher primar, als sekundar zu sein.
Dafiir spricht, dass die hinteren Wurzeln verhaltnismassig wenig
degeneriert sind (besonders im oberen Dorsal- und Halsmark), und dass
in den Nervenzellen keine Veranderung wahmehmbar war. Entschieden
primar ist die Degeneration der Kleinhirnseitenstrangbahn, weil die
Degeneration in den von ihrem Ursprung entfernten Abschnitten der
Bahn bedeutend starker ist und weil die Zellen unverandert sind.
Dass man eine solche zentrale Degeneration nicht als die Folge der
Entartung der betreftenden peripheren Neurone betrachten darf, das
beweisen jene Falle, bei denen nach Einwirkung von Giften, die Poly¬
neuritis zu verursachen pflegen, nur systematische Degenerationen im
Zentralnervensystem entstanden sind, wiihrend die peripheren Nerven
unversehrt waren. Solche Degenerationen wurden bei Syphilis (akut. auf-
tretende syphilitische Spinalparalyse, Erb J )) und bei Alkoholismus be-
1) 1. c.
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. 37. Bd. 10
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146
VIII. Hebzoq
schrieben (Vierordt 1 ), Nonne 2 )). Heilbronner 3 ) fand bei Tuber-
kulose und Alkoholismus die Pyramidenbahnen degenerieri Der Kranke
hatte eine subakut entstandene spastische Paraplegie. Die peripheren
Nerven warden nicht untersucht. In einem anderen Falle war die
Ursache der Erkrankung nicht nacbweisbar (Pal 4 )). Viel grosser ist
die Anzahl derjenigen Falle, bei welchen sich zur Polyneuritis systema-
tische Degenerationen im Ruckenmark gesellten. Sie kommen bei der
alkoboliscben Polyneuritis ziemlich haufig vor (Degeneration der Hinter-
strange, der Kleinbirnseitenstrangbabnen, der Pyramidenbahnen), sie
wurden jedoch auch bei tuberkuloser Polyneuritis (Degeneration der
ungekreuzten und gekreuzten Pyramidenbabnen, der Hinterstrange,
Sands 5 ) Fall) und bei Bleilahmung gefunden (entartete Hinter¬
strange, Pyramidenseitenstrangbahnen und Kleinbirnseitenstrangbabnen,
Pal 6 )). Diese Degenerationen werden nicht als die Folge der Poly¬
neuritis betrachtet, sondern fttr gleichwertige, nicht von ihr ver-
ursachte Veranderungen gehalten (Tauber und Bernd 7 ), Pal). Wie
haufig das Zentralnervensystem erkrankt, das sieht man aus Weh-
rungs 8 ) Zusammenstellung, nach der in fast jedem Falle von 34 Kor¬
sakoff schen Psychosen ausser neuritischen Symptomen auch in dem
Rfickenmark Veranderungen gefunden wurden.
Diese primaren systematischen Degenerationen im Zentralnerven¬
system tragen bei zum Verstandnis der Entstehung der Polyneuritis
degenerativa. Sie sind auf keinen Fall Resultate der peripheren Er¬
krankung, sondern mit ihr gleichwertig und von derselben Giftwirkung
verursacht. Nichts ist wahrscheinlicher, als dass die Gifte, die im
Zentralnervensystem systematische Degenerationen verursachen, auch
1) O. Vierordt, Degeneration der Gollschen Strange bei einem Potator.
Arch. f. Psych. XVII.
2) Nonne, Anatomische Befunde im Ruckenmark bei Alcoholismus chron.
gravis. Arztl. Verein in Hamburg. 2. X. 1906. Deutsche med. Wchnschr. 1907.
3) K. Heilbronner, Ruckenmarksveranderungen bei der muitiplen Neu¬
ritis der Trinker. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie. Bd. IV. 1898.
4) J. Pal, Uber amvotrophisch-paretische Formen der kombinierten Er-
krankungen von Nervenbahnen (sogen. prim, kombinierte Systemerkrankung).
Wiener med. Wochenschr. 1898.
5) R. Sand, Sclerose m<$dullaire polysvstematique d’origine tuberculeuse.
Bruxelles 1903.
6) J. Pal, fiber multiple Neuritis. Wien 1891.
7) S. Tauber u. E. Bernd, Uber spinale Veranderungen bei Polyneuritis
der Tuberkulosen. Zeitschr. f. Heilkde. 1905.
8) G. Wehrung, Beitrag zur Lehre von der Korsakoffschen Psychose mit
besonderer Beriicksichtigung der pathologischen Anatomie. Arch. f. Psych.
Bd. 39. 1905.
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Uber die Erkrankg. d. Zentralnervensystems bei Polyneuritis degenerativa. 147
in dem peripheren Nervensystem ahnliche Degenerationen bewirken.
Es wurden zwar nicht bei alien Arten der Polyneuritis degenerativa
diese zentralen Veranderungen gefunden, jedocb auch die peripheren
Symptome deuten darauf hin, dass die Erkrankung systematisch ist.
Dies bebaupten einzelne Theorien der Pathogenese der Polyneuritis
und bierauf ist anch jene Ansicht zur&ckzuftihren, nach welcber die
Ursacbe der Krankbeit im Zentralnervensystem ware. Je nach dem
scbadigenden Gifte ist der Typus der Degenerationen verschieden,
bald ist die Sensibilitat, bald die Motilitat mehr gelahmt, bald
ist die Lahmung scbarf begrenzt, bald ist sie mehr diffus, und
aucb das Gebiet der Lahmung ist ftlr das betreffende Gift
charakteristisch. Wenn man bei diffuseren Lahmungen einzelne Sym¬
ptome berGcksichtigt (z. B. im ersten Fall Lahmungen der Binnen-
muskeln des Auges), so erkennt man oft den systematischen Cbarakter
der Lahmung. Dieser besteht in der Degeneration physiologisch zu-
sammengehorender Neurone und nicht in der Entartung bestimmter
Nerven. Die Polyneuritis degenerativa als systematische Degeneration
der peripheren Neurone auffassend, bleibt es aber noch immer fraglich,
ob die krankheitserregenden Gifte zentral auf die Nervenzellen oder
auf die peripheren Fasern oder auf beide zugleich einwirken. Strtl 111-
pell 1 ), der diese drei Moglichkeit bespricht, halt die dritte fur wahr-
scheinlich, da hierdurch der bald negative, bald positive Befund in den
Zellen erklart wird. Die Losung dieser Frage fallt mit der Erkenntnis
der Pathogenese aus aDderer Ursache (endogen) entstehender System-
erkrankungen zusammen.
In den neueren zusammenfassenden Arbeiten wird die Beteiligung
des Zentralnervensystems bei Polyneuritis besonders berucksichtigt.
Nach Babinski 2 ) bedeutet Polyneuritis nur so viel, dass die erkenn-
baren Veranderungen nur in den Nerven nachweisbar sind, oder dass
sie hier viel ausgesprochener vorhanden sind, und er fugt hinzu, dass
nicht eine von den Ursachen des Polyneuritis auch das Zentralnerven¬
system direkt schadigt, indem hier manchmal nur dynamische, oft
aber auch anatomiche Veranderungen entstehen. Nach Cassirer 3 )
ist die erste und wichtigste Stelle der Veranderungen das periphere
Ende der Nerven, in zentraler Richtung werden die Veranderungen
geringer, es scheint jedoch, dass einzelne Teile des Zentralnervensystems
mit einer gewissen Bestandigkeit ergriffen werden.
1) 1. c.
2) J. Babinski, Des N6vrites. Charcot-Boucbard-Brissaud, Traitd
de m^decine. T. X. 1905.
3) R. Cassirer, Neuritis und Polyneuritis. Deutsche Klinik. VI, 1. 1900.
10 *
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148 VIII. Herzog, Uber die Erkrankg. des Zen trainer vensy stems usw.
Betrachtet man die Wirkung der Polyneuritiden verursachenden
Gifte auf das Nervensystem, so kann man sagen, dass diese Gifte oder
Toxine primare systematische DegeneratioDen verursachen in funktionell
zusammengehorenden Neuronen. Die Degeneration betriffb manchmal
nur die peripheren Fortsatze der peripheren Neurone und manchmal
erfolgt sie nur in zentralen Neuronen. Die Verschiedenheit der Lo-
kalisation bangt ab von der Art des Giftes und wahrscheinlich von
der individuellen Disposition des N erven systems. Auf diese Weise
entsteben periphere (Polyneuritis) oder zentrale Degenerationen (System-
erkrankungen), oder beide zugleicli, in welchem Falle die zentrale Er-
krankung von den peripheren Symptomen oft verdeckt wird. Je nacb
dem schadigenden Gift ist die motorische und sensible Lahmung, ihre
Ausdebnung, ihre diffuse oder scharfe Begrenzung verscbieden.
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Aus dem Budapester St. Stefan-Krankenhaus (Abteilung E).
fleredodegeneration und kongenitale Lnes. 1 2 )
Von
Privatdozent Dr. G6za y. Dieballa,
Primararzt.
Ciicilie K., 18 Jahre alt, Dienstmadchen, aufgenommen den 28. April
1008.-0 Ihr Vater, Dorfschuhmaeker, war niemals krank und befindet
sich aueh gegcnw&rtig vollkommen gesund. Die Geschwister des Vaters
sind ebenfalls gesund. Ihre Mutter litt vor ungefalir 19 Jahren 3 Monate
hindurch an einer Geistesstorung und wurde wiihrend jener Zeit in einem
Krankenhause der Provinz bebandelt, verriet seither ein nervdses Tempe¬
rament und soil an „geistiger Schwache" (Schwachsinn) leiden. Seit zwei
Jahren lebt sie von ihrem Mamie getrennt — in Amerika. Von den Ge-
sohwistern der Mutter ist eines taubstumni, doch lasst sich aucli von den
tthrigen keineswegs sagen, dass sie vollkommen normale, gesunde Menschen
seien. Die Kranke hat 11 rechte Geschwister, von welclien das alteste
5 Jahre alt wurde und an „Schwindsucht.“ zugrunde ging, acht hingegen
im 1.—2. Lebenjabre zumeist wegen „angeborener Schwache* gestorben
sind. Zwei ihrer Geschwister leben, von welchen der eine, ein 13jiihriger
Knabe (Zwilling), bestiindig kriinkelt, nicht gut lernt, immer traurig sowie
gereizt ist und stottert. Das andere, ein 6 jahriges Miidchen, ist mager,
zur Traurigkeit geneigt, isst wenig und stottert ebenfalls. Beider Seliver-
mogen ist normal.
Die Kranke ist zur regelrechten Zeit geboren, begann im 4.—5.
Lebensjahre an zu gehen und zu reden, hat sich von da ab bis zu ihrem
14. Lebensjahre regelmassig entwickelt, in der Schule ziemlieh gut gelernt
und machte ihrem Alter entsprechend den Eindruck eines klugen Kindes.
Zu dieser Zeit trat in ihrem Benehmen eine Veranderung ein. Sie wurde
traurig und ktlmmerte sich uni nielits mehr. Wiihrend sie einmal auf
einen Baum kletterte, flog etwas in ihr Auge, von welcltem Zeitpunkte an
die Vermindcrung ihres Sehvermogens angeblich begonnen hat.
1) Vorgestellt der Arztegesellschaft studtiseker allgemeiner Krankenhanser
Sitzung vom 20. V. 1908.
2) Die folgenden anainnestischen Angahen hat der Vater der Kranken brief-
licli iibermittelt. Bedauerlicherweise vermochte er niclit auf jede meiner Fragen
befriedigende Auskuuft gelien. Die Familie der Patientin wohnt in einem ent-
fernt liegenden (polnischen) Grenzdiirfelien, wo kein Arzt ist, und mein Be-
miilien, bezuglich Familie und Anamncse von iirztlieher Seite sachiiehe Aufklii-
rung zu gewinnen, war erfolglos.
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150
IX. v. Diebaixa
Die folgenden anaranestischen Daten sind von der Kranken selbst.
Die Menstraation erschien zum ersten Male vor zwei Jahren und bat sicb
inzwischen nor 3 mal eingestellt. Ende vorigen Jahres beabsichtigte sie,
auf den Wansch ibrer Matter za ihr nach Amerika zu reisen, wurde aber
aus Antwerpen wegen des Zustandes ihrer Angen nacb arztlicher Unter-
suchung zurfickgeschickt. Diese Beise unternahm sie obne Begleitung —
allein. Seitber lebt and dient sie in Budapest.
Ihre haapts&chlichste Klage bildet die zanehmende Beeintr&chtigung
ihres Sehens. Zeitweilig leidet sie an Kopfschmerzen, welche sich seit
einigen Wochen aafs neue eingestellt haben und ihre Nachtruhe stOren.
Eben dieserbalb ist sie in das Krankenhaus gekommen.
Status praesens: Das kleine (151 cm hobe) Madchen mit etwas
schwach entwickeltem Knochenbau ist ziemlich gut genahrt, hat normale
Hautfarbe und zeigt eine ausgesprochene Dermographie. AchselhOhlen-
und Schamhaare, sowie Brfiste sind gut entwickelt, Brust- und Baucborgane
normal, Geschlecbtsorgane gut entwickelt; das Hymen zeigt einen bis zu
seiner Basis reichenden Einriss. Urin frei.
Die Gestaltung des Schadels kann als normal angesprochen werden.
Der fronto-occipitale Durchmesser betragt 16 cm, der biparietale 15,5 cm,
der bimastoid. 11,5 cm, Kopfumfang 54,5 cm, der von den beiden Meat,
auditor, fiber das Schadeldach geftthrte Bogen misst 37 cm.
Der Gesichtsausdruck ist zumeist traurig und etwas einf<ig. Die
oberen Augenlider hfingen ein wenig herab und zwar in ausgesprochenerer
Weise das rechte. Der rechte Bulbus befindet sich in etwas nach oben
rotierter Stellung. Beim Sehen nach aussen bleibt der fiussere Rand der
rechten Cornea zwei, der der linken um einen mm zurflck. Das Gesicht
erscheint im ganzen einigermassen nach links verschoben. Die Funktion
der Gesichts- und Stirnmuskeln ist beiderseits tadellos. Der Oberkiefer
und die obere Zahnreihe sind unregelmfissig entwickelt, insofern der erstere
einen nach aufwfirts und stark nach vorne gerichteten Bogen bildet, wo-
durch beim Mundschluss zwischen beiden Zahnreihen eine bogenfOrmige
Spalte entsteht, welche in der Mittellinie in ihrer grOssten Ausdehnung
1 cm betrftgt. Die obere Zahnreihe ist, im ganzen genommen, fehlerhaft
entwickelt, die einzelnen Zahne betrachtlich kleiner als gesunde, besonders
die Schneidezfihne, deren Durchmesser hOchstens die Halfte eines normalen
ausmacht. Der rechte obere mittlere Schneidezahn ist ausgebrochen.
Die Kranke halt ihren Kopf meistens nach links geneigt, sowie die
linke Schulter niedriger, was hauptsachlich beim Gehen auffallt. Der
dorsale Teil der Wirbelsaule ist etwas nach reclits gebogen, am auffallend-
sten in sitzender Stellung der Kranken. Der innere Rand und Winkel
des rechten Schulterblattes steht ab. Im Lendenteil der Wirbelsaule be-
merkt man eine ausgesprochene Lordose und dieser entsprechend ist der
Bauch auffallend vorgewOlht.
Die Muskulatur des Oberkorpers erscheint etwas schwficher entwickelt
als die des Unterkdrpcrs. Zufolge des eigentiimlichen psychischen Zu¬
standes der Patientin kann die Kraft der einzelnen Muskelgruppen nicht
genau festgestellt werden, indessen ist ausser Zweifel, dass eine grOssere
Ahweichung vom Normalen nicht vorhanden ist.
Die faradische und galvanische Erregbarkeit der Muskeln ist normal.
Ihre oberen und unteren Gliedmassen, sowie den Rumpf vermag die
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Heredodegeneration und kongenitale Lues.
151
Kranke einwandfrei zu bewegen und verrftt bei den ihr aufgetragenen
Bewegungen keinerlei Ungeschicklichkeit oder KoordinationsstOrungen.
Ihr Gang ist sicher und kraftvoll und vermag sie bei Augen- und Fuss-
schlnss ohne Schwanken zu stehen.
Blasen- sowie Mastdarmfunktion sind unversehrt
Die Bertthrungs- und Schmerzempfindlichkeit sowie Temperaturem-
pfindung sind vollkommen normal. Die Ortsempfindung und die stereognos-
tische Fahigkeit sind tadellos. Geschmackswahrnehmung, Riechsinn nor¬
mal. Die Taschenuhr hort sie 50 cm vom linken, 40 cm vom rechten
Ohr entfernt. Rinne ist beiderseits positiv, Knochenleitung gut.
Fingerzahlen mit dem rechten Auge auf V 2 m, mit dem linken auf
1 1 ( 2 m. Mit dem linken Auge sieht sie das Rote grttn, das Violette blau,
die helle Rosafarbe, die grQne, gelbe und blaue erkennt sie. Mit dem
rechten Auge vermag sie Farben ttberhaupt nicht zu erkennen. Das Seh-
feld ist nicht zu untersuchen, da die Aussagen der Patientin nach dieser
Richtung hin nicht verl&sslich sind.
Der Durchmesser der rechten Pupille betrhgt 5, der linken 7 mm.
Die Pupillen reagieren weder auf Licht noch auf Accomodation, verengern
sich jedoch nach Pilocarpineintr&ufelung.
Die Untersuchung des Augenhintergrundes Obernahm liebenswQrdiger-
weise Privatdozent v. Blaskovich, deren Ergebnis folgendes ist: Beide
Papillen sind weiss, nicht vollstandig scharf umgrenzt, die Poren der La¬
mina cribrosa sind etwas sichtbar. Im Verlaufe der Gefasse findet sich
keine berflcksichtigenswerte Veranderung.
Atrophia nervi optici utriusque (mit etwas neuritischem Charakter).
Sohlenreflex, oberer und unterer Bauch-, Lenden-, Lid- und Rachen-
reflex sind auslOsbar.
Vollstandig fehlt auf beiden Seiten der Reflex des Muse, triceps
brachii, der Patellar- und der Achillessehne.
Die Stimmung der Eranken ist sehr labil, im allgemeinen eher zum
Traurigsein geneigt, darum aber auch zum Lachen leicht bestimmbar.
Uber ihre Umgebung beklagt sie sich nicht wenig, gerat leicht in Zorn
und bricht dann oft in Tranen aus. — Unruhigen Naturells, wie sie ist,
liebt sie es, hin- und her-, aus- und einzugehen. Des Nachts steht sie oft
auf, hauptsachlich um sich Wasser zu holen, und trinkt im grossen und
ganzen mehr und dfters, als normal ist. Sie redet und tut keine irgend-
wie anstOssigen Oder unschicklichen Dinge; ihr sittliches Empfinden ist
tadellos. Sie besitzt sowohl Ihr jOngstErlebtes als auch fttr langst verflossene
Ereignisse ein ausgezeichnetes Gedachtnis. Ihr Urteilsvermogen ist im
Vergleiche zu ihrer gesellschaftlichen Stellung und Schulung tlberraschend
gut. Auch zahlen kann sie gentlgend gut. Die Handschrift ist ungeschickt,
sie hat aber angeblich bereits mehrere Jahre keine Gelegenheit zur tJbung
gehabt. Ihre Sprache ist, abgesehen von dem infolge Unregelmassigkeit
der oberen Zahnreihe bedingten Lispeln, einwandfrei.
Indem wir die wesentlichsten Momente aus der Anamnese und
dem gegenwartigen Zustand zusammenfassen, kommen wirzu Folgendem:
Von den 12 Kindern der ohne Zweifel stark belasteten Mutter bleiben
3 am Leben, ohne dass eines unter ihnen normal ist. Die Kranke
selbst beginnt erst im 4.-5. Lebensjahre gehen und reden zu lernen,
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152
IX. v. Diebalt.a
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darauf regelmassige Entwicklung. Nach den Kindeijahren, in der
Pubertatszeit verandert sich ihre Stimmung, ihr Sehvermogen nimmt
ab, scbliesslich gelangt sie in ibrem achtzehnten Lebensjahre ins
Krankenhaus und zeigt folgenden Symptomenkomplex: Anisocorie,
Robertsonphanomen, Atrophia nervi optici, Fehlen samt-
licber Sehnenreflexe, unregelmassig entwickelter Oberkiefer
und obere Zahnreihe, geringgradige Skoliose und Lordose,
ferner bei vollstandig erhaltener Urteilsfahigkeit eine eigen-
tQmliche Storung des Gemutslebens.
Diese eigenartige Gruppierung der Erscheinungen an einem Indi-
viduum, das die Sckwelle des Kindesalters kaum uberschritten hat,
reifte in mir wahrend der ersten Beobachtungszeit jene tlberzeugung,
dass ich es hier mit einem ungewohnlichen Symptomenkomplex des
ererbten endogenen Nervenleidens zu tun babe. Diese Meinung er-
wuchs mir einesteils aus positiven Zeichen hierfiir, anderenteils gelangte
ich dazu auf dem Wege der Exklusion.
Zu den ersteren gehoren: die Belastung von mutterlicher Seite,
der Gesundheitszustand von den beiden lebenden Geschwistern der
Kranken (nervbse Veranlagung, stotternde Spracbe), die im 4.—5. Lebens¬
jahre einsetzende Geh- und Sprechfahigkeit, der Entwicklungsfehler
des Oberkiefers, die Verkrummung der Wirbelsdule und eine ganze
Reihe von Abnormitaten im Nervensystem, unter welchen, wie wir
spater sehen werden, keine einzige ist, die nicht schon auf rein endo-
genem Boden beobacbtet worden ware.
Vom Standpunkte der Differentialdiagnose kommenwegen Sympto-
menahnlichkeit zwei exogene Erkrankungen in Erwagung: die kind-
liche Tabes sowie die kongenitale Lues.
Hauptsachlich die Pupillenstarre und das Fehlen der tiefen Reflexe
konnen den Yerdacht auf kindliche Tabes erwecken. Im allge-
meinen durfen wir behaupten, dass die kindliche Tabes eine sehr seltene
Erkraukung ist und die sorgfaltige Kritik die Zahl der bisher ver-
bffentlichten Falle ausserst verringert hat. 1 ) Die Moglichkeit der Ver-
wechselung mit Lues cerebrospinalis ist namlich sehr gross. Da jene
Symptome, welche berufen wiiren, die Tabes des Kindesalters speziell
zu charakterisieren, auf einem sehr schwankenden Grunde ruhen (das
friihzeitige Erscheinen der Sehnervenatrophie und der Blasensymptome,
die Vielseitigkeit der Erscheinungen). so miissen wir uns hinsichtlich
der Diagnose am zweckmassigsten auf ebendenselben Standpunkt
stelleu, als wenn von der Tabes der Erwaehsenen die Rede sei (Brasch).
1) M. Brasch, Beitrajre zur Atiologic der Tabes. Deutsche Zeitschrift f.
Nerveiiheilkde. I!t01.
Go^ 'gle
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Heredodegeneration und kongeuitale Lucs.
153
Wenn wir von diesem Standpunkte aus den gegenwartigen Fall
untersuchen, dtirfen wir Tabes ersterdings darum nicht annehmen,
weil der ganze klinische Symptomenkomplex nicht dem Krankheits-
bilde der Tabes entspricht, wenn auch einzelne Zeichen daran erinnern
sollten. Die fur Tabes pathognostischen Schmerzen, Empfindungs-
storungen, Blasen- und Mastdarmzeichen haben in dem bisherigen
Verlauf der Erkrankung vollstandig gefehlt, und ohne diese — be-
sonders aber ohne lanzinierende Schmerzen — ist ein mehrere Jahre
dauernder tabischer Prozess kaum denkbar, und habe ich unter den
bisber veroffentlichten Fallen, welche als kindliche Tabes anerkannt
worden sind, auch keinen einzigen finden konnen, wo diese gefehlt
hat ten.
Wenn wir aber die fur Tabes verdachtigen Erscheinungen an der
Kranken — das Fehlen der tiefen Reflexe und die Augensymptome —
betrachten, und dass unter den letzteren der Sehnervenschwund nicht
reine Atrophie, d. h. nicht tabischen Ursprungs ist, erhartet sich jene
berechtigte Annahme, dass dann auch die iibrigen Augensymptome
anderer Herkunft sind (Heredodegeneration, Lues congenita?).
Noch schwieriger ist die Position der anderen Moglichkeit, der
Lues congenita gegeniiber.
Wenn man nach dieser Richtung hin die Erscheinungen des
Nervensystems an der Kranken untersucht, lasst sich wohl sagen,
dass die eigenttimliche Veranderung ihres Gemtttslebens, welches
auf keinerlei Weise in ein gut umgrenztes Krankheitsbild passt, auf
luetischer Grundlage befriedigend erklarbar sei. Abgesehen von den
auf diesem Boden entwickelten und ausgepragten Geisteskranklieiten
(Dementia, Idiotie), welche in iiberwiegendem MaCe die Folgen einer
Meningitis oder Meningoencephalitis sind, kann die kongenitale Lues
als ein die gesunde Entwicklung des Gehirns hemmendes Leiden
bei dem davon betrotfenen Iudividuum in verschiedenen Lebensab-
schnitten diesen Eiufluss geltend machen und sich in Gestalt
kleinerer oder grosserer psychischer Storungen aussern. Freilich
pflegen zumeist auch andere Begleiterscheinungen aufzutreten, z. B.
Epilepsie, Krampfe, Lahmungen, Bewusstlosigkeitszustande — welche
in unserem Falle vollstandig fehlen —, doch schliesst das Fehlen
dieser die Moglichkeit einer Lues cerebri keineswegs aus, anderenfalls
kann es geschehen, dass diese in eiuem spiiteren Stadium der Erkran¬
kung erscheinen.
Der lahmungsartige Zustand der Augenmuskeln, die auf
neuritischer Grundlage entwickelte Sehnervenatrophie ziihlt zu den
haufigsten Erscheinungen der Lues cerebri congenita, und auch das
Robertsonphanomen gehbrt nicht zu den Seltenheiten. Dieses
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154
IX. v. Dieballa
letztere hat man ohnehin schon als die einzige Ausserung der Gehirn-
lues beobachtet (Erb, Stolzenburg, Uhthoff.) 1 )
Das Ausbleiben der Sehnervenreflexe gehort zu den selteneren
Erscbeinungen kongenital luetischer Atiologie, da im allgemeinen die
Rttckenmarkssymptome gegenflber denen vom Gebim in den Hinter-
grund treten. Trotz alledem kennen wir schon eine ganze Reihe
solcher Falle, bei welchen Westphal vorbanden war und in Verbindung
mit anderen Zeichen ein Bild darbot, das an Tabes erinnerte. So
z. B. in Kalischers 2 ) Fall I: bei einem zweifelsohne von lnetischen
Eltern stammenden 6 jahrigen Knaben entwickelte sich eine beginnende
Intelligenzschwache, reflektorische Pupillenstarre, Blasensto run gen,
Westphalzeichen, spezifische Chorioretinitis; gegen Tabes sprach das
Fehlen von Ataxie, lanzinierenden Schmerzen, Empfindungsstorung,
Romber gphanomen. In seinem Fall II, an einem ebenfalls von lueti-
schen Eltern herrtlhrenden 7 jahrigen Madchen, zeigten sich angeborenes
Hautleiden, Geistesschwache, Reste eines spez. Augenleidens, Seh-
nervenatrophie, Pupillenstarre, auf einer Seite fehlender, auf der anderen
abgeschwachter Patellarreflex, Blasenstorungen; gegen Tabes sprachen
Abwesenheit von Ataxie, Romberg, lanzinierende Schmerzen.
Nach Obigem ist offenbar, dass die an der Patientin beobachteten
Erscheinungen vom Nervensystem als kongenitale Lues wohl zu er-
klaren sind. Wenn wir jedoch jene in ibrer Gesamtheit nebmen und
das Krankheitsbild mit den bisber veroffentlichten, auf dem Boden
kongenitaler Lues entwickelten Fallen von Lues cerebrospinalis ver-
gleichen, so ist dennocb auffallend, dass bei unserer Kranken (abge-
sehen von der labilen Natur des Gemfitslebens), genau genommen,
Intelligenzstorung iiberbaupt nicbt vorhanden ist, wo docb-nach den
heutigen Erfahrungen in ahnlichen Fallen jene eines der bestandigsten
sowie ausgesprochensten Zeichen zu sein pflegt; ferner fehlen die in
solchen Fallen gewohnten allgemeinen Erscheinungen, wie Krampfe,
epileptiforme Anfalle, Zustande vod Bewusstlosigkeit u. a. m.
Was die ubrigen Symptome betrifft, passt jene anamnestische Angabe,
dass die Patientin spat gehen und reden gelernt habe, wohl in das
Krankheitsbild; indessen ist bier eines der charakteristiscben Merkmale
flir Lues hereditaria tarda, der Infantilismus, gerade nicht entwickelt.
Nach Neumann 3 ) machen solche Kranken im Alter von 20—24 Jahren
1) Zit. Oppenheim, Die syphilitischen Erkrankimgen des Gehirns. Noth-
nagels spez. Path. u. Therap. 1896. Bd. 9. S. 145.
2) S. Kalischer, Uber infantile Tabes und hereditar syphilitische Erkran-
kungen des Zeutraluervensystenis. Arcliiv f. Kinderhlkde. 1898. Bd. 24.
3) J. Neumann, Syphilis. Nothnagels spez. Path, nnd Therapie. Bd. 23.
1896.
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HeredodegeDeration und kongenitale Lues.
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den Eindrnck eines 10—12 jahrigen Kindes, ihr Rumpf, Knochen- und
Muskelsystem ist wenig entwickelt, ihre Gesichtsfarbe ist fahl, die
Geschlechtsorgane auffallend unentwickelt, Genitalbehaarung fehlt, ihre
Behaarung ist sparlich und ihre Briiste sind in der Entwicklung auch
sehr zurfickgeblieben. Die geistige Entwicklung solcher lasst eben-
falls lange auf sich warten, die Pubertat erscbeint spat und ist weniger
ausgebildet.
Von allem diesen konnen wir nur so viel an der Kranken entdecken,
dass ihr Knochensystem etwas schwacher entwickelt ist, die Muskulatur
des Oberkorpers zwar etwas schwacher erscheint als die des Unter-
korpers, aber dieser Unterscbied ist nicht auffallend und darf, genauer
betrachtet, nicht als krankhaft bezeichnet werden. Ihre Behaarung,
Briiste, aussere und innere Geschlechtsorgane warden auch fur eine
kraftiger entwickelte Frau noch als normal gelten durfen.
Ausserdem fehlen bei der Kranken die bekannten Stigmata der Lues
hereditaria tarda: von der Hutchinsonschen Trias ist nur die auf¬
fallend zurtlckgebliebene Entwicklung der Schneidezahne sowie der
oberen Zahnreihe vorhanden. Dies ist jedoch einesteils mit der
Entwicklungsstorung des ganzen Oberkiefers in Zusammenhang zu
bringen, andererseits fehlt diesen Zahnen der konkave Ausscbnitt am
unteren Rande, sowie die charakteristische Rippung.
Die 'Wirbelsaulenverkrtimmung der Kranken kann mit der an-
geborenen Lues in causalen Zusammenhang kaum gebracht werden;
dasselbe gilt auch fQr den Entwicklungsfehler des Oberkiefers,
denn obgleich die luetische Erkrankung mit Vorliebe den Ober-
kieferknocheu befiillt, pflegt diese sich als destruierende Periostitis
oder Gumma zu ausseren, welchen keiner die vorliegende Veranderung
entspricht.
Die grosste Schwierigkeit bildete naturlich der Umstand, dass
sich keine Gelegenheit fand, die Eltern und Geschwister der Patientin
zu untersuchen, und die auf brieflichem Wege gewonnen anamnestischen
Daten auch nicht erschopfend waren. Verdachtig war das frtihzeitige
Hinsterben von 7 Geschwistern der Kranken, aber jener Umstand,
dass ibre Mutter 12 lebende Kinder geboren hat, sprach nicht sehr
fur Syphilis.
Demzufolge kam ich in Erwagung aller Pro- und Contra-Argu-
mente zu dem Schlusse, dass das ganze Krankheitsbild in das Gebiet
der hereditareu Nervenleiden gehort.
Die Hervorhebung der Vererbuug als einheitlicher, spezifischer
krankheitsbedingender Faktor und einer auf diesem Grunde durch-
gefuhrten Zusammenfassung der zu einer Klasse gehorigen Nervenleiden
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IX. v. Dieballa
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stammt von Jen dr as sik 1 ). Er sprach 1896 den Satz aus, das die ge-
meinsame pathologische Grundlage der hereditaren Nervenleiden eine
einfache Entartung der Nervenelemente darstelle, klinisch aber seien
diese Leiden in derselben Familie durch den gleichen Ablauf, dagegen
in verschiedenen Familien durch eine fast unerschopfliche Mannig-
faltigkeit der Symptome gekennzeichnet. 1899 fasste er in einer im
„Handbuch der inneren Medizin", Bd. VI erschienenen Arbeit 2 ) diese
einer einheitlichen pathologischen Grundlage entspringenden Er-
krankungen unter „hereditare Nervenleiden" in eins zusaromen. Im
Sinne dieser Auffassung sehen wir solche Leiden zu einer Gruppe
gehorend, deren endogener Ursprung schon bisher mehr oder weniger
offenkundig gewesen ist, die aber in Mangel einer einheitlichen patho¬
logischen Auffassung und wegen ihrer Symptomenahnlichkeit bisher
fur exogen angesprochen wurden, daher in Verbindung mit im Grunde
vollstandig verschiedenen Erkrankungen Berucksichtigung fanden. So
wurden z. B. die Friedreichsche Ataxie und die Huntingtonsche
Chorea als zusammengehorig klassifiziert, von welchen man damals
die erstere mit der Tabes, die letztere hingegen mit der gewohnlichen
infektiosen Chorea in Zusammenhang brachte. Ein weiteres Entwiek-
lungsmoment in der Lehre von den hereditaren Erkrankungen bedeutet
die These Jendrassiks 3 ), dass die vererbten Krankheitsformen nicht
in typischen, abgegrenzten Krankheitsbildern erscheinen, sondern die
Variation der Phanomeue in endloser Weise und heterogenstem Um-
fange vorkommt Die einzelnen Typen hat man zwar fur den prak-
tischen Gebrauch aufrecht erhalten, aber man darf diese nicht als selbst-
standige Leiden auffassen.
Higier 4 ), welcher 1896 die wichtigsten Vertreter heredofamiliarer
Nervenleiden zusammengestellt hat, bemerkt, dass durchaus nicht immer
reine Typen vorkommen, sondern die Zahl der Misch- und Ubergangs-
formen eher zunehme und bei der labilen Art der Grenzlinien eine
strenge DiS’erenzierung der Typen in einzelnen Fallen nicht durchfflr-
bar sei. Ob wir dann derartige Misch- und Ubergangsformen atak-
tische cerebrale Diplegie, spastische Friedreichsche Krankheit oder
cerebellare Heredoataxie nennen, das ist schliesslich auch gleichgiiltig.
1) E. Jendrassik, Uber Paralysis spastica und fiber die vererbten Ner-
venkrankheiten im allgemeinen. Deutsches Arch, fur kl. Med. Bd. 48.
2j Derselbe, Az atoroklddo idegbajok. Belgyogyiiszat kczikonyve. 1899. VI.
3) Derselbe, Beitn'ige zur Kenntnis der hereditaren Krankheiten.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1902. Bd. 22.
4) H. Higier, Uber die seltenen Formen der hereditaren und familiaren
Him- und Rrtckeninarkskrankheiteu. Deutsche Zeitschr. t. Nervenheilkde. 1890.
Bd. 9.
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Heredodegeneration und kongenitale Lues.
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Kollarits 1 ) beschreibt zahlreiche UDd lehrreiche Beispiele
ruehrerer, ohne Grenze ineinander iibergehender hereditarer Nervenleiden,
welche einesteils in die fruher aufgestellten Tjpen iiberhaupt nicht
einzuordnen sind, anderenteils den bestehenden engen Zusammenhang
dieser andeuten.
Nach Durchsicht der zu meiner VerfGgung stehenden Literatur
muss ich erwahnen, dass ich nirgends eine diesem vorliegenden Falle
ahnliche eigentumliche Gruppierung der Symptome gefunden habe,
andererseits mochte ich hervorheben, dass von den an der Patientin
beobachteten Erscheinungen keine einzige ist, welche nicht schon als
rein endogenen Ursprungs beschrieben worden ist. So z. B. veroffent-
lichte Wilhelm Leitner 2 ), die Augensymptome betreffend, eine
neuritische und dennoch auf rein familiarer Hereditat beruhende
Atrophie des Sehnerven. Bei zwei Familien, in der einen an 6, in
der anderen an 5 Familiengliedem, entwickelte sich die hereditare Neu¬
ritis und im Anschluss daran die Sehnervenatrophie. Privatdozent
Blaskovich, der zu jener Zeit diese Falle ebenfalls beobachtet hatte,
erwabnte mir gegenliber die grosse Ahnlichkeit hinsichtlich der
Spiegelbilder dieses und der oben angefiihrten Falle. Ich hielt die
Betonung dieses Umstandes aus dem Grunde notig, weil die auf
familiarer Degeneration beruhenden Sehnervenatrophien in fiberwiegen-
der Mehrheit das Bild der reinen, nicht neuritischen Atrophie zu
bieten pflegen.
Die in unserem Falle beobachtete Puppillenstarre kommt in
der Literatur, der auf Hereditat beruhenden Nervenleiden, als verein-
zeltes, aber keineswegs alleinstehendes Zeichen vor. Bei einem Falle
der familiaren cerebellaren Ataxie beobachtete Sanger-Brown Robert-
sonzeichen, bei einem anderen Klippel und Durante 3 ) die Ent-
wicklung vollstandiger Pupillenstarre.
Halblahmungsartiger Zustand einzelner Augenmuskeln,
welcher bei unserer Kranken besteht, ist ein in der Erscheinungsreihe
familiarer Degenerationen so gewohnlicher Befund, dass deren Ana¬
logic zu erwahnen uberfliissig erscheint.
Dasselbe besteht zu Recht auch beziiglich des Fehlens der tiefen
Reflexe, und in dieser Hinsicht geniigt es, wenn ich auf die Fried-
1) J. Kollarits, Beitriige zur Kenntnis der vererbten Nervenkrankhciten.
Deutsches Arch. f. klin. Med. 1906. Bd. 30.
2) Leitner, Vilmos, Az oroklutt latuidegsorvadasrol. — Orvosi hetilap —
Szem^szet 1897.
3) Zit. J. Baunilin, Uber familitire Erkrankungen des Nervensystems.
Deutsche Zeitschr. f. Kervenheilkde. 1901. Bd. 20. S. 305.
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IX. T. Dieballa
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reichsche Ataxie und die in der Literatur vorkommenden, zahl-
reichen Falle hinweise, welche einem bestimmten Typus nicht ein-
zuordnen sind.
Ftir ein beachtenswertes Zeicben halte ich die Wirbelsaulen-
verkrummung der Kranken. Schon gelegentlich der ersten Exami-
nierung klagte die Kranke, dass seit letzterem ihr Bauch zunehme,
und erklarte mit voller Bestimmtheit, dass dieser Zustand vorher nicht
bestanden babe. Das Abdomen ist tatsachlich nicht unbetrachtlich
hervorgewolbt, was auf die Lordose der Lendenwirbelsaule zuruck-
geffihrt werden kann. Wenn die oben angefQhrte Behauptung der
Patientin verlasslich ist, so folgt daraus, dass auch die Verkrummung
der Wirbelsaule jungeren Datums ist, d. h. wir haben es mit einem
progressiven Prozesse zu tun. Da jedoch die Rumpfmuskulatur eine
anormale Abweichung weder in ihrer Ruhelage, noch wahrend ihrer
Funktion erkennen lasst, mussen wir diese Veranderung des Knochen-
systems als einen unabhangigen, primaren Yorgang deuten.
Die Dystrophie des Knochensystems bei hereditar Degenerierten
ist hinlanglich erwiesen. Ausserordentlich lehrreich ist eine Beobach-
tung Schultzes 1 ), welcher bei einem von Muskeldystrophie be-
fallenen Geschwisterpaar, neben starker VerkrQmmung der Wirbel¬
saule, einen hochgradigen Schwund der Rippen, Beckenknochen und
Rohrenknochen der Extremitaten beobachtete. Bei einem dieser Falle,
welcher zur Autopsie kam, erwies sich, dass die Ganglienzellen des
RQckenmarks und vorderen Wurzeln unversehrt waren, kurz, esbandelte
sich nicht um eine neurogene, sondern ganz idiopathische Atrophie.
Jendrassik nahm unter die Grundbedingungen der hereditaren
Leiden auf, dass diese jedes Gewebe des Organismus befallen konnen,
das Nervensystem ebenso gut wie die Muskulatur, das Bindegewebe,
die Knochen (Achondroplasie, Osteodystrophie usw.) oder einzelne
Organe.
Unter den von Kollarits veroffentlichten Fallen ist bei dem
einen (Fall Nr. VIII) der Unterkiefer verandert, wodurch zwischen
Schneide- und Augenzahnen ein erheblicher Spalt blieb, dergestalt,
wie im vorliegenden Falle, mit jenem Unterschiede jedoch, dass sich
die Veranderung hier auf den Oberkiefer bezieht.
Nach dem Obigen ist nun offenbar, dass die Einordnung unseres
Falles in die Reihe der endogenen Krankheiten keine besonderen
1) Uber Kombination von fam. progr. Pseudohypertrophie der Moskeln mit
Knochenatrophie und von Knochenatrophie mit der „Spondylose rhizom£lique“
bei zwei Geseliwistern. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1899. Bd. 14.
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Heredodegeneration and kongenitale Lues.
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Schwierigkeiten macht. Deanoch bleibt jener ungewohnliche Umstand,
dass an der Muskulatur der Kranken und in ihrer Bewegungssphare,
eine nennenswerte Veranderung nicbt nachzuweisen war, ubrig, wo-
nach nach den bisberigen Erfabrungen in der Gberwiegenden Mehrzahl
der Falle amyotrophische, spastische Oder ataktische Typen beschrieben
worden sind. Darum wird man sich bier zu weiterer Beobachtung
sowie Untersuchung veranlasst seben, um so mehr, da es nicbt in
meiner Macht stand, die Familie der Erkrankten zu untersucben und
somit der fur die Erkenntnis der Natur des Leidens gewichtigste Be-
weis — das atiologisch objektive Moment — nicbt zu meiner Ver-
ftigung stand.
Aus diesem Grunde bielt ich es fur angebracbt, die LJntersucbuiig
mit der Wassermannschen Sypbilisreaktion zu vervollstandigen,
welche von einander unabhangig Dr. Bresowski, Unterarzt an der
Abteilnng des Prof. Ron a, spater aber Privatdozent bei B. Yas aus-
zufUhren die Freundlicbkeit batten.
Das Resultat war in beiden Fallen obne alien Zweifel positiv.
Es geh3rt nicht in den Rahmen dieser Veroffentlichung, auf die
Wassermannsche Reaktion naher einzugeben — Gbrigens ist ja die
Frage an der Tagesordnung —, indessen dttrfen wir aus den bis¬
berigen Erfahren auf jeden Fall so viel folgern, dass die positive
Wassermannprobe mit grosster Wahrscheinlichkeit (nach einigen mit
Gewissheit) luetiscbe Infektion beweist.
Daher darf man sich auch in diesem Falle der beweiskraftigen
Bedeutung der Wassermannprobe keineswegs verschliessen, und somit
tritt die eventuelle Mitbeteiligung kongenitaler Lues in der Pathogenie
dieses eigentumlicben Krankbeitsbildes nochmals in die Yordergrund,
um so mehr, wenn wir die erfolgreicbe therapeutische Beeinflussung
der bei der Kranken beobachteten Kopfschmerzen berncksichtigen. Von
dem der dritten positiven Wassermannprobe nachstfolgenden Tage
an erhielt namlich die Patientin 1,5 g Jodkali pro die, worauf [der Kopf-
schmerz bald aufhorte und sich seither nicht wieder gezeigt hat.
Bereits oben haben wir ausgefuhrt, dass fast samtliche an der
Kranken beobachteten Symptome auf dem Boden kongenitaler Lues er-
klarbar sind, nur die Yerbiegung der Wirbelsaule und die Difformitat
des Kiefers erscheinen in diesem Krankheitsbild ungewohnlicb und
erinnem eher an Heredodegeneration. Andererseits suchten wir auch
darzutun, dass diese Erscheinungen samtlich gut verstandlich sind als
Heredodegeneration, und dass deren eigenartige Gruppierung dafur zu
sprechen scheint. Dass es sich um hereditare, endogene Belastung
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160 IX. v. Dieraixla, Heredodegeneration und kougenitale Lues.
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handelt, beweisen vollauf die Geisteskrankheit der Mutter, Taubstumm-
heit der Tante und das Stottern der Geschwister.
Diesem allem zufolge ergibt sich mit Wahrscheirdicbkeit, dass
unsere Kranke zu den Heredodegenerierten gehbrt, und dass
bei dem Zustandekommen des Krankheitsbildes auch der
angeborenen Lues eine wichtige Rolle zukommt.
Da in diesem Falle die Erkenntnis dieses letzteren Faktors durch
die Wassermannprobe ermoglicht wurde, halte ich es fur ge-
raten, bei an Heredodegeneration erinnernden, jedoch nicht
ganz reinen S ymptomkomplexen die Durchffihrung der
Wassermannprobe nicht zu versaumen.
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X.
Aus der medizinischen Elinik zu Frankfurt a|M. (Direktor: Prof. Dr.
Luthje).
Uber Messungen der Hauttemperatnr bei Gesunden und
Nervenkranken.
Von
Dr. R. Claus-Bad Elster und Dr. A. Bingel,
Oberarzt der Klinik.
Messungen der Qauttemperatur sind zu verschiedenen Zeiten und
zu verschiedenen Zwecken unternommen worden. In Deutschland ge-
schah es zunachst aus mehrfachen Grunden: erstens um das Verhaltnis
der Edrperwarme zur Temperatur lokaler Entzundungsherde zu stu-
dieren (Wunderlich, Billroth, Weber usw. 1 )), femer um die schon
im normalen Zustande beobachteten Schwankungen der Hauttemperatur
im Gegensatz zu der Temperatur der Achselhohle (Henkel 2 ), Jacob¬
son 3 )) eventuell fur diagnostische Zwecke zu benutzen (Schulein 4 ),
Wegscheider 5 )), und endlich gelegentlich derErforschungdes Warme-
haushaltes, besonders im Fieber (Senator 6 ), Cohnheim 7 ), Geigel 8 ),
Strauss 9 )). In alien diesen Arbeiten handelt es sich um vergleichende
Messungen zwischen der Korperwarme und der Temperatur
der Haut. Zwischen korrespondierenden Korperteilen bei ein-
seitigen Erkrankungen, hauptsachlich der Brustorgane, vergleichende
Messungen anzustellen, war man indessen in Frankreich bemuht
gewesen (Peter, Inblee-Duval und Landcienne, Vidal) und man
war dabei zu dem Eesultat gekommen, dass die Haut der erkrankten
Seite warmer sei als die der gesunden (z. B. bei Pleuritis, Pneumonie).
Diese Lehre wurde aber durch Lereboullet 10 ) als nicht immer zu-
treffend umgestossen; dieser Autor brachte den Nachweis, dass auch
schon beim gesunden Menschen Differenzen in der Hauttemperatur
symmetrischer Korperstellen vorkommen und dass bei Kranken (z. B.
Lungenspitzenkatarrh) selbst die gesunde Seite warmer sein konne als
die kranke. In Deutschland hat man sich erst in neuerer Zeit, ver-
anlasst durch Bier 11 ), mit der vergleichenden Messung der Hauttempe¬
ratur entsprechender Korperteile, hauptsachlich gesunder underkrankter
Gelenke befasst (Herz 12 ), Sommer 13 ), Rothe 14 )). Ausgiebigere Mes-
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilknnde. 37. Bd. 11
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162
X. Claus u. Bingel
sungen der Hauttemperatur symmetriscber Korperstellen gesunder
Personen scbeinen uberhaupt bei uns noch nicbt vorgenommen worden
zu sein, wenigstens war es uns nicbt moglicb, in der Literatur Auf-
schluss hieriiber zu gewinnen. Nur bei Rubner 15 ) fanden wir einige
Zahlenreihen, welcbe bei Hauttemperaturbestimmungen entsprechender
Gesichtsstellen gewonnen waren; ebenso bei Oehler ,6 ), welcher innige
Beziehungen der Hauttemperatur zu den Scbwankungen der Korper-
temperatur feststellte und dabei gezwungen war, an entsprechenden
Korperstellen zu messen. Dabei fanden sich relativ geringe Unter-
schiede in der Temperatur der gemessenen symraetrisch gelegenen
Partien. — Man gewinnt uberhaupt den Eindruck, als ob von jeher
eine genaue Ubereinstimmung der Hauttemperatur gleichsinniger Korper¬
stellen angenommen worden sei, anders lassen sich die immer wieder-
kehrenden Worte „hoher oder niedriger als die andere Seite“ nicht
deuten. Und doch ist solchen Angaben erst dann Bedeutung beizu-
messen, wenn grundsatzlich feststeht, dass gleichsinnigen Hautpartien
die gleiche Temperatur zukommt. Auch Kunkel 17 ) geht in seiner
ausfuhrlichen, auf zahlreicben exakten Messungen basierenden Arbeit
auf diesen Punkt nicht ein, doch mochte man aus seinen sonstigen
Darlegungen und Tabellen annebmen, dass er zu gleichen Resultaten
— d. h. gleiche Temperatur an gleichen Hautstellen — gekommen ist.
Bei Wegscheider 5 ), welcher die Achsenhohlentemperatur mit den
Temperaturen beider FOsse verglicb, fanden wir Differenzen in der
Hautwarme' der letzteren von ziemlich betrachtlicher Grosse (bis 1,5° C.),
doch konnen diese Messungen wegen der angewendeten Methode (Ein-
kleihmen von Thermometern zwischen den Zehen) Dicht als einwandsfrei
angesehen werden. Zu den oben von uns erwabnten Bedenken, dassschon
normalerweise die Temperaturen gleicher Hautstellen von einander
abweichen konnen, ist aucb Rothe 14 ) gekommen, denn er konnte die
von Rubner 15 ), Anrep und Melcop 18 ) gemachten Angaben fiber
kleine Warmeunterschiede an korrespondierenden Korperstellen Ge¬
sunder wenigstens fur Gelenke bestatigen. „Allerdings handelt es sich
dabei nur um geringfugige Differenzen (unter 0,5° C.). Immerhin
nimmt er daraus die Lehre, dass man bei Erkrankungen Temperatur-
untersckieden unter 1 0 C. im allgemeiuen keine Bedeutung zuschreiben
darf.“ Dass auch im Fieber der Korper bestrebt ist, an symmetrischen
Hautstellen moglichst die gleiche Temperatur zu erhalten, lehren uns
die ausfuhrlichen Zahlenreihen Grunenwalds 19 ), welche allerdings zu
einem anderen Zwecke gewonnen sind. Bei annahernd 1000 Einzel-
messungen erhoben sich die Differenzen zwischen beiden Seiten selten
fiber 0,5 u C., und nur 3 mal begegnen wir Unterschieden von 1°, 1 mal
von 1,1°, 2 mal von 1,2° und 1 mal von 1,4° C.
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Uber Messungen der Hauttemperatur bei Gesunden n. Nervenkranken. 163
Wir sehen also, die Frage, bis zu welcher Grenze bei gesunden
Menschen Differenzen in der Hauttemperatur genau symmetrischer
Stellen vorkommen und wann etwaige Unterscbiede als abnorm be-
zeicbnet werden miissen, ist noch nicht genau festgestellt. Dies zu
ergrunden erschien uns nicht unwichtig, ehe wir, dem Plan unserer
Arbeit entsprechend, daran gehen konnten, vergleichende Messungen
bei Nervenkranken vorzunehmen und aus den gewonnenen Resultaten
etwaige Scblusse zu ziehen.
Wir haben zu diesem Zweck zunachst bei einer Reihe Gesunder
bez. fieberloser Kranker Messungen der Hauttemperaturen vorgenommen.
Ehe wir aber auf die hierbei gewonnenen Resultate eingehen, halten
wir noch einige Bemerkungen fiber die Methodik fur angezeigt.
Methodik: Dass die thermoelektrische Messung, wie sie mit
einigen Abweichungen in der Konstruktion des Instrumentes von Kunkel,
Rubner, Kothe etc. angewendet worden ist, die genauesten, d. h. der
wirklichen Hauttemperatur am nachsten kommenden Resultate liefert,
durfte keinem Zweifel unterliegen. Aber sie kommt als zu teuer und
zu umstandlich ffir die rasche Orientierung, besonders in der Praxis,
nicht in Frage. Wir haben deshalb ffir unsere Zwecke (gleichzeitige,
z. T. langer dauernde Temperaturbestimmungen) das von Haak in
Jena konstruierte und auch vonOehler 16 ) benutzte Thermometer an¬
gewendet. Dasselbe stellt ein Kontaktquecksilberthermometer dar, dessen
Gefass in horizontaler Ebene mit einem Durchmesser von ca. 3 cm
schneckenformig aufgerollt uud zum Schutze gegen Luftstromungen,
Feuchtigkeit etc. durch eine kleine Glasglocke geschfitzt ist. Nur in
der Methodik sind wir von derjenigen Oehlers abgewicben. Oehler
erwarmte das Gefass an der eigenen Handflache bis zu einer Tempera-
tur, die nur um einige Grad niedriger war als die zu messende Haut-
stelle (meist ca. 30°), „setzte dann das Instrument auf die zu messende
Hautpartie auf und ffibrte es hier, ohne die Zirkulationsverhaltnisse
zu andern, unter langsamem leichten Gleiten, ungefahr in der Aus-
dehnung eines kleinen Handtellers, so lange umher, bis der Queck-
silberfaden, der im Anfang gewohnlich sehr rasch anstieg und sich
von da ab nur noch um Zehntelgrade erhob, einen fixen Punkt er-
reicht hatte. Die Messung einer Hautstelle nahm auf diese Weise
nur ca. 1 Minute in Anspruch, konnte deshalb in beliebiger Haufig-
keit wiederholt werden. Wurde das Thermometer einmal langer auf-
gesetzt, so kamen hochstens Schwankungen des Quecksilberfadens bis
zu 3 Zehntelgraden zur Beobachtung“.
Mit dieser „abgekfirzten Methode mit gleitendem Thermometer 14
sucht Oehler den Einwiinden, die man gegen die langer dauernde
thermometrische Messungsweise erhoben hat (eventuelle Abkfihlung
11 *
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164
X. Clatjs u. Bingel
der Haut und Beeintrachtigun g der Warmeabgabe derselben) zu be-
gegnen. Dem gegenQber mochte man aber umgekehrt einwenden,
dass das Anwarmen des Instrumentes an der eigenen, nicht immer
absolut trockenen Hohlhand, das Gleitenlassen des relativ nocb klihlen
Gefasses auf einer ca. bandtellergrossen, zn messenden Hautflacbe
seinerseits abnorme Bedingungen scbafft, und dass man somit auch
der Oeblerscben Methode gegenuber gewisse Bedenken haben kann.
Wie schon oben erwahnt, sind wir uns der Nachteile des Queck-
silbertbermometers und der Unmoglichkeit, sie auszuscbalten, wobl be-
wusst, halten aber docb das Haaksche Thermometer insofern fdr
brauchbar, als es sicb mit einer breiten Flache auflegt und sehr rasch
ansteigend einen fixen Punkt erreicht. Wir mochten dies besouders
Gartner gegentiber betonen, dessen Thermometer, wie Versuche zeigten,
nicht schneller ansteigt, dafftr aber mit seinem schmalen, einschliess-
lich des schiitzenden Hartgummischuhes 5 V 2 cm langen Gefasses als Basis
und seiner langen Saule sicher unhandlicher ist. Vergleichende Ver¬
suche ergaben, dass, wenn das Haaksche und Gartnersche Ther¬
mometer gleichmassig auf 26° C. erwarmt und auf eine Unterlage
(Haut) yon ca. 34,5° aufgesetzt wurden, die Quecksilbersaulen gleich¬
massig anstiegen und nach 1—1 */ 4 Minuten den gleichen Punkt er¬
reicht hatten.
Unsere Messung geschah nun folgenderweise: Zunachst wurde
die das Quecksilber schiitzende Glasglocke mit einem schmalen Heft-
pflasterstreifen, durch dessen Mitte die Saule des Thermometers hin-
durchgestreckt war, armiert. Dann wurde das Thermometer, nach-
dem oberflachlich die Hauttemperatur einer der zu prufenden nahe
gelegenen Stellen mit dem aufgelegten Handriicken geschatzt war, in
der Nahe der Heizkbrper gleichmassig (d. h. auch die Glasglocke)
erwarmt, und zwar annahemd auf die zu erwartende und normaler-
weise fur bestiramte Stellen nur innerhalb geringer Grenzen schwan-
kende Temperatur gebracht (30—33° C). Hierauf wurde das In¬
strument dicht neben der vorher genau bezeichneten, zu messenden Stelle
vorubergehend aufgesetzt und vorlaufig nur mit der Hand (an der
Saule) so lange festgehalten, bis nach einigen Sekunden der Ruhepunkt
erreicht war.
Nunmehr wurde es sofort an der wirklich zu messenden Haut-
partie durch den Heftpflasterstreifen in der Weise fixiert, dass das
Gefiiss zwar Gberall gleichmassig auf der Haut aufsass, ein Druck auf
dieselbe aber nicht ausgeubt wurde. Die nur einige Sekunden wah-
rende Einstellung des vorher augevvarmten Thermometers an einer
der zu prufenden benachbarten Stelle hielten wir fur erforderlich, urn
Reize von ersterer fern zu halten, und fur berechtigt, da Temperatur-
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Uber Messungen der Hauttemperatur bei Gesunden a. Nervenkranken. J65
unterschiede an nahe gelegenen Hautabschnitten nur sehr gering sind
undnach Kunkel nur ausserst selten 0,6° C. betragen, eine Beobachtung,
die auch wir bei unseren Messungen immer wieder bestatigen konnten.
Der Warmeaustausch, der nach diesen Vorbereitungen und nach
Fixierung des Thermometers zwischen Haut und Instrument bis zur
Erreichung des fixen Punktes und bis zur Notierung desselben statt-
fand, muss sich somit auf ein Minimum beschranken. Wir sind des-
halb wohl berechtigt, fur den Zweck unserer Arbeit die Temperatur-
bestimmung der Haut mit Hilfe des Quecksilberthermometers als
vollkommen geniigend und die dabei erhaltenen Werte als genaue
anzuseben.
Erwahnt sei nocb, dass wir in den meisten Fallen die zu messenden
Hautpartien einige Zeit (10—15 Min.) vorher gleicbmassig entblossten,
um der Haut Zeit zu lassen, sich an die etwas ktlblere Temperatur
der Zimmerluft zu gewohnen und den durch das Abzieben der Klei-
dung und die Entblbssung gesetzten Reiz wieder auszugleichen. Die
Zimmertemperatur schwankte zwischen 18—20° C., nur einige Male be-
trug sie versuchsweise 20—24° C.
Um endlich etwaige rasch oder nicht gleichsinnig erfolgende
Schwankungen der Hauttemperatur feststellen zu konnen, baben wir
die Thermometer meist langere Zeit liegen lassen, mochten aber bierbei
bemerken, dass wir denselben nur dann besondere Aufraerksamkeit
schenken konnten, wenn sie auffallig zutage traten, da selbstredend
durcb das langere Liegen der Thermometer gewisse abnorme Be-
dingungen (veranderte Zirkulation, Behandlung der Warmeabgabe) ge-
schaffen werden konnen.
Versuche. Bestimmungen von Hauttemperaturen wurden bei 11
(1—11) fieberlosen Kranken und 3 gesunden (11—14) Personen vor-
genommen, und zwar bei den meisten an den Extremitaten, da schein-
bar an den peripheren Teilen des Korpers eher Differenzen zwischen
symmetrischen Stellen vorkommen wie am Stamm, und da wir ja be-
sonders den bei Nervenkranken (Apoplektikern usw.) etwa bestehenden
Differenzen nachgehen wollten. Zum Vergleich wurde gelegentlich
noch bei 6 Fieberkranken die Hauttemperatur an korrespondierenden
Stellen bestimmt. — Notiert wurde die Hohe des Queeksilberfadens,
sobald der Ruhepunkt erreicht war, und wenn das Thermometer langere
Zeit liegen blieb, in Abstanden von 5 zu 5 Minuten. Gleichzeitig
wurde meist vor Beginn und nach Schluss einer langer dauemden Mes-
sung die Achselhohlentemperatur festgestellt.
Unsere Resultate geben wir in Tabellen*) wieder. Dabei zeigen
*) Auf Veranlassung des Herm Herausgebers dieser Zeitschrift geben wir
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X. Claus u. Binoel
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die oberen, wagrechten Zahlenreihen die Temperatur der rechten, die
unteren die der linken entsprecbenden Stelle an.
Gr. D. bedeutet die grosste Temperaturdifferenz, welche zwiscken
beiden gleichsinnigen Partien gefunden wurde.
Z.-T. = Zimmertemperatur.
K.-T. = Korpertemperatur.
U. = Unterschiede zwischen Haut- und Axillartempe ratur.
Die Hauttemperatur eines Gliedes hangt hauptsachlich ab von
2 Faktoren, namlich von der im Muskel, besonders im tatigen Muskel,
gebildeten Warme und ferner von einer durch vasomotorischen Einfliisse
bewirkten Veranderung der Durchblutung. Solche vasomotorische Ein-
flfisse konnen die Gefasse der Haut -direkt treffen, oder die Durchblu¬
tung des Gliedes kann durch Muskeltatigkeit angeregt sein, ist also
eine indirekte Folge der Muskeltatigkeit.
Wir werden bei Anderungen der Hauttemperatur auf diese Dinge
noch naher zu sprechen kommen.
Uberblicken wir unsere an den 11 fieberlosen Leichtkranken und
an den 3 Gesunden durch 364 Einzelmessungen an symmetrischen
Stellen gewonnenen Resultate, so finden wir die geringsten Differenzen
am Stamme (0,0—0,4 °), die grossten Unterschiede dagegen an den
Extremitaten (je 1 mal 0,5 [Unterscbenkel], 0,6 [HandrQcken], 0,8 [Unter-
arm], 0,9 [Oberarm], 1,0 [Unterschenkel]). Aber im allgemeinen sind
doch auch hier die Grenzen eng gesteckt, denn, abgesehen von den
wenigen extremen Zahlen, finden wir nur Differenzen von 0,1—0,4 0 C.
Wir konnen deshalb sagen: Die Temperaturen genau symmetrischer
Hautstellen weichen im allgemeinen nur sehr wenig von einander ab;
es kommen aber doch schon normalerweise, wenn auch selten, Diffe¬
renzen am Rumpfe bis zu V 2 0 C., an den Extremitaten bis 1 0 C. vor.
Infolge dessen kann man erst dann von einem abnormen Zustand sprechen,
wenn der Unterschied am Rumpf mehr als i j 2 0 C., an Armen und
Beinen mehr als 1 0 C. betragt. Scheinbar hat dieser Satz auch fiir
fieberhafte Erkraukungen Geltung; dafiir sprechen sowohl die Zahlen
Grunenwalds ,9 ) wie die von uns gefundenen Werte.
Des weiteren lehren uns die liinger dauernden Messungen, dass
ein fortwiihrender Wechsel der Hautlemperatur — Wegfallen ausserer
unsere Versuchsprotokolle nielit alle wieder, sondcrn wahlen aus der grossen Za'.il
von Protokollen nur einitre wenige Beispicle aus. Wir sind gern bereit, dem-
jenigen, der sieh niilier fiir unsere Messungen interessiert, unsere Originalpro-
tokolle zur Verfiigung zu stellen. Die Patienten, an denen wir unsere Unter-
suelmngen inaehten, entstainmten zuni Teil deni stiidt. Hieehenhaus zu Frank¬
furt a M. Dem Loiter dieser Anstalt, Herrn Prof. Knoblauch, sprechen wir
unseren ergebenen Dank aus.
Go^ 'gle
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Uber Messungen der Hauttemperatur bei Gesunden u. Nervenkranken. 167
Reize vorausgesetzt — nicht stattfindet, sondern dass dieselbe sich
relativ konstant erhalt Verandert wird die Hautwarme nur durch
deo Wechsel der Korperwarme, und zwar so, dass sie letzterer parallel
geht (Fall 1, 6) oder durch aussere, die Temperatur der Haut beein-
flussende Umstande, z. B. kuhle oder warme Zimmertemperatnr
(Fall 4, 10), oder langeres Blossliegen des zu messenden Korperteils
(S, 20). Es linden somit die nacb dieser Richtung hin gemachten
Beobachtungen Oehlers 10 ) und GrQnenwalds ihre Bestatigung.
Endlich ergaben unsere kontinuierlichen Messungen, dass Steigen
oder Fallen der Hauttemperatur auf beiden Seiten vollkommen gleich-
raassig erfolgt.
Bei einseitiger Arbeit jedoch steigt die Temperatur des arbeitenden
Gliedes (Fall 21).
Fall 21. Paul Schmalz, 16 Jahre, geheilte Angina. Z.-T. 22 0 C.
5 jo
5 55
6oo
6 5
32,8
33,1
33,2
33,4
33,0
33,2
33,3
33,2
Das rechte Bein wird im Knie rechtwinklig gebeugt, dann der Unter-
sckenkel gestreckt, dann wieder in Rubelage gebracht. Diese Ubung wird
56 mal wiederholt bis zu starker MQdigkeit innerbalb von 7 Minuten.
6 20
6 25
030
635
34,2
34,4
34,5
34,5
32,8
32,8
32,8
32,9
Durch einseitige Arbeit steigt in diesem Fallc also der Temperatur-
unterschied des arbeitenden Beins gegenOber dem ruhenden auf 1,4°.
Ia u. b. Betrachten wir jetzt zunachst die Resultate unserer Mes¬
sungen in 6 frischen, d. h. nicht langer als 8 Tage bestehenden Fallen
von Apoplexie mit halbseitiger Lahmung, so finden wir in alien Fallen
die Temperatur der Haut der gelahmten Glieder erhoht, und zwar dort,
wo es sich um eine vollkommene Aufhebung der Motilitat handelt,
urn 1 0 C. oder mehr — eine nach unseren fruheren Ausfuhrungen Uber
das gewohnliche MaB hinausgehende, also abnorme Differenz. Wie
lange die Erhohung anhielt, richtet sich wohl nach der Eigenart des
Falles. Oppenheim 2I ), welcher auf vasomotorische Storungen bei
Apoplexie aufmerksam macht, sagt, dass die Temperatur des gelahmten
Gliedes „im Beginn oft erhoht sei, wahrend sich in den spateren
Stadien die Haut an den der Lahmung unterworfenen Extremitaten
kuhl anfQhle und oft cyanotisch verfarbt sei“. So viel geht jedenfalls
aus unseren Beobachtungen hervor, dass dort, wo die Lahmung nor-
maler Motilitat weicht, auch die Teraperaturwerte der Haut sich all-
mahlich auf die normalen Werte einstellen, wahrend da, wo sich keine
Besserung oder nur eine geriuge aktive Beweglichkeit weiter zeigt,
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168
X. Claus u. Bingel
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die Hauttemperatur der betreffenden Gliedmassen aus der ehemals er-
hohten in eine eventuell dauerad abnorm niedrige iibergeht (Fall 4).
4. Fall. W., Privatus, 64 Jahre, Apopl. cer. Hemipl. dextra.
5. Krankheitstag: Motilitat des rechten Arms nnd rechten Beins voll-
standig aufgehoben.
Z.-T. K.-T. 5 17
520
525
5 30
5 35
540 545
550
5 55 Gr.
Unterarm
(Mifcte)
210 C. 37,0 | 2,2
32.2
31.2
32.2
31.2
32,2
31,1
32,2
31,0
32,2 32,2
31,0 31,1
32.2
31.2
32.2 , D „
31.2
Unter-
schenkel
(Mitte)
6°3
6 10
018
6»
6»
2100 . 37,1 33,2
33,2
31,8
33,1
31,8
33,1
31,7
33,1
31,7
Gr. D.
1,4
Die kranke Seite ist warmer.
Derselbe 4 Wochen spater: Bewegung im rechten Bein fast ganz un
mOglich, im rechten Arm unmOglich.
Z.-T.
K.-T.
50 s
510
515
520
Gr. D.
Unterarm
30,9
31,0
31,0
31,0
(Mitte)
19,5°
36,9
32,3
32,3
32,2
32,2
1,4
Unterscbenkel
30,4
30,4
30,3
30,3
(Mitte)
31,9
31,8
31,8
31,8
1,5
Die kranke Seite ist ktthler.
"Oberlegen wir uns nun, wie die Erhohung der Hauttemperatur
bei frischen Apoplexien zustande kommt, so mflssen wir wohl an-
nehmen, das vasomotorische Vorgange in den Hautgefassen die Haupt-
rolle spielen. Denn eine erhohte Warmebildung im Muskel kann nicht
in Frage kommen, da ja die Extremitat gelahmt und untatig ist.
Wenden wir uns zu den schon einige Wochen lang bestehenden
Hemiplegien, so linden wir darunter im allgemeinen zwischen beiden
Seiten Temperaturdifferenzen von 1—3° C., doch sind auch Unterschiede
von 4° C. nicht seiten, ja in einem Fall (lb 12) betragt derselbe so-
gar 6,8° C.
Fall lb 12. Frau H., 33 Jahre, Apopl. cerebri + Hemipl. sin. vor
2 Jahren. Linker Arm: Motilitat = 0; Sensibiliat erhalten.
Z.-T.
K.-T.
1()37 1Q4.)
10^ « s
1050
10 55
10«°
Gr. D.
33,0 32,9
32,6
32,4
32,1
32,0
Unterarm 21,0
36,9
26,2 26,2
26,2
26,2
20,2
26,2
6 ,8—5,8
Die kranke
Seite
ist kabler.
Dabei sieht man ge
wohnlich die
grbssten Differenzen dort,
wo die
Liihmung am ausgesprochensten ist, wiihrend diejenigen Falle, in denen
die Motilitat nur in gewissem Grade gestort ist, meist geringe Unter-
schiede aufweisen. Viele Patienten empfinden ein subjektives Kalte-
get’iihl, manche werden sogar dadurch belastigt.
Gck 'gle
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Ober Messungen der Hauttemperatur bei Gesunden u. Nervenkranken. 169
Die Herabsetzung der Hauttemperatur bei alteren Hemiplegien
mag wohl zum Teil auf eine Yerminderung der Warmebildung in den
gelahmten oder paretischen Extremitaten zu beziehen sein. Aber diese
Erklarung kann nicht fur alle Falle ausreicben, denn trotz ziemlich
gut erhaltener Funktion kann die Temperatur des betreffenden Gliedes
sebr niedrig sein.
Yor allem aber gescheben bei langer dauernden Messungen die
Schwankungen der Hauttemperatur nicht wie bei den Gesunden immer
gleichsinnig, sondera ziemlich oft stellt sich die gelahmte Extremitat
entweder gar nicht oder nur langsam und zogernd auf einen niederen
oder hoheren Warmegrad ein. Mag also bei alten Hemiplegien die
Yerminderung der 'Warmebildung in der gelahmten Extremitat einen
gewissen Anteil haben, an der Abkiihlung der Haut sicher spielen auch
die vasomotorischen Einflusse eine grosse Eolle.
Wir sind deshalb gezwungen, eine direkte Hemmung der vaso-
motorischen Tatigkeit, eine Storung eines die Funktionen der Haut-
gefasse regulierenden Zentrums im Gehirn, resp. von ihm ausgehender
Babnen anzunebmen. Die Lage dieses Zentrums, resp. der von ihm
ausgehenden Bahnen vermuten wir in der Nabe der von der Apoplexie
gewohnlich getroffenen Stellen der Hirnrinde (Zentralwindungen, bezw.
innere Kapsel). So kommen wir auf anderem Wege zur Bestatigung
der schon durcb Experimente oder durch Zufalligkeiten (bei Opera-
tionen) gewonnenen Annahme vasomotoriscber Zentren und Bahnen
in der Nahe der motorischen Zentren oder der von ihnen ausgehenden
Bahnen.
Wir stellen uns vor, dass durch den cerebralen Herd zunachst
eine Reizung der Vasodilatatoren eintritt, daher Erhohung der Haut-
warme infolge vermehrter Durchblutung. Der Reizung folgt eine
dauemde Lahmung, daher die Abkiihlung infolge verminderter Durch¬
blutung.
Dieser Lahmung folgt dann die Atrophie der Gefasse in den ge¬
lahmten Gliedern, die ja eine bekannte anatomische Tatsache ist. Es
ware gezwungen, wollte man annehmen, es handle sich zunachst um
eine Lahmung der Vasokonstriktoren, die dann von einer dauernden
Reizung gefolgt ware.
Die genaue Abgrenzung der vasomotorischen Leitungsbahn im
Gehirn ist bis jetzt noch nicht moglich gewesen. Nothnagel nimmt
an, dass sie durch den hinteren Teil der inneren Kapsel geht, wahrend
Parhon und Goldstein sie in den vorderen Teil verlegen.
Dass enge Beziehungen einer vasomotorischen zu den motorischen
und wahrscheinlich auch sensibleu Bahnen bestehen, dafiir sprechen
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170
X. Claus u. Binoel
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jedenfalls die haufigen, mit der Beschrankung der Motilitat zusammen-
gehenden Anderungen der Hauttemperatur und Sensibilitat.
II. Die 4 Krankheitsfalle von Tumor cerebri schliessen sich in
ihren die Hauttemperatur betreffenden Symptomen teils den frischen,
teils den alteren Fallen von Apoplexie an. 2 Falle zeigen eine Tem-
peraturerhohung der kranken Seite, verhalten sich also wie eine frische
Hemiplegie; 2 Falle zeigen eine Herabsetzung der Temperatur der
.kranken Gliedmassen. Interessant ist in einem Falle das Zuruckbleiben
der in der Zeit von 50 Minuten um 5 0 C. steigenden Temperatur des
Handrtlckens um 1 0 C. auf der ehemals gelahmten, jetzt nur noch
geringe Parasthesien aufweisenden linken Seite im Gegensatz zu der
vollkommenen Cbereinstimmung der Warmegrade an beiden hinsicht-
lich Motilitat und Sensibilitat wieder ganz normalen FQssen.
III. Bei einem Patienten mit ehemaliger Commotio cerebri, welcher
z. Z. nur noch tiber leichte Parasthesien im rechten Arm klagt, findet
sich eine vollstandige Ubereinstimmung der Hauttemperatur beider
Unterarme.
IV. In 2 Fallen von cerebraler Kinderlahmung mit relativ geringen
Resten der ehemaligen Erkrankung finden sich einmal ganz normale
Verhaltnisse der Hautwarme sowohl an der oberen wie unteren Extre¬
mist, wahrend das andere Mai die Temperaturdifferenzen nur wenig
das normale MaB Gberschreiten. "Wir mochten dabei annehmen, dass
entweder das supponierte vasomotorische Zentrum gar nicht oder nur
wenig von der Erkrankung in Mitleidenschaft gezogen worden ist, oder
dass die immerhin ziemlich gute Gebraucbsfahigkeit der in Frage kom-
menden Extremitiiten und hierdurch bedingte Warmeentwicklung etwaige
Differenzen in der Hauttemperatur auszugleichen imstande ist.
V. Die Bestimmungen der Hautwarme bei 4 Erkrankungen an
multipier Sklerose ergaben entweder gar keine TJnterscbiede zwischen
beiden Seiten oder solche von geringeren Werten (nur 2 mal 2°C.).
Dabei fanden sich die niedrigeren Zahlen auf der motorisch schwacheren
Seite. Ausseren Einfliissen (Abkiihlung) gegeniiber andert sich die
Temperatur der Haut auf beiden Seiten gleichmassig.
VI. In 3 Fallen von Brown-Sequardscher Lahmung ist die
Hautwarme auf der gelahmten Seite herabgesetzt, und zwar wird die
Differenz um so grosser, je weiter das Thermometer nach der Peri¬
pherie zu aufgesetzt wird. Wir finden deslialb die geringsten Unter-
schiede an der Schulter, bezw. an Oberarmen und Oberschenkeln, die
grossten. und zwar ziemlich betrachtliche (3—-1" C.), am Unterarm und
Hand, bezw. am Unterschenkel und Fussriicken.
VII. Von den beiden Erkrankungen an Poliomyelitis anterior ist
nur in einem ehemals akuteu Fall ein Unterschied in der Temperatur
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Uber Messungen der Hauttemperatur bei Gesunden u. Nervenkranken. 171
der Haut von 1 0 C. an den Beinen nachweisbar, wahrend bei einem
chronisch verlaufenden Fall beide Seiten annahernd gleiche Warme-
grade aufweisen. Dass aber auch bei Poliomyelitis anterior, besonders
bei den akuten Formen des Kindesalters, recht niedrige Hauttempera-
turen vorkommen, dafur sprechen die sich bisweilen sehr kalt anfiih-
lenden und manchmal blaurot verfarbten, von der Lahmung getroffenen
Gliedmassen. Darauf macht auch Oppenheim aufmerksam, welcher
angibt, dass sogar Unterschiede in der Hautwarme von 10—12° C.
gemessen worden seien.
VIII. und IX Die progressive Muskelatrophie und Tabes dor¬
salis weichen, wie unsere beideu Beispiele zeigen, von dem normalen
Verhalten hinsichtlich der Hauttemperatur nicht ab.
X Bei einer Kranken mit alkoholischer Neuritis mit doppelseitiger
Lahmung beider Beine ist die Hauttemperatur ungewohnlich kiihl,
eine Erscheinung, die z. T. hier wohl in erster Linie auf die vollkom-
meue Aufhebung der Motilitat und die daber verminderte Warmebil-
dnng in der gleichzeitig atrophischen Muskulatur zuruckgefiibrt
werden muss.
XI. Auch bei den an Syringomyelie leidenden Kranken fanden
sich recht erhebliche Abweichungen der Hauttemperatur von den ge-
wohnlich festzustellenden Werten und zwar starke Abktiblungen der
Haut entsprechend den trophischen Stbrungen. Sehr eigentllmliche
Werte ergaben die Messungen bei dem Fall 11. Wahrend normaler-
weise dicht bei einander liegende Zonen der Haut nur wenig in ihrer
Temperatur von einander abweichen, fanden sich hier auf kurze Ent-
fernungen hin relativ grosse Unterschiede. und zwar so, dass an korre-
spondierenden Stellen bald die rechte, bald die linke Seite als die
warmere oder kChlere angetroffen wird. Es wechselten — bisweilen
schon mit der aufgelegten Hand fQhlbar — warmere mit kiihleren
Partien ab, aber durchaus nicht an symmetrischen Stellen in gleichem
Sinne. Auch kamen sonst nie von uns bei Fieberlosen unter gleichen
ausseren Bedingungen konstatierte, relativ hohe Warmegrade der Haut
vor (35,7 und 35,8° C. bei einer Achselhohlentemperatur von 36,4),
wiihrend gleichzeitig auch sehr niedrige Zahlcn (27,6, 27,9° C.) nicht
fehlten. Es war also in diesem Fall die beim Gesunden beobachtete
genaue Abstimmung der Hautwiirme einer scheinbar vollkonnuenen Kege-
losigkeit gewichen, wie wir sie bei kcinem unserer Kranken wieder
gefunden haben.
XI. Syringomyelic.
1. M., Tagelohner, 40 Jalire.
Starke Kvphoskoliosc, Ilornerseher Symjitomenkomplex, tropliisehe
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172
X. Ct.al's u. B ingel
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StOrungen an den Handen, dissoziierte Empfindnngslahmung an den Vorder-
armen.
1. Messung.
Z.-T. K.-T.
Schulter
Oberarm
Unterarm
Handrucken
21,0 36,4
35,0
33,0
32,3
28,4
3«j,o
3o,o
32,9
29,4
1. > r. 0,5
l.>r. 2,5
1. > r. 0,6
L> r. 1,0
Oberschenkel
Unterschenkel
Mitte unterea Drittel
Knie
Fussrueken
33,6
32,9
29,2
29,6
27,9
32,2
30,4
28,2
27,6
31,0
1. <r. 1,4
2. Messung (8
1. < r. 2,5
Tage spftter).
1. < r. 1,0
1. < r. 1,0
1. > r. 2.9
Z.-T. K.-T.
Schulter
Oberarm
Unterarm
Handrucken
20,6 36,6
35,0
34,4
35,8
34,9
35,7
33,6
34,3
34,6
1. > r. 0,2
1. < r. 0,8
1. <r. 1,5
1. < r. 0,3
Oberschenkel Knie
Unter8cheDkel
Fussrueken
unt. Drittel
31,0
29,8
32,5
31,5
32,4
28,0
29,4
30,5
1. > r. 1,4
1. > r. 1,8
1. < r.
3,1
1. < r. 1,0
Bei dieser Gelegenheit mochten wir noch auf einen Punkt aufmerk-
sam machen: Bei den meisten der von uns erwahnten Erkrankungen,
bei denen die Hauttemperatur der Extremitaten keine normalen Ver-
haltnisse zeigt, machte sich auch die Prtlfang des Tastsinns und des
Temperatursinns notig; auch ist auf die Angaben fiber subjektive
schmerzhafte oder andersartige Empfindungen zu achten. Nun kommt
aber in Betracht, dass —worauf Goldscheider 21 ) beaonders aufmerk-
sam macht — bei abgekfihlter Hautwarme Gegenstande relativ warmer,
kalte dagegen weniger* kalt empfunden werden, dass aber von einer
stark abgekfihlten Haut (17—20° C.) Kalte gar nicht oder fast gar
nicht und selbst Warme schwacher empfunden wird; umgekehrt wird
eine zu warme Hautstelle die Warme weniger, die Kalte aber starker
wahrnehmen. Aber auch die Berfihrungs- und Schmerzempfindung
kbnnen durch abnorme Abkuhlung der Haut beeintrachtigt werden.
Endlich vermag eine unter ein gewisses MaB abgekfihlte Haut —
vielleicht auch wie in unserem Falle von Syringomyelie eine relativ
warme Haut — sehr wohl krankhafte Sensibilitatsstorungen vorzu-
tiiuschen oder schon bestehende zu verstarken, bezw. zu verwischen,
so dass es reclit schwierig sein kann, zu entscheiden, ob und wie weit
die Parasthesien auf abnorm veriinderte Hautwarme oder auf patho-
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Uber Messungen der Hauttemperatur bei Gesunden u. Nervenkranken. 173
gische Zustande der betreffenden Sinnesnerven zuriickzufflhren sind.
Es erscheint deshalb nicbt unwichtig, sich bei Aufnahme eines Ner-
venstatus diese Moglichkeiten vor Augen zu halten. Vor allem durfte
es sicb empfehlen, in solchen Fallen mehr als bisher auf die Tempe-
ratur der Haut Riicksicht zu nehmen und durch Messungen derselben
etwaigen falschen Schlussen vorzubeugen.
Fassen wir jetzt die durch unsere Messungen gewonnenen Resul-
tate nocb einmal zusammen, so sind besonders folgende Punkte her*
vorzuheben:
1. Beim gesunden Menschen sind die Temperaturen symmetrischer
Qautstellen nicht absolut gleicb, sondern variieren innerhalb gewisser
Grenzen, und zwar am Rumpfe innerhalb 0,5 0 und an den Extremi-
taten innerhalb 1 0 C. Man darf deshalb von abnormen Unterschieden
nur dann sprechen, wenn die Differenz am Rumpfe mehr als 0,5°,
an den Armen oder Beinen mehr als 1° C. betragt
2. Innerhalb knrzerer Zeiten schwankende Temperaturveranderungen
kommen ohne aussere Reize kaum vor. Werden gleichsinnige Korper-
stellen von solchen (Kalte, Warme) getroffen, so sinkt oder steigt die
Temperatur der Haut beiderseits gleichmassig. Im Obrigen andert sich
die Temperatur der Haut parallel dem Steigen oder Fallen der Korper-
temperatur.
3. Bei frischen Fallen von Apoplexia cerebri mit konsekutiven
Lahmungserscheinungen ist in den ersten Tagen die Hautwarme der
getroffenen Gliedmassen erhoht im Verhaltnis zu der gesunden Seite.
Geht die Lahmung zuriick, so stellen sich auch an der Haut normale
Temperaturverhaltnisse wieder her, anderenfalls geht die Temperatur
der paretischen oder paralytischen Seite unter, oft sogar weit unter
die der gesunden Seite. Allem Anschein nach gilt dieser Satz auch
in vollem MaCe for sonstige die motorischen Zentren der Hirnrinde
oder die Leitungsbahnen im Gehirn oder Rtickenmark treffende Ver-
letzungen oder Erkrankungen.
4. Die Temperatur der Haut bei alten Mono- und Hemiplegien ist
oft so niedrig — auch in Fallen, wo die noch bestehende Lahmung
nur noch eine teilweise ist —, dass man die schwiichere Muskeltatig-
keit und hierdurch bedingte geringere Warmebildung allein nicht be-
schuldigen kann. Da auch ziemlich haufig die Hauttemperatur der
gelahmten Seite fast gar nicht oder nur trage auf andere Einfliisse
(Kalte, Warme) reagiert im Gegensatz zur gesunden Seite, so dlirfen
wir auch in diesen Fallen eine Schadigung vasomotorischer Zentren
oder Bahnen annehmen.
5. Bei der Svringomyelie finden sich mitunter nicbt nur betracht-
liche Differenzen in der Hautwarme symmetrischer Kbrperstellen, son-
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174 X. Claus u. Binuel, Uber Messungen der Haattemperatur usw.
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dern auch an nahe bei einander liegenden Partien; auch sonst kommen
zuweilen bei dieser Erkrankung Abweichungen von der gewohnlieh
beobachteten Hauttemperatur vor, indem neben sehr niedrigen auch
relativ hohe, im Verhaltnis znr Korperwarme sonst kaum beobacbtete
Temperaturen an gewissen Hautstellen gewonnen werden.
6. Da eine in ihren Warmeverhaltnissen veranderte, besondera aber
abgekfihlte Haut, aussere Reize nur unsicber oder gar nicbt empfindet
und umgekehrt durch eine abnorme Hautwarme Parasthesien vorge-
tauscht werden konnen, so ist Vorsicht nach dieser Richtung hin bei
Untersuchung Nervenkranker geboten und eine genaue vergleichende
Prufung der Hauttemperatur zu empfehlen.
Literatur.
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2) Henke, Wagners Archiv f. Heilkde. 18GS.
3) Jacobsohn, Virchows Archiv. Bd. 65. S. 520.
4) Schulein, Virchows Archiv. Bd. 66. S. 109.
5) Wegscheider, Virchows Archiv. Bd. 69. S. 172.
6) Senator, Untersuchung uber den fiebernden Prozess und seine Behand-
lung. 1873.
7) Cob nheim, Vorlesungen uber allgemeine Pathologie. 2. Aufl. 2. S. 549f.
8) Geigel. Verhandlungen der phys.-nied. Gesellsch. in Wurzburg. Neuo
Folge. 22. 1888.
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in) Lereboullet, Gaz. de nied. et chir. Vol. 37. 38. 40. 42. 1S7S.
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12) Herz, Uber die Temperaturverhaltnisse chronisch erkrankter Gelenke.
Berl. klin. Wochenschr. 1903. Nr. 20.
13) Sommer, Cher die unmittelbare und Dauerwirkung der Licht- und
Warmestrahlung auf die Hauttemperatur. Berl. klin. Wochenschr. 1903. Nr. 40.
14) Kothe, Studien iiber die Temperatur erkrankter und hyperamischer
Gelenke. Munch, nied. Wochenschr. 1904. Nr. 31.
15) Kubner, Archiv f. Hygiene. Bd. 23. S. 13.
16) Oeliter, Deutsches Archiv f. klin. Medizin. Bd. 80. S. 245.
17) Kunkel, Zeitschrift f. Biologic. Bd. 25. 1S89.
18) Anrep und Melcop, zitiert nach Hellner, Archiv f. klin. Medizin
1S91. Bd. 48.
19) (irunenwald, Uber Hautteniperaturen bei fiebernden Kranken. Deut¬
sches Archiv f. klin. Medizin 19o3. Bd. 78. S. 333.
20) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 4. Afl. Bd. 2. S. S03.
21) Goldscheider, Archiv f. Psychologic und Nervenkrankheiten. IS. H. 3.
Gck igle
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XI.
Aus der II. medizinischen Klinik der konigl. Universitat Budapest
(Direktor: Prof. E. Jendrassik).
Uber einen Fall yon Myasthenia gravis pseudoparalytica
mit positivem Muskelbefnnd.
Yon
Dr. Josef Csfky.
(Mit 5 Abbildungen.)
Obwohl S. Wilks 1 ) im Jahre 1877 der erste war, der sympto-
matologisch einen zur Myastbenie gehorigen, todlich verlaufenden Fall
mit negativem Sektionsbefund veroffentlichte, so kntipft sicb die Er-
kennang dieser Krankheit als eines selbstandigen Krankbeitsbildes an
die im Jahre 1878 erfolgte Veroffentlichung von 3 Fallen durch
W. Erb. 2 ) Auf rein klinischer Grundlage wies er auf den „neuen,
wahrscheinlich bulbaren Symptomenkomplex" hin, der sich besonders
durcb seinen eigenartigen Verlauf und seine Tendenz zur Heilung
von der gewohnlichen progressiven Bulbarparalyse unterscbied.
Erst im Jabre 1887 erfolgte die nachste Veroffentlichung eines
Falles mit Autopsie durch Oppenheim 3 ) mit ganzlich Degativem Sek¬
tionsbefund, so dass er das Krankheitsbild mit dem Namen „Bulbar-
paralyse ohne anatomiscben Befund“ bezeichnete. Unter den in den
nachsten Jahren in grosserer Zabl veroffentlichten Arbeiten verdient
die von Goldflam 4 ) besonderer Erwahnung, der zuerst auf die eigen-
artige Ermiidbarkeit der Muskeln als etwas von der Lahmung Ver-
scbiedenes hinwies und zeigte, dass in mancben Fallen sogar Heilung
eintreten kann; auch wies er als erster darauf hin, dass ausser den
bulbaren Symptomen dieselben Erscheinungen der Ermudbarkeit auch
an den Extremitaten ohne jede Muskelatrophie und Degeneration auf-
treten konnen. Eine andere wichtige Veroffentlichung ist die von
Jolly 5 ), in der er das unter dem Namen „myasthenische Reaktion“
bekannte Verhalten der Muskulatur gegenuber dem elektrischen Strom
beschreibt.
Die in den Arbeiten von Strtimpell 0 ), Hoppe 7 ), Eisenlohr s ).
Senator 9 ), Shaw 10 ), Dreschfeld n ), Somdorf 12 ), Schtile 13 ), Ray-
Deutsche Zeitscbrift f. Xervenheilkuude. 37. ltd. 12
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176
XI. CSIKY
mond 14 ) u. a. veroffentlichten Falle ergaben alle bei der Sektion einen
negativen Befund. Diese und viele ohne Sektion beschriebenen Falle
trugen aber dazu bei, dass sich ein strong nmgrenztes und charakte-
ristisches Krankheitsbild aufstellen liess, das kliniscb leicbt zu erkennen
war, in atiologischer und patbologisch-anatomischer Hinsicht aber ganz
im Dunklen blieb. So konnte dann im Jahre 1901 Oppenheim 15 ) in
seiner ausgezeichneten Monographic ein klares Krankheitsbild entwerfen,
ohne aber die der Krankheit zugrunde liegende pathologische Veran-
derung angeben zu konnen.
Die veroffentlichten Falle erwiesen es klar, dass das Leiden kein
speziell bulbares ist, sondem dass es auch die nbrigen Korperteile,
resp. Muskeln ergreifen kann, wobei bei den einzelnen Fallen an ver-
schiedenen Muskeln die ersten Symptome der Erkrankung auftreten
konnen, aber wohl am haufigsten in den bulbaren Gebieten. Schon
minimale Schwache einzelner Augenmuskeln, des M. levator palpebrae
sup., der Gaumenmuskulatur verursachen Symptome wie Doppelsehen,
Senkung der Augenlider, Schluckbeschwerden, die dem Kranken natur-
lich auffallen und ihn zunachst ohne andere Erscheinungen und Be-
schwerden zum Arzte fuhren. Die in den Extremitaten eventuell eben-
falls schon vorhandene Schwache ist um diese Zeit noch so gering,
dass sie vom Kranken gar nicht beachtet wird oder hochstens in einer
allgemeinen Mattigkeit ihren Ausdruck findet
Es ist daher nichts Auffallendes, dass die meisten Autoren zuerst
in einer Erkrankung des zentralen und auch des peripheren Nerven-
systems die anatomische Grundlage dieser Erkrankung suchten. Be-
sonders das verlangerte Mark wurde immer und immer wieder unter-
sucht. Die dabei gewonnenen Resultate waren entweder absolut nega-
tiv, oder es fanden sich im Zentralnervensystem an manchen Stellen
frische, mikroskopische Blutungen, Chromatolyse in den Ganglien-
zellen der Kerne der Kopfnerven, minimale Degenerationen in ver-
schiedenen Wurzelgebieten nach Marchi, auffallende Dttnnheit ein-
zelner Wurzeln und Wurzelfasern, mit einem Wort lauter Verftnde-
rungen, die wegen ihrer Geringfiigigkeit nicht als Krankheitsursache
angenommen werden konnten.
Bei diesen negativen Befunden gewann langsam jene Anschauung
an Bedeutung, die das ganze Krankheitsbild als eine Autointoxikation
ault'assen wollte, welche durch pathologische Stoffwechselprodukte,
sog. Ermudungsstoffe, oder durch die Wirkung anderer Toxine, beson-
ders aber durch die Produkte der in vielen Fallen persistierenden
Thymus und verschiedeuer Tumoren verursac-ht wird. Auffallend haufig
war auch eine kongenitale Missbildung an verschiedenen Teilen des
Korpers nachweisbar, die auf eine angeborene Minderwertigkeit des_
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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 177
Organismus hinzuweisen schien und die geeignefc war, die letztere Auf-
fassung von der Toxinwirkung dadurch zu unterstutzen, dass ein von Ge-
burt aus minderwertiger Organismus viel leichter durch toxische Stoffe
geschadigt wird, ohne Unterschied in Bezug darauf, ob diese Stoffe
im Korper selbst erzeugt werden (Autointoxikation), oder ob durch
auswartige Gifte die Intoxikation verursacht wird.
Im Jahre 1901 publizierte Weigert 16 ) als erster einen von
Laqueur 16 ) beobachteten typischen Fall von Myasthenie, bei dem die
Sektion ein positives Resultat ergab, indem neben einer Thymusge-
scbwulst mikroskopische Veranderungen in den Muskeln nachweisbar
waren. Bei normalem Nervensystem fand er eine stark vergrosserte
und geschwulstartig veranderte Thymus, bestebend aus lymphoiden
und wenig epitheloiden Zellen mit typischen Hassalschen Korperchen.
Dieselben Zellen fand er auch mikroskopisch in den makroskopisch
ganz normal aussebenden Skelettmuskeln sowie auch im Herzmuskel.
Es waren das zerstreut und gruppenweise angeofdnete lymphoide Zellen
zwischen den einzelnen Muskelfasern im Perimysium int., ohne jegliche
Entzhndungserscheinungen, ohne polynukleare Leukocyten und ohne
Fibroblasten mit neugebildetem Bindegewebe. Da die Zellen in jeder
Beziehung den in der Thymus gefundenen Tumorzellen glicben, erklarte
er sie als mikroskopisch kleineMetastasenderThymusgeschwulst. Trotz-
dem brachte er das ganze Bild in keinen ursachlichen Zusammenhang
mit der Krankheit, da er es nicht fur wahrscheinlich hielt, dass so
geringe Muskelveranderungen ein so schweres Krankheitsbild verur-
sachen konnten. Darum glaubt er eher als Ursache intermediare Stoff-
wechselprodukte annehtnen zu konnen, die von der persistierenden und
krankhaft veranderten Thymus secerniert wfirden. Seit dieser Ver-
bffentlichung von Weigert erschienen weitere Befunde, gestiitzt teils
auf Sektionen, teils auf Untersuchungen von den Lebenden exzidierten
Muskelsttickchen.
Im allgemeinen lassen sich diese Befunde in 2 Gruppen einteilen:
1. in solche, bei denen eine primare Geschwulst irgendvvo im Korper
vorhanden war und wo der im Muskel erhobene Befund als Metastase
der Geschwulst gedeutet wird; 2. in Falle, bei denen ausser dem
charakteristischen Muskelbefund nichts anderes nachweisbar war. In
den Fallen beider Gruppen aber war ein auffallend hiiufiger Befund
eine Persistenz der Thymusdriise. Zu der ersten Gruppe gehoren ausser
dem oben erwahnten Fall von Weigert noch die Falle von Gold-
flara 17 ) und Hun 18 ), wahrend zu der zweiten Gruppe die Falle von
Steinert 19 ), Link 20 ), Boldt 21 ), Burr- 2 ), Buzzard 23 ) (5 Falle),
Knoblauch 24 ) Frugoni 23 ), Marburg 20 ), Osann 27 ) und Mandel-
baum u. Celler 28 ) zu rechnen sind.
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XI. Cs'lKY
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Alle durch diese Autoren erhobenen Befunde stimmen im allge-
meinen miteinander fiberein, so dass ich auf sie im einzelnen nicht
naher eingehen will. Es fanden sicb immer im Perimysium ini und
zwischen den einzelnen Muskelfasern Anhaufungen von „lymphoiden u
Zellen, die man auch wegen ihrer regelmassig um kleine Gefasse sich
gruppierende Anordnung perivaskulare kleinzellige Infiltration nannte.
Da jeder neue mit Muskelbefund einhergehende Fall einen posi-
. tiven Beweis bildet fur eine Mitbeteiligung der Muskeln an der Krank-
heit, so mocbte ich hier einen typisch verlaufenen Fall mitteilen, bei
dem die mikroskopische Untersuchung einzelner Muskeln einen ahn-
lichen positiven Befund ergab,
E. Sziderits, 21j&hr. Feldarbeiterin, aufgenommen in die Nerven-
klinik am 26. Juli 1904, gestorben am 25. Juli 1907.
Familienanamnese bietet nichts Bemerkenswertes. Eltern waren
nicht verwandi Von 11 Geschwistern leben drei, eine Schwester starb
an Lungentuberkalose, die Obrigen Geschwister sind im Kindesalter gestorben.
Nach Angabe der Patientin war sie immer gesund und kr&ftig, hatte
keine Einderkrankheiten, keine Diphtherie oder andere Infektionskrank-
heiten durchgemacht. Menstruation mit 12 Jahren, bis zur jetzigen Krank-
heit immer regelmassig. Nur seit Beginn der Krankheit blieb sie Ofters
2—8 Monate aus, dann stellte sie sich mit starken Schmerzen ein.
Ihrera jetzigen Leiden ging weder eine akute Erkrankung noch Er-
kaltung voraus. Zu Beginn des Jahres 1902 bemerkte sie, dass ihre Arme
bei der Arbeit auffallend schnell made wurden; nach einem halben Jahr
fQhlte sie ein ahnliches Schwachegefahl bei langerem Gehen in den
Beinen, wozu sich allmahlich eine Ermtldung bei langerem Sprechen,
zeitweises Herabsinken beider Augenlider und Doppelsehen gesellten.
Auch das Schlucken wurde ihr manchmal beschwerlich und es geschah
ofters, dass ihr FlQssigkeit beim Schluckversuch durch die Nase regurgi-
tierte. Besonders auffallende Schmerzen soli sie niemals gehabt haben.
Schon bei leichter Arbeit ftthlte sie sich matt; diese schnelle ErmQdbar-
keit nahm mit der Zeit immer mehr zu, so dass Patientin zuletzt gar nicht
mehr arbeiten konnte; sie wurde bettlagerig und konnte sich auch im Bette
kaum bewegen. Dieser Zustand dauerte 6—8 Wochen, wonach es ihr
wieder besser ging; sie begann von neuem zu gehen, die ErmUdbarkeit
stellte sich aber nach der kleinsten Anstrengung immer wieder ein, so
dass sie arbeitsunfahig war. In diesem Zustand suchte sie unsere Klinik auf.
Von anderen Beschwerden muss noch besonders hervorgehoben werden
die hartnftckige Schlaflosigkeit, gedrttckte Stimmung, die schnelle Erreg-
barkeit des Gemllts und manchmal Herzklopfen. Appetit, Stuhl normal,
keine Urinbeschwerden. Angeblich Amor lesbicus gegenllber einer Ge-
falirtin, spater auch gegen andere.
Status praesens. Mittelgrosse, kraftig gebaute Patientin in gutem
Erniihrungszustnnd. Knochensystem, Gelenke normal. Haut blass, so auch
die sichtbaren Schleimhaute. Keine DrOsenschwellung. Lunge normal.
Herz innerhalb norraaler Grenzen, Herztone rein. Puls ebenfalls normal,
in der Rube 82, stieg aber nach psychischen Reizen und kOrperlichen An-
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drengungen sehr rasch bis aaf 120 in der Minnte. Bauchorgane ohne
Befund. Urin enth< kein Eiweiss Oder andere pathologische Bestandteile.
Das Gesicht der Eranken macht den Eindruck starker Mfldigkeit; die
Falten des Gesichts, besonders die Nasolabialfalten, sind beiderseits fast
ganz verstrichen. Die Augenspalte ist verengt, indem das obere Augenlid
tiefer steht als normal. Nach mehrmaligem Offnen und Schliessen der
Augen, so anch nach 10—15 Seitw&rtsblicken schliessen sie sich fast
vollstAndig, trotzdem Patientin sich die grOsste Mtthe gibt, sie oifen zu
balten. Nach einer kurzen Pause von 1—2 Minuten kann Patientin die
Augen wieder Offnen. Fast immer aber bleibt beim Schliessen der Augen
zwischen den Lidern ein kleiner offener Spalt. Pupillen sind gleichweit,
rund, reagieren auf Licht und Konvergenz gut und zeigen gar keine Er-
mOdungserscheinungen. Augenbewegungen sind nach alien Richtungen frei.
Konvergenz normal. Nach langerem Sehen nach rechts gibt sie an, manch-
raal doppelt zu sehen. Geringer Exophthalmus. Kein Nystagmus. Cor-
nealreflex vorhanden. Die Beweglichkeit der Stirnmuskulatur ist sehr
beschrankt; Patientin kann ihre Stirn nur in sehr geringem MaBe runzeln.
Sie halt den Mund fast immer etwas offen, trotzdem die Nasenatmung
ganz frei ist. Der rechte Mundwinkel bleibt etwas zurflck, dabei kann sie
weder pfeifen, noch die Backen aufblasen; die Seitw&rtsbewegung kann bei
den ersten Versuchen ganz gut ausgefflhrt werden, wird aber nach mehr-
maligem Wiederholen immer schwflcher, bis es ihr schliesslich ganz un-
raoglich wird. Beim Yersuch, zu lachen, bleiben die Mundwinkel fast ganz
unbeweglicb, nur die Nase wird starker nach oben verzogen, so dass ihr
Gesicht mehr einen wehmfltigen Ausdruck bekommt. Zunge normal, kann
nach alien Richtungen ziemlich gut ausgestreckt werden; zeigt keine Atro-
phie noch fibrill&re Zuckungen. Auch die Zunge zeigt nach Ofterem Aus-
strecken und Einziehen deutliche ErmQdungserscbeinungen. — Ebenso ist
es mit der Kaumuskulatur. Die anfangs ziemlich starke Kontraktion
des M. masseter und temporalis wird schon nach einigen nach einander ge- /
machten Eaubewegungen sehr schwach, es befallt sie ein MttdigkeitsgefQhl,
der Mund bleibt kurze Zeit offen, und erst nach einer kflrzeren Pause kann
sie mit dem Essen fortfahren. Deswegen kann sie auch festere Speisen
gar nicht essen. Das Verhalten des weichen Gaumens ist Ahnlich: Nach
einigen ausreichenden Bewegungen hOrt die Beweglichkeit beim Intonieren
ganz auf, um nach einigen Sekunden Ruhe wieder zurflckzukehren. Rachen-
reflex schwach auslOsbar.
Die Nackenmuskulatur von normaler Entwicklung, die Kopfhaltung
auch normal. Sowie sie aber lAngere Zeit aufrecht sitzt, sinkt ihr Kopf
nach vorn oder zurflck. Dieselbe schnelle Ermfldung auch bei der Seit-
wartsbewegung des Kopfes. Die Schilddrflse ist mAssig vergrossert.
Die Muskulatur der Schulter, Brust, oberen und uuteren Ex-
tremitaten ist gut entwickelt, zeigt nirgends eine Spur von Atropkie, ist
aber von auffallend schlaffer Konsistenz, auch bei Kontraktion der Muskeln.
Passive Bewegungen flberall ausfflhrbar.
Sehnenreflexe ausser dem Tricepsreflex gut auslosbar, so auch die
Bauchdeckenreflexe und der Fusssohlenreflex. Kein Clonus. Keine Ataxie.
In den Muskeln keine fibrillAren Zuckungen. Nervenstamme, Muskeln auf
Drnck nicht schmerzhaft.
In beiden oberen Extremitaten ist zunachst eine allgenieiue
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Schwache auffallend. Bei aktiver Bewegung kann Patientin ihre Arme nur
ungefahr bis zur Horizontalen heben. Bei Ofterem Wiederholen dieser
Bewegung werden die Exkursionen immer geringer, bis die Arme wie ge-
labmt herunterhangen und die Eranke die Arme auch beim besten Willen
nicht mehr bewegen kann. Leichte Gegenstande kann sie langere Zeit in
der Hand halten, schwere aber muss sie bald wieder niederlegen, da sie
ihr sonst nach kurzer Zeit aus der Hand fallen. Grosse Schwierigkeiten
bereitet ihr auch das Essen. Den LOffel kann sie nur ein paar Mai nach
einandcr zum Munde ftthren, wahrend das Schneiden von Fleisch oder Brot
nur sehr selten gelingt. Nach einigen schwachlichen Handedruckversuchen
werden die nachsten immer schwacher, so dass nach 8—10 maligem Wieder¬
holen die Hand wie gelahmt niedersinkt.
Die sonst gut entwickelte Bauchmuskulatur zeigt dieselbe rasche
Ermtldbarkeit. Aus der EQckenlage kann sich Patientin ohne Hilfe ihrer
Arme nicht erheben; wiederholt sie aber diese Bewegung, so sinkt sie bald
ganz erschdpft zurtick, ohne nachher auch die geringste Bewegung machen
zu kflnnen.
Dasselbe Verhalten zeigen auch die Muskeln der unteren Extremi-
taten. Nach einigen scheinbar mOhelosen Schritten wird der Gang lang-
samer, das Heben der Beine im Eniegelenk geringer, der Fuss wird auf
dem Fussboden geschleift, und Patientin wird von einem grossen Mfldig-
keitsgef&hl befallen und sinkt nach ca. 5—6 Minuten total erschOpft auf
den Stuhl.
Was die elektrisehe Untersuchung betrifft, war eine Entartungs-
reaktion an keinem Muskel nachzuweisen, dagegen war die mya6theni-
sche Reaktion Jollys besonders im Facialisgebiet, in der Eaumusku-
latur, an Biceps, Unterarmmuskeln, Quadriceps, Pectoralis deutlich vor-
handen. An den kurzen Muskeln der Hand konnte sie nur manchmal
nachgewiesen werden. Oberhaupt war diese Reaktion nicht konstant, sie
wechselte nach Tag nnd Muskeln ziemlich unregelm&ssig, anscheinend ohne
in eigentlichem Zusammenhang mit der grdsseren oder geringeren ErmOd-
barkeit der Muskeln.
Seine Sensibilit&tsstorungen.
Die Sprache ist immer etwas naselnd. Nach einigen deutlich und lant
ausgesprochenen Worten wird die Stimme immer leiser und undeutlicher,
bis sie schliesslich in ein undeutliches Flftstern Obergeht.
FQr alle diese Bewegungen war die schnelle Ermtldbarkeit der Mus-
kulatur mit subjcktivem MattigkeitsgefOhl charakteristisch. Ruhte aber
Patientin eine kurze Zeit aus, so stellte sich wieder die frtthere Kraft ein,
urn bei Wiederholung der BeWegung ebenso rasch, vielleicht etwas schneller
wieder zu verschwinden.
Patientin verblieb bis zu ihrem im Jahre '1907 erfolgten Tod auf der
Klinik. Uber den weiteren Verlauf mbchte ich — da er keine wesentliche
Abweichung von dem bekannten Verlauf der Myasthenie bot — zusammen-
fassend bcricliten.
Besonders drei Momente sind es, die im weiteren Verlauf hervortraten.
Erstens die auffallend schnelle zeitliche Schwankung der Erankheit, die sich
nicht nur auf langere Perioden — Wochen, Monate — ausstreckte, sondern
auch wahrend des Verlaufcs eines Tagos sehr charakteristisch war. Nach
einer gut verbrachten Nacht ftihlte sich Patientin morgens viel krftftiger
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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. igl
als tags vorher, konnte die Augenlider besser heben, die Sprache war
deatlich and such das Gehen fiel ihr viel leichter. Schon nach wenigen
Stunden aber senkten sich ihre Augenlider, eine allgemeine Mattigkeit be-
machtigte sich ihrer, so dass sie meistens den ganzen Tag im Bett ver-
blieb. Am ausgepr>esten waren die Symptome abends.
Neben dieser t&glichen Schwankung des Krankheitsbildes war das
Anftreten von Perioden, wo Patientin ohne nachweisbare Ursache mekrere
Wocben, ja monatelang sich viel starker fllhlte und w&hrend welcher Zeit
sich fast alle Symptome wesentlich besserten, bemerkenswert
Ohne jede Sussere Ursache traten dann, meistens ziemlich plOtzlich,
Remissionen ein, wobei die oben geschilderten Symptome besonders aus-
geprigt warden. Solche Remissionen kamen im Verlauf ihrer Erankheit
Ofters wieder, ohne aber einen progredienten Charakter zu zeigen. Auf-
fallend war eine regelm&ssige Verschlechterung ihres Zustandes wahrend
der Zeit der Menstruation.
Eine weitere bemerkenswerte Erscheinung bildeten die bei Myasthe-
nikern so haufig beschriebenen eigenartigen Erstickungsanfalle. Schon
in der ersten Zeit ihres klinischen Aufenthaltes bekam Patientin pldtzlicli
Anfalle von starker Atemnot. Sowohl ansserhalb des Bettes als anch beim
rnhigen Liegen — im fersteren Falle fiel sie pldtzlich zusammen — wurde
sie cyanotisch, bekam Starke Atemnot, das ganze Gesicht and der Ober-
kdrper warden mit Schweiss bedeckt, dabei waren die Extremitaten ganz
kohl anzufdhlen. Der Mnnd fhllte sich rasch mit Speichel and zahfltlssigem
Schleim and anch mit der grdssten Anstrengung konnte sie ihn nicht aus-
spncken. Dabei war die Zunge nach hinten gesunken and die Atmang
ganz oberflachlich, frequent. Der Pals war beschleanigt and filiform, stieg
bis liber 120. Nach 10—15 Minuten besserte sich der Zustand wieder,
besonders wenn man den Schleim aas dem Mande entfernte and die Zange
nach vorn zog. Nach dem Anfall fllhlte sie sich immer noch 1—2 Tage
sehr matt.
Diese Anfalle wiederholten sich anfangs in Zwischenraamen von mehreren
Monaten, spater aber warden sie immer haufiger and nahmen anch an In-
tensitat zu, indem Patientin aach das Bewnsstsein verlor and es manchmal
eine halbe Stunde danerte, bis sie nnter oftmaliger Anwendung von khnst-
licher Atmang and Oxygeninhalation zn sich kam. Anch der Exitns trat
wahrend eines solchen Anfalles ein, in einem Stadium, wo Patientin sich
leidlich fllhlte and in jeder Hinsicht eher eine Besserung des Zustandes
zu verzeichnen war; auch waren seit dem letzten Anfall mehr als 2 Monate
verstrichen. Unter dem oben beschriebenen Bilde bei Bewusstlosigkeit,
starker, zunehmender Cyanose, Schweissausbruch nnd Sekretansammlung
im Monde erlag sie dem Anfall trotz ktlnstlicher Atnmng und Oxygen in
1 Stunde.
Die Sektion, die 18 Stunden nach dem Exitus gemacht wurde, ergab weder
am Gehirn noch an den tlbrigen Organen etwas Besonderes, weshalb ich es
unterlasse,dasSektionsprotokoll ausflihrlich mitzuteilen. Hervorheben mdclite
ich nur Folgendes: In der Gegend des linken Frontal- und Parietallappens
war eine submeningeale Blutung nackzuweisen, dir ihrem Aussehen nach
ganz frisch und so wahrscheinlich eine Folge des so lang andauernden
Erstickangstodes war. Am Gehirn und RQckenmark war nichts Patholo-
gisches nachweisbar. Thymus war nicht persistent. Weder in den Lungen
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nocli in ilen Drtlsen oder in andercn Organen war eine Tuberkulose nacb-
weisbar. Die Muskulatur schien gut entwickelt, nicht atrophisch, etwas
blasser, besonders an den Extremitaten; sonst zeigte sie makroskopisch
keine Yeriindcrung.
In den Gefiissen Qberall fliissiges Blut.
Histologisch wurden das zentrale Nervensystem, periphere Nerven.
und einige Muskeln untersucht. Vom ersteren untersuchte ich Teile
aus den Zentralwindungen, Capsula interna, Briicke, Medulla oblon-
Fig. 1.
Liingsschnitt dureh don M. vastus med. Spindelforniig angeordnete Zellanhiiu-
t'ung zwisolien den Muskelfasern, diesclbe auseinanderdn'ingend. (Schwaohe
Vergrdsserung.)
gata — letztere in iher ganzen Liinge — Riickenraark. Die ange-
wandten Methodon waren Weigert-Pal, Marchi, Nissl und van
liieson. Dor Bef'und war in alien Teilen ein negatives Positiv war
nur eine an manchen Stelleu ziemlich deutliche Chromatolyse in den
< ianglienzellen dor Medulla oblongata, die sich aber weder auf gewisse
Kerngebiete lokalisierte, noch durcli besondere Ausdehnung auszeichnete,
dauu mikroskopisehe Blutuugen, die sicdi ebon falls in der Medulla ob¬
longata vorfanden. Auf diosen let/.teren Befuud von kleinen Kapillar-
blutungen mbclite ioh wegen des Erstiekungstodes keinen grbsseren
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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 183
Wert legen, wobei solche mikroskopisch kleine Blutungen bekanntlich
ein haufiger Befund sind; ausserdem machten sie den Eindruck ganz
frischer Blutungen, da die roten Blutkorperchen ganz gut erhalten
schienen und die Zeichen einer alteren Blutung, wie Hamatoidinkry-
stalle, Schollen'oder mit Pigment beladene Wanderzellen, nirgends nach-
gewiesen werden konnten. Starkere Anhaufung von Lymphzellen oder
eine Wucherung des Gliagewebes konnte ich nirgends finden.
Ebenso negativ war auch der Befund an den zur Untersuchung
Fig 2.
Dasselbe. Starke Vergrosserung. Deutliches Erhaltensein der Querstreifung
aer Muskulatur.
gelangten Nerven: Nn. brachialis, tibialis ant., ischiadicus. Auch die
Marchimethode zeigte keinen fettigen Zerfall der Markscheiden.
Zu positivem Resultate fiihrte jedoch die Untersuchung einzelner
Muskeln. Es wurden folgende Muskeln einer naheren histologischen
Analyse unterzogen: Mm. biceps von beiden Seiten, masseter, serratus
ant., pectoralis, latissimus dorsi, vastus med., sartorius und gastrocne¬
mius. Die Uutersuchung der Herzmuskulatur, des Diaphragma und
der Augenmuskein unterblieb leider. Der Befund war in samtlichen
Muskeln der gleiche, wechselte nur nach Intensitat und Anzahl der
Veranderungen; eine Ausnahme bildete der M. latissimus dorsi, bei dem
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XI. CsIky
ausser einer starkeren Kernwucherung nicbts nachgewiesen werden
konnte.
Die Muskelbiindel zeigen weder in ihrer Dicke noch in ihrer
Anordnung eine auffallende Veranderung, wahrend die einzelnen Mus-
kelfasem sich schon wesentlich verschieden verhalten. Obwohl die
Querstreifung in den einzelnen Fasern (iberall gut erbalten ist, ja an
manchen Fasern auffallend scharf und deutlich zu sehen ist, farben
sich einzelne Muskelfasern, ja sogar nur einzelne Teile derselben ver-
Fig. 3.
Querschnitt durch den M. pectoralis. Zellanhaufung mit quergeschnittenen
kapillaren Gefassen. Die perivaskularen Lymphraume sind ebenfalls dicht ge-
fullt mit Zellen. Zwischen den Fasern zerstreute Zellen. (Starke Vergrosserung.)
schieden intensiv, das besonders an Langsschnitten, aber oft auch an
Querschnitten sebr deutlich nachweisbar ist. Die normal gefarbte
Faser geht teils langsam, teils aber plotzlich in die dunkler gefarbte
Partie fiber, die zuweilen — besonders an Langsschnitten — auch etwas
verdickt erscheinen, ohne aber an der Querstreifung eine sichtbare
Anderung zu erfahren. Unter den verhaltnismassig gleich dicken
Muskelfasern finden wir in auffallend grosser Zahl ganz dfinne Fasern,
die bloss V 2 bis \ der normalen Dicke messen. Die Querstreifung ist
aber auch an noch so diinnen Fasern immer noch deutlich zu sehen.
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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 185
Die Kerne der Muskelfasern haben iiberall eine normale Lagerung,
d. h. sie liegen immer an der Peripherie der Fasern dicht unter dem
Sarkolemm; auffallend ist aber an manchen Stellen eine starke Ver-
mehrung der Kerne; diese Vermehrung muss scbon deshalb als patho-
logisch betrachtet werden, da bekanntlicb eine Kernvermehrung normal
nur bei alteren Leuten vorkommt, in diesem Falle aber es sich um ein
junges Individuum von 23 Jahren handelt.
Die einzelnen Muskelbiindel werden durch kleinere und grossere
Fig. 4.
Querschnitt durch den M. gastrocnemius. Zellherd mit zwischen die Fasern
hineinwuchernden Zellen. Einige Fettzellen an Stelle zugrunde gegangener
Muskelfasern. (Sehwache Vergrosserung.)
Fettablagerung von einander getrennt; ausserdem findet man aber in
einzelnen Biindeln an ganz ungewohnter Stelle zwischen den Fasern
einzelne Fettzellen, die ihrer Lage nach wahrscheinlicb zugrunde ge-
gangene Muskelfasern ersetzen.
Viel auffallender sind aber die Veranderungen des Bindegewebes.
Sowohl an Quer- als aucb an Langsschnitten findet man im Verlaufe
des Perimysium int. kleine runde Zellen von der Grosse der Lymph-
zellen, die einen sehr schmalen Protoplasmasaum und einen chromatin-
reichen Kern besitzen, welcher fast die ganze Zelle ausftillt. Sie liegen
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XL CsiKY
teilweise zerstreut in Reihen dem Perimysium int. entlang, teilweise
aber bilden sie kleinere und grossere Zellanhaufungen, wobei die ein-
zelnen Muskelfasern auseinandergedrangt werden, manchmal bei grosseren
Anhaufungen auch eine Strecke weit degenerieren, zerreissen und
Scbollen bilden. Eine solche Zellanhaufung nimmt dann haufig an
Langsschnitten eine spindelformige Gestalt an. Von diesen Anhaufungen
aus sieht man nun einzelne Zellen sich zwischen die Muskelfasern dem
Bindegewebe entlang hineinwuchern. In der Mitte der meisten dieser
Fig. 5 ,
Querschuitt durch den M. pectoralis. Versckiedene Farbbarkeit der einzelnen
Muskelfasern und Fettzellen.
Zellnester findet man am Querschnitt ein, manchmal auch mehrere
kleine kapillare Gefasse, deren Lumen mit Blut stark gefullt ist and
deren perivaskularen Lymphriiume mit den gleichen Zellen ebenfalls
vollgestopft sind. Autfallend ist manchmal eine Verdickung der Ad¬
ventitia der Gefasse. Auch an Langsschnitten konnen diese kleinen Ge¬
fasse in den Zellanhaufungen nachgewiesen werden, jedoch viel seltener,
da sie doch nicht immer in der Schnittebene liegen. Auch um grossere
Gefasse herum findet man diese Zellen, die sie dann manchmal nur au
einer Seite, manchmal aber auch ganz umgeben und bei denen die
adventitiellen Lymphraume ebenfalls erweitert und vollgepfropft sind.
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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. Ig7
Neben diesen einkernigen Zellen konnte ich polynukleiire Leuko-
cyten in keinem der durcbsuchten Praparate finden. Einzelne Zellen
erreichen mancbmal doppelte oder dreifache Grosse der Lymphocyten.
Sie haben einen breiteren Protoplasmasaum, haben eine unregelmassige
Form oder sind spindelformig, so dass sie an epitheloide Zellen and
an Fibroblasten erinnern. Trotz sorgfaltiger Untersuchung konnte ich
nirgends Riesenzellen finden.
Wie schon oben erwahnt, findet man um die grosseren Herde un¬
regelmassige, homogene, keine Kemfarbung zeigende Schollen, die
wahrscheinlich von zerfallenen Muskelfasern herstammen. An den
meisten Stellen verdecken aber diese Zellen diese Schollen ganz, so
dass man nirgends grossere Herde von Coagulationsnekrose sehen kann.
Von den Herden aus wuchem diese Zellen sehr weit zwischen die
Muskelfasern hinein und bilden um die einzelnen Fasern herum ein
uuregelmassiges, zusammenhangendes Netzwerkvon verschiedener Dicke.
Neben dieser zelligen Infiltration, als deren Resultat sieht man an man-
chen Stellen die zu Fibroblasten umgewandelten Zellen und ein ziem-
lich dickes Bindegewebe, das an einzelnen Stellen in grosser Aus-
dehnung manche Fasern in der Form eines sich intensiv farbenden
Bindegewebsringes umgibt. Manche dieser Stellen zeigen ausser diesem
stark vermehrten und gewucherten Bindegewebe gar keine zellige In¬
filtration mehr. Auch scheint es mir, dass an diesen Stellen die ein¬
zelnen Fasern schmaler sind wie an anderen von Bindegewebe freien
Stellen; doch kann ich das nicht bestimmt behaupten, da die Dicke
der einzelnen Fasern scbon in gesunden Muskeln sebr verschieden ish
Es sei noch erwahnt, dass in einigen Muskeln, so im M. biceps,
serratus die als Muskelspindeln beschriebenen Gebilde auffallend haufig
zu sehen sind. Sie bestehen aus 6—8 dtinneren, sich intensiver far¬
benden, mit deutlichen Kernen versebenen Muskelfasern, die von einem
festen bindegewebigen Ring umgeben sind. In den meisten sieht man
noch neben Gefassen auch einzelne Nervenfasern.
Diesem negativen Befund am Nervensystem gegeniiber steht nun
seit der Veroffentlichung Weigerts der positive Befund an den Mus¬
keln. Erst seit dieser Weigertschen Veroffentlichung begannen die
Autoren auch dem Muskelapparat mehr Aufmerksamkeit zu schenken,
und so ist es erklarlich, dass solche Falle erst in der neuesten Zeit
und zwar immer haufiger veroffentlicht werden. Ausserdem kommt es
manchmal vor, dass man viele Schnitte, ja sogar manchmal ganze
Muskelstnckchen umsonst durchsehen muss, bis man darin sicher patho-
logisch zu deutende Veranderungen findet.
In auffallend vielen Fallen fand man daneben eine teils persistente,
teils den Ausgang einer geschwulst-meist Sarkom-bildenden Thymus.
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XI. CsIky
Schonbeim Weigertschen Fall war eine Thymusgeschwulst vorhanden.
Einen ahnlichen, mit Lymphosarkom verbundenen Fall publizierte dann
im Jahre 1904 Hun 18 ), der aber in seiner Arbeit darauf hinwies, dass
es sich wahrscheinlich um ein Lympbosarkom des Mediastinum han-
delte. Falle, bei denen zwar persistente Thymus nachweisbar war,
aber ohne Anzeichen einer Geschwulstbildung, veroffentlichten Link,
Burr — letzterer mit Abszessbildung in der Thymus — Steinert
und Buzzard in 2 Fallen.
Goldflam 17 ) fand in einem dem Lebenden exzidierten Muskel-
stlickchen zellige Infiltration der Muskulatur. Bei der nach 2 Jahren
erfolgten Autopsie fand sicb ein Lymphosarkom der Lunge vor, so dass
er den Muskelbefund als eine Metastase des Tumors auffasste, obwohl
eine mikroskopische Untersuchung des letzteren unterblieb.
Hier mochte ich auch einen von Oppenheim 15 ) im Jahre 1899
veroffentlichten Fall erwahnen, den er selbst zu den zweifelhaften
Fallen rechnet, Lei dem die Sektion ein Lymphosarkom der Thymus
aufwies. Die Muskulatur wurde nicht untersucht. Einen bemerkens-
werten Befund bildet aber ein „ubermassiger Zellreichtum in der den
Aquaeductus Sylvii umgebenden grauen Substanz, die von grosstenteils
einkernigen Zellen gebildet, in dichten Haufen liegenden Massen auf-
treten, und zwar sowohl in mehr diffusen als auch in einer herdfor-
fbrmigen Anordnung, kleine Haufen und Gruppen bildend. Im hin-
teren Vierhugel sind solcbe Zellgruppen auch in der Raphe unterhalb
des hinteren Langsbundels in der grauen Substanz vorhanden“. Auf
diesen Befund mochte ich spater noch einmal zuriickkommen. Falle,
bei denen nur eine persistente Thymus nachweisbar war, publizierten
z. B. Hodelmoser‘ J9 ), Gruner 30 ), Duprez-Pagniez 31 ) u. a., so dass
der Gedanke sehr nahestehend schien, zwischen Myasthenie und Thy-
muspersistenz einen ursachlichen Zusammenhang zu vermuten. Ja man
ging so weit, die Frage aufzuwerfen, ob das ganze Krankheitsbild
nicht die Folge einer Intoxikation ware, die durch Stoffe verursacht
wiirde, die von der persistenteu, bezw. pathologisch veranderten Thy¬
mus ausgeschieden werden. Obwohl diese Annahme auf keine experi-
mentelle Weise erwiesen werden konute, so hatte sie, wenn man nur
die obigen Befnnde in Betraeht zog, viel Plausibles. Wenn sie aber
richtig ware, so miisste man wohl in jedem Falle eine persistente oder
krankhaft verilnderte Thymus antreffen. Dies wurde aber in sehr viel
Fallen nicht nachgewiesen. Denn ausser den oben angefuhrten Fallen
gibt es noch eiuige in der neueren Literatur, bei denen wohl dieselbe
zellige Infiltration der Muskeln zugegen war, wo aber weder eine per¬
sistente Thymus, noch irgend welche andere Organveranderungen — so-
weit es niimlich auch mikroskopisch untersucht wurde — nachweisbar
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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 189
waren. Dies sind die Falle von Boldt, Osann, Buzzard (3 Falle),
Knoblauch, Marburg, Frugoni, Mandelbaum und Celler, zu
denen ich auch den von mir mitgeteilten recbnen mochte.
Alle diese Falle, die nach ihrem klinischen Verlauf sicber zur
Myasthenie zu recbnen sind, scheinen aber deutlich darauf hinzuweisen,
dass eine Persistenz der Thymus Oder eiue pathologische Yeranderung
derselben wohl nicht als ein bestandiger Befund bei dieser Krankheit
anzutreffen ist, und dass alle Yersucbe, die Krankheit als eine durcb
die persistente oder pathologisch veranderte Thymus verursacbte In-
toxikation aufzufassen, wohl nicht gen&gend begrflndet werden konnen.
Hier mochte ich eine andere in neuester Zeit von Chvostek 35 )
aufgestellte Hypothese erwahnen, die zwar auf rein theoretischer Grund-
lage aufgebaut ist, welche aber besonders darum Beachtung verdient,
da er die Krankheit zum ersten Mai mit anderen Krankheiten in eine
Familie vereinigt und den weiteren Forschungen dadurch eine neue
Riebtung gibt. Er reiht die Myasthenie in die Gruppe der Blutdrfisen-
erkrankungen ein und will sie durch eine pathologische Funktion der
Epithelkorper hervorgerufen wissen. In jeder Beziehung bildet die
Tetanie das diametral entgegengesetzte Krankheitsbild der Myasthenie,
und so meint er denn, dass, wahrend die Tetanie durch eine Hypo-
funktion der Epithelkorper verursacht wird, bei der Myasthenie eine
Hyper- oder Dysfunktion dieser Druse vorhanden sein muss.
Auch Lundborg steht schon vor Chvostek auf dem Standpunkt,
dass Tetanus, Myoklonie, Myotonie, Paralysis agitans und Myasthenie
eine Gruppe von Erkrankungen bilden, denen je eine Funktionsstorung
der EpithelkSrper zugrunde liegen konnte. Jedenfalls ist es eine auf-
fallende und schon lange bekannte Tatsache, dass sich zur Myasthenie
ofter Basedowsche Krankheit hinzugesellt oder wenig9tens einzelne
Symptome derselben deutlich nachweisbar sind. Auch bei unserem
Falle waren einige Symptome vorhanden, so eine massige Struma, Exoph-
thalmus, Schlaflosigkeit und manchmal Herzklopfen mit erhohter
Herzaktion. Ich mochte hier nur die Falle noch von Oppenheim,
Jendrassik 36 ), Loser 37 ) u. a. erwahnen. Jedenfalls ware es nicht
undenkbar, dass bei einer Erkrankung der Epithelkorper auch die
Thyreoidea miterkrankt, besonders wenn man bedenkt, in wie topo-
graphisch nahen Beziehungen die zwei Driisen gerade beim Menschen
stehen.
So interessant und verlockend auch die Hypothese Lundborgs-
und Chvosteks ist, so entbehrt sie bis jetzt jeder anatomischen und
experimentellen Grundlage, so dass erst weitere Untersuchungen zeigen
mussen, in wie weit sie stichhaltig ist. —
Aus der bis jetzt erschienenen und mir‘”zugiinglichen Literatur
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190
XI. CSIKY
konnte ich somit, inklusive den hier veroffentlichten Fall, 18 Falle zu-
sammenstellen, bei denen im Muskelapparat eine mehr oder weniger
ausgepragte. aber wohl sicher vorhandene kleinzellige Infiltration der
Muskulatur nachweisbar war. Hocbstens in den Fallen von Weigert',
Gold flam and Hun kann der Muskelbefund als fraglich angesehen
werden, da in alien 3 Fallen ein Tumor und zwar ein Sarkom der
Thymus vorhanden war und so die Zellanhaufungen — wie es auch
von den Autoren angenommen wurde — als Metastasen des Tumors
angesehen werden konnen. Sehr wahrscheinlich scheint mir aber die
Annahme, dass man es hier mit vom Tumor ganz unabhangigen Yer-
anderungen zu tun, hatte und dass sie mit den in den anderen Fallen
gefundenen Befunden als identisch angesehen werden konnen.
Es scheint mir namlich unwahrscheinlich, dass ein Lymphosarkom,
welches zur Metastasenbildung fuhrt, sich gerade nur auf das Muskel-
system beschranken wtirde, wahrend alle anderen Organe frei blieben.
Ausserdem konnten im Falle Gold flams diesel ben Zellen 2 Jahre vor
dem Exitus nachgewiesen werden. Im Falle Weigerts dauerte die
ganze Krankheit jahrelang, im Falle Goldflams sogar 9 Jahre! Wenn
diese Zellen nun wirklich Metastasen des Tumors gewesen waren und
wir diesen Befund mit der Myasthenic in ursachlichen Zusammenhang
bringen, so mussten wir annehmen, dass schon im Anfang der Erkran-
kung — also vor 2, resp. 9 Jahren — die ersten Metastasen im Muskel
auftraten, und dass Qberhaupt schon damals ein Sarkom der Thymus
oder Lunge vorhanden war. Bei dem bekannt rasch zum Exitus ftth-
renden Yerlauf der Lymphosarkome ist diese Annahme hochst unwahr¬
scheinlich.
Bei naherem Vergleich der mikroskopischen Befunde in den
einzelnen Fallen findet man nun, dass sie fast in jeder Hinsicht ein-
ander gkich sind: Anhaufung von kleinen einkernigen Zellen in
kleineren und grosseren Gruppen, von wo sie dann einzeln und in
Reihen zwischen die Muskelfasern hineindringen. Ihre fast regel mass ig
um kleine Gefasse gruppierende Anordnung mit FGllung der perivas-
kularen Lymphraume veranlasste auch viele Autoren zur Benennung
„perivaskulare Infiltration". Nur sehr selten findet man einige endo-
theloide Zellen, die meiner Meinung nach wohl den manchmal in die
Schnittebene fallenden Gefiissendothelien entsprechen.
Wohl die meisten Autoren weisen besonders darauf hin, dass
ausser dieser Zellinfiltration die Muskulatur im iibrigen normal erscheint,
ja sogar die Querstreifung noch viel deutlicher zu sehen ist als wie
soust. Schon aus dem oben mitgeteilten mikroskopischen Befund ist
es ersichtlich, dass dem nicht ganz so ist. Auffallend war an manchen
Stellen ein gewiss nicht physiologischer Dickenunterschied einzelner
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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 19]
Fasern, Kemvermehrung des Sarkoplasma, bindegewebigeWucherungen
und eine Zunahme des Fettgewebes und Auftreten desselben an Stelle
zugrunde gegangener Muskelfasern. Wohl waren besonders diese
letzteren Veranderungen sehr sparlich, konnten aber mit Sicherheit
nachgewiesen werden.
Bei der Durchsicht der in der Literatur beschriebenen Falle fanden
sich in einigen Fallen Bemerkungen, die auf Veranderungen der Mus¬
kelfasern selbst hindeuten. So fanden Goldflam und Link neben den
Lymphorrhagien „geschrumpfte“ atrophische Fasern. Liefmann 32 )
beschreibt bei seinem Fall eine Atrophie der rechten Zungenhalfte.
Mikroskopisch zeigte sich eine bedeutende Vermehrungdesinterstitiellen
Fett- und Bindegewebes und starke Kemvermehrung in den Muskel-
fasem. Dejerine u. Thomas 33 ) fanden eine kornige Degeneration in
einzelnen Muskelfasern der Zunge und des Larynx. Frugoni und
Marburg fanden fettige Degeneration, ersterer auch Verschmalerung
einzelner Fasern. Steinert beschrieb leichte Granulierung des Paren¬
chyma, die nach Formolhartung wieder verschwand. Tilney 34 ) fand
Dickenzunahme einzelner Muskelfasern mit Vermehrungder Sarkolemm-
kerae. Buzzard fand zwar in 4 Fallen die Fasern, ausser einer geringeren
Farbbarkeit einzelner, normal; in einem Falle aber, der sich durch
einen aussergewohnlich raschen Verlauf auszeichnete, war eine deut-
liche Degeneration einzelner Fasern nachweisbar, die an manchen Stellen
hyalinen, an anderen kornigen Charakter hatte. Auch sah er Vakuolen-
bildung und Vermehrung der Sarkolemmkerne. Bei einem Falle von
Sossedorf war mikroskopisch eine Vermehrung des Fettgewebes der
Zunge nachweisbar mit Zeichen der Entzundung und Atrophie, Ver¬
schmalerung einzelner Fasern mit Andeutung von Langsstreifung, Kern-
vermehrung und einzelne leere Sarkolemmaschlauche.
Ausser diesen mikroskopisch nachgewiesenen, zwar geringfugigen
Veranderungen finden wir besonders in der alteren Literatur auffallend
haufig Falle, bei denen eine Atrophie einzelner Muskeln oder Muskel-
gruppen nachweisbar war. Ich will nicht alle diese Falle einzeln vor-
fuhren, mochte nur darauf hinweisen, dass dabei die verschiedensteu
Muskeln.ohne jede Anordnung beteiligt waren, auffallend haufig aber
die Zunge, bei der auch sehr oft fibrillare Zuckungen beobachtet wurden.
Wohl sind unter diesen Fallen einige, die Oppenheim in seiner Mono¬
graphic unter den zweifelhaften Fallen angefiihrt hat; doch selbst in
den von ihm zu den sicheren Fallen gerechnetcn waren Muskel-
atrophien vorhanden. Trotzdem kommt er daselbst zur der Konklusion,
dass „die Muskelatrophie nicht zu den Symptomen dieser Krankheit
gehort\
Diese in letzter Zeit immer zahlreicheren Untersuchungen zeigen
Deutsche Zeitschrift f. Nerveiihoilkiinde. 37.13d. 13
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192
XI. CsiKY
nun, dass manchmal zwar ein sehr geringer Degenerationsprozess in
einzelnen Muskeln doch nachweisbar ist, der in Verschmalerung der
Fasern, in hyaliner, komiger Entartung, Fettablagerung usw. besteht.
Wenn wir uns nun auf den Standpunkt stellen, dass es sicb bei dieser
Krankheit um irgend eine Intoxikation, sei es von seiten einer patho-
logisch veranderten Thymus oder Paratbyroidea oder einer anderen
Ernahrungsstorung im Muskel handelt, so scheint es mir ganz selbst-
verstandlich, dass gegen solche schadlicbe Einwirkung einzelne Muskeln
und Muskelfasern nicht immer standhalten konnen, und dass die weniger
widerstandsfahigen an dieser schadlichen Wirkung langsam zugrunde
gehen. Da aber die Wirkung manchmal sehr chronisch ist und, wie
es aus dem klinischen Yerlauf ersichtlich, sehr an Intensitat wechseln
kann, so ist es klar, dass es nur seiten und auch dann erst im spateren
Stadium und in den yerschiedensten Muskeln zur sicbtbaren Atrophie
und za mikroskopisch nachweisbaren Faserveranderungen kommt.
Eine leichte Zunabme des Bindegewebes, auffallend starker Unter-
schied in derDicke einzelner Fasern, Ausfall und Degeneration einzelner
Fasern, Kernwucherung zeigen darauf bin, dass der Muskel langsam
geschadigt wird.
Es ist wohl merkwurdig, dass solche Veranderungen bis jetzt nicht
in alien Fallen nachgewiesen werden konnten. Dies konnte man meiner
Ansicht nach besonders durch zwei Momente erklaren. Erstens sind
die oben beschriebenen Muskelbefunde im allgemeinen ziemlich gering-
fugig und konnen erst manchmal nur nach langerem Suchen gefunden
werden, da man sie ausserdem nicht in jedem Muskelstfickchen finden
kann. Zweitens glaube ich, dass die meisten dieser Veranderungen,
besonders aber die zellige Infiltration — mit Ausnahme z. B. der Binde-
gewebswucherung — in direktem Zusammenhang stehen mit dem
Verlauf der Krankheit; in Zeiten der Besserung gehen die zelligen
Anhaufungen zuriick, die geschadigten Muskelfasern regenerieren wieder,
so dass bei der mikroskopischen Untersuchung nichts nachweisbar ist.
Bei Verschlimmerung des Zustandes treten sie wieder auf und, wenn
der Verlauf chronisch ist und die fortwahrende Schadigung der Muskel¬
fasern schliesslich zu deren Zerfall fiihrt, so tritt dann die .oben ge-
schilderte bindegewebige Wucherung zwischen den Fasern auf. Ein
diese Anschauung sttitzender Fall ist der von Buzzard, der sich durch
seinen akuten Verlauf auszeichnete und bei dem eine auffallend deut-
liche Veranderung an den Muskelfasern zu sehen war.
Gerade fur die Wahrscheinlichkeit einer Ernahrungsstorung, resp.
einer Erkrankung des lymphatischen Systems sprechen auch die mikro¬
skopischen Befunde von Buzzard, der ausser den Muskeln nicht nur
im Zentralnervensystem, soudern auch in anderen Organen, wie in
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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 193
den Nieren, Nebennieren, in der Leber, Tbyreoidea, dieselbe lymphocy-
tare Infiltration nachweisen konnte. Ahnlichen Befund ergab auch der
oben zitierte Fall von Marburg; — auch der Fall von Oppenheim
— Zellige Infiltration in der grauen Substanz um den Aquaeductus
Sylvii konnte als hierher gehoriger Befund betrachtet werden.
Ich mbchte noch einzelne, vielleicht gerade in dieser Richtung
bemerkenswerte Beobachtungen einiger Autoren erwahnen. So fand
Sitsen eine Leukocytose des Blutes, zwar mit Uberwiegen der poly-
nnklearen Zellen, sowie Zellanhaufungen in der Leber und der ver-
grosserten Milz. Leider war mir die Arbeit nur im Referat zuganglich,
so dass ich fiber nabere Angaben betreffs der fibrigen Befunde nicbt
berichten kann. Auch in einem Falle von Raymond-Lejonne waren
die Lymphocyten im Blute vermehrt. Ob nun dies durch ein chemo-
taktisch wirkendes Gift verursacht wird, welches durch irgend eine
pathologisch veranderte Druse sezerniert wird (Sitsen, Chvostek),
oder dass an eine allgemeine Storung in der Lymphzirkulation zu
denken ist, kann nacb unserem bisberigen Wissen nicbt entschieden
werden. Jedenfalls scbeint es mir sehr wichtig, bei Autopsien und
mikroskopischen Untersuchungen auch auf diese Gesicbtspunkte zu
achten und ausser den Muskeln auch die anderen Organe, besonders
aber das Lymphgefasssystem genauer zu untersuchen.
Die zum Teil positiven Befunde in anderen Organen ausserbalb
des Muskelsystems wfirden darauf hinweisen, dass es sich um eine
Veranderung handelt, die den ganzen Organismus mebr oder weniger
gleichmassig befallt. Die Muskelveranderung ware also keine Meta-
stasenbildung einer pathologisch veranderten Thymus, ebensowenig,
wie die Erkrankung dieser Drfise, die in einigen Fallen von Myasthenie
gefunden wurde, nicht als Ursache dieser Krankheit aufzufassen ware.
Alle diese aufgezahlten Befunde aber sind Tatsachen, die, wie
wir sahen, zur Aufstellung mancher Hypotbesen ermuntern. Wenn
wir uns aber fiber die wahre Ursache dieser merkwurdigen Krankheit
fragen, so mfissen wir sagen, dass wir noch immer in vielen Hinsichten
im Unklaren sind. Der einzige Fortschritt der letzten Jabre ist, dass
wir eine zwar meiner Meinung nach auch nur sekundare Veranderung
im Muskelsystem kennen gelernt haben, die uns aber von dem bisher
verfolgten Wege in so weit ablenkt, dass wir die Ursache der Krankheit
nicbt, wie bisher, im Zentralnervensystem suehen, sondern entweder
im Muskel selbst oder in deD die Funktion der Muskeln im allgemeinen
zu beeinflussen scheinenden Sekretionsprodukten verscbiedener Organe,
besonders aber in einer Veranderung des Stotfwechsels. Ob da auch
andere Faktoren, wie z. B. eine gewisse Minderwertigkeit des Organismus,
eine Rolle spielen, dariiber kann niolits Sicheres gesagt werden. Jeden-
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XI. C*iky, Myasthenia gravis pseudoparalytica usw.
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falls sind die bei vielen Fallen nachgewiesenen Entwicklungsanorualien
auffallend. Diese Gesichtspunkle sind es, die nach den neueren Uuter-
suchungen bei der Aufklarung der Atiologie dieser Krankheit bei den
weiteren Untersuchungen zu neuen Resultaten fiihren werden.
Literatur.
1) Wilks, Guys Hosp. Reports 1877. Vol. XXII. (Zitiert nach Oppenheim.)
2 1 Erb, Arch. f. Psych. 1879. Rd. 9.
3) Oppenheim, Vireh. Arch. 1887. Rd. 108.
1) Goldflam, Neur. Zentralbl. 1891 u. Deutsche Zeitschr. f. Nervenhcil-
kunde. Rd. 4.
5) Jolly, fieri, klin. Wochenschr. 1895.
0) Striimpell, Deutsche Zeitschr. I*. Nervenheilkde. 1890. Rd. s.
7) Hoppe, fieri, klin. Wochenschr. 1892.
8) Eisenlohr, Deutsche raed. Wochenschr. 1893.
9) Senator, Neurol. Zentralbl. 1892.
1<|) Shaw, Rrain 1890.
11) Dreschfeld, Rrit. med. Journal 1893.
12) Sossedorf, Geneve 189G (zitiert nach Oppenheim).
13i Schiile, Miinch. med. Wochenschr. ls99.
Ill Raymond, Leyons sur les maladies du syst. nerv. 1900. VI.
15) Oppenheim, Die myasthenische Paralyse, fierlin 1901.
10) Laqueur-Weigert, Neur. Ztrbl. 1901.
17) Goldflam, Neur. Ztrbl. 1902.
18) Hun, Albany med. Annal. 1904. Ref.)
19) Steinert, Deutsche med. Wochenschr., Vereinsbeil. 1900.
20) Link, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1903. Rd. 23.
21) Roldt, Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 1900. Rd. 19.
22) Burr, The Journ. of nerv. and ment. Diss. 1905. (Ref.)
23) Buzzard, Rrain 1905.
241 Knoblauch, Arch. f. Psych. 19<>7.
25) Fruironi, Riv. critic, di 4*1 in. med. 1907. (Ref.)
20) Marburg, Zeitschr. f. Heilkde. 1907.
27) Osann, Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 19m).
28) Mandlebaum u. (teller, The Journ. of exper. Medicine 19uS.
29i 11 5dl looser, Zeitschr. f. Heilkde. 1902. 55.
30) G rimer, Inaujr.-Diss. KOniirsbcn: (Kef).
31 Duprez-Pairn i ez, Nouv. iconoirr. de la Salp. 1905. (Ref.)
52 Licfmann, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Rd. 21.
30’ L) ej e r i n c - T h o m a s, Revue iieiirol<)L r h|iie 19ol.
31: Tilney, Neurnirraph* 1. 1007. Kef.t
35) ('hvostek, Wiener klin. Wochenschr. 190>>.
10; Jendrassik, Areh. f. Psych. 1 ^SO. IM. 17.
3)7 i Loeser, Zeit'Hir. f. A litre n lie i I k de. 10(0. 12.
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XII.
A us der III. med. Abteilung des Neuen allgemeinen Krankenhauses
Hamburg-Eppendorf (Oberarzt: Dr. Nonne).
Weitere Erfahrungen fiber den Wert der neueren cytolo-
logischen, chemischen und biologischen*) Untersuchungs-
methoden fftr die Differentialdiagnose der syphilogenen Er-
krankungen des Zentralnervensystems, gesammelt an 295
neuen Fallen von organischen Erkranknngen des Hims
nnd des Bfickenmarks.
Von
Dr. M. Nonne, und Dr. W. Holzmann,
Oberarzt. Asaistenz&rzt.
lm Oktober 1908 habe ich auf der Jahresversammlung der „Ge-
sellschaft Deutscher Nervenarzte" in Heidelberg das Facit daruber
gezogen, worm uns die Forschung der letzten Jahre in der klini-
schen Diagnose der syphilogenen Erkrankungen des Zentralnerven¬
systems gefordert hat Wir wollen im Folgenden an der Hand yon
seither untersuchten weiteren 295 Fallen organischer Erkrankungen —
in der Mehrzahl syphilogener Erkrankungen — darzulegen versuchen,
ob und wie sich die Anschauungen seither verschoben haben.
In Hamburg findet sich ein grosses Material von syphilogenen
Nervenerkrankungen zusammen. Wir konnten in den letzten 6 Monaten
49 Falle von Tabes dorsalis auf die 4 Reaktionen, d. h. auf Pleo-
cytose, auf Globulinvermehrung (Phasel), auf die Komplement-
ablenkung nach Wassermann im Blut und im Liquor spinalis
untereuchen. Wie haufig die Falle von Tabes dorsalis imperfecta sind,
gebt daraus hervor, dass unter diesen 49 Fallen es sich 21mal handelte
um imperfekte oder rudimentare Tabes. Es sind das Falle, bei denen
bei positiver Syphilisanamnese entweder nur Pupillenanomalien mit
Fehlen der Achillessehnenreflexe, oder Pupillenanomalien und lanzi-
*) Die biologischen Untcrsuchungeu wurden von Holzmann im Institut
fur experimentelle Therapie (Oberarzt: Dr. Much) des Allgemeinen Kranken¬
hauses Hamburg-Eppendorf ansgefuhrt.
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XII. Noxxe u. Holzmann
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nierende Schmerzen, oder solche mit gastrischen Krisen kombiniert
waren; ferner waren es Kombinationen von gastrischen Krisen und
Fehlen der Achillessehnenreflexe, oder von lanzinierenden Schmerzen
mit Gurtelzonenanasthesien, oder Gnrtelschmerzen mit Fehlen der Sehnen-
reflexe, oder Kombinationen von Opticusatrophie mit Krisenschmerzen,
oder mit Fehlen der Achillessehnenreflexe allein, oder was dergleichen
Kombinationen einzelner Tabessymptome mehr sind. In keinem der
Falle war Ataxie vorhanden, in keinem Rombergsches Symptom und
in keinem ausgesprochene Sensibilitatsstorungen in nennenswerter Aus-
breitung an den Extremitaten. In alien diesen Fallen bestanden diese
wenigen Symptome schon lange, und in alien Fallen fehlte eine Ten-
denz zur Progression. Es hat sich ergeben, dass unter diesen 49 Fallen
von Tabes dorsalis eine deutliche Lymphocytose nur 7 mal fehlte. Da-
von waren 4 Falle solche von Tabes imperfecta, 2 Falle solche von aus-
gesprochener Tabes, und 1 mal handelte es sich um einen imperfekten
Fall auf hereditar-syphilitischer Basis: Der Vater war an Dementia
paralytica auf syphilitischer Basis gestorben, und der Kranke selbst
zeigte die hereditar-luetische Form der Keratitis interstitialis.
Dieses Tabesmaterial zeigt, in Ubereinstimmung mit meinen (N.)
fruheren eigenen 101 Fallen und mit den bei einer fruheren Gelegenheit
von mir zusammengestellten Fallen aus der Literatur, dass die Pleo-
cytose eines der regelmassigsten Symptome der Tabes ist. Es bleibt
ferner bei der Feststellung, dass die Pleocytose bei den imperfekten
Fallen von Tabes ebenso regelmassig vorkommt wie bei den Vollfallen
von Tabes, sowie ferner, dass sie hier und da fehlen kann, bei Voll¬
fallen sowohl wie bei imperfekten Fallen.
Die Phase I-Reaktion verhielt sich in diesem Material der letzten
6 Monate ganz ebenso. Auch sie fehlte nur 7 mal, und zwar in alien
jenen 7 Fallen, in denen die Pleocytose fehlte, also auch bei 2 Voll¬
fallen, bei 4 imperfekten Fallen und bei dem hereditaren Fall. Es
hat sich somit auch jetzt bestatigt in t)bereinstimmung mit den Er-
fahrungen bei meinem (N.) bis Oktober 1908 untersuchten Material,
dass die Phase I-Reaktion der Pleocytosereaktion gleichwertig ist.
Bei der Dementia paralytica haben wir in den letzten 6 Mo-
naten auf Pleocytose und Phase I 20 mal untersucht, nur in einem
einzigen Falle haben wir beide Reaktionen nicht gefunden; es war
dies ein Fall von juveniler hereditiirer Paralyse mit hereditar-luetisch
doppelseitiger Chorioiditis disseminata. Auch Plaut sowie Sachs
und Noguchi in New York erhoben diesen negativen Befund in je
1 Fall von Paralyse. Mit anderen "Worten: Bei der Paralyse sind
beide Reaktionen fast ausnahmslos vorhanden; auch bei dieser Er-
krankung sind beide Reaktionen gleichwertig, auch hier finden sich
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Weitere Erfahrgn. fiber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 197
beide Reaktionen gleichmassig bei den Vollfallen und den imperfekten
resp. rudimentaren. Unsere neueren Erfahrungen decken sich mit
meinen (N.) frfiheren durchaus.
Etwas anders ist das Zahlenverhaltnis bei den vielen zweifel-
haften Fallen von Tabes und Paralyse, die dem Praktiker so
haufig zu Gesicht kommen. Es sind dies einerseits Falle, bei denen
sich leichtere und nicht charakteristische Storungen der Intelligenz
mit Pupillenanomalien Oder Reflexanomalien verbinden, Falle von leicht
apoplektiformen Attacken mit Pupillenanomalien, Falle von Ophthalmo¬
plegia interior bei positiver Syphilisanamnese, andererseits Falle mit
den subjektiven Symptomen „spinaler Neurasthenie" und einem oder
2 anderen nicht voll ausgebildeten organischen spinalen Symptomen:
nicht vollwertige Pupillenreaktion, Herabsetzung der Sehnenreflexe,
Erschwerung der Miktion usw. Von diesen Fallen sahen wir seit
Oktober 1908 16 Falle, und 5 mal fehlte hier die Pleocytose, wahrend
die Phase 1 3 mal fehlte und 1 mal zweifelhaft war.
Ich (N.) kann nur wiederholen, was ich schon frilher sagte, dass
gerade diese Falle weiter beobachtet werden mttssen, weil sie die Probe
aufs Exempel geben sollen fur den Wert der beiden Methoden. Ich habe
bis jetzt ca. 70 derartige zweifelhafte Falle bereits unter weitere Be-
obachtung gestellt und werde nicht verfehlen, entweder selbst oder
dnrch meine Schiiler daruber seinerzeit Rechenschaft zu geben.
Es folgt dann die Lues cerebralis, spinalis und cerebro-
spinalis, deren reine Formen offenbar selten sind, seltener, als man
bei dem Vielen, was in der Literatur iiber sie niedergelegt ist, glauben
sollte. Wir haben seit Oktober 1908 nur 22 Falle untersucben konnen;
unter diesen 22 Fallen feblten beide Reaktionen, Pleocytose und Phase I,
nur 4 mal, und zwar wieder in denselben Fallen; einer dieser 4 Falle
stellte eine restlose klinische Heilung eines seinerzeit ausserst scbweren
Falles von Meningitis gummosa convexitatis et basalis dar; auch diese
Erfahrungen bestatigen meine (N.) frfiheren Feststellungen und die-
jenigen aus der Literatur.
Wie steht es nun nach unseren neuesten Erfahrungen um das
Vorkommen der Pleocytose und der Phase I bei denjenigen Krank-
heiten, die praktisch die grossten differentialdiagnostischen Schwierig-
keiten bieten gegenuber der Diagnose „syphilogene Erkrankung des
Zentralnervensystems“? Ich meine die multiple Sklerose, die Epi¬
lepsia idiopathica, die Neurasthenie bei luetisch Gewesenen,
die Pseudotabes alcoholica, den Tumor cerebri.
Bei der multiplen Sklerose hat sich an 12 weiteren Fallen
wiederum ergeben, dass die Pleocytose, wenngleich selten, vorkommt.
Frnher hatte ich (N.) sie in 23 Proz. der Falle gefunden und aus der
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XII. Nonxe u. Holzmaxn
Literatur 24 Proz. zusammengestellt. Jetzt fanden wir 1 mal starke
und 2 mal schwache Pleocytose; das macht 25 Proz. Die Phase 1 fand
ich frttber in 45 Proz.; jetzt fanden wir sie unter 12 Fallen 2 mal,
also in 17 Proz. Bei der multiplen Sklerose ging das Yorkommen der
2 Reaktionen bei 2 Fallen Hand in Hand, wahrend in dem 3. Falle
nur Pleocytose ohne Phase I sich zeigte. Es bestatigt sich, dass die
2 Reaktionen fur die Differentialdiagnose zwischen multipier Skle¬
rose und Syphilis cerebrospinalis nicht den Aussohlag geben
konnen, denn wenngleich in hberwiegender Haufigkeit die Pleocytose
bei der Syphilis cerebrospinalis stark und bei der multiplen Sklerose
schwach ist, so sieht man doch nicht allzu selten auch das Umgekehrte.
Epilepsia idiopathica haben wir seit Oktober 1908 33mal auf
beide Reaktionen untersucht. Pleocytose fanden wir nur 1 mal, Phase I
3 mal, ganz schwach. Ich (N.) kann damach die Behauptung, dass
Phase I bei idiopathischer Epilepsie nicht vorkommt, faicht mehr
aufrecht erhalten. Meine frtiheren 20 Falle, die alle negative Globulin-
reaktion zeigten, konnen also nicht mehr als beweisend angesehen
werden. Immerhin bleibt zu Recht bestehen, dass beide Reaktionen
bei der idiopathischen Epilepsie eine seltene Ausnahme von der
Regel ihres Fehlens bilden.
Cerebrale Neurasthenie ohne Syphilis in der Anamnese haben
wir 3 mal und solche mit Syphilis in der Anamnese auch 3 mal unter¬
sucht: Ntlr in einem Falle mit positiver Syphilisanamnese fanden
wir beide Reaktionen positiv, und dieser Fall war auf beginnende
Hirnsypbilis nicht unverdachtig. Es bestatigt sich somit, dass beide
Reaktionen sehr wertvoll sind fftr die Differentialdiagnose zwischen
Neurasthenia cerebralis et spinalis einerseits, Dementia paralytica und
Tabes dorsalis andererseits.
Eine voile Bestatigung meiner (N.) friiheren Feststellung erfahrt
auch unsere neuere Erfahrung an 10 weiteren Fallen von Pseudo-
tabes alcoholics, also Fallen von Alkoholismus mit Pupillen- und
Sehnenreflexanomalien, Ataxie, neuralgiformen Schmerzen usw. Zwei
von diesen Fallen batten Lues in der Anamnese. In alien 10 Fallen
fehlte sowohl Pleocytose als auch Phase I: ein schneidender Gegen-
satz zu dem sonst fast ausnahmslosen positiven Befund bei Tabes und
Paralyse!
Endlich die differentialdiagnostisch so wichtigen Falle von Tumor
cerebri! Da haben wir in den letzten 6 Monaten nicht weniger als
17 Falle untersucht. Davon sind 11 zur Sektion gekommen, waren also
diagnostisch einwaudfrei. 3 mal war unter diesen 11 Fallen die Pleocytose
und 4 mal die Phase 1 positiv. In 3 Fallen waren beide Reaktionen
zusammen positiv, in 1 Fall nur die Phase I positiv. In den 6 nicht
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Weitere Erfahrgn. fiber die Diflerentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 199
zur Sektion gekommenen Fallen fehlte die Lymphocytose stets, wahrend
die Phase I 2mal positiv war. Also hier im wesentlichen eine Be-
statigung meiner (N.) friiheren Befunde, dass Pleocytose und Phase I
bei Tumor cerebri in der kleinen Minderzahl der Falle vorkommen.
Interessant sind ja die Falle von isolierter Pupillenstarre ohne
sonstige subjektive und objektive, den Verdacht auf Tabes oder Paralyse
erweckende Symptome, die bekanntlich keineswegs immer der Aus-
druck von Syphilis sind. Wie frBher fanden wir auch bei 4 neuen
Beobachtungen, dass bei den Fallen ohne nachweisliche Syphilis
(3 Falle) die 2 Reaktionen fehlten und in dem mit nachgewiesener
Lues (1 Fall) vorhanden waren.
Auf alle anderen Gehirn- und Rnckenmarkskrankheiten, soweit sie
differential-diagnostisch gegen die syphilitischen und metasyphilitischen
Nervenkrankheiten nicht in Frage kommen, soli nicht eingegangen
werden. Es ist oft bestatigt worden und kann als definitiv ausgemacht
gelten, dass Pleocytose und Phase I nicht oder ausserst selten,
und wenn vorkommend, in geringem Grade dabei vorkommen. Aus-
zunehmen ist nach 2 eigenenErfahrungen der idiopathische] Hydro¬
cephalus; und noch auf eine Krankheit ist hinzuweisen, fttr deren
Diagnose die Phase I-Reaktion Wichtigkeit haben wiirde, wenn sicb
meine (N.) an 3 Fallen gewonnene Erfahrung bei weiteren Beobach¬
tungen bestatigen sollte: Komprimierende extram edullare Tumoren
geben starke Phase I-Reaktion bei Fehlen der Lymphocytose.
Es diirfte heute feststehen, dass die Komplementablenkungs-
reaktion nach Wassermann, Neisser und Bruck fur Syphilis nicht
spezifisch ist in dem Sinne, in dem die ersten klassischen Untersucher
sie angesehen haben*), da einerseits das syphilitische Antigen durch
Extrakte nichtsyphilitischer Organe und durch gewisse chemische
Korper ersetzt werden kann, und da andererseits die Hemmung der
Hamolyse durch Bindung des Komplements auch bei anderen Er-
krankungen vorkommt, die nicht syphilogen sind. Fur Framboesia,
Lepra, Malaria ist dies jetzt allgemein zugegeben; fur Scharlach steht
die Tatsache, die zuerst von Much und Eichelberg in Hamburg be-
kannt gegeben wurde, gleichfalls fest. Nur die Erklarung dieser Tat¬
sache ist bei den Autoren eine verschiedenartige (Bruck und Cohn,
Klopstock und Seligmann u. a.). In einem Falle meiner Abteilung
wurde sogar die Tatsache eines abgelaufenen Scharlachs durch die
Wassermann-Reaktion des Blutes erst entdeckt und retrospektiv
bestatigt. Ich will speziell hervorheben, dass in diesem Falle samt-
*) Anmerkung bei der Korrektur: Das betonten auch in ihren so-
eben erschienenen Arbeiten Zaloziecki und Eichelberg.
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XII. Nonne u. Holzmann
licheKontrollen bei der Anstellung derReaktion auf das genaueste aus-
gefuhrt wurden. Der Fall ist von Holzmann (Munch, mediz. Wochen-
schrift 1909, Nr. 14) veroffentlicht worden.
Auch in den Qbrigen, seit den Heidelberger Mitteilungen Muchs
und Eichelbergs als positiv publizierten Scharlachfallen waren die-
selben Vorsichtsraassregeln getxoffen, so dass auf diese die Einwande,
die Plaut in seinem neuerdings erschienenen vortrefflichen, erschopfen-
den Buche iiber die Bedeutung der Wassermann-Reaktion in der
Psychiatric macht, nicht zutreffen. Seitdem Halberstadter, Muller
und Reiche, Handel und Schultz nnd endlich Bruck selbst, der
Mitarbeiter Neissers und Wassermanns, sowie der das Neissersche
grosse Material bearbeiteode Purckhauer die Tatsache zugegeben
haben, d&rfte die Kontroverse liber das Vorkommen der Wassermann-
Reaktion bei Scharlach geschlossen sein, trotzdem Wassermann und
G. Meier sowie auch Galewski, Schild und C. Fr&nkel-Halle erst
vor kurzem wieder gesagt haben, ausser bei Lepra kame die Reaktion
nur bei Syphilis vor, und trotzdem Wassermann selbst noch die
Spezifitat der Reaktion aufrecht halt. Bei Kontrolluntersuchungen,
die in Hamburg und in Breslau, d. b. in dem serologischen Labora-
torium des Eppendorfer Krankenhauses und im Laboratorium der
dermatologischen Klinik in Breslau, vorgenommen wurden, fand sich,
dass von 8 Scharlachseren 3 sowohl in Hamburg wie in Breslau
positiv reagierten. Die Zuverlassigkeit der Hamburger Untersuchungen
gingauch daraus hervor, dass alle Sera sowohl in Hamburg wie in
Breslau gleichmassig reagierten. Damit diirfte die Bemerkung,
die Wassermann in Heidelberg im Anschluss an Eichelbergs und
Muchs Mitteilung iiber die positiven Befunde bei Scharlach machte,
namlich, dass die Befunde sich nur durch eine „Fehlerhaftigkeit der
Methode" erklaren konnten, ftir den objektiven Kritiker widerlegt sein.
Der langjahrige Mitarbeiter Wassermanns, Kolle selbst, hat vor
kurzem auf Grund theoretischer Erwagungen, den Ausspruch getan:
„Die Komplementablenkungsreaktion ist nicht spezifisch fur
Lues, wohl aber ist sie charakteristisch fur Lues"; dasselbe hat,
aus der Praxis schbpfend, Hecht in Prag ausgesprochen, und diesem
kbnnen wir uns, wie unsere nachfolgenden Ausfuhrungen ergeben
werden, nur anschliessen. Wie Lapowsky in New York sagen auch
wir: Die Reaktion ist nicht spezifisch im bakteriologischen Sinne, wohl
aber kliniseh charakteristisch fur Syphilis.
Es muss aber eine grosze Reihevon Iiegeln beobachtet werden,
wenn man nicht zu fehlerhaften Resultaten kommen will. Diese Regeln,
die Wassermann von vorn herein alle als nbtig erklart hatte, haben
die spiiteren Untersucher als unbedingt erforderlich auf Grund eigener
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Weitere Erfahrgn. uber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 201
Erfabrungen auch anerkannt. Es ist deshalb eine Kontrolle der eigenen
frtiherer Untersuchungsresultate an der Hand der noch mehr gesicherten
Methodik und gesteigerten Erfahrung fur jeden, der sich mit diesem
schwierigen Kapitel befasst, eine zwingende Notwendigkeit. Alle Kon-
trollen sind notig, und nur der Unerfahrene kann nicht alle Kon-
trollen flir jede Untersuchung fiir notig halten.
1. Das ausgewertete Extrakt und das hamolytische System muss
mit mehreren sicher syphilitischen und sicher nichtsyphilitischen Seren
ausprobiert werden.
2. Zum hamolytischen System muss als Kontrolle die doppelte
Serummenge zugesetzt werden, d. b. zur Anstellung der Reaktion muss
0,2 ccm, zur Anstellung der Kontrolle 0,4 ccm des zu untersuchenden
Serums gegeben werden, um sicher zu sein, dass das Serum nicht
scbon selbst bemmt.
3. Es diente uns als Extrakt das alkoholiscbe Extrakt aus der
Leber eines syphilitischen Fotus sowie auch wasserige und alkoholiscbe
Extrakte aus luetischen und normalen Herzen und Lebern. Wir ver-
dfinnten es schnell, nicht fraktioniert, wie Sachs in Frankfurt es tut.
Wahrend Wassermann wasserige Luesextrakte als Antigen benutzt
hatte, hielt man, nachdem man entdeckt hatte, dass lipoide Korper
das spezifische Antigen ersetzen konnen, das alkoholische Extrakt fttr
geeigneter. Plant bat wieder mit was3erigem Extrakt gearbeitet, wahrend
Neisser jetzt wieder alkoholisches Extrakt benutzt. Ledermann hat
mit alkoholischen Extrakten dieselben Resultate wie mit wasserigen be-
kommen. Wir haben im allgemeinen mit wasserigem und alkoholischem
Extrakt von normalen Herzen und luetischen Lebern, in der letzten
Zeit hauptsachlich mit alkoholischem Extrakt untersucht und nur
zur Kontrolle des Liquor spinalis bei Tabes dorsalis auch wasseriges
Extrakt genommen.
4. Es muss das zu untersuchende Blut morgens entnommen werden,
da die Erfahrung ergeben hat, dass nach einer reichlichen Mahlzeit
das Blutserum milchig getrubt sein kann, wodurch das Ablesen des
Resultats erschwert wird, nach anderen sogar sich bisweilen ein falsch-
lich positives Resultat ergibt.
5. Praktischist die Reaktion mit aktivem Serum nicht brauchbar,
weil es hier zu hauiig eine positive Reaktion gibt. Deshalb muss das
zu untersuchende Serum vor dem Gebrauch inaktiviert, d. h. eine
halbe Stunde bei 58 0 R. gehalten werden. Es hat sich ergeben, dass
der Liquor spinalis nicht inaktiviert zu werden braucht.
6. Nicht inaktiviertes Serum und Liquor hielten sich brauchbar
nach mehrfachen Kontrolluntersuchungen, die wir angestellt haben,
fur ca. 4—5 Tage, sowohl in Zimmertemperatur wie auf Eis (auf Eis
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bis zu 10 Tagen), wenn sie nicht zu stark geschfittelt warden. Auch die
probeweise Hin- und Hersendung auf Bahnfahrten von 10 Standen und
langerer Dauer batten die Brauchbarkeit der zu untersuchenden Flussig-
keit oft nicht geschadigt, wabrend die Flassigkeiten nach starkerem
Schutteln stets positive Reaktion gaben. Nach langerem Stehen
als fttr 4—5 Tage werden die Resultate unzuverlassig, da, wie nach
starkem Schtitteln, Serum und Liquor dann selbst hemmen oder sogar
falschlich positive Reaktion geben konnen. Inaktivierte Flassigkeiten,
auf Eis aufbewahrt, halten sich, nach Plaut, fast unbegrenzte Zeit.
Amboceptor (Serum von mit Hammelblutkorpem vorbehandelten Ka-
ninchen) und Extrakt halten sich auf Eis langere Zeit, und zwar der
Amboceptor noch longer als das Extrakt (alkoholisches langer als
wasseriges); doch muss auch dieses vor jedem Gebrauch immer wieder
auf seine Wertigkeit kontrolliert werden.
7. Die Hammelblutkorperchen mflssen frisch sein und gut aus-
gewaschen werden, d. h. mehrere Male mit Kochsalzlbsung zentrifugiert
werden.
S. Es muss kontrolliert werden, ob Extrakt -)- hamolytisches System
selbst hemmt, und zwar muss man zu dieser Kontrolle nicht nurdie einfache,
sondem auch die doppelte Menge wie zur Reaktion selbst gebrauchen.
Wir glauben, an der Hand der vielfachen XJntersuchungen, die bis
zum Herbst 1908 sowie seither u. a. wieder von F. Lesser, Leder-
mann, Kafka, Plaut, Hecht, Behring, Bruck, Kohn, Bauer
und G. Meier, L. Meier, Galewsky, Rostoski, Schild, Blaschko
und Kolle, Eichelberg, Zaloziecki, Sachs u. Castelli vorge-
nommen worden sind, sowie auf Grund unserer eigenen neuen Unter-
suchungen behaupten zu konnen, dass die Reaktion jetzt reif fur die
Praxis ist, wenngleich dies auch heute noch von Seligmann, Hal-
berstadter, Fischer-Dresden bestritten wird.
Die Methode ist aber einstweilen noch so kompliziert in ihrer
Ausflihrung und, wie schon die Aufzahlung der unbedingt notigen
Vorsichtsmassregeln ergibt, so von Fehlerquellen umgeben, dass sie
nur im Laboratorium und nur von exakt geschulten Untersuchem
ausgefiihrt werden kann.
Bei den seit Oktbr. 08 vorgenommenen weiteren Untersuchungen mit
der Komplementablenkungsmethode ergaben sich einige neue interessante
Momente. Zunachst bei der Tabes dorsalis: Ich (N.) hatte frfiher
gefunden, dass im Blut die Komplementablenkungsreaktion in 90 Proz.
der Fiille, im Liquor spinalis in ca. 50 Proz. der Falle vorkommt. Ich
befand mich damit in Ubereinstimmung mit den fruheren Untersuchem.
Wir miissen das heute in dem ersten Punkte etwas korrigieren:
Wir fanden unter 26 Vollfallen von Tabes 4 mal die Wassermann-
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Weitere Erfahrgn. fiber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 203
Reaktion, also in 16 Proz., fehlend und bei 23 Fallen von Tabes imperfecta
die Reaktion lOmal, also in 43 Proz. fehlend. Es ergibt sicb aus diesem
Material, dass der Prozentsatz der positiven Wassermann-Reaktion
nicht immer so gross ist, wie es nach anderen Statistiken erscheint,
und es ergibt sich ferner, dass bei den Fallen von Tabes imperfecta
die Wassermann-Reaktion ofter feblt als bei den Vollfallen. Immerhin
fehlte gerade auch bei 2 ganz alten Vollfallen die Wassermann-
Reaktion im Blutserum. Wichtig ist es, hervorzuheben, dass die Re¬
aktion im Blut fehlen kann sowobl bei Fallen mit positiver als mit nega-
tiver Syphilisanamnese, wie auch das Umgekehrte sich bei unseren neuen
Untersuchungen wiederum ergeben hat. Auf eine vorhergegangene ener-
gische spezifische Behandlung konnte das Fehlen der Komplement-
ahlenkungsreaktion nur in wenigen Fallen bezogen werden. Sehr be-
merkenswert war ein Fall von „Erkaltungs“-Tabes ohne Syphilis in
der Vorgeschichte, der sich nach einem Fall in kaltes Wasser ent-
wickelt hatte. Auch hier fand sich die Wassermann-Reaktion im
Blut neben Pleocytose und Phase I, bei Fehlen der Liquorreaktion.
Jedenfalls sind nach unseren Erfahrungen die Pleocytose und
die Phase I bei Tabes dorsalis haufiger vorhanden als die
Blutreaktion nach Wassermann, und die tjbereinstimmung dieser
Reaktionen ist nicht in dem Grade vorhanden, wie im Oktober 1908
angenommen werden musste.
Aber etwas Anderes hat sich herausgestellt: Unter den
49 neuerlich untersuchten Fallen fanden wir nur zweimal die
Wassermann-Reaktion im Liquor spinalis positiv. Der eine
dieser Falle, ein Fall von imperfekter, seit 10 Jahren stationarer Tabes,
war mit schwerstem Morphinismus kompliziert. Das ist ausserst auf-
fallend. In meinen (N.) friiher untersuchten Fallen hatte ich, wie
schon gesagt, in ca. 50 Proz. der Falle eine Ablenkung in der
Spinalflussigkeit gefunden.*)
*) Die damals von mir als positiv registrierten Falle bin ich uocli eiumal
dnrcbgegangen; eB bandelt sich um 9 Falle, bei ganz strenger und „wenig wohl-
wollender" Kritik bleibt nur 1 Fall, in dem man sagen kann, dass jeder Anhalt
fur die Anamnese einer beginnenden Paralyse feblt; ein wirklieher klassischer
Vollfall von Tabes findet sich fiberhaupt nicht unter diesen 9 Fallen; 4raal war
eine reflektorische Pupillenstarre nur einseitig, in 4 Fallen waren die Sehnen-
reflexe an den unteren Extremitaten vorhanden, in 3 Fallen sugar lebhaft; in
1 Fall lag eine Kombination tabischer Svinptome mit einer Poliomyelitis ant.
chronica vor; in 2 Fallen handelte es sich um Fehlen der Sehnenrellexe der
unteren Extremitaten bei syphilitiseher Anamnese. In der Litcrutur tiudet man
sehr wenig darfiber. Fast in alien Publikationen ist entweder nur von der
Reaktion im Blutserum die Rede, oder es bleibt uuklar, ob Blutserum oder
Liquor gemeint ist. Es ist dringend zu fordern, dass in den weiteren Publi-
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XII. Nonxe u. Hor.zMAXX
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Andererseits ist von alien anderen Autoren, soweit sie nberhaupt
darauf eingehen, betont worden, dass der Liquor viel seltener die
Wassermann-Reaktion gibt als das Blutserum. Unsere jetzigen
Resultute mflssen wir als dnrchaus einwandfrei bezeichnen, denn
unsere Erfahrung hat seither sich wesentlich vergrossert und alle vor-
scbriftsmassigen Kontrollen (s. o.) wurden bei der Anstellung der
Reaktion angewendet. Auch geben wir zu bedenken, dass die Resultate
bei den fibrigen organischen Nervenkrankheiten, wie wir noch sehen
werden, durchaus flbereinstimmen mit denen anderer Autoren. Wir
mochten hiermit ganz energisch zu Nacbuntersuchungen auffordern.
Wir sind fest uberzeugt, dass der, welcher mit einwandfreier Methode
untersucht, zu demselben Resultat kommen wird. Dass die Ab-
lenkungsreaktion im Liquor bei Tabes erheblich seltener ist als im
Blutserum, war ja von Anfang an bekannt (von jenen oben zitierten
Autoren abgesehen); dass ihr .Vorkommen im Liquor aber eine so
seltene Ausnahme ist, dass ihr Fehlen oderihr, wie unten weiter
ausgeffihrt werden wird, schwacheres Auftreten geradezu
als charakteristisch fur Tabes dorsalis angesehen werden kann,
dQrfte neu sein und hat erhebliche praktische Konsequenzen.
Unsere Kontrolluntersuchungen haben ergeben, dass die Benutzung
von wasserigem oder alkoholischem Extrakt von Lebem luischer Foten
keine wesentliche Differenz gibt, dass auch eine grossere Menge als
0,2 ccm Liquor keine Hemmung der Hamolyse verursacht.
Ganzanders liegt die Sache bei der Dementia paralytica. Friiher
hatte ich (N.) in 90 Proz. der Falle die Komplementablenkungsreaktion
im Blut und im Liquor spinalis gefunden. In 23 neuen Fallen haben
wir in den letzten 5Monaten das Blut ohne eine einzige Ausnahme
positiv reagierend gefunden, und im Liquor spinalis fanden wir die
Reaktion nur ein einziges Malnegativ. Diese Resultate stimmen
aufs beste liberein mit den Erfahrungen, die Plaut und auch Eichel-
berg gemacht haben. Untersuchungen von anderer Seite sollten diesem
kationen Serum und Liquor streng auseinander gehalten werden, denn es ergab
sich schon im Herbst 1908, dass i'iir einzelne organische Nervenkrankheiten die
Reaktion beider FUissigkeiten durchaus verschieden ausfiel. Nur
Rostoski sowie Marie, Levaditiu. Yamanouchi sagen auf Grand ihrer
Erfahrungen, dass der Liquor eerebrospiualis noch dort positive Wassermann-
Reaktion gibt bei Tabes, Paralyse uud Lues cerebrospinalis, wo die Reaktion
im Blutserum undeutlich oder negativ ist. Schiitze hatte den Liquor spinalis
bei Tabes unter 29 Fallen in SO Proz. positiv nach Wassermann reagierend ge¬
funden, aber schon Citron nur 2mal unter 9 Fallen. Plaut berichtet in seinem
neuen Werk, dass er in 11 Fallen von Tabes Was ermann -Reaktion im Liquor
spinalis 7 mal land. Es muss aber betont werden, dass er selbst diese Tabes-
fiille nielit oder jedenfalls zum grossen Teil nicht untersucht hat.
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Weitere Erfahrgn. fiber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 205
auffallenden Missverhaltnis zwischen dem Verhalten des Liquor spinalis
bei der Paralyse einerseits, bei der Tabes andererseits nachgehen.
Dass unsere Feststellungen bestatigt werden, daran konnen wir nach
der absoluten Stetigkeit unserer Resultate nicht zweifeln. Bei
weiteren Kontrollversuchen hat sich herausgestellt, dass zuweilen bei
Tabes dorsalis im Liquor die Reaktion positiv ausfallt, wenn der Ex-
trakt so stark genommen wird, dass die doppelte Extraktmenge schon
ohne Liquor- Oder Serumzusatz teilweise oder vollstandige Hemmung
der Hamolyse bewirkt. Da wir bei der Paralyse, auch unter der
Beachtung der Kontrollvorschrift (vergl. Plaut, Taege), dass das
Doppelte der yerwendeten Extraktmenge allein keine Hemmung be-
wirken darf, fast in alien Fallen positive Wassermann-Reaktion im
Liquor bekamen, so scheinen die die Hemmung der Hamolyse bewirken-
den Stoffe im Liquor der Tabiker, wenn im einzelnen Fall tiber-
baupt, dann grosstenteils in weit geringerer Menge als bei der
Paralyse vorhanden zu sein. Plaut und andere Untersucher haben
in weit hoberem Prozentsatz als wir bei Tabes im Liquor positive
Wassermann-Reaktion gefunden, trotzdem z. B. Plaut ebenfalls die
Forderung stellt, dass aucb die doppelte Extraktmenge nicht selbst
hemmen darf. Vielleicht erklSrt sich diese Differenz in den Unter-
suchungsergebnissen —Plaut deutet in seinem Buche darauf hin — so,
dass Plaut hochwertigere Extrakte als wir verwendete. Wir sind
nicht an dieausserste Grenze gegangen, um auf keinen Fall un-
spezifische positive Resultate zu erhalten. Der Prozentsatz unserer
positiven Resultate bei Paralyse im Serum (100 Proz.) und im Liquor
(95 Proz.) wie bei der Tabes im Serum (70 Proz.) zeigt uns aber, dass
unsere Extrakte nicht allzu geringwertig gewesen sein konnen. Wenn
sich unsere Erfahrungen weiter bestatigen, kann die Starke oder das
Vorhandensein resp. Fehlen der Wassermann-Reaktion in der
Spinalflussigkeit ein uberaus wichtiges diagnostisches Hilfs-
mornent werden fur die Differentialdiagnose der Paralyse
gegeniiber der Tabes, zumal, da die anderen 3 Reaktionen ja beiden
Krankheiten gemeinsam sind.
Nur bei der hereditaren Paralyse, d. h. bei der Dementia para¬
lytica auf hereditar-syphilitischer Basis, seheint die Wassermann-
Reaktion im Liquor fehlen zu konnen. Wenigstens habe ich (N.) sie
in 3 von 4 Fallen, die ich, seitdem ich auf Wassermann-Reaktion
flberhaupt untersuche, gesehen habe, vermisst. Schon in Heidelberg
wies ich darauf hin, dass auch Stertz und Plaut dasselbe konstatiert
batten. Zu den 2 Fallen von hereditar-syphilitischer Erkrankung des
Zentralnervensystems, bei denen die Liquorreaktion nach Wasser-
mann negativ war, konnen wir jetzt einen weiteren hinzufugc-n: Es
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XII. Nonxe u. Holzmann
handelt sich um eine Paralyse bei einem Kind mit bereditar-syphi-
litischer interstitieller Keratitis: Der Vater war an Paralyse aaf syphi-
litiscber Basis gestorben. Allerdings bleibt far diese Falle der Kin-
wand moglicb, dass es sich eben nicht um Paralyse, sondern um
kongenitale Lues cerebri handelt; das konnen nur Sektionen resp.
eine eingebende mikroskopische Untersuchung entscheiden.
Bei einem Falle von Schwachsinn mit Mydriasis und to taler re-
flektoriscber Pupillenstarre bei einem von der Mutter her hereditar-
syphilitischen Kinde (Paralyse?) waren wieder alle 4 Reaktionen positiv.
Plaut sagt in seinem Werke, dass das Fehlen von Wassermann -
Reaktion im Blut die Diagnose Paralyse so gut wie sicher und Fehlen
der Wassermann-Reaktion im Liquor spinalis die Paralyse fast sicher
ausschliessen liessen. Dasselbe behauptet Wassermann. Wir konnen
uns auf Grund unserer Erfahrungen dem nur anschliessen.
Eine Beobachtung zeigte die differentialdiagnostische Wichtigkeit
des gleichzeitigen Vorhandenseins aller 4 Reaktionen fur die Annabme
der Paralyse: Es handelte sich um einen 66jahrigen Schauspieler, der
vor ca. 30 Jahren Syphilis gehabt hatte. Er bot das klinisch reine
Bild des senilen Schwachsinns und hatte kein einziges somatisches
Symptom von Paralyse, aber alle 4 Reaktionen waren bei wie-
derbolten Untersuchungen exquisit positiv. Bei der Sektion
zeigte sich cbronische Leptomeningitis, Granulierung des Ependyms
der Seitenventrikel, also Verdacht auf Paralyse. Herr Dr. Ranke,
Privatdozent der psychiatriscben Klinik von Nissl in Heidelberg,
hatte die Freundlichkeit, das Him mikroskopisch zu untersuchen,
und stellte die Diagnose auf eine typische Paralyse. Die charakte-
ristischen Veranderungen waren sehr ausgesprochen und sehr diffus.
Herr Dr. Ranke betonte besonders, dass Zeichen von Hirnsyphilis
nicht vorlagen, sondern, dass es sich ausschliesslich um eine
Paralyse handelte.
Andererseits zeigten 2 Falle auch den Wert des Fehlens der
Wassermann-Reaktion im Blut und Liquor fur das Ausschliessen
der Diagnose Paralyse: In dem 1. Fall kam ein Mann auf die Ab-
teilung mit Vervvirrtheit, leichtem Delirium und Andeutung von
GrOssenwahn. Die Pupillen waren different und starr bei Lichteinfall,
die SehnenroHexe gesteigert, und ausserdem fanden sich bei positiver
Syphilisanamne.se noch spezifische Hautnarben. Von den 4 Reaktionen
waren nur Lymphocytose und Phase 1 positiv, wahrend Blut und
Liquor spinalis nach Wassermann negativ reagierten. Eine genauere
Anamuese fehlte. In dieseiu Zustand lag der Patient ca. 1 Woche.
Die Sektion ergab Meningitis tuberculosa. — In dem 2. Falle war die
Anamnese auf Syphilis zweifelhaft. Patient bot das Bild einfacher
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Weitere Erfahrgn. iiber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 207
Demenz mit Andeutung von Grossenideen. Er hatte Steigerung der
Sehnenreflexe, licht- und konvergenzstarre Pupillen, Innervations-
schwache des rechten Facialis und verwaschene Sprache. Dabei waren
alle 4 Reaktionen negativ. Die Sektion ergab einen grossen Tumor
im linken Frontalhirn.
Bei einem Manne, der auf beginnende Paralyse sebr verdachtig
war, jedoch keine Liquorreaktion nach Wassermann zeigte, ent¬
wickelte sich spater eine linksseitige Ophthalmoplegia interior, wodurch
die Wagschale zu gunsten der Annahme einer Lues cerebri sank.
Auch Plaut berichtet iiber einen Fall, den er nach dem klinischeu
Bilde fur eine Alkoholdemenz hielt, der jedoch Wasserraann-Reak-
tion in Blute und Liquor positiv zeigte. Der Fall entwickelte sich dann
zu einer zweifellosen Paralyse.
Ebenso erwiesen die 4 Reaktionen 2 Falle, die bisher als manisch-
depressives Irresein gegolten hatten, als Paralyse. In einem weiteren
Fall — Frau mit syphilitischer Anamnese, manischer Erregung, Ver-
wirrtheit, Pupillenstarre — waren Wassermann-Reaktion im Blut
und Liquor negativ bei positiver Pleocytose und Phase I, und der Fall
entwickelte sich weiter nicht als Paralyse, sondern die Manie klang ah.
Die Erscheinungen am Nervensystem waren auf eine Tabes znrfick-
zufuhren. In einem anderen Falle handelte es sich um einen manischen
Erregungszustand bei einer syphilitisch gewesenen friiheren P. P. ohne
somatische Symptome seitens des N erven systems. Alle 4 Reaktionen
waren negativ, die Manie ging zuriick, und die Patientin wurde gesund
entlassen.
Bei den 16 Fallen von Verdacht auf Tabes und Paralyse war
lOmal die Wassermann-Reaktion im Blut und 3mal im Liquor
positiv. Diese Falle haben wir zu den iiber 70 friiheren Fallen gestellt,
die weiter beobachtet werden miissen. Der weitere Verlauf dieser
Falle wird uns, wie fur den diagnostischen Wert der Lymphocytose
und der Phase I, so auch flir den Wert der Wassermann-Reaktion
retrospektiv wertvolle Erfahrnngen liefern. Es soli spater auch iiber
diese besonders wichtigen Falle berichtet werden.
Unter dem gesamten Tabesmaterial haben wir nur 3 Falle ge-
sehen, in denen alle 4 Reaktionen negativ waren; alle 3 Falle boten
das Bild der Tabes imperfecta; die Diagnose konnte in 2 Fallen
immerhin angefochten werden, so dass auch diese 3 Falle nicht mit
Sicherheit den Satz widerlegen kbnnen, dass Fehlen aller 4 Reaktionen
nur in ganz seltenen Ausnahmefallen bei Tabes dorsalis vorkommt.
Bei imperfekten Paralysefallen sahen w r ir negative Befunde aller
•1 Reaktionen iiberhaupt nicht: das Einzige, was bei solchen Fallen
2 mal vorkam, war Fehlen der Wassermann-Reaktion im Liquor.
Deutsche Zeitscbrift f. Nervenbeilkunde. 37. Bd. 14
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208
XII. Non.ne u. Holzmann
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Es lasst sich dahin zusammenfassen: Die Wassermann-Reaktion
in Blut und Liquor ist fiir die acquirierte Paralyse ein
ebenso feines Reagens wie die Pleocytose und Phase I*); und
ebenso charakteristisch fiir die Tabes ist bei positiver Pleo¬
cytose, Phase I und haufigem (60—70 Proz.) Vorkommen von
Wassermann-Reaktion im Blutserum die fehlende resp. ge-
ringgradige Komplementablenkung des Liquor spinalis.
4 Falle wurden untersucht, in denen es sich um Kinder sy-
philitisch gewesener Eltern handelte. Diese Kinder zeigten nur
die Zeichen allgemeiner konstitutioneller hochgradiger Ner-
vositat, ohne objektive somatische Anomalien am Nervensystem. In
einem Falle hatte die Mutter ein Aortenaneurysma, in einem Falle
war der Vater an Paralyse gestorben, in einem Falle hatte die Mutter
imperfekte Tabes, in dem 4. Falle endlich hatten Vater und Mutter
imperfekte Tabes. Nur in einem Falle — dem 2. dieser 4 Falle —
hatte das Kind im Blut positive Wassermann-Reaktion. Die anderen
3 Reaktionen wurden nicht angestellt.
Es wurde dieselbe Erfahrung mit der Wassermann-Reaktion
bei Tabes und Paralyse gemacht wie mit der Pleocytose und Phase I:
Die Reaktion war ebenso bei Vollfallen wie bei incipienten Fallen,
ebenso bei schnellen wie bei langsam verlaufenden und stationaren
Fallen vorhanden. Differentialdiagnostisch in diesem Sinne und pro-
gnostisch konnen die Reaktionen — wir stimmen darin mit Plaut
vollig tiberein — nicht verwertet werden. Vergleichende Unter-
suchungen zwischen der Starke der Wassermann-Reaktion im Blut
und im Liquor haben uns gezeigt, dass hier irgend ein konstantes
Verhaltnis nicht vorliegt. Wir glauben, dass auch weitere Unter-
suchungen dasselbe negative Resultat ergeben werden. Die Hoffhung,
die Plaut in seiuem Buche ausspricht, dass ein Missverhaltnis zwischen
Wassermann-Reaktion im Blut und im Liquor sich vielleicht pro-
gnostisch werde verwerten lassen, konnen wir auf Grund unserer
bisherigen Erfahrungen nicht teilen.
Niemals salien wir Umkehrung der positiven Wassermann-
Reaktion im Blut und im Liquor bei Paralyse durch antisyphilitisclie
Ivuren. Ein Fall, der diese Umkehrung zeigte und der zunachst fiir
eine Paralyse gehalten wurde, erwies sich spater als ^Alkohol-
paralyse" (Korsakowsche Psychose mit Polyneuritis chronica) bei
einem Luetiker.
*) Anmerkung bei der Korrektur: Zaloeiecky sail nach seinen so-
eben mitgetcilten Erfalmingen 2 inal unter 44 Paralysefallan die Wassermann-
Reaktion im Blut und 1 mal im Liquor negativ.
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Weitere Erfahrgn. fiber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 209
Unter unseren 22 seit Oktober 1908 beobachteten Fallen von
Lues cerebrospinalis reagierte der Liquor spinalis nur ein einziges
Mai positiv, und in dieseru Falle kehrte sich die Reaktion nach einer
Schmierkur ins Negative urn. Das Blutserum reagierte nur 2mal
negativ, und diese beiden Falle waren immerhin nicht ganz eindeutig.
Ich will nicht unterlassen, hervorzuheben, dass in 2 der obigen 22 Falle
die Sektion und in einem Falle die Trepanation die Diagnose einer
gummosen Hirnlues bestatigte. Wir miissen deshalb noch scharfer,
als ich (N.) es fruher ausgesprochen habe und als Stertz und Wasser-
nvann und Plaut*) — er fand unter 20 Fallen Wassermann-
Reaktion 19mal ira Blut und 3mal im Liquor positiv — es gesagt
haben, feststeUen, dass bei Lues des Nervensystems das Blut zu-
weilen negativ, der Liquor selten einmal positiv reagieren kann —;
wir miissen sagen: Der typische Befund der 4 Reaktionen bei den
verschiedenen Formen der Lues cerebrospinalis (meningitische, arteriiti-
sche und gummose Form) ist der, dass neben Pleocytose und Phase I
die Wassermann-Reaktion im Blut positiv und im Liquor negativ ist.
Es ergibt sich also, dass es derselbe Befund ist wie bei der
Tabes und sich durch das Fehlen der Wassermann-Reaktion
im Liquor unterscheidet von dem Befund bei der Paralyse.
Die Hoffnung, die ich (N.) fruher ausgesprochen habe, dass das Fehlen
der Wassermann-Reaktion im Liquor uns in manchen Fallen eine
Handhabe geben wurde ffir die Differentialdiagnose zwischen Tabes
und Lues spinalis resp. cerebrospinalis, bestatigt sich nach unseren
neueren Erfahrungen somit nicht. Wir stehen damit im Gegensatz
zu Plaut, der an dem differentialdiagnostischen Wert der Liquor-
reaktion bei Tabes einerseits, bei Lues cerebrospinalis andererseits
noch festhalt
Weitere Untersuchungen miissen hier Kliirung bringen; aber es
ist zu verlangen, dass bei den untersuchten Fallen Neurologe und
Serologe gleich zuverlassig sind.
Kurz erwahnen wollen wir, dass alle 7 untersuchten Falle von
Pseudotabes alcoholica ohne Syphilis in der Anamnese Wasser¬
mann-Reaktion im Blut und Liquor negativ ergaben. Es muss des¬
halb jetzt anerkannt werden, dass wir in der Wassermann-Reaktion,
wenn auch nicht eine ebenso wertvolle Bereicherung der Differential-
diagnose gegenuber der Tabes wie in der Pleocytose und Phase I, so
doch immerhin eine Bereicherung haben.
Ebenso reagierten alle 9 untersuchten Falle von einfacher Hirn-
*) Plaut sagt jetzt, dass die W.-Reaktiou im Liquor bei Lues des Ner¬
vensystems ebenso selten sei, wie sie haufig sei bei Paralyse.
* 14 *
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XII. Nonne u. Hoj.zmann
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arterioskerose auf seniler oder praseniler Basis im Blut uud Liquor
negativ.
3 Krankheiten mussen uns besonders interessieren, weil sie be-
sondere differentialdiagnostische Schwierigkeiten gegenliber der Lues
cerebrospinalis machen und weil gerade bei ihnen noch eine Divergenz
der Resultate herrschte. Es sind dies:
1. die multiple Sklerose,
2. Epilepsia idiopathica,
3. Tumor cerebri.
Weil ich (N.) bei alien 3 Krankheiten frfiher Resultate gefunden
hatte, die der Wassermann-Methode keine zwingende Bedeutung fur
die Differentialdiagnose zuerkennen konnten, fuhlte ich mich besonders
verpflichtet zu weiteren Untersuchungen. Diese haben das folgende
Resultat ergeben: Bei 12 Fallen von multipler Sklerose fanden wir
nur 1 mal die Wassermann-Reaktion positiv, und auch hier nur im
Blut. Da Pleocytose und Phase I in diesem Fall auch vorhanden
waren, so ergaben die 4 Reaktionen das fur Lues cerebrospinalis resp.
spinalis typische Bild. Es ist dieser Fall eine Bestatigung einer frfiheren
Beobachtung von mir (N.), die auch Wassermann-Reaktion im Blut
ergeben hatte, wahrend an meinem neuen Material die friiher auch
eimnal gemachte Erfahrung des Vorkommens der Wassermann-
Reaktion im Liquor sich nicht wiederholte. Auch Plaut fand in
einem Fall von multipler Sklerose das Blutserum positiv reagierend.
Sachs fand in 2 Fallen, die er als multiple Sklerose diagnostiziert
hatte, trotzdem er Wassermann-Reaktion gefunden hatte, bei der
Sektion Lues cerebri. Jedenfalls konnen wir heute so viel sagen,
dass bei differeutialdiagnostischen Zweifeln positive Wassermann-
Reaktion im Blut die ernstesten Bedenken gegen die An-
nahme einer multiplen Sklerose erzeugen und dass Wasser¬
mann-Reaktion im Liquor diese Diagnose ausscheiden muss.
Noch giinstiger fur die praktische Verwertung der Wassermann-
Reaktion stellt sich nach unseren weiteren Erfahrungen die Epilepsia
idiopathica: 33 Fiille von Epilepsia idiopathica ohne nachweisbare
Syphilis haben wir auf Wassermann-Reaktion untersucht. Die
Wassermann-Reaktion war unter diesen 33 Fallen im Liquor
kein einziges Mal positiv. Im Blutserum fanden wir sie 5mal
positiv. In meinen (N.) friiher untersucliten 9 Fallen hatte ich die
Reaktion im Liquor auch niemals gefunden, aber im Blut 5 mal. Aber
die jetzige Untersuchungsreihe ist sehr lehrreich. Es sei deshalb auf
die 5 Fiille mit positiver Blutserum-Reaktion kurz eingegangen:
Eimnal handelte es sich um ein junges, korperlich und geistig
gesundes Madchen, das im 19. Lebensjahre ohne nachweisliche Ursache
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Weitere Erfalirgn. fiber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 211
schwere epileptische Anfalle bekam. Es war mir (N.) aber bekannt,
dass der Vater einige Jahre vor seiner Verheiratung sich syphilitisch
iDfiziert hatte. Jetzt untersuchten wir sein Blut — er war subjektiv
und objektiv ganz gesund — und fanden es positiv reagierend.
In dem 2. Falle entwickelte sich spater eine schwere Ataxie der
unteren Extremitaten mit Hypotonie; dazu gesellte sich doppelseitige
Anosmie und unter Schmierkur vcrschwanden diese cerebrospinalen
Symptome; also war die Diagnose, um so mehr da auch Pleocytose
und Phase I sich fanden, auf Lues cerebrospinalis wohl sicher. —
Im 3. Falle hatte sich, ebenfalls bei einem bis dahin ganz gesun-
den jungen Menschen von 17 Jahren, schwere Epilepsie entwickelt.
Brom half nicht; energisches Traitement mixte brachte Heilung, und es
ergab sich nachtraglich, dass der Vater eine auf Syphilis sehr verdach-
tige Anamnese hatte.
Im 4. Fall, in dem von den 4 Reaktionen nur Wassermanu-
Reaktion im Liquor negativ war, war wegen hartnackiger Kopf-
sehmerzen und weil die Epilepsie erst im 38. Lebensjahr eingesetzt
hatte, trotz Fehlens aller somatischen Symptome der Verdacht auf die
Entwicklung eines organischen syphilogenen Leidens nicht von der
Hand zu weisen.
Nur im 5. Fall liess sich nichts Besonderes eruieren.
Diese Erfahrungen haben uns jetzt zu der Uber2eugung gebracht,
dass bei der Epilepsia idiopathica ohne Syphilis die Komplement-
reaktion im Blut fehlt, und dass da, wo sie vorhanden ist, sie hinweist auf
die syphilogene Natur der epileptischen Anfalle, oder dass sie darauf
hinweist, dass die epileptischen Anfalle der Ausdruck einer in Entwick¬
lung begriffenen Him- oder Hirn-Riickenmarkssyphilis sind. Wir treten
somit der von Plaut in seinem Buche ausgesprochenen Ansicht bei.*)
Auch gegeniiber dem Nichtvorkommen der Wassermann-Reak-
tion im Blut bei Tumor cerebri ohne Syphilisanamnese habe ich (N.)
mich — entgegen Stertz u. a. — vor 6 Monaten auf Grund der Er¬
fahrungen an 8 Fallen noch skeptisch verhalten; wir haben auch hierin
weiter untersucht. Es soil jetzt nur iiber solche Falle von Tumor
cerebri berichtet werden, bei denen die Sektion die Diagnose sicher
gestellt hatte. Es eriibrigt sich zu erwiihnen, warum die Diagnose
auf Tumor cerebri intra vitam nicht immer sicher ist, uud dass man
bei der Sektion von fur sicher gehaltenen Fallen nicht selten Uber-
raschungen erlebt. Wir verfiigen seit Oktober 1908 iiber 10 sezierte
*) Anmerkung bei der Korrektur: Meinc Erfahrungen sind in diesem
Punkte also andere als die von Eiclielbcrg am Gbttingor (Cramer) Material
g -machten, wonach sich unter 17 Fallen von epileptischem Irresoiu (1 mal Lues
in der Anamnese) a mal im Blut Wassermarm-Keaktion zeigte.
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XII. Noxne u. Holzmaxx
Falle von Tumor cerebri. In alien 10 Fallen war die Reaktion
im Liquor negativ, im Blutserum war sie nur lmal positiv ge-
wesen, und dieser Fall ist deshalb lehrreicb, weil wir ibn intra vitam
ftir einen Fall von Lues cerebri gehalten hatten, da die betreffende
Kranke einen Tophus auf der Stirn gehabt hatte, der unter Schmier-
kur prompt zuruckgegangen war. Sehr lehrreich sind noch folgende
3 F&lle:
1. Eine 40jahrige Frau war seit 22 Jahren infolge von allmahlich
entstandener Opticusatrophie erblindet. Die Pupillen zeigten keine
Lichtreaktion, die Achillessehnenreflexe fehlten. Die Anamnese war
auf Syphilis suspekt. Wir waren fest iiberzeugt, dass es sich um eine
stationare Tabes handelte. Alle 4 Reaktionen waren aber negativ.
Die Sektion ergab einen anatomisch gutartigen Tumor der Hypo¬
physis!
2. Bei einem Mann in mittleren Jahren, dessen Anamnese auf
Lues sehr verdiichtig war, war die Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf
Paralyse gestellt, weil Patient dement und chronisch verwirrt war,
eine verwaschene Sprache hatte, bei Licht- und Konvergenzstarre der
Pupillen und Feblen von cerebralen Drucksymptomen. Alle 4 Reak¬
tionen waren negativ. Die Sektion zeigte einen grossen in-
filtrierenden Tumor im linken Stirnhirn.
3. Bei einem 30jahrigen Mann war die Diagnose auf Tumor in
den rechtsseitigen raotorischen Rindenzeutren gestellt wordeu. Lues
liess sich nieht nachweisen. Hier war Pleocytose, Phase I und
Wassermann-Reaktion im Blutserum positiv. Bei der Trepa¬
nation fand sich der angenommene Tumor, aber es zeigte sich bei
makroskopiscber und mikroskopischer Untersuchung, dass es ein
(iumma war!
Der Schluss wird fur uns nach alledem heute lauten: Bei Tumor
cerebri ohne komplizierende Syphilis reagieren Blut und Liquor
spinalis nach Wassermann negativ.
Xur anhangsweise soil erwahnt werden, dass ein Fall von
Hydrocephalus auf hereditiir - syphilitiseher Basis positive Blutreak-
tion gab.
Alle die Falle von Neurasthenic, die wir untersucht haben, bei
deuen Lues nieht vorgelegen hatte, Hessen alle 4 Reaktionen ver-
missen. Wir haben in dieser Beziehung in den letzten 6 Monaten die
friiheren auf meiner Abteilung gesammelten Erfahrungen nur bestatigen
kbnnen. Die Falle mit Lues in der Anamnese zeigten schwache Pleo¬
cytose und in der Hiilfte der Falle W r assermann-Reaktion im Blut,
menials Wassermann-Reaktion im Liquor und niemals Phase I. Mit
fast absoluter Sicherheit konnen wir da, wo wir bei einem Luetiker
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Weitere Erfahrgn. fiber die Differentialdiaguose bei syphilog. Erkrankgu. 213
iuit neurasthenischen Beschwerden Verdacht auf Paralyse haben, diese
sehon ausschliessen, wenn Wassermann-Reaktion im Blut fehlt.
Nocb einige interessante und wichtige Einzelerfahrungen sollen
hier mitgeteilt werden; wir werden ja auf diesem noch jungen For-
schungsfelde noch viel zu lernen haben. Bei konjugalen Tabesfallen
fanden wir 2mal, dass die Blutreaktion nur bei der einen Halfte des
Ehepaares — einmal beim Mann, einmal bei der Frau — positiv war.
Zweimal erlebten wir es, dass Pleocytose und Phase I bei einem
Fall von Dementia paralytica negativ und eine Woche spiiter bei einer
zweiten Untersuchung stark positiv waren. Dasselbe konstatierten wir
2 mal mit der Wassermann-Reaktion im Liquor bei Paralyse. Plant
erwahnt dieselbe Erfahrung. Wir batten daraus die praktische Kon-
sequenz zu ziehen, bei Fallen, deren Punktionsresultat widerspruchs-
voll erscheint, die Punktion noch einmal zu wiederholen — aller-
dings eine Forderung, die oft genug auf praktische Schwierigkeiten
stossen wird.
In einem Fall von ganz schwerer Hirn-Riickenmarkssyphilis, der
deu „typischen“ Befund — also Pleocytose, Phase 1, Blutreaktion nacli
Wassermann — gezeigt hatte und der kliuisch restlos ausgeheilt war,
fand sicb, als sich die Kranke nach einem Jahre vollkommen gesund
und objektiv normal vorstellte, dass aucb alle 4 Reaktionen jetzt
negativ waren. Dieser Fall durfte sich als ein idealer Fall von Aus-
heilung einer scbweren Lues cerebrospinalis darstellen.
Die Aufgabe der nachsten Zeit durfte es sein, an einem
grossen Material niiher festzustellen, wie das Verhaltnis zwischen Pleo-
eytose und Phase I zur Wassermann-Reaktion im Liquor ist. Einst-
weilen miissen wir annehmen, dasskein Abhiingigkeitsverhaltnis besteht;
/.war kommen die Reaktionen bei Dementia paralytica gemeinsam vor;
doch beweisen die, allerdings sekr sparlicheu Fiille von Paralyse, in
ilenen Lymphocytose und Phase I oder eine der beiden Reaktionen feht,
vor allem aber das Fehlen der Liquorreaktion bei Tabes und bei
Syphilis cerebrospinalis, dass das Vorkoiumen von Pleocytose und
Phase I nicht die Liquorreaktion und umgekehrt bedingt.
Es ist eine weitere Aufgabe, die familiiiren Gruppen, deren Hiiuiig-
keit bei darauf gerichteter Untersuchung ja eine iinmer grbssere wird,
auf die 4 Reaktionen durchzuarbeiten. Plant, und ich (N.) haben den
Aufang dazu gemacht und ich (N.) sammle weitere Fiille in Krankeu-
liaus und Privatpraxis. Es muss ferner an einem grbsseren Material
festgestellt werden, ob sich die Fiille syphilogener Nervenerkrankung
auf hereditar-syphilitischer Basis in Bezug auf die 4 Reaktionen
auders verhalten als die Fiille von acquirierter Syphilis. Eine Reihe
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XII. XONNE U. HOLZMAXX
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von Beobachtungen von Stertz. Plaut und von uns lassen dies als
mdglich erscheinen.
Es muss vor allem der Grund fQr die Tatsache gesucht werden,
dass sich der Liquor spinalis bei der Tabes so anders verhalt als
bei der Paralyse. Einstweilen wollen wir nur hinweisen auf die viel
grbssere Gesamtmenge des Hirns gegeniiber dem R&ckenmark, auf den
schnelleren Ablauf der Paralyse, auf die anderen anatomischen Ver-
anderungen der weichen Haute bei der Paralyse.
Welchen praktischen Nutzen fiir die Diagnose die Neurologie bis
heute aus der Verwendung der 4 Reaktionen gezogen hat, glauben wir
an unserem Material gezeigt zu haben:
Die Paralyse zeigt mit sebr sparlicben Ausnahmen alle 4 Re¬
aktionen positiv.
Die Tabes zeigt fast ausnabmslos Pleocytose und Phase I, lange
nicht so konstant, aber docb in ca. 2 / 3 der Falle, die Wassermann-
Reaktion im Blut, wahrend sie im Liquor mit seltenen Ausnahmen fehlt
(s. unsere obigen Einscbrankungen).
Bei den verschiedenen Formen der Lues cerebralis und cerebro-
spinalis ist das Verhalten der Ly und Phase I sowie der Wassermann-
Reaktion im Liquor dasselbe; die Wassermann-Reaktion im Blut
ist haufiger als bei der Tabes.
In diesen Feststellungen ist der Wert der 4 Reaktionen aus-
gesprochen fiir die Differentialdiagnose gegeniiber den Fallen von
Neurasthenic ohne und mit Syphilis in der Anamnese.
Fur die Differentialdiagnose der Lues cerebri gegen den Tumor
cerebri ohne syphilitische Anamnese ist die Wassermann-Reaktion
ausserst wertvoll, ja ausschlaggebend, indem sie hier im Blut und im
Liquor fehlt. 1st der Fall von Tumor cerebri mit syphilitischer
Anamnese kompliziert, so hat die Wassermann-Reaktion keinen
Wert. Pleocytose und Phase I konnen bei der Differentialdiagnose
zwischen Lues cerebrospinalis und Tumor cerebri nicht ausschlaggebend
mitsprechen.
Bei der multiplen Sklerose kommt Wassermann-Reaktion
im Liquor nicht vor (ich [N.] muss meine frlihere eine Beobachtung,
weil sie ganz vereinzelt blieb, wohl zuriicknehmen), im Blutserum so
selten, dass diese Tatsache der praktischen Verwertung der Seroreaktion
nur geringen Abbruch tut. Andererseits ist das Auftreten von Pleo¬
cytose und Phase 1 bei der multiplen Sklerose nicht so selten, dass
diese 2 Reaktionen differentialdiagnostisch gegen Lues cerebrospinalis
vervvnndet werden konnen.
Das Vorkommen von Wassermann-Reaktion im Blut bei an-
scheinend idiopathischer Epilepsie muss schwere Bedenken gegen diese
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Weitere Erfahrgn. liber die Diflerentialdiagnose bei sy phi log. Erk ran kirn. 215
Diagnose erwecken und es ausserst wahrscheinlich machen, dass ein
svphilogenes Leiden (Paralyse oder Lues cerebrospinalis) vorliegt. Das-
selbe gilt fiir Pleocytose und Phase I.
Bei Pseudotabes alcoholica ohne sypbilitische Vorgeschichte kom-
men die 4 Reaktionen so gut wie niemals vor; ihr Fehlen ist daher ent-
seheidend zu verwerten bei der Differentialdiagnose gegeniiber der Tabes.
Alle tibrigen organischen Him- und Riickenmarkskrankheiten
kbnnen fiiglich libergangen werden, da sie praktisch bei der Differential¬
diagnose gegeniiber den syphilogenen Erkrankungen des Nervensystems
nicht in Frage kommen.
Ich (N.) sagte im vorigen Herbst in Heidelberg* dass ich nur ein
Momentbild geben konne, dass weitere Erfahrungenmeine Anschauungen
entweder bestatigen oder modifizieren wlirden. Die Zeit hat mir schon
jetzt Recht gegeben. Das Meiste hat sich bestatigt; manches und
einzelnes sehr Wichtiges hat sich modifiziert Wir glauben aber heute
aussprechen zu konnen, dass die Grundlinien sich jetzt nicht mehr
verwischen werden, und dass wir heute bereits sagen kbnnen, dass wir
wissen, was die 4 Reaktionen leisten und was sie nicht leisten. Wer
Erfahrungen iiber den Ausfall der 4 Reaktionen hat, wird heute von
ihnen nicht mehr verlangen, dass sie ihn unter alien Umstanden dar-
fiber aufklaren, ob der dubiose Symptomenkomplex bei einem Kranken,
der syphilitisch infiziert war, auf eine Lues cerebrospinalis oder eine
multiple Sklerose zu beziehen ist, oder ob bei einem syphilitisch ge-
wesenen Kranken die fraglichen Symptome von einer spezifischen Hirn-
syphilis oder einem Himtumor herriibren. Sie kbnnen es allerdings,
wenn alle 4 Reaktionen negativ sind. In beiden Fallen aber wiirde
das Ensemble Pleocytose, Phase I und positive Blutreaktion nach
Wassermann die diagnostischen Zweifel nicht losen. Ebensowenig
wird der erfahrene Untersucher von den 4 Reaktionen verlangen,
dass sie ihm sagen, ob es sich bei einem Fall nur um Tabes oder
um eine Kombination von Tabes und Lues spinalis handelt. Mehr
verlangen kann man von der Differentialdiagnose zwischen Paralyse
und Tabes gegeniiber der Neurasthenic mit und ohne friihere Syphilis,
ferner gegeniiber der idiopathischen Epilepsie mit syphilitischer Anam-
nese, weiter gegeniiber der pseudotabischen Form des chronischen
Alkoholismus bei Luetikern und Nichtluetikern.
Wenn die Akten uns geschlossen zu sein scheinen iiber das Ver-
halten der 4 Reaktionen im Verlaufe der klinisch diagnostizierbaren or¬
ganischen Him- und Riickenmarkskrankheiten, so muss die weitere
Forschung sich jetzt erstrecken auf die Untersuchung der zweifel-
haften Falle, resp. auf deren Verfolgung so lange, bis sie diagnostisch
zweifellos werden oder bis die Sektion Klarung gebracht hat.
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XII. Nonne u. Holzmann
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Als Beispiel fur eine grosse Reihe von von uns unter Kontrolle
gestellter Falle mogen folgende dienen:
1. Syphilis vor 8 Jahren, seit 6 Monaten heftige Kopfschmerzen
ohne sonst nachweisbare Ursachen: neuropathischer Gesamteindruck,
somatisch keine Anomalien. Alle 4 Reaktionen negativ. Die Wag-
schale sinkt somit zu gunsten der Diagnose „funktioneller Kopf-
schmerz bei einem Luetiker".
2. Der spastiscbe Symptomenkomplex ohne Anhalt fiir multiple
Sklerose entwickelt sich bei einem alteren Mann, bei dem Syphilis
nicht nachweisbar ist, an alien 4 Extremitaten. Alle 4 Reaktionen sind
negativ. Hier ist zu erwarten, dass sich auch ferner keine Zeichen
dafiir entwickeln, dass der spastische Symptomenkomplex derAusdruck
einer Hirn-Rtickenmarkssyphilis ist.
3. Ein sonst gesunder Mann ohne nachweisliche syphilitische Vor-
geschichte leidet an scliwerem, gegen jede Behandlung refraktarem
Kopfschmerz. Der somatische Nervenstatus ist negativ. Es ergibt
sich Lymphocytose und Phase 1 negativ, Wassermann im Liquor
negativ, aber im Blut positiv. Der Fall wird dadurch verdachtig auf
syphilitisch bedingte Kopfschmerzen.
4. Syphilis vor 10 Jahren. Kommt wegen depressiver Zustande
mit Schlaflosigkeit, objektiv nur Miosis und reflektorische Pupillen-
starre. Lymphocytose und Phase 1 stark positiv. Wassermann-
Reaktion im Blut und Liquor negativ. Was wird das? Konnen wir
hier Paralyse und Tabes ausschliessen? Nach den bisherigen Er-
fahrungen Paralyse mit grosster Wabrscheinlichkeit, Tabes nicht.
5. Syphilis vor 10 Jahren. Symptome von basalen Hirnnerven-
liihmungen, Demenz. Von den 4 Reaktionen nur Phase 1 schwach
positiv. Besserung der Demenz und der basalen Liihmungen unter
spezifischer Behandlung. Ist das ein spezifischer oder nichtspezifischer
basaler Hirnprozess?
Derartige Testfalle haben wir eine grossere Reihe, wie schon
gesagt, bis jetzt fiber 70, unter Kontrolle gestellt. Die geduldige
Registrierung und Beobachtung gerade solcher Falle wird uns in der
diagnostisehen Verwertung der 4 Reaktionen fordern. Bis die notige
Ertahrung sich gerade hier ergeben haben wird, werden selbstverstandlich
noeh Jahre vergehen. Dasselbe betont auch Plaut wiederholt in seinem
mit grosser Ertahrung und vorbildlich objektiver niichterner Kritik g e -
schriebenen Bnc-he; auch er sagt, dass die diagnostische Wertigkeit der
Serodiagnose ja erst auf diesem langen und muhevollen Wege wirklich
bewiesen werden kbnne, ist also von vorschnellem Optimismus durch-
aus entfernt.
In der Praxis zeigt sich, dass alle 4 Reaktionen ihren Wert.
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Weitere Erfahrgn. uber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 217
haben, aber nur in dera Sinne, dass keine von ihnen ftir sich allein
ausschlaggebend ist, sondern dass ihre kombinierte Anwendung,
und auch dann nur unter Berucksichtigung aller in Frage kommenden
Momente, unsere Diaguose im Einzelfalle fbrdern kann. Wir halten
es nicbt fur richtig, dass Plaut bei der sonst so vorznglichen Durch-
arbeitung seines Materials auf die Heranziehung der Globulinvermehrung
zur Differentialdiagnose giinzlich verzichtet hat. In ihrer kom-
binierten Anordnung stellen die 4 Reaktionen ein iiberaus wert-
volles diagnostisches Riistzeug dar, auf das wir heute nicht mebr werden
verzichten wollen, und um so weniger, weil gerade die praktisch so
wichtigen syphilogenen Erkrankungen des Nervensystems in vielen
Fallen durch sie frtiher als bisher der Diagnose zugangig werden.
Hamburg, Mai 1909.
Schlusssatze.
1. Bei Tabes und bei Paralyse sind Lymphocytose und Globuliu-
reaktion (Phase I) fast ausnahmslos vorhanden. Die Reaktionen geheu
Hand in Hand und sind in gleichem Grade vorhanden bei imperfekten
und bei incipienten wie bei Vollf alien.
2. Beide Reaktionen fehlen nur selten bei Lues cerebrospinalis.
Bei Sclerosis multiplex kommen beide Reaktionen in der geringen
Minderzahl der Falle und schwach vor; bei Epilepsia idiopathica, bei
Neurasthenic, bei Pseudotabes alcoholica und bei Tumor cerebri fehlen
beide Reaktionen, wenn Lues feblt. Bei syphilitischer Anamnese kommt
bei diesen Erkrankungen Lymphocytose vor, aber schwach ausgebildet.
Phase I fehlt auch dann fast ausnahmslos.
3. Die Wassermann-Reaktion kommt bei Tabes dorsalis im
Blutserum in ca. 60—70 Proz. vor, im Liquor spinalis fehlt sie
fastimmer oder die die Reaktion gebenden Stoffe sind in geringerer
Menge vorhanden. Bei Dementia paralytica ist die Wassermann-
Reaktion im Blut so gut wie immer und im Liquor spinalis auch fast
immer vorhanden. Deshalb scheint die Wassermann-Reaktion im
Liquor spinalis ein wichtiges Hilfsmittel zu sein fiir die Differential¬
diagnose zwischen Tabes und Paralyse. Bei der hereditareu Paralyse
kann die Wassermann-Reaktion im Liquor fehlen.
4. Bei Epilepsia idiopathica ohne sypkilitische Vorgeschichte
fehlt die Wassermann-Reaktion im Blut und im Liquor. Falle
mit Wassermann-Reaktion im Blut sind entweder Falle funktioneller
Epilepsie mit vorausgegangeuer Syphilis oder der Ausdruck eines
syphilogenen Hirnleidens.
5. Beim Tumor cerebri fehlt die Wassermann-Reaktion im Blut
und im Liquor. Bei Fallen mit Wassermann-Reaktion im Blut ist
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XII. Noxne u. Holzmann
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entweder der Tumor ein syphilitischer Oder es handelt sich um Kom-
bination von Tumor cerebri mit Organsyphilis, reap, um Tumor cerebri
bei einem Luetiker.
6. Die Lymphocytose und die Phase I-Reaktion stehen nicht im
kausalen Zusammenhang mit der Wassermann-Reaktion im Liquor.
Alle 4 Reaktionen sind bei den syphilogenen Erkrankungen des Nerven-
systems in ihrer Starke und in ihrem Verhaltnis zu einander unabhangig
von dem Stadium und von der Verlaufsform der syphilogenen Er-
krankung.
7. Es muss durch weitere Untersuchungen festgestellt werden,
ob die Falle von h ereditar-syphilogener Erkrankung des Nerven-
systems sich serologisch anders verhalten als die Falle mit acqui-
rierter Syphilis.
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320 Xoxnk u. Holzmann, Weitere Erfahrgn. ub. d. Difterentialdiaguose tisw.
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34) Schiitze, A., Tubes u. Lues. Zcitsehrift f. klin. Medizin. 65. B<1.
5. u. 6. Heft.
35) Selenew, J., Die Schattenseiten der Wassermannschen Reaktion. Rus«.
Zeitschr. f. Haut- und Geschleehtskrankheiten. November 190S. Ref. Miineh.
ined. Woehenschr. 1909. Xr. 17.
30) Seiigmann, E., u. F. Klopstoek, Uber Serum reaktion bei Scharlach-
kranken. Berl. kiiu. Woehenschr. 190S. Xr. 38.
37) Stern, M., Zur Technik der Serodiagnostik der Syphilis. Berl. klin.
Woehenschr. 1908. Nr. 32.
38) Stertz, Serodiagnostik in der Psychiatrie und Xeurologie. Allgem.
Zeitschr. f. Psychiatrie und psychisch-geriehtl. Medizin. 1908. 65. Bd. Heft 1.
39) Taege, Die Technik der Wassermann-Xeisser-Bruckschen Serodiagno¬
stik der Syphilis. Miinch. med. Woehenschr. 1908. Xr. 33.
10) Wirth, Karl, Untersuchuugen der Cerebrospinalfliissigkeit naeli Xonne-
Apelt. Gesellschaft f. innerc Medizin und Kinderheilkunde zu Wien. Kef.
Munch, med. Woehenschr. 1909. N>. 7.
41) Zaloziecki, A., Zur klinischen Bewertung der serodiagnostischen
Luesreaktion naeh Wassermann in der Psychiatric, nebst Bemerkungen zu
den Untersuchungsmethoden des Liquor cerebrospinalis. Monatsschr. f. Psychia¬
trie und Xeurologie. Bd. 26. 1909.
42) Zeissler, J., Die Wassermannsche Reaktion bei Scharlach. Berl. klin.
Woehenschr. 190s. Xr. 42.
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XIII.
Aus dem stadtischen Krankenhaus in Mainz, innere Abteilung (Direk-
tor: Dr. H. Curschmann) und dem neurologischen Institut in Frank¬
furt a. M. (Direktor: Prof. L. Edinger), Abteilung f. Hirnpathologie
(Prof. Dr. H. Vogt, Abt.-Vorstand).
Zur Kenntnis der Mckenmarkserkrankungen nach Trauma.
Von
Dr. H. Hellbach-Jena
(Mit 2 Abbildungen.)
Als Erb im Jahre 1897 fiber Poliomyelitis auterior chronica nach
Trauma und den Zusammenhang zwischen Trauma und organischen
Xervenkrankheiten schrieb, erkliirte er es ffir wfinschenswert, noch
weiteres Material zur Ergrfindung jenes Zusammenhanges zu sammeln.
Insbesondere verdienen jene Falle Interesse, bei denen eine Zeit lang
nach einem peripheren Trauma zentrale Veriinderungen des Nerven-
systems eintreten, die einen progressiven Verlauf nehmen.
Ich mochte im folgenden fiber einen Krankheitsfall dieser Art be-
richten, der im stadtischen Krankenhaus in Mainz beobachtet. wurde
und bei dem ich Gelegenheit hatte, die erkrankten Teile des zentralen
Nervensystems zu untersuchen. Die Krankengeschichte sowie mfind-
liche Mitteilungen fiber den Krankheitsverlauf und das anatomische
Material verdanke ich der Liebenswfirdigkeit des Herrn Dr. H.Cursch¬
mann in Mainz.
Krankengeschichte.*)
1. Aufnahme. Dor 60 Jahre alte Tagldhner Karl K. suclit am 60.
September 1907 das Krankenhaus auf. Er stammt aus gesunder Familie.
"ar nie geschlechtskrank odor sonstwie loidond, hat nicht mit Blei zu tun
ffehabt. Alkoholmissbrauch in Abrede gestellt; Pat. hat tiiglich 6 — 7 Cigarren
geraucht. Frtlher war er herrschaf tlicher Kutscher, jet/.t ist er seit 13 Jaliren
Iteini Reinigungsamt tiitig. Seine Arbeit (ti'ihrt den Besen wesentlieh mit
der Littken) strengt ihn nicht besonders an.
Unfall im Jahre 1905. Bat. rutschtc bei der Arbeit aus, fiel auf
*) Pat. ist zweimal, im November 1907 und Juli lt»08 im arztl. Kreisverein
in Mainz vorgestellt worden.
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XIII. Heli.bach
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den Rticken, Nacken und Hinterkopf, bebielt dabei die Sckere des Wagens
noch in der Hand, so dass an den Armen plotzlich stark gerissen wurde.
Ohnmaclit Oder Labmung trat nach dem Sturz nicht ein.
4 Woclien danach trat eine Anschwellung der recbten Hand auf, diese
wurde so „dick wie ein Kissen“, die Haut platzte auf. Auf Anwendung
von Seifenwasserbadern gingen diese Erscbeinungen zurttck. Dagegen
traten um diese Zeit allmabliche Liihmung und Abmageruug der
Muskeln der rechten Hand ein, die auf den Yorderarm fortscbritten.
Dabei keine Schmerzen, aber Kitzeln und pelziges GefOhl in der Hand.
Dagegen konnte Pat. warme und kalte sowie spitzige Gegenstande gut fGlilen.
Im August 1907, 2 Jahre nach dem Unfall, begann das recbte Bein
sclilaff und schwaek zu werden. Der Tritt wurde sehr unsicher, das
Gehen wurde, da aucb bald Sekwache im linken Bein auftrat, fast unmdg-
lich. Dabei kein pelziges GefOhl. Urin- und Stuhlentleerung ohne
Stdrung. Sexuell war Pat. nicht mebr aktiv.
Gesicht und Gebor stets gut. Sprechen und Scblucken soil
1 2 Jahr angeblich etwas schwieriger.
Befund: Sehr starke dorsale Skoliose nach rechts. Atrophic
dor rechtsseitigen langen ROckenmuskeln. Leichte FlOgelstcl-
lung des rechten Schulterblattes.
Atropliie samtlicher kleiner Handmuskeln rechts. Atrophic
aller langen Strecker, Atropliie und Parese aller langen Beuger
rechts.
Supinator longus, Biceps, Deltoideus, Triceps o. B.
Deutlicher Defekt im sternocostalen Teil des Pectoralis major.
In beiden Pectorales fibri 11are Zuckungen.
Atropliie dor Beuger des rechten Oberschenkels (besonders
Semimembran. und Semitendinosus).
Waden- und Peroneusmuskulatur frei. Fibrill&re und faseiku-
liire Zuckungen der Beuger des rechten Oberschenkels.
Reflexe an den untcren Gliedmassen beiderseits gleicli gesteigert.
Bah inski = 0.
An den Vorderarmen Periostroflexe lebhaft, links starker als rechts.
Mandibular reflex besonders stark.
Hautreflexe normal.
Die elcktrische Untersuchung ergibt bei direkter faradischer
Reizung:
Erloschensein der Erregbarkeit der Muskeln von Daumen- und
Kleinfingerballen und der Interossei, ferner des Flexor carpi ul-
naris und Flexor digitoruni und des atrophischen Teils des Pecto¬
ralis major rechts.
In alien andercn ist sie orhalten.
Indirekte faradische Reizung:
Vom rechten Erbschen Punkt aus reagieren die Oberarmmuskeln.
Brachioradialis nicht.
Ga 1 va ni sche Reizun g:
An den kleinen Handmuskeln rechts wurmformige Zuekung,
AnSZ > KaSZ.
Dasselbe im Flexor carpi ulnaris und im atrophischen Teil
der Pectoralis major rechts.
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Zur Kenntnis der Ruckenmarkserkraukungen nacli Trauma.
223
Die Extensoren rechts zeigen auffallende Erhohung der galva-
nischen Erregbarkeit.
Sonst Oberall normale Erregbarkeit.
Hirnnerven: Geringe Schwache im Hypoglossusgebiet. Zunge
atmphisch, Bewegungen, besonders nach vorn, wenig krfiftig. Sub-
jektiv Klagen fiber Erscbwerung dieser Bewegungen.
Geringe Schwache im Glossopharyngeus-Vagusgebiet. Gau-
mensegel scblaff.
Spracbe etwas verwaschen, nasal.
Scblucken gut. Mimik o. B.
Pupilien gleichweit, rund, eng, verengen sicli sofort und ausgiebig
bei Lichteinfall und Accommodation.
Augenbewegungen frci, kein Nystagmus. Augenhintergrundo. B.
Die Sensibilitat ist in alien Qualitfiten Oberall ungestdrt. Es
bcsteht keine Spur einer dissoziierten Empfindungslahmung.
Blase und Mastdarm o. B.
Recbte Hand meist blaurot, gedunsen, kfibl.
Die inueren Organe ohne nachweisbare Veranderungen, abgcsehen
von etwas Empbysem und leichter Bronchitis.
Arterien hart.
Verlauf: Durch Bettrube bessert sieh die Schwacbe in den Beinen,
das Gehen wird subjektiv leichter. Die Erscheinungen am Arm bleiben
unverandert. Im Laufe des Oktober wird die Sprache verwaschener,
undeutlicher, das Scblucken ist nicht wesentlicb erscbwert.
Pat. wird als arbeitsunffihig am 3. Nov. 1907 in das Invalidenbaus
entlassen.
2. Aufnahme. Pat. sucht am 10. Juni 1908 wiedcr das Kranken-
haus auf. Er gibt an, dass die rechte Hand in letzter Zeit sc h lech ter
geworden sei. Auch die Oberarmmuskeln seien ganz schwach, ferner
sei die linke Hand dQnner und ungeschickter geworden; cr kdnne
damit schlecht greifen. Der linke Arm sei sonst gut. Die Hande, beson¬
ders die rechte, seien in der Kalte blau und dick, aber nicht schmerzhaft.
Sein ROcken sei noch krummer geworden. Besonders beunruhige ihn
das Nachlassen der Fahigkeit, zu scblucken und zu sprechen. Feste Speisen
konne er nur mit Anstrengung scblucken, breiige besser. Flfissige kfimen
zuweilen durch die Nase wieder heraus. Der Speichel flossc stark, er konne
ihn schwer scblucken, darum flOsse er aus dem Mnnd.
Seine Bekannten verstanden ihn oft nicht, das Sprechen fiele ihm schwer.
Gehen kdnne er auch viel schlechter, daran sei die allgemeine Schwacbe
schuld, er kbnne ja nichts Recbtes essen. Urin- und Stublentleerung ge-
schehe ohne Schwierigkeit. Er babe Husten und brfichte wenig Auswurf
lieraus.
Befund: Pat. ist abgemagert, etwas cyanotisch, die Haut ist welk.
Innere Organe ohne nachweisbare Veranderung, ausser Empbysem und
Bronchitis. Thorax durch die starker gewordcne Skoliose etwas deformicrt.
Nervensystem: Geruchs- und Gesichtssinn ohne Veranderung.
Augenmuskeln desgleicben.
N. facialis: Mimik nuflallend sparlich. Stirn stark gerunzelt, Wangen
schlatf. Nasen-Lippenfurchen verstricben. Ausdruck starr, maskenartig.
Spitzen der Lippen, Blasen, Pfeifen kaum moglich. Augcnschluss beider-
Deutsche Zeitachrift f. Nervenheilkunde. 37. Bd. 15
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XIII. Hem.uach
seits sohr mangelhaft. Stirnmuskeln, Heber tier Xasenflttgel uiul Mund-
winkel besser.
N. hypoglossus und vagus: Zunge deutlich atrophisch. Oberflacho
welk, gerunzelt. Bewcgungen, besonders nacli vorn und oben, bchindert.
Sprachc sehr undeutlicb, verwaschen, nasal. Lippen-, Gaumen- und
Zungenlaute undeutlich, schwacb.
Gaumensegel beim Scblucken niclit vollig sclilussfixhig. Gauinen-
reflex stark hcrabgesetzt.
Zunge faradiscb direkt nnr minimal erregbar, galvaniscb deutlielie
trage Zuckung. Desgleicben am Gaumensegel.
Pupillen zeigen normale Reaktion. Augenbintergrund o. B.
Extremitiiten: Rechte Hand wie frtther, totale Atropbie aller kleincn
Handmuskeln. Die Atrophie der langcn Beuger und Strecker des Vordor-
arms bat zugenommen. M. supinator longus ist jetzt atrophisch.
Oberarm: Tricepsjetzt paretisch, die Ubrigen Muskeln in geringerem
Grade. M. trapezius rechts in alien Teilen etwas atrophisch und paretisch,
desgleicben M. serratus ant. Die Ubrigen normal.
Links deutliche beginnende Atropbie der kleinen Handmuskeln, sonst
am Arm keiue Atropbie.
Bauchmuskeln o. B. Skoliose starker geworden. Untere Extremi¬
tiiten: Atropbie am rechtcn Bein niclit fortgesehritten.
Die Retlexe am rechten Arm scbwadier als am linken.
Patellarreflexe lebhaft. AchillesreHex desgleicben.
Die Sensibilitat ist vollstandig ungestort.
Verlauf: Pat. erbolt sicli bei Darreichung von flUssiger und lueiiger
Ivost. Wild ins Invalidenbaus entlassen am 21. Juni 1908.
3. Aufnahme am 28. September 1908.
t’ber den Patienten wild berichtet, dass in den letzten drei Monaten
bei ihm das Scblucken iminer schwieriger geworden sei, er babe sicb liiiutig
verschluckt, babe aucli baufig erbroeben. Infolge der scblecbten Ernahrung
sei er sehr schwacb. Seit vorgestern babe er selbst Flttssigkeit niclit melir
scblucken komien. Er babe viol Huston, aber wenig Auswurf.
Befund: Pat. ist iiusserst abgeinagert. Gesicbt sehr dtiun und klein.
vollig maskenhaft unbeweglich. Ausdruck kummervoll. Stirn gerunzelt.
untere Gesichtshiilfte vollig sell lad.
Scblucken von Flttssigkeit gescliieht sehr langsam: ist zuweilen un-
moglicb. Oft wird alles ausgeliustet oiler tliesst. zur Nase wieder heraus.
Spraclie: Unverstandlicbes Fallen, keine deutlicbcn Konsonanten.
Vokale unrein, verwaschen. Bestandiger SpeicbelHuss aus dem balboftenen
Minnie.
Facialis: Nnr die vom Stirnast versorgten Muskeln nocb beweglicb.
Lii'i>enniuskulatur geliibmt. schlaff. welk.
Hypoglossus: Zunge boebgradig atrophisch, verkleinert, welk. kann
nnr nocli seitlich etwas bewegt werden.
Vagus: Gaumensegel bei starker Pbonation und beim Scbluckversueli
nocb ein wenig geboben.
Gaumenrellex erloscben.
Extremitiiten: Rechts dieselbe Muskelatrophie. Vorderarmatropbie
nocb starker. Deltoideus und clavikubirer Teil des Pectoralis major eben-
falls atrophisch. Desgleicben die langen Rttckennmskeln.
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Zur Kemitnis der Riickenmarkserkrankungen nach Trauma.
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Die Atropkie der Beuger am rechteu Obersclienkel noeli starker go-
wonlell.
Die Sensibilitat ist vdllig ungestdrt.
Blase und Darm o. B. Reflexe niciit gesteigert.
Verlauf: 30. Sept Da das Schlucken unmoglich ist,Somleiierniilirung.
Die Sonde fallt gleiclisam nach Passieren des Rachens olnie Widerstand in
den Magen.
5. X. Trotz Sondenernahrung zunelnneuder Krafteverfall.
10. X. Pat. verscliluckt sich beim Versuch. selber Nahrung zu nelimon,
hekommt einen Erstickungsanfall. Viel Huston, erscbwcrte Expektoration.
Zunehmender Verfall.
15. X. Nacli vorherigem relativou Woblsein kollabiert Patient plntz-
lieb. Exitus.
Zusammenfassung. Wir sehen. wie bei dem Patienten weuige
Wochen nach dem bei der Arbeit erlittenen Unfall sich ein Nerven-
leiden entwickelt, das langsam progressiv verlauft. Es beginnt niit.
einer vorQbergehenden, wie wir nach der Beschreibung des Patienten
annehmen mtissen, trophischen Storting der Haut der rechten Hand
sowie leichten Parasthesien bei Erhaltenbleiben des Tastsinnes. Es
entwickelt sich langsam eine Lahmung und Atrophie (welches von
beiden zuerst, weiss Patient nicht anzugeben) einesTeilesderMuskulatur
der rechten Hand und des Armes und Entartungsreaktion tritt auf.
Etwa 1 1 / 2 Jahre danach tritt eine Parese erst des rechten, dann auch
des linken Beines ein, ferner erseheinen Zeichen einer Erkrankung des
Facialis, Vagus und Hypoglossus, die immer deutlicher werden. I in
3. Jahre nach dem Unfall greift der Krankheitsprozess auch auf den
linken Arm iiber, die bulbare Erkrankung maeht Fortschrit.te, so dass
Patient ihr sehliesslich erliegt. Blasen- oder Mastdarnistorungen fehlen,
die Sensibilitiit zeigt keine abnorme Verauderung, die Reflexe sind
nach einer vorubergehenden Steigerung normal.
Wir haben es, wenn wir von den anfiinglichen leichten Par¬
asthesien absehen, niit einer Erkrankung auf motorischem Gebiete zu
tun. Es fehlen Sensibilitatsstorungen sowie eine dauernde Erholmug
der Reflexe, Spasmen, teilweise Hypertrophien, sowie das Babinskische
Phanomeu. Dagegen spricht der schleichende Verlauf, die Reihenfolge
der erkrankten Muskeln, die fibrillaren Zuckungen, das Ubergreifen
auf die bulbaren motorischen Kerne fur progressive spinale Muskel-
atrophie. Es kame allerdings noch eine Erkrankung in Betracht: die
Poliomyelitis aDt. chronica. Man halt fiir klinische Kennzeichen der-
selben den etwas rascheren, mehr schubweisen Verlauf, dis Eintreton
der Lahmung vor der Atrophie und die atypische Lokalisation. In-
dessen sind fliessende Ubergange zwischen beiden Erkrankungen be-
sclirieben, und verschiedene Autoren siud der Meinung, dass beide nicht
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XIII. Hellbach
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scharf von einander zu trennen sind. Diese Trennung sollte aber auf
anatomischem Wege doch moglich sein. Der Name Poliomyelitis weist
auf entzundliche Vorgange hin, die der Krankheit zugrunde liegeD,
wahrend man bei der spinalen Muskelatrophie reine Degenerationsvor-
gange im Gebiet des motorischen Neurons findet Beide pathologischeu
Vorgange konnen ein und dasselbe, eine vom Ruckenmark ausgehende
Muskelatrophie bewirken, aber die Natur des Prozesses ist doch eine
verschiedene.*)
Die klinische Diagnose ist in diesem Falle auf progressive spinale
Muskelatrophie und Bulbarparalyse gestellt worden.
Von den Angehorigen wurde leider nur die Sektion des Gehirns
und Rlickenmarks gestattet. Das Material wurde in lOproz. Formol
aufbewahrt Leider zeigte sich, dass das RQckenmark nicht unverletzt
war, insofern, als Stticke des Dorsalmarks gequetscht waren und zum
Teil Risse erhalten hatten. Immerhin konnten die fibrigen Riicken-
markstiicke sowie das verlangerte Mark und Teile aus dem Stirn-
lappen, den Zentralwindungen und dem Hinterhauptslappen ver-
schiedenen Techniken unterworfen werden. Es wurden Zellfarbungen
mit Kresylviolett und Thionin, ferner die van Giesonsche Methode
und die Rankesche Gliafarbung sowie die Weigertsche Mark-
scheidenfarbung und die Marchimethode angewendet.
Die Untersuchung auf Plasmazellen wurde nach Unna-Pappen-
heim sowie mit polychromem Methylenblau angestellt
Herrn Dr. Bethke, 1. Assistant am pathologischen Institut, der
mir mehrfach seinen freundlichen Rat lieh, bin ich hierfiir zu Dank
verpflichtet.
Es ergab sich folgender bistologischer Befund:
Makroskopisch liisst sich weder an den Meningen noch an den Ge-
fiissen ein pathologischer Befund erheben.
Sakralmark. Hier finden sich im wesentlichen normale Verhaltnisse.
Dock zeigen die Ganglienzellen grossen Pigmentreichtum nnd bei ganz
vereinzelten Vorderhornzellen macht sich ein korniger Zerfall der Nissl-
schen Schollen bemcrkbar. Die Glia zcigt keine Vermehrung ihrer Fasern.
Lum balm ark. Die graue Substanz der VorderhOrner ist zellftrmer
•als lieim normalen Londenmark. Besonders an der Medialseite des Vorder-
borns sind nur wenige Ganglienzellen zu sehen, und diese zeigen eine ab-
norme Beschaffenheit. Fast alle sind mit gelben bis dunkelbraunen Pig-
mentkurnchen (i berth lit, teilweise so stark, dass man einen KOrnchenhaufen
vor sich sielit, der nur durcli seine Form und den durchscheinenden Kern
als Ganglienzelle kenntlich ist. Einige Zellen sind geschrumpft, zeigen
*) Vgl. Leyden und Goldscheider, Ilandbuch der Erkrankungen des
Uiickenmarks; ferner Bielschowsky, Zur Ilistologie der Poliomyelitis anterior
citron. Fortschr. f. klin. Medizin. 37. Bd. Heft 1 u. 2.
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Zur Kenutnis der Riickenmarkserkrankungen naeh Trauma.
227
vereinzelte plumpe, regellos zerstreute Nisslschollen, lassen auch bei star-
kerer Differenzierung keine weitere Aufhellung des Zelleibes erkennen.
Zahlreiche Zellen bieten das Bild eines feinkdrnigen Zerfalls mit exzentriscber
Lagerung des Kerns dar. Auch in der lateralen hinteren Gruppe finden
sich zahlreiche, in Degeneration begriffene Zellen, vereinzelte auch in der
vorderen lateralen Gruppe. Die Zellen der Clarkeschen Shule sind an-
scheinend nicht verhndert. Die Neuroglia zeigt keine wesentlichen Ver-
anderungen. Die Gefasse sind zahlreich, ihre Intima ist zart, die Kerne
sind nicht vermehrt. Das adventitielle Gewebe ist stellenweise etwas hyalin
verdickt, doch nur unerheblich. Die Venen sind stark mit Blut gefttllt.
An einigen Stellen der grauen Substanz finden sich Ansammlungen roter
Blutkorperchen in kleinen GewebslOcken, teils in der Umgebung eines Ge-
fasses, teils etwas weiter davon entfernt. Spuren alterer Blutungen, Pig¬
ment, KOrnchenzellen finden sich nirgends. Ebenso sind keine Infiltrate,
keine Plasmazellen aufzufinden. Das Pigment der Ganglienzellen gibt keine
Berlinerblaureaktion, ebenso lasst sich mit derselben Blutpigment nirgends
im Gewebe nachweisen. Weigertprhparate zeigen cine Lichtung der mark-
lialtigen Fasern in der grauen Substanz, auch eine solche in den angren-
zenden Partien der weissen.
Dorsalmark. Im unteren Dorsalmark finden sich dieselben Veriin-
derungen. Die Vorderhbrner auf beiden Seiten zeigen fast keine Ganglien¬
zellen rnehr, die vorhandenen sind atrophisch, teilweise in kornigem Zer-
fall begriffen. Die Zellen der SeitenhOrner sind zwar von normaler Grosse,
zeigen aber auch z. T. Chromatolyse und starke Pigmentierung. Die kleinen
Blutungen sind auch hier deutlich, aber in sparlicherer Menge vorhanden,
sie finden sich an den verschiedensten Stellen der grauen Substanz. Nach
dem oberen Dorsalmark nehmen sie an Zahl und Ausdehnung zu. Sie
fiillen kleine Risse im Gewebe ganz Oder teilweise aus. Ilier zeigt sich
auch die Glia der grauen Substanz leicht verdichtet. Es findet sich im
Umkreis der veranderten Ganglienzellen ein etwas dichteres Gefiecht der
Gliafasern. Dagegen kann man von einer allgcmeinen Vermehrung der
Gliakerne nicht reden. Die Gefiisse verhalten sich hier ebenso wie im
Lendenmark.
In der weissen Substanz erweisen sich bei Anwendung der Marchi-
methode eine Anzahl Fasern in den Pyramidenseitenstriingen als degene-
riert, ebenso finden sich stiirkere Schwitrzungen von Faserquerschnitten in
der nhchsten Umgebung der grauen Substanz, besonders im ventralen
Hinterstrangfeld. Doch sind diese geschwarzten Fasern nur zerstreut auf¬
zufinden.
Die Vorderhorner sind im Dorsalmark besonders schmal, zuweilen hat
man den Eindruck, als oh dies auf der rechten, zuerst erkrankten Korper-
hiilfte in starkerem MaBe der Fall wiire. Doch sind die Zellveranderungen
wohl beiderseits gleich.
Cervikalmark. Hier finden sich die starksten Veriinderungen. Die
Ganglienzellen der medialen Gruppen sind fast geschwunden, die der late¬
ralen hinteren Gruppe ebenso, die fibrigen alle, an Zahl stark vermindert.
Es finden sich alle Ubergiinge von Randstellung lies Zellkerns und bt*-
ginnender Chromatolyse bis zum kOrnigen Zerfall des Protoplasmas und
Unkenntlichwerden des Kerns oder Zusaminensehrnmpfen der Zelle zu einem
dunkel sich farbenden spindelformigen Gebilde. Alle siiul stark mit Pig-
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Fig. 1.
Samtliche Zellen wurden niit Kresylviolett gefarbt und die Umrisse mittelst
ties Leitzschen Zeichenoculars in gleichem Matistab wiedergegeben.
1. Ganglienzelle aus deni (3. Cervikalsegment, mediale hintere Gruppe.
andstellung des Kerns, Keste von N issl schollen.
2. 4ndere Zelle dcrselben Gegend. Atrophie, feinkorniges Pigment ini
Innern.
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Zur Kenntnis der Ruekennmrkserkrankuugen nach Trauma.
229
;{. Ganglienzelle des 6. Cervikalsegments, laterale vordere Gruppe. Zell-
leib erl'tillt von gelbbraunem Pigment.
4. Ganglienzelle des 5. Cervikalsegments, mediate vordere Gruppe.
Feinkbrniges Pigment, einzelne blaue kbrnige Reste von Nisslsehollen.
j. Zu feinem Pigment kornig zerfallene Zelle des oberen Dorsalmarks,
mediale Gruppe.
6—8. Ganglienzellen des 4.Lumbalsegments, 6aus der medialen Gruppe
mit Resten von Nisslsehollen, sonst wie 5. 7 dunkel sieh farbende Zelle der
lateralen vorderen Gruppe mit Resten von Nisslsehollen. 8 benachbarte Zelle,
aus einem Pigmenthauten bestehend. Kern undeutlich durchschimmernd.
9. Kernlose, zu feinen Pigmentstaub zerfallene Zelle des Hypoglossus-
kerns.
10. Zelle aus dem Vaguskern, Reste von Nisslsehollen, viel Pigment.
11. Zelle aus dem Faeialiskern, Kern am Rand, periphere Reste von Nissl-
sehollen, im Zentrum Pigment.
ment gefullt und es Ulsst sicli zeigen, dass die Zellen am so mehr davon
entlialten, je weiter sie sich von dem Bilde der normalen Zelle entfernen.
Leidlich der Form nach erhalten sind die Zellen des Seitenhorns. Dieses
Verhalten ist hier auf der zuerst erkrankten Kbrperseite wohl stiirker aus-
gepriigt als auf der anderen. Hier ist auch die Form des Vorderhorns
cine etwas schm&lere, spitzigere.
Im Halsmark finden sich die crwShnten BlutergOsse sehr zahlreich.
Fig. 2 zeigt ein Stock des inittleren Halsmarks. Die vOllig unver-
selirten roten Blutkbrperchen liegen in kleinen und grbsscren Gewebs-
lucken, deren Riinder zerrissen und faserig orscheinen. Die Glia ist an
den Randern nicht verdichtet. An einigen Stellen sind Gefasse sichtbar,
die quer Oder schrag durchgerissen sind. Die Gefasswande zeigen ausser
der genannten, hier und da aufzufindenden kyalinen Beschaft'euheit der Ad¬
ventitia keine pathologische Veranderung. Die Venen sind stark mit Blut
gefollt, es zeigen sich nur wenige Leukocyten in den Gefassen und die-
selben haben keine Randstellung inne. Zellige Infiltrate zeigen sich auch
hier nirgends. Die Blutungen finden sich in den verschiedenen Hohen
regellos zerstreut. Die LOcken im Gewebe der grauen Substanz lassen
sich auf Nachbarschnitten weiter verfolgen, sie zeigen im weseutlichen
einen der Langsachse des Marks parallelen Verlauf. Das Gewebe im
Innern der grauen Substanz erscheint spongibs, die Fasern sind auseinander-
gedrangt und an zahlreichen Orten finden sich, abgesehen von den erwahnten
grbsseren Blutherdcn vereinzelte rote Blutkbrperchen im Gewebe. Sehr
vereinzelte, aber nur kleine Blutungen finden sich auch in der umgebenden
weissen Substanz des Cervikalmarks.
Die Glia verhalt sich wie in den caudalen Teilen des ROckenmarks.
Eine leichte Vermehrung ihrer Fasern tindet sich auch in der (legend der
Pyramidenseitenstrange, die auf Marchipriiparaten dasselbe Bild darbieten
wie im oberen Dorsalmark.
Nach dem oberen Cervikalmark nehmen die Blntungen rasch ab
und sind in der Hblie der Pyramidenkreuzung verschwunden. Die zer-
streuten Faserdegenerationen lassen sich bis zur BrOcke hiuauf verfolgen.
Leider war gerade in dem verliingerten Mark die Marchifltissigkeit,
nur unvollkommen in das lange in Formol aufbewahrte Gewebe einge-
drungen. Doch lilsst sich feststellen, dass in den austretendeu Wurzeln
der Nn. hypoglossus, vagus und facialis deutliche Degenerationen vor-
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XIII. Hf.li.bach
hamlen sin<I. Bern entspricht der Befund an den Zellen der dazu gehorigen
Kerne: Zerfall der Nisslschollen his zur AuflOsung in Staub, AnfQllung
mit Pigment, Randstellung des Kerns, Kernlosigkeit der Zelle. Diese Ver-
iinderung ist im Hypoglossuskern hochgradig, in den beiden anderen Kernen
in geringerem MaBe zu finden. Die Augenmuskelkerne zeigen. abgesehen
von sehr starker Pigmentierung der Oeulomotoriuskernzellen. keine Ver-
anderungen, ebensowenig die Wurzelfasern.
Ventral von der cauilalen Hftlfte der Oeulomotoriuskerne taucht cine
Fig. 2.
Partie aus dcm mittleren Halsmark. Bei a Liicken im Gewebe der graueu Sub-
stanz. b 2 kleine Gefasse mit Bluterguss. Bei c degenerierte, atrophiseke
Ganglienzellen des medialen Vorderhorns.
oval gestaltete Gruppe von kleinen Zellen auf, die dencn des Zentralkanals
gleichen. Sie niihert sicli auf weiter frontal gelegenen Schnitten dorsal
dem Aquaedukt, wahrend dieser, der sehr flach und buchtig gestaltet ist,
ihr eine ventrale Auszackung entgegen sendet. Schliesslich vereinigen sicli
die Zellen beider Gebilde, die ventrale Gruppe geht in den weiterhin wieder
plattgedrftckt erscheincnden Aquaedukt liber. Wir haben liier also eine
Art von Kecessus des Aquaedukts vor uns.
Es wurden noch .Stilcke der Frontal-, Zentral- und Occipitalregiou
untersucht; es findet sicli bier nichts Krankbaftes, abgesehen von einer
leichten Pigmentierung der Zellen in der Zentralregion.
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Zur Kenntnis der Riickenmarkserkrankungen nach Trauma. 231
Fassen wir die histologischen Befunde zusammen, so finden wir
zunachst die von der klinischen Untersuchung geforderte Erkrankung
der Vorderhornganglienzellen. Die Erkrankung der Wirbelsaulen-
muskulatur entspricht der Entartung der medialen Zellgruppen der
Vorderhomsaule, die Beteiligung der Armmuskulatur, besonders der
Hande, findet ibre Erklarung in der Erkrankung der Zellen der late-
ralen Gruppen im Halsmark. Ebenso finden die bulbaren Symptome
ibre Erklarung in den Erkrankungen der oben genannten Hirnnerven-
keme. Was es mit der vom Patienten angegebenen Affektion der
recbten Hand kurze Zeit nach dem Unfall far eine Bewandtnis
hat, muss ich dabingestellt sein lassen. Ahnliche vasomotorische Er-
scheinungen nach Trauma beschreibt Etienne als Tropho^deme chro-
niqoe d’origine traumatique. Da dieser Zustand damals von keinem
Arzt gesehen worden ist, kann man nichts Bestimmtes daruber aus-
sagen. Die Veranderungen in den Pyramidenseitenstrangen kbunten
ein "Obergehen des Krankheitsprozesses auf die Seitenstrange des
Marks vermuten lassen. Doch geht es deshalb nicht an, von einer
amyotrophischen Lateralsklerose zu sprechen, es fehlen klinisch die
Spasmen und dauemde Erhohung der Patellarreflexe. Auch hatte das
Babinskische Phanomen zu irgend einer Zeit auftreten mtissen. Die
Degenerationen in der nachsten Umgebung der grauen Substanz sind
uns als Ausdruck des Zugrundegehens von Eigenfasern des Rticken-
marks verstandlicb.
Was ist nun von den Blutungen zu halten? Ausnabmslos sind sie
frisch, Reste frfiherer Blutungen, Blutpigment, Infiltrate, sind nirgends
zu finden. Da das Riickenmark beim Herausnebmen leider nicht
unversehrt geblieben ist, mogen die Blutungen wohl zum Teil arte-
fizieller Natur sein. Doch ist anzunehmen, dass der Patient einer
Atmungslahmung erlegen ist; es ist moglich, dass die Blutungen zum
Teil agonale sind, ahnlich wie in einem Falle von Bielschowsky.
Dass sie fur den Krankheitsprozess keine Bedeutung gehabt haben, ist
wohl sicher, da sie fruhstens kurz vor dem Tode entstanden sein konuen.
Es fehlen bei unserem Falle alle Zeichen von Entziindung, viel-
mebr haben wir nur den Eindruck einer langsam fortschreiteudeu Ent¬
artung der motorischen Kerne. Wir konnen die Veranderungen in
den Vorderhornern darum auch nicht als poliomyelitische auffassen.
Eher ware ein Ausdruck Kienbocks, Poliomyelatrophia am Platze.
Uns interessiert hier das Vorangehen des Traumas vor der Er-
krankung. Stehen beide in einem Zusammenhang? Nehmen wir das
an — und Unfall und Erkrankung liegen zeitlich so nahe zusammen,
dass der Zusammenhang sehr wahrscbeinlich ist —, so hat das Trauma
eutweder die Krankheit bei einem vorher gesundeu Menschen erzeugt.
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Goi igle
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232
XIII. Hei.luacii
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oder es hat sie nur ausgelost, ihren Ausbruch begtlnstigt bei einem
schon dazu disponierten Individuum. Kienbock hat die alteren Falle
gepriift und kommt zu dem Resultat, dass es sich dabei entweder um
stationar werdende Folgezustande von traumatischen Ruckenmarks-
lasionen handelt, die mit der progressiven spinalen Muskelatrophie eben
nicht das Fortschreiten gemeinsam haben, oder um Falle, in denen das
Trauma nur ein auslosendes Moment flir die schon gewissermassen
latente Erkrankung bildete. Er verlangt Falle, bei denen sofort nach
dem Uufall bei vorher gesunden Meuschen krankhafte Veranderungen
einsetzen, die den progressiven Verlauf jener Rtickenmarkserkrankung
nebmen. Es mochte wohl schwer sein, nacbzuweisen, ob im einem
in Frage kommenden Falle der Betreffende zu der ausgebrochenen
Krankheit disponiert war, oder nicht. Vielleicht lassen sich Falle von
progressiver spinaler Amyotrophie, die durch Trauma allein verursacht
sind, Qberhaupt nicht beobachten.
Auch die neueren Beobachter nehmen meist eine vorhandene
Disposition an. Ich nenne die Beobachtungen von Pagenstecher,
von Tetzner, sowie die Arbeit von Mendel. Ob in unserem Falle
eine Disposition bestanden hat, konnen wir nicht sagen. Dass das
Nervensystem des Patienten in gewissem Sinne mangelhaft ausgebildet
ist, dafGr spricht vielleicht das Vorhandensein der kleinen kongenitalen
Missbildung am Aquaedukt. Curschmann erwahnt in seiner Arbeit
iiber die Atiologie der SyriDgomyelie die Beobachtung Schlesingers,
der in einem Drittel seiner Syringomyeliefalle Missbildungen des
Zentralkanals findet. Wir sind auf das Yorkommen solcher an-
geborenen Veriinderungen im Nervensystem aufmerksamer geworden,
seit sie uns als ein Hinweis auf eine mangelhafte Anlage des Systems
erscheinen und dieser hat ja Edinger eine grosse Bedeutung bei der
Entstehung progressiver Spinalleiden zugewiesen.
Dass in unserem Falle das Trauma Gegenden des Nervensystems
betroften hat, deren Zellen zur Zeit gerade in anstrengender Tatigkeit
begritfen waren und liberhaupt wohl infolge des Berufes des Patienten
angestrengt waren, kbnute wohl ebenfalls in Edingers Sinne auf-
gefasst und verstanden werden, dass schon normale, besonders aber
kongenital minderwertige Teile des Nervensystems durch anstrengen-
den Gebrauch „aufgebraucht“ werden konnen. Ein Trauma, das auf
einen dergestalt vorbereiteten Boden trifft — vollends bei einem alteren
Individuum — kann also wohl imstande sein, auf die Vorderhornzellen
so einzuwirken, dass sie einem progressiven Untergange verfallen.
Dass zu nachweisbaren, wenn auch feiuen Veriinderungen an Ganglien-
zellen durcbaus nicht so starke Erschiitterungen des Ruckenmarks nbtig
sind, wissen wir ja seit den Versuchen von Schmaus.
Go^ gle
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Zur Kenntnis der Kuckenmarkserkniukun^ren uadi Trauma.
2:;3
Literatur.
li Bielschowskv, Zur Histologic der Poliomyelitis ant. cliron. Zeitschr.
f. klin. Medizin. Bd. 37. Heft 1/2.
2j Curschmann, H., Beitr. zur Atiologie und Symptomatologie der Sy¬
ringomyelic. Deutsche Zeitschr. f. Nerveuheilkde. Bd. 29.
3) Edinger, Die Aufbrauehkrankheiten des Nervensystems. Deutsche
med. Wochensehr. 19* >4. 45. 49. 52; 1905. 1. 4.
4) Erb, Zur Lehre von der Unfallerkrankung naeli Trauma. Deutsche
Zeitschr. f. Nerveuheilkde. Bd. 11.
5> Etienne, Des trophoedcmes chronitpies d’origine traumatique. Nouv.
Iconogr. de la Salpctriere. 19<>7. No. 2. (Kef. im Neurol. Zentralhlatt 190s.
Nr. 19.)
0) Kienbock, Progr. spin. Muskelatrophie u. Trauma. Monatsschr. f. Un-
fallheilkde. 1901. Nr. 11.
7) Mendel, K., Der Unfall in der Atiologie der Nervenkrankhciten. Berlin
1908. Karger.
Sj Pagenstec h e r, 3 Falle von posttraumat. chron. spin. Amyotrophic
usw. Monatsschr. f. Unfallhcilkunde 19*i.5. Nr. 1.
9) Schmaus, Beitr.z. path. Anatomic der Kuckenmarksersc hutterung. Vircli.
Arehiv 1890. 122. S. 320.
10) Tetzner, Spinale progressive Muskelatrophie naeli Trauin. Arztl. Sacli-
verstand.-Zeitung 19* *7. Nr. 1.
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XIV.
Znr Kasnistik der Bleil&hmung.
Ein Beitrag zur Edingerschen Aufbrauchtheorie.
Von
Dr. Ludwig Teleky-Wien.
Privatdozent fur soziale Medizin.
(Mit 11 Abbildungen.)
Edinger hat im Jahre 1894 (Volkmanns Sammlung klinischer
Vortrage Nr. 106) „eine neue Theorie fiber die Ursacben einiger Nerven-
krankheiten, insbesondere der Neuritis und Tabes" entwickelt, die das
Entstehen bestimmter Nervenkrankheiten, vor allem aber ihre Lokali-
sation dadurch erklaren wollte, „dass unter bestimmten Umstanden
den normalen Anforderungen, welche die Funktion stellt, nicht ein
entsprechender Ersatz innerhalb der Gewebe gegenfiberstehe". In
einem weiteren Aut'satze (Deutsche mediziuische Wochenschrift 19<>4)
und in einer vor kurzem erschienenen Schrift: „Der Anteil der Funktion
an der Entstehung der Nervenkrankheiten" (Wiesbaden 1908) hat er
diese Theorie weiter ausgebaut, reichhaltiges Material zu ihrer Be-
grfindung beigebracht, ihre Anwendbarkeit auf die verschiedensten
Arten nervoser Erkrankungen dargelegt und sich so bemfibt, eine
Theorie zu schaffen, die manche scheinbar ganzlich von einander ver-
schiedene Krankheitsforraen von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus
zu betrachten gestattet. Er kann daher wohl mit Recht als der Be-
grunder dieser Theorie angesehen und diese Theorie nach ihm benannt
werden, wenn auch — wie er selbst in den beiden letzterwahnteu
Aufsatzen erwahnt — andere vor ihm iihnliche Anschauungen, sei es
mit Hinweis auf einzelne bestimmte Falle, sei es fiir einzelne Gruppen
von Erkrankungen, geaussert haben.
Speziell ffir die Erkliirung der Lokalisation der haufigsten toxieo-
professionellen Neuritis, der Bleilahraung, ist schon von mannigfacheu
fruheren Autoren auf die Bedeutuug hingewiesen worden, die der
Funktion, der Anstrengung (dem, was Edinger als den durch die
Funktion bedingten Aufbrauch nennt), fiir die Entstehung und Lo¬
kalisation der Bleilahraung zukommt.
Mor. Meyer snete in der Sitzung der Berliner niedizinisch-psycho-
logisclien Gesellschaft vom 5. 1. 1S74. dass man. was die Blcilahmung an-
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Zur Kasuistik tier Bleilahmung.
235
lange, doch darauf zurttckkommen mttsse, „dass die angestrengtesten Mus¬
keln doch diejenigen sind, die zuerst and am meisten gelahmt werden".
Erwahnt sei hier noch, dass Remak 1875 darauf hingewiesen, „dass
von der Bleilahmung nacheinander funktionell zusammengehorige Muskel-
gruppen ohne Rttcksicht darauf befallen werden, in welchen peripherischen
Nervenstammen ihre motorischen Nerven verlaufen“.
Mobius (Uber einige ungewbhnliche Falle von Bleilahmung. Zentral-
blatt fQr Nervenheilkde., 9. Jahrg. 1886, Nr. 1, S. 11 und 12) schreibt:
..Es drhngt sich die Erwagung auf, ob etwa der gewOhnliche Typus der
Bleilahmung sich dadurch erklaren lasse, dass im Durchschnitt die Strecker
der Finger und der Hand die am meisten angestrengten Muskeln sind, ob
es als allgemeines Prinzip gelten kttnne, dass bei Bleilahmungen Oder bei
Lahmungen infolge chronischer Vergiftungen Qberhaupt die am meisten
angestrengten Muskeln zuerst erkranken. Eine sichere Beantwortung dieser
Frage wttrde nur moglich sein, wenn wir wttssten, welche Muskeln im ge-
wohnliehen Leben, d. h. bei der Mehrzahl der Hantierungen, am meisten
angestrengt werden. Die Anstrengung eines Muskels ist olfenbar aus-
gedrftckt durch das Verhaltnis der Leistung zur Kraft. Wenn
auch eiu MaB der Leistung schwer zu finden sein dttrfte, so wttrde sich
doch vielleicht eine Schatzung derselben fttr eine Reihe von Tatigkeiten
durchflihren lassen. Zunachst aber mttsste die Kraft der einzelnen
Muskeln bestimrat werden. Diese Aufgabe ist, soviel mir bekannt, fttr
die Muskeln des menschlichen Yorderarms noch nicht durchgeftthrt.“
.„Aber auch dann, wenn angenommen wird, dass noch Um-
stande, die uns bis jetzt entgehen, zu berttcksichtigen sind, dttrfte die
Hypothese, dass in der Hauptsache die Lokalisation toxischer Lahmungen
von der Funktion der Muskeln abhangt, bis auf weiteres nicht zu wider-
legen sein.“
Vierordt sagt (Zur Frage vom Wesen der Bleivergiftung. Archiv f.
Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 1887, 18. Bd., S. 57): „ Vielleicht dass
in Zukunft der bisher vergeblich gesuchte exakte Nachweis geftthrt werden
wird, dass die bei der Bleilahmung erkrankenden Muskeln jedesmal die
verhaltnismassig am meisten arbeitenden sind."
Einzelne Autoren (Jaksch, Nothnagels Handbuch, 1. Bd.; Rambou-
sek, tJber die Verhtttung der Bleigefahr, Wien 1908) gehen so weit, diese
nur fttr das Nervensystem ausgesprochenen und wohl nur fttr dieses gel-
tenden Anschauungen zu verallgemeinern, dahin, „dass immer jene Teile des
Organismus in erster Liuie befallen werden, welche durch vorausgegangene
Erkrankungen, starke Inauspruchnahme durch die Beschaftigung bereits
geschadigt oder geschwacht erscheinen“. Ein Satz, der schon deshalb,
weil in der weitaus ttberwiegenden Mehrzahl der Falle Erscheinungen von
seite des Verdauungstraktes alien Qbrigen vorangehen, wohl kaum An-
spruch auf ernste Uberprttfung machen kann.
Im Folgenden aber soil der Versuch gemacht werden, den von
Vierordt und Mobius gewOnschten Beweis, den verschiedene Autoren
(Remak) fQr einzelne Falle durchgefubrt, den Edinger fttr die An-
streicher begonnen, und zu dessen Durchfiihrung bei anderen zu Blei¬
lahmung disponierenden Gewerben er aufgefordert hat, an einem
grosseren Material tatsiichlich zu fiihren.
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236
XIV. Tkeeky
Es ware vielleicht verlockend erschienen, aus der so reickhaltigen
Literatur liber Bleilahmung diese Beweisflihrung zu versuchen, und
gewiss liessen sich hier manche Falle finden, die mit aller Klarheit
den Zusammenhang zwischen Funktiou und Lahmung darlegen. Fur
die grosse Menge der Falle aber ware eine solche Beweisflihrung nicbt
moglich gewesen, weil raanchmal die Bescbreibung der Lahmung
mangelhaffc ist, fast stets aber nahere Angaben iiber die Art der Tatig-
keit fehlen, da ja die einfache Bezeichnung „Maler“, „Topfer“ usw.
haufig zu wenig sagt, um daraus exakte Schltisse auf die Handhaltung
usw. ziehen zu konnem
Aus dem grossen Material aber die wenigen wirklich brauchbareu
Falle herauszuheben und an ihnen den Beweis zu fuhren, das erscheint
deshalb niclit am Platze, weil ja dann immer die Vermutung nicht
von der Hand zu weisen ware, dass es eben nur wenige von den so
zahlreicben publizierten Fallen sind, bei denen die Beweisflihrung im
Sinne der Edingerschen Theorie gllickt. Ich habe es deshalb fur
den besseren Weg gehalten, mich im Folgenden auf mein eigenes, ja
ziemlich reichhaltiges Material (iiber 40 Falle von Bleilahmung) zu
beschranken.
Als Spezialarzt fiir Gewerbekraukheiten beim Verband der Ge-
nossenschaftskrankenkassen und der allgemeinen Arbeiterkranken- und
Unterstiitzungskasse in Wien, die zusammen ca. 300000 Mitglieder
ziihlen, werden mir von den Bayonsarzten zahlreiehe Falle von ge-
werblichen Vergiftungen zugewiesen, und auch der Spezialarzt fur
Nervenkraukheiten dieser Kassen, Doz. Erben, hatte die Liebenswtirdig-
keit, Fiille von Bleiliilimungen an mich zu weisen; so stromt ein recht
grosses Material von Bleivergiftungen und auch von Bleilahmungen bei
mir zusammen, und ich will nun versuchen, die vom 1. November 19<»5
(dem Tage, an dem ich die envahnte Stelle antrat) bis 1. Januar I9u9
in meine Beobachtung gelangten Fiille im Sinne der Edingerschen
Theorie zu prtifen; die Literatur werde ich nur insoweit heranziehen,
als es eben im Rahmen der Betrachtung meines Materials angezeigt
erscheint.
Ehe wir aber auf die Einzelfalle eingehen, wollen wir versuchen,
eiue Erklarung fiir jeue Liihmungserscheinungen zu geben,
die sich fast bei alien Bleilahmungen immer von neuem
wiederholen und der Bleilahmung ja ihr charakteristisches Bild
geben: die Lahmung der Strecker der Hand und der Finger, also der
vom Radialis versorgten Muskeln des IJnterarmes, bei Freibleiben des
Muse, brachioradialis.
Wollen wir dem bereits von Mobius so klar vorgezeichneten
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
237
Wege bei unsereu Untersuchungen folgen, so mtissen wir zunachst
versuchen, einen wenigstens annahernd richtigen MaBstab, weuig-
stens annahernd richtige Angaben fiber die jedem Muskel oder jeder
Muskelgruppe innewohnende Kraft, fiber die Leistungsfahigkeit der
uns interessierenden Muskeln und Muskelgruppen zu erhalten.
Wir werden hierbei zunachst auf die Anatoraie und Physiologie
der Vorderarm- und Handmuskulatur eingehen mfissen und werden
dann Hand und Finger in der Ruhelage sowie bei der Arbeit be-
obachten mfissen.
Da nach einem physiologischen Gesetz die Kraft eines jeden Mus¬
kets — und mit ihr auch die einem jeden Muskel innewohnende
Leistungsfahigkeit — proportional ist dem Volumen seiner Mus-
kelsubstanz, so erhalten wir einen annahernd richtigen MaBstab ffir
den Vergleich zweier oder mehrerer Muskeln, wenn uns das Volumen
der Muskelsubstanz dieser Muskeln bekannt ist, oder uns wenigstens
bekannt ist, in welchem Verhaltnis die Volumina dieser Muskeln (bei
Berficksichtigung nur der eigentlichen Muskelsubstanz unter Ausschluss
von Sehne, Fett usw.) zu einander stehen. Da wir das spezifische Ge-
wicht der Muskeln als annahernd gleich aDsehen konnen, so konnen
wir an Stelle des Volumens der Muskelsubstanz auch ihr Gewicht
setzen. Da fibrigens sich das spezifische Gewicht des Muskelgewebes
von dem des Wassers nicht erheblich unterseheidet, kann man das Ge¬
wicht der Muskelsubstanz in Grammen annahernd gleichsetzen ihrem
Volumen in Kubik/.entimetern.
Wir werden also einen vergleichsweisen MaBstab ffir die Leistungs¬
fahigkeit verschiedener Muskeln dann haben, wenn uns bekannt ist,
wie sich die Gewichte ihrer Muskelsubstanz zu einander verhalten.
Derartige Angaben aber fiber die Arm- und Handmuskulatur finden
sich — soweit wir ermitteln konnten — in der anatomischen Litera-
tur nur bei Aeby: „Die Muskeln des Vorderarms und der Hand bei
Saugetieren und beim Meuschen “ (Zeitschrift ffir wissenschaftliche
Zoologie. Bd. 10. 1860) und bei F. Frohse und M. Fraenkel: „Die
Muskeln des menschlichen Arms u (Bardelebens Handbuch der Ana-
tomie. Fischer, Jena 1908).
Aeby hat bei einer grossen Anzahl von tierischen Vorderextremi-
taten, bei 2 Kinderarmen und 2 Armen von erwachsenen Meuschen
das Gewicht der Muskelsubstanz der einzelnen Muskeln bestimmt und
hat — indem er die Gesamtmuskulatur der oberen Extremitat (ohne
Schultermuskeln) = 100 setzte, festgestellt, welclier Anteil an der Gesarnt-
masse der Muskulatur bei jeder Tierspezies dem einzelnen Muskel
zukommt, wobei er beim Kind und beim erwachsenen Menschen aus
den beiden von ihm untersucliten Fiillen den Durchschnitt berechuete.
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238
XIV. Tki.eky
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Frohse u. Fraenkel haben zu ihren Untersuchungen die beiden
Arme eines muskelschwachen Weibes und die eines kraftigen Mannes
gewahlt und auch den Durcbschnitt aus den erbaltenen Zahlen be-
recbnet. Die Differenzen, wenigstens in den absoluten Zahlen zwischen
diesen Armen, sind sehr grosse und auch zwischen den Relativzahlen
finden sich nicht unbedeutende Unterschiede. Wir haben desbalb und
weil flir unsere weiteren Betracbtungen fast ausschliesslich mehr oder
weniger kraftige Mannerarme in Betracht kommen, und zwar vor-
wiegend der rechte Arm, uns darauf beschrankt, nur die auf den
rechten kraftigen MannerarmbezUglichen Angaben Frohse-Fraenkels
hier zu verwerten und im Texte wiederzugeben. Wir haben, um ein
iibersichtliches Bild der Machtigkeit der einzelnen Muskelgruppen zu
geben, auch hier — nach dem Beispiele Aebys — berechnet, welcher
prozentuale Anteil den einzelnen Muskeln an der Oesamtmuskulatur
des Arms zukommt, und sehen dabei, dass sich zwar einzelne Diffe-
renzen zwischen den von Aeby und Fiohse-Fraenkel ermittelten
Zahlen finden, dass sie aber im wesentlichen doch dieselbeu Verhalt-
niszahlen ergeben. Wenn auch die Verhaltniszahlen ffir unsere Be-
trachtungen besonders wichtig sind, lassen wir auf sie doch in Tabelle I
auch die absoluten Zahlen Frohse-Fraenkels folgen. Auf diese
folgen dann die von Aeby gefundenen prozentualen Durchschnitts-
werte fur die Muskulatur des kindlichen Arms. Dabei haben wir es
ftir unsere Zwecke fur praktischer gehalten, nicht stets den Wert fur
die einzelnen Muskeln in unsere Tabelle aufzunehmen, sondern die durch
Addition ermittelten Werte fur die funktionell zusammengehorenden
Muskelgruppen.
Bei der Zusammenfassung der einzelnen Muskeln zu solchen funk¬
tionell zusammengehorigen Muskelgruppen, ebenso wie im weiteren
bei den Angaben fiber die Funktion der einzelnen Muskeln und Mus¬
kelgruppen sind wir in erster Linie dem grundlegenden Werke G. B.
Duchennes, Pbysiologie der Bewegungen nach elektrischen Versuchen
und klinischen Beobachtungen mit Anwendung auf das Studium der
Lahmungen und Entstellungen, Obersetzt von C. Wernicke, Cassel
u. Berlin 1885, gefolgt und haben dabei die Korrekturen der Angaben
dieses Autors (die Frohse und Fraenkel teils nach anderen Autoren
briugen) berficksichtigt. Auch die von R. du Bois-Reymond in
seiner „Speziellen Muskelphysiologie oder Bewegungslehre“, Berlin 1903,
geinachten Angaben fanden, soweit sie auf von den anderen Autoren
nicht heachtete Momente aufmerksam machen, Berficksichtigung. Hin-
gegen haben wir von einer Berficksichtigung der nach Braune und
Fischers Angaben auch von du Bois-Revmonds vertretenen An-
sicht, dass manche der die Hand und Finger bew r egenden langen Mus-
Gck igle
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Zur Kasuistik der Bleilahmuug.
239
keln auch auf das Ellbogengelenk wirken, abgesehen, da dadurch
manche unserer Fragen noch komplizierter geworden waren, ohne
dass — da wir nicht wissen, vvie weit diese Wirknng auch unter phy-
siologiscken Verhaltnissen in Erscheinung tritt — eine grossere Ge-
nauigkeit fur unsere Darlegungen gewonnen worden ware.
Aus den in der Tabelle (S. 239) enthaltenen Zahlen ergibt sich:
Die Masse der Beuger (25,3) und Strecker (26,2) des Unterarms ist
sehr gross. 1 ) Ebenso ist — da einer der kraftigen Beuger des Unter¬
arms (Biceps) auch als Supinator fungiert — die der Supination
dienende Muskelmasse sehr gross (42,2). Sehr klein, kleiner oder
ebenso gross wie die Masse der Fingerstrecker ist die der Prona-
toren (3,4). Die Strecker der Hand selbst (6,1) sind um nicht Unbe-
deutendes kraftiger als die Beuger (4,4).
An Masse relativ sehr gross ist der M. brachioradialis (4,9),
der nur um ca. 20 Proz. weniger Masse hat als samtliche Hand-
strecker zusammen. Dieser Muskel, der frUher als Supinator an-
gesehen wurde (M. supinator longus), dann bei Duchenne als Pronator
gilt, wird heute von vielen Autoren, darunter Frohse-Fraenkel, als
reiner Beuger angesehen.
Auffallend ist die geringe Leistungsfahigkeit der langen
Extensoren der Finger (3,1), besonders wenn wir sie mit der ge-
waltigen Masse der langen Beuger (11,1) vergleichen. Doch sei gleich
hinzugefogt, dass diese Gruppen nur in geringem MaUe Antagonisten
sind, da die langen Strecker vorwiegend auf die ersten, die langen
Beuger auf die zwei letzten Phalangen der Finger einwirken (nur unter
bestimmten Umstanden auch auf die ersten Phalangen). Zwischen
diese beiden Muskelgruppen schieben sich — als Antagonisten jeder
von beiden — die Mm. interossei und lumbricales mit den Muskelu
des Antithenar (3,1) ein. Diese Muskeln beugen die ersten, streeken
die beiden letzten Phalangen und vollfiihren die Spreizung und Wieder-
vereinigung der Finger.
Am Danmen kommt eine ganz eigenartige Stellung dem Ab¬
ductor pollic. longus zu, er ist der stiirkste siimtlicher Dauuien-
muskeln (1,34), er steht in seinen Funktionen einerseits dem Extensor
poll, brevis, andererseits den Oppositionsmuskeln des Thenar nahe.
Die laugen Strecker des Daumens (Extensor pollic. longus und brevis)
sind vereint nur etwas mehr als halb so stark (0,77) wie der Abductor
longus, der sie bis zu eiuera gewissen Grade in ihrer Wirkung unter-
stiitzt, wahrend der Flexor longus starker als dieser ist (1,53). Zwischen
1) Wir fiihren bier die aus Frollse - Fraenkels absoluten Zahlen von uns
berechneten Relativzahlen an.
Deutsche Zeitsehrift f. N'erveuhcilkuude. 37. 1M. Id
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XIV. Tei.eky
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Tabelle 1.
Erwachsener
Relativ- Gesamt*
zahlen muskulatur
des Arms = 100
nach nachFrohse-
Aeby Fraenkel
absolute
Zahlen nach
Frohse-
Fraenkel !
Kind
Relativ-
zahlen
nach
Aeby
8trecker des Unterarms:
!
i
(M. triceps u. anconeus)
27,3s
1
20,2
405,7
25,87
Beuger des Unterarms:
M. biceps
11,50
10,7
105,5
7,76
M. brachialis
12,3
9,7
150
8,82
M. brachioradialis
5,80 |
4,9
77
2.S0
29,33
25,3 :
392,5
19,47
Bewegcr des Unterarms
5(5,71
i
51,5
798,2
Supinatoren:
M. biceps
11,50
10,7
165,5
7,76
M. supinator
1,73
1,5
24 ,
3,01
13,23
12,2
189,5
10,77
Pronatoren:
!
(M. pronat. teres et qua-
drat.)
2,98
| 3,4
53
4.31
Streeker der Hand
(5,89
0,1
95
7,75
Beuger der Hand
5,21
4,4
(58,5
J 4,91
Lange Strecker der
Finger
3,52
3,3
: 51,5
5.48
Lange Beuger der
Finger
13,10
! 11,1
171,5
16,31
Mm.intero.ssei et lumbric.
2,05
| 2,4
i 3(5,75
4,21 ,
et antithenar
0.88
! 0,7
11,30
1,71 1
3,53
3,1
48,05
5,92
Extensor poll, longus et
brevis
0,77
1,"
15,5
1,15
Abductor poll, longus
1,34
1.2
1 18,5
1.53
2,11
2 2
34.0
1 2.08
Flexor poll, longus
1,53
1,10
22,5
^ 1,75
Abductor poll, brevis
0,5
8,5
Flexor poll, brevis
0,4
6,0
< )pponens pol lie.
0,0
9,5 !
2,SO
1,5
; 24 >° i
Adductor poll, brevis
l.o
16
Thenar
V) O •
2,5
40,0 i
Gck igle
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
241
Strecker und Beuger schieben sich — als teilweise Antagonisten bei-
der — die Thenarmuskeln ein (2,23), deren einzelnen Abschnitten ganz
verschiedene und in manchem Sinne entgegengesetzte Funktionen zufallen
(Abduktion und Opposition 1,5, Adduktion 1,0).
Als Muskeln von besonderer Leistungsfahigkeit erscheinen
uns also die Beuger und Strecker des Unterarmes, die Beuger
der Finger, schliesslich auch die Suppinationsmuskeln. Sebr
wenig leistungsfahig erscheinen die langen Fingerstrecker,
denen an Masse die kleinen Handmuskeln gleicb kommen und die
Pronationsmuskeln. Am Daumen erscheint neben dem langen
Beuger der Abductor poll, longus am leistungsfahigsten. Die an sich
kraftige Thenarmuskulatur zerfallt funktionell in verschiedene Gruppen,
so dass die schliesslich sich ergebenden Differenzen zwischen den
einzelnen die gleiche Funktion zusammenfassenden Muskelgruppen
geringer sind, als wir sie bei den Ubrigen Fingern gefunden haben.
Bemerkt sei hier noch ausdrucklich, dass wir bei dieser Betrach-
tung der Muskeln nur ein Bild ihrer ideellen Leistungsfahigkeit er-
halten, dass wir aber — und darauf hat bereits Aeby hingewiesen —
nicht wissen, in welchem Verhaltnis sich dieselbe auf Hubhohe und Hub-
kraft verteilt; auch geht bei dem mangelnden Parallelismus der Muskel-
fasem nicht selten ein betrachtlicher Teil der Zugkraft verloren, und
schliesslich wird die Kraft, mit der ein Muskel zu wirken imstande ist,
auch im starksten MaBe von den physikalischen Verhaltnissen, unter
denen er wirkt, z. B. von der Lange des Hebelarmes, an dem er an-
greift, beeinflusst.
Nun kommt es aber in unserem Falle nicht auf die Leistungs¬
fahigkeit an sich an, sondern darauf, wie sich die Leistungsfahig-
keitzu der tatsachlich beanspruchten Leistung verhalt, bis zu welchem
MaBe die Leistungsfahigkeit eines jeden Muskels bei bestimmten, haufig
gelibten Verrichtungen in Anspruch genommen wird.
Wir mussen demnach zuerst versuchen festzustellen, inwieweit
bei verschiedenen Arbeitsverrichtungen die Muskeln in Anspruch ge¬
nommen werden, welche Leistungen von den einzelnen Gruppen von
Muskeln bei der Arbeit oder bei verschiedenen Arten von Arbeit ver-
langt werden.
Ebensowenig, wie wir imstande waren, ein absolutes MaB ftlr die
Leistungsfahigkeit der einzelnen Muskeln zu gewinnen, ebensowenig
sind wir imstande, ein absolutes und zuverlassiges MaB ftir die Arbeits-
leistung der einzelnen Muskeln bei bestimmten Verrichtungen anzu-
geben; wir sind nur imstande, die Arbeit, die bei einzelnen Verrich¬
tungen (oder Gruppen von Verrichtungen) von bestimmten Muskel¬
gruppen geleistet wird. dadurch ungefahr zu schatzen, dass wir sie mit
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XIV. Tet.eky
der von anderen Muskelgruppen zu leistenden Arbeit oder mit der von
denselben Muskelgruppen bei anderen Verrichtungen zu leistenden
Arbeit vergleichen.
Um fiber die den einzelnen Muskelgruppen zugemutete Leistung
auch nur ein ungefabres Bild zu erhalten, mfissen wir Arm und Hand
in der Ruhe und bei der Arbeit beobachten und die Rolle. die Arbeits-
leistung, die den einzelnen Muskelgruppen zufallt, zu schatzen suchen.
Was die Muskeln anbelangt, die den Hnterarm im Ellbogen-
gelenk strecken und beugen, so sei hier nur darauf hingewiesen,
dass bei jeder schweren Arbeit sie eine besonders grosse Rolle
zu spielen haben, dass aber bei alien feinen manuellen Al¬
beit en, bei alien Arbeiten, die eine differenzierte Tatigkeit der
einzelnen Finger verlangen, die ihnen zugemuteten Leistungen nur
geringe sind.
Der Vorderarm befindet sich in derRuhelage stets in starker
Pronationsstellung. Nur bei wenigen Verrichtungen muss die Pro¬
nation noch verstarkt werden, hingegen verlangen gerade eine ganze
Reihe gerade grobster Arbeiten, z. B. Heben von Lasten, Schaufeln,
ein Aufgeben dieser Pronationsstellung und ein Feststellen der Hand
in der Supination. An die Supinationsmuskeln werden also bei
grober Arbeit die grossten Anforderungen gestellt werden — sie sind
auch entsprechend kraftig entwickelt. Die PronatioDsmuskeln hingegen,
die schon vermoge ihres normalen Tonus die Hand in Pronation ffihren,
werden nur bei wenigen Arbeiten zur Verstarkung der Pronation, zum
kraftigeu Zurfickfuhren der supinierten Hand in die Pronotion benotigt.
Solche relativ seltene Arbeiten, bei denen die Pronationsmuskeln starker
angestrengt werden, sind: das Einschrauben einer Schraube mittelst
Schraubenziehers, das Giessen aus einem Gussloffel u. dgl. Die meisten
irgendwie feineren Arbeiten werden mit dem zu bearbeitenden
Gegenstande von oben uud seitlich genaherter Handtlache ausgefQhrt,
also in einer Stellung, die der Ruhelage der Pro- und Supi-
natoren y.iernlich nahe kommt. Pro-und Supinatoren werden hier
nieht wie bei den oben erwiihnten Verrichtungen die Hauptarbeit zu
leisten haben, sondern ihre Aufgabe ist nur, kleine Bewegungen um
die Ruhelage auszutuhren, vor alien) aber die Vorderarmknochen in
der fur die Arbeitsleistuug der Hand vorteilhaftesten Stellung zu fixieren.
Aus diesen Ausfiihrungen ergibt sich also, dass so wie die Muskel-
masse der Prouatoren verglicheu mit der der Supinatoren uud der
iibrigeu llandmuskeln auch relativ geriug, so auch die ihnen zuge-
inutete Anstrengung eine relativ geringe ist; der grossen Mus-
kelmasse der Supinatoren wild eine allerdings grosse Arbeit aber uur
bei grobster und sckwerster Arbeitsverrichtung zugemutet.
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
243
Was nun die Handstrecker und Handbeuger anbelangt^ so
seben wir sowohl beim Kinde als auch beim Erwachsenen — wenn
wir durch Auflegen der ulnaren Seite des Arms und der ulnaren Kante
der Hand die Wirkung der Schwerkraffc mOglichst ausschalten — die
Hand in der Ruhelage eine massige Dorsalflexion einnehmen, die
WirkuDg der Extensoren die der Flexoren tiberwiegen. Doch ist dies
t’berwiegen der Extensoren infolge ihres Tonus nur ein so geringes,
dass es bei wagrecht vorgestrecktem Arme keineswegs die Wirkung
der Schwerkraft auf die Hand auszugleichen vermag. Bei der haufigen,
bei alien irgendwie feineren Arbeiten ausschliesslich in Betracht.
kommenden Handstellung in Pronation ist, soweit diese Arbeiten nicht.
bei gebeugtem Handgelenk ausgefiihrt werden konnen, eine An-
strengung der Strecker schon allein zur Dberwindung der
Schwerkraft notwendig. Bei gebeugtem Handgelenk aber konnen
schon deshalb nur wenige Arbeiten ausgefiihrt werden, weil kraftige
und voile Wirkung der Fingerbeuger nur moglich ist bei dorsalflek-
tierter Hand, weil die Handstrecker die Synergisten der bei
weitem kraftigsten und bei weitem am haufigsten in Aktion
gesetzten Fingermuskeln, der langen Fingerbeuger, sind. Hingegen
ist die Arbeit, die die Flexoren der Hand zu verrichten haben, eine
verhaltnismassig geringe: Der Schwere der Hand haben sie nur bei
den oben erwahnten in voller Supination der Hand ausgefiihrten
schweren und- groben Arbeit entgegenzutreten; bei gebeugtem Hand¬
gelenk werden aus dem oben angegebenen Grunde nur verhaltnismassig
wenig Arbeiten verrichtet; die Handbeuger sind ausserdem Synergisten
der Fingerstrecker, die an Kraft ja so weit hinter den Fingerbeugern
zuriickbleiben. Ihre Hauptfunktion ist es demnach wohl, als Syner¬
gisten der Handstrecker zu fungieren, denen bei Bewegungen des Hand-
gelenks die Hauptrolle zufallt.
1st so schon die Tatigkeit der Handstrecker eine bei weitem hiiu-
figere und anstrengendere als die der Handbeuger, so kommt noch
hiuzu, dass, wenn die Finger bereits maximal gebeugt sind, aber auch
wenn die weitere Beugung der Finger durch einen ausseren Wider-
stand gehemmt ist, auch die Fingerbeuger auf das Handgelenk beugeud
wirken und so die Tatigkeit der Handbeuger verstiirken oder sub-
stituieren.
Die langen Fingerstrecker fungieren zwar auch als Handstrecker,
aber nur dadurch, dass sie bei im Metacarpophalangealgelenk gestreckten
Fingern die Hand selbst dorsalflektieren. Doch kommt bei Arbeits-
verrichtungen die erwahnte Finger- und Handstreekung kaum je vor.
Es wird also nach dem Gesagten das Plus an Leistungsfahig-
keit, das den Extensoren der Hand zukommt, bei weitem
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244 XIV. Teleky
nicht ausreichen, um das grosse Plus an Inanspruchnahme
zu decken. Es wird uns also nicht wundern, dass bei ihnen sich die
Folgeerscheinungen der Anstrengung geltend machen, und dass diese
gerade dann in Erscheinung treten, wenn es sich um Verrichtung
feinerer manueller Arbeit gehandelt hat.
Wenn wir die Haltnilg der Finger in der oben beschriebenen
Ruhelage (mit moglichster Ausschaltung der Wirkung der Schwerkraft
auf die Stellung der Finger) betrachten, so sehen wir alle Phalangen
eine Mittelstellung zwischen voller Beugung und voller Streckung ein-
nehmen, die sich bei der 2. Phalange am meisten der Beugung, bei
der Endphalange der Streckung nahert, wahrend die Grundphalange
in ihrer Stellung nur eine leichte Beugung zeigt.
Es uberwiegen also in Ruhelage die Interossei und Lumbricales
als Beuger der 1. Phalange ein wenig die langen Strecker, wahrend die-
selben Muskeln als Strecker der zweiten Phalange durch die langen
Flexoren (speziell den M. flexor sublimis) flberwunden werden.
Hierbei wollen wir nur darauf hinweiseu, dass also eine leichte
Beugung dem nattirlichen Muskeltonus entspricht und zu
ihrer Herstellung keine Anstrengung, eventuell aber zu ihrer Festhal-
tung Muskelarbeit erforderlich ist, dass das Verbringen der Finger in
Streckung aber bereits Muskelarbeit erfordert.
Doch haben die Strecker verhaltnismassig nur sehr wenig
selbstandig zu wirken, vielmehr fallt ihnen im wesentlichen die
Aufgabe zu, die durch die Beuger hervorgerufene Wirkung
wieder auszugleichen, als Antagonisten und Moderatoren
sowie als Synergisten derselben zu wirken.
Nun wird aber die Rolle, die sie spielen, im wesentlichen von der
Art der Arbeit abhangeu, welche die die Hauptleistung vollftibrenden
Muskeln zu verrichten haben; anders werden hier die Verhaltnisse bei
grober, anders bei feiner Arbeit sein.
Grobe Arbeit, die in einem derben Zufassen, Heben usw. besteht,
beansprucht in erster Linie dieTatigkeit der Flexoren; von diesen
siud es vor allem die langen Fingerbeuger, die besonders in Anspruch
geuommen werden, und die schon vermoge ihrer grossen Masse solcher
Arbeit gewaclisen erscheinen. Als Antagonisten haben die Finger-
strecker dort, wo es sich nicht um fein abgestufte, ganz genau zu
regulierende Tiitigkeit handelt, nur wenig zu wirken. Aber die langen
Fingerstrecker sind. worauf auch bereits Duchenne hingewiesen und
was uns auch ein Bliek auf die den Hammer schwingende Hand auf
Fig. 5 zeigt, Synergisten der langen Fingerbeuger, wenn diese auf das
kriiftigste augespannt, wenn exakter Faustschluss ausgefUhrt wird.
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Zur Xasuistik der Bleilahmung.
245
Ganz anders als bei grober verhalt es sich bei feiner manueller
Arbeit Hier mussen neben den Fingerbeugern auch die Antagonisten
(die Fingerstrecker) stets in Tatigkeit sein, sei es eine Bewegungnur
massigend, sei e^ im geeigneten Zeitpunkt mit starkerer Gegenwirkung
einsetzend, eine Fingerhaltung rasch in eine andere ttberftihrend usw.
Gerade bei feinerer Arbeit werden also die Fingerstrecker in beson-
ders lebhafter Tatigkeit sein. Die langen Fingerstrecker die auf die
Grundphalangen allein wirken, sind dabei die Antagonisten sowohl der
Interossei, die auf die Grundphalangen allein beugend einwirken, als auch
der langen Beuger, die zwar vor allem auf die zweite und dritte Pha¬
lange, nach deren Beugung aber (nach du Boi-Reymonds Angabe,
von deren Richtigkeit man sich leicht uberzeugen kann) auch auf die
erste Phalange wirken. So kommen also bei jeder feineren
manuellen Arbeit die Fingerstrecker in angestrengteste
Tatigkeit, aber auch — wie dargelegt — bei kraftigster An-
spannung der Fingerbeuger fallt den Streckern eine wich-
tige Rolle zu. Es ist hingegen die gewohnliche grobe und schwere
Arbeit, bei der weder exakter kraftigster Faustschluss noch feinere
Fingerbewegungen ausgeffihrt werden, diejenige, die die Extensoren
der Finger verhaltnismassig am wenigsten in Anspruch nimmi —
Gerade die langen Fingerstrecker aber sind diejenigen Muskeln, denen
— neben den Interossei und Lumbricales — die kleinste Leistungs-
fahigkeit zukommt, deren Volumen kaum ein Viertel des Volumens
der langen Fingerbeuger betragt, die auch um sehr vieles schwacher
sind als die Handbeuger und selbst die Pronatoren. Wie gerade die
gewohnliche grobe Arbeit die Fingerbeuger vor allem anstrengt, feinere
Arbeit beide Muskelgruppen gleichmassiger in Anspruch nimmt, moge
folgende Beobachtung zeigen:
Bei alten Leuten, wenn diese den schwer arbeitenden Standeu an-
gehoren (Bauern, Landarbeiter usw.) tritt das ja stets bestehende Uber-
wiegen der Flexoren aufs starkste hervor; die Fiuger werden stets ge-
kriimmt gehalten, eine voile Extension der Finger ist kaum moglich.
Es scheint also hier im Verhaltnis zu einer starken Arbeitshypertrophie
der Flexoren, vor allem der langen Beuger, ein ZurOckbleiben der
Extensoren eingetreten zu sein, als ob durch die schwere Arbeit nur
jeoe sich einseitig starker entwickelt hatten.
Ganz anders als die eben beschriebenen Hiinde der schwer arbei¬
tenden alten Leute sehen die Hande jener Greise aus, die keine manuelle
Arbeit, aber auch jener, die feinere manuelle Arbeit verrichtet haben;
bei ibnen sehen wir nichts von einer starken Krlimmung der Finger.
Das tfberwiegen der Flexoren iiber die Extensoren tritt hier auch im
spateren Alter nicht starker hervor.
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XIV. Tkleky
Bei alien feineren Bewegungen der Finger spielen die kleineii
Handmnskeln eine grosse Rolle; vor allem sei betont, welche Bedeu-
tung gerade der den Interossei eigentumlichen Bewegung — Beugung
der ersten bei gleichzeifciger Streckung der zweiten und dritten Pha¬
lange — zukommt.
Doch sei darauf hingewiesen, dass diese Muskeln, die an Masse
den langen Fingerstreckern fast gleichkommen, unter viel
giinstigeren physikalischen Verhaltnissen wirken als jene,
also bei gleicher Kraft viel mehr Arbeit zu leisten imstande sind.
Dieser letztere Umstand schon kann es uns begreiflich machen, dass
Uberanstrengung leichter bei den unter ungunstigen Verhaltnissen
arbeitenden langen Streckern als bei den unter so gGnstigen Verhalt¬
nissen wirkenden kleinen Fingermuskeln sich geltend macht.
Unter wieviel giinstigeren physikalischen Verhaltnissen die Interossei
und Lumbricales arbeiten als die langen Fingerstrecker, mag folgender
Umstand zeigen:
Frohse-Fraenkel berechnen fiir die Grundphalange eines jeden
Fingers das Gewicht der Muskelsubstanz von Beugem (Interossei und
Lumbricales) und Streckern (Extensores longi), dabei finden sie, dass
die Strecker beim Zeigefinger die Beuger um ein weniges, beim 5.
Finger um relativ mehr, beim 4. Finger um mehr als das Doppelte
tiberragen. Aber man kann sich jederzeit leicht uberzeugen, mit wie¬
viel geringerer Kraft die Streckung der Grundphalaugen ausgefnhrt
werden kann als ihre Beugung. Ferner ist zu berttcksichtigen, dass,
soweit es sich um die Beugung der Grundphalange handelt, eine
leichte Beugung derselben schon in der Rubelage durch den Muskel-
tonus der kleinen Fingermuskeln herbeigefiihrt wird, dass weiter bei
fixierter Mittel- und Endphalange — wie dies ja beim Ergreifen eines
Gegenstandes stets der Fall ist — die langen Fingerbeuger auch auf
die Grundphalange beugeud wirken.
Wenden wir uns nun den einzelnen Fingern zu, so ist es ja zweifel-
los der Daumen, der mehr angestrengt wird als jeder der ubrigen
Finger; seine besonders kraftige Versorgung mit Muskeln — ist doch
die Muskelmasso des Thenars nur um weniges kleiner als die s&mt-
licher Interossei und Lumbricales. mit Ausnahme des Antithenar,
zusammen — befiihigt ihn auch zu besonderer Leistung. Am Daumen
liegen die Verhaltnisse auch darum anders als bei den ubrigen Fingern,
da dem an Masse starksten Muskel, dem langen Beuger, der Abductor
longus an Masse nahe kommt; die langen Strecker sind zwar die
schwiichste Muskolgruppe, aber nur dann, wenn w r ir deu ihre Wirkung
unterstiitzendm Abductor longus denselben nicht zuzahlen. Die Gruppe
des Thenar zerfiillt in funktionell verschiedene Teile (Opposition ein-
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
247
schliesslich Abduktion und Adduktion). Die Differenzen, die sich bier
zwischen den einzelnen Gruppen ergeben, sind keineswegs so grosse
wie bei den iibrigen Fingern. Demnach muss man erwarten, dass bier
nicht die Strecker allein oder ausschliesslich iiberanstrengt werden,
sondern dass auf Erscbeinungen der Uberanstrengung bei diesen bald
auch ebensolche Erscheinungen bei andereu Muskelgruppen des Dau-
mens folgen.
Was die Gbrigen Fiuger anbelangt, so wolleii wir zunachst nur
noch eineu kurzen Blick auf ihre Versorgung mit Muskeln werfen.
Der 3. und 4. Finger werden nur vom Extensor digit, communis mit
Streckeru der Grundphalangen
versorgt, wahrend der 2. und 5.
Fiuger nebeu dem gemein-
samen Fingerstrecker uoch
eigene lange Strecker besitzen.
Der Zeigefingerstrecker scheint
den Klein fingerstrecker meist
nur um recht wenig zu iiber-
ragen. Doch scheinen gerade,
was die Versorgung des 2. und
5. Fingers durch den Extensor
digitor. com. anbelangt, recht
betrachtliche Unterschiede
zwischen diesen beiden Fingern
zu bestehen, aber besonders
haufig auch individuelle Varie-
taten vorzukommen. „Der
Muskelbauch fiir den Zeigefinger gewinut oft eine grosse Selbstandig-
keit, die accessorische Sehne fur den 5. Finger kann fehlen", sagen
Frohse-Fraenkel.
Stiitzen wir den Ellenbogen auf eine horizontale Unterlage bei
vertikal von dieser aufragenderu Unterarm und lassen die Hand der
Schwerkraft folgend im Handgelenk uach vorne sinken, so werden
die Fingerbeuger entspannt, kommen in die fiir ihre Leistung uu-
giinstigste Position. Die Stellung, die die einzelnen Finger einnehmen,
wird dann teils von der Schwerkraft und von Tonus der Interossei
und Lumbricales, teils von dem Tonus der Extensoren bestimmt.
Wir sehen nun, dass (ahnlich wie in Fig. 1) der Zeigefinger nur
gaDz wenig von der Streckstellung abweicht, etwas mehr der 3., mehr
der 4. und am meisten der 5. Finger. Diese ganz charakteristische
Stellung der Hand werden wir uns vor Augen lialten mlissen, weun
wir spater die Lahmung der einzelnen Finger beurteilen wollen. Fig. 1
Fig, 1.
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XIV. Telkky
zeigt diese Handstellung bei einer Bleilahmung, die durch gleich-
massige Parese aller Strecker ganz dasselbe Bild zeigt, das eine
normale Hand in dieser Stellung darbietet; doch ist eine weitere Streck-
ung hier (bei der Bleilahmung) unmoglicb.
Fassen wir nun das fiber die Leistungsfabigkeit der einzelnen
Muskelgruppen und das fiber die ibnen zugemutete Arbeit Gesagte
zusammen, so konnen wir zu folgenden Scblussfolgerungen kommen.
Beuger und' Strecker des Unterarms besitzen eine grosse
Leistungsfahigkeit, die gerade bei feinerer manueller Arbeit nicht
stark in Anspruch genommen wird. Zu den Beugern gehort auch
der fttr sicb allein schon recbt kraftige M. bracbioradialis.
Die Supinationsmuskeln sind ebenfalls durch grosse Masse
ausgezeichnet. Ihre Inanspruchnabme erfolgt hauptsachlich bei grober
Arbeit, bei feinerer manueller Arbeit ist sie eine geringe.
Die Pronationsmuskeln sind nur von geringer Leistungs¬
fahigkeit, aber auch ihre Inanspruchnahme ist nur eine geringe.
Die Strecker der Hand sind kraftig, fiberragen an Leistungs¬
fahigkeit etwas die Beuger; aber den Handstreckem wird bei alien
feinen manuellen Arbeiten sowie bei alien jenen, die kraftigen Faust-
schluss erfordem (hier als Synergisten der sehr kraftigen Fingerbeuger),
eine ganz besonders grosse Arbeitsleistung zugemutet, wah-
rend die Beuger meist nur als Synergisten der Strecker in Wirksam-
keit treten.
Die langen Fingerstrecker sind die schwachsten samtlicher
langen Fingermuskeln. Sie werden bei alien feineren manuellen Ar¬
beiten im hohemMaBe als Antagonisten der Fingerbeuger (vor allem
der Interossei und Lumbricales, aber auch der langen Beuger) in
Anspruch genommen, aber auch als Synergisten der langen
Fingerbeuger bei alien Arbeiten, die besonders kraftigen Faustschluss
erfordern.
Die kleinen Fiugermuskeln sind an Masse den langen Finger-
streckern annahernd gleich, werden bei feinerer manueller Arbeit
sowie auch bei alien kraftigen Faustschluss erfordenden Arbeiten stark
in Anspruch genommen,arbeiten aber unter bedeutend gfinstigeren
physikalischen Verhaltnissen als die langen Fingerstrecker und
linden unter Umstandeu Unterstutzung an den langen Fingerbeugem.
Am Daurnen nimmt der Abductor longus durch seine Kraftigkeit
eine besondere Stellung ein. Die langen Strecker sind die
schwachste und unter den physikalisch ungiinstigsten Bedingungen
arbeitende Muskelgruppe, die aber durch den Abductor longus
untersttitzt wird. Die Differenzen an Leistungen zwischen
<len einzelnen Muskelgruppen sind nicht so gross wie bei den
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
249
abrigen Fingern. Bei den komplizierten Verhaltnissen des Daumens
ist fast jede Muskelgruppe unter bestimrnten Verhaltnissen bald Syner¬
gist, bald Antagonist der anderen, und da gerade die Daumenballen-
muskeln sehr Tiel angestrengt werden, erklart es sicb, dass unter Um-
standen gerade diese zuerst die Folgen von Uberanstrengung zeigen.
Bei jeder feineren Arbeit sowie bei jeder Arbeit, die kraftige und
exakte Tatigkeit der Finger erfordert, erfahren also eine im Verhaltnis zu
ihrer Leistungsfabigkeit besonders hohe funktionelle Inanspruch-
nahme: die langen Fingerstrecker, die Handstrecker, diekleinen
Fingermuskeln, weiter die Daumenmuskeln (liber die noch spater
gesprochen wird). Die Muskeln, die bei grober Arbeit besonders in
Betracht kommen, die Beuge- und Streckmuskeln des Unterarms (ein-
schliesslich des Musculus brachioradialis) sowie die Supinatoren sind so
leistungsfahig angelegt, dass sie dadurch schon gegen Schadigung durcb
die Funktion starker gesichert erscheinen.
Vielleicht ware esnach dem bisher Ausgeftlhrten gestattetzu sagen:
Der men8chlicbe Arm mit seiner kraftigen Muskulatur fiir
Bewegung im Ellbogengelenk, mit seinen kraftigen Supi¬
natoren ist vorwiegeng gebaut fHr grobe schwere Arbeit.
Die Hand- und Fingerstrecker sind nur in der Starke und
Leistungsfahigkeit angelegt, die der geringeu Anstrengung,
dieihnen bei gewohnlicher grober Arbeit zufallt, entspricht.
Bei alien feinen Arbeiten aber wird gerade diesen Muskeln
ein bei weitem grosseres MaB von Arbeitsleistung zuge-
mutet als bei grober Arbeit. Bei den Handwerkem und vielen
industriellcn Arbeitern, die nicht gewohnliche grobe Arbeit zu ver-
richten haben, werden verhaltnismassig am starksten in Anspruch ge-
nommen und ermtidet jene eben genannten Muskeln, denen nur bei
feinerer, genauerer Abstufung der einzelnen Bewegungen, bei einer
pronierten Handhaltung oder besonders kraftigen Faustschluss erfor-
dernden Verrichtung eine bei grober Arbeit von ihnen nicht oder
nur im geringen Umfange verlangte Leistung zufallt.
Unter den an Bleivergiftung und Bleilahmung Erkrankten iinden
sich auch Arbeiter aus Betriebeu: Bleiweissfabriken, Miniumfabriken
und Giessereien, in denen viel oder vorwiegend grobe Arbeit verrichtet
wird, in denen aber doch auch feinere Arbeit ausgefiihrt wird,
und es fehlen leider in alien Krankengeschichten Angaben darUber, in
welcher Art die an Lahmung Erkrankten beschiiftigt gewesen waren.
Die allermeisten Fiille von Bleivergiftung und Bleilahmung aber
betreffen Handwerker, die alle (eventuell neben grober) auch feinere
Arbeit zu verrichten haben (Anstreicher, Lackierer, Buclidrucker, Schrift-
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XIV. Tki.eky
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setzer, Schriftgiesser, Spengler, Installateure, Vergolder, Giirtler, Topfer.
Diamantschleifer), oder Arbeit, die, wenn auch schwere, so doch exakte
Arbeit und kraftigsten Faustschluss erfordert (Feilenhauer), oder schliess-
lich Fabriksarbeiter, die feinere Arbeit zu verrichten baben (Porzellan-
maler, Emailleure).
Bei alien diesen Berufen — also in der weitaus Oberwiegenden
Zalil der Falle von Bleilahmung — gilt in Bezug auf die Anstrengung
und TJberanstrengung der einzelnen Muskeln und Muskelgruppen das,
was wir bisher liber die Anstrengung der einzelnen Muskeln bei
feinerer manueller Arbeit gesagt haben.
Der Typus der Bleilahmung ist das Ergrift’ensein der langen
Finger- und Handstrecker mit Freibleiben des M. brachioradialis, mit
eventueller Beteiligung der langen Strecker des Daumens, eventuell
unter Freibleiben des Abductor poll, longus und — eyentuell weiterem
Ergriffensein der Daumenballen und schliesslich der kleinen Finger-
muskulatur (Vorderarmtypus Remaks). Wir glauben dargelegtzu haben,
dass dieser Typus, dessen ersten Teil Dejerine-Klumpke als „Type
antibrachial" bezeichnet und charakterisirt als die Lahmung der voin
Radialis versorgten Muskeln des Vorderarmes mit Ausnahme des
Brachioradmlis (des Anconeus IV) und ofters auch des Abductor poll,
longus — sich vollkommen erklaren lasst aus der Funktion, aus der
ihre Leistungsfahigkeit libersteigenden Anstrengung, die der Hand-
werker und viele Gruppen von industriellen Arbeitern bestimmten
Muskelgruppen zumuten.
Das regelmassige Ergriffensein der langen Hand- und
Fingerstreckmuskeln erklart sich — um es hier nochmals kurz
zusammenzufassen — aus ihrer relativen Uberanstrengung, das
Freibleiben des M. brachioradialis aus seiner eigenen Mach-
tigkeit und der funktionellen Zugehorigkeit zu der Gruppe des
Beugers des Unterannes. Dass die kleinen Fingermuskeln (abgesehen
von der Dauruenmuskulatur) so selten und stets sehr spat erkranken,
erkliirt sich wohl aus ihrem Zusammenarbeiten mit den machtigen
laugen Beugern und aus den gunstigeu physikalischen Verhaltnissen,
unter deneu sie wirken.
Was den Daumen anbelangt, so erkliirt die Machtigkeit
des Abductor longus wohl sein liaufiges Freibleiben von
der Bleilahmung; seine Mitwirkuug fuhrt wohl dazu, dass
die Strecker meist nur paretisch werden, eine voile Lahmung
derselhen aber nur selten ist. Die geringen Unterschiede
an Leistungsfahigkeit, die zwischen den einzelnen Muskelgruppen
bestehen. der Umstand, dass sie in den verschiedensten Kombi-
nationen als Synergisteu und Antagouisten auftreten, endlich
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Zur Kaauistik der Bleilahmuiig.
251
noch, dass bei den raeisten Verrichtungen die Oppositiousmuskeln des
Thenar (Abductor poll, brevis, Opponens, Flexor poll, brevis) eine
besonders grosse Arbeit zu verrichten baben, alle diese Momente
erklaren es wohl, dass am Daumen so haufig neben den
Streckern — manchmal sogar mehr als diese und vor ihnen
— die Thenarmuskeln erkranken.
Wir sind uns dessen wohl bewusst, dass zwar die Bestimmung
des Gewicbtes der einzelnen Muskeln auf exakte Weise erfolgen kann,
dass aber damit allein noch kein exakter MaCstab fiir die Arbeit, der
jeder Muskel fahig ist, gewonnen werden kann, dass ferner dort, wo
wir fiber den Grad der Anstrengung der einzelnen Muskelpartien,
fiber das Verhaltnis der geforderten Leistungsfahigkeit sprechen, unsere
Ausffihrungen nicbt beanspruchen konnen, als exakteste, naturwissen-
scbaftliche Beweisfuhrung zu gelten. Aber doch glauben wir, da wir
uns auch auf die Anatomie und Physiologie der einzelnen Muskel-
gruppen stfitzen, den Boden der Wirklichkeit nicht verlassen zu haben.
Darfiber, ob wir von einer elektiven Wirkung des Bleies gerade auf
diese bestimmten Muskeln und Nervengruppen ganz absehen konnen,
welche Bedeutung einer solchen eventuell zuzugestehen ist, dariiber
soil spater gesprochen werden.
Im Folgenden soli der Versuch gemacht werden, an der Hand
unseres Materials jede Modifikation und Varietat innerhalb dieses
Grundtypus jede Abweichung von ihm, jedes Hinausgehen fiber den
Type antibrachial Dejerine-Klumpkes durch die spezielle Tatigkeit
des betreffenden Individuum8 zu erklaren.
Zunachst aber wollen wir jene Falle betrachten, die dem eben
besprocbenen Typus der Bleilahmung am meisten entsprechen. Das
siud zunachst jene Falle, bei denen es erst zu den allerleichtesten
Symptomen der Bleilahmung gekommen ist; dann aber werden wir
— bei Besprechung der tibrigen Falle teilweise nach Bernfsarten vor-
gekend — jene Handvverker zuerst betrachten, die dieseu Gruudtypus
am ungetrfibtesten zeigen: die Anstreicber.
Wir hatten in der Zeit vom 1. XI. 1905 bis 1. I. 1909 Gelegenheit,
13 Falle von Parese der Exlensoren zu beobachten. Die Parese
ergreift in erster Linie die Extensoren der Finger. Es ist den Kranken
nicht moglich, bei gestreckten Fingern die Hand im Handgelenk dorsal
zu flektieren; bei dem Versuch der Dorsalflexion im Handgeleuk
beugen sich die 1 . Phalaugen. Versuclit man passiv, durch Druck auf
die Metacarpalknochen von der Vola aus diese Dorsalflexion herbei-
zuffihreu, so tritt so fort Beugung der Finger im Metacarpophalangeal-
gelenke ein. Die Extensoren der Finger sind nicht imstaude, ent-
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gegen dem Widerstand der Interossei und Lumbricales die Finger ge-
streckt zu erhalten. Dabei ist bei Faustschluss oder starker gebeugten
Fingem die Dorsalflexion meist in vollem Umfange und mancbmal
mit guter Kraft (Intaktheit der Extensoren der Hand), manchmal mit
verminderter (leichte Parese dieser Extensoren) moglich *).
Es wurden von uns in diese Gruppe der Extensorenparesen nur
solche Falle aufgenommen, bei denen bei keinem anderen Muskel
Storungen der Funktion vorhanden waren; von Fallen aber, die nur
Storungen der Extensoren zeigten, nur jene, bei denen diese Stoning
so gering war, dass bei gerade gestrecktem Handgelenk voile Finger-
streckung moglich war, und erst bei weiterer Dorsalflexion im Hand-
gelenk Beugung der Finger eintrat. In den allerleichtesten der hieher-
gehorigen Falle ist sogar eine voile Dorsalflexion im Handgelenk bei
voller Streckung der Finger moglich, doch erfolgt sie mit erbeblich
verringerter Kraft.
Wahrend in alien anderen Fallen alle Finger annahemd gleich-
massig paretisch scheinen, blieb in einem Falle, bei dem Anstreicher
S., nur der 3. und 4. Finger u. zw. schon bei leichter Dorsalflexion
im Handgelenk in Beugung zuriick, wahrend 2. und 5. Finger gestreckt
blieben. Wir haben oben darauf hingewiesen, dass die ersterwahnten
Finger meist die am schwachsten mit Streckern versehenen sind.
Neben Parese dieser Strecker war in diesem Falle auch eine Parese
der Handstrecker (auch bei Faustschluss Dorsalflexion nur bei ver¬
ringerter Kraft und nicht in vollem Umfange moglich) vorhanden.
Von den 13 von uns beobachteten Fallen betraf einer beide
Hande in gleicher Weise. Die Parese war bei einem 43 Jahre alten
Mobellakierer, der mehrmals Bleikolik durchgemacht hatte, eingetreten,
nachdem er langere Zeit Kittarbeit verrichtet hatte. Es handelte sich
beiderseits um eine starkere Parese der langen Fingerstrecker: bei
gestreckten Fingem war jedes dorsale Erheben der Hand fiber die
Horizontale unmoglich; bei gebeugten Fingern erfolgte die Dorsal-
Hexion mit guter Kraft (Freisein der Handstrecker).
In einem einzigen Falle war die linke Hand allein erkrankt.
1) Gowers (Handbuch der Nervenhcilkde. 3. Bd. S. 319) nimmt an, dass
bei gestreckten Fingern die Oberstreckung im Handgelenk ausschliesslich durch
die langen Extensoren der Finger erfolge, weshalb bei deren Lahmung Dorsal¬
flexion der Hand bei gestreckten Fingern nicht moglich sei, wahrend bei ge-
beugten Fingern die Dorsalflexion stets durch die eigentlichen Handstrecker
erfolge. Diese Aufl'assung kbnnen wir nicht fur richtig halten, sie wfirde an-
nehmen miissen, dass — wenn wir bei dorsalflektierter Hand die Finger beugen
und streckcu — auch burner ein Wechsel in den die Hand fixierenden Muskeln
stattfiudet.
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
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Bei einer 29 Jahre alten Schriftgiessereiarbeiterin, die mehrerc Male
Bleikolik durchgemacht und in letzter Zeit fiber „rheumatische“ Beschwer-
den geklagt hatte, erfolgte die Dorsalflexion im linken Handgelenk bei ge-
streckten Fin gem mit viel geringerer Kraft als rechts. Es handelte sich
also um eine Parese leichtesten Grades. Patientin hatte in den letzten
Jahren Buchstaben sortiert und eingepackt. Wir mOchten in diesem Falle
aber nicht einmal mit vollster Sicherheit behaupten, ob es sich um Exten-
sorenparese gebandelt hat, oder ob nicht der Umstand, dass Patientin
Schmerzen in der Hand hatte, sie zu geringerem Widerstand beim Beuge-
versuch veranlasste.
Bei alien anderen 11 Fallen war ausschliesslich die
rechte Hand ergriffen. Sie betrafen einen Bleiloter, einen Spengler,
2 Hafner, 6 Anstreicher.
Sehr verschieden isfc die Zeitdauer, die eine solche Parese zu ihrer
Heilung braucht. Ich sab in einem Falle (Anstreicher) nach 8tagiger,
in einem anderen Falle (Spengler) nach lOtagiger Arbeitsruhe alle
Erscheinungen verschwinden, wahrend in zwei anderen Fallen noch
nach 1 Monat nur eine erheblicbe Besserung, aber keine Heilung zu
verzeichnen war. Die meisten Falle sind nach kurzer Zeit ungeheilt
meiner Beobachtung entschwunden.
Die Heilung der Parese innerhalb der oben erwabnten kurzen
Zeit muss den Gedanken nahe legen, ob es sich in diesen Fallen tiber-
haupt um Giftwirkung und nicht vielleicht nur um eine Ermfidungs-
erscheinung gehandelt habe.
Dass es aber mit Ausnahme eines Falles von doppelseitiger Parese,
bei dem wir fiber die Reihenfolge, in der die Parese eintrat, nichts
wissen, und eines Falles von linksseitiger Liihmung, der nicht ganz
einwandfrei ist, stets — unter 13 Fallen 11 mal — die rechte
Hand war, die erkrankte, spricht wohl deutlich fUr die Rolle, die
die Arbeit bei Entstehung der Parese spielt.
Von den 14') Anstreichern und Lackierern, die wir mit Blei¬
lahmung der Hande zu behandeln Gelegenheit batten, zeigten nur 3
einseitige Lahmung, und zwar samtlich an der rechten Hand.
Bei einem dieser rechtsseitig Gelfihmten handelte es sich um eine
relativ leichte Erkrankung, die ohne dass andere Erscheinungen von Bleiver-
giftung (ausser Bleisaum) vorausgegangen waren, plotzlich entstanden war.
Faradische und galvanische Erregbarkeit zeigten keine grflberen Stbrungen;
nach 2 Monaten konnte Patient, bei dem komplete Lahmung der Exten-
soren der Finger und der Hand bei Mitbeteiligung der Daumenstrecker
bestanden hat, mit einer ganz leichten Schwiiche der Extensoren aus der
Behandlung entlassen werden.
1) tJber einen 15. Anstreicher wire! spiiter bericlitet.
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XIV. Tei-eky
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Bei deni 2. Falle handelte es sich am einen 33jfihrigen Anstreicher-
gehilfen, der in den Jahren 1902—1906 achtmal Bleikolik durchgemaclit
hatte; dann arbeitete er 2 V 2 Jahre ohne Bleifarben, bis er (23. Oktbr. 1906)
nach 5wochentlicher Bleiweissarbeit an Bleikolik erkrankte nnd in ein
Krankenhaus aufgenommen wurde. Gegen Ende seines Spitalaufentbaltes
(1. XI.—28. XI. 1908) stellte sich Lahmung der rechten Hand ein, mit
der er Ende November in meine Behandlung trat. Es bestand leichto
Parese der Handstrecker, starke Parese der Fingerstrecker, von denen
der 2. am besten, der 5. am wenigsten gestreckt werden konnte; der
Daumen konnte nicht voll gestreckt, nicht in die Handrfickenfliiche gehoben.
Abduktion von der Handflache nicht in vollem Umfange ausgeffihrt werden;
faradische Erregbarkeit des Extensor communis erloschen.
Bei dem 3. Falle bestanden, als wir ihn sahen, nur die Residuen einer
vor 13 Jahren entstandenen Bleilahmung, und zwar in einer Parese der
Daumenmuskulatur. Diesem letzteren Falle (von dem das unten fiber ver-
altete Falle Gesagte gilt) kommt ftlr unsere Betrachtung wohl kaum eine
Bedeutung zu.
In alien anderen Fallen (11) betraf die Lahmung beide Hande,
immer aber war die recbte Hand starker ergriffen als die linke;
in alien, mit Ausnahme eines einzigen Falles (Ant. M.), machte die
Besserung links raschere Fortschritte als rechts. Warum in dem einen
Falle die Heilung links durch eine Zeit lang langsamer von statten
ging, konnten wir nicht ermitteln, doch stellte sich bald wieder eine
Verschiebung ein, so dass heute die recbte Hand starkere Residuen
zeigt als die linke. Es tritt also in alien diesen Fallen das Be-
troffensein der starker angestrengten Hand aufs deutlichste
hervor.
Unter alien Anstreichern sind nur drei, bei denen auch die den
Arm im Schultergelenk bewegenden Muskeln — die, wie auch
Edinger betont, nach den das Handgelenk bewegenden am meisten
angestrengt werden — mit ergriffen wareu.
Der eine dieser Patientou, F. Cz., war im Dezember 1905 mit einer
bereits seit 2 Monatcn bestehenden Extensorenparese der rechten Hand zu
mir gekommen, hatte sich aber — da er durch Familienverh<nisse sicli
in Notlage befand — geweigert, die Arbeit zu verlassen. Als er endlich
Mitte Januar 1906 sich in den Krankenstand aufnehmen liess, bestand
Lahmung der Fingerstrecker rechts, Parese der Handstrecker rechts, leichte
Mitbetciligung des Daumens, Parese des gemeinsamen Fingerstreckers links,
also noch keincswogs das Bild schwerer beiderseitiger Streckerlfihmung.
Daneben aber vollstandige Unmoglichkeit.den rechten Oberarm zu heben,starke
Erschwerung der Rotation dcsselben uni seine cigene Achse: also vollstiindige
Lahmung dor Ilober (M. deltoideus |Xerv. axillaris] und M. supraspinatus ]_X.
suprascapularisl, teres minor [Nerv. axillaris !. M. subscapularis und teres major
|Xerv. subscapularis]), sowie Parese des das Sehulterblatt dreheuden Mus-
kels (M. serrat. |N. thoracicus longus I. Es bestand Atrophie des Mm. del -
toides, supraspinatus, infraspinatus. Links bestand nur Parese des M. del¬
toideus. Audi bier sehen wir also wieder, dass Muskeln, die von verschie-
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Zur Kasuistik der Bleiliihmung.
255
denen Nerven versorgt werden, aber funktionell miteinander verbuuden sind,
geraeinsam erkranken, wobei nur noch darauf kingewiesen sei, dass diese
Lokalisation nicht dem Typ. brachialis von Remak u. Dejerine-Klumpke
entspricht, aber ganz einem Falle, den Kocher beschreibt (Korrespondenz-
blatt fOr Schweizer Arzte 1898, S. 257). Der Grand aber for das Auf-
treten der L&hmung dieser Muskeln bei unserem ja noch keineswegs lioch-
gradige Hand- and Fingerl&hmung zeigenden Patienten ist wohl darin zu
suchen, dass er das letzte Jahr in einer landwirtschaftlichen Maschinen-
fabrik gearbeitet hatte; er war hier sehr hftufig genbtigt, beira Minisieren
des Innern von Maschinen in unbequemer Lage, auf dem Rttcken lie-
gend, and mit erhobenem Arm seine Anstreicherarbeit zu ver-
richten. Im Marz waren die Lahmungserscheinungen der Schultermus-
kulatur verschwunden, die Ver&nderungen an den Hand- und Fingermuskeln
aber waren nur teilweise zurhckgegaugen.
Patient nahm dann — die Zeit, wiihrend welcher die Krankenkasse
fQr ibn zu sorgen hatte, war inzwischen abgelaufen — die Arbeit wieder
auf und arbeitete bei verschiedenen Anstreichermeistern in der allgemein
Oblichen Art und Weise. Ende November 1907 kam er wieder mit den
Erscheinungen einer neuerlichen Bleivergiftung zu mir — ich hatte ibn
in der Zwischenzeit mekrmals gesehen — und zeigte eine betrachtliche
Verschlimmerung der Lahmung seiner Streck- und Daumenmuskulatur der
rechten und eine nicht ganz so weit wie rechts gehende Lahmung der in¬
zwischen bereits geheilt gewesenen langen Streckmuskeln der Finger der
linken Hand. Die Schultermuskulatur war vollkommen intakt.
Bei dem Anstreicher F. K., der bereits mehrmals Bleikolik durchge-
macht hatte, auch einmal vor 8 Jahren an Streckerlahmung gelitten hatte,
kam es im Juli 1906 zu einer neuerlichen ziemlich schweren Streckerlah-
nmng; neben dieser bestand die Unmoglichkeit, den recliten Arm ini
Sckultergelenk zu heben (Lahmung des Deltoideus und Supraspinatus),
uud auch mit dem Schulterblatt zusammen konnte der Arm nur wenig ge-
hoben werden (Parese des M. serratus antic, major). Die Schulterlahmung
ging in einigen Wochen, die Streckerlahmung nur ganz langsam zurftck.
Im November 1907 und seitdem noch einige Male kam Patient wegon Ver-
schlimmerung seiner nie ganz ausgeheilten Streckerlahmung zu mir, die
Schultermuskeln waren stets intakt. Was bei der Erkrankung im Sommer
1906 zur Erkrankung der Schultermuskeln gefQkrt hatte, war der Umstand,
dass er durch mehrere Wochen ausschliesslich Plafondarbeit,
also Arbeit mit stark eleviertem Arm, verrichtet hatte (vgl. Remaks
Wellblechdeckenanstreicher).
Bei einem dritten Patienten, Anton M., bestand keine ausgesprochene
Lahmung in der Schultergtlrtelmuskulatur, doch erfolgte beiderseits das
Armheben mit ziemlich verringerter Kraft (Parese des M. deltoi¬
deus), auch die Beugung im Ellbogengelenk nicht mit der der Muskulatur
entsprechenden Kraft, also eine leichte Parese nach dem Tvpus brachialis
Remaks. Ausserdem bestand beiderseits ziemlich starke Streckerlahmung
der Finger und Hande unter Mitbeteiligung des Daumens.
Die Erscheinungen an dor Armmuskulatur sind wohl darauf zurtick-
zuftihren, dass er als Wagenlackierer haufiger sclnvere Arlieit dadurch
zu verrichten hatte, dass er genotigt war. die schweren Wagen
zu heben.
Deutsche Zeitsdir. f. NerveuheilUuude. 37. Bd. 17
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XIV. Teleky
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Bei alien Fallen also, bei denen die Schultergfirtel- oder Oberarm-
muskulatur beteiligt war, liess sich diese Lokalisation durch
eine die betreffenden Muskeln in besonders hohem Mabe
anstrengende Arbeit erklaren.
Bei alien unseren Fallen — mit Ausnabme des oben erwahnten
einen Falles, bei dem wir als Residuum einer vor vielen Jabren ent-
standenen Bleilahmung nur eine Parese der Daumenmuskulatur fest-
stellen konnten und der als veralteter Fall nicbt ganz in unsere Be-
trachtung gehort — bestand eine vollstandige oder teiiweise Lahmung
der Extensoren der Finger und der Hand. Starker erschienen stets
die Fingerstrecker betroffen, die zweimal beiderseits vollstandig,
einmal beiderseits mit Ausnahme der Strecker des 2. Fingers voll¬
standig gelahmt waren, d. h. aucb bei maximal gebeugtem Handgelenk
keine Streckung der Finger auszulosen vermochten; in aUen andereD
Fallen bestand mehr oder weniger ausgesprocbene Parese, stets
rechts mehr als links.
Hingegen konnte nur in einem Falle eine (einseitige) komplete
Lahmung der Handstrecker rechts festgestellt werden, bei einem Falle,
der auch dadurch von dem Schema etwas abweicht, dass nur die
rechte Hand ergriffen war. Sonst aber war in alien Fallen wenigstens
eine leichte Hebung im Handgelenk moglicb, die nur in 2 Fallen an
der rechten Hand die Horizontale nicht erreichte, in einem anderen
Falle rechts bis zur Horizontale, in alien diesen Fallen links, sowie
in alien anderen Fallen beiderseits (stets rechts weniger als links)
noch fiber die horizontale moglich war.
Es sind also die Extensoren der Finger mehr betroffen
als die der Hand, die rechte Seite mehr als die linke.
"Was nun die Lahmung der einzelnen Finger (mit Ausnahme
der des Daumens) anbelangt, so ist die Beurteilung, wie weit bei der
starkeren Lahmung einzelner derselben die Anstrengung eine Rolle
spielt, dadurch sehr erschwert, dass nicht nur die Inanspruchnabme,
sondern auch die Kraft der Strecker der einzelnen Finger eine ganz
verschiedene ist. Unsere obige Betrachtung fiber die Wirkung der
Extensoren bei moglichster Ausscbaltung der Beuger zeigen uns aufs
deutlichste die verschiedene Wirkung und Starke der Extensoren der
einzelnen Finger, speziell die der langen Extensoren. Bei der be¬
sonders kraftigen Wirkung der Extensoren des Zeigefingers konnte
man eine ebenso starke Lahmung dieser Extensoren wie der der
anderen Finger nur erwarten, wenn ihnen besondere Anstrengungen
zugemutet wfirden; das ist nun bei den Anstreichern, die den in Wien
gebrauchlichen Pinsel zwischen 3. bis 4. Finger einer- und Daumen
andererseits halteu (woher sich eine ganz typische Schwiele am 4.
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Zur Kasuistik der Bleilahiuuug. 257
Finger erklart), (Fig. 2) nicht der Fall, eher noch bei dem in Deutsch¬
land gebrauchlichen Pinsel und seiner Haltung. Der 2. Finger ist also
beim Anstreichen selbst — wenigstens bei den Wiener Anstreichern —
gewiss nicht im besonderen Malie angestreugt, nur beim sogenannten
„Spachteln“, dem Glatten der zum Ausgleichen von Unebenheiten in
dicker Schicht aufgetragenen Kittmasse tritt der Zeigefinger starker
in Tatigkeit, aber auch hier sind die Strecker nur als Antagonisten der
Fingerbeuger tatig und zwar nur bei einer keine besondere Differen-
zierung verlangenden, also die Antagonisten nicht besonders an-
strengenden Tatigkeit.
Es ist demnach zu ervvar-
ten und nur vollkommen be-
greiflich, dass bei fast alien
unseren Fallen der 2. Finger,
und zwar an beiden Handen
jener ist, der am meisten noch
die Extensionsfahigkeit sich
bewahrt hat.
4 von unseren FiUlen (bei
deren einem der Zeigefinger der
beiden Hande etwas weniger be-
teiligt war, w&hrend bei zweien
nichts dartlber erwdhnt ist, beim
dritten aber nur Daumenlah-
mung bestand) kcinnen ftlr diese
Betrachtung und for unsere
neiteren Ausfilhrungen deshalb nicht in Betracht kommen, weil es sich um
veraltete, scheinbar in mehreren Attacken entstandene Bleilahmung handelt;
ist aber als Residuum einer Bleilahmung in irgend einer Weise die Be-
"egungsmogllchkeit oder Kraft der einzelnen Finger beschriinkt, dann ver-
>eilt sich die zur Berufstatigkeit notwendige Anstrengung in ganz anderer
Weise als vorher. So hielt einer dieser Anstreicher den Pinsel zwischen
den ersten Phalangen des 3. und 4. Fingers und presste ihn mit dem ad-
duzierten Daumen an den Zeigefinger an, so dass an diesen beiden Stellen
Schwielen entstanden.
Ftlr unsere Betrachtung sind also vor allem nur solche Fiille geeignct,
die zum ersten Mai an Bleilahmung erkrankt sind, ausserdem viellcicht
noch solche, bei denen die erste Liihmung sicher zur vollen Ausheilung
gelangt war, ehe es zu einer ncuerlichen Lfthmung kam.
Bei einem Falle fehlen uns bei der ersten Erkrankung Angaben aber
den Grad der L&hmung der einzelnen Finger (bei den spateren Erkran-
knngen war der 2. Finger am wenigsten betroffen).
Nur bei dem oben erwahnten Falle F. K., der auch rechts eine Parese
der Sclmltermuskulatur zeigte, hattc auch der 2. Finger rechts jede Mog-
lichkeit der Extension verloren. Bei den fibrigen 8 Fallen finden wir
stets an alien Qberhaupt betroffenen Handen den 2. Finger am
"enigsten an der Lahmung beteiligt (vgl. Fig. 1).
17*
Fig. 2.
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Was nun die iibrigen Finger anbelangt, so zeigen sich meist —
so wie bei der oben geschilderten Hand ruit entspannten Beugern —
in zunehmendem MaCe der 3., 4. und 5. Finger gebeugt (vergl.
Fig. 1). Nur in zwei Fallen sehen wir an der rechten Hand den
5. Finger nicht oder weniger gelahmt als die iibrigen (Fig. 3), und
hierher gehort wohl auch der oben erwahnte Fall von Extensoren-
parese, S. An der linken Hand sehen wir vierraal — also fast in
der Halfte der Falle — den 5. Finger weniger ergriffen als den 3. und
4. Wir miissen es unentschieden lassen, ob diese Ausnahmsfalle auf
eine angeborene, besonders gute Entwicklung der langen Strecker des
5. Fingers zuriickzufiihren sind, oder auf eine besondere Schonung
desselben bei der Arbeit. Die Hiiufigkeit des Freibleibens des 5. Fingers
Fig. 3.
an der linken Hand scheint fiir letztere Annahme zu sprechen. Be-
rnerkt sei nur, dass wir — mit Ausnahme des spater zu erwahnenden
Schlossers — keinen einzigen Fall gesehen haben, bei dem ausschliessliche
Parese des 4. und 5. Fingers bestand; hingegen bestand bei einem
Kranken an der linken Hand ausschliesslich Parese des 4. Fingers.
Was die Mitbeteiligung der Daumenmuskulatur anbelangt.
so ist in den von uns als Extensorenparese bezeichneten leichtesteu
Fallen der Daumen nicht mit beteiligt; in alien Fallen aber, bei denen
es zu einer hochgradigen Streckerparese oder -liihmung gekommen
war, war mindestens die Muskulatur des rechten Daumens mit
beteiligt.
In einem einzigen Falle von zweimaliger Bleilahmung konnte eine
Mitbeteiligung der Daumenmuskulatur nicht festgestellt werden, doch
sind in diesem Falle die beiden Daumen von Kindheit an (wahrscheinlieh
angeboren) im Interphalangealgelenk versteift.
In einem der veralteten Falle ist als Residuum einer vor 13 Jahren
erworbenen Bleilfthmung nur eine Einschr&nkung der Beweglichkeit des
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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 259
Daumens (Behinderung der Abduktion, Extension, Opposition) zurttck-
eeblieben.
Wie ja die rechte Hand sfcets starker ergriffen ist, so ist auch
der rechte Daumen in starkerem Malie gelahmt als der linke
(von den Fallen mit ausschliesslich rechtsseitiger Streckerlahmung
ist begreiflicherweise im Folgenden abgesehen).
Bei einem Falle war bei Beginn der Erkranknng der rechte Daumen
starker erkrankt, doch besserte sich der Zustand rechts schneller, so dass
dann eineZeit lang der linke Daumen schwerer beteiligt erschien (vgl. o.).
Bei einem veralteten Falle war der linke Daumen ebenso stark
beteiligt wie der rechte; in einem anderen veralteten Falle war der linke
Daumen intakt, ebenso war bei einem Falle, bei dem bei der erstmaligen
Lahmung Angaben liber die Daumen fehlen, bei der zweiten Erkrankuug
der rechte Daumen mitbeteiligt, der linke Daumen intakt.
In alien anderen Fallen war zvvar auch der linke Daumen be¬
teiligt, jedoch der rechte Daumen starker ergriffen als der linke.
Mit Ausnahme von 3 spater zu besprechenden Fallen hatte stets die
Abduktion und Hyperextension gelitten, also die Extensoren und der
Abductor longus, aber niemals waren die betreffenden Muskeln voll-
kommen gelahmt, es bestand nur eine geringe Parese des Extensor
poll, longus, die sich vor allem darin ausdriickte, dass der Daumen
nicht bis in die Ebene des Handriickens gehoben werden konnte, so-
wie eine geringe Parese des Extensor pollic. brevis (Abduktion von
Kadialseite der Hand nicht mit voller Kraft und nicht in vollem Um-
fange moglich); auch die voile Streckung der Phalangen, an der die
beiden erwabnten Muskeln mitwirken, war nicht moglich. Das Fehlen
der Wirkung des Abductor longus und die Trennung seiner Parese
von der des Abductor poll, brevis ist bei funktioneller Prtifung nur
schwer festzustellen (vergl. weiter unten). Dass die langen Strecker
des Daumens — ungleich den Streckern der iibrigen Finger — nie¬
mals vollkommen gelahmt gefunden wurden, erklart sich wohl aus
ihrer relativen Kraftigkeit (vergl. oben) sowie daraus, dass der Daumen
bei den Anstreichern keine starkeren oder haufigeren Bewegungen
anszufiihren, sondern nur den Pinsel — der aus dem Handgelenk be-
wegt wird — zu halten hat, wobei die Strecker und der Abductor longus
als Antagonisten und Moderatoren der Daumenballeumuskeln wirken.
Nicht gelahmt erscheinen die langen Daumenstrecker, wie oben
erwahnt, nur in 3 Fallen und zwar bei einem veralteten Falle sowie bei
zwei frischen Fallen; bei einem Fall fehlen bei der ersten Lahmung
die Angaben. Bei den erstgenannten 3 Fallen jedoch und ebenso bei
der zweiten Lahmung des zuletzt genannten sind die Daumenballeu¬
muskeln (neben den Hand- und Fingerstreckern) ergriffen, wie iiber-
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haupt in alien unseren Fallen — mit Ausnahme yon 2 Fallen —
an der rechten Hand diese Muskeln mitbeteiligt sind, wahrend sie an
der linken Hand in 5 Fallen trotz Ergriffenseins der langen Muskeln
freigeblieben sind. Von den kleinen Daumenmuskeln ist haufiger
der Abductor poll, brevis — der eigentliche Muskel der Opposition
— etwas seltener der Adductor ergriffen. Vielleicht, dass es von ge-
ringen Unterscbieden in der Pinselhaltung abhangt, welcher dieser
Muskeln am meisten angestrengt wird.
Dabei muss aber ausdrlicklich betont werden, dass auch bei diesen
Muskeln fast stets nur eine Parese bestanden hat; nur bei einem ver-
alteten Falle war rechts die Opposition ganz unmoglich, bei zwei
anderen war die Adduktion an die Handflache durch kurze Zeit nicht
moglicb; sonst bandelte es sich stets nur um eine Behinderung der
volien Opposition oder um eine Schwache der Opposition resp. Ad¬
duktion. Immer treten die amDaumen vorhandenen Erschei-
nungen von Parese ganz in den Hintergrund gegenuber den
Paresen oder Lahmungen der Strecker von Fingern und
Hand. Eine Atrophie der kleinen Handmuskeln im 2., 3., 4. Interos-
sealraume konnte ich bei Anstreichem nicht selbst beobachten. Hin-
gegen sah ich eine leichte, bald wieder vorttbergehende Atrophie im
1. Interossealraum beiderseits bei einem Anstreicher; bei einem anderen
entwickelte sich eine ein wenig starkere und persistente Atrophie im
1. Interossealraume rechts. Bei zwei veralteten Fallen bestand Atrophie im
1. Interossealraum und zwar rechts starker enwickelt als links, aber nur
bei einem dieser Falle war die Atrophie rechts ttberhaupt stark entwickelt
Wir konnen also wohl sagen, dass es nur in einem geringen
Teil der Falle zu Atrophie der Interossei kommt, dass
diese aber fast immer auf die Muskulatur im 1. Zwischenknochenraum
beschrankt ist und wohl nur sehr selten hohere Grade erreicht.
Die elektrische Erregbarkeit der langen Finger-, Daumen- und
Handstrecker zeigte in alien Fallen mit Ausnahme eines einzigen, ver-
haltnismassig rasch geheilten, Storungen, deren Grad stets dem funk-
tionell festgestellten entsprach; die faradische Erregbarkeit war in den
am meisten ergriffenen Muskeln auch stets am meisten herabgesetzt,
in ein/.elnen Fallen erloschen; die galvanische Erregbarkeit zeigte stets
geringere Storungen, nur in einem Falle konnte ausgesprochene Ent-
artnngsreaktion festgestellt werden; in einem veralteten Falle war sie
erloschen. Besser auf dem Wege der elektrischen Reizung als durch
Prufung der Funktion liess sich feststellen, dass in den meisten
Fallen der Abductor poll, longus von der Lahmung nur in geringem
Grade ergriffen war. Nur in 2 Fallen war auch die faradische Erreg¬
barkeit des Abductor poll, longus anfangs vollkommen erloschen.
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
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Doch trat sie in diesem Muskel frtiber als in den langen Finger-
streckern wieder auf. Dass im tibrigen eine Parese dieses Mus¬
kets keineswegs selten ist, bestatigt Duchenne (p. 178). —
Bei Parese des Abductor pollicis longus und Extensor poll, brevis
tritt der Metacarpus des Daumens in Adduktionsstellung und die
1. Phalange wird leicht gebeugt, so dass sich ein ganz cbarakteristisches
Bild ergibt.
Scbliesslich sei noch erwahnt, dass wir bei einem unserer An-
streicher insofern eine Mitbeteiligung der unteren Extremitaten ge-
sehen haben, als Patellarklonus bestand. Gesteigerte Patellar-
sehnenreflexe sind bei Bleivergiftung sehr haufig, warum aber dieser
eine Patient eine so hochgradige Steigerung aufwies, konnte nicht
ermittelt werden.
Wir sehen also bei den Anstreichern in erster Linie die
Extensoren der Finger ergriffen, die — wie wir oben gezeigt —
relativ die schwachsten und die bei feinerer Yerrichtung relativ stark
aDgestrengten Muskelgruppen sind, dann die Extensoren der Hand,
die speziell bei Anstreichern (vergl. Edinger) noch mehr als
bei sonstiger manueller Arbeit angestrengt werden. Ebenso findet
sich fast stets eine Mitbeteiligung der Daumenmuskulatur, und
zwar der Strecker des Daumens an beiden Handen — wobei
der Abductor poll, longus weniger betroffen ist als die Extensoren
brev. und longus — und der kleinen Daumenmuskulatur an der
rechten Hand. Diese Lahmungen sind aber nie voll entwickelt,
meist handelt es sich nur um eine ganz geringe Schwache derselben.
Stets ist die rechte Hand mehr ergriffen als die linke.
Mit dem oben Gesagten aber wollen wir nur die allgemeine Regel
festgestellt haben, eine Regel, die sich ja vollstandig mit dem Bilde
deckt, das von anderen Autoren in vollkommen gleicher Weise als
das typische Bild der Bleilahmung beschrieben wurde; wir verweisen
hier besonders auf die Beschreibung Remaks in Nothnagels Hand-
buch (S. 656).
Uns ist allerdings wolil bekannt, dass sich in der Literatur eine
Anzahl von Fallen findet, die uns zeigen, dass auch beim Anstreieher
eine starkere Beteiligung von kleinen Handmuskeln vorkommen kann;
das aber geht aus unseren Ausfiihrungen hervor, dass gerade das so-
genannte typische Bild der Bleilahmung das Bild der Blei¬
lahmung des Anstreichers ist.
Edinger hat gezeigt, wie der Anstreieher in seinern Berufe ge¬
rade besonders die Handstreeker anstrengt, w'iihrend Supinator und
Abductor poll, longus nicht mit verwendet werden.
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XIV. Teleky
Wir miissen Edinger in diesen seinen Ausfuhrungen liber die
Handstrecker beistirnmen, glauben aber oben dargelegt zu haben,
(lass in einer ganzen grossen Auzahl — ja in den meisten handwerks-
massigen Berufen — eine starke Anstrengung derselben Muskeln statt-
tindet. Auch glauben wir den Grund flir das Freibleiben von Supi¬
nator und Abductor poll, longus in ihrer besonderen Kraftigkeit finden
zu rniissen, der ihr Freibleiben oder wenigstens geringeres Ergritfen-
sein von der Lahmung auch bei anderen Berufen als den sie tatsach-
lich vvenig anstrengenden Anstreichern erklart. Was uns aber fGr
die Bleilahmung der Anstreicher besonders charakteristisch
erscheint, ist die verhaltnismassig geringe Mitbeteiligung
der Thenarmuskulatur, die seltene der tibrigen kleinen Hand-
muskeln.
Wir haben stets die beiden Hande ge-
meinsam betrachtet, beide bieten auch fast
stets ganz analoge Befunde, nur dass die
Lahmungserscheinungen stets links weniger
ausgesprochen sind als rechts. Die einzigen
Unterschiede, die nicht nur rein quantita-
tiver Natur sind, bestehen darin, dass an
der linken Hand fast in der Halfte der
Fiille die Strecker des 5. Fingers weniger
ergriffen sind als die des 3. und 4. Fingers,
und dass in 5 Fallen die Daumenballenmus-
kulatur zwar an der rechten, nicht aber an
der linken Hand Zeichen der Parese darbieteh
Was hat nun die linke Hand des Anstreichers zu arbeiten? Ha u fig,
wenn der Arbeiter am Boden — nicht auf der Leiter stehend —
arbeitet und sich ihm bequeme Gelegenheit zum Niederstellen des Ge-
fasses bietet, ist die linke Hand ganz unbeschaftigt, sonst aber hat
sie beim Schleifen — ebenso wie die rechte Hand — den Bimstein
oder das Sandpapier zu flihren, ihre Hauptaufgabe jedoch ist
das Gefass mit Farbe zu halten. Dieses ist — besonders wenn
mit Bleifarbe gearbeitet wird — keineswegs leicht, kann 1—2 kg.
wiegen, und ist das dauernde Halten des Gefasses recht ermudend.
Wie aber Fig. 4 zeigt, werden dabei die Beuger der Finger an-
gestrengt; da es sich aber weder um eiuen mit sorgsam abgestufter
Kraft auszulibenden Druck der Finger, noch um eine oftmals zu
wechselnde Fingerstellung handelt, kommen die Strecker der Finger
kaum in angestrengte Tatigkeit, und auch den Handstreckern wird
nicht viel Arbeit zugemutet.
Uber dieses ganz auffallige, mit unseren bisherigen Aus-
Fig. 4.
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
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fiihrungen iiber die Ursachen, die zur Lahmung der einzelnen Mus-
keln fuhren, nicht in tjbereinstimmung befindliche Verhalten
der linken Hand der Anstreicher soil am Schlusse dieser Arbeit ge-
sprochen werden.
Die Feilenhauer haben seit jeher als Paradigma fur den EinHuss
der professionellen Anstrengung auf die Lokalisation der Bleilahmung
gegolten; sie waren es, die Mobius veranlasst haben, jene eingangs er-
wahnten Ansichten auszuspreehen.
Mobius hat damals auch die Behauptung aufgestellt, dass „bei
Feilenhauern vorwiegend oder
ausschliesslich die Muskeln des
linken Daumens erkranken“.
Gegen diesen Satz haben sich
Bernhardt und sein Schuler
Leichtentritt (Beitriige zur
Pathologie der Bleilahmung,
Dissert. Berlin 1887) gewendet.
aber auch die von ihnen publi-
zierten Falle von Bleilahmung
zeigten, mit Ausnahme eines
einzigen Falles, eine auffallende
Mitbeteiligung der Muskulatur
des linken Daumens. Mobius
selbst hat spater das „vorwie-
gend oder ausschliesslich" als
,zu stark“ bezeichnet.
Eine vorwiegende oder
ausschliessliche Erkrankung
der Muskulatur des linken
Daumenballens aber ware durch die Bescbaftigung des Feilenhauers
selbst auch kaum gerechtfertigt, denn wenn auch die Daumen-
muskulatur der linken Hand sehr stark augestrengt wird, so ist
die Anstrengung der rechten Hand kaum eine geringere; hat der
Arbeiter doch mit dieser Hand einen Hammer zu fuhren, dessen Gewicht
zwischen l l t und 5 Kilo betriigt. Arbeitet ein Feilenhauer kleiuere
Sorten Feilen unter Benlitzung eines leichten Hammers, dann allerdings
werden die Muskeln des linken Daumens die grosste Anstrengung
zu vollfuhren haben, schwingt der Arbeiter aber kontinuierlich einen
5 Kilo schwereu Hammer, dann wird wohl die Muskulatur der rechten
Hand die schwerere Arbeit zu leisten haben. Welch schwere Arbeit
der Feilenhauer leistet, wie seine samtlichen Handmuskeln dabei ange-
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XIV. Teleky
strengt sind, geht wohl aus dem Bilde (Fig. 5) hervor; uoch besser
aber wird dies durch die gleich zu erwahnenden Berechnungen Olivers
und durch die Hammerstiele bewiesen; diese letzteren haben einen
ovalen gegen deu Hammerkopf zu sich allrnahlich und gleichmassig
verjiingenden Durchschnitt und sind aus hartem Schlehdornholze gemacht.
Nach V 2 —1 jahrigem Gebrauch aber zeigt der Stiel deutlicb die
Fingerabdrlicke in folgender Gestalt (Fig. 6). Der Stiel selbst — der
nacheinander von mehreren Arbeitern bentitzt wurde — zeigt uns auch
deutlich, dass er nicht von alien Arbeitern in der gleichen Weise ge-
handhabt wird. Er zeigt zwei vom Daumen herruhrende Eindriicke,
den einen oben, den andere seitlich. Ein Teil der Arbeiter halt den
Daumenabdruek bei Oppositionshaltung
Daumenabdruck bei Adduk-
tionshaltung
Abdruck d. iibrigen Finger
Fig. 6.
Daumen gestreckt und oben, wobei mehr die Oppositionsmuskeln an-
gestrengt werden, ein anderer gebeugt und seitlich, mit Hilfe der Ad-
duktionsmuskeln.
Dies zeigt uns aber aucb deutlich, dass wir kaum genau die
gleichen Lahmungen bei genau derselben Beschaftigung erwarten diirfen,
dass wir der individuellen Gewohnheit des Einzelnen — die vielleicht
in individual verschiedener anatomischer Veranlagung ihren Grand
hat — stets einen gewissen Spielraum werden zugestehen miissen.
Auch auf diesen Umstand hat Mobius bereits hingewiesen. Auch die
weitere Behauptung von Mobius, dass die vorwiegende Erkrankung
des linken Daumens eine alien alten Feilenhauern bekannte Tatsache
sei, konnen wir teilweise bestatigen. Fragt man einen Anstreicher,
wie eine Hand mit Bleilahmung aussehe, so beschreibt er das so
charakteristische Bild der Extensorenlahmung (wrist-di’op), wahrend
alle Feilenhauer auf diese Frage hin angeben, „dass das Fleisch um
die Daumen herum weggehe".
Bemerkt sei auch, dass Oliver (Dangerous Trades, p. 344) die Lali-
mnug der Feilenhauer Shertields ganz ebenso beschreibt wie die erwahnten
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Zur Kasuistik dcr Bleilahmung.
265
deutschen Autoren. Oliver hat auch bereclinet, wie gross die Kraftleistung
ist, die ein Feilenhauer zu verrichten hat. Einer seiner Patienten arbeitete
mit einein Hammer, der 7 Pfund wog. Er erzeugte im Tag 15 Feilen,
von denen jede 1500 Hammerschliige erforderte; er hob also wahrend
eines Tagewerks 157 000 engl. Pfund.
Allerdings wird diese Feilenhauerlahmung immer seltener. Wahrend
man sich einerseits bemliht, die Bleiunterlagen durch andere zu er-
setzen — nach den Erhebungen des deutschen Reichsamtes des Innern
werden in drei Vierteln aller Feilenhauereien an Stelle der Bleiunter¬
lagen die weniger gefiihrlichen Unterlagen aus Blei-Zinnlegierungen
oder Unterlagen aus Zinn oder Zink bentitzt, nnd auch der im Jahre
1906 zwiscben den Wiener Feilenhauermeistern uDd -gehilfen zustande
gekommene Tarifvertrag sieht die Abschaffung der Bleiunterlagen vor;
nur ftlr Raspeln werden durchgehends noch Bleiunterlagen verwendet
—, wird andererseits der Handbetrieb immer mebr durch den Maschinen-
betrieb verdrangt, und wenn hier auch haufig Blei oder Bleilegierung
zur Unterlage bentitzt wird, so ist scheinbar die Gefahr einer Bleiver-
giftung hier eine etwas geringere und gar keine Ursache fur die be-
sondere Lokalisation der Lahmung gegeben.
Bei der Feilenhauerlahmung des linken Daumens scheintes ubrigens
nicht leicht, die Grenze zwischen Ermildungs- und Lahmungserschei-
nungen festzustellen. Nach Angabe der Gehilfen komme es ofters vor,
dass der Daumen „nachgebe u . Sie unterstiitzen dann die Meissel-
haltung durch Umschnurung der Finger mit Spagat oder einem Riemen;
nach kurzer Arbeitsruhe verschwindet diese Erscheinung von Parese
wieder.
Was die ausgebildeten Bleiliihmungen anbolangt, so sail ieh im Oktobor
1906 zwei Feilenhauer, die Bleilahmung durchgemacht batten.
A. F., 38 Jahre alt, gab an, er sei vor einem Jahre an Bleilahmung
erkrankt (ich selbst sail ihn damals flllchtig mit einer Atrophie der Daumen-
ballenmuskulatur und der Muskulatnr des 1. Interossealraumes, sowie Ex-
tensorenparese), es seien die Muskeln an beiden Daumen weg gewesen.
Heute kann nicht mit Sieherheit eine Atrophie konstatiert werden. Arbeitet
wieder als Feilenhauer.
A. St, 28 Jahre alt. Seit 10 Jaliren alljiihrlich 1—2 mal Bleikolik.
Vor einem Jahre begann die Lahmung am linken Daumen. Das Inter-
phalangealgelenk gab nach, nach einem Monat sank die rechte Hand in
Beugestellung. Die Lahmungserscheinungen dauerten ca. 5 Monate. Heute
besteht nur eine geringe Schwiiehe der Extensoren.
Einen weiteren Fall hatte ich durch liingere Zeit zu beobachten (»**-
legenheit.
F. H., 26 Jahre alt, kam am Elide 19<*5 in nioine Behainllung. Er
hatte 1899 mehrfach Bleikolik durchgemacht; vom Jahre 1900 an sullen
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die Magenbesckwerdeu nachgelassen, sich aber Schw&che und Abmagerung
in den H&nden bemerkbar gemacht haben. Er bot folgendes Bild:
Rechte Hand: Hand- und Fingerstreckung unmOglicb, Opposition und
Abduktion des Daumens erhalten, Adductor poll, brevis und Interosseus I
atrophisch. Fingerstrecker reagieren sehr wenig auf faradischen, etwas
besser auf galvanischen Strom, rechts schlechter als links. Nur der Ab¬
ductor poll, longus reagiert etwas prompter.
Linke Hand: Starke Parese der Finger-, m&ssige der Handstrecker.
Endphalangen der Finger gebeugt. Lange Streckmuskeln sowie Muskula-
tur sSmtlicher Zwischenknochenraume atrophisch. Daumenballen abgeflacht.
Opposition des Daumens nicht, Abduktion nur wenig mOglich. Faradische
Erregbarkeit der Handstrecker und des Abductor poll, longus herabgesetzt;
galvanischer Strom lost trdge Zuckung aus.
Sowohl aus den Angaben der beiden ersten als auch aus dem Be-
funde bei dem letzten Falle geht die starke Beteiligung der Muskulatur
des linken Daumens sowie auch die Beteiligung der fibrigen kleinen
Handmuskeln aufs deutlichste hervor. Und wenn auch in der Literatur
fiber Falle von starker Mitbeteiligung der kleinen Handmuskeln auch
bei Anstreichern berichtet wird und wir ja auch selbst fiber Mitbe¬
teiligung derselben berichtet haben, so ist doch die vorwiegende
Mitbeteiligung einzelner oder vieler kleiner Handmuskeln
auffallend, und wir konnen nach allem das frfihe Auftreten
dieser Lahmung und die starke Mitbeteiligung dieser Mus-
keln (besonders der des linken Daumenballens) als charak-
teristisch ffir die Lahmung der Feilenhauer ansehen. Dass
aber gerade diese Muskeln besonders haufig und schwer ergriffen
werden, hangt wohl aufs allerdeutlichste mit der profesaionellen tjber-
anstrengung dieser Muskeln zusammen. Besonders sei noch darauf
hingewiesen, wie in dem letzterwahnten Falle in der Lahmung der
Daumenmuskeln deutlich die verschiedene Art der Anstrengung bei
der Tatigkeit hervortritt. Links ist der Daumen in Oppositionsstellung
angestrengt tatig — die Opposition des Daumens ist erheblich gestort
Rechts zeigt die Adduktion erhebliche Storung, wahrend die Opposition
frei ist — der Hammerstiel wird von vielen Arbeitern sehr wahrschein-
lich, ganz genau liess es sich nicht mehr ermitteln, vom Patienten
durch die Adduktion des Daumens gehalten.
Zwei Falle, in denen noch mehr als bei den Feilenhauern die
Lahmung und Atrophie von kleinen Handmuskeln oder vielmehr die
einer gaDz eng begrenzten Gruppe derselben im Vordergrunde steht,
wiihrend die Streckerlahmung nur in ganz geringem Malle zur Ent-
wicklung kommt, hatten wir Gelegenheit bei Poliererinnen, „Putze-
rinnen“, einer Flasclienkapselfabrik zu beobachten.
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Zur Kasuistik der Bleiliihinuug.
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Wir wollen zunachst die Krankengeschichten dieser ganz eigen-
artigen Falle von Bleivergiftung folgen lassen:
Therese H., geb. 1882, verh., Analphabetin, arbeitet in der Flascben-
kapselfabrik als „Putzerin“ seit dem Jahre 1900 mit mannigfachen Unter-
brechungen, meist nur im Winter, wfihrend sie im Sommer anf Bauten,
ZiegelOfen usw. Beschaftigung findet.
Hat 1899 normal entbunden, das Kind lebt. Seit der Arbeit in der
Fabrik war sie llmal an Bleivergiftung erkrankt, war mehrmals (von
demselben Vater, von dem sie das erste Kind hat) in der Hoffnung, hat
aber stets (ihre Angaben schwanken zwischen 6—9 mal) abortiert, zuletzt
— laut Krankenbuch — am 29. II. 1908. Zur Zeit ihrer ersten Blei¬
vergiftung 1901 war sie langere Zeit blind (nach ihrer Angabe), 1904 litt
sie an Encephalopathia saturnina. Als ich sie im Jahre 1906 zum ersten
Male sah, bestand beiderseitige, ziemlich weit vorgeschrittene Atrophia nervi
optici. (Am 31. I. 1908 war die Sehschfirfe rechts 5|18, links wurden
kaum Handbewegungen vor dem Auge gesehen [Prof. Konigstein]).
7. III. bis 23. III. 1906 war sie an Bleikolik erkrankt, dann war sie
bei anderen Arbeiten beschaftigt bis Spatherbst 1906.
Nach 7 wOchentlicher Bleiarbeit 2. I. 1907 Abortus, dann andere Be¬
schaftigung.
Ab Oktober 1907 Bleiarbeit: 29. I. 1908—7. III. Bleivergiftung (24.
II. Abortus) dann wieder Bleiarbeit; 13. VI. 1908—26. VI. 08 in Kranken-
stand (Bleivergiftung, dann Landaufenthalt auf Kosten der Kasse).
Am 15. VIII. 1908, nachdem sie also fiber 2 Monate von Bleiarbeit
feme gewesen und nur hfiusliche Arbeiten verrichtet hatte, kam sie zu
mir und klagte Qber Schwache und Geffihllosigkeit in der rechten Hand
und Unterarm. Die Untersuchung ergab: Motorische Kraft der rechten
Hand stark herabgesetzt, besonders Dorsalflexion im Handgelenk sowohl bei
gestreckten Fingern als auch bei Faustschluss erschwert. Grobschlfigiger
Tremor, Sensibilitat aller Qualitaten an Hand und Unterarm stark herab¬
gesetzt, fast erloschen. Nachdem Patientin einige Male faradisiert worden,
tritt starke Besserung ein, so dass Patientin aus der Behandlung ausbleibt.
Da das verringerte SehvermOgen es der Patientin unmOglich maclit, andere
Arbeit zu linden, so tritt sie am 1. IX. 1908 wieder in die Flaschen-
kapselfabrik als Putzerin ein.
Am 23. XI. kommt Patientin zu mir, klagt, dass sie wieder an gastri-
schen Beschwerden (Kolik, Obstipation, Erbrechen) leide. Seit einigen
Tagen gebe der Daumen bei der Arbeit nach, so dass ihr die Arbeitsver-
richtungen unmOglich seien. Die Untersuchung ergibt neben dem Vorhan-
densein der Zeichen chronischer Bleivergiftung (Bleisaum,hochgradige Aniimie,
basophile Granulationen der Erythrocyten), erweiterten, trfige reagierenden
Pupillen, Druckempfindlichkeit des Abdomens, Dampfung fiber der rechten
Lungenspitze und gesteigerten PSR, Tremor beider, besonders aber an der
rechten Hand noch folgenden Befund an der rechten Hand:
Anch bei gestreckten Fingern voile Dorsalflexion im Handgelenk mog-
lieh, aber mit etwas verminderter Kraft. Der Daumen wird in der Rulie-
lage leicht an die Seitenflache des 2. Fingers adduziert, nach aussen leicbt
rotiert und in die Ebene der Gbrigen Finger cingestellt gehalten (leichte
Affenhandstellung). Der Daumen kann nach aussen niclit voll abduziert
und nicht vollkommen extendiert werdeu, dock ffthlt man Itei Innervation
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die Sehnen des Extensor poll, longus, des Abductor poll, longus uml des
Extensor poll, brevis sich ziemlich krhftig anspannen.
Abduktion des Daumens von der Handflache, Rotation des Metacar¬
pus des Daumens um seine Ackse unmoglich. Der Metacarpus I kann nur
soweit gebeugt und nach einwarts gezogen werden, dass er nur mehr wenig
nach auswarts vom Metacarpus II stekt. Eine Streckung der Phalangeu
des Daumens in dieser Stellung ist danu unmoglich. Die Adduktion des
Daumens an die innere Handflache erfolgt nur mit sehr geringer Kraft.
Dem so adduzierten, im Metacarpocarpalgelenk leicht, in den Phalan-
gealgelenken ebenfalls leicht gebeugten Daumen ist es auch bei gestreckter
Grundphalange und maximal gebeugter 2. und 3. Phalange der Qbrigen
Finger nur mit grosster Anstrengung moglich, mit seiner Spitze die Kuppe
des 4. Fingers zu bertthren.
Die Flexion der Finger sowie die Flexion des Endgliedes des Dau-
niens erfolgt mit guter Kraft.
An der Dorsalseite des unteren Teils des rechten Unterarms ganz
leichte Abmagerung, in dem proximalen Teile des Daumenballens leichte,
aber sehr deutliche Atrophie.
Am Daumen und Zeigefinger. und der entsprechenden Handpartie bis
zwei Querfinger tlber dem Handgelenk ist an Volar- und Dorsalseite die
oberflacklicke Sensibilitat in alien Qualitaten vollkommen erloschen, ebenso
tiefe Sensibilitat. Faradische Erregbarkeit der Daumenballenmuskulatur
sehr stark herabgesetzt, die der langen Fingerstrecker und der langen
Daumenmuskulatur normal. Linke Hand intakt.
Im Laufe der nhchsten Wochen kam es zu deutlicher Atrophie des
Abductor poll, brevis.
Bei der Patientin besteht zweifellos eine funktionelle Erkrankung
neben einer organischen. Die erste Erkrankung im August war —
daflir spricht auch der rasche Verlauf — zum allergrossten Teile
funktioneller Natur, doch mogen sich auch hier die hjsterischen Sym-
ptome auf Grundlage einer ganz leichten Extensorenparese — die ja
auch ausserhalb der Berufsarbeit, vieleicht begiinstigt durch hausliche
Arbeiten, entstauden sein konnte — entwickelt haben. Von dem eben
beschriebenen Krankheitsbild sind zweifellos die Sensibilitatsstorungen
— dafiir spricht auf das deutlichste ihre Ausdehnung und Intensitiit
— funktioneller, ebenso zweifellos die motorischen Erscheinungen
organischer Natur, wobei nur noch neben bei bemerkt sei, dass ihr das
ahnliche Leiden ihrer Kollegin (vergl. folgende Krankengeschichte)
nicht nur unbekannt war, sondern sie vermbge ihrer Opticusatrophie
diese Veriinderungen nberhaupt nicht zu selien imstande war.
Die motorischen Stbrungen bestehen also in leichter Schwache
der Extensoren der Finger, ganz leichter Schwache der Extensoren des
Daumens; v ollstandiger Lahmung des Abductor poll, brevis,
des Opponens, des ausseren Biindels des Flexor poll, brevis,
Parese des Adductor poll, brevis.
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Zur Kasuistik dcr Bleilahmung.
269
Eleonore T., geb. 1872, verh.
Als ich Patientin im Marz 1906 das erste Mai sab, bot sie an dor
rochten Hand dieselben Erscheinungen wie jetzt (Dezember 1908). Sio
war damals seit 1897 bereits 13 mal wegen Bleivergiftung in Krankon-
stand gewesen. Sie hat seitdem noch 6 mal Bleivergiftung durcligeinacht,
dabei im Marz 1908 Symptome von Encephalopathia saturnina gezeigt.
Ubcr den Zeitpunkt der Entstehung der Atrophie am Daumenballen woiss
<io nichts anzugeben, obwohl sie durcli die Bewegungseinschrankung dos
Daurnens behindert wird. Sie zeigt starken Bleisaum, hochgradige Anamie,
starke Odeme an den Fflssen and Unterschenkeln, die Patellarreflexe sind
lobhaft, die Intelligenz ist sehr gering. Die linke Hand bietet normale
Verhaltnisse dar. Rechte Hand (1906 ebenso wie jetzt): Alle Bewe-
gungen im 2.—5. Finger sowie im Handgelonk frei and mit guter Kraft,
ausfilhrbar.
Rechter Daumen wird in Ruhelage in leichter Affenhandstellung ge-
lialten, die etwas ausgesprochener als bei der vorher erwahnten Patientin
ist. Abduktion des Daurnens vom Seitenrande des Zeigelingers in ver-
riugertem Umfange mOglich, doch spannen sich dabei die Sehnen des
Abductor poll, longus und Extensor brevis ziemlicb kraftig; wahrend dieser
Abduktion ist voile Streckung der Phalangen nicht moglich.
Der Metacarpus I kanu sowohl kraftig adduziert als auch in vollem
Umfange in die Hohlhand eingezogen werden, wobei eine Streckung der
Endphalange und die maximale Beugung der 1. Phalange mOglich. Es
kann so die Spitze des Daurnens — allerdings mehr mit ihrer RQckseite
— die Spitzen aller anderen Finger, wenn diese im Grundgelenk ge-
streckt, in den anderen Gelenken maximal gebeugt sind, erreichen. Un-
moglich ist die voile Abduktion des Daurnens von der inneren Haudflacbe
— sie kann nur in ganz gcringem Umfange geschehen — und ebenso die
Rotation des Daurnens urn seine eigene Achse. Die BerObrung der Spitze
des Daurnens und der Qbrigen Finger ist nur in der oben beschriebenen
Stellung mOglich.
In der dera Abductor poll, brevis entspreclienden Region des Daumen-
ballens ist eine starke Yertiefung sichtbar.
Die faradische Erregbarkeit des Abductor poll, brevis und die gal-
vauiscbe sind erloschen (1908); Patientin katte 1906 die Untersuchung ver-
w eigert. Sensiblitiitsstdrungen bestehen nicht. Es besteht bei Patientin
also neben einer ganz leichten Parese der langen Daurnens trecker
(Extensor poll, longus und brevis, Abductor poll, longus) cine vollstiin-
digeLahmung und Atrophie des Abductor poll, brevis.
Bei dieser letzteren Patientin wissen wir nicht, ob wir die Lahmung
relativ kurze Zeit nach ihrer Entstehung gesehen, oder ob wir es mit
den Resten einer fruher vielleicht etwas ausgebreiteteren Liihmung zu
tun haben. Patientin selbst weiss nur anzugeben, dass der Daumen
seit langerer Zeit bei der Arbeit nicht gut brauchbar sei. Ob zu Be-
ginn des Leidens eine leichte Parese der Fingerstrecker bestanden,
wissen wir nicht. Patientin vermag nichts Derartiges anzugeben, aber
bei der geringen Intelligenz derselben ware es gar nicht venvunderlich,
wenn ihr eine leichte Streckerparese nicht zum Bewusstsein gekommen
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ware, da solcbe auch, bei weit intelligenteren Personen oftmals gar
nicht zum Bewusstsein kommen. Eine starkere Parese aber, auch nur
eine Andeutung von wrist drop ware auch unserer Patientin gewiss
nicht entgangen. Wenn wir es bei dieser Patientin auch vielleieht
mit einera Residuum alterer Labmung zu tun haben, so kann auch
die frische Lahmung das MaB der bei unserem 1. Falle beobachtetcu
kaum wesentlich Oberschritteu haben.
Es bestehen also bei beiden Arbeiterinnen, die beide seit vielen
Jahren dieselbe Arbeit verrichten, beide an schwerer chronischer Blei-
vergiftung leiden, ganz ahnliche, von alien bisher beobachteten Blei-
vergiftungen in ihrer Lokalisation vollkommen verschiedene Lahmungs-
erscheinungen. Ergriffen ist in beiden Fallen in erster Linie
der rechtsseitige Abductor poll, brevis (Nerv. median.), der
vollkommen gelahmt und atropisch ist, ferner — aber nur in
ganz geringem MaBe — die langen Strecker und der lange Abduktor des
rechten Daumens (Nerv. radial.). In dem einen Fall sind ausserdem
samtliche Daumenballenrauskeln und der vom Nerv. ulnaris
versorgte Adduktor hochgradig, in ganz geringem Grade
die Finger- und Handstrecker betroffen.
Unmittelbar vor, resp. bereits nach Abschluss dieser Arbeit kamen
noch zwei Falle von Bleilahmung unter Putzerinnen zu unserer Be-
obachtung, die wir — obwohl wir ja aus technischen Grunden uus
im allgemeinen auf die vor 1.1. 1909 in unsere Beobachtung gelangteu
Falle beschranken mGssen — doch der Vollstandigkeit halber anfQhreu
miissen.
I. S. 41 Jalire alt, verb. Seit 1901 Putzerin in der Flaschenkapsel-
fabrik, ist sie nach 14monatlicher Arbeit das erste Mai an Bleivergiftung
erkrankt. Seitdem 16 mal mit Bleivergiftung im Krankenstand gewesen.
Beim vorletzten Mal (Juli 1908) war der Hfindedruck rechts schwftcher
als links, ebenso die Beugung im Ellbogengelenk. Dorsalflexion der Hand
b»‘i gestreckten Fingern im vollen Umtange moglich, mit nur unbedeutend
geringerer Kraft als liuks.
Als sie nach 15 wochentlicher Bleiarbeit am 4. II. 1909 wieder mit
alien Zcichen der Bleivergiftung in meine Bebandlung kam, klagte sie fiber
Sehmerzen im rechten Dauinenballen. Der rechte Daumen kann nicht fiber
die Fliicbe des Handriickens geboben, nicht voll extendiert werden. Oppo¬
sition < i in wenig ersclnvert.
Sie klagte dann — nacbdem die Erscheinung von seite des Verdau-
ungstraktcs verscbwunden —, dass der rechte Daumen immer schwiicher
werde.
Befund am 18. 111. 19i>9. Ilechte Hand: Dorsalflexion in vollem Urn-
fang auch bei gestreckten Fingern moglich. aber mit verringerter Kraft.
Faustschluss mit verringerter Kraft. Extension und Abduktion des Dau¬
mens in vollem Urnfang. aber die letztere mit verringerter Kraft. Die
Opposition lies Daumens. besonders aber die Adduktion mit nur sehr ge-
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Zur Kasuistik der Bleilahimmg.
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ringer Kraft (aber in vollem Umfange) mSglich. Es besteht eine leichte,
aber deutlicbe Atrophie in der Gegend des Adductor poll.
Faradiscke Erregbarkeit der Strecker sowie der Oppositionsmuskeln
erlialten, die des Adductor poll, stark herabgesetzt (in Yergleich mit links).
Angaben Qber die Schmerzempfiudlichkeit schwankend, meist beiderseits
gleich, manchmal an der rechten Kflrperhiilfte weniger empfunden als links.
Linke Hand intakt.
Bcfund vora 8. Mai 1909. Rechter Daumen: Extension mit ganz wenig
verringerter Kraft; vielleicht dass die zur Opposition notwendige Drehung
nicht ganz vollstandig ausgefQhrt. werden kann. Adduktion moglich, aber
mit sehr verringerter, ganz minimaler Kraft, Adductor poll, atrophisch.
Alle anderen Hand- uud Fingerbewegungen vollkoinmen intakt, keine Sen-
sibilitatsstdrungen. Faradiscbe Erregbarkeit des Adduct, poll, herabgesetzt.
F. T. 20 Jahre, ledig.
War von Mftrz bis Juli 1907 Putzerin in der Flaschenkapselfabrik,
ohne zu erkranken. Seit 10. III. 1908 wieder mit dieser Arbeit besch&ftigt,
kam sie am 13. V. 1908 mit Saturnismus in meine Behandlung, sie war
damals im 6. Mount gravid. Am 23. VI. erfolgte eine FrQhgeburt, das
Kind starb nach einigen Wochen an Lebensschw&che.
Mitte August — 9. X. wieder in Putzerei gearbeitet. 9. X.—7. XI.,
dann 21. XI.—26. XII. 1908 mit Bleivergiftung im Krankenstand, dann —
ebenso wie die frQheren Male trotz dringenden Abratens — wieder in
I’utzerei, kommt 10. II. 1909 wieder in Krankenstand in sehr elendem Zu-
stande, furchtbar herabgekommen und abgemagert, mit Apicitis dextra und
alien Erscheinungen schwerer Bleivergiftung.
Seit Mitte Mftrz klagt sie Qber Schmerzen in Armen und Beinen, am
25. III. Qber Bewegungsbehinderung der HQnde.
Befund vom 17. IV. 1909. Rechts: Vollstandige Lahmung der langen
Hand- und Fingerstrecker. Daumen: Abduktion des Metacarpus I radial-
warts fast in vollem Umfange, aber mit geringer Kraft moglich. Exten¬
sion der Phalangen nur ganz wenig moglich. Jede Oppositionsbewegung
(sowohl Abduktion von Handflache als auch Rotation) ganz unmoglich. Ad¬
duktion mit minimaler Kraft moglich. Starke Atrophie der langen Hand-
strecker. Atrophie der Daumenballenmuskulatur und des Adductor poll.
Links: Vollstandige Lahmung der Fingerstrecker, Parese der lland-
strecker. Daumen: Streckung nicht vollstandig. Opposition mit sehr ge¬
ringer Kraft, alle anderen Bewegungen mit einer der schlechten Gesamt-
muskulatur entsprechenden geringen Kraft moglich.
Faradische Erregbarkeit: Beiderseits lange Strecker und Daumenstrecker
stark herabgesetzt. Daumenballenmuskulatur rechts erloschen.
Galvanische Erregbarkeit intakt.
Der Fall I. S. weicht von den beiden ersterwahnten Fallen inso-
fern ab, als, nachdem eine leichte Schwache der Fingerstrecker rasch
vorubergegangen ist, nunvor allem der Adductor poll, ergriffen
ist, daneben eine leichte Schwache der Daumenstrecker und vielleicht
auch der Oppositionsmuskeln des Dauraens besteht.
Wir wollen uns zuniichst mit den das eigentiimliche Bild am
scharfsten zeigenden 2 ersten Fallen beschiiftigen.
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. 37 . B<1. 18
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Die Lokalisation der Lahmung in diesen Fallen, die sich ja von der
sonst bei Beteiligung der kleinen Handmuskeln(Type Aran-Duckenne
nach Dejerine-Klumpke) beobachteten wesentlich unterscheidet, die
auch wesentlich anders ist als die als Beschaftigungsneuro.se be-
schriebene progressive Muskelatrophie bei Goldpoliererinnen (Gessler,
Medizinisches Korrespondenzblatt des wiirttembergischen arztlichen
Landesvereins, 1896, S. 281) und der Platterinnen (Remak, in Eulen-
burgs Realenzyklopadie) wird uns dann verstandlicb, wenn wir die
Art der Arbeit dieser Frauen und die Anstrengung, die die verschie-
denen Muskelgruppen dabei zu machen haben, betrachten.
Der Vorgang beira sogen. „Putzen“ ist folgender: Die Flaschenkapseln
werden einzelu auf eine in rascher Rotation um ihre eigene Achse befind-
liche Spindel aufgesetzt. Durck zweckentsprechendes Andrttcken eines mit
Spiritus befeuchteten und mit Kreide bcstreuten Rutzlappens an die Ober-
fliicbe der Kapsel hat die Arbeiterin diese Kapseln blank zu putzen, wo-
bei die ganz dhnne Schicht von Zinn, die das Bleiblech bedeckt, rissig
wird, Blei zutage tritt und zum Teil auch abgerieben wird, wodurch eben
der Anlass zur Entstehung der Bleivergiftung gegeben ist
Bei dieser Arbeit nimmt die rechte Hand der Arbeiterin nach einauder
die folgenden, aus den Pbotographien ersichtlichen Handstellungen ein
(Fig. 7—10). Bemerkt sei nur noch, dass wir die Bilder niclit an Ort
und Stelle aufnehmen konnten, und dass wir deshalb gezwungen waren,
die sich drehende Spindel samt Kapsel durch einen ruhig gehaltenen Stab
zu ersetzen.
Nur bei Stellung 1 erscheint die Hand dorsal, bei Stellung 2 und 3
volar flektiert, bei Stellung 4 in ruhiger Mittellage. Aber auch bei Stel¬
lung 1 ist die aktive Tatigkeit der Strecker — wenn tlberhaupt vorhanden
— eine nur sehr geriuge, denn die Dorsalflektion wird erzeugt durch
Stemmung des Spindelendes gegen das distale Elide des Metacarpus 2 bei
stiirkerer Anniikerung des Armes. Die eigentliche Arbeit verrichten auch
bier die Oppositionsmuskeln des Daumens und die Flexoren des 2. und 3.
Fingers. Dieselben Muskeln sind auch bei Stellung 2, 3, 4 die am moisten
angcstrengten. Nebcn den Oppositionsmuskeln ist auch der Adductor poll,
in Tiitigkeit, besonders bei Stellung 3 fallt ikm eine starkere Anstrengung
zu, aber auch bei Stellung 1 und 2 wird es wohl von geringen subjektiven
Abweiehungen in der Handhaltung abhangen, wie weit und ob eventuell
mehr als die Oppositionsmuskeln der Adduktor angestrengt wird (vergl.
Ahnliehes bei der Handhaltung der Feilenhauer). NatQrlich wird es sich
nacli eingetretener Parese niemals feststellen lassen, wie weit frtlher bei
den Manipulationen von deni betretfenden Individuum der Opposition Oder
Adduktion der Vorzug gegeben wurde.
Nur bei der mit ziemlieher Kraft ausgeftihrten Arbeit bei Stellung 4
spielen wenigstens beim Aufsetzen ties Daumens, weniger beim Herabgleiten-
lassen tlesselben von oben nach unten die langen Daumenmuskeln der
Streekseite eine gewisse Rolle. Was aber vielleicht das Allerwichtigste ist:
Samtliclie Bewegungen ini Sinne der Beugung und der Opposition (mit
Ausnalime Stellung 4) werden mit ziemlieher Kraft, aber oline feine
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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 273
Abstufung derselben ausgefllhrt, denn da sie stets gegen eine feste
Unterlage erfolgen, so ist eine genauere Dosierung der anzuwenden-
den Kraft unndtig, es ist deshalb die Mitarbeit und Anstrengung der
entgegenwirkenden Muskeln, der Strecker, auf ein sehr geringes Mali ein-
geschrankt.
Fig. 7.
•
i m
i
W*
J
Fig. 8.
Fig. 9. Fig. 10.
Die eingetretene Liihmung stimmt bei unseren 2 ersterwiihnten
Fallen mit dieser Arbeitsanstrengung aufs genaueste iiberein: Die
Oppositionsmuskeln des Daumens, diejenigen, die die meiste Arbeit zu
verrichten haben (Fig. 7, 8, 10), sind die am starksten erkrankten. Die
Flexoren der Finger sind ja an sich sehr kriiftig und starker An¬
strengung gewachsen. Von den Extensoren sind die am meisten ange-
strengt gewesenen des Daumens etwas — wenn auch nur ein wenig
—, die ubrigen nur ganz wenig ergrift'en. Auch der dritte unserer
Falle lasst sich vollkommen gut erklaren, wenn wir annehmen, dass es
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XIV. Teleky
sich um ein Individuum handelt, bei dem in Stellung 1 u. 2 die Ad-
duktion besonders in Anspruch genommen wurde,
Nach den Abbildungen konnte man vielleicht glauben, dass bei
der Entstehung der Lahmung der Druckwirkung eine gewisse Rolle
zukomme. Bei genauerer Betrachtung siebt man aber, dass gerade
auf die untere Gegend des Daumenballens nur geringer Druck aus-
geubt wird. Noch deutlicher kann man bei den zwei ersterwahnten
Fallen die Druckwirkung ausschliessen, wenn man die Schwielenbildung
an den Handen der Arbeiterinnen betrachtei Stets ist der ganze Daumen
ballen frei von jeder Schwielenbildung, wahrend die radiale Seite des
Zeigefingers, die Innenflache des 1. Interdigitalraumes und der Hand-
teller starke Schwielenbildung zeigen. Bei dem 3. Falle nur konnte
auch dem Druck vielleicht eine gewisse Wirkung zukommen. Dass
es sich aber nicht um Atrophie infolge von Druck, sondem um Blei-
lahmung handelt, beweist wohl aufs deutlichste die Mitbeteiligung
der Extensoren.
Die erwahnte, nur so ganz geringe Inanspruchnahme der Strecker
erklart es wohl iibrigens auch, warum unter den so vielen Fallen
schwerer chronischer Bleivergiftung, die ich unter diesen — oft schon
ehe sie dem Saturnismus verfallen — schlecht genahrten und blutarmen
Arbeiterinnen gesehen, sich nur ein einziger Fall findet, der eine aus-
gesprochene Extensorenlahmung zeigt. Diesen Fall, der 4. der oben
erwahnten Falle, zeigt aber neben der Extensorenlahmung aufs scharfste
ausgesprochen die bei Fall 1 und 2 als charakteristisch beschriebene
Lahmung der Oppositionsmuskeln des r. Daumens.
Der Vollst&ndigkeit wegen sei hier noch der folgende Fall erwlihnt, obwolil
ich nicht glaube, dass es sich hier um eine Bleivergiftung gehandelt habe.
Gegen die Auffassung des Falles als Bleivergiftung spricht der Umstand,
dass die Frau, die sp&ter als „Putzerin“ gearbeitet hat und, als sie in
Beobachtung gelangte, bleikrank war, den Beginn ibres Leidens in eine
Zeit zurtlckverlegt, wo sie nur wenig mit Blei zu tun hatte, und in einem
Teil der Flaschenkapselfabrik gearbeitet hatte, aus dem niemals eine Blei¬
vergiftung zu meiner Kenntnis gelangt war, sowie die Form der Lahmung,
die mit keinem der gewohnlichen Typen auch nur die entfernteste Ahnlich-
keit hat.
Marie S. kam am 18. IV. 1906 in meine Behandlung mit alien Zeichen
von Saturnismus; als sie am 29. August abermals zu mir kam, nachdem
sie vom 25. IV.—25. VII. mit Bleikolik im Spital gelegen hatte, fiel mir
ihre merkwftrdige Korperhaltung auf und bei genauerer Untersuchuug
konnte ich feststellen: Lahmung des Musculus serratus anticus (Hebung des
Oberarms flber die Ilorizontale unnidglich, Htlgelformig abstehende Schulter-
bliitter), beiderseits Parese und Atrophie (besonders links) der Beugemus-
keln am Oberarm — hingegen Deltoides und Scbultermuskeln kr&ftig —,
kein Bleisaum, Hand- und Fingermuskeln frei. liber den Zeitpunkt des
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
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Beginns des Leidens weiss sie nor anzugeben, dass sie vor 4 Jahren, als
sie mit Blei nur wenig zu tun hatte, hingegen schwere Lasten zu tragen
hatte, eine SchwSche der Arme bemerkt habe and diese nicht flber die
Horizontale heben konnte. Als sie im Februar 1907 auf die Abteilung
des Professor Sternberg aufgenommen wurde — sie hatte im Dezembcr
wieder Bleivergiftung gehabt —, wurde, wie mir Professor Sternberg in
liebenswQrdigster Weise mitteilt, ausser dem Erwiihnten noch konstatiert:
Musculus trapezius und Pectoralis major beiderseits, rechts mehr als links,
atrophisch, Fossae supra- und infraspinata scharf ausgepr>, Scapulae weit
auseinander stehend. Atrophie der Musculi interossei.
Auffallende Verhaltnisse in Bezug auf BeteillgMlg ein-
zelner Finger an der BleiULhmung zeigen die folgenden Falle.
Wir haben oben darauf hingewiesen, dass bei gesunder Hand —
bei moglichster Entspannung der Strecker und Einwirkung der Schwere
auf die gebeugten Finger — der 2. Finger am wenigsten, der 5.
Finger am meisten in Beugestellung kommt. An der rechten
Hand wird bei den Anstreichern — bei eingetretener Streckerlahmung
— meist diese Reihenfolge in der Starke der Beugung ein-
gehalten; bei den Anstreichern bleibt nur in einzelnen Fallen bei der
Lahmung der rechten, in der Halfte der Falle bei der Lahmung der
linken Hand der 5. Finger mehr oder weniger verschont. Bei alien
unseren Fallen war der 3. und 4. Finger an der Lahmung beteiligt 1 );
nur in dem folgenden Falle sahen wir eine isolierte Parese
des 4. u. 5. Fingers.
Josef H., 36 Jahre alt, verh., Schlossergebilfe.
Patient arbeitete vom 12. VII.—30. X. 1906 bei einem BrQckenbau,
bei dem er mit frisch minisierten Eisenbestandteilen gearbeitet und aucli
selbst die Minisierung ausgebessert hatte. Die Arbeit bestand meist in
Hiimmern mit einem IV 2 kg schweren Hammer, dabei war er viel der
Kiilte und Nftsse ausgesetzt. Irgend welche Vorsicht beim Umgang mit
Minium und minisierten Eisenteilen hat Patient nicht befolgt. Seit lftngerer
Zeit hat er eine Verletzungsnarbe am rechten Mittelfinger, die
ihn zwingt, diesen Finger bei der Arbeit zu schonen und den
Hammergriff nur mit dem 2., 4. und 5. Finger zu halten. Als er am
28. X. bei grosser Kiilte arbeitete, bemerkte er, dass er den rechten kleinen
Finger nicht ganz ausstrecken konne; 2 Tage spider stellte sich dasselbe
am 4. Finger ein.
Patient hat bis vor 4 Jahren tiiglich 2 V 2 —3 Liter Bier getrunken,
in den letzten Jahren angeblich weniger, jetzt tiiglich 1 Liter Most.
Patient, ein sehr grosser, sehr muskuldser und kraftiger Mann, zeigt
am 31. X. 1906 starken Bleisaum, geringgradige Aniimie.
Rechte Hand: DorsalHexion im Ilandgelenk kriiftig, aber betriichtlicli
1) Nur bei dem weiter unten enviilmten, von B. Mauthner publizierten
Falle scheint die Lahmung der Finger einem auderen Typus gefolgt zu sein, der
wesentlich von dem sonst beobachteten abweieht.
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XIV. Teleky
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schwhcher als links. Bei Streckung des Handgelenks kdnnen 4. und 5.
Finger nicht geslreckt werden, sondern bleiben in leichter Beugung, die
sich bei Dorsalflexion im Handgelenk steigert. Am Endglied des 8. Fingers
eine von der Fingerkuppe im Bogen gegen das 2. Interphalangealgelenk
sich ziehende tiefe, hartliche Narbe.
Faradische Erregbarkeit des Extensor digit, communis an 3., 4. und 5.
Finger stark kerabgesetzt, ebenso die des Extensor digiti V. proprius; gal-
vanische Erregbarkeit intakt.
Am 8. XII. 1906 wurde Patient aus der Behandlung entlassen. Bei
maximaler Dorsalflexion im Handgelenk blieben der 4. und 5. Finger nur
ganz weuig gebeugt.
Vielleicht hat iu diesem Falle neben dem Blei auch die Kalte und
der Alkohol etwas zur Entstehung der Lahmung beigetragen. Auf-
fallend ist es, dass nicht auch der Zeigefinger an der Lahmung be-
teiligt war. Doch erklart sich dies wohl ungezwungen dadurch, dass
der 2. Finger uberhaupt resistenter gegen die Schadigungen des Giftes
und der Funktion ist.
Konnen wir auch nicht mit vollster Sicherheit ausschliessen, dass
es sich in diesem Falle um eiue am 5. Finger beginnende Lahmung
samtlicher Fingerstrecker gehandelt hat, die bei weiterem Verlaufe
das Bild der gewohnlichen Lahmung der Fingerstrecker dargeboten
hatte — daflir scheint das Erloschensein der faradischen Erregbarkeit
bei der den 3. Finger versorgenden Portion des Extensor communis zu
sprechen — so ist doch andererseits zu bedenken, dass gerade der 3.
Finger infolge der Narbe an seiner Spitze besonders geschont wurde,
und dass dieser Umstand vielleicht dazu gefuhrt hat, dass der 3. Finger
noch vollkommen gestreckt werden konnte, wahrend 4. u. 5. Finger
bereits erkrankt waren.
In der Literatur flndct sicli ein iihnlicher Fall von isolierter Blei-
lahniung des 4. und 5. Fingers: Manouvrier (Recherches cliniques sur
l’intoxication saturnine locale et directe par absorption cutanee. Paris
1874), der anninunt, es gebe eine „Intoxication saturnine locale et directe,
par absorption cutanee, atteignant les parties imm6diatement en contact
avec le plomb“, die sich durch ncuralgischc Schmerzen, Sensibilithtsstdrun-
gen, Lalimungen usw. iiusscrt, berichtet in etwas unklarer Weise Qber
einen Mann, der Bleikapseln auf Apothekerflaschen aufzusetzen hatte. Mit
dcin 4. und 5. Finger sowie mit dem ulnaren Teile der Vola manus drtlckte
er die Kapseln um den Hals der Flasche zusammen. Er zeigte an diesen
Handpartien Sensibilitiitsstdrungen und eine Parese, scheinbar Extensoren-
parese des 4. u. 5. Fingers.
Am 21. VIII. 1908 kam der Schriftgiesser F. B., 36 Jahre alt, in
meine Behandlung.
Er gab an, von Mai bis Jnli dieses Jahres an Bleilithmung gelitten
zu liaben, und bot folgenden Bet und: Feiner Bleisaum, Anamie, reichlich
Albumen im Urin.
Reclite Hand: Dorsalflexion bei Faustschluss bei ziemlich verringerter
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
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Kraft. Fingerstreckung nur bei um zirka 10° unter die Horizontale ge-
beugtem Handgelenk mttglich, bei weiterer Streckung bleibt am meisten
der 2. Finger zurflck.
Daumen: Extension des letzten Gliedes und Hebung ttber das Niveau
des Handrtickens unmbglich. Adduktion mit geringerer Kraft, Opposition frei.
Linke Hand intakt.
Auffallend ist an diesemFall die starke Beteiligung des
2. Fingers so wie die Schwache der Adduktion des Daumens.
Patient war als „Fertigmacher" beschaftigt. Als solcher hat er die
bereits fertiggestellten Lettern auf die von der Druckerei gewiinschte
Hohe zu bringen. Sie werden zu diesem Behufe eng aneinander
zwischen mehrere eine Art Etui bildende Latten gelegt, durch Darfiber-
fahren mit einem Holz und dann mit einer kleinen Schieferplatte so-
wohl fiber die Seiten als auch ttber die Unterflache in die gleiche
Lage und zu festem Aufruhen auf der Uuterlage gebracht; dann werden
mittelst eines eigenartigen Hobels die unteren Enden abgehobelt Bei
all diesen Verrichtungen werden die Finger natttrlich in der mannig-
fachsten Weise angestrengt; bei dem Gleichrichten und Anpressen
der Lettern wird der Zeigefinger besonders angestrengt. Die erwahnte
Schieferplatte wird sehrag auf die blossliegende Grundflache der in
langer Reihe fest zwischen die erwahnten Latten eingepressten Lettern
aufgesetzt und mit starkerem Druck fiber diese Flaclie hingeffibrt; das
Schieferplattchen wird dabei zwischen dem Daumen und Zeigefinger
und Mittelfinger beider Hande gehalten und mit starkem Druck gegen
den Korper des Arbeitenden gezogen. Dabei wird nun, wie eine Be-
sichtigung der Verrichtung ergibt, besonders der 2. Finger angestrengt.
Vielleicht dass auf diesen Umstand, auf diese Verrichtung das be-
sondere Ergriffensein des Zeigefingers zurttckzuffihren ist.
Uber einen Fall mit ganz merkwttrdiger Mitbeteiligung des 2. Fingers
wird weiter unten (S. 288) berichtet werden.
Hier wollen wir zwei Falle mit auffallender Mitbeteiligung
des Daumens folgen lassen.
Der Glasergehilfe I. S., 28 Jahre alt, arbcitet vorwiegend Frtihbeet-
fenster fdr Kfichengilrtner; bei diesen Fenstern werden die einzelnen
Scheiben durch Bleiumfassung mit einander verbunden (ahnlich wie bei den
sogenannten altdeutschen Fenstern). Dezember 1901 und Februar 1902
war er an Bleivergiftung erkrankt. Bei der zweiten Erkrankung sptlrte
er eine Schwache der rechten Hand, besonders des Daumens und Zeige¬
fingers, die er bei seiner Arbeit besonders benOtigt. Juli 1903, Februar
1904 Bleikolik ohne Lahmungserscheinungen. September 1904 Lithmung
an der rechten Hand; bis Juni 1905 hatte er eine andere Beschiiftigung;
Oktober 1905 abermals Bleikolik; November 1905 bis Juni 1906 war er
anderwarts tatig, seitdem wieder als Bleiglaser gearbeitet. Der Daumen
rechts war seit 1904 nie ganz gut geworden. Im September 1906 traten
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wieder neue Erscheinungen der Lahmung an der rechten Hand aaf, nnd
zwar konnte zuerst der 5. Finger, zum Sclduss der 2. Finger nicht mehr
gestreckt werden. Die linke Hand begann spater zu erkranken und zwar
am Daumen. Am 14. XI. 1906 sah ich den Patienten zum ersten Mai.
.Befund am 14. XI. 1906.
Rechte Hand: Dorsalflexion bei Faustschluss mit verringerter Kraft
mdglich. Streckung der Finger auch bei maximal gebeugtem Handgelenk
unmdglich, am meisten noch kann der 2. Finger gestreckt werden.
Daumen: Abduktion vom radialen Rande des Metacarpus II in vollem
Umfange, jedoch mit nur geringer Kraft mdglich. Streckung im Metacar-
pophalangealgelenk nicbt ganz mdglich. Adduktion und Opposition (Ab-
spireizung von Handflache) unmdglich.
Fingerstrecker atrophisch; Muskeln des 1. Zwischenknochenraumes
atrophisch, Thenarmuskulatur atrophisch, speziell der Abductor poll, brevis.
Linke Hand: Dorsalflexion wie rechts, Streckung der Finger etwas
besser mdglich als rechts.
Daumen: Abduktion wie rechts; im Metacarpophalangealgelenk, das
aber immer stark winkelig gebeugt gehalten wird, Streckung unmdglich.
Opposition und Adduktion wenig behindert (fehlen genauere Angaben).
Faradische Erregbarkeit an den langen Streckern mit Ausnahme des Ab¬
ductor poll, longus beiderseits erloschen.
Patient war bis Mitte Januar in Krankenstand. Am 3. I. 1907 zeigte er
eine erheblicke Streckerlahmung beiderseits; der rechte Daumen konnte radial-
warts mit ziemlicher Kraft abduziert, gut adduziert werden. Opposition war
unmdglich. Am linken Daumen war Opposition und Adduktion gut moglich.
Patient blieb damals aus der Behandlung aus, arbeitete wieder als
Glaser — nicht als Bleiglaser —, jedoch mit dem geringe Mengen Minium
enthaltenen Kitt und in einer Werkstatt, in der altes Blei sortiert und
umgeschmolzen wurde.
Am 17. April kam er wieder mit Andeutung von Bleisaum in meine
Behandlung, die Streckerlahmung war starker ausgesprochen, am rechten
Daumen Abduktion (radialwarts) nicht in vollem Umfang und nur mit ge¬
ringer Kraft moglich, Adduktion nur mit sehr geringer Kraft. Sonst war
der Zustand unverdndert.
Bis Mitte Juli war Patient in Krankenstand. Die Extensorenlahmung
beiderseits besserte sich. Rechter Daumen konnte in vollem Umfange mit
ziemlicher Kraft radialw&rts abduzirt, das Metacarpophalangealgelenk nicht
voll gestreckt werden. Die zur Opposition notwendige Abspreizung war
unmdglich, Adduktion moglich. Auch am linken Daumen war Streckung
des Metacarpophalangealgelenkes nicht mdglich, die Abduktion des Meta¬
carpus radialwarts nur in geringem Umfange, die Hebung in das Niveau
des Haudrtickens unmdglich, Adduktion mit geringer Kraft mdglich; Oppo¬
sition nicht ganz und nur mit geringer Kraft mdglich.
Was an diesem Falle auffiillt, ist die von Anfang an bestehende
(vielleicht als Rest der ersten Lahmung ubrig gebliebene) starke Be-
teiligung des rechten Daumens, die sich nicht nur auf die langen
Strecker, sondern auch auf die Daumenballenmuskelu und die Musku-
latur des 1. Zwischenknochenraumes erstreckte, und der spater eine
iihnliche Lahmung des linken Daumens folgte. Beteiligt waren
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Zur Kasuistik der Bleilahmuug.
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am rechten Daumen die langen Strecker, die die Opposition bewirkenden
Muskeln, vor allem der Abductor poll, brevis, weniger — weil seine
Funktion sich rascher wieder herstellte — der Adduktor. Am linken
Daumen eutwickelte sich sehr spat ebenfalls eine Parese des Abductor
poll, brevis.
Diese Lokalisation der Lahmung findet ihre Erklarung in der Arbeits-
verricbtung der Glaser. Beim Bleiglaser ist der Daumen sowohl beim
Aufbiegen der Bleileisten als aiich bei der Arbeit mit dem Lotkolben
stark angestrengt. — Bei gewohnlicher Glaserarbeit hat der Daumen
— beim Aufbiegen und Niederdrlicken des „Kittes“ — die Hauptarbeit
zu verrichten.
Mitte November 1907 kam W. S., 34 Jahre alt, Schuhmacher-
gehilfe, in meine Behandlung.
Er hatte seit 15 Jahren als „SchuhbQgler“ gearbeitct. Als solcher
hat er die fertigen Schulie mit einem erwarmten, ca. 35 kdg schweren
„Amboss“ zu bQgeln. In den letzten 2
Jahren hat cr neben einer grossen
Anzahl von schwarzen und dunkeln
Schuhen wOchentlick 4—5 Dutzend
weisse Halbschuhe (manchmal aucli
1—2 Dutzend Salonschuhe) zu bQgeln.
Nach dem BQgeln nimmt er Kremser-
weiss, das er in ein Schalchen, in
dem sich Benzin befindet, schQttet,
taucht ein Tuch in diese Mischung und
reibt den Schuh damit ein, dann macht
er dieselbe Prozedur mit Talcum
venetianum; nach seiner Angabe macht
Kremserweiss die Schuhe reinweiss,
Venetianerweiss macht sie glatt (vgl.
meine Publikation dieses Falles in
der Wochenschrift fQr soziale Medi-
zin, 2. IV. 1908).
Er gab an, vor 8 Wochen Kolik
gehabt und neuerlich vor 3 Wochen
Schmerzen im Bauche gehabt zu liaben,
die jetzt besser seien, doch leide
er an leichter Obstipation; vor einer
Woche habe eine Unsickerheit in der
rechten Hand begonnen, seit 4 Tagen
kflnne er schlecht gehen und habe Schmerzen in den Obersckenkeln.
Der Befund am 18. XI. 1907 war folgender:
Rechte Hand: Bei Faustschluss Dorsalttexion der Hand in vollem
Umfange, aber mit stark verringerter Kraft. Streckuug des 3. —5. Fingers
auch bei vollkommener Beugung im Handgelenk nicht mOglich, 5. Finger
bleibt am weitesten zurQck, 2. Finger bei leichter Beugung im Handge¬
lenk ganz ausstreckbar.
Fig. 11.
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XIV. Teleky
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Daumen in Ruhelage in leichter Opposition und in die Hand einge-
zogen. Adduktion an Vola manus nicht mOglich, Extension nicht im vollen
Umfange; Hebung in die HOhe des Handrflckens nicht moglich, Oppo¬
sition frei.
Linke Hand: Dorsalflektion wie rechts, aber kraftiger. Streckung der
Finger nur bei gestrecktem Handgelenk (nicht bei dorsal flektiertem moglich.
Daumen: Hebung aber die Flftche des Handrttckens nicht mbglich.
sonst normal.
Gang spastisch-paretisch, P.-S.-R. und Achillessehnenreflexe hochgradig
gesteigert Oberschenkelmuskulatur stark druckempfindlich.
Auffallend ist au diesem Krankheitsbilde die Lahmung der Ad¬
duktion des rechten Daumens, die Mitbeteiligung der Exten¬
sor endesselben (bei fast vollkommenemFreibleiben des linken
Daumens), sowie die starke Mitbeteiligung der unteren Extre-
mitaten. Besonders die letztere war uns bei einem Scbuster — der
ja stets sitzend arbeitet — ganz unerklarlicb, bis uns anlasslich der
photographischen Aufnabme seiner Arbeitsstellung die Erklarung auch
hierfiir wurde. Der Patient hatte in der let.zten Zeit mehr Halbschuhe
als Stiefletten gebiigelt und dabei die auf dem Bilde (Fig. 11) darge-
stellte Stellung eingenommen, die uns das oben beschriebene Krank-
beitsbild nach jeder Richtung hin erklart, die uns begreiflicb ruacht,
warum bei Freibleiben des linken Daumens der rechte Daumen, und
warum bei diesem gerade der Adduktor erkrankte, und waruin auch
die Beine in starkem Grade in Mitleidenschaft gezogen waren. uber
die Bedeutung dieser letzteren Erscheinung vergl. S. 285.
Anstreicber, Feilenbauer, Poliererinnen baben fast stets nur eine
und dieselbe Gruppe von zusammengehorigen Bewegungen zu machen;
kommt daneben auch eine andere Bewegung vor (Spachteln bei An-
streichern), so tritt sie gegenuber den vorwiegend ausgeiibten ganz in
den Hintergrund. Auch bei dem Schuhbugler, bei dem beim Bruckenbau
beschiiftigteu Schlosser, dem Glaser liess sich eine Arbeitsverrichtung
(Biigeln von Halbschuhen, Hammern usw.) ausfindig macben,mit der der
Arbeiter den grossten Teil des Tages beschaftigt ist. Die bei dieser Arbeits¬
verrichtung notwendige Anstrengung erklart die Lokalisation der Lah-
muug. Ganz anders aber liegen die Verhaltnisse in jenen Berufen,
bei denen der Arbeiter eine grosse Anzalil der verschiedensten Hand-
griffe auszufiihren hat, und bei denen keiner an Haufigkeit Oder Muskel-
anstrengung die iibrigen so sehr iiberragt, dass man imstande ware,
ibn als den fur den betreffenden Arbeiter charakteristischen HandgrifF
anzusehen. In solchen Fallen wird es dann kaum moglich sein, mit
Sicberheit eine Erklarung fur die Lokalisation der Lahmung zu geben.
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
281
Der Schlossergehilfe L. A., 27 Jahre alt, der in einer Masckinenfabrik
bescbaftigt war, kam, nachdem er eine Reihe von Koliken, zuletzt auch
Encephalopathia saturnina durchgemacht hatte, im Februar 1907 in raeine
Bebandlung; die Entstehungsursache seiner Vergiftung — den Gebrauch
von Miniumpaste — babe ich in der Wochenschrift fflr soziale Medizin,
2. IV. 1908 ausftthrlich publiziert. Hier ist nur das klinische Bild, das
er darbot, von Interesse. Er ist Linksh&nder, nieist haramert und
schraubt er mit der linken, feilt mit der rechten Hand.
Er war am 13. XII. 1906 erkrankt, kam erst am 21. II. 1907 in
meine Bebandlung. Zeigte Bleisaum, Andmie, Albumen.
Rechte Hand: Bei Faustschluss Dorsalflexion in vollem Umfange,
al>er mit verringerter Kraft. Fingerstreckung nur mbglich, wenn die Hand
ea. 20° nnter die Horizontale gebeugt ist, 4. Finger bleibt am meisten
zurtick.
Daumen: Abduktion (radialwarts) und Extension nur in geringem
Umfange moglich; Adduktion nur mit sehr geringer Kraft. Opposition und
Beuguug frei. In Ruhelage Daumen etwas vom Handteller abduziert, leickt
opponiert, im Metacarpophalangealgelenk gebeugt.
Strecker atrophisch. Interosseus I ziemlich atrophisch, auch andere
Interossei vielleicht etwas atrophisch. Adductor poll, atrophisch, Daumen-
und Kleinfingerballen etwas schlaffer. Am HandrQcken kleine Anschwellung
(Gublersche Verdickung).
Linke Hand: Bei Faustschluss Dorsalflexion nicht in vollem Um¬
fange und mit ebenso geringer Kraft wie rechts moglich. Fingerstreckung
auch bei maximal gebeugtem Handgelenk nicht mOglich, am meisten bleibt
5., am wenigsten 2. Finger gebeugt. Strecker atrophisch.
Daumen: Abduktion (radialwhrts) in sehr geringem Umfange und
mit sehr geringer Kraft mOglich. Opposition nicht vollkommen und mit
sehr geringer Kraft moglich. Adduktion mit sehr guter Kraft. Daumen
in Ruhelage an die Vorderfliiche des 2. Fingers fast angeschlossen.
Faradische Erregbarkeit: Rechts am Daumenballen erloschen, an den
Streckern stark herabgesetzt. Links nur am ulnaren Haudstrecker und
am Abductor poll, brevis erhalten. Galvanischc Erregbarkeit: Rechts Ex¬
tensor digit. V und Opponens Andeutung von Entartungsreaktion.
Auffallend ist an diesem Krauken die starkere Beteiligung der
Strecker an der linken Hand sowie das verschiedenartige Er-
griffensein beider Daumen.
Erklart sich die stiirkere Beteiligung der linken Hand aus der sthrkeren
Anstrengung, die er ihr als Linkshiinder zurautete, so stosst die Erklhrung
der Daumenveranderungen infolge der Mannigfaltigkeit der Verrichtungen
auf gewisse Schwierigkeiten.
Dasselbe ist bei den folgenden Erkrankungen der Fall:
Der Druckerei-Maschincnmeister R. B., 43 Jahre alt, Rotator, kam am
6. Mai 1907 in meine Bebandlung. Hatte vor 8 Tagen beim Erwachen
leichte Schmerzen in der rechten Hand und Taubsein im 3.—5. Finger.
Gingivitis mit auf Bleisaum sehr suspektem Saum, Arterien rigid, viel
Albumen.
Rechte Hand: Bei Faustschluss Dorsalflexion mit verringerter Kraft
moglich.
Fingerstreckung nur bei maximal gebeugtem Handgelenk moglich, 5.
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XIV. Tei.kky
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Finger bleibt am meisten zurtlck. Daumen in Opposition nnd im Meta-
carpophalangealgclenk gebeugt gehalten. Abdaktion radialw&rts and Ex¬
tension nicht mOglich, Adducktion mit sehr geringer Kraft.
Linke Hand intakt.
Faradische Erregbarkeit der Streeker rechts herabgesetzt.
Der Gelbgiesser I. D., jetzt 63 Jahre alt, bat als Residuum einer im
Jahre 1904 entstandenen Bleilahmung im Juli 1908 folgende Veranderungen
an der rechten Hand gezeigt: Leichte Extensorenparese, leicbte Atropine
der Interossei, starkere des Interosseus I.
Im ersten dieser beiden Falle wollen wir es dahingestellt sein lassen,
ob eine Neuritis alcoholica Oder saturnina bestand; die Mannigfaltigkeit der
Handgriffe, die der Patient als Maschinenmeister, der 2 Schnellpressen be-
dient, zu verrichten hat, macht eine Analyse der Lahmung unmOgliek.
Der zweite der Falle eignet sicb, da wir in ihm nur die Residuen einer
veralteten Lahmung sehen, auch kaurn zu einer naheren Betrachtung.
Wenden wir uns nun den Hafnern (Topfern) zu, so mfissen wir
zunacbst Einiges fiber deren Tatigkeit vorausschicken. Anlass zur Blei-
vergiftung gibt nur die Herstellung der Glasuren. Das Blei hat die
Eigenschaft, mit Kieselsaure vermengt, leicbt schmelzende und glan-
zende Glaser zu bilden, und dies ffihrt zur Verwendung von Bleiver-
bindungen bei der Herstellung sowohl bestimmter Glasarten als aueh
besonders zu der Herstellung von Email und Glasuren. Die Glasur-
masse wird gemischt, fein gemahlen, dann in Wasser suspendiert, und
das Glasieren erfolgt nun entweder durch Eintauchen des zu glasieren-
den Gefasses oder durch tJbergiessen mittelst eines Glasierloffels; die
Gefiisse (oder Kacheln) werden dann zum Trocknen gestellt, die fiber-
schiissige Glasurmasse durch Abstauben, Abwischen, Abbflrsten ent-
fernt. Dann werden die so mit Glasurmasse versehenen Gegenstiinde
(Gefasse, Kacheln) in den Brennofen getragen, dort entsprechend auf-
gebaut und der Brennofen geheizt. In der Hitze des Ofens bildet sich
durch Verschmelzen der Glasurbestandteile die eigentliche Glasur.
Schliesslich wird der erkaltete Ofen wieder ausgeraumt. Die Gegen-
stande, die auf diese Weise glasiert werden, bestehen aus Ton. Dieser
Ton muss zuerst sorgfiiltig gemischt, durchgeknetet werden, dann er¬
folgt — meist von der Hand — die Forraung der Kacheln oder der Topfe
auf der sogeuaunten Topferscheibe, die in kleineren, aber selbst in
einzelnen griisseren Betrieben mit dem Fuss in Bewegung gesetzt wird.
Die Arbeiten, die in der Topferei verrichtet werden, sind also
iiusserst mannigfaltige. In der Ilausindustrie und den Kleinbetrieben hat
ein Arbeiter in zeitlichem Nacheinander alle diese Arbeiten zu ver¬
richten. Je grosser der Betrieb ist, eine urn so weitgehendere Arbeits-
teilung findet statt.
lu den Grossbetrieben — vor allem in denen EDglands — werden
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
283
selbst die einzelnen Teilverrichtungen beim Glasieren von verschiedenen
Arbeitern ausgeftthrt. In den Betrieben Wiens ist die Arbeitsteiiung
nur in so weit durchgeffihrt, als zwischen „Formern“, die die Ware aus
Ton formen, und „Brennhausarbeitern“, die glasieren und brennen,
nnterschieden wird. Es haben diese „Brennhausarbeiter“, die allein an
Bleivergiftung erkranken, nicht nur die relativ leichte Arbeit des Gla-
sierens zu verrichten, sondern auch die schwere und den ganzen Korper
anstrengende Arbeit des Anftillens und Entleerens der Brennofen, und
sie baben aucb das Heizen derselben zu besorgen.
Wahrend von den bisher besprochenen Berufen der Anstreicher
meist stehend, unter Umstanden auf der Leiter stehend und mit ihr
zeitweise einige Scbritte machend arbeitet und dabei seine Hand- und
Finger-, unter Umstauden auch seine Schultermuskulatur anstrengt,
wahrend der Feilenhauer sitzend seine Finger- und Daumenmuskulatur
einer ganz besonders hohen Anstrengung aussetzt, arbeitet der Brenn-
hausarbeiter teils stehend mit dem Glasierloffel, wobei neben anderen
Bewegungen Pro- und Supinationsbewegungen in besonderem MaCe
in Betracht kommen, teils aber als Lasttrager, der das Brennmaterial
herbeizuschleppen, der die Ofen anzuftillen, das Material in denselben
aufzubauen und die glasierte Ware wieder aus dem Ofen wegzu-
tragen hat.
Wir hatten Gelegenhelt, zwei solche Brennhausarbeiter mit Blei¬
lahmung, drei andere mit Bleivergiftung zu sehen, ausserdem zwei mit
Extensorenparese, die aber fur die folgenden AusfUhrungen nicht in Be¬
tracht kommen, weil es sich um ganz veraltete Falle handelt, ohne jede
frischere Erscheinung.
I. R., 88 Jahre alt, Ambidexter, war friiher Linkshander, jetzt
sind beide H&nde angeblich gleich. Er halt in der rechten Hand den
Glasierloffel, wirft mit der rechten das Holz in den Ofen, schreibt mit
der rechten; schneidet aber mit der linken Brot und dergl. Gibt an, dass
im Winter 1906/07 die Finger der rechten Hand herabzusinken begannen,
dann die der linken; der Zustand besserte sich im Sommer, um sich dann
wieder zu verschlechtern. Februar 1908 hot er folgenden Befund: Rechte
Hand: Bei maximal gebeugtem Haudgelenk kann nur der 5. Finger hyper-
extendiert werden, beim Verlassen der maximalen Beugung bleibt der 3.
u. 4. Finger am ir.eisten, der 2. Finger etwas weniger zurfick. Bei Faust-
schluss kann die Hand im vollen Umfange, aber mit verringerter Kraft
dorsalflektiert werden. Daumenbewegungen sonst frei, nur voile Extension
und Hebung Ober den Handrheken nicht mdglich. Oberarm kann
rechts nicht so kraftig gehoben werden wie links. Linke Hand
ebenso wie rechte Hand, doch bleibt der 2. Finger ebenso stark wie der
3. u. 4. zurllck. Der Daumen kann sonst alle Bewegungen machen, auch
bis zur HOhe des Handrttckens gehoben werden, doch ist jede Extension
unmOglich, er wird im Metacarpophalangealgelenk stets gebeugt gehalten.
Faradische Erregbarkeit rechts und links am Abductor poll, longus,
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Extensor digit. V und Extensor carpi ulnaris erhalten, sonst erloschen;
galvanische in denselben Muskeln herabgesetzt.
F. H., 29 Jahre alt. Mehrfach Bleikolik durchgemacht. Am 12. I.
1906 mit Kolik abermals erkrankt, starker Bleisautn, spastisch-pare-
tischer Gang, hocbgradigste Steigerung samtlicher Sehnenreflexe, Tremor
der Finger, Albuminurie. Auf seinen ausdrflcklichen Wunsch nabm er am
31. I. die Arbeit wieder auf; am 26. II. erkrankte er wieder mit Bleikolik
und klagte ttber Zittern und Schw&che im rechten Arm. Streckung der
Finger, besonders des 3. u. 4. behindert, ebenso Dorsalflexion im Hand-
gelenk. Hebung des Oberarms besonders bei fixierter Scapula
nur schwer und nicht in vollem Umfange mOglich. Im rechten
Bein motorische Kraft erheblich kerabgesetzt, hochgradigste
Reflexsteigerung (fast Clonus), auch links P.-S.-R. sehr stark ge-
steigert. Nach 10 Tagen noch SckwSche des Musculus tibialis
anticus rechts. Am 7. V. 1906 auf sein eigenes Verlangen — Patient
befand sich durch unglttckliche Familienverkaltnisse in grosser Not —
aus dem Krankenstand entlassen: Die Parese der Strecker hatte sich er¬
heblich gebessert, die Erscheinungen am Oberarm und den unteren Ex-
tremitaten waren geschwunden, doch konnte neben leichter Atrophie der
Strecker rechts auch eine leichte Atrophie des Musculus brachio-
radialis (im Vergleich mit links) festgestellt werden.
Der Zustand der Strecker verschlimmerte sich wahrend des folgenden
Jahres, bis er sich entschloss, der Brennhausarbeit zu entsagen und als
Former zu arbeiten.
Erwahnt sei hier ferner, dass unter drei Fallen von Bleivergiftung,
die ich weiter bei Hafnern sah, bei zweien sich Zeicben schwerer All-
gemeininfektion und Ergriffensein des Zentralnervensystems (Schwin-
del, leichte Verwirrtheit) zeigten. Beide hatten hochgradigst
gesteigerte Reflexe an den oberen und unteren Extremitaten.
Was bei unseren Fallen auffallend ist, ist Folgendes: Bei dem
ersten Falle ist auffallend, dass die Lahmung der linken Hand
starker ausgesprochen war als die der rechten. Der Mann — ur-
spriinglich Linkshander — hatte gelernt mit der rechten zu arbeiten,
diese erkrankte zuerst; die linke Hand aber, die er auch, solange die
rechte gesund war, mehr angestrengt hatte als ein Rechtshander, die
wahrscheinlich nach Erkrankung der rechten diese unwillktlrlich starker
snbstituierte, erkrankte etwas spiiter, aber in noch etwas starkerem
Umfange. Auffallend ist an diesem Falle auch die starkere Mitbe-
teiligung des 2. Fingers, die Mitbeteiligung der Streck-
muskulatur des Daumens und des rechten Oberarms. Im
2. Falle fanden wir wieder die Mitbeteiligung des rechten Ober¬
arms, eine Mitbeteiligung des rechten M.brachioradialis und
Mitbeteiligung der unteren Extremitaten (Parese des Muse,
tibialis anticus).
Auch in den anderen Fallen von Bleivergiftung ist es auffallend.
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
285
wie haufig bei den Hafnern das gesamte Nervensystem, dabei
auch die unteren Extremitaten durch die hochgradige Steigerung
der Patellarreflexe beteiligt sind.
Es scheinen also unsere Falle auf eine Mitbeteiligung auch
anderer Muskelgruppen als der Strecker und der Finger-
muskeln, auf Mitbeteiligung der Schulter- und Oberarm-
muskeln sowie der Muskeln der unteren Extremitaten hin-
zudeuten: eine Mitbeteiligung, die sich durch die mannigfache
und schwere Arbeit, die unsere Brennhausarbeiter zu verrichten
haben, wohl erklaren liisst. Auf eine Deutung des Befundes am
Daumen und Zeigefinger muss man bei der Mannigfaltigkeit der zu
leistenden Handgriffe wohl verzichten.
Erwahnt sei hier, dass Remak (Nothnagels Handbuch. 11. Bd.
3. S. 659) zwischen degenerativer Bleilahmung der unteren Extremi-
tiiten, bei denen die Sehnenreflexe normal bleiben, und den Fallen mit
vorubergehender Schwache und einer starkeren Steigerung der Sehnen¬
reflexe unterscheidet. Diese letzteren Erscheinungen sieht er als rein
funktionelle an und gibt an, dass sie nach schweren Koliken nicht
selten seien.
Wirsehen sehr haufig bei Bleikranken eine Steigerung der Patellar-
sehnenreflexe ganz unabhangig davon, ob Koliken schweren Grades vor-
handen sind oder nicht. Wir glauben sogar, dass wir in dieser Steige¬
rung der Patellarsehnenreflexe eines der ja nicht allzu zahlreichen ob-
jektiven Symptome schwerer Allgemeinintoxikation besitzen (vergl. M.
Sternberg, „Die Sehnenreflexe und ihre Bedeutung", Wien 1893,
Deuticke, S. 178). Wir sehen aber nur sehr selten einen Zustand wie
den bei dem oben geschilderten Patienten: mit hochgradigster Stei¬
gerung der Reflexe und spastisch-paretischem Gang.
Von den einzigen zwei weiteren Fallen, die solche Erscheinungen
darboten, wurde der eine (Schuhmacher) oben erwahnt. Ein weiterer
Fall (Anstreicher) wird noch erwahnt werden. Ein Fall von Patellar-
klonus bei einem Anstreicher ist schon oben erwahnt worden. Auch
bei Encephalopathia saturnina ist eine Steigerung der Reflexe nur
selten zu beobachten. Westphal jun. (Uber Encephalopathia satur¬
nina. Dissertation, Berlin 18SS) berichtet unter 13 Fallen von Ence¬
phalopathia nur von einem einzigen mit starker Steigerung der Patel¬
larreflexe.
Wir wagen es nicht zu entscheiden, ob wir es bei den erwahnten
Erscheinungen an den unteren Extremitaten mit den Vorstadien einer
Lahmung (vergl. Fall H.) zu tun haben; jedenfalls scheint aus unseren
Beobachtungen hervorzugehen, dass auch diese mit der Funktion
im engsten Zusammenhang stehen.
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Die Zahl der Falle ist leider zu gering, als dass man aus ihnen
sichere Schlusse fiber die Gestaltung der Bleilahmung bei den Hafnern
ziehen konnte.
Auch in der alteren Literatur finden sich nur relativ wenig Falle von
Bleivergiftung bei Topfern. Wir konnten ermitteln: bei Sohr (Die in der
medizinischcn Klinik zu Breslau seit 1892 beobachteten Falle von cliro-
nischer Bleiintoxikation. Inauguraldissertation 1903) 5 Falle bei TOpferu,
davon zeigten zwei Streckerparesen (Nr. 45, 51), zwei Schmerzen in den
unteren Extremitaten (Nr. 22, 55); bei Magdeburg (Die in der Greifswalder
medizinischcn Klinik vom Jahre 1884—1895 behandelten Bleiintoxikationen)
einen Fall, der neben Streckerlahmung eine Lahmung des linken Oberarmes,
Schmerzen im rechten Bein und Tremor der Hande und Finger zeigte;
bei Fischer (tJber die seit 1877 in der Gbttinger medizinischen Klinik
behandelten Falle von Bleivergiftung. Inauguraldissertation 1898) 7 Falle,
davon 2 Streckerlahmungen (Nr. 1, 18), ferner ein Fall, bei dem ausser
beiderseitiger (rechts starkerer) Extensorenlahmung, Beteiligung der kleinen
Hand- und Daumenmuskeln (besonders rechts) eine leichte Parese des Supi¬
nator rechts und Beliinderung der Pronation bestand. In einem weiteren
Fall (Nr. 17) waren 9 Jahre vorher angeblich die Beine gelahmt. Bei
einem TOpfer, fiber den Remak berichtet (Archiv fttr Psychiatrie und
Nervenkrankheiten, 6. Bd.), bestand beiderseits Parese der Extensoren
(geringer des M. extensor carp, ulnaris), ferner des M. biceps, der Interossei,
Mitbeteiligung des M. brachioradialis. Klagen fiber leichte Schwache der
unteren Extremitaten.
Beim Vorwiegen der kleineren und mittleren Betriebe in Deutschland
ist es wahrscheinlich, dass fast alle Falle aus Kleinbetrieben mit wenig
weitgehender Arbeitsteilung stammen, also fihnliche Arbeiten zu verrichten
batten vie unsere T5pfer.
Doch geben diese Krankengeschichten ffir unsere Vermutung, dass
bei den Topfern infolge der Anstrengung der mannigfachsten
M uskelgruppen auch die Lahmung verschiedene Muskel-
gruppen (Oberarm, Brachioradialis, Beine) ergreife, zwar nicht
sichere Beweise, aber berichten doch einige auffallende Erscheinungen.
Unsere Ansicht aber findet vollkommeneBestatigung durch Chyzers
Schrift „t)ber die im ungarischen Tonwarengewerbe vorkommenden
Bleivergiftungen." Fischer, Jena 1908. Chyzer hat in sehr dankens-
werter Weise die sanitiiren Verhiiltnisse in der ungarischen Tonwaren-
iudustrie — die zum weitaus grossten Teil Hausindustrie ist — studiert
und die Ergebnisse seiner Studien, die oft geradezu grauenerregende
Verhiiltnisse zutage gefordert haben, in einerfiir den Gewerbehygieniker
sowolil als auch den Kliniker interessauten Broschfire, die deutsch,
franzosisch und ungarisch erschienen ist, dargelegt.
Er fund unter 980 Bleikranken 114 mit ausgcsprochener Lahmung.
Enter diesen Fallen befandcn sich (wir folgen hier der franzosischen
Angabe, deren Zalilen mit der ungarischen ttbereinstimmen) 89 Falle
von Radialislalnnung an der rechten Hand, der bald die Erkrankung
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
287
der linken folgte. Selten ist neben den Extensoren auch der Supinator
brevis and longus ergriffen. 8 mal sah Chyzer eine Lahmung der vom
Nerv. uln. versorgten Muskeln*) (Klauenhand). Nach andauernder Lfih-
mung der Hand and Atrophie zeigen sich auch Lahmungen der Mus-
kulatur des Oberarmes, und zwar meist am Deltoideus, dessen Beteili-
gung in 30 Proz. der bestSndigen Lahmung der Hand festzustellen war,
in schweren Fallen sind auch die Muskeln des Schulterblattes und des
Oberarmes gelahmt.
Die Lahmung der unteren Extremitaten ist (nach Chyzer) relativ
selten, ihre Haufigkeit verhalt sich zu der der Hande wie 1 : 10. Meist
betrifft die Lahmung die vom Nervus peroneus versorgten Muskeln, nur in
einem Falle sah Chyzer eine Lahmung der vom Nervus tibialis versorgten.
Bemerkt sei, dass Chyzer auch fiber Facialislahmung berichtet.
Chyzer hatte die grosse LiebenswQrdigkeit, auf meine Anfrage hin
mir noch weitere Mitteilungen fiber seine Beobachtungen zu machen. Dar-
nach sah er unter 120 Bleilahmungen 14 mal Lahmungen der unteren
Extremitaten. Yon diesen Lahmungen entfielen 9 auf Manner, 1 auf eine
Frau, 4 auf Kinder.
Da Chyzer Qber Hausindustrielle berichtet, so batten seine Kranken
wohl auch als „Former“ tatig zu sein, mit den Ffissen die Topferscheibe
in Drehung zu versetzen; hatten also ihre unteren Extremitaten auch
noch hierbei in besonders hohem MaCe anzustrengen.
Die relative Haufigkeit der Deltoideuslahmung ist Chyzer selbst
aufgefallen, uns erscheint aber auch die — sonst so ungemein seltene
— Ulnarislahmung hier relativ haufig. Auch die Lahmung der unteren
Extremitaten ist auffallend haufig, wenn wir sie mit den sonst in der
Literatur auffindbaren Fallen von Beteiligung der unteren Extremitaten
vergleichen; nur Tanquerel berichtet fiber verhaltnismassig mehr
Lahmungen der unteren Extremitaten, doch hat Remak darauf hin-
gewiesen, dass es sich bei diesem Autor, da die Erscheinungen gewohn-
lich rasch verschwanden, um die — oben erwahnten — von Remak
als funktionell angesehenen Storungen gehandelt habe. Chyzer aber
berichtet fiber ausgesprocbene Lahmungen.
So sehen wir auch bei den in der Hausindustrie die mannigfachsten
Topferarbeiten verrichtenden, daneben auch meist Feldarbeit leistenden
Topfern Chyzers die auch nach unserer Erfahrung vermutete und
durch die Schwere und Mannigfaltigkeit der Arbeit erklarte
Haufigkeit der Lahmung derOberarm- und Beinmuskulatur.
Es konnte gegentiber meinen Ausfuhrungen vielleicht der Einwand
gemacht werden, dass die Bleivergiftungen, die sowohl Chyzer als
auch ich bei den Hafnern beobachtet haben, besonders schwerer Natur
waren, bereits lange bestanden hatten und dass, je schwerer die Blei-
1) Es sei hier auf die durch die Funktion (Letternschleiferin) erklarte Ulna¬
rislahmung infolge von Bleivergiftung hingewiesen, die Li lien stein (Munch,
med. Wochenschr. 1906) publiziert hat.
Deutsche Zeitschrift f. Nervenhellkunde. 37. Bd. 19
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vergiftung ist, je langer trotz auftretender Lahmungssymptome die Blei-
aufnahme fortdauert, um so mehr Muskelgruppen von der Lahmung er-
griffen werden.
Richtig ist es wohl, dass bei Chyzers Fallen es sich um besonders
schwere, besonders lang bestebende und besonders vernachlassigte Falle
von Bleivergiftung handelt, aber bei unseren Fallen trifft dies schon
nicht in demselben MaBe zu. Richtig ist auch, dass in den meisten
Fallen die Bleilahmung an den langen Streckern beginnend, zunachst
die kurzen Fingermuskeln und dann erst andere Muskeln ergreift;
aber nicht jede lang andauernde und schwer vernachlassigte Lahmung
muss zur Erkrankung anderer Muskelgruppen fiihren; wir verweisen
hier uur auf den Fall des Schlossers L. A., des Feilenhauers I. H.,
des Glaser I. S. sowie auf mehrere Anstreicher, die alle schwere und
vernachlassigte Lahmung sowie sonstige schwere Allgemeinerscheinun-
gen darboten, ohne dass aber die Lahmung andere als die Finger- und
Handmuskeln ergriffen hat. Besonders sei auf die Flaschenkapsel-
putzerinnen verwiesen, von denen eine grosse Anzahl haufig wieder-
holte und schwere Bleivergiftungen (ruit Abortus, Sehnervenatrophie)
durchgemacht hat; aber nur bei so wenigen kam es zur Bleilahmung
und auch bei diosen beschrankte sich die Lahmung auf nur kleine
Muskelgruppen.
Hat zwar das Ergriffen werden zahlreicher Muskelgruppen wohl
„ moist das Besteheu einer schweren und vernachlassigten Bleivergiftung
zur Voraussetzung, so ist eine zweite unerliissliche Voraussetzung
dieses Ubergreifens doch die berufliche Anstrengung der betreflfendeu
Muskelgruppen, und auch bei den schwersten und vernach-
lassigsten Fallen von Bleivergiftungen treten Lahmungs-
erscheinungen aussehliesslich in solchen Muskelgruppen auf,
die besonderer Anstrengung ausgesetzt worden sind.
Anfttgen wollen wir liier noeh, dass Remak unter einer Anzahl von
Bloilahmungsfallen nur hei zwei Frauen, einer Puella publica und einer
Schneiderin, die beiile infolge Verwendung bleihaltiger Sehminken erkrankt
waren, Bleilahmung der unteren Extremitaten gefunden hat und darUber
sehreibt (Ardiiv ftir Psychiatric. 187(>. S. 52): „Ub insbesondere der Um-
staud, dass meine bciilen cinzigen Beobachtungen von Bleilahmung der
unteren Extremitaten Frauenzimmer betrafen, welelie ill re Beine mehr an-
zustrengen ptlegen als Hire Anne, rein zufallig ist, lasse ieh dahingestellt“.
Uie Bleilahmung der Kinder unterscheidet sich in ihrer Lokali-
sation ganz wesentlich von der der Erwachsenen. Bei Kindern tritt
niimlieh die Liihmung der unteren Extremitaten in den Vordergrund,
sie tritt friih/.eitiger oiler starker auf als die der oberen Extremitiit.
Wir batten nur eiu einziges Kind mit Bleilahmung zu sehen Ge-
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Zur KasuUtik der Bleilahmung.
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legenheit, und dieses ist schon deshalb nicht als reiner Fall von kind-
licher Bleilahmung anzusehen, weil das damals 13 jahrige Madchen seit
3 Jahren gewerblich tatig war, taglich 3—4 Stunden mit seiner Mutter
zusammen als Heimarbeiterin Fransen knlipfte; die Seide, aus der diese
Fransen gekniipft wurden, war mit Blei beschwert.
DieKrankcngeschichte dieses Kindes ist von Dr. B. Mauthner in dor
Allgemeinen Wiener mediziniscken Zeitung 1906, Nr. 50, 51 publiziert
wordcn und entnehmen wir ihr folgende Daten: Beginn des Leidens im
•Juni 1906 mit gastrischen Stdrungen; zugleich soil die Streckung des
rechten Ringfingers unmoglich gewesen sein; damit begann einc Lithmung
dor rechten Hand, der dann die der linken folgte. Im August — zu ciner
Zeit, da das Kind schon der schildlichen Einwirkung und der gewerblicheu
Arbeit entrQckt war — begann auch der Gang unsicher zu werden.
Befund. RechteHand: Leichte Parese der Handstrecker; Fingerstrecker
ziomlich stark, die des 4. und 5. Fingers am meisten paretisch. Parese
<ler Strecker des Daumens; Paralyse und Atropliie des Abductor poll,
brevis; Adduktion gut, Opposition nicht mOglich; im 1. Zwischcnknochen-
raum starke, in den anderen leichte Atrophie. Bei passiver Streckung
im Metacarpophalangealgelenk der Finger bleibt die Streckung des
Zeigefingers in den I nterphalangealgelenken unvollkommen.
Linke Hand: Handstrecker wie rechts. Beim Versuche, bei maximal
gebeugter Hand die Finger zu strecken, wird der 3. Finger hyperextendiert,
der 2. im Metacarpophalangealgelenk extendiert, bleibt in den Interpha-
langealgelcnken gebeugt, der 4. extendiert, der 5. bleibt gebeugt. Atrophie
im 1. Zwischenknochenraum wie rechts, in den anderen etwas weniger.
2. Finger: Auch bei passiver Streckung der 1., die aktive
Streckung der 2. und 3. Phalange unmoglich. Daumen: Extension
besser als rechts. Opposition ziemlich gut, wenn auch mit verringerter
Kraft moglich.
Rechts faradische Erregbarkeit samtlicher Hand- und Fingerstrecker
erloschen, ebcnso am rechten Opponens und liuken Adduktor herabgesetzt;
galvanische: Handstrecker herabgesetzt, Fingerstrecker Entartungsreaktion.
Untere Extremitiiten: Leichte Pes equinovarus-Stelluug, Uberstreckung
der Zehen moglich, Dorsalflexion des Fusses nur ganz wenig und mit selir
verringerter Kraft — links etwas besser als rechts.
Wttrde man demnach eine Lahmung des M. tibial. anticus erwarton, so
widerspricht dem die Angabe des Verfassers liber die elektrische Erreg¬
barkeit und seine Auffassung der Lahmung.
Auffallend an diesem Krankheitsbild ist die starke Beteiligung der
Handmuskeln so wie insbesondere die Un moglich keit, b eider seits den
Zeigefinger in seinen Interphalangealgelenken zu strecken.
Diese auffallige Erscheinung ist wohl darauf zurtickzufiihreu,
dass beim Fransenknlipfen der Zeigefinger ganz eigenartige und sehr
anstrengende Bewegungen auszuf’iihren hat. Er ist namlich der die
Hauptarbeit verrichtende Finger. Bei im Metacarpophalangealgelenk
wenig, im Interphalangealgeleuk starker gebeugter Haltung liat er
zwiscben den Fiiden sich den Weg zu sucben, durch abwechselud
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ausgefuhrte rasche Streckung und Beugung die eDtsprechenden Faden
von den anderen Faden zu isolieren und mit geringer Unterstntzung
des Daumens den Knoten zu schlingen — Bewegungen, bei denen den
Mm. interossei und lumbricales eine besonders grosse Rolle zufallt.
Die ganz besonders grosse Anstrengung gerade dieser Muskeln des
Zeigefiugers erklart wobl, dass die Lahmung auch diese Mnskeln er-
griffen hat Bei dieser Gelegenheit sei kurz darauf hingewiesen, dass
die Verteilung der Gesamtmuskelmasse des Armes auf die einzelnen
Muskelgruppen beim Kinde eine wesentlich andere ist als beim Er-
wacbsenen (der Fingermuskulatur fallt ein relativ grosserer Anteil zu
als der Ellbogenmuskulatur), und dass sich — zwar nicht in diesem
Falle — aber gelegentlich vielleicht Abweichungen vom Typus, die bei
Kindern auftreten, auf diese Verhaltnisse zurllckfiihren lassen. Speziell
verwiesen sei darauf, dass der M. brachioradialis beim Kinde nur 2,89 Proz.
der Armmuskulatur betragt, beim Erwachsenen 5,80 Proz.
Auffallend aber bei dem Krankheitsbild ist weiter auch die Mit-
beteiligung der unteren Extremitaten, die fiir die Bleilahmung des
Kindesalters charakteristisch ist.
Stellen wir die uns zug&nglichen- Falle von Bleilahmung des Kindes¬
alters aus der Literatur zusammem, so finden wir:
einen Fall von Duchenne, bei dem nach generalisierter Lahmung
schliesslich eine Lahmung der linken unteren Extremitat zurdckblieb; einen
Fall von Bernhardt (Festschrift fttr Salkowski) mit starker Beteiligung
aller Extremitaten. Chyzer sail — wie er mir mitteilt — bei zwei
Kindern allgemeine Lahmung; zwei in seinem Buehe abgebildete Kinder
zeigen Lahmungen an alien vier Extremitaten, das eine Radialis- und
Peroneus-, das andere Ulnaris- und Tibialislahmung. Ferner sind in der
Literatur mehrere Falle verzeichnet, bei denen eine Radialislahmung neben
tier Fusslahmung bestand, bei denen aber die Lahmung an den unteren
Extremitaten teils starker ausgesprochen war (Variot [zwei Falle], Gazette
des hopitaux 1901, p. 1211, 1902, p. 482; Zappert, Wiener medizinischc
Wockenschrift 1904, S. 1378; Escherichs 2. Fall), teils frQher entstanden
war (Escherich, Wiener klinische Wocheuschrift 1903, S. 229, 1. Fall)
als die der oberen Extremitat. Bei diesem Falle Escherichs hatten sich
irn 4., 5., 6. Lebensjahr alljahrlich Lahmungserscheinungen der unteren
Extremitaten gezeigt, erst im 7. Lebensjahr war eine Radialislahmung hin-
zugetreteu. Bei Sinclair White war die Lahmung der unteren Extremitat
vier Wochen vor der der oberen aufgetreten. In einem von Variot (An¬
imates d'hygiene puhlique 1902) flllchtig erwahnten Falle scheinen nur die
unteren Extremitaten ergriffen gewesen zu sein. Putnam (Boston Medical
and Surgical Journal 1893, p. 187) fiihrt die Lokalisation der Bleilahmung
in den unteren Extremitaten bei Kindern darauf zurllck, dass bei diesen
mehr die Beininu^kulatur, lad Erwachsenen mehr die Armmuskulatur an-
gestrengt. werde, und ihm stimmen alle anderen Autoren (Remak, Bern¬
hardt, Escherich. Zappert) bei. Bernhardt weist jedoch dabei als
Gegenargument gegen diese Auffassung darauf bin, dass auch eine ange-
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
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borene Bleilahmung der unteren Extremitaten beobachtet worden sei, ftigt
jedoch hinzu, dass dieser beobachtete Fall keineswegs unanfechtbar sei.
Der Typus der Bleilahmung an der unteren Extremitat scheint
ubrigens bei weitem nicht so konstant zu sein wie der an der oberen.
Dejerine-Klumpke und Remak haben nach den Beobachtungen
Tanquerels, Meyers, Erbs, Lancereauxs, Zunkers und Remaks als
den Typus die Erkrankung der Mm. peronei, der Extensores digitorum bei
Freibleiben des M. tibialis anticus (samtlich versorgt vom Nerv. peroneus)
angesehen. Aber Remak hat in einem Falle bei einem Erwachsenen ein
Freibleiben der erwahnten Muskeln bei Ergriffensein des M. tibialis anticus
uud des Triceps surae (Nerv. tibialis) festgestellt, ebenso vor ihm — bei
einem Kinde — Duchenne de Boulogne; Newmark fand bei Kindern
den M. tibial. anticus ebenso beteiligt wie die anderen Muskeln (zitiert nach
Remak). Turner (refer. MQnchner med. Wochenschrift 1900, S. 945) gibt
an, dass bei Kindern meist der Muse, tibialis anticus und Extensor digit,
communis, seltener die Peronei erkranken; Variot sail bei zwei Kindern
Erkrankung des Triceps surae und der Fussstrecker, Escherich sah bei
zwei Fallen beiderseits den Muse, tibial. anticus, rechts den M. peroneus
ergriffen. Chyzer gibt an, dass bei seinen Fallen 13 raal der Nerv.
peroneus, nur einmal der Nerv. tibialis erkrankt war.
In unserem oben erwahnten Falle (Ilafner F. H.) bestand Parese des
Muse, tibialis anticus rechts.
Nach all dem wird man wohl Remak und Bernhardt darin bei-
stiminen miissen, dass ein absoluter Lahmungstypus fttr die Unter-
extremitaten weder bei Erwachsenen noch bei Kindern festgehalten
werden kann. Immerhin scheint die Lahmung der vom Nervus
peroneus versorgten Muskeln das bei weitem Hliufigere zu
sein und bei diesem Lahmungstypus der M. tibial. anticus in einer
nicht geringen Anzahl von Fallen freizubleiben.
Vielleicbt, dass eine vom Erwachsenen verschiedene Verteilung der
Muskulatur an den unteren Extremitaten beim Kind — Zahlen hierfiir
liegen uns leider nicht vor, doch vergl. das liber die obere Extremitat
Gesagte — bei der Entstehung atypischer Lahmungsbilder an den
unteren Extremitaten bei Kindern eine gewisse Rolle spielt.
Neben der geringen Zahl der von uns gesehenen Falle von Blei-
lalimung der unteren Extremitaten und der geringen Schwere unserer
Falle hat uns auch diese Inkonstanz der Beobachtungen, das haufige
Abweichen von dem wahrscheinlichen „Typus“ davon abgehalten, nach
einer funktionellen Erklarnng der Lokalisation der Bleilahmung an
den unteren Extremitaten zu fahnden. Erwahnt sei hier nur, dass
nach den Untersuchungen W. u. E. Webers (Mechanik der mensch-
lichen Gehwerkzeuge. Gottingen 1836) die Streckmuskeln viel
grosser an Masse sind als alle anderen Muskeln des Unter-
schenkels zusammengenommen (733: 537), und dass unter den Beugern,
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den Abduktoren und Adduktoren der M. tibialis anticus der weit-
aus kraftigste ist (146,7).
Mit Bestimmtheit aber kann man wohl annehmen, dass der Grund
dafur, dass bei Kindern Bleilahmung an den unteren Extremitaten so
(relativ) haufig ist, dass sie ofters vor der der oberen Extremitaten ent-
steht oder hohere Grade als diese erreicht, in der relativ starkerenln-
anspruchnahme der unteren, der relativ geringeren der
oberen Extremitaten zu suchen ist.
Stieglitz (Eine experimentelle Untersuchung fiber Bleivergiftung
mit besonderer Berucksichtigung der Veranderungen am Nervensystem.
Inaug.-Dissertation, Heidelberg 1892) hat darauf verwiesen, dass das
Tier in Bezug auf die Anstrengung bestiramter Muskelgruppen sich
ebenso wie ein Kind verhalte, dass man deshalb auch bei experimentell
mit Blei vergifteten Tieren keine „typische“ Bleilahmung erwarten dfirfe.
Von seinen Meerschweinehen zeigt eines eine zuerst an den Yorder-
pfoten auftretende Lahmung, bei einem trat gleichzeitig Lahmung samt-
licher Ftisse (vorderer und hinterer), daneben voile Lahmung des linken
Vorderbeines auf, bei einem Parese des rechten, bei einem anderen beider
Hinterbeine. Prevost und Binet (Revue medical de la Suisse romando
Nr. 10, 11. 1889) fanden bei 9 von ihren Meerschweinehen Lahmung der
Strecker der Pfoten an den hinteren Extremitaten, bei einigen waren auch
die Vorderpfoten leicht paretisch, aber viel weniger als die Hinterfusse.
Von ihren Ratten fand sich bei einer eine ausgesprochene Lahmung, bei
einigen eine leichte Sclnvacbe der hinteren Extremitaten, die aber stets
rasch vortlberging. Es sind also bei Tieren meist die hinteren Extremi¬
taten, die erkranken.
Wir konnen nach dem Gesagten wohl mit einem bohen Grade von
Wahrscheinlichkeit sagen, dass man Mitbeteiligung der unteren
Extremitaten nur dann findet, wenn diese mehr als die oberen
Extremitaten oder in besonders hohem MaGe angestrengt
werden, also bei Tieren, Kindern und bei den Berufen, die
besondere Anstrengung dieser Extremitaten erfordern, in
erster Linie bei Ilafnern.
Schliesslich mbgen uns die folgenden Fiille zeigen, dass die Blei¬
vergiftung dann, wenn bestimmte Partien des Nervensystems durch
amlere Ursachen bereits geschwiicht sind, gerade in diesen Partien
neuerliche Liihmungserscheinungen hervorrufen kann, dass also auch
eine andere als durch Arbeitsaufbrauch yerursachte Ernahrungs-
sldrung den Bodcn fiir die Lahmniig vorbereiten und die
Lokalisatiou derselben bestimmen kann.
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Zur Kasuistik der Bleilahmuug.
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I. D. hat 1895 im Alter von 20 Jahren Lues durchgemacht. Wie ich
der von der Klinik Riehl (weil. Kaposi) freundlich Qberlassenen Kranken-
geschichte entnehme, kam er Anfang Juli 1907 rait einem Rezidiv-Exan-
them an der Klinik zur Aufnahme; es bestand ausserdem beiderseits Neu¬
ritis nerv. optici und heftiger Kopfschmerz. Am 7. VIII. 1897 zeigte sich
plotzlich eine Parese des rechten Facialis und der beiden rechten Extremi-
taten. Motorische Kraft der rechten ExtremitiUen deutlich herabgesetzt,
paretischer Gang. Als Patient am 11. I. 1906 in meine Behandlung ein-
trat, gab er an, Ofters kleine Kolikanfalle gehabt zu haben, die er aber
nieht beachtet hatte. Die im Jahre 1897 entstandene leichte Lahmung
der rechten Seite sei sonst ganz zurtlckgegangen, doch spOre er seit
3 — 4 Jahren eino Schwiiche im rechten Bein; in den letzten 3 Monaten
babe sich diese vorher bestandene Schwache im rechten Bein gesteigert,
so dass er gegenwftrtig beim Gehen behindert sei. Er kdnne auch den
Urin nicht so gut halten.
Die Untersuchung ergab: Bleisaum, AnSmie; rechtes Bein: Sonsibilitat
etwas herabgesetzt, motorische Kraft geringer als links. Rechts Patellar-
klonus, links Patellarsehnenreflexe etwas gesteigert, Albuminurie. Im Laufe
von 3 Monaten Besserung.
Die damals (1906) auch von Doz. Dr. Innfeld gestellte Diagnose
lautete: „Geringe residuftre Hemiparese nach luetischer Endarteriitis in
der linken Hemisphare, Sphinkterparese, ausserdem Bleineuritis der rechten
uuteren Extremitat.“
Es scheint also in dem Falle das von der luetischen Lahmung
ergriffene rechte Bein den Locus minoris resistentiae fiir das Blei
gebildet zu haben.
Cber diesem ahnliche Falle berichten Mor. Meyer und Sarho; der
erstere (Archiv ftlr Psychiatric V. Bd., S. 298) erinnert sich eines Falles,
bei welchem ein Mensch, der einen weniger entwickelten Fuss hatte, ge-
rade in diesem Bein die Lfthmungserscheinungen zeigte, w ah rend die an-
deren Extremitaten weniger beteiligt waren. Sarho (Deutsche Zeitschrift
fftr Nervenheilkunde. XIX. Bd., S. 249) berichtet Uber „spinale Muskel-
atrophie infolge von Bleivergiftung, an eine infantile Poliomyelitis sich
anschliessend‘\ Eine im Alter von 20 Jahren einsetzende spinale Muskel-
atrophie begann an den durcli eine im 5. Lebcnsjahre aberstandene Polio¬
myelitis geschwachten rechten Bein. Nach Annahme des Autors wurde sie
ausgelost durcli eine Bleivergiftung, die in den erkrankt, gewesenen Teilen
des Rackenmarks einen Locus minoris resistentiae fand.
Ferner sei auch ein Fall erwahnt, den ich der Liebenswiirdigkeit
der Professoren Frank), v. Hochvvart und H. Schlesinger verdanke.
A. Sch., 18 Jahre alt, FransenknOpferin seit ihrem 8. Lebcnsjahre,
hat schwarze, mit Bleizucker beschwerte Seidenfransen geknttpft. Sie selbst
war nicht an Bleivergiftung erkrankt, aber ilire Ziehschwester und Mit-
arbeiterin sowieaudere Arbeitcrinuen des Betriebes waren mit Bleivergiftung
in meiner Behandlung gewesen.
Mit 14 Jahren Selbstmordversuch durcli Trinken von Lauge. 1904 Gas-
trostomie wegen Stenosis oesophagi. 27. II. 1908 Fraktur des linken Ober-
schenkels, zunachst Extensionsverband. Vom 20. III. an gcht Patientin
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an Krbcken. Am 10. IV. beginnen Par&sthesien und Schwilche in der
rechten Hand aufzutreten. Am 23. IV. begannen ahnliche subjektive Be-
schwerden in der linken Hand. Patientin fand bei weiterer Entwicklnng
der Lahmungserscheinungen nach einander an den Abteilnngen der genannten
Herren Aufnahme und wurde von ihnen die Diagnose „Paresis nerv. radi-
alis et ulnaris ex intoxicat. plumb, et compressione, Bleikrttckenlahmung“,
gestellt.
Man ist wohl zu der Annahme voll berechtigt, dass die zweifellos
stattgehabte reichliche Bleiaufnahme far die Entstebung der
KrQckenlahmung den Boden vorbereitet hatte.
Wenn man der Meinung ist, dass die Funktion, die Anstrengung,
von wesentlichem Einfluss auf die Lokalisation der Bleilahmung ist,
dann liegt die Vermutung nahe, dass ihr auch auf das Entsteheu der
Bleilahmung selbst eine gewisse Bedeutung zukommt, dass in jenen
Berufen, wo starke Anstrengung gewisser Muskelgruppen
die Regel ist, auch haufiger Bleilahmungen sich entwickeln
als in anderen, bei denen keine Muskelgruppe besonders in Anspruch
genommen, bei denen weniger Muskelarbeit geleistet wird. Ausdrucklich
betonen wollen wir, dass aus der Annahme, dass die Bleilahmung sich
in jenen Muskeln lokalisiert, die besonders in Anspruch genommen
werden, noch keineswegs ohne weiteres folgt, dass die Bleilahmung
in Berufen mit starker Muskelanstrengung haufiger sein muss als in
solchen mit geringer Muskelanstrengung. Es konnte ja die schlechte
Ernahrung der Arbeiter in einem Berufe der letzterwahnten Art, das
Vorhandensein des Alkoholismus u. a. diese Gruppe von Arbeitern
besonders empfindlich fur das Blei uberhaupt machen, oder auch die
Bleiaufnahme besonders gross sein, und es deshalb zu einer grossen
Zahl von Bleivergiftungen liberhaupt und zu einer, zwar im Ver¬
haltnis zur Zahl der Vergiftungen geringen, doch im Verhaltnis
zur Zahl der Beschaftigten grossen Zahl von Bleilahmungen kom-
men. Aber auch die Zahl der Bleilahmungen im Verhaltnis zur
Zahl der Bleivergiftungen muss in Berufen mit starker Muskelanstrengung
nicht unbediugt grosser sein als in Berufen mit geringerer Muskel¬
anstrengung. Ich habe seinerzeit auf dem Berliner Kongress far Hy¬
giene und Demographie darauf hingewiesen, dass das „Tempo“ der
Bleiaufnahme gevviss ftir die Form, unter der Bleivergiftung auftritt,
von Bedeutung ist. Bei langsamer Bleiaufnahme — mag sie dadurch
zustande komtnen, dass nur geringe Mengen Blei in den Korper ge-
langen, oder dadurch, dass das Blei in einer schwer resorbierbaren
Form in den Korper gelangt — werden Gefassveranderungen, eventuell
Liihmungen sich allmahlich entwickeln, ohne dass mehrfache Koliken
vorhergegangen; bei rascher Bleiaufnahme werden hingegen zahlreiche
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Zar Kasuistik der Bleilahmungen.
295
und in kurzeren Intervallen auftretende Koliken das Krankheitsbild
beherrschen, wenn auch die mehr allmahlich sich entwickelnden Formen
keineswegs ausbleiben. Trotzdem aber ist es wohl wahrscheinlich,
dass durch berufsmassige starke Inanspruchnahme gewisser Muskel-
gruppen nicht nur die Lahmung in diesen Muskeln lokalisiert, sondern
aucb das Entstehen einer Lahmung in solchem Mafie ge-
fordert wird, dass in solchen Berufen die Labmungen im Ver-
haltnis zur Zahl der Bleivergiftungen haufiger sind.
Das Material, das uns zur Klarung dieser Frage zur Verfflgung
steht, ist aber nurein sehrgeringes und keineswegs zuverlassiges. Selbst
iiber die relative Haufigkeit der Bleilahmungen tiberhaupt liegt nur
wenig Material vor. Die von Weikert-Hirt gegebenen Zahlen sind
nicht verwertbar. Ein grbsseres Material finden wir nur bei Tan-
querel de Planches und in den Berichten des englischen Medical-
Inspector.
Tanquerel berichtct fiber 2171 Bleivergiftungen, doch ergibt sicli
aus seinen AusfQhrungen, dass er nicht die Erkrankungsfalle dabei gezahlt,
sondern die Hauptsymptome, so dass — wenn ein Krauker neben der
Kolik noch Lahmung und Gelenkschmerzen aufwies, er 2- resp. 3 fach ge¬
zahlt wurde. Insgesamt standen ihm 1493 Krankheitsfalle zur Yerfttgung.
Darunter waren 127 Falle von Lahmung, doch unterscheidet er zwischen
motorischer Lahmung und „Anaesthesie saturnine 11 ; auf die erstere — die
uns ja allein interessiert — entfallen 101 (an manchen Stellen spricht er
von 102) Falle. Aus diesen Zahlen ergibt sich, dass 6,7 Proz. aller Blei-
vergiftungsfalle Tanquerels an Bleilahmung litten.
Nach den Berichten des englischen Medical-Inspector kamen in den
Jahren 1901—1905 2761 Bleivergiftungsfalle bei Mannern, 485 bei Frauen,
insgesamt also 3246 Falle zur Kenntnis der Behorden. Davon zeigten 587
Manner, 69 Frauen Lahmungserscheinungen, also 21,26 Proz. der Manner,
14,23 Proz. der Frauen, insgesamt also 20,23 Proz.
Da sowohl Tanquerel als auch der Medical-Inspector Legge alle
vorhandenen Symptome in Rechnung stellen — also ein Fall, der wegen
Bleikolik in Behandlung kommt, aber eine veraltete Bleilahmung besitzt,
auch unter den Bleilahmungsfallen aufgezahlt wird, so ergibt sich fhr beide
Statistiken eine gewisse Ungenauigkeit, die aber ihre Yergleichbarkeit
nicht beeintrachtigt. Bis zu einem gewissen, aber wohl sehr geringen
Grade aber leidet diese vielleieht darunter, dass in den englischen Berichten
ein Patient mit veralteter Bleilahmung, der z. B. 5 mal an Bleikolik
erkrankt, nicht nur 5 mal als Erkrankung an Bleikolik, sondern auch
5 mal als Erkrankung an Bleilahmung ausgewiesen wird; solclie Falle —
vergl. unten unsere eigenen Zusammenstellungen — sind wohl geeignet,
das Resultat der Berechnung um etwas weniges zu verschieben. Tan¬
querel aber zahlt — wie es scheint — je<le Lahmung nur einmal. Ein
weiteres in Betracht zu ziehendes Moment ware folgendes: Tanquerels
Material entstammt griisstenteils den Spitalern, daneben auch den Ambu-
lanzen und der Privatpraxis. Dem Umstande, dass Labmungen meist
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weniger zur Spitalaufnahme gelangen, mag vielleicht auch eine gewisse,
aber jedenfalls sehr beschrankte Wirkung zukommen.
Immerhin waren diese Momente geeignet, eine Differenz, eine geringere
Haufigkeit der Bleilahmung bei Tanquerel gegenQber den englisehen
Listen innerhalb gewisser Grenzen zu erklaren.
Die ganze gewaltige Differenz aber — bei Tanquerel 6,7 Proz., in
den englisehen Listen 20,2 Proz. Bleilahmungen — muss auf andere Ursachen
zurttckzuftlhren sein.
In dem oben erwahnten Referate haben wir dargelegt, wie die relativ
grosse Zahl der Bleilahmungen in den englisehen Berichten auf die mangel-
hafte Durchftthrung der Anzeigepflicht, auf der diese Ausweise beruhen,
zurQckzufflhren ist, da die mit lang andauernder Arbeitsunfahigkeit ver-
bundenen und wohlcharakterisierten Lahmungen von der Anzeigepflicht
besser erfasst werden als die relativ kurz dauernden Koliken Oder als
andere weniger gut charakterisierte Erkrankungsformen.
Ein gutes Material, dem keinerlei grobe, oder doch wenigstens
gut abschatzbare Fehler aubaften, glauben wir zur Frage der Haufig¬
keit der Bleilahmung beibringen zu konnen.
Es werden mir — wie ja eingangs erwahnt — von den Rayon-
arzten des Verbandes der Genossenschafts-Krankenkassen und der All-
gemeinen Arbeiterkranken- und Untersttitzungskasse Falle von Blei-
vergiftung, sobald sie nicht mehr bettlagerig sind, zugewiesen; auch
haben die Kassenmitglieder das Recht, im Erkrankungsfalle mich direkt
aufzusuchen. Unter den so in meine Behandlung gelangten Kranken
linden sich zahlreiche Falle, bei denen der vom Arzt Oder vom Pa-
tienten selbst ausgesprochene Verdacht auf Bleivergiftung bei ge-
nauerer Untersuchung oder langerer Beobachtung sich nicht als ge-
rechtfertigt ervveist, und werden von mir nur Falle, bei denen die
Diagnose Saturnismus mit grosster Wahrscheinlichkeit gestellt werden
kann, als solcbe bezeichnet. Insgesamt habe ich so vom 1. XI. 1905,
dem Beginn meiner kassenarztlichen Tatigkeit, bis 1. I. 1909 1336 Falle
von Bleivergiftung gesehen. Ein grosser Teil der unter den Mitglie-
dern der Krankenkassen vorkommenden Bleivergiftungsfalle gelangt
nicht zu meiner Behandlung, und zwar sind dies meist solche Falle,
die nur kurze Zeit an Bleikolik erkrankt sind und bald die Arbeit
wieder aufnehmen, wogegen wohl fast alle lang andauernden und auch
fast alle Falle von Bleilahmung schon aus ausseren GrQnden von den
Rayoniirzten mir zugewiesen werden; speziell die Bleilahmungen durften
— da der Spezialarzt fur Nervenkrankheiten, Doz. Dr. Erben, die
Liebenswiirdigkeit liatte, die in seine Behandlung gelangten Falle von
Bleiliihmung fast stets an mich zu weisen — mit wenigen Ausnahmen
in meine Behandlung gelangt sein. Eine Durchsicht der im Jahre
1907 in dem statistischeu Material der Kassen enthaltenen Falle von
Bleilahmung ergab, dass nur ein Fall von leichter Bleilahmung nicht
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
297
in meiner Beobachtung gestanden bat. Hingegen hatte icb in den
Jahren 1906 und 1907 iusgesamt 871 Falle von Bleivergiftung in Be-
handlung, wahrend die Ausweise der Krankenkassen 1540 Falle von
Yergiftungen mit mineralischen Substanzen — mit ganz wenigen Aus-
nahmen Bleivergiftungen — enbalten. Es sind also die Bleilahmuugen
vollstandiger zu meiner Kenntnis gelangt als die sonstigen Bleiver-
giftungen. Wir baben bisher fiber 45 an Lahmung erkrankte Per-
sonen mit Bleivergiftung — fiber samtliche, die ich zu sehen Ge-
legenheit hatte — berichtet Von diesen bestand in 2 Fallen keine
eigentliche Bleilahmung (1 mal Krtickenlahmung, der Fall der Kapsel-
arbeiterin Sw.); 3 mal handelte es sich um veraltete Falle, so dass
insgesamt 40 Personen an Bleilahmung frisch erkrankt sind. Aber
nicht um die Zahl der Personen handelt es sich — denn uns steht
ja auch nicht die Zahl der an Bleivergiftung erkrankten Personen,
sondern die Zahl der Erkrankungsfalle an Bleivergiftung zur Ver-
fagung.
Einzelne der hier angeffihrten Personen sind mehrmals wegen
Bleilahmung in meine Behandlung gekommen, da nach Aufnahme
der Arbeit Rezidive, resp. Verschlechterung der Lahmungserscheinungen
auftrat; berucksichtigen wir diese Erkrankungen, so erhalten wir 53
Erkrankungsfalle an Bleilahmung. Ziehen wir — wie es Ta nquerel,
wie es vor allem aber die englischen Berichte tun — bei jedem Falle
von Bleivergiftung, der zur Beobachtung kommt, das Bestehen einer
— eventuell auch veralteten — Parese, Lahmung Oder Schwache in
Betracht, wobei — wie bei der einen Flaschkapselputzerin, die funfmal
bei uns in Behandlung karn, stets aber ausscbliesslich der Kolik-
schraerzen wegen uns aufsuchte, wahrend ihre Hand konstant die
gleichen Veranderungen aufwies — eine und dieselbe Lahmung immer
wieder von neuem gezahlt wird, so oft das betreffende Individuum an
lvolik erkrankt, und rechnen wir auch die fraglichen Falle ein, so er¬
halten wir insgesamt 65 Erkrankungsfalle, bei denen eine Bleilahmung
vorhanden war. Das giebt in Prozenten berechnet, je nachdera
wir 40, 53 — dies erscheiut uns richtig — oder 65 Falle in Betracht
ziehen: 2,99 Proz., 3,97 Proz., 4,S7 Proz. Dass die Zahlen noch um
Betrachtlicbes kleiner wfirden, wenn uns nicht so zahlreiche Falle von
Bleikolik entgingen, wurde bereits oben dargelegt.
Allerdings kann man damit keineswegs behaupten, dass iiberall
und unter alien Umstanden der Prozentsatz der Liilimungen ein so
niedriger sein wird. Abgesehen von dem Einfluss des Berufes — fiber
den noch gesprochen werden soil — ist zu bedenken, dass, je mehr
der Arbeiter auf leichtere Erscheinungen achtet, je mehr er bei deu
ersten Erscheinungen der Bleivergiftung sich krank meldet und die
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gefahrliche Arbeit unterbricht, je langer er diese Arbeitsruhe einhalt
und so dem Organismus Zeit lasst, einen moglichst grossen Teil des
aufgenommenen Bleies wieder auszuscheiden, um so seltener es zu
schweren Erscheinungen von Saturnismus, zur Bleilahmung, kommen
wird. Vielleicht ist es zura Teil auf diese Umstande zurQckzuftihren,
dass seit meiner Wirksamkeit bei den Krankenkassen die Zahl der
Liihmungen ebenso wie die der schwersten Kolikerscheinungen abge-
nommen hat. Allein schon der Umstand, dass infolge Fehlens einer
Krankenvcrsicherung die Arbeiter zu Tanquerels Zeiten sich weniger
leicht zur Unterbrechung ihrer Berufstatigkeit entschlossen als heute,
konnte erklaren, dass damals die Bleilahmungen relativ haufiger waren
als heute. Um so merkwtirdiger muss es uns aber erscheinen, dass in
England, das zwar keine obligatorische Krankenversicherung besitzt,
aber die periodische Untersuchung vieler Gruppen von Bleiarbeitern
durch Arzte, meist durch Certifying surgeons ! ) vorschreibt und detail-
lierte Verordnungen fur viele Bleibetriebe besitzt —, der Prozensatz
der Lahmungen ein so merkwurdig hoher sein soil. Wir konnen
hierfur nur die bereits in unserem Berliner Referate gegebene Er-
klarung finden, dass namlich von der Anzeigepflicht vor allem die
Lahmungen, in sehr viel geringerem MaCe die Kolikfalle erfasst werden.
Was nun die Hiiufigkeit der Bleivergiftungsfalle in den verschie-
denen Berufen anbelangt, so gestatten uns die Angaben Tanquerels
uicht, zu berechnen, wieviel Bleivergiftungen aus jedem der verschie-
denen Berufe stamraen. Wir konnen deshalb nach seinen Angaben
nur die Zahl der in den einzelnen Berufen beobachteten Koliken und
der beobachteten Lahmungen miteinander vergleichen.
Tanquerel beobachtete:
bei Koliken L&hinung
Arbeiten in Farbenfabriken
481
37
Anstreicher und Lackierer
352
26
Topfer und keramische Gewerbe
61
5
Scbriftgiesser
52
4
verscbiedene andere Berufe
267
29
Die Bereehimiig ergibt bier, dass in alien einzeln angeftlbrten Berufs-
gruppen auf 12—13 Koliken eine Liihmung konimt.
Wir verfugen nur bei den Anstreichern und den Flaschenkapsel-
1) Fiir die ]>eriodi.sche Untersuchung hat der Unternehmer den Certifying
surgeon zu bezahlen, fiir die Erhebungen bei VergiftiingsHillen (wie ge genii her
unseren Ausfiihrungen ini Berliner Referat richtig gestellt sei) fiillt die Bezab-
lung der Staatskasse zur Last.
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Zur Kasuistik der Bleilalinumg.
299
arbeiterinnen liber so grosse Beobachtungsreihen, dass ihnen Bedeu-
tung beigeraessen werden kann.
Und zwar kamen
auf 5S6 Bleivergiftungen bei Anstreichern .... bei 19 Personen
frische (oder rezidivierte) Lahmungen in 27 Fallen .... (dazu 3 Personen
mit veralteter Lahmung, die fiinfmal in unsere Behandlung kamen).
Das gibt also bei der unserer Meinung nach richtigen Berecli-
weise 4,50 Proz.
Auf 249 Bleivergiftungen bei Arbeiterinnen einer Flaschenkapsel-
Tabelle 2
Nach den Bericht
en
des en
glisch
en Medical-I
nspector.
Wei-
Bid
Prozentsatz d. Lahmungen
veriri
1901
iftungen
—1905
liilunungen
1901—1905
zu den
Vergifrungen
maim I. weibl.
niannl.
weibl.
mannl. weibl.
Metallschmelzer
175
—
29
—
1G,G
—
Messingarbeiter
37
3
17
2
45,9
—
Bleiblcch u. -Rohrerzeugg.
50
3
11
1
22,0
—
Installateure u. Spengler
95
21
20
9
27,4
42,9
Dr ticker
84
o
18
—
21,4
—
Feileuhauer
Verzinner und Emaillieure
100
28
47
3
47, <»
lu,7
von Eisengetassen
39
lb
12
o
33.3
10.5
Bleiweisserzeugung
GOO
37
05
3
1",S
S.7
Miniuinerzeugung
54
5
— •
9,3
—
Keramik
215
205
59
55
27,-1
13,2
Abziehbibler
lu
10
1
—
Id,u
—
Glas^chneider u. -schleifer
25
—
0
—
24,0
—
Emallieren von Eisen-
plarten
13
S
♦>
1
1 5.1
—
Akkiimulatoren
152
—
17
—
11.1
—
Farbenfabriken
213
13
40
1
1S,8
7,<
Wagenlackierer
out I
—
72
2J.'»
—
SchilTbau
Anstreieher in anderen In-
140
—
33
—
23.G
—
dustrien
200
20
50
.>
27.2
25.0
Andere Industrie!!
253
5b
71
<
2S.1
12.5
27G1
is:,
5^7
09
21,5
14,2
324G
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30D
XIV. Tf.i.eky
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fabrik kamen 2, vielleicht 3 Personen ! ) mit wahrscheinlich frischen
Lahmungen (wovon wir nur die ersterwahnten zwei berticksichtigen
konnen), also kaum 0,8 Proz.
Auf die 750 Bleivergiftungen in anderen Berufen kamen 26 Lah¬
mungen (3,47 Proz.).
Uns scheint die verschiedene Haufigkeit der Lahmung bei den
Anstreichem und den Flaschenkapselarbeiterinnen flir die ver-
schiedene Haufigkeit der Lahmung in den verschiedenen Berufen
zu sprechen.
Doch sei hier erwahnt, dass manche Autoren (Bond) (British Me¬
dical Association 70. Jahresvers.) behaupten, dass Frauen nicht zu Blei-
liihmung disponiert sind, eine Meinung, die wir allerdings nicht fflr richtig
halten, vielmehr glaubeu, dass die verschiedene Haufigkeit der Bleilah-
mung auf die verschiedenartige Beschaftigung zurttckzufQhren sei.
In den englischen Tabellen ergeben sich die grossten Unterschiede
zwischen den verschiedenen Berufen. Sollen wir annehmen, dass dabei
die verschiedene Handhabung der Anzeigepflicht in den verschiedenen
lndustriedistrikten massgebend ist? Gewiss spielt diese eine grosse Rolle
dabei. Immerhin ist es auffallend, dass gerade die Feilenhauer einen
so hohen (den hochsten) Prozentsatz von Lahmungen aufweisen (vgl.
Tabelle 2).
Wir glauben so wolil nachgewiesen zu haben, dass in fast alien
Fallen von Bleivergiftung, wenn nur geniigend darauf geachtet wird,
sich zeigen liisst, dass die Funktion von grosstem Einfluss auf das
Entstehen, auf die Lokalisation der Lahmung ist. Wir sind uns dabei
wohl bewusst, dass eine grosse Anzahl von Autoren bereits auf diesen
engen Zusammenhang hingewiesen hat; einige dieser Autoren haben
wir eingangs erwahnt.
Doch schien es uns wertvoll, durch Betrachtung aller Falle eines
grosseren Materials nachzuweiseu, dass es nicht einzelue Ausnahms-
f'alle sind, an denen sich die Anwendbarkeit der Edingerschen Anschau-
uugen bevveisen liisst, soudern dass fast alle Falle nach der Aufbrauch-
theorie sich erkliiren lassen.
Dabei muss aber sowohl, was unsere eigenen Krankengeschichten
anbelangt. als auch uberhaupt beaclitet werden: Stets werden sich
einzelne Fiille finden, bei denen die Funktion nicht alle Eigentumlich-
keiten zu erkliiren imstande ist. Es ist ja leicht einzusehen, dass
1) Die nach deni 1. Januar 1000 in unsere Beobachtuug gelangteu Fiille
linden bei diesen Ausfiihrungen keine Beriicksichtigung.
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
301
auch andere Einflusse in demselben Sinne wie die Funktion wirken
konnen. Ein Trauma — Quetschung Oder Zerrung —, ein vor langerer
Zeit abgelaufener Krankbeitsprozess kann durch Storung der Ernah-
rung im selben Sinne elektiv wirken wie die Funktion.
Eins ist den meisten Fallen von Bleilahmung gemeinsam: die
Beteiligung der Finger- und Handstrecker. Wir haben uns in der
Einleitung bemuht, zu zeigen, dass gerade die Fingerstrecker es sind,
die an sich von geringerer Kraft sind, und haben uns weiter bemuht,
zu zeigen, dass die Finger- und Handstrecker besonders bei alien nicht
ganz groben Verrichtungen fibermassig angestrengt werden. Beruht
die Schatzung der Leistungsfahigkeit auf exakten Wagungen, so sind
wir leider nicht imstande, auch fiber die Leistung exakte zahlen-
massige Angaben zu machen; wir konnen hier nur beilaufig schatzen,
und einer solchen beilaufigen Schatzung fehlt ja stets zwingende
Beweiskraft.
Man konnte vielleicht einwenden: Wenn die Funktion alles ist,
wenn sie elektiv wirkt, woher kommt es dann, dass die Alkohol-, die
Arsenikvergiftung meist andere Bilder erzeugen als die Bleivergif-
tung, dass Alkohol und Arsenik meist die unteren Extremitaten zu-
erst ergreifen, dass bei Arsenikvergiftung an den oberen Extremi¬
taten meist das Gebiet des Medianus und Ulnaris in erster Linie
befallen wird?
Vielleicht, dass hier manches aufgeklart wurde, wenn auf die Be-
schaftigung der Erkrankten genauer, als es bisher geschehen, geachtet
wurde. Aber es ist doch auch hier auffallend, dass in gar nicht so
seltenen Fallen bei der Alkohollahmung ebenso wie bei einer Reihe
anderer Lahmungen, der Typus, den man als Typus der Bleiliihmung
bezeichnet und den wir als den fnnktionelleii Typus des Hand-
werkers bezeichnen much ten, zur Beobachtung kommt.
Schliigt man irgend ein Handbuch der Nervenheilkunde auf, so
findet man bei den atiologisch verschiedensten Arten von Lahmung
immer wiederkehrend den Typus der Radialislahmung mit Freibleiben
des M. brachioradialis, doch findet man nur sehr selten einen Fall
von isoliertem Ergrilfensein der laugen Beuger.
Nach Remak (Nothnagels Handbuch) zitiert findet sich dieser
Extensorentypus bei spontaner symmetrisch amyotrophischer Poly¬
neuritis (nach Vierordt, Oppenheim, Lilienfeld, Bernhardt u. a.).
Da der Abductor poll, longus zuw r eilen (nach Oppenheim u. a.)
„ebenfalls noch eximiniert gefunden wird, kann eine der typischen
Lokalisation der Bleilahmung ganz analoge Lahmungslokalisation be-
obachtet werden 11 (S. 340). Auch bei der Kohlenoxydvergiftung fanden
Bourdon, Rendu und Laudet eine der Bleilahmung analoge Liih^
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302
XIV. Teleky
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mung, bei der Alkoholneuritis wurde eine der Bleilahmung analoge
Lokalisation beobachtet von Remak, Buzzard, Huss, Thompson,
Lanceraux, Dreschfeld, Oettinger, Oppenheim, K. Lilien-
feld u. a.
Ganz in Kurze seien hier zwei Falle erwahnt, die wir zu beobachten
Gelegenheit hatten und die eine der typischen Bleilahmung sehr ahn-
liche Lokalisation zeigten, ohne dass sich irgend ein weiterer klini-
scher Anhaltspunkt fiir das Vorhandensein einer Bleivergiftung, noch
eine Gelegenheit fOr Entstehung einer solchen ermitteln liess.
M. Zw., 59 Jahre alt, arbeitet seit 26 Jahren in der Spannerei einer
Appreturanstalt. Sie hat weisses gestarktes Gewebe auf einen Rahmen zu
spannen, eine Tatigkeit, bei der die Finger sehr angestrengt und auck
die Strecker ziemlich in Anspruch genommen werden; dann hat sie mit
mehreren anderen die grossen schweren Rahmen an Stricken in die Hohe
zu ziehen, wobei neben der Hand- auch die Schultermuskulatur angestrengt
wird. Ende Oktober 1907 erkrankte sie mit gleich zu besckreibender
Lahmung, deren Lokalisation zur Diagnosenstellung ^Bleilahmung" Aulass
gab. Als sie im Dezember 1907 in meine Behandlung kam, zeigte sie
ausser der Lahmung ein serpiginOses ulcerOses Syphilid am Nacken. —
Alle Nachforschung nach Gelegenheitsursachen fOr Entstehen von Saturnis-
mus blieben ohne Erfolg. Die oberen Extremitaten zeigten folgenden
Befund:
Rechts: Hochgradigste Parese der langen Fingerstrecker, Parese der
Handstrecker, Opposition des Daumens unmOglich, Atrophie der Thenar-
muskulatur und der Muskulatur des 1. Interossealraumes. Der Oberarm
wird adduziert gehalten. Einwarts- und Auswartsrollung sehr erschwert,
Abduktion und Hebung unmOglich.
Links: Finger- und Handstrecker unbedeutend weniger gelahmt als
rechts. Am Daumen Opposition unmOglich, Adduktion mit sehr geringer
Kraft. Schultergelenk frei.
Faradische Erregbarkeit in den gelahmten Muskeln mehr oder weniger
stark herabgesetzt.
Der Zustand hat seitdem nur insofern eine Anderung erfahren, als
rechts die Muskulatur des Schulterblattes atrophisch wurde und auch die
Beugung und Streckung im Ellbogengelenk nur mit sehr geringer Kraft
erfolgen kann.
I. L. 31 Jahre alt, Ledergalanteriearbeiter. Er arbeitet hauptsachlich
mit Daumen und Zeigefinger, zwischen denen er das Falzbein halt; durch
das Halten der Zange werden auch die anderen Finger angestrengt. Eine
Gelegenheitsursache fttr Bleiaufnahme liess sich nicht feststellen.
Befund am 1. III. 1908:
Rcelite Hand: Fast vollstiindige Lahmung der langen Fingerstrecker,
Parese der Handstrecker. Daumen: Extension und Abduktion erhalten,
Adduktion unmOglich, Opposition eingeschrankt. Auch Beugung im Meta-
carpo])halangealgelenk und Interphalangealgelenk unmOglich.
Atrophie des Abductor poll, brevis und der Muskulatur im 1. Zwischen-
knochenraum sowie der langen Strecker.
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Zur Kasuistik der Bleilahmung.
303
Links: Hand- und Fingerstrecker intakt Daumen: Beugung ebcnso
wie reckts uumOglich, Opposition eingeschrftnkt,
Die Beobachtungen desselben Typus bei Lahmungen, die sich
auf der Basis verschiedenartigster toxischer Erkrankungen entwickelt
haben, scheinen uns ebenfalls dafiir zu sprecheD, dass einem anderen
Moment als dem Gifte selbst der elektive Einfluss, der zur Erkrankung
gerade dieser Muskelgruppen fuhrt, zuzuschreiben ist, und nach
allem ist man wohl berechtigt, die Funktion als dies elektive! Moment
anznsehen.
Nur eine Erscheinung unter den zahlreichen Bleilahmungsfallen,
fiber die wir berichtet, lasst sich nicht ohne weiteres durch die funk-
tionelle Inansprocbnahme erklaren.
Wie wir oden dargelegt, zeigt die linke Hand der Anstreicber
ebenfalls das typische Bild der Bleilahmung, wie sie sich an der rechten
Hand der Anstreicher ungezwungen aus der Funktion erklaren lasst
— ohne dass aber in ihrer eigenen Tatigkeit irgend ein Anhaltspunkt
fiir das Auftreten dieser Lokalisation gewonnen werden konnte.
Wie konnen wir uns die Lokalisation der Bleilahmung an der
linken Hand der Anstreicher erklaren? Man konnte annehmen, dass
die Kraft der Strecker auch fiir die relativ geringere, ihnen zugemutete
Leistung nicht voll ausreiche, dass selbst bei diesen Verrichtungen die
Ermudung der Finger- und Handstrecker eine grossere sei als die der
Beuger — eine Erklarung, die uns deshalb nicht plausibel erscheint,
weil man dann stets und bei alien Verrichtungen der menschlichen
Hand eine starkere Anstrengung gerade der Strecker annehmen mfisste,
oder eine keiner Anstrengung gewachsene leichte Storbarkeit ihrer Er-
nahrung, wie sie nur durch eine ganz besonders ungunstige Stellung
der Strecker in Bezug auf Ernahrung, die z. B. Barwinkel (Schmidts
Jahrbuch, Bd. 139, S. 118) annimmt, erklart werden konnte.
Ferner konnte man vielleicht die Hypothese aufstellen, dass nach
Erkrankung der einen Hand auch die symmetrischen Partien der anderen
in Mitleidenschaft gezogen werden. Oder — wenn diese Erklarungs-
versuche nicht befriedigen — mtisste man doch wieder eine gewisse
elektive Wirkung des Bleies annehmen.
Wenn wir eine solche elektive Wirkung eines Giftes liberhaupt
annehmen wollen, so haben wir dann — wie Edinger ausfiihrt —
zu untersuchen, welche Komponente bei dem betreffenden Gifte: die
elektive Bevorzugung gewisser Muskelgruppen und Nerven durch das
Gift oder die Wirkung des funktionellen Aufbrauchs die starkere ist.
Was nun das Blei anbelangt, so sehen wir nicht nur, dass auf den
Typus der Bleilahmung vollkommen die Theorie von den
am starksten angestrengten Muskeln passt; wir sehen auch,
Deutsche Zeitschritt f. Nervenlieilkunde. 37. Bd. 2<J
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304 XIV. Teleky
class unter bestimmten Verhaltnissen, bei vorwiegender An-
strangling anderer Muskelgruppen, diese allein oder vor-
wiegend erkranken (Kinder, Feilenhauer, isolierte Lahmung wie bei
den Flaschenkapselarbeiterinnen). Dies beweist uns wohl deutlicb,
dass, wenn man Oberhaupt annehmeu will, dass das Blei eine elektive
Auslese gewisser Nerven austibt, die Kraft dieser Selektion an
sich nur eine sehr geringe sein kann, denn sie wird bei weitem
iibertroffen durch die Wirkung der Funktion, die stets dazu
fuhrt, dass entweder allein oder am starksten die Nerven er¬
kranken, deren Muskeln der starksten Anstrengung aus-
gesetzt sind.
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XV.
Aus der medizinischen Universitatsklinik der Universitat Breslau
(Direktor: Geh.-Rat v. Strtimpell).
Uber die diffusen Geschwfilste der weichen Rflckenmarks-
haute mit besonderer Berllcksichtigung der extramedul-
laren Gliomatose.
Von
Dr. Horst Strassner,
Assistenz&rzt der Klinik.
(Mit 3 Abbildungen.)
Die diffusen Geschwiilste der Rlickenmarkshaute zahlen imraerhin
zu den seltneren Erkrankungen. Ich glaube daher berechtigt zu sein,
einen an unserer Klinik beobachteten Fall mitzuteilen, namentlicb, da
derselbe mir ausserdem Gelegenheit gibt, auf einige Fragen tiber den
histologischen Aufbau und die pathologisch-anatomische Diagnose dieser
Geschwiilste einzugehen.
R. Sp., 28 Jahre, Maschinenassistent. Aufnahme d. 11. M&rz 1908.
Anamnese: Eltern leben, sind gesund. 8 Gesokwister gesund.
Keine Nervenkrankheiten in der Familie. Patient liatte als Kind Maseru,
Scharlach und Dipktherie, war danach gesund. 1m Jahre 1897 erlitt er bei
einer Gasexplosion Verbrennungen leichteren Grades an Gesicht, Hals und
Handen, die gut verheilten; keine erheblichen Stossverletzungen. Sp. war
dann 1899—1901 Soldat. Als soldier erlitt er einen Fall auf die rechte
Seite, musste vier Tage im Lazarett liegen, war nacb dieser Zeit wieder
dienstfahig und besdiwerdefrei; aucli in den folgenden Jahren war er
ganz gesund.
Im Herbst 1904 infizierte er sich mit Syphilis; er machte eine
Schmierkur mit 12 g Hg durch, die ilm selir mitnahm; im November
nochmalige Schmierkur mit 100 g Hg und Jodkalitherapie. Im FrOhjahr
1906 dritte Schmierkur (100 g Hg).
Die ersten Anzeichen der jetzigen Erkrankung traten im Juni 1907
auf. Damals traten stichartige Schmerzen im rechten Arm, bald darauf im
linken Gesass auf, die boim Gehen starker warden. Nach einigen Tagen
verteilten sich die Schmerzen auf die rechte und linke Wade. Auf
Jodkali und antirheumatische Mittel besserten sie sich nickt. Audi typische
lanzinierende Schmerzen wurden damals ca. 14 Tage lang beobachtet.
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306
XV. Strassner
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Im August 1907 war Patient in der hiesigen psychiatischen Klinik
poliklinisch untersucht, wobei keinerlei objektiven Ver&nderungen am
Nervensystem gefunden werden konnten, so dass die Diagnose aufNeurastkenie
gestellt wurde (Mitteilung der psych. Klinik). Nach dieser Zeit trat eine
geringe Besserung der Schmerzen bis Weihnachten 1907 ein. Neujahrl908
kamen heftige Rflcken- and Brustsckmerzen auf beiden Seiten hinzu,
so dass er nachts nicht mehr schlafen konnte. Husten, Auswurf und Nacht-
schweisse waren nicht vorhanden. Nach ca. 14 Tagen Hessen die Schmerzen
nach, so dass er fast ganz beschwerdefrei war. Im Januar war Pat.
bei einem Neubau besekaftigt und war hierbei oft Erkaltungen aus-
gesetzt. Ende Jannar bekam er von neuem heftige Gesassschmerzen, die
er auf die heftigen Erkaltungen und Durchnassungen zurQckfQbrte. Sobald
er sich aufrichten wollte, traten heftige Schmerzen im Kreuz und stick-
artige Schmerzen in den Kniegelenken auf, die ikm das Gehen sehr schwer
machten; er hatte dabei das Geftlhl von Schwere in den Beinen. Anfang
Februar traten zuerst leichte Blasenbeschwerden auf, der Urin konnte nur
mit Mtlhe gelassen werden: nach 8 Tagen entwickelte sich dann binnen
4—5 Tagen unter Bestehen der angefohrten Schmerzen eine vallige
Lahmung beider unteren Extremitaten. Seit dieser Zeit ist Sp. standig
bettlagerig und hat dauernde Schmerzen in den Beinen. Zugleich mit
Eintritt der Lahmung trat Stuhlverhaltung, vollige Blasenlahmung und
Imitotenz auf. Bei Berttkrung hatte Sp. das GefOhl von Pelzigsein in den
Beinen. Vierzehn Tage vor der Aufnahme, also Ende Februar, entstand
aus einer Anzahl kleiner Geschwttre ein ausgedehnter Decubitus in der
Ivreuzbeingegend. In den Armen hat Pat. keine StOrungen bemerkt.
Trauma in der letzten Zeit liegt nicht vor. Potus negatur. Am 11. Marz
wurde Pat., da eine nockmalige antisyphilitische Kur erfolglos blieb, in die
Klinik aufgenommen.
Status praesens: Gross, abgemagert, schlaffe Muskulatur, ausser-
ordentliche Blasse; Wangen und Gesicht eingefallen, Augen leicht hervor-
stehend. Aussere Augenbesichtigung stellt ausser hochgradiger Blasse der
Conjunktiva keine krankhaften Verilnderuugen fest. Augenbewegungen
unbehindert, Pupillen etwas weit, verhalten sich aber sonst vdllig normal;
keine Stauungspapille. Kein Kopfschmerz, keine Druck- und Klopf-
ernpfindlichkeit des Schadels. Gehirnnerven intakt. Mund und Rachen-
organe normal. Hals lang, hagcr, Schilddrtise nicht vergrdssert. Am
hinteren Rand beider Sternocleidomastoidei, in beiden Achselhdhlen und
Leistenbcugen derbe, nicht druckcmpfindliche Lymphdrllsen.
Thorax kraftig, normaler Durcliniesser; rechtwinkliger epigastrischer
NVinkel, ausgiebige, auf beiden Seiten gleiche Costoabdominalatmung. Supra-
und Infraclavikulargruben eingesunken. Lungengrenzen normal, verschieblich:
nirgends Dampfung, liberal 1 versikulares Atmen, ohne Gerausche. Herz-
befund und Puls normal, abgesehen von leisen llerztonen und nicht fdhl-
barem Spitzenstoss. — Abdomen: Blasengegend schmerzhaft, Bauchdecken
weich, eindrliekbar. Milz nn<l Leber nicht palpahcl. Urinretention; Urin
muss mit Katlieter entleert werden, tibelriechend, trQbe, Reaktion alkali sell.
Albumen reichlich, Indikan -f-; in deni reiebliehen Sediment reichlich
Leukoeyten, veivinzelte Lyinphocyten, Blasenepithelien, Bakterien, keine
Zylinder. Am Kreuzbein ein etwa bandtellergrosser, tiefgreifender Decubitus
mit Verlust der obersten Mu'kelschichten.
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Ober die diffusen Geschwiilste der Ruckenmarksha.ute nsw.
307
Motilit&t: Grobe Motilit&t der oberen Kbrperhalfte bis zur Bauch-
mnskulatar vbllig intakt, keine Atrophien. Recti und Obliqui abdominis
sind beiderseits stark paretisch. Die unteren Extremit&ten sind ausnahmslos
vollig und schlaff gelahmt, auch der Iliopsoas und die Glutaei nelimen an
dieser Lahmung teil. Krampfe weder anamnestisch, noch bei der
Beobachtung. Keine fibrillaren Zuckungen. Leichte Muskelzuckungen
sollen manchmal vom Patienten beobachtet worden sein. Koordination
der Bewegungen in den oberen Extremitaten nicht gestort, kann in den
unteren Extremitaten nicht geprtlft werden. Gehen, Stehen unmoglich.
Sensibilit&t: Von einer Linie, welche die beiden Spinae iliacae supp. antt.
verbindet, ab unterhalb sind alle Gefflhlsqualitaten aufgehoben, nur die
Temperaturempfindung scheint noch, wenn auch unsicher, in geringem
Grade erhalten zu sein. Beflexe: Samtliche Haut- und Sehnenreflexe
der unteren Extremitaten inkl. Bauch- und Kremasterreflex fehlen.
Weiterer Verlauf: Das Bild der vblligen schlaffen Lahmung mit
Aufhebung aller Sensibilitatsqualitaten in den unteren Extremitaten, das
uns eine Querscbnittslahmung durch Kompression oder durch ein Gumma
annehmen liess, blieb im Marz und April vbllig unverandert. Am 19. III.
trat eine Schwellung beider Knieen mit nur geringer Schmerzhaftigkeit
auf, die 14 Tage anhielt. Der Decubitus reinigte sich an den Randern,
jedoch wurde Anfang April der Decubitus wieder starker und aussserdem
trat ein Decubitus an den Fersen auf. Eine am 30. Marz vorgenommene
Lumbalpunktion hatte keinerlei abnorme Veranderungen der Cerebrospinal-
flQssigkeit feststellen konnen, auch der Druck war normal. Mitte Mai
traten sehr heftige Schmerzen in der Gegend der mittleren Brustwirbel
auf. Es entstand ausserdem Decubitus an den Scapularwinkeln und Gber
den Dornforts&tzen der Brustwirbel.
Am 22. V. hatte sich das Zustandsbild folgendermassen verbndert:
Von seiten der Hirnnerven keine Stbrungen. Keine Stauungspapille. Die
oberen Extremitaten ebenfalls vbllig normal.
Motilit&t: Bis zum 6. Interkostalraum ftlhlt man deutlich die
Anspannung der Mm. intercostales, vom 7. Interkostalraum ab nicht
mehr; von da ab unterhalb vbllige Lahmung aller Muskeln, Fehlen
samtlicher Haut- und Sehnenreflexe. Anasthesie von der 7. Rippe ab-
warts. Schmerz- und Temperaturempfindung sind von der 8. Rippe ab
vollig aufgehoben. Oberhalb der 7. Rippe vbllig normaler Zustand. An
der Dorsalflache der Fussgelenke Dehnungsdecubitus.
Anfang Juni traten die ersten Zeichen einer Tuberkulose des linken,
spater auch des rechten Unterlappens auf, die unter fortschreitender Herz-
schwache am 4. VII. 08 zum Tode ftlhrte. In dieser Zeit war ein Fort-
schreiten des Prozesses nicht mehr zu konstatieren, cerebrale Symptome
sowie Stauungspapille fehlten vollstandig.
Sektionsergebnis (Dr. Ascher): Tumoros multipli in medulla spin.,
Tuberculosis pulmon. Peribronchitis caseosa, Bronchitis purulenta. Cystitis
haemorrhagica hypertrophica vesicae urinariae. Infarct, veter. ren. dextr.
Degeneratio adiposa hepatis cum hyperaemia.
Von der ausftlhrlichen Wiedergabe des Gehirnbefundes will ich
absehen, da derselde normales Verhalten ergab.
Btlokemnark: Beim Erbffnen der Dura zeigen sich auf der Vorder-
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308
XV. Stbassner
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flache des Rflckenmarks erbsen- bis bohnengrosse Tumoren von breiiger
und teils fester Konsistenz, teils breitbasig, teils gestielt aufsitzend. Die
ganze Cauda equina ist von Tumormassen durchsetzt.
Das genauere makroskopische Verhalten der Rtlckenmarksver-
anderungen ist aus den beigegebenen Abbildungen (Fig. 1 u.2) leicht zu ersehen.
Es besteht vom obersten Halsmark an eine leicbte Verdickung der Pia
mater, der im Bereich des ganzen RQckeumarks kleine kndtchenfBrmige,
meist breit, zum Teil auch breitstielig aufsitzende KnOtchen von Steck-
nadel- bis Bohnengrdsse aufgelagert sind. Dieselben sind von einer Farbe,
die gegen die Farbe der Meningen nicht wesentlich absticht, untf fahlen
sich zum Teil breiig, teils aber auch ziemlich fest an. Nach unten zu
nimmt die Verdickung der weichen Hirnhaute immer mehr zu, gleichzeitig
werden die Knotchenbildungen und wulstfOrmigen Erhebungen deutlicher,
grosser und reichlicher, so dass im Bereich des Brust- und des Lenden-
marks der Tumorcharakter bereits dcutlich ausgesprochen ist. Die Cauda
besteht nur aus ziemlicli derben Tumormassen, darQber ziehen die Nerven-
wurzeln zum Teil hinweg, ohne in Geschwulstmassen eingekleidet
zu sein, zum Teil treten sie aus dem Tumor heraus, um dann, ohne von
Tumormassen bekleidet zu sein, weiter zu verlaufen. Etwas weiter
abwftrts sehen wir dann die Wurzeln ziemlich frei von Geschwulstmassen,
nur in den zentralen Partien von diesen umgeben, verlaufen, wahrend sie
in einem weiter abwarts liegendem Abschnitt wieder fast ganz von den-
selben eingeschlossen sind.
Die Dura ist nicht verdickt und nirgends mit dem Tumor verwachsen,
ebenso scheint die zarte Araclinoidea Oberall intakt und nirgends von
Geschwulstmassen ergriffen.
Das ROckenmark selbst ist nirgends wesentlich erweicht und zeigt auf
Querschnitten ausser der Degeneration der Hinterstrange keine Ver-
anderungen, die auf eine Zerstorung der Rttckenmarkssubstanz hindeuten.
Die Tumormassen umgeben das Rflckenmark im Brust- und Lenden-
bezirk vollstandig und zwar so, dass die Hauptmassen im hinteren Bezirk
liegen und nach vom sich iu eine dflnne Spange verjhngen. Im oberen
Brustmark ist die Vorderflache wesentlich mehr beteiligt an der Aus-
breitung des Tumors als die Hintertiache; hier dringt auch die Geschwulst
sclion makroskopisch sichtbar in die vordere Langsspalte und wohl auch in
das RQckenmark ein. Nach dem Ilalsmark zu nehmen die vorderen
Geschwulstpartien immer mehr ab, die hinteren werden ein wenig starker,
so dass im unteren und mittlcren Ilalsmark der Tumor auf dem Querschnitt
die Form eines Halbmondes zeigt.
Im Hals- und Brustmark treten die Wurzeln aus der Tumormasse
hervor, bis zum Ganglion meist von einer diinueu Umkleidung, an einzelnen
Stellen auch von knotchentormigen Massen umgeben. Das Ganglion ist
hier frei von umgcbenden Tumormassen.
MikroBkopisch: Halsmark: Der Querschnitt des Riickenmarks
weist die normale Form auf. Im Nervengewebe selbst sehen wir kein
Tumorgcwebe. Der Zentralkanal ist im Ilamatoxyliu-Eosin- und im van
Gieson-Priiparat normal. Die grossen Ganglienzellen zeigen keine Ver-
anderungen. Die Gefassscheiden um die Getasse der grauen Substanz
sind erweitert, die Gefassc selbst sind normal.
Im Pal-Priiparat sehen wir eine vollige Degeneration der Gollschen
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Uber die diffusen Geschwiilste der weiclien Riickenmarkshaute usw. 309
Fig. 2.
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XV. Strassxer
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Strange, sowie eine geringere Degeneration in den Kleinhirnseitenstrang-
btlndeln. Nach Marchi linden sich auch frische Degenerationskerde in den
Gollschen Str&ngen, ehenso in den KleinhirnseitenstrSngen. Die ganzen
Randpartien des Rtlckenmarksquerschnitts entbalten friseh degenerierte
Nervensubstanz.
Die bindegewebige Umkleidung des Rfickenmarks ist Oberall intakt.
Auf ihr liegt das namentlick in den hintcren und seitlichen Partien ent-
wickelte, in seiner grbssten Ausbreitung ca. IV 2 mm dicke Tumorgewebe,
das sich im van Gieson-Pr¶t besonders deutlich durch seine braun-
gelbe Farbung abhebt. In den vorderen Partien selien wir nur einen sehr
dllnnen Saum von Tumorgewebe, so dass also das Rhckenmark ganz von
Geschwulstniassen uingeben ist.
Per Tumor ist verkaltnismilssig zellreich, namentlick in den dem RQcken-
mark angrenzenden Partien, w&hrend nach der Peripherie zu der Zell-
reichtum mehr zurttcktritt und mehr das FasergerQst pravaliert. In den
inneren, zellreicheren Teilen sind die Kerne ca. 10 (i gross, rund oder
rundlich-oval, blass, mit netzartigem ChromatingerOst; ein KernkOrperchen
ist nicht zu sehen. Neben diesen grossen Zellen linden sich etwas kleinere,
ein wenig dunklere, mehr langlich-ovale Kerne. Diese Kerne liegen ziemlich
regelmassig verteilt, ohne bestimmte Anordnung, in einem fibrillaren
Gewebe, das nach van Gieson sich braun bis gelbbraun farbt. Diese
Fibrillen liegen ziemlich dicht, parallel zu einander, leicht geschwungen,
manchmal etwas verflochten; sie sind kurz und ziemlich dick und unter-
scheidcn sich von kollagenen Bindegewebfasern durch nichts als durch ilire
deutliche gelblichbraune Farbe. Eine Verbindung dieser Fasern mit den
Zellen ist nicht sicher festzustellen.
In der Peripherie linden sich ebensolche Partien; jedoch sind hier
solche Stellen vorherrschend, in denen die Kerne langgestreckt,
oval oder spindelformig sind. Diese Kerne liegen meist parallel
zu einander, und zwar in der Richtung der Fibrillen, die hier dhnner und
lauger sind und zuin Teil wirbelartig, zum Toil facherartig verlaufen.
An verschiedeneu Stellen sieht man in einiger Entfernung vom ausseren
Tumorrande ein Dichterliegen der Kerne, die gleichsam einen kleinen
Zellwall bilden; von dem dem Rande zugekehrten Pol dieser Zellen ziehen
dann feine, dtinne, parallele, sich zum Teil verflechtende Fasern zur
Peripherie. Diese Randpartien sind fast vollkommen zellfrei. Es hat den
Anschein, als oh die Fasern direkt in das Zellprotoplasma Qbergingen.
Ganz vereinzelt sieht man ferner im Tumor grosse blasse Zellen in Haufchen
angeordnet oline weseutliehe Fasersubstanz, zum Teil regellos zusammen-
liegend, manchmal fingerartig von einem Punkte ausstrahlcnd.
In den der Pia mater angrenzenden Partien sehen wir Qberall im Tumor
ein sparliches Stlitzgewebe von Hiudegewebsfibrillen, die der Pia ent-
stammen. Ebenso sehen wir ein kurzes Eindringen der Tumorgewebs-
librillen zwischen die Fasern der Pia mater, die sich durch ihre Farbe im
van Gieson-Praparat. deutlich von einander unterseheiden. Das Eindringen
ist mehr infiltrativ, ohne Zerstorung. eine Durchwucherung der Pia findet
nirgends statt. An den Stellen. an denen sich die Pia in das Nerven-
gewebe vorstlilpt, den hintcren Wurzeln und dem hinteren Lilngstspalt
dringt. der Tumor in diesem Sj»alt gegen das Rtickenmarksgewebe vor,
jedoch immcr die ihin von der Pia gesetzte Greuze respektierend.
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Ober die diffusen Geschwulste der weichen Ruckenmarkshiiute usw. 31 [
Die Blutgefiisse sind im Tumor nur in mkssigem Grade entwickelt
und zeigen, abgesehen von einer Yerdickung der Adventitia, normalen Bau.
Eine besondere Anordnung der Tumorzellen und -fibrillen zu den Gefassen
ist nicht vorhanden. Blutungen und entzttndliche Infiltration sind im
Geschwulstgewebe nicht vorhanden.
Die Wurzeln verlaufen durch den Tumor, ohne von demselben
infiltriert oder zerstOrt zu werden; jedoch finden sich sowohl alte wie
frische Degenerationen, besonders in den hinteren Wurzeln. Vakuolen
fehlen.
Die intakte Arachnoidea umzieht aussen den ganzen Tumor und ist
nicht von demselben ergriffen.
Unterea Halsmark: Das Nervengewebe weist keine Veranderungen in
der Gestalt auf. Die Ganglienzellen sind normal. Der Zentralkanal ist
ist T-f6rmig und zwar mit der Basis in der Richtung der Koramissur,
wahrend der senkrecht hierzu verlaufende Spalt nach der hinteren L&ngs-
spalte verl&uft. Das Lumen ist etwas enveitert. Die Zellen der Zentral-
kanalwand sind normal.
Nach Pal sehen wir eine fast vollige Degeneration der Gollschen
Strange sowie gcringe Degeneration in den Randpartiert der seitlichen
und hinteren Rtlckenmarksabschnitte. Im Marchipraparat findet sich
reichlich frische Degeneration in den Gollschen Strangen und in der oben
beschriebenen saumartigen periphercn Zone, nainentlich im Bereich des
Kleinhirnseitenstranges.
Das Geschwulstgewebe ist im ganzen etwas zellarmer, mehr faserreich
und umgreift das ganze Rilckenmark. Die Dicke der Tumorschicht betrftgt
ca. IV 2 mm; in den vorderen, seitlichen und hinteren Partien ist die
Ausdehnung des Tumor ungefahr die gleiche. Die Zellen sind wiederum
in Grosse und Gestalt sehr verschieden. In dem der Pia anliegenden
Gewebe herrschen wieder die grossen blassen, runden Kerne vor, die in
einem dichten Gewirr von zum Teil sich leicht verfilzenden, zum Teil
parallel laufenden, ziemlich dicken Fibrillen liegen. Nach der Peripherie
zu nehmen die Kerne eine mehr ovale Form an, die Fibrillen werden
feiner und langer und haben einen mehr paralleleu Verlauf. An der
Peripherie sieht man ferner Wucherungen bis zu makroskopisch eben
sichtbarer Grosse, die sich pilzartig oder halbkugelig dem Tumor auf-
setzen und durchaus den Charakter der Ependymitis granularis tragen.
In einiger Entfernung vom Tumorrand sind lange spindelformige, diclit
gedrdngt liegende Zellen palisadenartig, meist im Halbkreis gelagert und
mit ihrem einen Pol senkrecht zur Peripherie gerichtet. Von diesem Pol
aus ziehen feine Fibrillen parallel verlaufend oder leicht netzartig ver-
flochten zum Rand der Gesclnvulst, um sich hier meist in allerfeinste,
ausserst zarte Fiiserchen aufzulosen. Die Zone der ausstrahlenden Fibrillen
ist frei von Kernen. Auch hier sieht mar an einzelnen Stcllen, und zwar
etwas reichlicher wie oben, Zellen in Haufen fast oline Fasersubstanz
zusammenliegen; an verschiedenen Stellen ordnen sich dieselben zu Halb-
kreisen und zum Teil auch in Kreisen an.
An einzelnen Gefiissen des Tumors findet sich eine beginnende hyaline
Degeneration. An der Austrittsstelle der hinteren Wurzeln sowie in dem
vorderen Langsspalt dringt der Tumor zwischen die sich einbuchtende
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312
XV. Strassner
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Pia vor, ist aber Gberall durch Piafasern vom Nervengewebe getrennt.
Die Wurzeln verhalten sich wie oben.
Oberes Brustmark: Die Tamormassen sind hier machtiger entwickelt
und zwar vorwiegend an der Vorderseite des RGckenraarks; die Dicke des
Tumors betr> hier 5 mm, in den seitlichen Partien 1 mm, an der
Hinterfl&che 1 J / 2 mm. Das Rtlckenmarksgewebe ist durch den in den
vorderen Langsspalt fast bis zum Zentralkanal eindringenden Tumor
leicht komprimiert, die beiden Vorderstr&nge sind zur Seite gedrttngt und
haben dadurch eine mehr langliche, vorn zugespitzte Form. Nach Pal
besteht in den Randpartien des RGckenmarks Degeneration, namentlich
in den seitlichen Teilen; die Gollschen Str&nge sind vollstandig degeneriert.
Im ganzen Querschnitt, namentlich in den Kleinhirnseiteusthngen, Pyramiden-
seitenstr&ngen und Gowersschen Strangen findet man zahlreiche grossere
und kleinere Vakuolen. Im Marchi-Praparat sieht man im ganzen RQcken-
mark frische Degenerationen, namentlich in den Gollschen Strangen und in
den Randbezirken des RGckenmarks. Der Zentralkanal ist oval, mit dem
grdssten Durchmesser in der Richtung der Kommissur gestellt. Das Lumen
ist etwas vergrdssert. Die Zellen sind normal.
Der Tumor selbst zeigt in Form, Grbsse und Anordnung der Zellen
und Fibrillen ein ausserordentlich verschiedenes Verhalten. In den der
Pia anliegenden Bezirken sieht man noch runde, blasse Zellen in mehr
dichteren, ziemlich dicken, kurzen Fibrillen liegen, jedoch sind diese
Stellen nur wenig im Tumor zu linden. Vorherrschend sind grosse
blasse, spindelige Zellen, die ziemlich dicht liegen, meist in der vorher
erwahnten, der Ependymitis granularis ahnlichen wallartigen Oder palisaden-
artigen Anordnung. (Eine Abbildung dieser palisadenartigen Anordnung,
wie sie der meinigen fast ganz entspricht, findet sich in der der Grundschen
Arbeit beigegebenen Tafel.) Die Zellen haben die Neigung, in Halbkreis-
form zu liegen, und senden von ihren beiden Polen sowohl nach der
Peripherie als nach der Mitte lange Fibrillen aus, oder es strahlen die
Fibrillen, in deren Verlauf die Zellen liegen, wirbelartig von einem Punkte
aus. Der Tumor erhalt durch diese Anordnung eine gewisse Lappchen-
zeichnung; besonders deutlich sind diese Acini an der Peripherie des
Tumors dadurch, dass diese einzelnen Bezirke durch Bindegewebe von
einander getrennt werden. An einer der Peripherie des Tumors auf-
sitzenden Hervorragung hat das Gewebe wiederum einen anderen Charakter.
Hier sind die Fasern nur Susserst sp&rlich, sehr fein und netzartig
angeordnet. In diesen liegen eingeschlossen grosse und kleine Haufen von
ziemlich grossen, kubischen, blassen Zellen ohne Fibrillen. Manche dieser
Zellen liegen in regellosen Haufen zusammen, andere haben sich kreis-
ftirmig um ein strukturloses Lumen angeordnet. Diese Stellen sind in dieser
Rtlckenmarkshohe nur sehr sparlieh vertreten.
Das Verhalten der Pia ist hier nicht das gleiche wie bisher.
Abgeselien von dem Eindringen des Tumors in die ins RQckenmark sich
vorsttllpenden Piataschen an den hinteren Wurzeln und dem vorderen und
hinteren Lilngsspalt, sehen wir den Tumor an verschiedenen Stellen
die Pia direkt durchbreehen und ins Riikenmark eindringen. Ganz
besonders ist dies der Fall an der erwahnten Stelle, wo der Tumor sich
in die vordere Langsspalte vordrangt und fast den Zentralkanal erreicht.
Hier sehen wir zwar im grossen und ganzen iminer, wie bisher, Tumor
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tjber die diffusen .Geschwiilste der weichen Eiickenmarkshaute usw. 313
und Nervengewebe dnrch die oft allerdings sehr diinne und von Tumor-
massen infiltrierte Pia getrennt. Jedoch fehlt an einer ziemlich aus-
gedehnten Strecke die Pia gfinzlich, und der Tumor tritt breit mit dem
Nervengewebe in Verbindung. Au dieser Stelle ist eine Trennung von
Geschwulst- und Nervengewebe nicht mOglich. Beide gehen allmahlich in
einander fiber; die wirbelartig angeordneten langen Tumorfasern verfindern
sich in ein netzartiges Geflecht von feinen Fibriilen, die reichlich grossen,
rundlich-ovalen Zellkerne werden allmahlich zum Nervengewebe hin
sp&rlicher. Eine Erweichung an dem Ubergange beider Schichten
besteht nicht.
Auf keinem der Querschnitte erreicht der Tumor den Zentralkanal
vollstfindig, und schon 1 cm tiefer abwfirts drfingt sich der Tumor nur
noch ein wenig in den vorderen Langsspalt vor.
Unteres Brustmark: Der Tumor ist auf der Hinter- und Vorder-
fliiche ungefahr gleich stark, ca. 1 */ 2 mm, in den seitlichen Partien ein
wenig starker. Das Rfickenmark zeigt in seiner Gestalt keine Ver-
anderungen. Die Gollschen Strange weisen sowohl frische als alte
Degenerationen auf. Auch in den ftbrigon Strfingen linden sich wenige
alte and frische Degenerationsherde, letztere fiber das RQckenmark verteilt
und sparlicher als bisher. Der Zentralkanal ist verengt, schlitzartig;
in der Umgebung desselben befinden sich Anhaufungen von Ependymzelleu
und kreisfOrmig angeordnete, meist einschichtig gelagerte Zellen, welche eine
strukturlose Masse umschliessen. In der Nfilie des Zentralkanals sind die
Blutgefasse stark mit roten BlutkOrperchen angefttllt.
Der Tumor ist dem des oberen Brustmarks im grossen und ganzen
gleich. Auch hier finden sich die beschriebenen grossen blassen Zellen,
Zellen, oft in der erwfihnten palisadenfOrmigen Anordnung. An einigen
Stellen legen sich die grossen, blassen Zellen zu Hfiufchen zusammen, oft
zu halbkreisformigen Gebilden, oft kreisfOrmig gruppiert, eine strukturlose
Masse in sich einschliessend.
Auch das Verhalten der Pia ist das gleiche wie im oberen Brustmark;
dieselbe ist hier an mehreren Stellen von Tumormassen durchwuchert.
Ein Eindringen des Tumor in den vorderen und hinteren Langsspalt
tindet nur in ganz geringem Grade statt.
Lendenmark: Die Geschwulst ist am dicksten in der Gegend des
Austritts der rechten hinteren Wurzel und verjttngt sich beiderseits nach
vorn zu. Sie hat dadurch ungefahr die Form einer Mondsichel. Die
grosste Breite betrftgt 5 mm. Das Rfickenmark selbst zeigt anniihernd
normale Form, jedoch ist es an der Stelle der grOssten Dicke des Tumors
leicht komprimiert, auch fehlt an dieser Stelle die Pia. Das Rfickenmark
zeigt nirgends Erweichungen. Der Zentralkanal ist obliteriert. Es liegen
an seiner Stelle Ependymzellenhaufen und in einiger Entfernung davon
ringsherum kleinere Haufchen von kubischen Zellen. In diese kleinen
Hitufchen sind hohlkugelige Gebilde eingestreut, deren kleiues Lumen
strukturlos ist, und deren Wand durch meist einschichtige kubische Zellen
gebildet wird. Manche dieser Gebilde zeigen ihren holilkugeligen Cliaraker
dadurch, dass bei tieferer Einstellung eine den Boden der kleinen
Cyste darstellende Zellanordnung zutage tritt.
Die grossen Ganglien sind, soweit im van Giesonpriiparat zu sehen
ist, nicht verfindert. Im Palpriiparat siehtman Degeneration der Gollschen
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XV. Strassner
Strange und in gcringerem MaBe ini ganzen iibrigen Rtlckenmark, besonders
in den Randpartien; in gleicher Weise ist aucb die friscke Degeneration
ausgebreitet.
Der Tumor selbst ist wieder etwas zellreicher. An der Stelle der dicksten
Zirkumferenz durchbricht er die Pia und tritt mit dem Nervengewebe in
Verbindung, jedoch ist der Ubergang beider hier niclit so allmahlich wie
im oberen Brustmark; man sieht auf der einen Seite das ausserst zellreiche,
aus grossen kubischen Zellen und dicken, wirbelartig angeordneten Fibrillen
bestehende Tumorgewebe, auf der anderen das zellarmere, aus feinen
b a
Fig- 3.
Fasern bestehende NervenstQtzgewebe. Der Ubergang der einen in die
andere Faserart ist ein allmahlicher. Eine Erweicliungsgrenze oder eine
reaktive Veranderung bestelit niclit. Der tlbrige Tumor zeigt ungefahr
dieselbe Anordnung, wie wir sie oben beschrieben liaben, docb macht sich
hier die schon oben angedeutete Anordnung geltend, derart, dass einzelne
Zellnester und Zellhiiufchen von einem Bindegewebssaum umschlossen sind,
so dass das Geschwulstgewebe den erwahnten lappchenartigen Bau zeigt.
Die Acini sind so angeordnet, dass in der Peripherie zahlreiche Kerne
in palisadenartiger Anordnung liegen; von diesen strahlt in die Mitte ein
dichtes feinfaseriges Gewirr aus. In der Mitte dieser Acini sind zum
Teil die Gefasse untergebracht. In anderen Acinis sehen wir wieder eine
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Uber die diffusen Geschwulste der weichen Ruckenmarksbaute usw. 315
mehr wirbelartige Anordnung, wieder andere sind sehr zellreich und ent-
kalteu nur wenig Fasermassen.
Die Geschwulstzellen wechseln in Grosse und Gestalt sehr ausser-
ordentlich. Sie sind bald langlich mit langsovalem oder spindeligem Kern,
bald mehr rundlich mit grossem runden Kern; bald scheinen sie zahl-
reiche Auslaufer zu besitzen, bald spftrlicher. Dazwischen finden wir in
dieser H5he eigenartige Anordnungen dieser Zellen zu hoklkugeligen
Gebilden (Figur 3). Diese Stellen enthalten einen zentralen mini-
malen Hohlraum. Die Zellen sind radi&r zu diesem Hohlraum gestellt,
einschichtig. Die kubischen, mittelgrossen Kerne liegen im distalen Teil
der Zelle, wahrend der grOsste Teil des Zellprotoplasmas dem Hohlkugel-
raum zugekehrt ist (Figur 3 a). Auch hier findet man an einigen dieser
Gebilde die bei den hohlkugeligen Gebilden um den Zentralkanal erw&hnte,
gleiehsam den Boden der Hoklkugel bildende Zelllage bei tiefer Ein-
stellung (Figur 3 b). Derartige hohlkugelige Gebilde sind allerdings sehr
selten, jedoch sieht man hier und da haufiger Bilder, die man gewisser-
massen als Vorstufen derartiger Bildungen betrachten kann (Figur 3c),
indem man Zellen zu kreisahnlichen Komplexeu sich zusammenschliessen
sieht. Die Zellen selbst haben hier etwas zylinderepithelartigen Charakter.
An ihren distalen Enden scheinen sie sich in Fasern aufzulOsen.
Die Gefassc zeigen in dieser Hohe, namentlich die kleineren, ent-
schieden hyaline Degeneration der Gefasswand, wahrend die Gefasse, die
sich in den Septen zwischen dem Tumorgewebe finden, normalen Bau ihrer
Wand zeigen. Blutungen sind nirgends zu sehen, ebensowenig Erweichungen.
Dagegen sieht man an einzelnen Gefassen und in dem intermediaren
Bindegewebe hier und da geringfllgige kleinzellige Infiltration.
Conus: Der Conus terminalis ist vdllig in Geschwulstmassen
eingebettet und wird von denselben von alien Seiten komprimiert. Die
Geschwulst misst hier S 1 /* cm im grOssten Durchmesser. Das Nerven-
gewebe weist durchgehends frische und alte Degenerationen auf. Die Pia
wird Qberall von Tumorgewebe durchsetzt, dieses dringt’ auch Oberall in
das Nervengewebe ein.
Der Tumor selbst zeigt im Verhalten der Zellen und Fasern alle
bisher beschriebenen Variationen. Es finden sich alle tTbergange von den
kleinen spindelfdrmigen Zellen und langen dhnnen Fasern bis zu den
grossen blassen runden oder kubischen Zellen mit kurzen sparlichen
Fibrillen. Am Raude des Tumors ist die palisaden- oder wallartige
Anordnung und der spindelfOrmige Charakter der Zellen vorherrschend,
mehr nach dem Zentrum zu finden sich mehr Zellhaufchen, in denen auch
mehrere der oben beschriebenen Hohlkugeln gelagert sind
Die Gefasse des Tumors zeigen eine geringe khyaline Degeneration.
Die im Zentrum der Geschwulst liegenden Gefasse sind stark mit roten
BlutkOrperchen angefflllt Erweichungen sind nirgends vorhanden.
In den hinteren und vorderen Wurzeln sieht man reichlich frische
und alte Degeneration. Tumorrnassen dringen auf dem Wege der Septa bis in
das Nervengewebe der Wurzeln vor.
Klinisches. Was zuerst das Alter des Patienten anbetrifft, so
findet sich auch hier die in der Literatur oft angefiihrte und zu gunsten
der embryonalen Eutstehung verwertete Tatsache bestiitigt, dass meist
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XV. Strassner
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jugendliche Personen befallen werden. Unser Patient war 28 Jahre,
erreichte also annahemd das Durchscbnittsalter, welches Rosenberg
berechnete (32 J / 2 , resp. 34 V 2 Jahre) und das den Zusammenstellungen
anderer Autoren (Westphal) ungefahr gleichkommt.
Hereditare Belastung liegt nicht vor. Wenn auch Bruns
und Oppenheim derselben sehr das Wort reden, so findet man nur
selten bei Durchsicbt der Literatur (Schulz, Westphal) ein wirkliches
Vorhandensein derselben. Immerhin wissen wir von anderen Hirn-
nnd Ruckenmarkstumoren die Wichtigkeit der direkten und indirekten
angeborenen Belastung.
Ein auslosendes Trauma, das nacb Ansicht Oppenheims oft der
Grund zum Manifestwerden der Krankbeit sein soil (Bruns, Fraenkel,
Gauguillet, vielleieht Westphal), konnte vielleicht in dem Fall auf
der rechten Seite zu suchen sein; jedoch ist ein causaler Zusammen-
hang ziemlich unwahrscheinlich, da zwischen dem Trauma und dem
Auftreten der ersten Erscheinungen ein ziemlich langer Zeitraum von
6 Jahren liegt. Auch bei Fraenkel liegt zwischen Unfall und Beginn
der Erkrankung ein Zeitraum von 4 Jahren.
Die Gesamtdauer der Erkrankung betrug vom Beginn der
ersten Prodrome bis zum Tode 13 Monate, immerhin gegentiber dem
sonst meist angefuhrten, nur mehrmonatlichen Verlauf (Fraenkel,
Westphal) ziemlich langdauernd.
Bevor ich auf das Syraptomenbild unseres Falles zu sprechen
komme, mochte ich auf das allgemeine Krankheitsbild der diffusen
Geschwtilste der Meningen, wie es sich aus der Literatur ergibt, ein-
gehen. Ein einheitliches Bild des Verlaufs ist bei der Verscbiedenheit
des Sitzes und der Ausbreitung des Tumors nicht moglich. Schon
Oppenheim, Nonne, Rindfleisch u. a. haben aus der Literatur eine
Einteilung nach dem Sitz der Erkrankung und nach dem verschiedenen
Verlauf so wie auf Grund der einzelnen Symptome gegeben. Wir mfissen
nach Westphal hier 2 grosse Gruppen unterscheiden, namlich die Er¬
krankung der Nervensubstanz nebst den Hullen des Zentralnerven-
systems und zweitens ein Befallensein der Hullen allein, sei es in Form
multipier Knoten, sei es in diffuser Ausbreitung. Ahnlich unterscheidet
auch Rindfleisch nach der Ausbreitung und Wachstumsverschieden-
heit bei den Sarkomen der Riickenmarkshaute 3 Formen und zwar:
1. die grossen solittlren Knotchen, 2. eine Form, bei der die Tumor-
massen als grossere oder kleinere, von einander getrennte Knoten auf¬
treten, und 3. die sog. diffuse Sarkomatose, d. h. in Form diffuser
lufiltrationen. event, mit darauf auf’gelagerten kleinsten Knotchen und
Plattchen von Geschwulstgewebe. Die letztere Form unterscheidet sich
wieder je nach der Ausbreitung 1. in die sog. einfache primare, auf
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Cber die diffusen GeschwulBte der weicheu Riickenmarkshaute usw. 317
die Meoingen beschrankte Geschwulstbildung (hierher ist auch unser
Fall zu rechnen), 2. in die Form der diffusen Infiltration der Rttcken-
markshaute, deren Ausgangspunkt ein primarer Tumor der Rucken-
markssubstanz ist, und 3. in die diffusen Geschwulste der Meningen,
die als Metastasen eines primaren Tumors der Brust- oder Bauchorgane
aufzufassen sind.
Gemass dieser Verschiedenheit des Sitzes und der Ausbreitung
ist natiirlich das klinische Bild ein sehr variables. Vorausgeschickt
sei, dass viele dieser Falle unter dem Bilde eines Kleinhirntumors ver-
liefen (Rindfleisch) gemass der besonderen Bevorzugung des Klein-
hims oder dessen Umgebung durch den primaren Tumor. Mehrere
solche Falle tauschten auch das Bild einer Meningitis vor. Nach
Rindfleisch herrschen besonders folgende zwei Symptomgruppen
vor: Bei nicht elektivem Befallensein der Meningen ist das Krankheits-
bild zum Teil von dem Verhalten des primaren Tumors abhangig, der
bei intrakraniellem Sitz die diesbeziiglichen Herdsymptome mehr oder
weniger erkennen lasst, oder bei intervertebralem Sitz das Bild einer
mehr oder weniger vollstandigen Querschnittslahmung, kombiniert mit
Symptomen des extra- oder intramedullaren Ausgangspunktes, zeigt;
bei anderen Fallen dieser ersten Gruppe geht das Bild des primaren
Tumors in den nberwiegenden schweren allgemeinen Hirnerscheinungen
und vor alien Dingen den diffusen spinalen Reizerscheinungen unter.
Das zweite Bild ist das der einfachen, auf die Meningen be-
schrankten diffusen Geschwulstbildung, das uns in unserem Falle am
meisten interessiert. Hier pflegen, worauf Westphal besonders hin-
weist, die Symptome nicht so ausgebreitet zu sein, wie es der ana-
tomische Befund erwarten liesse. Die meisten der in der Literatur
angefiihrten Falle weisen gemass dem Ergriffensein der Meningen des
Gehirns Symptome von seiten des Gehirns und der Hirnnerven auf,
zuerst Reizsymptome, dann Lahmungssymptome, vergesellschaftet mit
mehr oder weniger deutlichen Reiz- und folgenden Ausfallserscheinungen
von seiten des Riickenmarks. Die Folge der Liihmnngs- auf die Reiz¬
erscheinungen, die Ausbreitung der Erscheinungen auf das gesamte
Zentralnervensystem, die stete unaufhaltsame Progedienz des Krankheits-
prozesses, unterbrochen durch einen oft sehr erheblicben, doch kurzen
Wechsel in der Intensitat der Symptome, sowie die meist beobaclitete
lange Dauer der oft wenig charakteristischen Prodromalerscheinungen
geben in ausgesprochenen Fallen einen immerhin auffalligen Symptomen-
komplex. Leider ist oft das Bild nicht ein derartig ausgepriigtes, so
dass im Verlauf der Krankheit die Autoren die Diagnose meist auf
Tumor cerebri, Meningitis, Myelitis oder Kompressionsliihmung stellten;
die sichere Feststellung der Sarkomatose stiitzt sich also eigentlich
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XV. Strassner
vorwiegend auf den eigentiimlichen, aber leider wohl nicht konstanten
Befund in derLumbalfliissigkeit; ich werde spater darauf zuriickkommen.
Unser Fall bot im grossen und ganzen das Bild, wie es uns
z. B. Fraenkel far die von den RUckenmarkshauten ausgehenden
Tumoren gibt.
Das erste Stadium der Wurzelsymptome ist bei unserem Patienten
ein ziemlich langes, namlich vom Juni bis Januar des nacbsten Jahres.
Wabrend dieser Zeit wurden die Beschwerden, wie bei den meisten
dieser Falle (z. B. Bruns), als „rheumatische“ angeseben und bebandelt
Hier kann man meiner Meinung nach und, wie es auch unser Fall
zeigt, oft nicht einen Unterscbied zwischen zirkumskriptem und diffusem
Tumor machen, wie es Fraenkel will. Die Annahme desselben, dass
sich die zirkumskripten Tumoren mebr auf einzelne Wurzelgebiete be-
schrankeu, wahrend diffuse mehr Scbmerzen in der ganzen Wirbelsaule
erkennen lassen, trifft fur unseren Fall nicht zu; dies bat seinen Grund
darin, dass auch die diffuse Sarkomatose oder Gliomatose bestimmte
Bezirke starker zu befallen pflegt. In unserem Falle bot das Krankheits-
bild bis kurz vor dem Tode keinerlei Anhaltspunkte fttr eine Er-
krankung der oberen Ruckenmarksabschnitte.
Sehr lebrreich ist auch hier die diesen Geschwttlsten eigentamliche
plotzliche, vollig schmerzfreie Zeit; auch andere Autoren haben diese
Beobachtung gemacht, dass dieses Krankheitsbild durch einen oft er-
heblichen Wechsel in den Erscheinungen ausgezeichnet ist Nach
Nonne soil dieser durch die wechselnde Kompression der Blutgefasse
hervorgerufen werden.
Dass die Schmerzen durch Bewegungen noch bedeutend gesteigert
werden, ist bei Affektionen der Hinterwurzelgebiete ofters beobachtet
Das zweite von Fraenkel angegebene Stadium der motorischen
Reizerscheinungen, das ubrigens auch nach Fraenkel meist sehr gering
ist, ist in unserem Falle anamnestisch nicht festzustellen. Unter Um-
standen soli sich aber gerade dieses Stadium durch seine ausser-
ordentlich lange Dauer auszeichnen.
Uberraschend ist der ungemein schnelle tjbergang in das dritte
und letzte Stadium, das der Lahmungserscheinungen, das hier noch
kombiniert ist mit immerhin sehr deutlichen fortdauernden sensiblen
Reizsymptomen. Bionen 4—5 Tagen war in unserem Falle das Bild
einer vulligen schlaffen Lahmung beider unteren Extremitaten aus-
gebildet, der dann bald die Lahmung aller Sensibilitatsqualitaten folgte;
nach 14 Tagen setzten dann die trophisehen Storungen (Decubitus)
ein. Besonders zu beacliten ist hier der Beginn der Lahmungserschei¬
nungen durch Blasenstbrungen. Auf den niiheren Sitz der Lahmungen
einzugehen, eriibrigt sich wohl, da die diffuse Gliomatose und Sarko-
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Uber die diffusen Geschwulste der weichen Buckenmarkshaute usw. 319
matose je nach der Verschiedenheit der Ausbreitung zahlreiche Vari-
ationen gibt. In unserem Falle war der typische Symptomenkomplex
einer ausgedehnten Kompression der Cauda und des mittleren Lenden-
marks vorhanden. Allerdings wies die spatere Ausbreitung der moto-
rischen und sensiblen Lahmungserscheinungen und trophiscben Sto-
rungen nach oben auf ein schnelles Wacbsen des komprimierenden
Tumors bis zum mittleren Brustmark hin.
Es erQbrigt sich nun noch, auf ein sehr wichtiges Symptom ein-
zugehen, das leider bei unserem Fall nicht konstatiert ist; es ist dies
der Befund in der Lumbalfllissigkeit. Rindfleisch fand zuerst bei
seinen Fallen neben einem erheblich erhohten Eiweissgehalt (272°/oo)
eine spontane Gerinnung, teils in dichten, die Flussigkeit ganz aus-
fiillenden, teils schleierformigen, zarten, an Meningitis tuberculosa er-
innemden Gerinnseln, ferner, wenigstens in seinem dritten Falle, das
Vorkommen von reichlichen grossen Zellen mit einfachem, grossem,
blaschenformigem, die Zelle fast ganz ausfullendem Kern, die Rind¬
fleisch als Geschwulstzellen anspricht. Ausserdem zeigte in einem
der Falle die Flussigkeit eine intensiv dunkelbraungelbe Farbe, wahrend
die beiden anderen Falle eine mehr schwachgelbe Farbung der Cerebro-
spinalfliissigkeit aufwiesen. Eine weitere Mitteilung liegt von Dufour
vor, der den Liquor als gelbe Flussigkeit mit viel Fibrin, vielen
Lymphocyten, sparlichen ErythrocyteD, einigen Makrocyten und Gra-
nularkorperchen beschreibt. Eine von Nonne ausgeftihrte Lumbal-
punktion ergab ausser etwas vermehrtem Druck ein normales Verhalten
des Liquor cerebrospinalis. Grund fand eine Vermehrung des Eiweiss-
gehalts und ebenfalls eine gelbe Farbung der Lumbalfliissigkeit. In
unserem Falle war bei der im Anfang gemachten Punktion kein ab-
normer Befund des Liquors zu verzeichnen; eine von mir gegen Ende
der Erkrankung nochmals vorgenommene Punktion verlief leider er-
gebnislos, da die Tumormassen den ganzen unteren Teil des Wirbel-
kanals bereits ausfullten.
Pathologisch-anatomisch sind verschiedene interessante Einzel-
heiten zu erwahnen. Dies ist zuerst das isolierte Befallensein der Pia
mater ohne Vorhandensein anderweitiger metastatischer oder primarer
Tumoren des Zentralnervensystems oder des iibrigen Korpers. Solche
diffuse isolierte Ausbreitung der Tumoren der Ruckenmarksmeningen
ist bisher nur vereinzelt bekannt (Nonne, Dufour, Schulz, Simon,
warscheinlich Richter, Holmsen), wahrend bei den meisten Fallen
eine Beteiligung der Grosshirnmeningen besteht (Lobeck, Schroder,
Busch, Pfeiffer, Schataloff und Nikoforoff).
In den meisten Fallen der Literatur findet sich neben dem diffusen
Befallensein der Meuingen ein zentraler Tumor des Gehirns oder
Deutsche Zeit9cbrift f. Norvenheilkunde. 37. Bd. 21
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XV. Strassner
Rfickenmarks. Es sind dies die F&lle Nonne III (Kleinhim), Lenz
(Riickenmark), Pels-Leusden (Riickenmark), Pfersdorff (Rauten-
grube), Schlagenhauffer (Riickenmark), Schultze (4. Ventrikel
und Riickenmark), Grlinbaum (rechter Seitenventrikel), Schlesinger
(Gl. pituitaria), Busch (Unterwurm, 4. Ventrikel), Fraenkel II
(9. Dorsalsegment), Orlowsky (zentrale Gliomatose), Rindfleisch
(Thalamus opticus), v. Hippel (Stirnlappen), Cyril Ogle (Gl. pinealis).
Bei einer dritten Gruppe handelt es sich um metastatische Tumor-
bildungen in den Hirnhauten bei primaren Geschwulsten in den Baucb-
oder Brustorganen. Es sind dies die Falle von Stussberg, Westphal,
Eppinger, Muller, Eberth; der Fall Bruns’ ist hierher wohl nicht
zu rechnen, trotzdem bei demselben ein Fibrosarkom des Ohrlappchens
vorher exstirpiert worden ist; dieser Fall wird von Pels-Leusden als
ein Gliom angesehen, also das Fibrosarkom nicht als gleichartiger
Tumor wie der des Rfickenmarks betrachtet.
Sehr auffallig ist das Verbalten der Rfickenmarkshaute gegenuber
den Tumormassen. Die Dura ist vollig unbeteiligt an dem Erkrankungs-
prozess in tjbereinstimmung mit der Erfahrung der anderen Autoren,
von denen nur Nonne und Westphal Verwachsung von Pia und
Dura, Fraenkel ein Eindringen der Geschwulst in die Dura feststellten.
Auch die Arachnoidea pflegt — wie auch bei uns — intakt zu sein.
Dagegen ist die Pia mater Gegenstand zahlreicher Erorterungen ge-
wesen. Im Gegensatz zu Schlagenhauffer, Westphal, Mfiller u. a.,
die ein Durcbdringen der Pia mater und ein tjbergreifen des Tumors
auf das Riickenmark verneinen, zeigt unser Fall, dass sich der Tumor
an zahlreichen Stellen nicht nur in die Taschen der Pia einsenkt,
sondern auch in die Pia selbst eindringt. An verschiedenen Stellen
durchdringt er dieselbe ganz und tritt mit dem Nervengewebe in Ver-
bindung, in dasselbe ganz allmahlich ohne Erweichung an der Grenze
libergehend. Immerhin ist zuzugeben, dass die Pia auffallig lange dem
Vordringen der Geschwulst stand halt (Westphal). Eine Verdickung
der Pia (Dufour, Fraenkel) ist an den dem Tumor angrenzenden
Partien vorhanden.
Die Kompression des Riickeumarks ist in unserem Falle keine
erhebliche, auch Erweichungen (Schulz) im Verlauf des Ruckenmarks
sind nicht zu finden. Fast durchgehends findet man dagegen in der
Literatur Angaben von Degenerationen, besonders der Hinterstrange.
Auch in unserem Fall zeigten die Gollschen Strange in ihrem ganzen
Verlauf frische und alte Degeneration, die iibrigen Strange waren nur
an den Randpartien des Riickenmarks degeneriert. Diese Bevorzugung
der Hinterstrange hat seinen Grund in der vorzugsweisen Ausbreitung
der Geschwulst auf der Ilinterfliiche des Ruckenmarks in den nnteren
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Uber die diffusen Geschwiilste der weichen Ruckenmarkshiiute usw. 321
Partien and der besonders machtigen Entwicklung des Tumors im
Gebiet des Leadenmarks und der Cauda equina.
Die Wurzeln verhalten sich den Tumormassen gegenfiber sehr
resistent; es fanden sich nur einzelne frische Degenerationen in den-
selben.
1st nun schliesslich der Tumor ein Sarkom oder Gliom?
Wir sehen bei sehr vielen Fallen der Literatur diese Frage auf-
geworfen, nicht nur bei den Geschwiilsten des Rfickenmarks, soudern
auch denen des Gehirns. Die meisten, welch e diese differentialdia-
gnostischen Erwagungen machten, kamen zu dem Schluss, dass es sich
hier entweder um ein Gliom mit sarkomatosem Charakter oder ein
Sarkom mit gliomatosem Charakter bandelt, und halfen sich fiber alle
differentialdiagnostischen Schwierigkeiten einfach mit der Diagnose
„Gliosarkom“ hinweg. Meiner Meinung nach ist eine solche Diagnose
vollig unberechtigt aus entwicklungsgeschichtlichen Grfinden. Denn
die Sarkome sind bindegewebiger Natur, also inesenchymalen Ursprungs,
wiihrend die Gliome ependymalem Gewebe ihre Entstehung verdanken,
also ektodermalen Ursprungs sind und mithin den epithelialen Tumoren
einzureihen sind. Da freilich die Glia das Stfitzgewebe des Riicken-
marks und mithin funktionell dem Bindegewebe gleich zu achten ist,
so erscheint es von vornherein verstandlich, dass die Gliome in ihrem
Aufbau den Sarkomen nahe stehen. Jedocb scheint es mir deswegen
nicht berechtigt, die Gliome zu den Sarkomen zu rechnen, sondern es
wird sich immer empfehlen, den Gliomen eine eigene Stellung ein-
zuraumen und zwar unter den epithelialen Geschwiilsten. Ganz mit
Recht greift ja auch z. B. Strobe bei Beschreibung der gliomatoseu
Hirngeschwiilste die Diagnose Gliosarkom in den Fallen an, bei weichen
man ^mangels genligend genauer Kenntnis vom Bau der Glia, ferner
auch infolge unzureichender Untersuchungsmethoden einen sicheren
Unterschied fiber die Zugehbrigkeit zu der einen oder anderen Gruppe
nicht treffen wollte oder konnte“. In der Tat ist es auch in unserem
Falle sehr schwierig, den Tumor mit voller Sicherheit als Gliom oder
Sarkom anzusprechen. Ich glaube auf Grund verschiedener Anhalts-
punkte zu der Annahme eines Glioms berechtigt zu sein.
Dass die spezifische Gliafiirbung nach Weigert nicht einwands-
freie Resultate ergab, spricht nicht gegen diese Annahme, da ja auch
bei der normalen Glia diese Reaktion sehr oft versagt. Bittorf sucht
den Grund ffir ein solches Ausbleiben der Reaktion in besonders zell-
reichen gliom atosen Geschwiilsten darin, dass die chemisehe Diffe-
renzierung zwischen Zellen und Auslaufern noch nicht eingetreten ist,
und macht diese von einer gewissen Reifung der Zellen abhiingig.
Dass die Fasern namentlieh in den zentralen Partien des Tumors
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XV. Strassner
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durchaus keine Abnlichkeit mit den feinen, verflochtenen Gliafasern
haben, kann nicht gegen die Annahrae einer gliomatosen Wucherung
sprechen, da eine Reifung der Zellen nicht eintritt, und so ist das
Vorkommen von alien moglichen in der normalen Glia nicht auf-
findbaren Formen erklarlich; dazu kommen auch Formen, die als
Degenerationserscheinungen aufzufassen sind. Benda und Fraenkel
sehen schon allein in der auch in unserera Falle vorhandenen Gelb-
farbung der Geschwulstfasern nach van Gieson, durch die sie sich
von dem sich rot farbenden collagenen Bindegewebe unterscheiden,
eine charakteristische Eigenscbaft der Gliafasern, und auch Schmorl
gibt in seinen Untersuchungsmethoden dieses Verhalten gegen Saure-
fuchsin-Pikrinsaure als ein dem Gliagewebe eigenttimliches an. Es
spricht also diese Farbreaktion eher fur, nicht aber gegen die Diagnose
einer glimatosen Neubildung.
Ein weiterer Anhaltspunkt ist das Wacbstum der Geschwulst.
Vom Sarkom wissen wir, dass es destruierend, von der Nervensubstanz
gut abgegrenzt, durch eine Erweichungszone vom normalen Gewebe
getrennt, sich ausbreitet. Keins dieser Momente ist jedoch in unserem
Falle festzustellen. Dagegen weist unsere Geschwulst die Charakte-
ristica der Gliome auf, namlich diffus infiltratives Wachstum ohne
scharfe Grenze mit folgender Substituierung des Nervengewebes
(Strobe). An einzelnen Stellen wirkt allerdings der Tumor leicht
komprimierend und verdrangend auf das Ruckenmark; es ist dies da
der Fall, wo derselbe sich in die vorgebildeten Spalten der Pia vor-
schiebt, hat also mit der direkten Beziehung von Tumor und Nerven-
gewebe nichts zu tun. Ebenso charakteristisch fur einen Gliom ist die
doch immerhin sehr grosse Widerstandsfahigkeit der Pia mater dem
Eindringen des Tumors gegeniiber.
Ganz besonderen Wert inussen wir wohl auf die Form, besonders
aber die Lagerung der Zellen zu einander legen. Dass die Gliomzellen
die Gestalt von sarkomahnlichen Zellen annehmen konnen, kann man
wohl als feststehend betrachten. Schon Schiippel z. B. sagt 1867 von
einem von ihm beschriebenen zentralen Gliom: „Haufig sind die Kerne
schwach oval und mit ihren Liingsdurchmessern siimtlich in gleicher
Richtung gelagert, so dass dadurch ein eigenttimliches, an die Zellen-
ziige des Sarkoms eriunerndes Bild entsteht.“ Ebenso verhalt es sich
mit den extramedullareu ditfusen Geschwiilsteu. Diese Formen der
Zellen haben daun zur Diagnose Gliosarkom und, wie oben schon ge-
sagt, falsehlieh zur Annnhme gefuhrt, dass es sich um Sarkomzellen
liandelt. Wir haben es in unserera Falle mit Zellen zu tun, deren
Variability eine sehr grosse ist; von den grossen blaschenformigen, in
Iliiufehen odor einzeln liegenden Kernen mit reichlichem Chromatin-
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Uber die diffusen Geschwiilste der weichen Riickemnarkshaute usw. 323
gerust bis zu den langgestreckten spindelformigen, zu einander parallel
liegenden Kernen bestehen allerhand tjbergange. Ein Protoplasmaleib
ist meist nur sparlich yorhanden, auch eine Verbindung der Zellen mit
dem Fasern ist nur an einigen Stellen anzunehmen. Ebenso sieht man
an einigen Stellen Formen wie Stern- und Spindelzellen. Jedoch sind
alle diese Zellformen nicht so scbarf ausgepragt, dass man sie des-
wegen nnbediugt als Gliazellen ansprechen miisste. Man muss eben
bedenken, dass es sich hier um ein Gliom handelt, das ziemlich rasch
und unter ganz anderen Wachstumsverhaltnissen sich ausbreitet. Ganz
besonderes Gewicht mlissen wir daber auf die eigentOmliche Lagerung
der Zellen in Hohlkugeln legen, wie ich sie oben beschrieben habe
und wie sie in der Abbildung wiedergegeben sind. Ehe wir jedoch
auf diese eingehen, mlissen wir uns die Entwicklung des ROckenmarks
noch einmal vergegenwartigen (ich lehne mich hier ganz besonders an
die Ausfhhrungnn Bittorfs an).
Bekanntlich entsteht das Riickenmark durch das Zusammen-
schmelzen der beiden Riicken- oder Medullarwiilste, welche die Me-
dullarfurche umfassen. Allmahlich trennt sich dann das Nervenrohr
vom Hornblatt. Die zunachst langen, zjlindrischen ektodermalen Zellen
verhalten sich nun verschieden, denn, wahrend die sog. Boden- und
Deckplatte dauernd einschichtig, undifferenziert bleibt, bilden sich die
Seitenwandungen, welche beiderseits aus Grand- und Flllgelplatte be¬
stehen, weiter aus, und zwar behalt die innere Schicht ihren ependy-
maren Charakter und bildet. nur Spongioblasten und Ependymepithel,
aus weichen beiden spater die Gliazellen entstehen, wahrend die aussere
Schicbt, die sog. Mantelschicht, ausserdem noch die Neuroblasten und
hieraus durch Differenzierung Ganglienzellen und Nervenfasern zu
bilden vermag.
Wir sehen hieraus, dass die einzelnen Abschnitte des primaren
Nervenrohrs verschiedene Fahigkeiten der Differenzierung besitzen,
und dementsprechend mlissen auch die Tumoren, die von einem dieser
Differenzierungsprodukte des Nervenrohrs ihren Ausgangspunkt nehmen,
ganz verschiedene Formen der Entwicklung aufweisen.
Nehmen wir an, ein Tumor entwickelt sich aus der Deck- oder
Bodenplatte, so muss derselbe unbedingt rein epithelialen Charakter
tragen. Den Beweis hierfiir hat Bittorf flir die epithelialen Ge-
schwulste des Gehirns durch Anfiihrung der einschlagigen Falle aus
der Literatur erbracht und gleichzeitig fiir das RQckenmark dieselbe
Forderung aufgestellt. Flir die Riickenmarksgeschwiilste hat er kein
sicheres Beispiel in seiner Literaturiibersicht gebracht, doch liegt eine
Beobachtnng von Pfeiffer vor, die seinen Forderungen vollkommen
entspricht. Es handelt sich hier um eine Entwicklung hohler epi-
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XV. Strassner
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thelialer Zellschlauche an den Wurzelu der Cauda equina, der Arach-
noidea des Rlickenmarks und an den beiden Nervi optici. Der Aus-
gang dieser Geschwulst von der Bodenplatte ist nach der ganzen
Schilderung wahrscheinlicb.
Ffir die Geschwiilste, die von der Seitenplatte, und zwar vom
Ependym derselben ausgeben, ist nach den Ausffihrungen Bittorfs
ein ganz anderer Bau zu erwarten. Sie mussen alle Differenzierungs-
formen des Ependyms aufweisen, und ebenso wird auch die Gliazelle
wiederum die Fahigkeit beibehalten, sich in die verscbiedenen Urformen
wieder zuruckzubilden. Es konnte nun in meinem Fall ein derartiger
direkter Ursprung aus dem Ependym vermutet werden, da wir ja
epithelartige Bildungen in der Rosettenform finden, wie sie in unserem
Tumor beschrieben ist. Jedoch glaube ich diese Annahme fallen lassen
zu mussen, da einerseits keinerlei Zusammenhang mit dem Ependym-
epithel nachweisbar ist, da ferner die fur diese Geschwiilste gescbilderten
zentralkanalahnlichen Bildungen fehlen und da der vorliegende Tumor
im Gegensatz zu all den bisher bekannten epithelial-gliomatosen Tu-
moren des Rlickenmarks nicht intra-, sondern extramedullar liegt. Es
seien aber diese Tumoren hier kurz mitgeteilt, da sie ein ganz charak-
teristisches Bild liefern und in ihrer Histologie die ErklaruDg mancher
Bildungen in unserem Tumor geben. Zuerst bat Rosenthal einen
solchen Fall veroffentlicht. Er nennt seine Geschwulst Neuroepithelioma
gliomatosum microcysticum. Dieses besteht vorwiegend aus grosseren
und kleineren Cysten und Kanalen mit Epithelbekleidung und einem
Fasergewebe mit weniger zahlreichen Kernen. Beide Gewebsarten
gehen in einauder fiber. Auch die kleinen kugelfdrmigen, in sich ab-
geschlossenen Cystchen, die sehr an die in unserem Praparat gefundenen
erinnern, sah Rosenthal in seinem Tumor. Dieselben sind von
kubischen Epithelien begrenzt. Die Entstehung derselben erklart
Rosenthal folgendermassen: „Einzelne Epithelien werden aus dem
Verbancle des wuchernden und schon allzu dichten Epithels in die
Tiefe gedriingt; dort vermebren sie sich weiter und vererben auf ihre
Nachkommen so viel ihrer epithelialen Natur, dass diese sich zur Kugel
ordnen und zwischen ihnen das Lumen einer kleinen Cyste entsteht"
Die grosseren Hohlraume lasst er danu sekundar durch Kommunikation
und zwar durch Anwachsen der Cysten, Vermehrung des Epithels und
durch Erweiterung des Lumens unter dem Druck einer durch das
Epithel abgesonderten Flussigkeit entstehen. Ferner schreibt er diesen
Epithelien auch die Fiihigkeit zu, sich weiterliin in reines Gliagewebe
umzuwandeln.
Einen weiteren hierher gelibrigen Tumor beschreibt Bittorf. Es
handelt sich hier um eiue sehr zellreiche zeutrale Geschwulst des Hals-
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Uber die diffusen Geschwulste der weichen Ruckemnarkshaute usw. 325
und Brustmarks, welche sich aus einer gliosen Fasermasse und mit
dieser zusammenhangenden Kanalen mit meist einschichtigem, zum
Teil kubischem, zum Teil hohem zylindrischen Epithel zusammensetzt.
Auch Bittorf findet in seinem Fall die erwahnten kleinen Hohlkugeln
mit einer Wand von radiar gestellten Zellen mit epithelahnlichem
Charakter. Er konnte den Ubergang der Epithelien der Kanale in
die gliose Substanz des Tumors nachweisen. Die Kanale und Hohl¬
kugeln waren im ganzen Verlauf des Tumors teils zahlreich, teils ver-
einzelt nachzuweisen. Auch Hohlkugeln mit fast zylindrischem Epithel
waren vorhanden. Bittorf stellt dann die in der Literatur vorhandenen
Tumoren des Zentralkanals zusammen, in denen „in einem wechselnd
grossen, mehr oder weniger zellreichen Gliom des Zentralnervensystems
sich bald reichlicher, bald sparlicher Kanale, Spalten und Cysten mit
epithelialer Wand finden“, und weist die Entstehung derselben aus
dem Ependym-, resp. Zentralkanalepithel nach. Die Gliazellen lasst
er zum Teil aus den Geschwulstgliazellen, zum Teil aus den Epithel-
zellen entstehen. Fiir die Epithelien hat er ebenfalls eine zweifache
Entstehungsmoglichkeit, und zwar einerseits als direkte Sprossen des
Zentralkanalepithels, wahrend er andererseits die Entstehung anderer
Epithelien, besonders der Hohlkugeln, aus den Gliomzellen nachweist.
Neuerdings ist ein weiterer Fall von Thielen mitgeteilt, der
ebenfalls eine epithelial-gliomatose Geschwulst des Riickenmarks dar-
stellt und in seinen Einzelheiten den beiden Fallen von Rosenthal
und Bittorf ausserordentlich iihnelt. Auch in diesem Falle lasst sich
der sichere Beweis fiir den Ausgang vom Zentralkanalependym fuhren.
Es handelt sich um eine zeDtrale Gliose, die vom obersten Cervikal-
mark bis herab zum Conus terminalis reicht.
Die von Bittorf angefiihrte Entstehung der epithelahnlichen Ge-
bilde der Hohlkugeln aus den Gliazellen, die sich als Abkommlinge
der Spongioblasten und damit der Ependymzellen eine solche Fiihig-
keit bewahrt haben, mochte ich fiir meine, zwar sparlichen, Cysten
mit epithelahnlichen Zellen in Anspruch nehmen. Ich habe Gelegen-
heit gehabt, Praparate meiner Geschwulst mit solchen der Geschwulst
Bittorfs zu vergleichen und habe mich von der Gleichheit der Hohl-
raume in beiden Geschwiilsten iiberzeugen kbnnen.
Dass in meinem Falle diese Hohlraume nur vereinzelt zu finden
waren, erklart sich aus einem schnellen Wachstum der Geschwulst,
das den Gliazellen nicht die Moglichkeit liess, sich zu epithelahnlichen
Gebilden weiter zu differenzieren.
Eine dritte Art der Entstehung ist die aus den eigentlichen ditfe-
renzierten Gliazellen. Diese entstammen den metamedullaren reinen
Gliomen oder Gliosen. Nach der Lage der Gliazellen und den ent-
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326
XV. Stbassner
wicklungsgeschichtlichen Tatsachen ist es leicht verstandlich, dass diese
sich auch leicht extramedullar entwickeln konnen, denn wir wissen,
dass Gliazellen zum grossten Teil von der ausseren Platte gebildet
werden, dass sie oft in den weichen Hirnhauten zu finden sind, ferner
das Austreten derselben entlang den hinteren Wurzeln; alles dies gibt
Gelegenheit, eine extramedullare Entwicklung der Gliome zu erklaren.
Dass innerhalb dieser Gliome rosetteuartige, also epithelahnliche Bil-
dungen auftreten konnen, ist ja aus entwioklungsgeschichtlichen GrQnden
leicht erklarlich, auch obne dass man deswegen annehmen musste, dass
das Ependymepithel an der Entwicklung unserer Geschwulst beteiligt ist.
So hat ja auch Bittorf schon auf die Moglichkeit der Entstehung rosetten-
artiger Bildungen in zellreichen Gliomen und Gliazellen hingewiesen-
Auf Grund dieser Ausfiihrungen glaube ich auch berechtigt zu
sein, anzunehmen, dass eine grosse Anzahl der als primare Sarko-
matose der weichen Hirnhaute beschriebenen Falle als extramedullare
Gliomatosen anzusprechen sind. Allerdings scheint es mir nicht mog-
lich zu sein, alle beschriebenen Falle nach dieser Richtung bin zu
sichten und zu ordnen, da zum grossen Teil die Beschreibung des
mikroskopischen Befundes fiir eine derartige nachtragliche Klassi-
fizierung nicht gentigt. Folgende Falle aus der Literatur glaube ich
aber als extramedullare diffuse Gliomatosen ansehen zu d&rfen:
Bruns (vergl. Pels-Leusden), Cramer, Fraenkel, Grtinbaum,
Grund, Holmsen(?), Lenz, Lobeck, Orlowsky, Pels-Leusden,
Pfersdorff, Rindfleisch Fall III, Schlesinger Fall II, Schulz,
Schultze, Fraenkel-Benda, Fischer. Diese Geschwiilste sind natttr-
lich streng zu trennen von den sekundaren Geschwtilsten der weichen
Hirnhaute, wie ich sie vorber in meiner dritten Gruppe angeftihrt babe;
bei diesen handelt es sich um ein primares Sarkom der Bauch- oder
Brusteingeweide mit sekundarer Sarkomatose der weichen Hirnhaute.
Literatur.
1) Bechterew, im Haudbuch der path. Anotomie des NervenBystems von
Flatau, Jacobsohn, Minor. Berlin 1004.
2) Benda, Deutsche med. Wochenschr. 1898. Nr. 30. S. 476.
3) Borst, Die Lehre von den Geschwulsten.
4) Bruns, Arch. f. Psychiatrie. Bd. 2S.
5) Bittorf, Zieglers Beitrage 1003. Bd. 35.
0) Busch, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 9. S. 114.
7) Cramer, I.-Diss. 1888.
8) Du four, Neurol. Zentralbl. 1005. Bd. 24. S. 87. (Sitzungsbericht.)
0) Eberth, Virch. Arch. Bd. 49.
10) Eppinger, Prager Vierteljahrsschr. Bd. 126. S. 17.
11) Forster, Handbuch der path. Anatomie. Leipzig 1865.
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Cher die difi’usen Geschwiilste der weiehen Ruckenmarkshiiute usw. 327
12' Frankel, Deutsche med. Wochenschr. 1 SOS. S. 442.
13) Glaser, Arch. f. Psychiatric. Bd. 10. S. 87.
14) Gauguillet, I.-D. Bern 1878.
l.>) Grunbaum, Deutsche med. Wochenschr. 1906. S. 702.
10) Grund, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 31.
17) v. Hippel, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 2. S. 3SS.
lSf Holmsen, Ref. Neur. Zentralbl. 1902. S. 552.
19) Lenz, Zieglers Beitr. Bd. 19. 003.
20) Lilienfeld-Benda, Berl. klin. Wochenschr. 1901. Nr. 27. S. 729.
21) Lem eke, Arch. f. klin. Chir. Bd. 26. S. 525.
22} Lobeck, I.-D. Leipzig 1901.
23; Muller, L. R., Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 54. S. 472.
24) Neumann, Archiv der Heilkde. 1872. S. 305.
25) Nonne, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 21. S. 390.
26) Derselbe, Arch. f. Psych. Bd. 33. S. 393.
27j Derselbe, Neurol. Zentralbl. 1897. S. 285.
28) Oppenheim, Nervenkrankheiten. 19<»5.
29) Orlowsky, Neurol. Zentralbl. 1898. S. 93.
30) Pels-Leusden, Zieglers Beitrage. Bd. 23. S. 69.
31) Pfeiffer, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1894. Bd. 5. S. 63.
32) Pfer.sdorff, I.-D. Strassburg. 1900.
33) Richter, Prager med. Wochenschr. 1880. S. 213.
34) Redlich, Jahrbuch f. Psych, u. Neurol. 11*05. S. 351.
35) Rindfleisch, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 26. S. 135.
30) Rosenberg, I.-D. Strasshurg 1892.
37) Roux et Paviot, Arch, de neurologie 1898. p. 433.
38) Saxer, Zieglers Beitr. Bd. 20. S. 332.
39i Schlagenhauffer, Arbeiten an 8 dem Institut f. Anatomie und Pliv-
siologie des Zentralnervensystems an der Wiener Universitiit. Bd. 7. S. 208.
40) Schlesinger, Beitr. zur Klinik der Riickenmarks- und Wirbeltumoren.
Jena 1898.
41) Schroder, Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1899. Bd. 6.
42) Schultze, Arch. f. Psych. Bd. 8. 8. 367.
43) Derselbe, Berl. klin. Wochenschr. ISsO. 8. 523.
44) Derselbe, Arch. f. Psych. Bd. 11. S. 7702
45) Scholz, Wiener klin. Wochenschr. 1905. 8. 1231.
46) Schulz, Arch. f. Psych. Bd. 10. S. 592.
47) Schuppel, Arch, der Heilkde. Bd. 8. 1S07.
48) Siefert, Arch. f. Psych. Bd. 30. 8. 720.
49) Siemon, Arch. f. Psych. 1^75. Bd. 5. S. Its.
50) Strobe, Zieglers Beitriige. Bd. 18. S. 405.
51) Strumpell, Arch. f. Psych. 1897. S. 1004.
52) Stursberg, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 33. S. 6 s
53) Traube, Ges. Abhandlungen. 1871. S. 1(62.
54) Thielen, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 35. Bd.
55) Virchow, Vireh. Arch. Bd. 10. S. 180.
50) Westpha 1, Arch. f. Psych. 20. S. 770.
57) Weickert, Arch. d. Heilkde. lsi;7. 8. S. 1"7.
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XVI.
Aus der medizinisehen Klinik zu Leipzig.
Paramyoclonus multiplex mit Muskelatrophie.
Von
Priv.-Doz. Dr. Ed. Stadler,
Assistenten der Klinik.
Unter dem Namen Paramyoclonus multiplex oder Myo-
klonie ist seit der ersten Schilderung dieses eigenartigen Krankheits-
bildes durch Friedreich (1881) eine Anzahl von Fallen beschrieben
worden, die aber nur zum Teil in ihren Erscheinungen mit Fried¬
reich s Beobachtung ubereinstimmen, zum Teil anderen, anscheinend
verwandten Krankheitszustanden angehoren. Unverricbt 1 2 ) hat die bis
etwa zum Jahre 1895 als Myoklonie veroffentlichten Falle einer Kritik
unterzogen und manchen die Berechtigung dieser Diagnose abgestritten.
Seitdem finden sich entsprechend der Seltenheit der Krankheit nur
sparliche Beobachtungen in der Literatur mitgeteilt, die aber auch noch
keine Einigkeit in der Umgrenzung des Bildes erkennen lassen. Beim
Studium der so iiberaus klaren Schilderung Friedreichs sollte man
immerhin glauben, dass in gewissen Fallen die Differentialdiagnose gegen-
uber verwandten Krankheitszustanden moglich ware. Die Abnlich-
keit gewisser Symptome hat ja zwar manche Autoren dazu gefiihrt,
den Paramyoclonus als selbstandige Krankheit fiberhaupt fallen zu
lassen und anderen Neurosen, der Hysterie, Neurasthenic, Chorea oder
Tic-Krankheit zuzurechnen (Bottiger 3 ), Huchard und Fiessinger 4 )
u. a.). Die Unsicherheit in der Klassifikation der Myoklonie beruht
nieht zum geringsten Teile in unserer Unkenntnis irgend welcher ana-
tomischer Organveriinderungen, die fiir die Lokalisation der Krank-
lieit und ihre Pathogenese herangezogen werden konnten. Zwei in
der Leipziger medizinisehen Klinik beobachtete Falle zeigen neben
1) Friedrich, Virchows Arch. 1SS1. Bd. 86. S. 421.
2j Unverricht, Artikel Myoklonie in Eulenburgs Realencvklopadie.
Is!*8. 3. Aull.
3) Boettiger, Berl. klin. Wochenschr. 1896. Nr. 7.
4) Huchard u. Fiessinger, Revue de mod. XV. 1905. p. 741.
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Paramyoclonus multiplex mit Muskelatrophie.
329
den charakteristischen Erscheinungen des Paramyoclonus Symptome,
welche bislang bei dieser Erkrankung nicht bescbrieben worden sind
und vielleicht hinsichtlich ihrer Pathogenese ein gewisses Interesse
beanspruchen dQrfen.
Deri. Fall betrifft einen 33j&hrigen Instrumcntenmacher Albert R. 1 ),
in dessen Familie keine erw&hnenswerten Krankheiten vorgekommen sind.
Im 9. Lebensjahr hat er eine akute, fieberhafte Krankheit durchgemacht,
die zu einer L&hmung des rechten Beins fdhrte, welches spftterhin in der
Entwicklung wesentlich zurtlckblieb. Vor 5 Jahren war er kurze Zeit
bettliigerig wegen einer Wundrose, die, vom rechten Fuss ausgehend, einen
Teil des rechten Beins ergriff. Andere Krankheiten will er nicht gehabt,
vor allem sich nie gcschlechtlich infiziert haben. Er hat stets ein sehr
miissiges Leben gefhhrt und ist in den letzten Jahren ununterbrochen in
seinem Bernfe tatig gewesen. Neben dem Polieren von Instrumcnten hat
er haufig beim Transport schwerer Klaviere helfen mQssen, also verhaltnis-
miissig schwere kOrperliche Arbeit verrichtet.
Seit etwa 6 Jahren bemerkt der Mann ein eigenartiges Zucken in
seinen Muskeln, das bald lebhafter, bald nur sehr gering, nie vollkommcn
geschwunden sei, ihn im dbrigen in seiner Tatigkeit niemals belastigt habc.
Nur nach der Arbeit, besonders abends beim Ausruhen, will er dieses
Zucken in der rechten Seite hin und wieder unangenehm empfundcn haben.
— Er hat jetzt die Klinik aufgesucht, da cr Schmerzen in seinem lahmen
Fusse infolge Verlust eines passenden Schuhes bekam.
Es handelt sich um einen grossen, muskelkraftigen, starkknochigen
Mann in gutem Ernahrungszustande, dessen Brust- und Bauchorganc nichts
Krankhaftes aufweisen. Der rechte Unterschenkel ist um mehrere Zenti-
meter verkdrzt, der rechte Fuss steht in Equinovalgusstellung. Der
M. tibialis antic, fehlt fast vollkommcn, am Obersehenkel sind die Adduk-
toren und der Quadriceps wesentlich sell wltcher als auf der linken Seite
(spinale Kinderlahmung).
In den Muskeln beider Obersehenkel, besonders stark im Quadriceps,
gcringer in siimtlichen anderen Muskeln springen fast ununterbrochen
grossere Muskelbilndel kurz, blitzartig, wie die Hammer eines Klaviers auf,
ohne dass dadurch ein lokomotorischer Etfekt hervorgerufen wftrde. Die
Kontraktionen folgen sich oft so schnell, dass es in einigen Muskeln zu
einem lebhaften Wogen komnit, das dann bisweilen von kurzen Zuckungen
unterbrochen wird. Dieselben Zuckungen bemerkt man an der Muskulatur
beider Schultergllrtel, der Oberarme — bier namentlich des Triceps —,
wesentlich geringer an den Unterarmen und kleinen Handmuskeln. Die
Unterschenkelmuskulatur weist nur ganz vereinzelte Zuckungen auf, an der
Ilauchmuskulatur und den Muskeln des Gesichts sail ich sie niemals.
Die Bewegungen sind am stilrksten bei Bettruhe, besonders wenn
gleichzeitig leichte mechanische Ileize durch schwaches Beklopfen oder ein
schwacher Kaltereiz durch Anblasen der Haut auf die Muskeln ausgellbt
werden. Bei willktlrlichen, coordinierten Bewegungen Itoren sie sofort auf,
steigern sich aber gewdhnlich in der Rube, wenn der Kranke durch liingeres
Geiien und Arbciten ermtldet ist. Dann hat er bisweilen aucli selbst die
1) Vorgestellt in der med. Gesellscbaft am 12. Januar 1909.
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330
XVI. Stadleb
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Empfindung, als wenn an seinen Fingern mit einem Bande gezogen wQrde,
ohne dass aber durch die Muskelkontraktion eine entsprechende Bewegung
der Finger ausgelbst wird. Schraerzen fehlen.
Die Sensibilitat ist am ganzen Kdrper fllr alle Qaalitaten vollkommeu
intakt. Die Sehnenreflexe an Armen und Beinen sind etwas lebhaft, ohne
dass man sie als pathologisch gesteigert bezeichnen kOnnte. Die sensiblen
Reflexe sind gut ausldsbar, nur der Wttrgreflex erscheint ein wenig herab-
gesetzt. Der Mann macht in keiner Weise den Eindrnck eines Hysterischen
Oder Neurasthenikers. Sonstige Stigmata fehlen.
Bemerkenswert erscheint nun aber eine zweifellose Atrophie der
kleinen Handmuskeln und in geringem Grade auch der Muskeln des
Unterarms, besonders rechts. Die Spatia interossea der HandrQcken sind
auffallend tief, so dass man in die Lttcken einen Finger gut hineinlegeu
kann. Die Kleiniigerballen sind im Gegensatz zu der sehr kraftigen Mus-
kulatur der Oberarme dQnn und schlaff, wahrend die Daumenballen relativ
gut gerundet und fest sind. Auch die Streckmuskulatur des Unterarms
ist unverhaltnismassig schwach im Vergleich zur Oberarmmuskulatur.
Entsprechend ist die grobe Kraft der Hande goring: Am Dynamometer
drttckt der muskelkraftige Mann links 35, rechts noch nicht 30 kg, wahrend
ein wesentlich schwacher gebauter Arbeiter im gleichen Alter mit Leichtig-
keit 50 kg b’ewaltigte. Die direkte mechanische Erregbarkeit der Mus-
kulatur zeigt keine Verstarkung. Die elektrische Reizung ergibt for
alle Stromarten vom Muskel und Nerven aus flberall prompte Zuckungen,
auch sonst keine merklichen Abweichungen von der Norm.
Der Kranke hat bisher in seinem Berufe, bei dem vor allem die
Oberarmmuskulatur in Tatigkeit tritt und Arbeiten, die eine besondere
Kraft im Greifen mit den Handen beanspruchen, fehlen, von der Herab-
setzung der groben Kraft nichts bemerkt. Eine Ursache far die Muskel-
zuckungen, die, wie bemerkt, bereits seit etwa 6 Jahren bestehen, weiss
er selbst nicht anzugeben.
Ein 2. Fall, der seit 5 Jahren des Ofteren in der Klinik beobachtet
werden konnte, gleicht dem eben geschilderten in alien Erscheinungen, nur
stellt er ein wesentlich weiter vorgeschrittenes Stadium des Leidens dar.
Ich kann mich bei seiner Beschreibung kQrzer fassen.
Der jetzt 50 Jahre alte Tischler Emil H. 1 ) stammt angeblich aus
gesunder Familie. Er hat ausser einem vorQbergehenden Nierenleiden als
Kind keine bemerkenswerten Krankheiten durchgemacht Seit seiner Lehr-
zeit ist er starker Raucher von Pfeifentabak und dem Alkohol nicht ganz
abgeneigt Anfang 1904 begab er sich zuerst in arztliche Behandlung
wegen eigenttlmlicher krampfartiger Zustande, welche bei angestrengtem
Hobeln in der rechten Hand und bisweilen in der rechten Schulter auf-
traten. Haufig war es ihm unmdglich, die Finger von dem fest gefassten
Hobel loszulosen. In der Ruhe und bcim einfachen mtlhelosen Ergreifen
von Gegenstanden traten diese „Krampfe“ nie auf. Zu gleicher Zeit wurde
er von seinem Arzte auf eigenartige Zuckungen in den Arm- und Brust-
muskcln aufmerksam gemaeht, von denen er selbst vorher nichts bemerkt
hatte, die aber seitdem an Starke und Ausdehnung bedeutend zugenommen
1) Vorgestellt in der mediz. Gesellsch. am 18. Dez. 1906.
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Paramyoclonus multiplex njit Muskelatrophie.
331
haben sollen. Eine Empfindung will er von diesen Zuckungen selbst
nickt haben.
Seit Miirz 1904 bemerkt der Kranke eine Abnahme der Kraft seines
rechten Arms, die, allmfthlich fortschreitend, ibn im Laufe von zwei Jahren
zur AusObung seines Handwerks nntauglich machte. VorObergehend traten
damals Schmerzen im rechten Unterarme auf, die dann gewShnlich von
krampfartigen Kontraktionen der Finger begleitet waren, so dass er jetzt
hiiufig ergriffene Gegenstande vor Schmerz fallen liess. Dieser Zustand
wiihrte etwa bis 3 / 4 Jalir, am einer weiter zunehmenden Schwache des
rechten Arms und nunmehr auch der linken Hand zu weichen.
Bei einer mehrwOchentlichen klinischen Beobachtung Anfang 1907 sah
man im Bereiche beider Arme, des ganzen ScliultergOrtcls und der Waden
fast ununterbrochen einzelne Muskeln, wie den Supinator longus, den
rechten Sternocleidomastoideus u. a. in toto, von anderen Muskeln nur
grossere BOndel kurz aufspringen, ohne jegliche lokomotorische Wirkung.
Beim leichten Beklopfen der Haut und bei Kaltereizen nahmen die
Zuckungen zu, bei willkQrlichen Bewegungen sistierten sie fast voll-
kommen, ebenso im Schlaf.
Schon im Jahre 1904 fiel bei dem Kranken eine leichte Abmagerung
der Muskulatur der ganzen rechten oberen Extremitat vora SchultergOrtel
bis zu den kleinen Handmuskeln auf, die bis 1906 wesentliche Fortschritte
machte. Damals traten zu den dauernden myoklonischen Bewegungen vor-
flbergehend die vorhin beschriebenen „Myotonie tt -ahnlichen Krampfzustftnde
in der rechten Hand. Die Sehnenreflexe waren lebhaft, die Sensibilitat
war nicht gestort, die grobe Kraft der rechten Hand entsprechend dem
Schwund der Muskeln vermindert. VorObergehend wurde Druck auf die
Muskulatur des ganzen SchultergOrtels und im Verlauf der Nervenstamme
von dem sehr sensiblen Patienten als sclimerzhaft bezeichnet. Im folgen-
den Jahre war das Bild in der Beziehung verandert, als die Atrophie der
Muskulatur der rechten Extremitat, besonders im Bereiche der kleinen
Hand- und der Unterarmmuskeln, bedeutend zugenommen hatte und nun-
mchr auch die Muskeln des linken Arms ausgesprochene Volumsverminde-
rung aufwiesen. Der Umfang der Arme betrug:
1906 1907
Mitte des Oberarms: r. 25 Vg 1- 26'/ 2 r. 24'/ 2 1. 24 '/ 2
Mitte des Unterarms: r. 24 1 / 2 h 25 :, / 4 r. 22 1. 25
(Das KOrpergewicht des Kranken war 1906: 66, 1907: 67 kg.)
An der linken Extremitat waren besonders die Oberarm- und Schulter-
muskulatur, weniger der Unterarm und die kleinen Handmuskeln von der
Atrophie betroffen. Dementsprechend verhielt sich auch die Herabsetzung
der groben Kraft. Die elektrische Erregbarkeit war qualitativ bei direkter
und indirekter Reizung vcillig normal, quautitativ fand sich eine Herab¬
setzung bei direkter Muskelreizung entsprechend der Atrophie. EaR fehlte.
Von den frQheren Krampfzustanden war jetzt nichts mehr zu bemerken.
Der Kranke hatte jetzt auch keine Schmerzeinpfindungen in den Ex-
tremitaten, vor allem keinen Druckschmerz der Nervenstamme.
Die Sehnen- und PeriostreHexe an den Armen sowie die Patellar- und
Acliillessehnenreflexe waren sehr lebhaft. Fussklonus konnte nicht aus-
gelost wcrden. Die Sensibilitat war am ganzen IvOrper intakt.
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XVI. Stai>lek
3;v2
Es handelt sich also um 2 Falle von Paramyoclonus, die in ihren
Erscheinungen mit der Schilderung Friedreichs in alien HauptzQgen
nbereinstimmen. Wir baben die charakteristischen Muskelzuckungen
ohne lokomotorischen Effekt, einzelne Muskeln Oder nur MuskelbOndel
betreffend, deren willkurliche Nachahmung im Gegensatz zu mancheu
Zwangsbewegungen bei Hysterie oder Neurasthenie unmoglich ist. Es
fehlen Storungen der Gefuhls- u.'Scbmerzempfindung und im Bereiche
des Temperatursinns, sowie uberbaupt Symptome, die ohne weiteres
auf eine Erkrankung des Zentralnervensystems hinweisen. Sichere
Anhaltspunkte ftir die Entstehung des Leidens lassen sich nicht auf-
finden. Es ist ja bekannt, dass Friedreich in seinem Falle einen
heftigen Schreck als auslosende Ursache beschuldigte und demen t-
sprechend den Paramyoclonus als Schreckneurose auffasste. In einer
Anzahl spaterer kasuistischer Mitteilungen spielen heftige Gemutsbe-
wegungen atiologisch die Hauptrolle, wahrend von anderer Seite chro-
nische Vergiftung mit Blei, Alkoholismus, akute und chronische In-
fektionskrankheiten und schliesslich auch erbliche Belastung dafttr ver-
antwortlich gemacht werden. Es ist kaum angangig, in unserem ersten
Falle die erste spinale Kinderlahmung, die etwa 18 Jahre vor dem
Beginn des Muskelzuckens bereits bestand, als dessen Entstehungsursache
heranzuziehen. Es mag hier nur erwahnt werden, dass Remak 1 )
bei spinaler Kinderlahmung in dem verkurzten Bein nach Anstrengung
vorlibergehend myoklonieartige Zuckungen beobachtete; allgemeine,
fast die gesamte Muskulatur, wie in unserem Falle, betreffende Stb-
rungen fehlen jedoch. Vielleicht hat bei unserem zweiten Kranken
der Alkohol- und Tabakabusus eine atiologische Bedeutung, die wir
diesen Giften ja bei alien sogenannten funktionellen Neurosen zuzu-
erkennen pflegen. Eine besondere auslosende Ursache fehlt in beiden
Fallen. Es fehlen weiterhin Erscheinungen anderer Krankheitsbilder,
vor allem der Hysterie, Neurasthenie, Epilepsie, die so baufig als
Grundkrankheit oder auch als Komplikation der Myoklonie beschrieben
worden sind, so dass ja von mancher Seite der Paramyoclonus als
selbstandiges Krankheitsbild geleugnet ward. Auf die Berechtigung
dieser Ansicliten, die sich vielfach auf Beobachtung zweifelhafter Falle
stiitzen, kann ich hier nicht eingehen. Zahlreiche frtthere Mitteilungen
sind besonders in den Arbeiteu von Unverricht 2 ) und Schupffer 3 )
1) Remak, Deutsche Klinik von Leyden-Klemperer. Bd. 6. 1. S. Su.'l.
2) Unverricht, Artikel Myoklonie in Eulenburgs Realeneyklopiidie.
3. Aufl.
.'!) Schupffer, l’oliclinico VIII. 19t>l. Zitiert nach Schmidts Jahrh.
l!io3. Bd. 277.
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Paramyoclonus multiplex mit Muskelatrophie.
333
von diesem Gesichtspunkte aus diskutiert worden. Es soil vielmehr
meine Aufgabe sein, das Eigenartige im Bilde unserer zwei Falle zu
besprechen, die Beobachtung von Muskelatrophien beim Para¬
myoclonus.
In beiden Fallen handelt es sich um Atropbien mit progressivem
Charakter im Bereicb beider oberen Extremitaten, die sich durch das
Fehlen von fibrillaren Zuckungen und jeglicher SSnsibilitatssto-
rungen bei nicht merklicb veranderten Reflexphanomenen und nor-
maler elektriscber Erregbarkeit auszeichnen.
Die Lokalisation der Atrophie ist in den zwei Fallen nicht ganz
gleich. Fall 1 zeigt vornehmlich eine Verminderung der kleinen Hand-
muskeln und der Vorderarmmuskulatur, rechts starker als links. Die
Oberartn- und Schultermuskeln sind gut erhalten, sogar ausnehmend
kraftig entwickelt. An der Hand ist der Daumenballen wenig oder
gar nicht verandert. Volum und Kraft der Beuge- und Streckmus-
keln des Vorderarms sind aber ziemlich gleichmassig vermindert.
Fall 2 weist viel hochgradigere Atrophien auf. Die langere Be-
obachtungszeit lasst hier den progredienteu Charakter des Leidens besser
hervortreten. Der Muskelschwund nahm seinen Anfang im Bereiche des
ganzen rechten Arms von der Schulter bis zu den kleinen Handmuskeln
und schritt ganz allmahlich im Laufe der 4jahrigen Beobachtungszeit
gleichmassig fort. Erst wesentlich spater machte sich die Schwache
im linken Arm bemerkbar. Sie begann hier in der Oberarm- und
Schultermuskulatur und ging spater erst auf Unterarm und Hand fiber.
In beiden Fallen ist die Muskelatrophie doppelseitig, in beiden Fallen
halt sie sich in ihrer Lokalisation nicht an bestimmte Ausbreitungs-
gebiete der Nervenstamme, sondern befallt anscheinend ohne Wahl
nur regionar zusammenliegende Muskeln.
Dass die myoklonischen Kontraktionen mit fibrillaren Zuckungen,
wie wir sie bei Erkrankungen des Rlickenmarks im Bereiche der
Vorderhornzellen zu sehen gewohnt sind, nicht verwechselt werden
konnen, bedarf wohl kaum der Erwahnung. Auf das Fehlen von
Sensibilitatsstorungen und von Veranderungen der elektrischen Erreg¬
barkeit in den zwei Fallen sei hier noch einmal hingewiesen, beson-
ders um die Annahme peripherer neuritischer Prozesse auszuschliessen.
Schon das sehr langsame Fortschreiten der Atrophien wiirde ja ohne
weiteres eine Neuritis als Ursache im hochsten Grade unwahrschein-
lich machen.
Das Hauptinteresse beansprucht nacli diesen Beobachtungen die
Frage, ob wir es mit neuropathischen Oder mit mvopathischen Atrophien
zu tun haben. Aus der Verteilung des Muskelschwundes ist ein sicherer
Sehluss schon deshalb nicht mbglich, weil sie bei den beiden Kranken
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334
XVI. Stadlee
nicht ganz gleich iat: bei dem einen fiberwiegt der Schwund in den
Vorderarmen und kleinen Handmuskeln, bei dem anderen im Schulter-
gurtel. Das Fehlen von Sensibilitatsstorungen erlaubt wobl, manche
charakteristische Bilder von Ruckenmarkserkrankungen auszuschliessen,
beweist aber keineswegs das Feblen anatomischer oder funktioneller
Storungen im Zentralnervensystem. Nicht viel besser steht es mit der
Verwertung der fibrillaren Zuckungen und der EaR fur die Diagnose
des spinalen Sitzes der Krankbeit. So sehr ihr Vorhandensein zu
gunsten der medullaren Natur des Leidens spricht, spricht doch ihr
Fehlen nicht ohne weiteres dagegen, da sie in einer nicht unbetracht-
lichen Zahl anatomisch festgestellter spinaler Muskelatrophien bekannt-
lich vermisst worden sind. So lassen die bisherigen Untersuchungs-
ergebnisse eine sichere Entscheidung der Frage, ob neuropathische
oder myopathische Atrophien vorliegen, nicht zu. Yielleicht aber geben
analoge Veranderungen bei anderen, haufigeren Krankbeiten der Be-
wegungsorgane einen Anhaltspunkt fiir die Erklarung des Muskel-
schwunds bei unseren Fallen von Myoklonie.
Da wirft sich zunachst die Frage auf, ob denn die Muskelatrophie
uberhaupt in einem Abbangigkeitsverhaltnis zum Paramyoclonus steht?
Verschiedene Moglichkeiten sind da denkbar:
Entweder haben sich beide Symptome zufallig neben einander, aber
unabhangig von einander entwickelt,
oder beide Erscheinungen sind die Folgen einer einzigen Ver-
anderung, auf dessen Boden sie gemeinschaftlieh fussen,
oder die Grundkrankheit ist der Paramyoclonus und die Muskel¬
atrophie nur ein Symptom desselben,
oder schliesslich: es handelt sich vielmehr um progressiven Muskel¬
schwund, dessen Begleiterscheinungen die Muskelzuckungen bilden.
Gegen die letzte Annahme spricht das zeitliche Auftreten beider
Symptome: im Falle 1 wurde die Muskelschwache erst etwa 6 Jahre,
im Falle 2 mindestens V 2 J&br nach Beginn der Zuckungen beobachtet.
Die Erscheinungen des Paramyoclonus gingen also dem Muskelschwund
voraus. Schwieriger ist die Beantwortung der beiden ersten Fragen.
In der Literatur ist bislaug kein Fall von Myoklonie mitgeteilt,
bei dem Muskelatrophien gefunden wurden. Ist der echte Fried-
reichsche Paramyoclonus an sich schon eine seltene Erkrankung, so
scheint seiue Kombination mit Muskelschwund zu den grossten Rari-
tiiten zu gehoren. Die Verteilung der Atrophie am Korper lasst, wie
wir saheD, keiue sichere Entscheidung zu, ob es sich um einen neuro-
pathischen oder myopathisehen Typus handele. Sie ist weder charak-
teristisch fur die spinale Form der Muskelatrophie, noch fur die
dystrophische, noch auch fur eine periphere neuritische. Auch diese
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Paramyoclonus multiplex mit Muskelatrophie.
335
Leiden gehoren nicht zu den alltaglichen; ihr gleichzeitiges Zusammen-
treffen mit der Myoklonie in zwei Fallen ware immerhin eine selt-
same Zufalligkeit. — Die Schwierigkeit in der Diskussion dieser ganzen
Frage erhoht sich vor allem dadurch, dass wir von den pathologischen
Grundlagen beider Leiden keine sicheren Kenntnisse haben.
In Friedreichs Fall konnte Schultze bei genauer mikro-
skopischer Untersuchung keine anatomischen Veranderungen im Zen-
tralnervensystem nachweisen. Friedreich nahm als Ursache der
Myoklonie eine funktionelle Storung im Bereiche der Ganglienzellen
der grauen Vordersaulen des Ruckenmarks an. Die meisten spateren
Autoren folgten ihm in dieser Ansicht. Einige wenige (Murri 1 ),
Grawitz 2 )) verlegten den Sitz der Erkrankung in das Gehirn. Po-
pow 3 ) wollte die Muskelzuckungen als Ermlldnngsphanomen erklaren,
das sich einstelle, nachdem die Muskeln infolge des Schreckens (die
Schreckneurose ist bei ihm als Atiologie des Paramyoclonus sichere
Voraussetzung) in eine Art Starre verfallen waren. Hunt 4 ) fand eben-
falls Gehirn und Ruckenmark frei yon anatomischen Veranderungen,
er beobachtete jedoch eine Vergrosserung der Muskelfasern, sowie eine
Verlagerung der Sarkolemmkerne. Diese Muskeldystrophie glaubt er
als einen von den Vorderhornzellen ausgehenden trophischen Vorgang
ansehen zu durfen, der die motorischen Phiinomene begleitet.
Das eigenartige Zusammentreffen von Muskelschwund und einer
Aktionsstorung der Muskeln beobachten wir aber in manchen Fallen
einer Erkrankung, iiber deren Pathogenese wir zwar ebenfalls noch im
Unklaren sind, deren Studium aber infolge des haufigeren Vorkom-
mens des Leidens immerhin Aussichten auf Erfolg bietet, der Myo-
tonie oder Thomsenschen Krankheit. Charakter und Lokalisation
der Muskelatrophie weisen in den bisher beobachteten Fallen von
Myotonie dieselben Merkmale auf, wie bei unseren zwei Myoklonikern.
Die „Doppelseitigkeit und Symmetrie des Muskelschwundes im ein-
zelnen Falle, der progressive Charakter, das Fehlen von fibrillaren
Zuckungen in den erkrankten Muskeln" bei wechselnder Lokalisation
der Atrophie in den verschiedenen Fallen sind die Erscheinungen,
welche J. Hoffmann 5 ) als gemeinschaftliehe Merkmale aus den bis-
herigen Beobachtungen zusammenstellt. Dazu komint, dass die Myo-
1) Murri, Jahresber. f. Neurol, und Psych. It>02. lid. 0.
2) Grawitz, Deutsche med. Wochenschr. iS'tO. Nr. 19.
3) Popow, zit. nach Unverricht, Artikel Myoklonie in Eulenburgs Real*
encvklopadie. 1S98. 3. Aufl.
4) Hunt, Jahresber. f. Neurol, u. Psych. 1903. Pd. 7.
5) J. Hoffmann, Deutsche Zeitschrift f. Ncrvenheilkunde. 1900. Bd. 18.
S. 209.
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. 37. Bd. 22
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336
XVI. Stadi.ku
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tonie in alien daraufhin beobachteten Fallen dem Muskelschwund voraus-
ging, ein Verbalten, das wir bei unseren Fallen von Myoklonie eben-
falls feststellen konnten.
Dann seien hier noch zwei weitere Beobachtungen angef&hrt, die
man vielleicht als Berlihrungspunkte beim Vergleich der beiden Er-
krankungen miteinander verwerten kann. In unserem Fall 2 wurden
langere Zeit krampfartige Kontraktionen der Hande beobachtet, die
beim festen Zugreifen uud Halten von Gegenstanden auftraten und
sich erst ganz allmahlich wieder losten. Der kranke Tischler konnte
oft die Finger von seinem fest umspannten Hobel nicht losbriDgen.
Die einfache Beobachtung dieses Zustandes erweckte unmittelbar den
Eindruck myotonischer Spasmen, die elektrische Untersuchung liess
freilich die charakteristische myotonische Reaktion vermissen. Nach
etwa 3 / 4 Jahr war von dem Symptom mit der Zunahme der Atrophie
der Muskeln nichts mehr bemerkbar.
Fernerhin schreibt Erb 1 ) in der Krankengeschichte seines Falles
38 der Thomsenschen Krankheit: „Muskelspannungen bestehen in
der Ruhe nirgends; dagegen zeigen sich haufig einzelne unruhige,
zuckende Bewegnngen verschiedener Muskeln, besonders an den gerade
untersuchten Gliedmassen; keine fibrillaren Zuckungen." Ob es sich
in diesem Falle um myoklonieartige Zuckungen gehandelt hat, mag
zwar dahingestellt sein; die Beschreibuug wurde immerhin dafur spre-
clien. Also einerseits ein Fall von typischem Paramyoclonus mit myo-
tonieahnlichen Symptomen, andererseits ein Fall von typischer Myo-
tonie mit Muskelzuckungen, die sicher nicht fibrillare Zuckungen waren.
Es mag als gesucht erscheinen, auf Grund dieser sparlichen Beob¬
achtungen eine Parallele zwischen dem Paramyoclonus und der Thom¬
senschen Krankheit ziehen zu wollen. Es ist dabei freilich zu be-
denken, dass beide Krankheiten selten sind, und dass ausserdem die
Myoklonie wahrscheinlich noch recht oft tibersehen wird, da sie ja
meist von ihrem Trager selbst zuniichst garnicht wahrgenommen wird,
weil sie ihm gar keine Beschwerden verursacht. Das Auftreten ganz
gleichartiger Ernahrungstbrungen der Muskulatur in einer Anordnung.
die unter keinen bekannten Typus der Muskelatropbie fallt, bei zwei
Krankheiten. deren Hauptsyniptom in Aktionsstorungen der Muskeln
besteht, fordert aber docb dazu heraus, nach gemeinsamen atiologisclien
uud pathogenetischeu Grundlagen fiir beide zu suchen.
Die Ansiehten der verschiedeneu Autoren tiber Wesen und Sitz
der Myotonie hat Hoffmann in kurzer ubersichtlicher Weise zusammen-
gestellt. Die Frage nach der myopathischen oder ueuropathischen Natur
1) Deutsches Arehiv f. klin. Med. Bd. 43. S. 540.
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Paramyoclonus multiplex mit Muskelatrophie.
337
des Leidens steht auch heute noch zur Diskussion, zumal hinsichtlich
der Atrophie der Muskulatur. Manche Beobachtungen und anato-
mischen Untersuchungen sprechen ja allerdings flir die Annahme eines
primaren MuskelleideDS, das vielleicht in einer Stoffwechselstorung
des Muskels seine Ursache hat. Andere ganz plotzlich im mittlereu
Lebensalter entstandene myotonische Funktionsstorungen machen die.se
Hypothese wieder unwahrscheinlich und lassen doch an nervose Ein-
fliisse vor allem denken. Bei der Betrachtung der Falle von Paramyo¬
clonus stossen wir auf die gleichen Bedenken. Wenn auch fiir manche
Falle eine Erschutterung des Nervensystems iitiologisch verantwortlich
gemacht wird, so steht doch flir eine ganze Anzahl die Kenntnis der
Entstehungsursache vollkommen aus. Wir haben zunachst wenigstens
nicht das Recht, die Myoklonie ohne weiteres als nervose Storung auf-
zufassen und ihren Sitz in das Ruckeumark zu verlegeu. Die zwei
Beobachtungen von Muskelschwund beim Paramyoclonus erlauben
ohne Zweifel einen Vergleich mit der Thomsenschen Krankheit und
berechtigen zu der Hypothese, auch den Paramyoclonus als primares
Muskelleiden aufzufassen und von diesem Gesichtspunkte aus zu be-
trachten. Vielleicht bringt uns das Studium von Stoffwechselvor-
gangen im Muskel auch fiir seine Funktionsstorungen neue Aufschlusse.
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XVII,
Aus der Poliklinik fiir Nervenkrankheiten von Prof. H. Oppenheim
in Berlin.
Ein Fall von Psammom der Arachnoidea des oberen Dor-
salmarks.
Yon
Dr. W. Hertz,
Assistant der Poliklinik.
(Mit 3 Abbildungen.)
Der im Folgenden mitzuteilende Fall von Ruckenmarkstuuior
bietet zwar diagnostisch und klinisch keine auffallenden Besonder-
heiten, was aber die Veroffentlichung wiinschenswert erscheinen lasst,
sind die anatomischen Verhiiltnisse, die bei der relativen Haufigkeit
der Psammome einen Hinweis geben konnen fiir die operative Behandlung.
Die zunachst folgenden Daten hat mir Herr Professor Oppen¬
heim aus seinen Aufzeichnungen liebenswiirdigerweise zur Verfugung
gestellt.
Frau Gr., 51 Jalire, Arbeitcrfrau.
Diagnose: Tumor im Umkreis des Rfickenmarks in Iloiie des 4. und
5. Dorsalwirbels; ob von Wirbelsiiule odor Meningen ausgehend, zweifel-
haft, dock sprieht der langsame Verlauf entscliieden fttr meningealen Sitz.
Anamnese 24. X. 1907: Seit 6 Jahren Sclnviiehe im recliten Bein,
die in der grossen Zehe angefangen hat. Umschnftrungsgelfihl in der
recliten Kniegegend. Maltigkeit soil sicli dann allmahlich fiber das ganze
reelite Bein bis zur llut'te erstreekt haben. Erst seit 2 Monaten auch
Schwiidie im linken Bein. Ausserdem Rfickenschmerz, der sieh zeitweilig
steigert. Keine Urinbescliwerden. Seit Beginn des Leidens hat sie Span-
nuntrsgef'iihl in der Abdominalgegend. Eine linksseitige Ptosis soil seit der
Kindheit bestehen.
Status: Am rechton Rein massige Steifigkeit. Links weniger aus-
gtsproehen. Reclits Patellarklonus, links nichts.
Roclits Babinski, ebenso links. Oppenheim redits und links deut-
lidi, erheblidie Ilyperiisthesio. Mendel fehlt beiderseits. Lahmung des
redden Reins nalie/u komplet. Audi links holier Grad von Parese: bringt
aueli das linke Rein nicht von der Unterlage. Pinsel an beiden Beinen
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Ein Fall von Psammon der Arachnoidea des oberen Dorsalmarks. 339
geftkhlt. Links mftssige Hypalgesie. Keine Lagegeftthlsstdrung, keine
Muskelatrophie, aber auffallend Genu recurvatum. Bauchdecken schlaff.
Bauchreflex feblt reckts, ist auch links nur angedeutet. Im ganzen blaht
.sich bei Bauchpresse die linke Abdominalgegend etwas mehr auf, doch ist
der Unterschied gering. Temperatursinn wohl an beiden Unterschenkeln
nicht ganz normal. Wahrend aber am rechten Unterschenkel Kalt und
Warm unterschieden werden, wird links Kalt als Warm bezeichnet.
Sehnenphanomene an beiden oberen Extremitaten stark, aber nicht
ausgesprochen pathologisch. Handedruck beiderseits gut
Bei Kneifen einer Hautfalte am Oberschenkel stellt sich eine kom-
plizierte starke Reflexbewegung ein: eine Beugung des Oberschenkels,
Streckung des Fusses und der Zehen. Am ausgiebigsten im Extensor
hallucis longus.
HOhere Temperaturgrade erzeugen am rechten Unterschenkel Hitze-
empfindung, am linken nicht. Bewegungen der Wirbelsaule erzeugen leb-
haften Schmerz.
Starke ROtung der Kreuzgegend. Schmerzen in Lendenkreuzgegend.
Die ganze Dorsalgegend scheint ttberempfindlich, besonders die Gegend
des 4. Dornfortsatzes. In derselben HOhe nach rechts vom Dornfortsatz
Schall etwas verkttrzt.
Rechts in der HOhe der 4, 5. und 6. Rippe eine scheinbare Hyper-
algesie, doch bedarf das der weiteren Kontrolle.
Sicher findet sich eine Zone taktiler Hypasthesie rechts zwischen
Nabelhohe und 7. Rippe. Wahrend der Untersuchung wimmert Patientin
vor Schmerzen im rechten Bein. Bei Schmerzausserungen verzieht sich
der Nabel haufig nach rechts. Es blaht sich dabei die linke Abdominal¬
gegend etwas mehr. Die Zone der taktilen Hypalgesie erstreckt sich bis
etwa 2 Querfinger breit unterhalb des Processus ensiformis. In demselben
Gebiet leichte Hypalgesie, die sich ebenfalls bis zur 7. Rippe erstreckt.
Bericht des Prof. Oppenheim an die chirurgische Klinik
(Prof. Bier).
Ich finde bei Frau Gr. die typischen Symptome einer spastischen
Paraplegie, die im rechten Bein noch weiter vorgeschritten ist als
links, ausserdem Hypalgesie und Thermhypasthesie besonders am linken
Bein, wahrend am rechten eher Hyperasthesie besteht. Ferner Fehlen
des Bauchreflexes rechts (jedoch bei der Schlaffheit der Bauchdecken
kaum zu bewerten). Eine Sensibilitatsstorung an der rechten Abdo¬
minalgegend von der Nabellinie bis zur Hohe der 7. Rippe fur Be-
ruhrungs- und Schmerzreize, wahrend sich in den entsprechenden Ge-
bieten hinten eher Hyperalgesie findet. Schliesslich ist die Gegend
des 4. Dorsalwirbeldornfortsatzes auf Druck sehr schmerzhaft. Beson¬
ders gilt dies auch fur den Druck, der die Gegend rechts vom
Dornfortsatz trifft. Hier scheint auch der Perkussionsschall etwas
abgeschwacht.
Nach alledem ist es nicht zu bezweifeln, dass es sich um einen
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340
XVII. Hertz
Prozess im Bereicne bezw. Umkreis des oberen Dorsalmarks, etwa im
Ursprungsgebiet des 4.—7. Dorsalsegments, handelt, der seinen Aus-
gang von der rechten Seite her genommen hat. Nach der ganzen Ent-
wicklung ist-in erster Linie an eine Neubildung zu denken. Sie konnte
von den "Wirbeln oder Meningen ausgehen. Bei der langsaraen Ent-
wicklung und dem spaten Eintritt der Schmerzen, dem Fehlen jeder
Deformitat nach so langer Zeit ist mir der meningeale Ursprung wahr-
scheinlicher. Immerhin ware Rontgenaufnahme noch sehr erwunscht.
Ich empfehle die operative Behandlung, bedauere nur, dass
die Neigung zu Ohnmacht und Herzschwache die Aussicht ver-
schlechtert.
Untersuchung am 31. X. 1907. Die Hypfisthesie am Abdomen
rechts beginnt 2 Querfinger breit Ober dem Nabel; in der Mamillarlinie
etwas holier liinauf, bis zur 9. Rippe;
Fig. 1.
nach unten bis ca. 3 Querfinger breit
unterhalb des Poupartschen Bandes.
Genau in derselben Hohe auch
Hypalgesie; fiir Schmerz liisst sich
eine sicbere Stbrung in den Beinen
nicht nacliweisen. Heute keine sichere
Dift'erenz zwischen rechts und links.
Am rechten Unterschenkel Warm
uicht als Warm empfundcn, erst un-
gefahr von Kniehohe an. Ebenso an>
linken. Hier geht die Stdrung bis
etwa zum oberen Drittel des Unter-
schenkels. Links besteht fQr Kalt
eine Ilypastbesie, die bis zur Mitte
des Oberschenkels reicht, allroahlich
abschliessend; rechts ebenfalls nur
bis zum Knie.
Im ganzen wird jedenfalls links
Kalt und Warm bei geringen Diffe-
renzen viel haufiger verwecliselt als
rechts. Die Storung nimmt distal¬
warts zu.
Im hypasthetischen Gcbiet auch
Thermhypasthesie.
Auch heute keine Lagegeftlhls-
stbrungen.
Am 6. XI. 1907 Operation durcb
Bier.
Erbffnung der Wirbelsaule in
Hohe des 4. Dorsalwirbels, auch des
5. Dura pulsiert nicht. Nach Spaltung
erscheint das Rilckenmark in dieser
Hohe stark geschwollen und blaurot
verfarbt, in einer Ausdehnung von
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Ein Fall von Psaminom der Arachnoidea des oberen Dorsalmarks. 341
2—2,5 cm. Um alles gut flbersehen zo kQnnen, wird noch nach oben und
nach unten ein Wirbelbogen entfemt. Man erkennt, dass die Schwellung
dem Niveau ca. des 4. DorsalwirbelkOrpers entspricht. Es lilsst sich zu-
Mchst nicht entsckeiden, ob der Tumor intra- oder extramedullar sitzt.
Beim Yersuch, durch die Arachnoidea vorzudringen, erkennt man, dass es
schon das stark komprimierte Mark ist, das eingeschnitten wird und das
in die Geschwulst aufgeht. Diese lksst sich somit nur zum Teil entfernen.
Fig. 1 zeigt die Geschwulst nach Eroffnung der Dura.
Die frische Untersuchung zeigt Neurofibrom, das stellenwcise sarkomatds
entartet scheint, dazwischen Rttckenmarkssubstanz. Es floss fast kein
Liquor ab. Die ganze Operation verlief schuell, in ca. V 2 — 3 U Stunde.
Wenig Blutverlust.
Untersuchung am 8. XI. 1907. Dauernd viel Erbrechen; Puls,
Temperatur normal. Klagen Aber Schmerzen heute geringer als gestern;
absolute L&hmung beider Beine, aber mit Erhaltensein von Knie- und
Achillesreflex. Zehenreflexe nicht auslosbar. Sensibilitat fdr Nadelstiche
(grob geprtlft) jedenfalls nicht aufgehobeD, nur Yerminderung der Schmerz-
empfindlichkeit. Auch an den FQssen ist die Schmerzerapfindung erhalten.
BerUhrung auch bei starkeren Reizen richtig lokalisiert.
Bild der totalen Querschnittslahmung mit volligcr Paraplegie, An-
asthesie, Blasen-, Mastdarmlahmung, aber Kniephanomene erhalten.
Aus dem Operationsbericht. Spaltung der Dura in der Mittel-
linie in der Ausdehnung von 4 cm. Auf der H6he des 4. Wirbels zeigt
das Mark eine spindelige Anschwellung, dr&ngt sich aus der geOffneten
Dura sofort sehr stark hervor und sieht blaulich-grau verfarbt aus. Wenig
Liquoralabfluss. Zur genauen Ubersicht wird zunachst noch nach oben
der 3., nach unten der 6. Dornfortsatz und Wirbelbogen mit Zangen ent-
fernt, die Dura in der gleichen Ausdehnung gespalten. Das Mark erweist
sich hierbei oben wie unten als normal. Beim seitlichen Anheben des
Marks mit stumpfen Instrumenten sieht man, dass die spindelige An¬
schwellung zirkular ist. In den austretenden Wurzeln ist nichts Krank-
liaftes nachzuweisen. Ebenso ist die Dura und der Knochen hberall frei
von Erkrankung. Es wird nun auf die spindelige Erkrankung des Marks
von hinten her eingegangen. Nach Spaltung einer dttnnen Lamelle, die
als verdickte Arachnoidea iniponiert, prasentiert sich ein mandelkerngrosser,
weicher brauner Tumor, der nicht scharf abgekapselt, nahezu zentral im
Mark sitzt, etwas mehr nach rechts. Beim stumpfen Ausheben des Tumors
sieht man, dass die gespaltene Schicht, die ihn verdeckt hatte, bereits
komprimiertes Mark war. Nach Entfernung der Gescliwulst prasentiert
sich ein der GrOsse des Tumors entsprechender Defekt im Mark. Seine
beiden Enden stehen nur noch durch die ebenfalls stark atrophische vordere
Halite im Zusammenhang. Naht usw.
18. XI. Keine Schmerzen, absolut schlaffe Paraplegie. Kniephanomen
rechts deutlich, links schwach. Fersenphiinomene in der Rtlckenlage nicht
zu erzielen. Kein Zehenreflex, kein UnterschenkelreHex. Absolute In¬
continentia urinae et alvi. Sensibilitiit ftir Bertlhrung und Nadel im Ab¬
domen und Beinen erloschen. Cystitis.
2. XII. Temperatursteigerungen, klagt fiber Schmerzen in der Nieren-
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XVII. Hertz
gegend. Cystitis und Decubitus haben zugenommen. Patientiu ist den ganzen
Tag liber somnolent und verfallen.
Temperatur 39. Puls sehr frequent und oberfl&chlich.
6. XII. Leichte Besserung.
12. XII. Agonie, zunehmender Verfall. Temperatur 40.
13. XII. Exitus.
Sektionsbericht (Dr. Sticker):
An der Operationsstelle im Rtlcken linear verheilte Hautnarbe. Die
Rftckenmuskulatur bildet an dieser Stelle eine etwa 10 cm lange, finger-
starke, sclnvielige Narbe. In der Kreuzbeingegend handtellergrosses
Decubitalgescbwtir.
Die Dura ist an der oben envahnten Stelle fest mit dem Rtlckenmark
Fig. 2.
verwachsen, im tlbrigen Verlauf frei von krankhaften Yeranderungen.
Lunge mit der Brustwand beiderseits verwachsen, starkes Odem. Milz
vergrossert, Pulpa weich, braunrot. Nierenkapsel leicht abziehbar, Ober-
flache stark granuliert, gcrade Harnkanalchen stark verbreitert. Pyelone¬
phritis, Cystitis. Leber derb, Zeiclinung der Acini deutlich.
Todesursache: Sepsis.
Das herausgenommene Rtlckenmark wurde in Mtlllerscker FlQssig-
keit gehartet. Eiubettung in Celloidin. Farbung Pal, van Gieson, Eosin.
Mikroskopische Untersuchung:
An der Operationsstelle war ein grosser Defekt des Rtlckenmarks, von
dem nur ein kleiner Rest vorhanden war. Der tiberwiegende Teil wurde
von einer Neubildung ausgef'Qllt, wie sie in Fig. 2 abgebildet ist; es
handelt sich urn ein zellreiches bindegewebiges Stroma (a), in welches
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Ein Fall von Psammom der Arachuoidea des oberen Dorsalmarks. 343
zahlreiche runde bis ovale Gebilde eingelagert sind, welche eine deutliche
konzentriscke Schichtung zeigen. Die starke Farbaufnahme ftlr Hama-
toxylin zeigt, dass es Kalkkonkremente sind (b).
Diese Konkremente haben die Kerne des umgebenden Stroma ab-
geplattet. Bei den frischeren Konkrementen mit noch sckwachem Kalk-
gehalt (c) siekt man dieses Verdrangen der Kerne deutlick. Ausserdem
linden sick vielfack rote Blutkorpercken im Stroma, nirgends Vaskularisation.
Fig. 3 zeigt einen Scknitt in dem Niveau unterkalb des operativen
Eingriffs.
Farbung Pal-van Gieson, Lupenvergrosserung. Man siekt kier.
Fig. 3.
wie die reckte liintere Partie des Rfickenmarks aus dem durck die Opera¬
tion bedingten Scklitz der Dura (a) kervorgetreten ist und sick mit neu-
gebildetem Bindegewebe Oberzogen hat (b). Die Dura ist verdickt und mit
der Pia verwachsen; die Meningen zeigen kleinzellige Infiltration. An der
rechten Seite des RUckcnmarks sieht man die Neubildung (c), die das
Rtickenmark kalbmondfOrmig umgreift und von der Arachnoidea ausgeht.
An keiner Hoke des ROckenmarks war ein Ubergreifen des Tumors auf
die Marksubstauz selbst nachzuwciscn. Yon sekundaren Degencrationen
liess sich nur die absteigende vOllig verfolgen; sie betraf haupts&chlich die
rechten PyS und war bis in den Conus nackzuweisen.
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XVII. Hertz
Die aufsteigende bestand in typischer Weise, doch lag Material nur
bis zur HShe des mittleren Cervikalmarks vor.
Es handelt sich mithin urn ein Fibropsammom, das von der Aracb-
noidea ausgehend das RQckenmark komprimiert hatte. Daneben Meningitis.
Epikrise.
Die Anamnese hatte ergeben, dass ein Prozess von sehr langsam
progredientem Verlauf vorlag, der in einem Zeitraum von 6 Jahren
keine Tendenz hatte, in vertikaler Richtung sich zu verbreiten. Neben
Schwache im rechten Bein bestand schon zu Anfang Spannungsgefuhl
in der Abdominalgegend.
Allmiibliches Hoherrttcken der Schwache in dem rechten Bein
bis zur Htifte, wahrend im linken Bein erst Beit 2 Monaten Schwache
verspurt wird. Daneben intermittierende RQckenschmerzen, die erst
spater auftraten.
So weit die positiven anamnestischen Daten. Der Befund bei der
ersten Untersuchung ergab das Bild der spastischen Paraplegie, die
besonders im rechten Bein ausgesprochen war.
Die Sensibilitatsstorungen bestanden einmal in einer Hypasthesie
und Hypalgesie der rechten Rumpfhalfte, welche ihre obere Grenze in
der Mamillarlinie in der H5he der 7.—8. Rippe erreicht, und einer
Thermhypasthesie, die beide Beine betrifft, aber links deutlicher und
ausgedehnter ist und sich auch auf die hypasthetische Partie an der
rechten Rumpfhalfte erstreckh
Es bestand also ein Brown-Sequardscher Symptomenkomplex,
allerdings nicht in ganz reiner Form; jedoch wird man wohl annehmen
konnen, dass er im frtiheren Verlauf einmal deutlich ausgesprochen
war, da nach der Anamnese die Parese des linken Beines erst seit
zwei Monaten vorlag.
Zusammenfassend war also der Befund folgender: Spastische Para¬
plegie der Beine, besonders rechts, ein atypischer Brown-Sequard, hef-
tige Schmerzen in den Beinen und im Rticken; Druckscbmerzhaftigkeit
besonders der Gegend des 4. Dorsalwirbeldorns und eine Dampfung
rechts von letzterem. Allmahliche Entwicklung des Leidens in einem
Zeitraum von 6 Jahren.
Von den Sensibilitiitsstorungen war die Thermhypasthesie der Beine
als Symptom der Leitungsunterbrechung aufzufassen, wahrend die
Hypalgesie und Iiypiisthesie der rechten Rumpfseite sowie die Schmerzen
als Wurzelsymptome zu deuten waren.
Es rnusste sich also um eineu Prozess handeln, der in sehr lang-
samer Progredienz das Riickenmark von rechts her komprimiert hatte
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Ein Fall von Psammom der Arachnoidea des oberen Dorsalmarks. 345
und innerhalb sechs Jahren keine Tendenz hatte, sein Niveau nach
oben zu andern, da Parasthesien in der Abdominalgegend scbon zu
Anfang bestanden hatten. Die Diagnose einer intravertebralen exfcra-
medullaren Neubildung im Bereich des oberen Dorsalmarks war daber
mit grosser Wabrscheinlicbkeit zu stellen.
Fflr die Niveaudiagnose kamen folgende Gesichtspunkte inBetracbt:
Die Sensibilitatsstorung reichte rechts am Abdomen bis zur 7.
Rippe, wahrend die Gegend der 4., 5. und 6. Rippe byperasthetisch
schien. Diese Zone entspricbt nach MaGgabe des Seifferschen Schemas
der 5.—6. Dorsalwurzel, d. h. des 4. Wirbelfortsatzes, der ja auch auf
Druck besonders empfindlich war, und von dem aus rechts eine
Dampfung nachgewiesen war.
Die Laminektomie zeigte denn auch, dass das Riickenmark an der
angenommenen Hohe erkrankt war.
Doch war das Bild, das sich nach Eroffnung der Dura zeigte, un-
gewohnlich. Es fand sich kein abgegrenzter Tumor, sondern eine
spindelige Verdickung des Marks, das zugleich verfarbt erschien. Beim
Eingehen imponierte die peripherische Partie zunachst als „verdickte
Arachnoidea". Darunter aber kam man auf eine weiche verfarbte
Substanz. Man hatte also den Eindruck, dass es sich um einen intra-
medullaren Tumor handelte, der naturgemass ein weiteres Yordringen
unmoglich machte. Eine Abgrenzung des Prozesses war nicht zu er-
kennen. Der Wundverlauf zeigte, dass eine vollkommene Leitungs-
unterbrechung eingetreten war, und die Inkontiuenz, bei dem be-
stehenden Decubitus, beschleunigte den Eintritt einer Sepsis, der die
Patientin erlag.
Die mikroskopische Untersuchung klarte die Verhaltnisse dahin
auf, dass die Schicht, weiche beim Eingehen in die Neubildung als
verdickte Arachnoidea angesprochen wurde, und die man spater flir
lamellenformig verdiinnte Medulla gehalten hatte, in Wirklichkeit die
Neubildung gewesen war, und dass das Mark unter derselben schon
stark komprimiert war und wohl deshalb so braunrot verfarbt und
weich erschien. Doch war an den Markresten keine Veranderung im
Sinne einer Neubildung nachzuweisen.
Was nun den Fall beachtenswert macht, ist eben die ungewohn-
liche Form, in der das Psammom dem Marke angelagert war, und die
eine totale Exstirpation unmoglich machte. Ich habe in dem grossen
Sammelreferat von Stursberg (Zentralblatt f. Grenzgeb. 1908) 9 Falle
von Psammom der Riickenmarkshaute gefunden. Bei alien diesen
handelte es sich um gut abgegrenzte und leicht auszuschalende Neu-
bildungen. Yon den 9 Fallen endeten nur 2 letal, 5 wurden geheilt
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XVII. Hertz, Psammom der Aracbnoidea.
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und bei 2 trat Besserung ein. Die Prognose liegt also gerade bei
Psammomen sehr gfinstig.
Beim vorliegenden Falle moss man aber eher yon einer umschrie-
benen Psammomatose der Arachnoidea sprechen. Die Arachnoidea
war in der ganzen Zirkumferenz, besonders aber rechtsseitig, psammo-
matos verdickt, und wenn auch nirgends ein tjbergreifen der Veran-
rung auf das Mark stattgefunden hatte, so war doch die Entfernung
der erkrankten Partie sehr erschwert, da es sich zeigte, dass die Neu-
bildung das Mark zirkular umgriff.
Ob selbst bei gelungener Entfernung des Tumors eine Heilung
zu erzielen war, muss zum mindestens als sehr unwahrscheinlich an-
gesehen werden, da das Mark doch schon schwer verandert erschien.
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XVIII.
Cber den IMmnngstypus bei cortikalen Hirnherden.
Von
Otfrld Foerster,
Privatdozent an der Universitat Breslau.
(Mit 8 AbbildungeD.)
Aus der Unterbrechung der corticospinalen Leitungsbahnen, deren
wesentlicbste beim Menschen die Pyramidenbahn ist, resultiert
eine absolut charakteristische Koordinationsstorung, die sich
in der Hauptsache aus zwei Komponenten zusammensetzt. Die erste
Komponente der Koordinationsstorung bestebt kurz gesprocben darin,
dass die corticogene Erregbarkeit der Muskeln infolge der
Zerstorung der innervatorischen Pyramidenbahnfasern,
welche normaliter Innervationsimpulse vom Cortex zu den
Muskeln leiten, aufgehoben oder berabgesetzt ist, was sich
besonders darin aussert, dass die Muskeln zum Zwecke der willkfir-
lichen AusfQhrung der ihnen zufallenden Bewegung gar nicbt oder
nur mangelhaft in Spannung bezw. Kontraktion versetzt werden konnen;
wir wollen den hieraus entspringenden Teil der Bewegungsstorung die
paretische Komponente nennen. Andererseits ist die Errregbar-
keit der Muskeln von den subcortikalen Zentren, speziell vom Rficken-
marksgrau aus, also die subcorticogene Erregbarkeit, nicht aufgehoben,
sofern diese Zentren die Anregung nur nicht vom Cortex, sondern
von der Peripherie her auf dem Wege der sensiblen Erregung empfangen.
Man kann daher auch sagen, die reflektorische subcortikale Er¬
regbarkeit der Muskeln ist erhalten, was sich darin zu erkennen
gibt, dass die unwillkfirlichen Reflexbewegungen und reflektorisch zu-
stande kommenden fixatorischen Muskelspannungen fortbestehen. Ja
diese reflektorische Erregbarkeit der Muskeln ist sogar fiber ihr nor-
males MaC hiuaus gesteigert, weil in der Norm der Cortex cerebri
durch besondere in der Pyramidenbahn verlaufende inhibitorische
Fasern die Anspruchsfahigkeit der subcortikalen Zentren fur zustro-
mende sensible Reize auf einer bestimmten niederen Stufe halt. Fallt
die cortikale Inhibition der subcortikalen Reflextlitigkeit fort, so erreiclit
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkuude. 37. Bd. ‘J3
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XVIII. Foerstek
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diese letztere das ihr primar innewohnende, uns von der Pyramiden-
bahnlasion her bekannte MaG. Die Steigerung der reflektorisch-subcorti-
kalen Erregbarkeit der Muskeln aussert sich erstens in der Steigerung
der Sehnenreflexe und Periostreflexe der Muskeln und zweitens in der
Modifizierung des unwillkurlicben Abwehrbeugereflexes des Beines
auf sensiblen Reiz, speziell einen Strich fiber die Fusssohle hin (Cber-
greifen der Erregung auf normaliter uubeteiligte Muskeln, wie den
Extens. hall, longus, anderes Bein, eventuell auch Arme, Rumpf und
K opf, und Neigung zu tonischer Anspannung im Tib. anticus, Elexoren
des Ober- und Unterschenkels); drittens in einer unwillfirlichen toni-
schen Anspannung der Muskeln bei Annaherung ihrer Insertionspunkte
— einerlei ob diese Annaherung passiv oder durch aktive Muskel-
tatigkeit erfolgt —, wodurch das Glied in der betreffenden Stellung
unwillkfirlich fixiert wird und der Bewegung im Gegensinne Widerstand
erwachst (spastische Muskelkontraktur), und endlich viertens in deui
Auftreten mehr oder weniger zahlreicher, meist ganz konstanter Mit-
bewegungen bei der Ausffihrung einer — an sich noch moglichen —
willkfirlichen Bewegung eines bestimmten Gliedabschnittes. Die
unwillkurlichen Mitbewegungen werden durch die bei der willkfirlichen
Bewegung entstehenden sensiblen Reize reflektorich ausgelost und sie
konnen nicht unterdruckt werden, da die ffir die Ausschaltung der
ihnen zugrunde liegenden Reflexe erforderliche cortikale Inhibition
nicht mehr stattfinden kanu. Die Folge ist, dass isolierte willkurliche
Bewegungen eines Gliedes oder Gliedabschnittes nicht mehr moglich
sind. Die bekanntesten Beispiele sind die unwillkfirliche Dorsalflexion
des Fusses bei willkiirlicher Beugung des Beines, die unwillkfirliche
Extension der Hand bei willkiirlicher Flexion der Finger, die unwill-
kiirliche Mitbeugung aller Finger bei willkurlich intendierter Flexion
des Zeigetingers allein usw. Ich kann bier nicht alle diese Mitbewe-
guugen anfiihren. Die Ilerabsetzung der corticogenen (willkiirlichen)
Erregbarkeit einerseits und die Steigerung der reflektorisch-subcorti-
kalen Erregbarkeit der Muskeln andererseits tinden sich bei alien an
sich nicht komplizierten Pyramidenbahnaft’ektionen.
Es ist das Verdienst von Wernicke und Mann, gezeigt zu haben,
dass die Ilerabsetzung der corticogenen Erregbarkeit bei Pyramidenbahn-
erkrankungen, speziell bei der haufigsten Form derselben, bei der cere-
bralen Hemiplegic, nicht alle Muskeln in gleichem MaGe betrifft, son-
dern dass am hemiplcgischen Bein die Dorsalflexoren des Fusses, die
Beuger, Abduktoren und Aussenrotatoren des Oberschenkels eine merk-
lich bedeutendere Abschwachnng ihrer willkiirlichen Erregbarkeit zeigen,
als ihre Antagonisten, die Plantarflexoren des Fusses, die Strecker des
Knies, die Strecker, Adduktoren und luneurotatoreu des Oberschenkels.
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Uber den LahmuDgstypus bei cortikalen Hirnherden.
351
die unter Umstanden fast ganz intakt sind. Am hemiplegischen Arm sind
nachMann besondersdieExtensorender Finger, die Abduktoren,Exten-
soren sowie die die Opposition des Daumens besorgenden Muskeln, ferner
die Supinatoren der Hand, die Extensoren des Vorderarms, die Erheber
und Aussenrotatoren des Oberarms und endlich die Erheber und Ad-
duktoren der Schulter willktlrlich gelahmt oder doch mehr geschwacht
als ihre Antagonisten, die Flexoren der Finger, der Flexor und Ad¬
ductor pollicis, die Pronatoren der Hand, die Beuger des Vorderarms,
die Adduktoren und Innenrotatoren des Humerus, sowie die Senker und
Abduktoren der Schulter. Mann gibt allerdings selbst zu, dass am
Arm dieser Labmungstypus nicht in alien Fallen ausgepragt sei und
dass bier Abweichungeu vorkamen.
Gegen die Wernicke-Mannsche Lehre vom hemiplegischen Pra-
dilektionstypus ist besonders yon Clavey und von Monakow Eiu-
spruch erhoben worden. Beide geben fur einen Teil der Muskeln eine
gewisse Differenz in dem Grade der willkiirlichen Lahmung zu, be-
tonen aber merkwtirdigerweise, dass am Bein die Plantarflexoren des
Fusses in demselben Grade wie die Dorsalflexoren, und am Arm die
Flexoren der Finger ebenso sehr wie die Extensoren gelahmt seien.
v. Monakow fiigt hinzu, dass seiner Ansicht nach der Unterschied
in der willkurlicben Kraftentfaltung der Fingerflexoren und Exten¬
soren dadurch vorgetauscht werde, dass sich erstere im Zustande der
Kontraktur befinden und allein dadurch mit einer dieser entsprechenden
Kraft die Finger unwillkbrlich in Beugung gebracht werden. Es ist meines
Erachtens fast iiberfliissig, zu betonen, dass gar nicht daran zu denken ist,
Wernicke und Mann hatten nicht verstanden, diesen Unterschied
zwischen willkurlicher und unwillkiirlicher Beugung durch Kontraktur
der Flexoren zu machen. Wie die Uuterschiede in den Ergebnissen zu er-
klaren sind, kann ich hier nicht erbrtern. Ich komme auf die Resultate
meiner seit vielen Jahren gefuhrten Untersuchungen tiber den Lah-
mungstypus bei Pyramidenbahnerkrankung demnachst in einer urnfang-
reichen Arbeit zuriick. Hier will ich nur sagen, dass ich — von einer
Reihe Ausnahmen, Verschiedeuheiten und Ergiinzungen abgeseheu —
im grossen und ganzen zu denselben Resultateu wie Wernicke und
Mann gekommen bin, und dass speziell bei cerebraler Hemiplegie der
Wernicke-Mannsche Labmungstypus tatsaclilich besteht. Vor allem
habe ich gefunden, dass am Bein in der grbssten Mehrzahl der Fiille
die willkiirliche Dorsal flexion des Fusses gelahmt oder stark geschwacht,
die wilkurliche Plantarflexion aber viel weniger betroffeu ist, und dass
am Arm die willkiirliche Beugung der Finger auffallend kriiftig ist,
hingegen die willkiirliche Streckuug mehr oder weniger stark abge-
schwiicht ist. Allerdings fehlt es bisher noch an einer einigermassen
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XVIII. Foersteb
erschopfenden Erklarung dafur, warum gerade bestimmte Maskeln ihre
willkarliche Kraftentfaltung behalten bezw. nach anfanglicher Lahmung
wieder erlangen. Zunachst scheint so viel sicher, dass far das Erhalten-
bleiben bezw. die Restitution der willkQrlichen Kraft irgend einer
Muskelgruppe uberhaupt trotz vollkommener Unterbrechung der von
der gekreuzten Hemisphare stammenden corticospinalen Hauptbabn
das vikariierende Eintreten der in der gleichseitigen Hemisphare ge-
legenen Hilfsursprungsfelder und der von ihnen ungekreuzt verlaufenden
Hilfsbabnen (Py ramidenvorderstrangbahn, ungekreuzte Pyramidenseiten-
strangbahn) fur die betreffende Muskelgruppe erforderlich ist. Wenn
dieses kompensatoriscbe Eintreten der Hilfsbahnen nicbt stattfinden kann,
so bestebt eine dauemde vollkommene willkttrliche Lahmung der be-
treffenden Muskelgruppe.
FOr den Fall, dass noch ein Teil der Pyramidenbahnfasern f&r
eine Muskelgrappe erhalten und an sick funktionstfichtig ist, hangt
nun aber die Frage, ob dieser geringe Teil imstande ist, den Muskel
wirklich zu einer genOgenden Spannungsentwicklung und Kontraktion
zu bringen, noch wesentlich von der Anspruchsfahigkeit des spinalen
Kernes dieser Muskelgruppe fur corticogene Impulse ab. Diese An¬
spruchsfahigkeit ist an sicb schon eine verschiedene, wird aber vor
allem sehr beeinflusst durch die den Kernen der verschiedenen Mus-
keln aus den Muskeln selbst zustromenden sensiblen Erregungen, spe-
ziell derart, dass Kontraktur einer Muskelgruppe vermittels der hier-
durch hervorgerufenen Reizung intramuskularer sensibler Nerven die
Anspruchsfahigkeit des spinalen Kernes dieser Muskelgruppe erhoht,
dagegen die des Kernes der antagonistischen Gruppe herabsetzt So
kommt der Pradilektionstypus bei der Hemiplegie dadurch zustande,
dass von der gesunden Hemisphare Hilfsfasern fflr die Kerne der
Muskeln der gelahmten Seite ziehen und dass ein Teil dieser Kerne
auf die zugeleiteten corticogenen Impulse hin anspricht, ein anderer
Teil nichk
Wernicke und Mann hatten zunachst fQr die cerebrale Hemi¬
plegie das Bestehen des Pradilektionstypus festgestellt; Mann zeigte
spiiter, dass derselbe auch fiir die spinale Hemiplegie gelte, und Strfim-
pell wies nach, dass auch bei spastischer Spinalparalyse die Lahmung
der Muskeln demselben Typus folge.
Wernicke hat dann 1902 die Vermutung ausgesprochen, dass
bei cortikalen Lasionen in der motorischen Zone, die also das Ur-
sprungsfeld der Pyramidenbahn betreffen, ein anderer Lahmungstypus
als bei Unterbrechung der Pyramidenbahn in der inneren Kapsel oder
weiter unterhalb bestiinde, und zvvar, dass sich die Lahmung hier
nach (iliedabschnitten richte. Er fiihrt als Beleg erstens einen
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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnlierden.
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Fall an, in dem eine Depressionsfraktur der medialen Halfte des Os
pariteale, die etwas auf die rechte Seite hiniibergriff, eine fast vollige
Lahmung der willkurlichen Plantarflexion des recbten Fusses bestand,
wabrend die Muskeln des Knies und der Httfte keine nennenswerte
Parese erkennen liessen. In Bezug auf Steifigkeit der Muskeln und
Steigerung der Sehnenreflexe entsprach der Befund dem Durchschnitts-
bilde der bemiplegischen Beinlahmung. Wernicke hob femer noch
hervor, dass er auch bei Rindenverletzungen der Armregion eine nur
die Hand betreffende, nacb Gliedabschnitten sich richtende Lahmung
angetroffen habe.
Ich habe in unmittelbarem Anschluss an Wernickes Vortrag
darauf hingewiesen, dass bei den infantilen Cerebrallahmungen, die ja
recht oft cortikale Affektionen sind, die Lahmung oft nach Gliedab¬
schnitten angeordnet ist, dass in vielen Fallen von Diplegia spastica
congenita (Little) die Plantarflexoren und Dorsalflexoren des Fusses
willkQrlich total oder fast vollstandig gelahmt sind, die Beuger und
Strecker des Knies weniger, aber einander nahezu gleichmassig, die
Hfiftmuskeln hingegen gar nicht geschwacht sind. Ferner wies ich
auch auf die totale Lahmung von Fingerbeugem und Fingerstreckern,
sowie die gleichmassige Parese von Handbeugern und Handstreckern
bei Integritat der Kraft der Muskeln des EUbogen- und Schulterge-
lenkes in einem Falle cerebraler Kinderlahmung mit cortikaler Lokali-
sation hin. Seitdem ist die Frage, ob der Lahmungstypus bei Rinden-
erkrankungen, die die Ursprungsstatte der Pyramidenbabn zerstoren,
ein wesentlich anderer sei als bei Unterbrechung der Pyramidenbahn
im Him oder im Rfickenmark, nicht eingehender geprQft worden.
Andeutungsweise wird das Verhalten der Lahmung allerdings hier und
da gestreift. So sagt z. B. Bonhoeffer 1904, dass sich bei isolierten
Lasionen im Bereiche der cortikalen Armregion als definitive Aus-
fallserscheinungen eine vor allem die feineren Bewegungen der Hand,
die Handfertigkeiten betreffende Storung finde, wahrend die groben
motorischen Leistungen eine nur geringe, oft gar keine Schadigung
aufweisen. Eine cortikale monoplegische Storung im Armgebiet, derart,
dass sie etwa nur den Schulterglirtel oder die Bewegungen im Ellbogen
betrafe und die Hand frei liesse, werde nie angetroffen. Es konne
deshalb von einer gliedweisen, den Gelenkabschnitten entsprechenden
Projektion der Motilitat, entsprechend den Munkschen Anschauungen,
nach den Erfahrungen der Klinik nicht eigentlich gesprochen werden.
Stets sei vor allem die Hand geschadigt. Auch v. Monakow be-
schreibt als charakteristisch fiir die cortikale Armlahmung, dass die
Bewegungen des Arms, des Ellbogens und der Hand nicht wesentlich
gestort sind; allerdings zeigten sie dabei eiue leichte Ermlidung uud
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XVIII. FOEliSTKH
Zittern. Auch die Finger konnten geoffnet und geschlossen werden,
ein Gegenstand konne ergriffen und gehalten werden, werde aber ofters
ganz pldtzlich fallen gelassen; haupsachlich seien die feineren Finger-
verrichtungen, Knopfen, Aufschliessen usw., meistens dauemd verloren.
In einem Falle von sehr frfih erworbenem porencephalischen Defekt
sowohl der vorderen als der hinteren rechten Zentralwindung mit to-
talem Schwund der rechten Pyramide war der Kranke bei Lebzeiten
imstande gewe9en, sich des linken Anns bei alien moglichen Ver-
richtungen des taglichen Lebens und auch beim Ballspiel in geeig-
neter Weise zu bedienen; eine betrachtliche Ungeschicklichkeit war
indessen beim Gebrauch der Hand und der Finger nicht zu verkennen
gewesen. Eine vollstandige Restitution ist nach Monakow bei Er-
wachsenen selbst nach kleineren Lasionen in der Armregion kaum zu
erwarten. InsbesOndere bleiben nach ihm unverkennbare Bewegungs-
storungen im Dauraen und im Zeigefinger zurOck, und zwar sei das
Wesentliche dieser Bewegungsstorung, dass die betreffenden Finger
keine Einzelbewegungen mehr ausfiihren konnen. Von der cortikalen
Beinlahmung sagt v. Monakow nur, dass der Fuss in starkerem
Grade befallen sei als der Unter- und Oberschenkel. Doppelseitige
Lasionen der Beinregion konnten Paraplegie der Beine erzeugen, ja
unter Umstanden konne ein am Sulcus longitudinalis gelegener Tumor,
der nach der anderen Seite hinQber wachst, Ursache einer solchen Para¬
plegie sein.
Ich moehte nun liber eine Reihe von Beobachtungen bericbten,
die geeignet sind, die Art und Verteilung der willkurlichen Lahmung
auf die einzelnen Muskelgruppen genauer zu beleuchten.
Fall 1. Monoplegia cruralis dextra. Cortikale Tastlahmung der
rechten Hand.
A. B., 01 Jahre alt, leidet seit einigen Jaliren an einer langsam zu-
nehmenden Liihnmng des rechten Beins. Nieinals Krami>fanfalle.
Status April 1900. Rechter Fuss in leichter Spitzfussstellung, die
grosse Zehe etwas dorsalflektiert, reehtes Knie in Streckstellung, rechter
Oberschenkel etwas nach inuen rotiert. Spastische Kontraktur der Plantar-
tlexoren des rechten Fusses, lebhalter Fussklonus, starke spastische Kon¬
traktur der rechten Kniestrecker, geringe der Beuger bei Annaherung ihrer
Insertionspunkte, deutliehe Kontraktur der Adduktoren und Innenrotatoren
des rechten Oherschenkels, niiissige Kontraktur der Flexoren und Exten-
soren, keine der Abduktoren. Lebhalter Patellar- und AchillesreHex. Beim
St reiehen der rechten P’usssolile Dorsaltlexion der grossen Zehe, leichtc
Borsalflcxion des rechten Fusses mit tonischer Auspannung des Tib. antic.,
gfi'inge Flexion in Knie- und Huttg(denk. Willktlrliche Dorsalflexion
des rechten Fusses fast ganz aufgehoben, es kommt nur zu eiuer
geringen Dorsalflexion der grossen Zehe sowie zu einer leichten Mit-
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Uber den Lahmimgstypus bei cortikalen Himherden.
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bewegung in Gestalt von Beugung in Knie und HQfte. WillkQrliche
Plantarflexiou des rechten Fusses ebenso kr&ftig wie die des linken,
rechts erfolgt dabei stets eine Mitstreckung des rechten Unterschenkels und
Oberschenkels. Willkllrliche Flexion des rechten Unterschenkels
in Bauchlage ganz unmoglich, willkQrliche Streckung sehr kraftig
unter Mitstreckung von Fuss und Oberschenkel. Der rechte Oberschenkel
kann ausgiebig gebeugt werden, aber die Kraft der Bewegung ist schwach,
stets erfolgt dabei eine ausgiebige Mitbeugung des Unterschenkels im Knie
und eine gewisse Dorsalflexion des rechten Fusses durch Wirkung des
Tibialis anticus; ein isoliertes Erheben im HQftgelenk des im Knie ge-
streckten Beins ist unmdglich. Willkllrliche Streckung des rechten Ober¬
schenkels ebenso kraftig wie links, es erfolgt dabei aber stets Streckung
des rechten Unterschenkels und Fusses. WillkQrliche Abduktion des
rechten Beins sehr schwach, willkQrliche Adduktiou sehr kraftig, willkQr¬
liche Innenrotation vollkommen mdglich und sehr kraftig, willkQrliche
Aussenrotation sehr beschrQnkt. Linkes Bein vollkommen intakt. Gang
typisch heraiplegisch; rechtes Bein wird nur nachgezogen, in Knie und Fuss
gar nicht gebeugt, rechtes Bein fungiert als StQtzbein sehr mangelhaft,
Unterschenkel ist stark nach hinten geneigt, Knie hyperextendiert, Becken
nach vorn und links geneigt.
Blase und Mastdarm o. B.
Rumpf o. B.
An der rechten oberen Extremitat vollkommen uormale Motilitat, alle
leinen Fingerverrichtungen geschehen prompt und sicher, er schreibt kalli-
graphisch. Dageggn besteht vollkommene Tastlahmung an der rechten Hand;
kein Gegenstand wird durch Tasten erkannt. Dabei ist das GefQhl fQr
BerQhrung, Schmerz, Warm und Kalt, fQr Druck, fQr passive Bewegungen
rechts genau so gut wie links. Nur das Lokalisationsvermogen fQr punkt-
t'ormige BerQhrungen ist an der rechten Hand schwer gestort, der Lokali-
sationsfehler betragt an der Vola digitor. im Durchschnitt 2 cm.
Am Kopf keine StOrungen.
Befund wahrend mehr als einjahriger Beobachtung dauerud ganz gleich.
Tod im Marz 1907 an Bronchopneumonie.
Die Sektion ergibt eine diffuse Arteriosklerose der Hirnarterien und
einen ausgesprochen cortikalen Erweichungsherd im Bereich des
linken Parazentrallappens und des obersten Viertels der linken
Zentralwindungen. Im Bereich der hinteren Zentralwindung reicht der
Herd etwa bis zur Mitte derselben lierab. Der Herd ist Qberall ganz
strong auf die Binde beschrankt, nirgends ist das subcortikale Marktlager
ergriffen. Die Rinde ist toils ganz geschwunden, toils sehr stark atrophiert
und verschmalert.
Das Wesentliche dieses Fallos, in dem eine ausgesprochene spastische
Beinliihmung infolge eines strong cortikalen Erweichungsherdes im
Bereiche der Beinregion bestand, ist das Vorhandensein des Wer-
nickeschen Lahmungstypus in einer Reiuheit, wie sie bei einer Kapsel-
hemiplegie nicht besser angetroffen werden kann: die willkQrliche
Dorsalflexion des Fusses, die Beugung des Unterschenkels sind so gut
wie ganz aufgehoben, die willkQrliche Flexion, Abduktion und Aussen-
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XVIII. Foerster
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rotation sind stark eingeschrankt, dagegen die willkurliche Plantar-
flexion des Fusses, Streckung des Unterschenkels, Streckung, Adduk-
tion des Oberschenkels sind fast ebenso kraftig wie auf der gesunden
Seite. Auch im ubrigen bestehen genau dieselben Symptome der
spastischen Beinlahmung, wie sie bei der Kapselhemiplegie und bei
der spinalen Hemiplegie angetroffen werden, also die Steigerung der
Sehnenreflexe, die charakteristische Modifikatiou des Fusssohlenreflexes,
die spastischen Kontrakturen und genau die gleicben charakteristi-
schen unwillkflrlichen Mitbewegungen bei willkurlichen Bewegungen
der einzelnen Beinabschnitte, mit anderen Worten, der Verlust der
Fahigkeit zu isolierten Bewegungen der einzelnen Abschnitte des Beins.
Ich kann hier nicht weiter auf alle diese Mitbewegungen eingehen,
muss yielmehr diesbezQglich auf die Krankengeschichten yerweisen,
sowie auf meine frtiheren verschiedenen AusfQhrungen l ) darliber. In-
teressant ist auch in dem mitgeteilten Falle das Bestehen einer echten
cortikalen Tastlahmung im Sinne Wernickes ohne Sensibilitatssto-
rungen im engeren Sinne, die Vergesellschaftung dieser cortikalen
Tastlahmungen mit Storungen des Lokalisationsvermogens, auf die ich
1901, Bonhoeffer 1904 aufmerksam gemacht haben, und die ana-
tomische Grundlage dieser Tastlahmung in einer Erkrankung der hin-
teren Zentralwindung, wie sie Kramer annimmt.
Fall 2. Hemiplegia corticalis dextra, motorische Aphasie,
cortikale Epilepsie.
A. Ph., 61 Jahre alt FrQher immer gesund. Seit 1900 leidet er
an Jack sonschen cpileptischen Anfallen in der rechten Kdrperhalfte, die
im Arm beginnen und alle 4—6 Wochen auftreten, manchmal auch
Jacksonscke Anfhlle im linken Arm. Seit Ende 1900 allmablich zu-
nehmende Parese des rechten Arms, spater auch des Beins und motorische
Aphasie. Sprache hat sich allmahlich wieder etwas gebessert. Seit ca. 2 Jahren
Status idem.
Status Januar 1906. Rechtsseitige Lahmung des Lippenfacialis,
Zunge weicht beira Vorstrecken stark nach rechts ab. Motorische Aphasie,
kann viele Worte gar nicht sprechen, andere werden schwer und entstellt
vorgebracht, dabei auch deutliche artikulatorische Storung; Negerstil. Lesen
und Schreiben (mit der linken Hand geprtlft) sehr gestort. Sprach-
verstandnis nicht beeintrachtigt.
1) O. Forster, Mitbewegungen bei Gesunden Nerven- und Seitenkrank-
heiten. Jena 1903.
Derselbe, Die Kontrakturen bei Erkraukuugen der Pvramidenbahn.
lieriiu, Karger 190'i.
Derselbe, Das Wesen der Koordinationsst<">rung Dei F’rkrankungen der
Pyramidenbahn und deren Bebandluug durch Resektion hinterer Ritekeumarks-
wurzelu. Grenzgebiete der Mediziu und Chirurgie. 1009.
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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 357
Obere Extremit&t: Die rechte Schulter steht etwas tiefer als die
linke, der rechte Oberarm etwas abduziert, stark nach innen rotiert, in
der Frontalebene des Korpers, der Vorderarm etwas flecktiert, die Hand
proniert and total flecktiert; die Finger in alien Gelenken leicht flecktiert,
der Daamen adduziert and in den Phalangen flecktiert Es besteht starke
spastische Kontraktur der Adduktoren and Innenrotatoren des Humerus,
geringere der Abduktoren, Vor- and Rdckwdrtsbeweger; im Ellbogengelenk
besteht starke Kontraktur der Beuger, im Handgelenk starke Kontraktur
der Pronatoren and Flexoren, an den Fingern spastische Kontraktur der
Beuger mit Clonus, spastische Kontraktur mit Clonus in dem Adduktor
des Daumens und an den Beugern der Phalangen des Daumens. Die will-
kdrliche Beweglichkeit verhalt sich folgendermassen. Die rechte Schulter
kann willkdrlich nur wenig erhoben werden, dabei Miterhebung der linken
Schulter, Abduktion des rechten Oberarms und Flexion des rechten Vorder-
arms, keine Mitbewegung der Hand und der Finger. Willkdrliche Ad-
duktion der rechten Schulter kaum angedeutet, dabei Mitadduktion der
linken Schulter, leichte Abduktion des rechten Oberarms und Flexion des
rechten Yorderarms. WillkQrliches Senken der Schulter etwas krdftiger
als die Hebung, dabei Mitsenkung der linken Schulter; der linke Ober¬
arm, der sich bei der willkdrlichen Erhebung der Schulter abduziert hatte,
adduziert sich wieder, und der Vorderarm, der sich bei der Schulter-
erhebung flecktiert hatte, extendiert sich wieder. Willkdrliche Vorwdrts-
bewegung der rechten Schulter besser als die Adduktion, dabei Vorwdrts-
bewegung der linken Schulter. Die willkdrlichen Bewegungen der linken
Schulter sind nach alien Richtungen ungestQrt und sind ganz isoliert mbg-
lich. Der rechte Oberarm kann willkdrlich etwas abduziert werden, dabei
unwillkdrliche Erhebung der rechten Schulter und Flexion des rechten
Vorderarms; die willkdrliche Adduktion geliugt auch leidlich, dabei senkt
sich die rechte Schulter wieder und die Beugung des rechten Vorderarms
geht wieder zurdek. Die willkdrliche Vorwdrts- uud Rdckw&rtsbewegung
des Oberarms gelingt gar nicht, ebensowenig die willkdrliche Aussen-
rotation, dagegen gelingt die willkdrliche Innenrotation etwas. Der rechte
Vorderarm kann willkdrlich gut gebeugt werden, dabei unwillkdrliche Ab¬
duktion des rechten Oberarms und Erhebung der rechten Schulter, keine
Mitbewegung der Hand und der Finger. Die willkdrliche Streckung des
Arms gelingt nicht eine Spur, der Krauke kann nicht einmal den vorher
willkdrlich gebeugten Arm willkdrlich wieder ausstrecken, erst ganz all-
m&hlich lost sich die entstandene Anspannung der Beuger wieder und geht
der Vorderarm in die Ausgangsstellung zurdek. Die Hand kann willkdr¬
lich nur eine Spur proniert werden, dabei Flexion des Vorderarms und
Abduktion des Oberarms, die willkdrliche Streckung, Beugung und Supi¬
nation der rechten Hand sind nicht eine Spur moglich, auch zeigt sich
von diesen Bewegungen keine Spur bei noch so kraftvoller Intention der
gleichen Bewegung linkerseits, auch nicht bei kraftvoller Intention der an
sich mOglichen Bewegungen des rechten Arms. Mit anderen Worten, es
kommt bei dem Kranken eine Streckung, Beugung oder Supination der
Hand durch aktive Muskeltatigkeit nicht zustande. Gleichwohl bestehen
keine StOrungen der elektrisciien Erregbarkeit, Die willkdrliche Beweg¬
lichkeit der Finger und des Daumens der rechten Hand ist total aufge-
hoben, keine Spur von aktiver Beugung oder Streckung, auch nicht, wenn
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man die Flexoren bzw. Extensoren durch maximale passive Streckung
bzw. Beugung in die gttnstigsten mechanischen Verhttltnisse versetzt.
Auch bei willkttrlicher Beugung oder Streckung der Finger linkerseits
erfolgt keine Mitbewegung der rechten Finger, ebensowenig erfolgt eine
solche bei den an sich mbglicheiv Bewegungen des rechten Arms. Ganz
dasselbe gilt vom rechten Daumen. Derselbe ist vollkommen unbeweglich.
Lebhafte Steigerung des Tricepsreflexes, des Bicepsreflexes, des Radius-
periostreflexes, des Sehnenreflexes der langen Fingerbeuger rechterseits.
Die elektriscbe Erregbarkeit der Muskeln der rechten oberen Extremist
zeigt keinerlei StOrungen.
Am Rumpf besteht geringes Zurttckblciben der rechten Brusthttlfte bei
forcierter Inspiration, und der rechten Abdominalpresse bei forcierter
Bauchpresse. Bauchdeckenreflex normal.
An dem rechten Bein steht der Fuss in Spitzfussstellung, es besteht
spastische Kontraktur der Plantarflexoren des rechten Fusses mit Fuss-
klonus, spastische Kontraktur der Kniestrecker, der Adduktoren, Flexoren,
Extensoren, Innen- und Aussenrotatoren des rechten Oberschenkels, leb¬
hafte Steigerung des Achilles- und Patellarreflexes. Beim Strich Qber die
Fusssohle erfolgt Dorsalflexion der grossen Zehe, Anspannung des Tibialis
anticus sowie in geringem MaBe der Beuger des Knies und des Tensor
fasciae latae, alle mit Neigung zu tonischer Andauer. Die willkttrliche
Dorsalflexion des rechten Fusses ist fast total aufgehoben, es erfolgt nur
eine geringe Dorsalflexion der grossen Zehe und eine sehr geringe An¬
spannung des Tibialis anticus, sowie eine geringe Beugung in Knie und
Httfte. Die willktlrliche Plantarflexion des rechten Fusses geschieht in
vollem Umfange und selbst gegen grossen Widerstand, dabei stets Streckung
des Knies und der Httfte. Die willkttrliche Beugung des Unterschenkels.
in Bauchlage geprttft, gelingt rechts nicht eine Spur, die willkttrliche
Streckung ist fast ebenso kriiftig wie links, dabei stets Mitstreckung von
Fuss und Httfte. 1m Httftgelenk geschieht die willkttrliche Beugung leid-
lich, aber bedeutend schwachcr als links, stets erfolgt dabei eine leichte
Mitbeugung im rechten Knie und eine Dorsalflexion der rechten Grosszehe
sowie eine Anspannung des rechten Tibialis anticus. Die willkttrliche
Streckung des rechten Oberschenkels geschieht rechts fast ebenso kriiftig
wie links, es erfolgt dabei stets kriiftige Mitstreckung des rechten Unter¬
schenkels und Fusses. Willkttrliche Abduktion des rechten Beins sehr
beschriinkt, willkttrliche Adduktion ebenso kriiftig wie links, willkttrliche
Jnnenrotation etwas, willkttrliche Aussenrotation sehr beschrttnkt. Der
Gang des Kranken ist typisch hemiplegisch. Das rechte Bein wird nur
wenig in der Httfte vorgesetzt und zwar nur bis ans linke vordere Bein
herangezogen, es wird in Knie und Fuss nicht eine Spur dabei gebeugt.
Als Sttttzbein fungiert es schwach und unsicher, der Unterschenkel ist
dabei stark gegen den Fuss nach hinten geneigt, das Knie ist hyper-
extendiert, das Beckon ist nach vorne und nach links geneigt.
Blase und Mastdarm zeigen keine Storung. Die Sensibilitat ist fftr
die einfachen Qualitaten, also fttr die Bortthrung, ffir Schmerz, fttr Warm
und Kalt, fiir Druck und fttr passive Bewegungen der Glieder an der
rechten Kdrperhiilfte ganz intakt. Dagegen besteht eine vollkommene Tast-
lahmung an der rechten Hand, man kann die Gegenstande noch so sehr
in der Hand hin- und herhewegen, ilm durch die Finger ziehen, er er-
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Uber den Liihmungstypus bei eertikulen Hirnherden.
359
kennt nicbts; links erkennt er, sowie man ihm nur den Gegenstand in die
Hache Hand legt, denselben sofort. Anch ist das Lokalisationsvermdgen
tar punktfOrmige BerOhrungen an der rechten Hand schwer geschadigt, er
verwechselt die berQhrten Finger fortw&hrend, macht Lokalisationsfebler
von 4—5 cm an der Vola digitorum, an Vorderarm und Oberarra ist die
Lokalisation viel besser. Am rechten Bein bestehen nur sebr geringe
Storungen der Lokalisation gegenbber dor linken Seite.
Der Zustand des Kranken ist jahrelang ganz stationar geblieben.
In dem eben mitgeteilten Falle liegt zwar kein Autopsiebefund
vor, doch spricht die Jacksonsche Rindenepilepsie, beginnend im
rechten Arm, femer die allmahliche Entwicklung der rechtsseitigen
Hemiplegie aus einer rechtsseitigen Monoplegia brachialis, die typische
motorische Aphasie und die vollkommene Tastlahmung der rechten
Hand ohne entsprechende Sensibilitatsstorungen dafiir, dass eine Rinden-
affektion vorliegt. Was nun zuniichst die Beinlahmung in dem vor-
liegenden Falle anlangt, so zeigt auch sie den Wernickeschen
Priidilektionstypus in derselben Reinheit wie der vorangehende Fall.
Auch in Bezug auf die iibrigen Symptome der spastischen Beinlah¬
mung, die Steigerung der ReHexe, die Modifikation des Fusssohlen-
reflexes, die spastischen Kontrakturen, die charakteristischen unwill-
kiirlichen Mitbewegungen bei willkurlichen Bewegungen der einzelnen
Beinabschnitte sind hier wie dort die gleichen und weichen in nichts
von dem Verhalten ab, wie es bei der Kapselhemiplegie gefunden wird.
Auch die Gangstorung ist in beiden Fallen genau die gleiche, die
typisch hemiplegische, das kranke Bein wird, wenn es als Schwung-
bein fungiert, im Fuss und Knie gar nicht gebeugt, in der Hufte
unter leichter Zirkumduktion nur bis an das gesundo vordere Bein
herangezogen, als StQtzbein fungiert es schwach und unsicher, der
Unterschenkel ist gegen den Fuss nach hinten geneigt und beugt sich
nicht nach vorn liber wie in der Norm, das Knie ist etwas hyper-
extendiert, das Becken und mit ihm der ganze Oberkorper ist vorn-
uber gebeugt und sinkt mit der freien (linken) Halfte herab. Die Phase
der einseitigen Untersttttzung ist, wenn das rechte Bein die Stiitze
bildet, daher sehr abgekiirzt.
Auf das Verhalten der Armlabmung in diesem Falle gehe ich hier
zuniichst noch nicht ein, sondern ich komme darauf erst weiter unten
zurQck. Jedenfalls beweisen die beiden mitgeteilten Falle,
dass an sich der Lahmungstypus bei der cortikalen Mono¬
plegia cruralis kein anderer zu sein braucht, als er es bei
Unterbrechung der Pyramidenbahn weiter abwarts, in der
inneren Kapsel usw., ist, und jedenfalls kommt dem Satz, bei
cortikaler Beinlahmung richte sich die Anordnung der Liihmung eo
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300
XVIII. Foerstkr
ipso uach Gliedabschnitten, keine allgemeine Giiltigkeit zu. Wir haben
also die Frage an der Hand weiterer Falle zu prufen.
Fall 3. Tuberkel in derRinde des linken Parazentrallappchens,
cortikale Lahmung des rechten Fusses, Rindenepilepsie.
E. G., 13 Jahre alt. Am 1. XII. 1907 plOtzlich erkrankt mit Fieber,
Kopfschmerzen, Erbrechen, heftigen Leibschmerzen und Durchfallen. Nacii
einigen Tagen Krampfanfalle im rechten Bein, die sich wiederholen am 6. XII.
Aufnahme ins Allerheiligenhospital (Professor Ercklentz). Dort schwerer
epileptischer Anfall, danach langere Zeit benommeD.
7. XII. Sensorium vollkommen frei, leichte Temperatursteigerung.
Kopfschmerzen, Steifigkeit beider Beine im Kniegelenk. Gang breitbeinig,
Knie schlecht gebeugt. Im Bett choreatische Unruhe der Glieder. An
beiden FQssen Andeutung von Fussklonus.
Im weiteren Verlauf derselbe Befond, nur lasst die choreatische Unruhe
der Glieder nach.
27. XII. Typischer Jack sonscher Anfall, beginnend im rechten Fuss,
und zwar langere Zeit isolierte klonische Krampfe im Tibialis anticus,
dann auf den Extensor h. 1. tibergreifend, dann im ganzen rechten Bein
tonisch-klonische Krampfe, allmahlich den rechten Arm, das rechte Gesieht,
zuletzt auch die linke Kftrperhalfte ergreifeDd.
28. XII. Rechterseits Fussklonus, auch links angedeutet. Rechts
Babinski links wechselnd. Steifigkeit des rechten Kniegelenks (Qua-
dricepskontraktur). Rechts deutliches Tibialisphanomen, links ist dasselbe
angedeutet. Patellarreflexe beiderseits lebhaft, rechts > links. Keine
Tastlahmung. Augenhintergrund o. B. Kopfschmerzen. Temperatur 38°.
In den folgenden Tagen entwickelt sich eine vollkommene Lahmung
der willkOrlichen Beweglichkeit des rechten Fusses. Zuerst besteht Lahmung
des Tibialis anticus, am nachsten Tage auch des Extensor d. c. 1., wfihrend
der Extensor liallucis links noch etwas funktioniert, Schwache der willkOr-
lichen Plantarflexion des rechten Fusses; am 2. I. 1908 besteht voll¬
kommene Lahmung der willkOrlichen Dorsalflexion und Plantar-
flexion des rechten Fusses. Dabei besteht nicht die geringste
Parese der Beuger und Strecker des Knies sowie der HOft-
muskein. Bei willkOrlicher Beugung des rechten Beins in Knie und
HOfte gegen Widerstand sowie bei willkOrlicher Beugung des Unter-
schenkels in Bauchlage beugt sich der rechte Fuss unter Qberwiegender
Wirkung des Tibialis anticus unwilkQrlich (Tibialisphanomen). Diese
Mitbewegung kann nicht unterdrUckt werden. Sie tritt auch auf bei
passiver Beugung des Beins in Knie und HOfte oder bei passiver Flexion
des Unterscbenkels. Bei willkOrlicher Streckung des Beins erfolgt un-
willkOrliche Plantarflexion des Fusses. Bei einem Strich Qber die Fuss-
solile erfolgt ausser leichter Beugung des Ober- und Unterscbenkels tonische
Anspanuung das Extensor halluc. longus (Babinski -(-) und des Tibialis
anticus. ebenso tonische Anspannung des Tibialis anticus bei Strich Qber
das Periost der Innenfhiche der Tibia (Oppenlieim). Rechts ausge-
sprocbener Fussklonus. Geringer spastischer Widerstand der rechten Knie-
strecker bei passiver Flexion, bei aktiver Flexion nicht merklich. Rechts
lebhafter Patellarreflex mit Patellarklonus. Am linken Bein besteht nur
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Uber den Liihmungstypus bei cortikalen Hirnherden.
361
leichter Fussklonus, Babinski -j-, aber wechselnd und etwas gesteigerter
Patellarreflex. Beim Gang hangt der rechte Fuss ganz herab und streift
mit der Spitze tlber den Boden, aber Unterschenkel und Oberschenkel
werden ausgiebig gebeugt, ja sogar starker als in der Norm, um die
Lahmung der Dorsalflexion des Fusses zu kompensieren, typische Step-
page. Keine Sensibilit&tsstOrungen. Obere Extremitaten, Kopfnerven,
Augenhintergrund, Blase und Mastdarm ganz ungestOrt. Puls sehr frequent.
Temperaturkurve zeigt steile Spitzen (abends 89,2—39,5). Uber den Lungen
stellenweise etwas Schallverkflrzung und feinblasige Rasselgerausche. Kein •
Husten. Kein Auswurf. Keine Leukocytose.
Im Folgenden bleibt der Befund genau der gleiche. Sowohl der Fuss-
klonus wie der Bab inski sche Zehenreflex sind linkerseits recht wechselnd
und inkonstant. Dagegen entwickelt sich am rechten Bein eine Sensi-
bilitatsstdrung. Am 10.1. 1908 Berdhrungsempfindung am ganzen rechten
Bein etwas, am Fuss sehr stark herabgesetzt. Schmerz- und Temperatur-
empfindung erhalten. Drucksinn ungestbrt Gefiihl fQr passive Bewegungen
an den Zehen und am Fuss erloschen, im Knie und HOftgelenk stark ver-
mindert LokalisationsvermOgeu am rechten Bein sehr gestdrt. Aus-
gesprochene Ataxie des rechten Beins beim Erheben, beim Kniehacken-
versuch usw. Beim Gang schwankt das Kind stark nach der rechten Seite.
Am 13. I. Jacksonscher Anfall, der nur das rechte Bein betrifft,
Fuss zeigt tonisch-klonische, Unterschenkel und Oberschenkel tonische
Krampfe.
Am 14. I. erneute Anf&lle, die sich auch auf den rechten Arm, das
Gesieht, den Kopf und die Augen erstrecken. Sonst Status idem.
Die typischen Jacksonschen Anfftlle, die immer im rechten Fuss
beginnen, im Verein mit der typischen spastischen Lahmung des rechten
Fusses bei Integritat der willkOrlichen Bewegungen des Unterschenkels
und Oberschenkels wiesen auf eine cortikale Affektion im Bereiche des
oberen Viertels der linken Zentralwindung und zwar speziell im Fokal-
gebiete des Fnsses, also im Parazentrallappchen hin. Die Sensibilitats-
storungen im rechten Bein und die Ataxie desselben deuteten darauf hin,
dass die Affektion nicht streng auf die vordere Zentralwindung beschrankt
sei, sondern auch die hintere, eventuell auch den Parietallappen oder den
corticopetalen Anteil des Stabkranzes der genannten Windungen in Mit-
leidenschaft gezogen. Und der, allerdings schwankende Fussklonus und
das ebenfalls inkonstante Bab inski sche Zehenphanomcn deuteten darauf
hin, dass auch das rechte Parazentrallappchen mitgeschadigt sei. Wegen
des andauernden Fiebers und des allerdings sparlichen Lungenbefunds
wurde an Tuberkulose gedacht und ein Solitartuberkel in der Rinde an-
genommen. Daher am 23. I. Trepanation (Professor Tietze). Es gelang
aber nicht die postulierte Steile freizulegen. In den folgenden Tagen
starke Zunahme der Krampfe, die sich rasch generalisieren, erhebliche
Verschlechterung des Allgemeinbefindens, dauernd hohe Temperaturen,
Cyanose, Dyspnoe. Am 28. I. Exitus im Status epilepticus. Bei der
Autopsie fand sich erstens eine typische Miliartuberkulose der Lungen und
des Darms, und zweitens ein kirschgrosser verkiister Konglomerat-
tuberkel im linken Lobulus paracentralis. Derselbe sitzt in der
Rinde und wfllbt sich an der Medianflache der Hemisphare liervor, an
dieser Steile drangt er die Dura nach rechts herftber und tlbt einen I)ruck
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362
XVIII. Foerster
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auf das rechte Parazentrall&ppchen aus, in demselben eine deutlich sicht-
bare Impression hervorrufend.
Es haudelt sich in diesem Falle um eine cortikale Affektion
(Rindentuberkel) im Bereich des linken Parazentrallappchens. Die-
selbe batte sich einmal durch typische Jacksonsche Anfalle, die stets
im rechten Fuss begannen odersich ausschliesslich auf ihn beschrankten,
geaussert. Hervorzuheben ist, dass zu Beginn des Anfalls isolierte
klonische Zuckungen allein im Tibialis anticus bestanden, die minuten-
lang andauerten, dann auch den Extensor ballucis longus mitergriffen
und erst nach einer weiteren Weile in einen tonisch-klonischen Krampf
des ganzen Beins fibergingen. Icb lege Wert darauf, gerade im Zu-
sammenhang mit dem eigentlicben Gegenstand dieser Arbeit den iso-
lierten Krampf eines einzelnen Muskels, des Tibialis anticus, spater
auch des Extensor halluc. longus bei Rindenreizung hervorzuheben.
In dieser Beziehung erinnert der Fall sehr an einen Fall von Jastro-
witz, bei dem ein kleiner Tumor in der hinteren Zentralwindung ca.
4 cm von der Langsspalte entfernt wochenlang isolierte Krampfe im
Extensor hallucis longus hervorgerufen hatte.
Was die motorischen Ausfallserscheinungen in unserem Falle au-
langt, so ist das Wesentlichste eine totale Lahmung der will-
kurlichen Dorsalflexion und Plantarflexion des rechten
Fusses bei vollkommener Integritat der willkfirlichen Be-
wegungen des Unterschenkels und der Hiifte, sowohl in Be-
zug auf Umfang der Bewegung als auch auf Kraftentfaltung.
Es besteht also bei dieser cortikalen Affektion eine Anordnung
der Lahmung streng nach Gliedabschnitten: der Fuss willkfirlich total
gelahmt, Unterschenkel und Oberschenkel ganz intakt, also ein Ver-
halten, das noch reiner ist, als es in dem 1902 von Wernicke mit-
geteilten Falle cortikaler Beinlahmung vorlag. Im tibrigen zeigt diese
cortikale Koordinationsstorung des Fusses dasselbe charakte-
ristische Verhalten der Stbrung, welches bei jeder Pyramidenbahn-
erkrankung, einerlei, an welcher Stelle dieselbe gelegen ist, besteht.
Die betreffenden Muskelgruppen, in diesem Falle die Dorsalflexoren
und die Plantarflexoren des Fusses, sind nur willktirlich gelahmt, d. h.
die ihnen zufallende Bewegung kann nur willkurlich nicht mehr
ausgefiihrt werden, dagegen haben dieselben Muskelgruppen ihre retlek-
torisch-subcortikale Erregbarkeit keineswegs eingebusst, im Gegenteil
ist dieselbe int'olge des Wegtalls der cortikalen Inhibition gesteigert
tind kann vom Kranken nicht ausgeschaltet werden, was in der Norm
outer Umstiinden moglich ist (unwillkurliche Dorsalflexion des Fusses
und der grossen Zehe [Babinski +1 bei einern Strich fiber die Fuss-
sohle oder fiber die lnnenfliiche der Tibia, eventuell mit tonischer An-
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Cber den Lahmungstypus bei cortikaleu Hirnlierden.
3G3
dauer [Oppenheim +], unwillkurliche Dorsalflexion des Fusses bei
willkurlicher Beugung des Beins in Knie und Hlifte gegen Wider-
stand [StrGmpell], oder bei willkurlicher Beugung des Unterschenkels
in Bauchlage [Foersfcer] oder auch bei passiver Ausfiihrung dieser Be-
wegungen [Foerster], Unfahigkeit, diese Mitbewegungen zu unter-
drficken — Fussklonus, gesteigerter Achillesreflex, unwillkurliche Plan-
tarflexion bei willkurlicher Streckimg des Beins in Knie und Hufte
oder bei willkurlicher Streckung des Unterschenkels in Bauchlage, oder
bei passiver Ausfiihrung dieser Bewegungen [Foerster]).
Das Betroffensein des Fusses bei Integritat der Bewegungen des
Unterschenkels und Oberschenkels beherrscht auch die Gangstorung.
Das Bein wird beim Vorsetzen in Hufte und Knie vollkommen ge-
beugt, dagegen hangt die Fussspitze total herab und streift entweder
uber den Boden oder es wird kompensatorisch eine ausgiebigere He-
bung des Beins in Knie und Hlifte ausgefiihrt, wodurch typische
Steppage entsteht wie bei peripherer Lahmung der Dorsaltlexoren
des Fusses.
Beilaufig sei hier nur der Sensibilitatsstorung gedacht, die im
weiteren Verlauf im rechten Bein auftrat und welche die Beruhrungs-
empfindung, die Bewegungsempfindungen und das Lokalisationsvermogen
betraf, die Schmerz-, Temperatur- und Druckempfinduugen dagegen
frei liess. Verbunden war die Stoning der Bewegungsempfindung mit
einer deutlichen Ataxie des ganzen Beins beim Erheben, beim Knie-
hackenversuch undeinem Schwanken beim Gang nach der rechten Seite.
Pall 4. Lues cerebri, cortikale Lahmung des rechten Fusses.
M. 0., 31 Jahre alt. Vor 5 Jahren luetisch intiziert. Wiederholt
spezifisch behandelt. Seit mehreren Monaten Kopfschmerzen, besonders auf
der Hohe des Scheitels lokalisiert und zunehmende Schwiiche des rechten
Fusses. Ant'angs streifte derselbe nur beim Gauge etwas tiber den Boden.
jetzt kann er den Fuss schou seit Wochen gar nicht niehr bewegen. Oft
klonische Zuckungen im rechten Fusse.
Status praesens Miirz 1906. Ausgesprochene Druck- und Klopf-
cmpfindlichkeit des Os parietale gerade auf der Hbhe des Scheitels beider-
seits von der Mittellinie, links mehr wie reclits. Druckeinplindliehkeit des
linken N. infra- und supraorbitalis. Gehirnnerven sonst o. B. Augen-
hintergrund normal. Obere Extremitaten canz olme Stoning, nur ist der
reclite Tricepsreflex und der rechte RadiuspcriostroHox lebhafter als der
linke. Rumpf o. B. Alalominalretlex beiderseits vorhanden.
Der rechte Fuss ist in Equinusstellung, die Zehen, besonders die
grosse Zehe desselben, sind dorsal Hektiert. Starker spastischer Wider-
stand der BlantarHexoren des rechten Fusses mit lehhaftem Fussklonus;
hat man den Fuss einige Zeit (10—15 Minuten) in extremer Dorsalllexion
gehalten, so zeigen nuninehr auch die Dorsaltlexoren deutlichen spastischen
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:{64
XVIII. Foerstek
Widerstand bei ihrer Dehnung. Die willktirliche Beweglichkeit des
rechten Fusses ist total aufgehoben, er kann willkOrlich weder
cine Spur dorsal- noch plantarflektiert werden. Bei der An-
strengung dazu ftlhrt der linke Fuss eine deutliche Mitbewegung im Sinne
der Dorsal- bzw. Plantarflexion aus. Bei willktlrlicher Beugung des rechten
Beins in Knie und Htlfte gegen Widerstand und bei willktlrlicher Beugung
_des Unterschenkels gegen den Oberschenkel in
Bauchlage begibt sich der rechte Fuss, unter
Uberwiegen des Tibialis anticus, unwillktlrlich
in deutliche Dorsalflexion. Diese unwillkQrliche
Mitbewegung kommt auch zustande, wenn man
passiv den Unterscbenkel in Bauchlage gegen den
Oberschenkel flecktiert. Bei willktlrlicher for-
cierter Streckung des rechten Unterschenkels
ftlhrt der rechte Fuss unwillktlrlich eine ener-
gische Plantarflexion aus. Bei der willkdrlichen
Dorsal- oder Plantarflexion des linken Fusses
aber kommt es zu keiner Mitbeugung oder
-Streckung des rechten Fusses. Bei einem Strich
tlber die Fusssohle kommt es, neben der leichten
Beugung von Knie und Htlfte (Tensor fasciae)
zu einer tonischen Anspannung des Extensor
hallucis longus (Babinski -f-) und des Tibialis
anticus; letzterer gerat auch bei einem Strich
tlber das Periost der Tibiainnenflache in tonische
Anspannung (Oppenheim -)-). Der Achillesreflex
ist gesteigert. Die willktirliche Beugung und
Streckung des rechten Unterschenkels und die
willktirliche Beweglichkeit im rechten Htlftge-
lenk sind nach keiner Richtung hin beschrankt
oder abgeschwacht. Die Strecker des rechten
Kniegelenks zeigen eine leichte spastische An¬
spannung bei passiver Beugung, sonst bestehen
keinerlei Andeutungen erschwerter passiver Be¬
weglichkeit. Der Patellarreflex ist rechts sehr
gesteigert. Der Kremasterreflex ist vorhanden.
Am linken Bein bestehen ganz normale
Verhaltnisse, nur besteht Andeutung von Fuss-
klonus und positiver Babinski, letzterer ist aber
inkonstant. Der Gang des Kranken ist hOchst
charakteristisch. Der rechte Fuss hangt total
herab und seine Spitze streift beim Vorsetzen des
rechten Beins tlber den Boden. Dagegen ist die Beugung des rechten Unter¬
schenkels und Oberschenkels in keiner Weise eingeschr&nkt, vielmehr, um
das Streifen der Fussspitze tlber den Boden zu umgehen, ansgiebiger wie links.
Fig. 1.
Cortikale Fussliih-
mung in Fall 4.
Mangelnde Dorsalflexion
des Fusses bei guter Knie-
u. Oberschenkelbeugting
wiihrend des Ganges (Step*
page).
Blase und Mastdarm zeigen keine StOrung.
Sensibilitat durchgehends normal.
Wegen der syphilitischen Anamnese wird eine Calomelkur eingeleitet,
die aber keine Besserung bringt, nur die Kopfschmerzen lassen nach.
Auch eine erneute Calomelkur, die einige Monate nach Beendigung der
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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Himherden.
365
ersten vorgenommen wird, bringt nor geringe Besserung der motorischen
Lahmung des rechten Fusses. Es besteht uach wie vor eine fast voll-
kommene Aufhebung der willkttrlichen Dorsal- und Plantarflexion des
rechten Fusses. Fussklonus und Babinski nach wie vor beiderseits positiv.
In diesem Fall 4 liegt zwar kein Autopsiebefund vor. Doch gleicht
derselbe in Bezug auf die Lahmung des rechten Beins dem voran-
gebenden so vollkommen, dass wir mit grosser Wahrscheinlichkeit
eine luetische Rindenaffektion im linken Parazentrallappcben annebmen
dtirlen. Auch in diesem Falle zeigt sich wieder, dass die willktirliche
Beweglichkeit des Fusses und zwar sowohl die Dorsalflexion als auch
die Plantarflexion total aufgehoben sind, wahrend die willktirliche Be¬
weglichkeit des Unterschenkels und Oberschenkels vollig intakt ist,
also eine Anordnung der Lahmung von exquisit segmentalem
Typus. Im Hbrigen ist die reflektorisch-subcortikale Erregbarkeit der
cortikal gelahmten Muskeln ebenso wie im vorigen Fall erhalten, ge-
steigert und nicht unterdrQckbar (Fusssohlenreflex +, Babinski -f-
Oppenheim -f-, unwillkurliche Dorsalflexion des Fusses bei willkhr-
licher oder passiver Beinbewegung usw., Fussklonus usw.). Auch der
Gang zeigt genau dasselbe Verhalten, das to tale Fehlen der Dorsal-
flexion des Fusses beim Vorsetzen und infolge dessen das Streifen der
Fusspitze uber den Fussboden bei vollig ausgiebiger, ja kompensato-
rischgesteigerter Unterschenkel- und Oberschenkelbeugung (Steppage,
Fig. 1). Der einzige Unterschied zwischen Fall 3 und 4 liegt in den
Fehlen der Sensibilitatsstorung und der aus ihr entspringenden Ataxie
in dem betroffenen Bein in Fall 4.
Falls. Cortikale Lahmung des linken Fusses, spiitor des linken
Beins, noch spater auch der linken Schulter. 1 )
A. T., 19 Jahre alt. Soit oinigen Wochen Schwache im linken Fuss,
derselbe schleift beim Gehen tlber den Boden. Haufig Kopfschmerzen,
besonders nachts.
Status am 10. II. 1907. Linker Fuss in vollkommener Spitzfuss-
stellung, Zehen in gerader Verlangerung des Fussrtlckens, spastische Kon-
traktur der Plantarflexoren mit Fussklonus; linker Achillesreflex ge-
steigert. Willktirliche Beweglichkeit des linken Fusses total aufgehoben,
weder die Dorsalflexion noch die Plantarflexion ist willkttrlich auch nur
eine Spur mOglich, ehensowenig konnen die Zehen eine Spur willkilrlirh
bewegt werden. Beim Versuch der Kranken, den linken Fuss dorsalzu-
flektieren oder plantarzuflektieren, geriit der rechte Fuss in Mitheugung.
hzw. Mitstreckung: bei willktlrlicher Bewegung des rechten Fusses keine
Mitbewegung des linken. Bei Beugung des linken Beins in Knie und
Ilttfte gegen Widerstand sowie bei Beugung des linken Unterschenkels in
1) Der Fall ist von mir auf der inneren (Prof. Ercklcntz) und chirur-
gischen (Prof. Tiet/.e) Abteilung des Allerheiligenhospitals beobaehtet worden.
Deutsche Zeitschrift f. Nurvenhcilkunde. 37. IM. 24
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366
XV1IL Foehster
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Bauchlage gegen Widerstand erfolgt Anspannung des linken Tibialis
anticus. Bei kr&ftigem Strich fiber die linke Fusssohle Anspannung des
Extensor hallucis longus (Babinski -)-) und des Tibialis anticus mit
tonischer Andauer. Kein Oppenheim.
Knie in der Ruhe in Streckstellung passiv vollkommen frei beweglieh.
Keine spastischc Kontraktur des Quadriceps oder der Beuger, will¬
kfirliche Streckung und Beugung des Unterschenkels in vollem Umfange
und mit voller Kraft mfiglich; auch in Bauchlage bei der Beugung des
Unterschenkels keine EinschrSnkung und keine Mitbewegung des Ober¬
schenkels, der Fuss ffihrt nur bei Widerstand eine Mitbewegung aus.
Oberschenkel aktiv und passiv in vollem Umfange und mit voller Kraft
nach alien Richtungen hin isoliert beweglieh. Patel larreflex links etwas
lebhafter als rechts. Keine Ataxie des linken Beins.
Am rechten Bein Andeutung von Fussklonus und Babinski, sonst keine Sto-
rung. Rumpf, obere Extremititten, Gehirnnerven, Blase und Mastdarm o. B.
Augenhintergrund normal.
Sensibilit&t ganz ungestOrt.
Beim Gang streift die linke Fussspitze, die ganz herabhfingt, ttber den
Boden, Knie und Oberschenkel werden vermehrt gebeugt (Steppage).
Status am 25. II. 1907. Linker Fuss in deutlicher Equinovarus-
stellung, grosse Zehe steht dorsalflektiert. Kontraktur der Plantarflexoren,
lebhafter Fussklonus, Babinski +, totale willkfirliche L&hmung des linken
Fusses, im Obrigen dasselbe Verhalten wie anfangs. Im linken Knie
spastische Kontraktur der Strecker, lebhafter Patellarreflex links; deutliche
Parese der willkttrlichen Flexion des linken Unterschenkels in Bauchlage,
dabei starke Mitbewegung des linken Oberschenkels und linken Fusses.
WillkOrliche Kniestreckung nur wenig abgeschw&cht (Mitstreckung des
linken Oberschenkels und linken Fusses dabei). In der linken HQfte
besteht keine Kontraktur und keine Einschrfinkung der willkfirlichen Be-
weglichkeit, beim Erheben des linken Beins Neigung des linken Knies, in
Flexion, und der grossen Zehe in Dorsalflexion zu geraten. Am rechten
Fuss Fussklonus und wechselnder Babinski. Beim Gange streift die linke
Fussspitze stark fiber den Boden, linkes Knie wird nicht gebeugt, Ober¬
schenkel unter Abduktion vorgesetzt. Wenn das linke Bein als Stfitzbein
fungiert, ist es im Knie stark hyperextendiert.
Im Obrigen absolut normales Verhalten.
Status am 3. III. 1907. Am linken Fuss genau dasselbe Verhalten
wie fruher, im linken Knie Spasmus der Strecker, sehr gesteigerter Patellar¬
reflex, willkfirliche Beugung des linken Unterschenkels fast ganz unmfig-
licli, dabei starke Mitbeugung des Oberschenkels und Fusses. WillkOrliche
Streckung des linken Knies auch etwas abgeschw&cht, doch bedeutend
hosser als die Beugung (Mitstreckung von Oberschenkel und Fuss). In
der Ilfifte willkfirliche Erhebung des linken Beins mfiglich, doch schwach,
dabei innner Mitbeugung in Knie und Fuss; willkfirliche Streckung etwas
abgeschw&cht, willkfirliche Abduktion ganz erloschen, willkfirliche Adduk-
tion etwas abgeschw&cht, willkfirliche Innenrotation und willkfirliche Aussen-
rotatinn beide sehr beeintr&chtigt. Deutliche spastische Kontraktur der
Adduktoren, Innenrotation und Aussenrotation. Rechtes Bein zeigt Fuss-
clonus und Babinski, sonst o. B.
Beim Gange wird das linke Bein in der Ilfifte nur rofihsara etwas
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Ober den LahmuDgstypus bei cortikalen Hirnherden.
367
vorgesetzt ohne Beugung von Knie und Fuss; wenn das linke Bein als
Sttitzbeiu fungiert, ist das Knie hyperextendiert, das Becken sinkt nach
vorne tlber und ganz nach rechts herunter, die Wirbelsaule wird kompen-
satorisch nach links verlegt.
Im Obrigen Status idem.
Starke Kopfschmerzen, Erbrechen. Beginnende Temperatursteigerungen.
Status am 10. III. 1907. An den unteren Extremitaten genau
derselbe Befund wie frdher.
Ausserdem besteht eine hochgradige Lahmung der linken Schulter,
dieselbe steht tiefer wie die rechte und mehr nach vorne gertickt als
die rechte. Sie kann gar nicht gehoben, gar nicht adduziert werdeu,
etwas vorwarts bewegt werden; die Schulter kann gegen den leisesten
Widerstand nicht gesenkt werden. Dabei hebt sich die Schulter prompt
mit, sobald die Kranke den linken Arm emporhebt, und diese Mithebung
ist ebenso ausgiebig wie auf der rechten Seite. Wahrend aber diese Mit¬
hebung der Schulter beim Erheben des Arms rechterseits, wenigstens zu
Anfang der Erhebung, leicht unterdrtlckt werden kann, ist dies links ganz
unmbglich. Linker Oberarm, linker Vorderarm, Hand und Finger sind
aktiv und passiv absolut frei beweglich, nicht die geringste Beeintrachtigung
der feinen Fingerverrichtungen. Keine Tastlahmung an der linken Hand.
Keine Sensibilitatsstorung.
Im Obrigen Status idem. Kopfschmerzen, Erbrechen, Fieber dauern
fort. Es wird ein operatives Vorgehen beschlossen, da ein Tuberkel im
Bereiche des oberen Drittels der rechten Zentralwindung wahrscheinlich
erscheint. Operation aber abgelehnt. Es werden grosse Dosen Jodkali
gegeben, 3—5 g pro die. Nach wenig Tagen lassen Kopfschmerz, Fieber
und Erbrechen ganz nach. Jod weiter gegeben.
Status am 20. III. 1907. Linkes Bein Status quo ante, am rechten
Bein ist Fussklonus und Babinski verschwunden. Linke Schulter steht
noch tiefer als die rechte, kann aber willkOrlick etwas erhoben werden,
dabei aber Miterhebung der rechten Schulter und Abduktion des linken
Oberarms; beide Mitbewegungen kbnnen nicht unterdrOckt werden. Die
rechte Schulter kann vollkommen isoliert erhoben werden. Die willkQr-
liche Adduktion der linken Schulter ist etwas moglich, aber sehr schwach
und durch leichten Widerstand zu unterdrQcken; sie ist stets von einer
ausgiebigen Adduktion der rechten Schulter begleitet, wiihrend diese letztere
ganz isoliert adduziert werden kann. Die willkUrliche Yorwtirtsbewegung
der linken Schulter ist noch deutlich eingeschr&nkt und recht schwach,
stets von einer VorwOrtsbewegung der rechten Schulter begleitet, wahrend
diese ganz isoliert vorbewegt werden kann. WillkQrliches Senken der linken
Schulter sehr abgeschwacht, man kann z. B. die Kranke nicht an den herab-
hangenden Oberarmen emporheben, da der linke Oberarm den SchultergOrtel
vollkommen nach oben driingt. Linker Oberarm, Vorderarm, Hand und Finger
ganz ohne StOrung, keinerlei spastischcr Widerstand der Muskeln, keine Ein-
schrOnkungoder Abschwachung der willkQrlichen Beweglichkeit, auch kOnnen
alle isolierten Bewegungen ausgefilhrt werden, nur beim Erheben des Ober¬
arms erfolgt stets Miterhebung der Schulter. Keine Tastlahmung.
In den folgenden Monaten bleibt der Befund im wesentlichen derselbe.
Doch kehrt allmahlich geringe willkQrliche Beweglichkeit in die Plantar-
Hexoren des linken Fusses und in die DorsalHexoren der grossen Zehe
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XVIII. Foerster
wieder. Auch die Kniestreckung wird wieder ganz kr&ftig, ebenso die
Oberschenkelstreckung, Adduktion und Innenrotation; die willkQrliche
Unterschenkelbeugung und willktirliche Abduktion des Oberschenkels bleibt
fast ganz gelithmt, die Flexion des Oberschenkels und die Aussenrotation
bleiben abgeschwtlcht. Am rechten Fuss wieder bisweilen Fussklonu9 und
Babinski. An der Schulter bleibt der Befund auch der gleiche. Allgemein-
erscheinungen bestehen nicht mehr. Die Kranke wird mit diesem Befunde
im August 1907 nach Hause entlassen.
Auch in diesem Falle liegt kein Autopsiebefund vor. Dennoch
ist es hochst wabrscheinlich, dass es sich um eine Rindenaffektion im
Gebiete der rechtsseitigen Beinregion handelt. Zunachst glich der Be-
fund wieder ganz genau dem Befund in Fall 3 und 4. Es bestand
vollkommene Aufhebung der willklirlichen Dorsalflexion
und Plantarflexion des Fusses bei volliger Integritat der
willklirlichen Beweglichkeit desUnter- und Oberschenkels,
also wieder nur eine Monoplegia pedis; auch hier beziiglich der
reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit der willklirlicb gelahmten Dor¬
sal- und Plantarflexoren dasselbe typische Verhalten wie in Fall 3
und 4 und wie iiberhaupt in alien Fallen von Pyramidenbahnerkran-
kung mit Beteiligung des Fusses; auch hier dieselbe typische Gang-
stoning wie in Fall 3 und 4. Im weiteren Verlaufe bleibt aber die
Lahmung nicht beschrankt auf den Fuss, sondern es entsteht auch in
Unterschenkel und Oberschenkel eine Lahmung der willklirlichen Beweg¬
lichkeit, nur zeigt diese hochst interessanterweise den Wernickeschen
Pradilektionstypus; es sind also gelahmt oder stark paretisch die willkiir-
liche Beugung des Unterschenkels, die willktirliche Flexion, Abduktion,
Aussen-und Innenrotation des Oberschenkels, wahrend die willkiirliche
Streckung des Unterschenkels sowie die Streckung und Adduktion des
Oberschenkels relativ sehr kraftig sind. Dieser Befund, soweit Unter-
und Oberschenkel in Frage kommen, weicht also vom Wernickeschen
Pradilektionstypus nur noch darin ab, dass auch die willktirliche
Innenrotation des Oberschenkels gelahmt ist Doch hat diese spater
wieder fast voile Kraft erlangt Obrigens hat sich auch im weiteren
Verlaufe die willktirliche Plantarflexion des Fusses spurenweise wieder
eingestellt, doch blieb sie danernd sehr viel mehr betroffen, als es bei
der Kapselhemiplegie und in imseren Fallen 1 und 2 der Fall ist.
Beacht-enswert ist vielleicbt noch die Reihenfolge, mit der die Lahmung
der willkiirlichen Beweglichkeit die einzelnen Muskelgruppen ergriff;
nachst der Lahmung des Fusses warden die Flexoren des Knies, dem-
nachst die Abduktoren des Oberschenkels und zuletzt auch die anderen
Muskeln des lJiiftgelenks ergriffen.
Endlich soli noch erwiihnt werdeu, dass, als aus der Monoplegia
pedis die Monoplegia cruris sich entwickelte, naturlich auch die iibrigen
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Uber den Liihmuugstypus bei cortikalen Hirnberden. 369
Symptome derselben, die gesteigerte reflektorisch-subcortikale Erreg-
barkeit der Beinmuskelu, also die Steigerung des Patellarreflexes, die
Kontrakturen, die typischen unwillkflrlichen Mitbewegungen sich ein-
stellten und dass naturgemass auch die Gangstorung deD typisch hemi-
plegischen Charakter annahm.
Auf die im weiteren Verlauf in diesem Falle noch hinzutretende
Schulterlahmung gehe ich hier noch nicht ein.
Pall 0 . Tumor der oberen Halfte der rechten Zentralwindung.
Monoplegia cruris sinistri, Beteiligungdes rechtenBeins, sp&ter
Monoplegia brachialis. 1 )
H. T., 51 Jahre alt, frfiher stets gesund, seit 1905 Geffihl von Steifig-
keit im linken Fuss, allmtlhlich immer starker, das ganze Bein einnehmend.
Seit Anfang April 1906 Schwindel. Keine Kopfschmerzen.
Status am 27. IV. 1906. Innere Organe o. B. Kopf nirgends
Druck- oder Klopfempfindlichkeit. Augenhintergrund o. B. Pupillen gleich
weit, reagieren prompt. Gehirnnervcn o. B. Am linken Bein befindet
sich der Fuss in vollkommener Equinusstellung, die grosse Zehe ist dor-
salflektiert, spastische Kontraktur der Planfarflexoren des linken Fusses
mit starkem Fussklonus. Babinski links -j-, lebhafter Achillesreflex links.
Willktlrliche Beweglichkeit des linken Fusses fast total erloschen. Beim
Versuch der Dorsalflexion richtet sich nur die grosse Zehe etwas dorsal-
warts, im Qbrigen ist die Dorsalflexion und auch die Plantarflexion will-
kUrlich ganz aufgehoben. Beim Strich fiber die Fusssohle unwillkfirliche
Kontraktion des Extens. b. 1. und des Tibialis anticus mit tonischer An-
dauer, ebenso beim Strich fiber die Innenflfiche der Tibia tonische Kon¬
traktion des Tib. antic. Bei wrillkfirlicher Beugung des linken Beins in
Knie und Hfifte gegen Widerstand erfolgt unwillkfirliche Mitbeugung des
linken Fusses (Tibialisphfinomen), ebenso bei willkfirlicher Streckung des
linken Beins unwillkfirliche Plantarflexion des Fusses. Dieselben Mitbe¬
wegungen des Fusses finden statt bei passiver Beugung bezw. Streckung
des linken Beins in Knie und Hfifte.
Im linken Knie, das in Streckstellung befindlich, besteht spastische
Kontraktur der Strecker, auch solclie der Beuger, wenn das Bein eine
kurze Weile in Beugung gebracht ist. Patellarklonus, lebhafter Patellar-
reflex, willktlrliche Flexion des linken Unterschenkels sehr abgeschwficht,
dabei unwillkfirliche Dorsalflexion des linken Fusses durch Tibialis-
wirkung und unwillkfirliche Flexion des linken Oberschenkels. Will-
kfirliche Streckung des linken Unterschenkels recht kr&ftig, dabei uu-
willkttrliche Plantarflexion des Fusses und unwillkfirliche Extension des
Oberschenkels. In der Hfifte spastische Kontraktur der Adduktoren und
Innenrotatoren, geringe der Flexoren und Extensoren. Die grobe Kraft der
willkfirlichen Bewegungen des Oberschenkels ist ffir keine Muskelgruppe
herabgesetzt, auch ist keine Bewegung eingeschrankt; beim Erheben des
Beins kommt es zu einer Mitbewegung der grossen Zehe in Dorsalflexion.
1) Der Fall ist von mir auf der inneren Abteilung (Prof. Stern) des
Allerheiligenspitals beobachtet worden.
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XVIII. Foerstek
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Das Erheben des linken gestreckten Beins and das Setzen der linken Ferse
aufs rechte Knie l&sst eine deutliche Ataxie erkennen.
Am recbten Bein besteht Fussklonus, Babinski +, Kontraktur derKnie-
strecker und leichte der Adduktoren, gesteigerter Patellarreflex, keine Pare>e.
keine Ataxie, angedeutetes Tibialisphanomen. Am linken Bein ist die Schmerz-
und Temperaturempfindung nicht geschadigt, die BerQhrungsempfindung herab-
gesetzt; stark berabgesetzt ist der Drucksinn, die Bewegungsempfindung und
das Lokalisationsvermogen. Am rechten Bein keine Sensibilitatsstorung.
Am Rumpf besteht Fehlen der Bauchdeckenreflexe, keine Parese der
Bauchmuskeln, keine Sensibilitatsstdrung.
Keine Blasen- und Mastdarmstdrungen.
An der linken oberen Extremitat besteben ebenso wie an der rechten
keinerlei Stdrungen.
Status am 4. V. 1906. Linker Fuss total willkQrlich gelahmt,
auch die grosse Zebe wird nicht mehr beim Versuch der Dorsalflexion
aufgerichtet; sonst Status quo ante. Willktlrliche Flexion des linken
Unterschenkels in Bauchlage so gut wie erloschen. WillkQrliche Flexion
des linken Oberschenkels stark paretisch, stets von einer Beugung des
Knies und einer Dorsalflexion der grossen Zehe begleitet, wiilkQrlicbe
Extension des linken Oberschenkels aucb abgeschwacht, wiilkQrlicbe Ab-
duktion uumdglich, Innenrotation und Aussenrotation sebr beschrankt, will-
kQrliche Adduktion leidlich erbalten.
Ataxie des linken Beins nicht mehr so stark wie frOher in dieAugen fallend.
Am recbten Bein Fussklonus, Babinski inkonstant, meist +, Kontrak¬
tur der Kniestrecker und Adduktoren, keine Paresen, keine Ataxie.
Sensibilitat wie frQber.
Keine Blasen- und Mastdarmstorung.
An der linken oberen Extremist besteht eine fast vollkommene Liih-
mung der Scbulter, dieselbe steht tiefer wie die rechte Schulter, die pas¬
sive Beweglichkeit stbsst auf leicbten spastischen Widerstand nach alien
Richtungen; willkQrlich kann die linke Schulter nicht so hocb erhoben
werden wie die rechte, dabei bewegt sicli die rechte stets stark mit, und
der linke Oberarm wird abduziert. Diese Mitbewegungen konnen nicht
unterdrQckt werden, wahrend die rechte Schulter willkQrlich ganz isoliert
erhoben werden kann. Die wiilkQrlicbe Adduktion der linken Schulter
gelingt garnicht, es kommt nur zu einer leicbten Mitbewegung der
rechten Schulter im Sinne der Adduktion. Dabei begiebt sich aber die linke
Schulter unwillktirlich in ausgiebige Adduktion, sobald die Kranke Oberarm
und Vorderarm kr&ftig nach aussen rotiert, oder sobald sie mit dem linken
Oberarm nach hinten adduziert, um die rechte Geshssh&lfte zu kratzen. Die
willktirliche VorfQhrung der linken Scbulter ist ganz unmdglich, sobald die
Kranke aber den linken Oberarm vorfQhrt, um die linke Hand auf die rechte
Schulter zu legen, bewegt sich auch die linke Schulter unwillkQrlich weit
nach vorn. WiilkQrlicbe Senkung der linken Schulter ausserst schwach.
Passive und aktive Beweglichkeit des linken Oberarms, Vorderarms.
der Hand und der Finger ganz ungostbrt. Speziell sei betont, dass die
Supination der Hand, die Opposition des Daumens nicht die geringste Be-
schrankung zeigt, es kann der Zeigetinger oder der Daumen isoliert ge-
beugt oder gestrcckt werden. Audi besteht keine Ataxie des Arms oder
der Finger. A He Fingerverrichtungen giinzlich ungestort.
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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnlierden. 371
- Nach wenigen Tagen ist die Schulterlabmung eine totale, die willkOr-
liche Hebung ist jetzt auch ganz erloschen, dabei erhebt sich aber die
linke Selmlter bei der Erhebung des linken Oberarms unwillkOrlich genau
so gut wie rechterseits, aber diese unwillkOrliche Mitbewegung kann nicht
unterdrQckt werden. Ira ttbrigen ist das motorische Verhalten des linken
Arms genau so wie bisher. Aber es besteht jetzt vollkommene Tast-
lahmung an der linken Hand; auch ist das Lokalisationsverraogen an
derselben schwer geschadigt, meist gibt die Kranke einen ganz falschen
Finger an, Oder wenn der Finger richtig erkannt wird, so betritgt der
Lokalisationsfehler doch mekrere Zentimeter. Dabei ist die BerGhrungs-
empfindung, Schmerzempfindung, Temperaturempfindung, der Drucksinn, das
GefGhl fttr die Vibration einer Stimmgabel ganz intakt. Dieser Befund
bleibt die folgenden Wochen ganz der gleiche.
Status am 9. VII. An der linken unteren Extremitat fast derselbe
Befund wie frOher. Lahraung des Fusses, der Beuger des Enies, der Ab-
duktoren, Flexoren und Aussenrotatoren des Oberschenkels, Kniestrecker und
Innenrotatoren etwas paretisch, ebenso die Extensoren des Oberschenkels,
am besten sind die Adduktoren. Rechts spastische Kontraktur des Qua¬
driceps und der Adduktoren, keine Paresen und keine Ataxie am rechten
Bein. Dagegen Fussklonus -j-, Babinski -)-, StrOmpell +. Sensibilitat am
linken Bein wie frOher: StOrungderBerOhrungsempfindung, Druckempfindung
und Bewegungsempfindung, keine der Schmerz- und Temperaturempfindung.
Am Rumpf fehlen beiderseits die Bauchdeckenreflexe, die linksseitige
Abdominalmuskulatur zeigt Parese bei der willkQrlichen Bauchpresse wie
beim Emporrichten aus der RQckenlage. Bei forciertem Inspirium bleibt
der linke Brustkorb zurOck.
Am linken Arm Schulterlabmung genau wie frOher. Oberarm zeigt
spastischen Widerstand der Adduktoren, Innenrotatoren, Vorwarts- und
RGckwartsbeweger; willkOrlich kann der Arm nach vorne nicht Qber die
Horizontale erhoben werden, Bewegung nach hinten sehr beschrankt, Er¬
hebung nach der Seite Ober die Horizontale moglich, Innenrotation recht
kraftig, ebenso die Adduktion; Aussenrotation sehr beschrankt. Bei der
willkQrlichen Abduktion des Humerus unwillkOrliche Erhebung der Schulter
und Flexion des Vorderarms. Im Ellbogen leichter spastischer Widerstand
der Beuger und Strecker, willkOrliche Beugung und Streckung unge-
sckwacht, dabei stets unwillkOrliche Abduktion bzw. Adduktion des Ober¬
arms. Leichter spastischer Widerstand der Pronatoren der Hand. Keine
Parese der Handbewegungen; kein spastischer Widerstand der Fingerbeuger.
keine Parese der Fingerbewegungen, Opposition des Daumens uneinge-
schrankt, Flexion und Extension eiues einzelnen Fingers moglich, knopft init
der linken Hand, wenn auch schwerfalliger als mit der rechten Hand.
Ausgesprochene Ataxie der linken Hand beiin Ergreifen eines Glases,
beim FOhren desselben zum Munde.
Tastlahmung wie frOher. Storung der Bewegungsempfindung besonders
im linken Schultergelenk, sehr gering in den Fingergelenken, Druck¬
sinn etwas lierabgesetzt am ganzen linken Arm, BerGhrungsempfindung,
Schmerz- und Temperaturempfindung ganz ungestort. Lokalisationsvermogen
sehr gestort.
Im weiteren nimmt die Bewegungsstorung am linken Arm erheblich
zu, die Streckung der Finger wird mangelhaft, es kann kein Finger einzeln
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XVIII. Foerster
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extendiert werden, Fingerbeugung noch recht krttftig, aber einzein un-
moglich, Daumen wird noch bis zum Kleinfinger opponiert, aber das
1. Metacarpale wird nicht mehr genttgend flektiert und rotiert. Bei der
Opposition Beugung samtlicher Finger. Abdnktion nnd Extension des
Daumens noch gut. WillkQrlicbe Handstreckung abgeschwacht, ebenso
Supination. Vorderarmbeugung und -streckung etwas schwacher. Bei der
Vorderarmbeugung stets Pronation der Hand, bei der Fingerbeugung stets
Extension der Hand.
BerQhrungsempfindung, Drucksinn und Bewegungsempfindung am linken
Arm stark herabgesetzt. Schmerz- und Temperaturempfindung ungeschadigt.
Tastlahmung besteht fort.
Im weiteren Verlauf treten Erbrechen und Ohnmachtszustandc auf.
Augenbintergrund normal.
10. VIII. Linker Arm weiter sehr verschlechtert. Starke Kon-
trakturen der Schulter und des Oberarms, des Vorderarms, der Hand
(Pronatoren und Flexoren) und der Finger (Flexoren). Willkttrlich Schulter
unbeweglich, Oberarm kann etwas abduziert werden (dabei Flexion des
Vorderarms und Pronation der Hand), er kann etwas nach innen rotiert
und adduziert werden (dabei Extension des Vorderarms), sonst willkttr-
lich unbeweglich. Vorderarm wird noch gut flektiert (dabei Abductio
humeris et Pronatio manus). WillkQrliche Extension aufgehoben. Hand
kann willkttrlich gar nicht extendiert und supiniert, etwas flektiert und
proniert werden; bei letzterer Bewegung Flexion des Vorderarms und
Abduktion des Oberarms. Finger werden willkttrlich zur Faust geschlossen,
dabei Handstreckung, Extension der Finger fast ganz aufgehoben. Daumen
kann mit den anderen Fingern zur Faust geschlossen werden, sonst auch
willkttrlich unbeweglich.
Sensibilitttt wie frfiher.
Rumpf Status quo ante.
Untere Extremitat auch Status quo.
In diesem Zustande verblieb die Kranke in der Folge. Erbrechen,
Benommenheit hilufen sich.
7. XI. Hypostatische Pneumonic.
11. XI. Exitus letalis.
Bei der Autopsie findet sich ein oberflachlicher Tumor, der die obere
Halite der rechten Zentralwindung einnimmt; der Tumor greift vorne auf den
Fuss der ersten und zweiten Stirnwindung ttber, hinten auf die vorderen Ab-
schnitte des oberen und einen Teil des unteren Scheitellappchens, oben auf
den Parazentrallappen ttber. Es handelt sich um ein Endotheliom. Die Binde
ist ttberall an der Stelle des Tumors vollkommen in diesen aufgegangen.
Er haftet an einer kleinen Stelle an der Falx cerebri und an der Dura
der Konvexitat fest an, von der er offenbar seinen Ausgangspunkt ge-
nomnien hat.
In diesem Falle 6 handelt es sich also wieder um eine durch
Autopsie belegte cortikale Aftektion, einen oberflachlichen Tumor der
rechten Zentralwindung, welcher seinen Ausgang von der rechten Seite
der Falx cerebri genommen und fuglich zuerst das rechte Parazentral-
liippcheu betroffen hat, allmahlich sich nach unten iiber die Konvexi-
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Uber den Lahmuogstypas bei cortikalen Hirnherden. 373
tat ausbreitend. Die motoriscbe Storung bestand zuerst in einer totalen
Lahmung der willkurlichen Dorsalflexion und Plantarflexion des linken
Fusses, also in einer Monoplegia pedis, allerdings war auch die
willkurliche Flexion des Unterschenkels abgeschwacht, alle ubrigen
Muskelgruppen zeigten keine Beeintrachtigung ihrer willkurlichen
Kraftentfaltung; doch bestanden bereits am ganzen recbten Bein, also
auch am Unterschenkel und Oberscbenkel, die Zeichen der gesteigerten
reflektorisch - subcortikalen Erregbarkeit der verschiedenen Muskel¬
gruppen, d. h. die gesteigerten Sehnenreflexe, Kontrakturen und vor
allem die unwillkttrliche Mitbewegung bei willkUrlicher Bewegung des
Unter- oder Oberschenkels. Ausserdem bestand am linken Bein eine
deutliche Bewegungsataxie beim Erheben des Beins im Htiftgelenk,
beim Kniehackenversuch, als Folge einer gleichzeitig vorhandenen
Sensibilitatsstorung, die Beruhrungsempfindung, die Bewegungsempfin-
dung, die Druckempfindung und das Lokalisationsvermogen betreffend.
Im weiteren Verlauf entwickelt sicb dann eine Monoplegia crura-
lis, bei der die willkurliche Beweglichkeit des Fusses nach wie vor ganz
aufgeboben ist, wahrend die Lahmung der Muskeln des Unter- und
Oberschenkels im wesentlichen den Wernickeschen Pradilektions-
typus zeigt: stark abgeschwacht oder ganz gelahmt ist die willkurliche
Beugung des Unterschenkels, die Beugung, Abduktion und Aussen-
rotation des Oberschenkels, wahrend die Strecker des Unterschenkels,
die Extensoren, Adduktoren und Innenrotatoren des Oberschenkels gar
nicht oder doch weniger betroffen sind. Immerhin muss betont werden,
dass die Kraft der willkurlichen Innenrotation und Extension des
Oberschenkels sowie auch der Streckung des Unterschenkels in diesem
Falle eine merklich starkere Einbusse erkennen lasst, als z. B. in dem
vorangehenden Falle und in den Fallen 1 und 2. Die ubrigen Sym-
ptome der spastischen Beinlahmung, die gesteigerten Sehnenreflexe, die
Kontrakturen, der Beugereflex sowie die unwillkttrlichen Mitbewegungen
zeigen dasselbe typische Verhalten wie in den anderen Fallen. Auf
die Monoplegia brachialis sowie auf die Sensibilitatsstorungen am Arm
wird weiter unten eingegangen. —
tjberblicken wir nunmehr das Verhalten der Beinlahmung in den
bisher mitgeteilten 6 Fallen im Zusammenhang, so ist zu betonen, dass
eine Zerstorung, die die Rinde in der Beinregion betrifft, an sich
keinen anderen Lahmungstypus zu erzeugen braucht, als wir ihn bei
dem Durchschnittsbilde der Kapselhemiplegie antreffen; das beweisen
Fall 1 und 2, in denen der Wernickesche Pradilektionstypus in ex-
quisiter Weise angetroffen wurde. Dafur spricht auch in der Haupt-
sache die Verteilung der Lahmung der willkurlichen Beweglichkeit auf
die einzelnen Muskeln des Unterschenkels und Oberschenkels, welche
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374
XVIII. Foekstf.r
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in den Fallen 5 und 6 angetroffen wird und welche den Pradilektions-
typus im wesentlichen befolgt. Ganzlich abweichend vom Pradilek-
tionstypus ist aber das Verhalten des Fusses in den Fallen 3, 4, 5
und 6, indem dessen willktirliche Beweglichkeit sowohl im Sinne der
Dorsalflexion als auch der Plantarflexion total erloschen ist. Ziehen
wir dazu noch die weitere Tatsacbe in Betracht, dass in Fall 3 u, 4
wahrend der ganzen Beobacbtungsdauer die Lahmung der willkur-
lichen Beweglichkeit sich ausschliesslicb auf den Fuss beschrankte,
bei volliger Integritat der willkurlichen Kraftentfaltung der Muskeln
des TJnter- und Oberschenkels, hier also eine wirkliche Monoplegia
pedis bestand, und dass auch in den Fallen 5 u. 6 anfangs eine iso-
lierte totale Monoplegia pedis (Fall 5) vorlag oder doch gegenuber
derselben die geringe Parese der Knieflexoren zunachst in den Hinter-
grund trat (Fall 6) und erst im weiteren Verlauf auch Unter- und
Oberschenkel in die Lahmung einbezogen wurden, so ist nicht ab-
zuleugnen, dass alle diese dem von Wernicke 1902 mitgeteilten Falle
von cortikaler Beinlahmung recht ahneln und einer Anordnung
der Lahmung nach Gliedabschnitten bei cortikalen Herden das Wort
reden konnten. Wie sind diese scheinbaren Widerspruche zu ver-
einen? Zunachst geht mit Sicherheit aus den Fallen 3, 4, 5 und 6
hervor, dass die Ursprungsfelder der Pyramidenbahnfasern ftir die
Muskeln des Fusses in der Beinregion getrennt von denen ftir die
Muskeln des Unter- und Oberschenkels, wabrscheinlich im Lob.
paracentralis gelegen sind und isoliert betroffen werden konnen (Fall 3
und 4). Mit der getrennten Lagerung der Ursprungsfelder ftir Fuss,
Unter- und Oberschenkel stimmt auch die allmahliche Ausbreitung der
Lahmung in Fall 5 und 6 iiberein, die anfangs den Fuss betrifft, danu
den Unterschenkel (wesentlich die Flexoren) und wieder spater erst
den Oberschenkel (wesentlich die Adduktoren, die Flexoren, Aussen-
rotatoren) ergreift. Dass wir in Fall 1 und 2 eine Lahmung von
Muskeln des Fusses, Unter-und Oberschenkels antreffen, hangt einfach
damit zusammen, dass in ihnen die ganze Beinregion betroffen ist.
Innerhalb der cortikalen Ursprungsfelder der Pyramidenfasern fur
die einzelnen Gliedabschnitte (Fuss, Unter- und Oberschenkel) sind
nun aber weiter noch die Ursprungsfelder der Pyramidenbahnfasern
ftir die einzelnen Muskelgruppen, also z. B. ftir die Dorsalflexoren und
fur die Plautarflexoren des Fusses, getrennt gelagert, und innerhalb
dieser Foci fiir die einzelnen Muskelgruppen bestehen isolierte Foci
fiirjeden einzelnen Muskel, ja wahrscheinlich ftir einzelne Teile eines
einzelnen Muskels. Das ist zuerst von dem Entdecker der elektrischen
Erregbarkeit der Hirnriude und der Lokalisation derselben innerhalb
der vorderen Zeutralwinduug, von Hitzig, bereits betont worden, seit-
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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden.
375
dem vielfach bezweifelt Oder nicht genugend scharf hervorgehoben
worden. Ganz isolierte Muskelzuckungen habe ich bei pathologiscber
Reizung der Rinde der vorderen Zentralwindung sehr oft gesehen.
Unser Fall 1 zeigte das sehr deutlich: isolierte Zuckungen des Tibialis
anticus oder des Extensor hallucis longus (vgl. den Fall von Jastro-
witz); in anderen Fallen habe ich isolierte klonische Zuckungen ein-
zelner Bundel des Quadriceps wahrend langerer Zeit beobachtet. Ich
komme auf diesen Punkt noch einmal bei Besprechung der Armregion
zurlick. Dagegen sind isolierte cortikale Muskellahmungen innerhalb
der Beinregion m. W. bisher noch nie beobachtet worden.
Wenn wir nun in unseren Fallen 3, 4, 5 und 6 eine isolierte
Lahmung der willkUrlicben Beweglichkeit des Fusses und zwar der
Dorsalflexion wie der Plantarflexion antreffen, so konnte es scheinen,
dass diese einfach durch die Zerstorung des in der linken (bezw.
rechten) Zentralwindung gelegenen Ursprungsfeldes der Pyramiden-
fasern fttr die Dorsaltlexoren und Plantarflexoren des rechten (bezw.
linken) Fusses erschopfend erklart ist. So einfach liegt es aber nicht.
Denn in Fall 1 ist das in der linken Zentralwindung gelegene Ur-
sprungsfeld fur den rechten Fuss auch ganz zerstort und trotzdem ist
die willkurliche Plantarflexion desselben gar nicht gelahmt, ebenso wie
bei jeder totalen Unterbrechung der Pyramidenbahn in der linken
inneren Kapsel, wo doch auch das linke Fussursprungsfeld ganz von
der Verbindung mit dem rechten Fuss abgeschnitten ist, die Plantar¬
flexion dieses letzteren nicht gelahmt ist.
Wir wissen, dass neben dem Hauptursprungsfeld in der linken
Zentralwindung fGr den rechten Fuss (far den rechten Unterschenkel
usw.) noch ein Hilfsursprungsfeld fur diesen rechten Fuss auch
in der rechten Zentralwindung gelegen ist und dass von diesem aus
Hilfspyramidenbahnfasern durch die rechte innere Kapsel usw. unge-
kreuzt in der rechten Pyramidenvorderstrangbahn und in homolateralen
Fasern der rechten Pyramidenseitenstrangbahn zu den Muskeln des
rechten Fusses verlaufen.
Diese Hilfsursprungsfelder und die von ihnen staramende unge-
kreuzte Pyramidenvorderstrangbahn sowie die ungekreuzten Pyramiden-
seitenstrangfasern treten bei Zerstorung, sei es des Hauptursprungs-
feldes in der linken Zentralwindung, sei es der Hauptbahn in der
linken inneren Kapsel, kompensatorisch ein und ubernehmen die Zu-
leitung von Willensimpulsen zu den Muskeln des rechten Fusses
(Unter- und Obersclienkels). In der Regel aber partizipieren an dieser
Kompensation nur die Plantarflexoren des Fusses, die Strecker des
Knies, die Strecker, Adduktoren und Innenrotatoren des Oberschenkels.
Warum diese funktionelle Bevorzugung einer bestimmten Reihe von
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XVIII. Foerster
Muskeln vor einer anderen Reibe besteht, kann hier nicht erortert werden.
Diese bat ihren Grrund gar nicbt in bestimmten Verhaltnissen des
Cortex oder der Pyramidenbahn, sondern in einer differenten Anspruchs-
fahigkeit der spinalen Kerne der verschiedenen Muskelgruppen auf
corticogene Impulse. Nur so viel ist sicher, dass ffir das Zustandekom-
men einer willkurlichen Plantarflexion des rechten Fusses (Streckung
des Unterschenkels usw.) bei Zerstorung des Hauptursprungfeldes in
der linken inneren Kapsel die funktionelle Tuchtigkeit des Hilfsur-
sprungfeldes in der rechten Zentralwindung und der von ihm ab-
gehenden Hilfsbahn Bedingung ist. Ist dieses Hilfsursprungsfeld auch
geschadigt, so bleibt die Kompensation aus, die willktirliche Plantar-
flexion ist ebenso wie die Dorsalflexion ganz erloschen. In unserem
Falle 1 und 2 ist das Hauptursprungsfeld fttr die Muskeln des rechten
Beins in der linken Zentralwindung zerstort, daber Monoplegia cru-
ralis dextra, aber das Hilfsursprungsfeld fur die Muskeln des rechten
Beins in der rechten Zentralwindung ist als intakt anzusehen, da gar
keine Zeicben einer Erkrankung der rechten Zentralwindung vorliegen;
dasselbe tritt kompensatorisch ffir das zerstorte Hauptfeld ein, daber
besteht der Wernickescbe Pradilektionstypus. Anders in Fall 3—6.
In alien vier Fallen besteben Zeicben, die auf eine Schadigung auch
der gegenuberliegenden Beinregion hinweisen, ein Punkt, auf den ich
bisher noch nicht eingegangen bin, der mir aber von der grossten
Wichtigkeit zu sein scheint. In Fall 3 lag ein Tuberkel des linken
Parazentallappens vor, daber Monoplegia pedis dextri, der Tuberkel
prominierte und fibte auch auf das rechte Parazentrallappchen einen
Druck aus, in demselben eine deutliche Impression hervorrufend; die
Schadigung dieses rechten Parazentrallappens gab sich klinisch er-
stens in dem Besteben von Fussklonus und Babinski auch am linken
Fuss zu erkennen. Diese Mitschadigung des rechten Parazentral-
lappchens bedingte nun aber auch eine Stoning der Funktion der hier
gelegenen Hilfsursprungsfelder fur die Muskeln des rechten Fusses,
daher bleibt die Kompensation aus, die Plantarflexoren sind ebenso
gelahmt wie die Dorsalflexoren. In Fall 4 (Erkrankung des linken
Parazentralliippchens — Monoplegia pedis dextri) genau die gleichen
Verhaltnisse; die Mitschadigung des rechten Parazentrallappchens ist zwar
nicht anatomisch erwiesen, aber klinisch durch Bestehen von Fuss¬
klonus und Babinski am linken Fuss dargetan, daher auch Versagen
des Hilfsursprungsfeldes fur die Muskeln des rechten Fusses, Fehlen
der Kompensation, totale willktirliehe Lahmung der Plantarflexion des
rechten Fusses. Und so ist auch in Fall 5 und 6 die Mitschadigung
auch des anderen Parazentrallappens klinisch dargetan, in Fall 6
(Tumor der rechten Zentralwindung — Monoplegia cruralis sinistra)
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tjber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden.
377
sogar anatomiscb erwiesen. Hier bestand rechts sogar ausser dem Fuss-
klonus und Babinski noch Kontraktur der Strecker des Knies und der
Adduktoren der Hfifte. Daher Versagen des im linken Parazentral-
lappchen gelegenen Hilfsursprungsfeldes fur die Muskeln des linken
Fusses und totale willktirliche Lahmung der Dorsalflexion und Plantar-
flexion desselben. Ja in diesem Falle sind wohl auch die links ge¬
legenen Hilfsursprungsfelder flir die Muskeln des linken Unterschen-
kels und Oberschenkels etwas mitgeschadigt, wodurch sich die merk-
licbe Abschwachung auch der Streckung des linken Unterschenkels
und der Streckung und Innenrotation des linken Oberschenkels er-
klaren dfirfte. Auch in dem 1902 von Wernicke mitgeteilten Falle
von cortikaler rechtsseitiger Beinlahmung, der auf einer Depressions-
fraktur des linken Scheitelbeins, die aber fiber die Medianlinie nach rechts
herfibergriff, beruhte, und in dem eine fast totale Lahmung der will-
kurlichen Dorsalflexion und Plantarflexion des linken Fusses bestand,
waren hochst charakteristischerweise auch Anzeichen der Mitschadigung
der rechtsseitigen Beinregion vorhanden. Von Babinski und Fuss-
klonus ist zwar in der kurzen Mitteilung fiberhaupt nichts erwahnt,
aber es bestand eine Lahmung der Abduktoren der linken Httfte.
Man konnte gegen die hier vorgetragene Auffassung, flir die Lah¬
mung der Plantarreflexoren des Fusses sowie die Schwache der Strecker
des Knies und der Extensoren und Innenrotatoren der Hufte des er-
krankten Beins eine Mitschadigung des in der homolateralen Zentral-
windung gelegenen Hilfsursprungsfeldes der Pyramidenfasern ffir das
erkrankte Bein, mitanderen Worten die Doppelseitigkeit der Erkrankung
zur Erklarung heranzuziehen, den Einwand erheben, dass dann doch auch
eine totale Lahmung der Muskeln des anderen Fusses erwartet werden
mfisste. Dem gegentiber ist aber hervorzuheben, dass es sich ja nur
um eine Mitschadigung leichteren Grades handelt. Nun wissen wir
aber, dass bei Schadigung sowohl der Pyramidenbahn selbst als auch
ihrer cortikalen Ursprungsfelder die beiden Funktionen der Pyramiden¬
bahn, die innervatorische und die inhibitorische, in recht verschiedenem
Grade vulnerabel sind; letztere leidet viel eher als erstere, und in
zahlreichen Fallen besteht gar keine Abschwachung der willkfirlichen
Kraftentfaltung der einzelnen Muskelgruppen, hingegen ausgesprochene
Anzeichen der ungehemmten reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit
der Muskeln. So bestehen auch in xmseren Fallen, entsprechend der
leichten Schadigung, die ein auch nach der Gegenseite drfickender
Tumor auf die letztere ausubt, nur Zeichen der Storung der inhibi-
torischen Funktion dieser Gegenseite, aber keine der innervatorischen
Funktion. Hingegen — das dfirfen w r ir aus unseren Fallen schliessen
— ist die kompensatorische Funktion der Hilfsursprungsfelder ebenso
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378
XVIII. Fokrster
vulnerabel wie die inhibitorische Funktion der gleichen Rindenpartien.
So konstatieren wir bei Mitschadigung des rechten Parazentrallappens
vollige Aufhebung der Funktion der hier gelegenen Hilfsursprungs-
felder ftir den rechten Fuss, aber keine der hier gelegenen Haupt-
ursprungsfelder des linken Fusses. Besteht aber eine schwerere Lasion
auf beiden Seiten, dann bleibt es nicht bei einem Versagen der Hilfs-
ursprungsfelder, dann versagen auch die Hauptursprungsfelder beider
Seiten und die Folge ist eine Lahmung aller Muskeln des Fusses oder
des Fusses und Unterschenkels, oder aller drei Beinabschnitte, je nach-
dem die Affektion sicb iiber die Fussfoci oder diese und die Unter-
schenkelfoci oder iiber die gauze Beinregion erstreckt. Ein derartiges
Verhalten treffen wir nun in den Fallen von Paraplegia corticalis con¬
genita, bei der Littlescben Krankheit an. Ich gebe in Folgendem
eine tabellarische Ubersicht der Verteilung der Lahmung der willkiir-
lichen Beweglichkeit auf die einzelnen Muskelgruppen, wie ich sie in
15 von mir genau untersuchten Fallen angetroffen habe.
In dieser Tabelle sind zvvei Falle, in denen beide Beine in Fuss.
Knie und Hfifte willkiirlich total unbeweglich sind.
In Fall 3, 4, 5 und 6 ist der Fuss und Unterschenkel total will-
kfirlich gelahmt, der Oberschenkel zeigt schwache Flexion und Ex¬
tension, ist aber ist im iibrigen gelahmt.
In Fall 7 ist der Fusa gelahmt, der Unterschenkel sehr schwacb,
der Oberschenkel schwach bezw. gelahmt.
Fall 9 zeigt Lahmung des Fusses, Schwache des Unterschenkels,
voile Kraft des Oberschenkels nach alien Richtungen.
Fall 10, 11 und 12 zeigen Lahmung nur des Fusses, voile Kraft
des Unter- und Oberschenkels.
Fall 15 zeigt Fuss, Unter- und Oberschenkel vollkraftig. In alien
diesen Fallen besteht streng segmentaler Typus.
In Fall 8 und 13 finden wir ein Verhalten, das an den Pra-
dilektionstypus erinnert; in Fall 8 ist die Streckung des Unter¬
schenkels erhalten, die Beugung gelahmt, die Adduktion des Ober¬
schenkels erhalten, die Abduktion gelahmt; in Fall 13 die Beugung
des Unterschenkels schwach, die Streckung vollkraftig, die Abduktion
des Oberschenkels schwach, die Adduktion vollkraftig, der Fuss zeigt
auffallenderweise ein dem Pradilektionstypus contrares Verhalten: die
Dorsaltlexion des Fusses ist gut, die Plantarflexion gelahmt
Auch Fall 14 bietet den Pradilektionstypus am Fuss und am
Oberschenkel fur die Ab-Adduktion, bezw. Aussen-Innenrotation, am an-
deren Bein besteht allerdings hinsichtlich der Kraft der Rotatoren das
umgekehrte Vellniltnis.
Es ist nach meiner obigen Darlegung klar, dass der segmentale
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Verteilung der L&hmung in 15 Fallen Littlescher Krankheit.
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380
XVIII. Foerster
Typus nur da erwartet werden darf, wo eine nahezu vollige Lahm-
legung der Haupt- und Hilfsursprangsfelder der Pyramidenfasern fur
die Muskeln eiues Gliedabschnittes besteht. Da, wo fur die Muskel-
gruppen eines Gliedabschnittes noch eine ganze Zahl leitungsfahiger
Pyramidenelemente yorhanden sind, wird es zum Pradilektionstypus
kommen, der seinen Grand in letzter Linie in der verscbiedenen An-
sprachsfahigkeit der spinalen Kerne der verschiedenen Muskeln fur
corticogene Impulse hat. Und wenn diese letztere durch besondere
Umstande von der unter gewohnlichen Verhaltnissen vorhandenen ab-
weicht, so kann auch ein umgekehrter Typus als der Pradilektions¬
typus entstehen.
An dieser Stelle mochte ich bemerken, dass Lewandowsky 1904
darauf aufmerksam gemacht hat, dass bei der infantilen Hemiplegie
der segmentale Lahmungstypus vorwiege, ein Verhalten, auf dessen
Vorkommen bei cerebraler Kinderlahmung im allgemeinen ich ja schon
1902 hingewiesen hatte. Er meinte, dass besonders die Innen- und
Aussenrotatoren des Oberschenkels gelahmt seien, doch auch an an-
deren Gliedabschnitten gegenteilig wirkende Muskelgruppen mehr oder
weniger gleichmassig betroffen seien. Merkwurdigerweise fand er gerade
am Fuss ein Verhalten, das mehr dem Pradilektionstypus glich. Mein
Material von 15 Fallen infantiler cerebraler Hemiplegien zeigt folgendes
Verhalten.
In Fall 2, 3, 4, 5, 6, 7, 9, 11, 12, 13 und 14, also bei weitem in
der Mehrzahl, besteht totale Lahmung der willkurlichen Dorsalflexion
und Plantarflexion des Fusses, wahrend die willktlrliche Beweglichkeit
des Unterschenkels und Oberschenkels nicht die geringste Parese zeigt.
In Fall 10 besteht dasselbe Verhalten, nur ist die Beugung und
Streckung des Oberschenkels gleichmassig abgeschwacht. In Fall l
besteht am Fuss Lahmung der Dorsalflexion und Plantarflexion und
eine Lahmung der Aussenrotation des Oberschenkels bei Integntat
der Innenrotation. Ein ausgesprochener Pradilektionstypus besteht
in Fall 8 am Fuss und Unterschenkel bei Integritat des Oberschenkels,
und auch im Fall 15, in dem der Oberschenkel aber auch Pra¬
dilektionstypus fur die Ab-Adduktion erkennen lasst, wahrend die
Aussenrotation kraftig, die Innenrotation gelahmt ist.
Danach ist der bei weitem hiiufigste Typus totale Fuss lah¬
mung, keine Unter- und Oberschenkellahmung. Die von
Lewandowsky in seinen Fallen gefundene Lahmung der Innen- und
Aussenrotation des Oberschenkels konnte ich in keinem meiner Falle
finden; in zwei Fallen bestand Lahmung einer der beiden Muskelgruppen,
also gerade ein difl'erentieller Typus.
Dass aber in meinen Fallen der bei weitem iiberwiegende streng
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Tabelle 2.
Verteilung der L&hmung in 15 F&llen infantiler Hemiplegie.
Cber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden.
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Deutsche Zeitscbr. f. Nervenheilkunde. 37. BJ. 25
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XVIII. Foerster
segmentale Typus der Monoplegia pedis darauf beruht, dass in
diesen Fallen eine cortikale Affektion von typischem zirkumskripten
Sitz und eine Mitschadigung des Hilfsursprungsfeldes far den gelahmten
Fuss in dem homolateralen Parazentrallappen vorliegt, halte ich fQr
recht wahrscheinlich.
Fassen wir nach dieser kleinen Abschweifung unsere bisherigen Er-
gebnisse in Kurze zusammen, so kommen wir zu folgender Auffassung.
In der sogenannten Beinregion sind die Ursprungsfelder der Pyramiden-
bahnfasem flir die einzelnen Gliedabschnitte, Fuss, Unterschenkel, Ober-
schenkel, getrennt von einander gelagert, jedes dieser Ursprungsfelder
fur ein Segment ist in Foci fiir die einzelnen Muskelgruppen und end-
lich diese wieder in Foci flir die einzelnen Muskeln und Teile der-
selben gegliedert. Bei ganzlicher einseitiger Zerstorung der Rinde der
Beinregion oder der von ihr entspringenden Pyramidenbahnfasern ent-
steht Lahmung der willktirlichen Beweglichkeit des gegentiberliegenden
Beins, doch treten die in der Beinregion der gleichen Hemisphere ge-
legenen Hilfsursprungsfelder und die daraus entspringenden ungekreuzten
Hilfspyramidenfasern des gelahmten Beines (Pyramidenvorderstrang-
bahn, homolaterale Pyramidenseitenstrangbahn) kompensatorisch ein und
iibernehmen die Zuleitungvon Willensimpulsen zu den spinalen Kemen
des betroffenen Beins, von denen wenigstens ein Teil die Impulse an
die Muskeln weiter gibt, wodurch der Pradilektionstypus bedingt wird.
Dieser kommt also der cortikalen Beinlahmung an sich ebenso zu wie
der Kapsellahmung.
In der Rinde liegen die Foci fiir den Fuss, Unterschenkel nnd
Oberschenkel so weit getrennt, dass sie isoliert betrotfen werden
konnen, ja die Foci flir die einzelnen Muskelgruppen des Oberschen'
kels (Flexion-Extension, Ab-Adduktion, Aussen-Innenrotation) sind auch
unter sich so getrennt, dass sie isoliert betroffen werden konnen. In
der inneren Kapsel und im weiteren Verlauf der Pvramidenbahn sind
dagegen die Pyramidenbahnfasern fur die Fuss-, Unterschenkel- und
Oberschenkelmuskeln so innig vermengt, dass ein isoliertes Be-
fallensein eines Gliedabschnittes nicht mbglich ist. Also in der raum-
lichen Trennung der Pyramidenbahnelemente fiir die einzelnen Glied¬
abschnitte liegt der Hauptunterschied zwischen cortikaler und kapsularer
Lahmung begriindet. Eine ausgepragte Monoplegia pedis ist nur bei
Rindenherden mbglich.
Die Nachbarschaft der beiden Beinregionen bedingt nun aber
weiter, dass ein Herd, weleher seiner Xatur nach auf die Umgebung
driickt, also besonders die Xeubildungen selbst bei einseitigem Sitz
(z. B. links) auch die Gegenseite (rechts) mitschiidigt und in erster
Linie die am leichtesten vulnerable Funktion der hier gelegenen Bein-
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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Himherden.
383
region trifft, d. i. die kompensatorische Funktion der Hilfsursprungs-
felder fur das gleichseitige (rechte) Bein. Dadurch werden alle die
Muskelgruppen vollig gelahmt, deren Hauptfeld zerstort und deren
Hilfsfeld auch gelahmt ist, also z. B. bei einem Uerde im linken Para-
zentrallappen, der den rechten Parazentrallappen mitschadigt, die Dorsal-
flexoren und Plantarflexoren des rechten Fusses, wahrend fiir die Muskel¬
gruppen, deren Hilfsfelder nicht betroffen sind, die Mogliohkeit der
Kompensation weiter besteht. Besteht doppelseitige totale Zerstorung
der Fussfoci, so besteht auch totale Lahmung der Dorsal- und Plantar-
flexion beider Fusse bei voller Kraft der willkurlichen Beweglichkeit
der Unterschenkel und Oberschenkel (haufiger Typus bei L'ittlescher
Krankheit); sind beiderseits die Foci fiir Fuss und Unterschenkel zerstort,
so besteht totale Lahmung der willkurlichen Beweglichkeit dieser beiden
Beinabschnitte bei Integritat des Oberschenkels. An diesen letzteren
konnen die einzelnen Muskelpaare auch wieder isoliert gelahmt sein,
wenn symmetrische Herde die Foci fur das betreffende Paar beider¬
seits vemichten. Sind beide Beinregionen ganz zerstort, so besteht
vollge willkfirliche Lahmung beider Beine.
Liegt dagegen eine Kapselhemiplegie vor, so kann es zur Lahmung
eines einzelnen der sonst durch das kompensierende Eintreten der
Hilfsfelder der Gegenseite relativ intakt bleibenden Muskeln nur da¬
durch kommen, dass auch eben dieses Hilfsfeld durch einen entspre-
chenden Rindenberd ausgeschaltet ist. Innerhalb der Pyramidenbahn
selbst kann die Hilfsbahn fiir eine einzelne Muskgruppe nicht betroffen
werden, wohl aber wird bei einer Zerstorung der Hauptbahn fiir ein
Bein durch einen Herd im Seitenstrang des Ruckenmarks auch noch
die gesamte Hilfsbahn dieses Beines mit ausgeschaltet, wenn auch die
gleiche Pyramidenvorderstrangbahn vernichtet ist. Die spinale Hemi-
plegie zeigt daher nur den Pradilektionstypus, wenn die Vorderstrang-
bahn intakt ist; ist auch sie zerstort, so besteht vollige Lahmung aller
Beinmuskeln dieser Seite.
Mit dieser Auffassung von der Gliederung der motorischen Rinde
nach Gliedabschnitten, einer weiteren Gliederung dieser Foci in Foci fiir
die einzelnen Muskelgruppen und einzelne Muskeln, ja Teile derselben
und mit der hier vertretenen Anschauung von der Bedeutung der Hilfs¬
felder und Hilfsbahnen wollen wir nun an die Betrachtung unserer die
Armregion betreffenden Falle herautreten. Wir wollen zunachst das Ver-
haltender cortikalen Armlahmung in dem oben bereits mitgeteilten Falle
6 ins Auge fassen. Und zwar wollen wir zuerst die voll entwickelte
Armlahmung, wie sie sich in den letzten 4 Monaten vor dem Exitus
gezeigt hat und wie sie aus der totalen Zerstorung der rechten Arm-
region folgte, in Betracht ziehen. Soweit die Verteilung der Lahmung
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384
XVIII. Foerster
der willkurlichen Erregbarkeifc der einzelnen Muskelgruppen in Frage
koinmt, so entspricht der Befund im wesentlichen dem Durchschnitts-
bilde der Armlahmung bei eiaer voll entwickelten Kapselhemiplegie,
zeigt also den Pradilektionstypus. Aufgehoben ist die willkfirliche
Beweglichkeit der Schulter nach alien Richtungen, die Vor- nnd Rflck-
wartsbewegung des Oberarms sowie dessen Aussenrotation, die Streckung
des Vorderarms, die willkQrlicbe Strecknng und Supination der Hand,
die willkurliche Streckung der Finger sowie die Streckung, Abduktion
und Oppositon des Daumens; erhalten ist dagegen, wenn auch nur in
abgeschwachtem Malle, die Abduktion, Adduktion und Innenrotation
des Humerus, die Flexion des Vorderarms, die Beugung und Pronation
der Hand, die Flexion der Finger und des Daumens sowie dessen Ad¬
duktion. Diese Verteilung weicht zwar etwas von dem von Mann
beschriebenen Verhalten der Armlahmung ab, deckt sich aber mit dem
Typus, den ich in der Mehrzahl meiner Hemiplegiker angetroffen habe.
Bezuglich der anderen Komponente der Koordinationsstorung des
Armes, d. h. der gesteigerten reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit
der Muskeln, besteht dasselbe typische Verhalten, wie es bei jeder hemi-
plegischen Armlahmung angetroffen wird; das gilt von den Kontrak-
turen, den Sehnen- und Periostreflexen und von den typischen un-
willkOrlichen Mitbewegungen, die sich an die verschiedenen willkttr-
lichen Bewegungen der einzelnen Armabscbnitte anschliessen und
welche den Verlust der isolierten Bewegungen dieser Abschnitte bedingen.
Die Sensibilitat war in diesem Falle anfangs gar nicht betroffen, dann
entstand cortikale Tastlahmung im Verein mit Storungen des Lokali-
sationsvermogens ohne Storungen der Qbrigen Sensibilitat, doch stellen
sich im weiteren Verlauf Storungen der Bewegungsempfindung und
der Druckempfindung ein, die beachtenswerterweise erheblich ausge-
pragter im Schultergelenk sind als in den Fingern. Zuletzt kommt auch
noch eine betrachtliche Herabsetzung der Beruhrungsempfindung dazu,
wahrend Schmerz- und Temperaturempfindung ganz ungestort blieben.
Das Interessante dieses Falles liegt also erstens darin, dass er
zeigt, dass ebenso, wie die Zerstorung einer Beinregion die typische
Beinlahmung nach sich zieht, so auch die Zerstorung der ganzen
Armregion die typische hemiplegische Armlahmung im Gefolge hat.
Noch bemerkenswerter ist aber die Art der Entwicklung dieser
Armlahmung. Ebe ich aber darauf naher eingehe, wollen wir zuvor
noch das Verhalten der cortikalen Armlahmung in Fall 2 ins Auge
fassen, weil wir es auch hier mit einer voll entwickelten, seit Jahren
stationiiren Armlahmung zu tun haben. Die cortikale Natur der Lahmung
ist zwar nicht durch die Autopsie belegt, doch sprechender Beginn des
Leidens mit Jacksonschen Anfallen im rechten Arm, die allmahlich
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Uber den Lahmungstypua bei cortikalen Hirnherden.
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darans sich entwickelnde Monoplegia brachialis, die lange Zeit ohne
Beinlahmung bestand, endlioh die vorhandene Tastlahmung der rechten
Hand und ihre Vergesellschaftung mit erheblichen Storungen des Lo-
kalisationsvermogens bei sonst intakter Sensibilitat gentigend fBr den
cortikalen Sitz des Prozesses. Was nun zunacbst die Lahmung der
willktlrlichen Beweglichkeit der Schulter, des Oberarms, des Vorder¬
arms und der Hand im Sinne der Pro- und Supination anlangt, so ist
bier im wesentlichen wieder das Durchscbnittsbild der Armlahmung
bei kapsularer Hemiplegie gewahrt. Es ist gelahmt bezw. stark pare-
tisch Erhebung und Adduktion der Schulter, Vor- und Ruckwarts-
bewegung, Aussenrotation des Oberarms, Extension des Vorderarms,
Supination der Hand, dagegen ist weniger betroffen die Senkung und
Abduktion der Schulter, die Abduktion, Adduktion und Innenrotation
des Oberarms, die Flexion des Vorderarms und die Pronation der Hand.
Diese Verteilung toeicht zwar wieder ebenso wie im vorangehenden
Falle etwas von dem von Mann beschriebenen Verhalten ab, deckt
sich aber vollkommen mit demjenigen Typus, welchen ich bei der
Mehrzahl meiner Hemiplegiker angetroffen habe. Auch bezOglich
der Kontrakturen und der unwillkiirlichen Mitbewegungen, die die
einzelnen Muskelgruppen im Anschluss an bestimmte willkftrlich
intendierte Bewegungen der einzelnen Armabschnitte ausfQhren,
ist der Fall absolut typiscb. Dagegen weicht der Fall vollig von
dem Durchschnittsbilde, wie ich es bei meinen Hemiplegikern ange¬
troffen habe, darin ab, dass die Finger und der Daumen total
gelahmt sind. Dass dieselben nicht extendiert werden konnen, ware
nichts Abweichendes, dass sie aber keine Spur willktirlich flek-
tiert werden konnen, ist jedenfalls atypisch; dabei besteht spastische
Kontraktur der langeu Beuger der Finger und des Daumens und des
Adductor pollicis. Letzteres erwahne ich nur, weil es ein Gegen-
beweis gegen die Mannsche Behauptung ist, dass kontrakturierte
Muskeln stets einen gewissen Grad willklirlicher Erregbarkeit be-
wahrt hatten.
Die totale Labmung der willkiirlichen Handstreckung ware typisch
fdr die hemiplegische Armlahmung, atypisch ist aber, dass auch die
Handbeugung total gelahmt ist; dabei sind auch die Handbeuger wieder
spastisch kontrakturiert, ja bieten deutlichen Handklonus.
Die vollige Lahmung auch der Fingerbeuger, Daumenbeuger und
Adduktoren und der Handbeuger mochte ich dadurch erklaren, dass,
wie die im linken Arm bestehenden Jacksonschen Anfalle dartun,
auch in der Nahe der rechten Armregion ein Herd sitzt, und dass
dieser eine Schadigung der hier gelegenen Hilfsursprungsfelder fur
die rechten Finger und die rechte Hand bewirkt.
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386
XVIII. FoEKSTEK
Ich komme nunmehr auf den Fall 6, den wir zuerst ins Auge
gefasst batten. zurGck. Hochst beachtenswert ist in diesein Falle die
Ausbreitung der Lahmung auf die einzelnen Armabscbnitte im Ver-
laufe der Entwicklung der Armlahmung. Nachdem anfangs eine iso-
lierte Monoplegia cruralis bestanden batte, stellte sich zunachst eine
isolierte Lahmung der willkurlichen Beweglicbkeit der Schulter ein,
und zwar annahernd nach alien Richtungen gleichmassig. Diese iso¬
lierte Schulterlahmung ist
darum so beachtenswert,
weil der Focus fUr die
Schulter nach den experi-
raentellen Ergebnissen der
elektrischen Reizung der
vorderen Zentralwindung
sich an die Beinregion an-
schliesst und die oberste
Stelle der Armregion ein-
nimmt. Dabei zeigen die
Schultermuskeln das cha-
rakteristische Verhalten der
zentralen Koordinationssto-
rung, d. h. sie haben nur ihre
corticogene willk&rliche Er-
regbarkeit eingebusst Fig.
2 a zeigt die mangelnde
willkurliche Erhebung der
Fig. 2a.
Cortikale Schulterlahmung iu Fall G.
Fig. 2a zeigt die mangelnde willkurliche Er¬
hebung der linken Schulter, es erfolgt eine
starke Mitbewegung der rechten Schulter in
gleichem Sinne.
linken Schulter, dagegen
besteht ihre reflektorisch-
subcortikale Erregbarkeit
fort, ja ist erbeblich gestei-
gert, daher die spastische
Kontraktur der Schulter¬
muskeln, daher die unwillkiirliche Erhebung der Schulter beim will-
kiirlichen Erheben des Arms (Fig. 2 b), die unwillkiirliche Adduktion
der Schulter beim willktirlichen Fuhren des Arms nach hinten innen,
die unwillkGrliche Vorwartsbewegung der Schulter beim willknr-
lichen Fuhren des Arms nach vorn innen. Hingegen zeigen die
Muskeln aller anderen Abschnitte des Arms weder eine Beeintrach-
tigung ihrer willkurlichen Erregbarkeit, noch eine Steigerung ihrer
reflektorischen Erregbarkeit. Selbst die einzelnen Fingerbeweguugen,
die Opposition des Daumens usw. gelingen ungestort, es kann ein
Finger isoliert, z. B. der Zeigefinger, Hektiert oder extendiert werden
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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 387
usw.; es besteht nicht die geringste Stoning der feineren Fingerver-
richtungen, des Kndpfens usw. Erst zwei Monate spater kommt eine
Labmung der willkiirlichen Bewegungen des Oberarms dazu — ent-
sprechend der raumlichen Anreihung des Oberarmfocus an den Schulter-
focus— und zwar vom Charakter des Pradilektionstypus: starke Parese
der Vorwarts- und Ruckwiirtsbeweger und der Aussenrotatoren, nur
geringe Schwache der Abduktoren, Adduktoren und Innenrotatoren;
Fig. 2 b.
Cortikale Schulterlahraung in Fall 6.
Fig. 2b zeigt die gute unwillkurliche Erhebung der linken Schulter bei
der willkiirlichen Erhebung des linken Arms.
neben der paretischen Komponente bestehen spastische Kontrakturen
und Hitbewegungsphanomene der Oberarmmuskeln; die Bewegungen
des Vorderarms, der Hand und der Finger zeigen noch nicht die ge¬
ringste Parese, die Opposition des Daumens ist noch ungestort, es
kann noch ein Finger einzeln gebeugt und gestreckt werden. Im wei-
teren Verlaufe ergreift nun die Entwicklung der Lahmung nicht mehr
der Reihe nach die Foci fur den Vorderarm, die Hand, die Finger
und den Daumen, sonderu diese werden zusammen befallen und zwar
in einer Weise, die im wesentlichen den Pradilektionstypus zeigt:
Extension und Supination der Hand, Extension der Finger sind ge-
lahmt, wahrend Flexion und Pronation der Hand und die Flexion der
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XVIII. Foerstek
Finger kraftig bleiben. Der Daumen zeigt znnachst einen isolierten
Ausfall der Funktion des Abductor pollicis brevis, indem bei der
Opposition, die bis zum 5. Finger gelingt, das erste Metacarpale nicht
genii gend flektiert und rotiert wird.
Diese Funktion des Abductor brevis leidet bei alien Pyramiden-
bahnerkrankungen von den Muskeln des Daumens zu allererst, sowohl
bei kapsularer Armlahmung als auch bei cortikaler Daumenlahmung,
ja seine Lahmung ist bei langsam entwickelten Hemiplegien oft gerade
die allererste und einzige Parese an der oberen Extremitat; umge-
kehrt bleibt sie bei weitgebender Restitution der willkurlichen Be-
weglichkeit des Arms nach anfanglicher Hemiplegic oft das einzige
Residuum der Paresen. In weiterem Verlaufe nimmt in Fall 6 die
Daumenlabmung den Typus, den wir bei jeder schwereren Armlah¬
mung finden, an, es ist nur die Flexion der beiden Phalangen und in ge-
ringem MaBe die Adduktion des 1. Metacarpale m&glicb.
Dass es auch in ubriger Beziehung in diesem Fall allmahlich zur
voll entwickelten Armlahmung kommt, ist ja schon vorweg besprochen
worden, und dass diese den Pradilektionstypus bis zum Tode be-
wahrt hat.
Das Wesentlichste des eben mitgeteilten Falles scheint mir in dem
Bestehen einer isolierten cortikalen Schulterlahmung und spater
einer Schulteroberarmlahmung ohne Paresen der anderen Arm-
segmente zu liegen.
Eine isolierte cortikale Schulterlahmung treffen wir nun auch in
dem bereits mitgeteilten Fall 5. Hier schloss sich dieselbe auch
wieder an die gliedweise zur Entwicklung gekommene Beinlahmung
an. Sie zeigt dasselbe typische Verhalten wie in Fall 6; anfangs Auf-
hebung, spater Herabsetzung der corticogenen willkiirlichen Erregbar-
keit der Schultermuskeln bei erhaltener, ja gesteigerter reflektorisch-
subcortikaler Erregbarkeit derselben, die sich in der spastischen Kon-
traktion und den unwillkurlichen Mitbewegungen der Schulter in An¬
schluss an wiUkiirliche Armbewegungen zu erkennen gibk Die Schulter¬
lahmung bleibt die ganze Zeit der Beobachtung (V 2 Jahr) isoliert*
Diese beiden Beobachtungen einer ganz isolierten Schulterlahmung
bezw. einer isolierten Schulteroberarmlahmung zeigen, dass die Ansicht
Monakows und Bonhoeffers, dass bei cortikalen Herden in der
Armregion stets die Hand am meisten leide, nicht fur alle Falle zu-
trifft, dass vielmehr bei zirkumskripten Lasionen der Rinde isolierte
Lahmung auch der proximalen Armabschnitte vorkommi Die Aus-
fallssymptome gehen also den Ergebnissen der Rindenreizung kon-
form und bestatigen die Munkschen Ergebnisse an AfFen auch ffir
den Menscben.
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fiber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 389
Fall 7. Cortikale Monoplegia digitoram sinistra. 1 )
H. J., 71 Jahre alt, klagt seit einiger Zeit fiber Schwindel und Kopf-
schmerzen geringeren Grades, sonst iramer gesund. Seit 1. V. 1906 abends
plOtzlich heftige Kopfschmerzen and bald danach fortw&hrende Zuckungen
in der linken Gesichtshfilfte, welche fast die ganze Nacht andauerten. Am
2. V. Aufnahme ins Hospital.
Status am 2. V. Fortw&hrende klonische Zuckungen in der linken
Gesichtshfilfte, die linke Stirn wird gekraust, das Auge zugekniffen, der
Mundwinkel nach links und oben verzogen. Manchmal hOren die Zuckungen
auf einige Minuten auf, und cs lfisst sich dann eine deutliche Facialis-
lfihmung auf der linken Seite feststellen: die linke Stirn kann gar nicht
gekraust werden, das linke Auge kann nicht ganz geschlossen werden,
beim Zeigen der Zfihne wird die linke Oberlippe nicht gehoben und die
Unterlippe nicht herabgezogen.
Linksseitige Hypoglossuslfihmung. Zunge weicht stark nach links ab.
Die Finger der linken Hand sind in alien 3 Gelenken etwas gebeugt, die
willkfirliche Strcckung derselben gelingt nur mfihsam und nicht voll-
kommen, die willkfirliche Beugung der Finger ist ganz unmOglich. Passive
Beweglichkeit der Finger zeigt keine Erschwerung. Der Daumen hftngt
mit dem 1. Metacarpale herab und steht dasselbe fast ganz unter deni
2. Metacarpale. Die Grundphalange steht in gerader Verlfingerung des
1. Metacarpale, die Endphalange etwas gebeugt Die willkfirliche Beweg¬
lichkeit des Daumens ist vollkommen erloschen.
Die passive und aktive Beweglichkeit der linken Hand, des linken
Vorderarms, Oberarms und der Schulter sind ganz ohne StOrung. Der
Tricepsreflex und der Radiusperiostreflex sind nicht gesteigert. Am Rurapf
und am Bein keinerlei StOrungen. Patellar- und Achillesreflex beiderseits
gleich stark, kein Babinski, kein Oppenheim. Gang ohne jede StOrung.
Blase und Mastdarm o. B. Augenhintergrund, Augenbewegungen o. B.
Die Sensibilitfit ist im Gesicht, am Rumpf und an den Beinen und
der rechten oberen Extremitfit ganz normal. An der linken oberen Ex-
tremitfit ist die Berfihrungsempfindung, die Schmerz-, die Warm- und
Kaltempfindung ganz ungestOrt, der Drucksinn ebenfalls ganz ungestOrt,
die Bewegungsempfindungen sind am Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger
genau so gut wie rechts, ungestOrt; am Gold- und Kleinfinger werden zwar
die feinsten Bewegungsexkursionen empfunden, aber nicht immer richtig
gedeutet. Es besteht vollkommene Tastlfihmung der linken Hand. Das
LokalisationsvermOgen ist schwer gestOrt, an der Vola digitorum ist der
Lokalisationsfehler so betrfichtlich, dass er fast nie den richtigen Finger
angibt oder mehrere Zentimeter von der berQhrten Stelle entfernt die
Berfihrung lokalisiert; am Dorsum digitorum besteht dasselbe gestOrte
Verhalten. An der Vola manus betrfigt der mittlere Lokalisationsfehler
1,7 cm, am Dorsum manus 3 cm.
Status am 3. V. Zuckungen im Gesicht geriuger, linke Facialis-
und Hypoglossuslfihmung besteht ebenso wie am Tage zuvor. Totale
Lahmung der Fingerstrecker und Fingerbeuger, ebenso totale Lfihmung des
1) Der Fall ist von mir auf der inneren Abteilung des Allerheiligenhospi-
tals (Prof. Buchwald) beobachtet wordeu.
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XVIII. Foerstek
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Daumens. Hand, Vorderarm und Oberarm in ihrer aktiven und passiven
Beweglichkeit gar nicht beeintrachtigt. Bein ganz frei.
Tastlahmung der linken Hand besteht fort Bewegungsempfindungen
an alien Fingern der linken Hand heute geschadigt; sonst SensibilitUt
genau wie am Tage vorher.
Im tibrigen Status idem.
Status am 4. V. Zuckungen im Gesicht haben aufgehdrt; linksseitige
Facialislahmung und Hypoglossuslahmung bestehen fort. Finger und Daumen
der linken Hand total gelahmt, leichte spastiscbe Kontraktur der langen
Fingerbeuger. Hand, Vorderarm und Oberarm, ebenso linkes Bein ganz
frei. Sensibilitat wie am Tage zuvor.
Status am 12. V. Linker Facialis dauernd gelahmt und zwar kann
die linke Stirnhalfte nur wenig gekraust werden. Das linke Auge stelit
weiter often als das rechte, es kann nicht vollkommen geschlossen werden,
Nasolabialfalte ganz verstrichen, linke Oberlippe bleibt beim Zahnezeigen,
beim Offnen des Mundes, beim Sprechen vollkommen zurttck, ebenso die
Unterlippe; beim Aufblasen des Mundes entweicht die Luft aus dem linken
Mundwinkel. Elektrische Erregbarkeit des linken Facialis vollkommen
normal, beim Lachen agiert die linke Gesichtshalfte genau so gut wie die
rechte. Zunge weicht beim Vorstrecken ganz nach links ab. Die Finger
der linken Hand sind in alien 3 Gelenken leicht gebeugt, es besteht deut-
liche spastische Kontraktur der langen Fingerbeuger, willkQrlich besteht
totale Lahmung der Finger sowohl fttr Beugung und Streckung, als far
Ab- und Adduktion. Auch bei kraftiger Beugung Oder Streckung der
Finger der rechten Hand kommt es zu keiner Mitbewegung der Finger
linkerseits. Der Daumen steht mit dem 1. Metacarpale ganz adduziert
und stark flektiert, also unter dem 2. Metacarpale; beide Phalangen sind
leicht flektiert, es besteht leichte spastische Kontraktur der Adduktoren
des Daumens und des Flexor p. longus. WillkQrlich ist der Daumen
total gelahmt. Reflex bei Beklopfen der Sehnen der langen Fingerbeuger
erhOht. Die linke Hand ist aktiv und passiv nach alien Richtungen voll¬
kommen frei beweglich, nur besteht bei Widerstandsbewegungen eine leichte
Abschwachung der Beugung und Streckung sowie der Ab- und Adduktion.
Vorderarm, Oberarm und Schulter zeigen weder bei passiver Bewegung
irgend eine Beschrankung Oder irgend einen spastischen Muskelwiderstand,
aktiv werden samtliche Bewegungen uneingeschrankt und mit voller Kraft
ausgeftthrt, samtliche Bewegungen kOnnen ganz isoliert ausgeftthrt werden.
Linkes Bein ganz oline Storung (kein Babinski, kein Oppenheim usw.).
An den Fingern der linken Hand ist das Geftthl fttr passive Be¬
wegungen stark geschadigt, das LokalisationsvermQgen ist ebenfalls sehr
geschadigt (siehe oben) und es besteht vdllige Tastlahmung; BerQhrungs-
empfimlung, Schmerz-, Warm-, Kaltempfindung, Drucksinn, Knochen-
sensibilitat (GefOhl fur die Vibrationen der Stimmgabel) sind ganz ungestort.
Der Befund bleibt von nun an bei haufiger mehrmonatlicher Kontrolle
ganz genau der gleiche. Speziell die totale Lahmung der Finger und des
Daumens besteht fort, die Hand zeigt nur leichte Schwache bei Wider-
standsbeweguniten, Vorderarm usw. sind ganz intakt.
Ende September zunehmende Herzschwaehe, starke Anfalle von Angina
pectoris. Exitus letalis. Bei der Autopsie findet sich im Bereiche der
Zentralwindungen rechterseits ein runder, mehr als MarkstQck grosser
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Ober den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 391
oberflachliclier Erweichungsherd, welcher sowohl die vordere als die hintere
Windung einnimmt und an der Grenze zwischen mittlerem and unterem
Drittel gelegen ist; er geht nach binten mit mehreren unregelm&ssig ge-
formten Aasl&ufern auf das untere Scheitell&ppchen Qber. Auch nach unten
zu gehen einige Auslaufer in das untere Drittel der Zentralwindung Ober.
Das Wesentliche dieses Falles liegt erstens in dem Vorhandensein
einer isolierten totalen Lahmung der Finger und des Daumens
der linken Hand, die anfangs ganz isoliert far sich besteht; zuletzt
kommt noch eine ganz leichte Parese der willkttrlichen Handstrecknng
und Handbeugung dazu, wahrend die Bewegungen des Vorderarms,
Oberarms und der Schulter nicht die geringste Stoning zeigen. Nicht
einmal Erscheinungen gesteigerter reflektorisch-subcortikaler Erregbar-
keit der Vorderarm- und Oberarmmuskeln sind vorhanden. Diese to-
tale Lahmung der Finger hat ihre Ursache in einer Erweichung des-
jenigen Gebietes der Zentralwindungen, welches den Focus der Finger
darstellt; gleichzeitig greift der Herd auf das facio-linguale Gebiet
ober, daher isolierte klonische Krampfe im Facialis uud Lahmung des
linken Facialis und Hypoglossus. Zweitens ist nun der Fall bemerkens-
wert dadurch, dass die Lahmung der Finger nicht den Pradilektionstypus
zeigt, sondern dass die Fingerbeugung ebenso gelahmt ist wie die Finger-
streckung, wahrend fur gewohnlich die Zerstorung der rechtsseitigen Arm-
region die willkiirliche Fingerbewegung nicht vernichtet, da das Hilfsur-
sprungsfeld fttr die linken Finger in der linken Armregion kompensierend
eintritt und die Fingerbeager an dieser Kompensation partizipieren.
In unserem Falle handelt es sich aber urn einen 71 jahrigen Mann
mit diffuser Arteriosklerose des Zentralnervensystems. Ich mochte das
Ausbleiben des Eintritts der linksseitigen Hilfsursprungsfelder far die
linke Hand durch eine leichte, auf dem Boden der dififusen Arterio¬
sklerose erwachsene Schadigung auch der linken Armregion erklaren,
die eben nur die feinste Funktion dieser Armregion, d. h. die Funktion
der hier gelegenen Hilfsfelder ftir den linken Arm schadigt. Ebenso ware
die seltene Lahmung auch des Augen- und Stirnfacialis in diesem Falle zu
deuten. Dass ubrigens in diesem Falle zu Anfang die Fingerbeuger total
gelahmt waren, hingegen die Fingerstrecker noch etwas agierten, kann
meines Erachtens nur so gedeutet werden, dass anfangs nur der Focus der
Beuger, welcher den dem Sulcus centralis zugelegenen Teil der vorderen
Zentralwindung einnimmt, total zerstort, hingegen der vor diesem ge-
legene Focus der Fingerstrecker noch funktionsfahig geblieben war.
Der Fall bietet aber noch in einem dritten Punkt Interesse. Es
bestand neben der vollkommenen Lahmung der willktirlichen Beweg-
lichkeit der Finger und des Daumens deutliche spastische Muskel-
kontraktur der langen Beuger der Finger und des Daumens; in diesem
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XVIII. Foerster
Punkt gleicbt der Fall dem Verhalten der Finger in Fall 2 und be-
weist ebenso wie dieser, dass die Bebauptung Manns und Lewan-
dowskys, spastische Kontraktur einer Muskelgruppe sei immer ge-
kntipft an einen geringen Rest erhaltener willknrlicher Erregbarkeit, in
dieser Fassung nicbt richtig ist. Auch zu keiner unwillkurlichen Mitbe-
wegung der Fingerbeuger im Anschluss an eine willkurliche Beugung der
recbten Finger oder an willkfirliche Bewegungen des linken Arms oder der
linken Hand kam es, was icb besonders mit Bezng auf Lewandowskys
erweiterte Fassung der Mannschen Behauptung hervorheben mochte.
Die Sensibilitatsstorungen zeigen dasselbe Verhalten wie fast alle
bisber hier mitgeteilten Falle mit Sensibilitatsstorungen; anfangs besteht
Tastlahmung vergeseilschaftet mit schwerer Storung des Lokalisations-
vermogens ohne andere Storungen der Sensibilitat, spater kommen Sto-
rungen der Bewegungsempfindungdazu,wahrendBertthrungs-, Schmerz-,
Temperatur- und Druckempfindung dauernd ganz intakt bleiben.
Fall 8. Rindentuberkel, Jacksonsche Epilepsic des rechten
Arms. Rechtsseitige cortikale Interosseusparese. Trepanation.
Heilung. *)
M. Kl., 11 Jahre alt. Grossmutter litt an Spondylitis tuberculosa.
Eltern gesund, sie selbst hatte frtther Diphtherie. Vor 1 l j 2 Jahren knoten-
artige Anschwellungen unter der Haut des ganzen KOrpers, dieselben ver-
loren sich nach einiger Zeit wieder, blieben aber am recbten Arm dauernd
bestehen. Mitte Oktober 1908 Krftmpfe im rechten Arm bei ungestOrtem
Bewusstsein, dieselben danerten 1 */ 2 Stunden. Solche Krampfanfalle sind
bis jetzt 5 aufgetreten, der letzte dauerte 2 Stunden. Sie komint deshalb
am 6. XI. ins Hospital. Hier folgender Status: Blasses Madchen, Puls
und Temperatur normal. Innere Organe o. B. Am rechten Unterarm fQhlt
man an der Dorsalseite mehrfache erbsengrosse Verdickungen im Unter-
hautzellgewebe, die sich massig gegen die Unterlage verschieben und auf
Druck etwas empfindlich sind (Basinsche Knoten). Hirnnerven o. B., nur
Geruchsvermbgen links etwas herabgesetzt Am Augenhintergrund beider-
seits etwas geschlangclte Venen. Klopfempfindlichkeit des linken Os
frontale. Druckemptindlichkeit des linken N. infraorbitalis. An beiden
Armen lebhafte Sehnen- und Pcriostretlexe. Keinerlei Parese der Muskeln
der rechten oberen Extremitat, nur fallt auf, dass der rechte Klein-
finger in der Ruhe ganz abduziert steht und nur unvollkommen
und sclnvach adduziert werden kann (Fig. 3a). Keine StOrungen der
elektrischen Erregbarkeit des Interosseus interims III, keine Kontrakturen,
keine pathologischen Mitbewegungsphanomene der Finger, keine Sensi-
bilitatsstbrungen am rechten Ann, keine Tastlahmung. Bauchdeekenreflexe
normal. Untere Extremitat im wesentlichen o. B., nur besteht rechts
wechsolnder Fussklonus und manclunal andeutungsweise Babinskischer
GrosszelienrcHex. Blase und Mastdarm o. B. Am 12. XI. mittags 2 Stun-
1) Per Fall ist von inir auf der chirurgischeu Abteilungdes Allerheiligen-
hospitals (Prof. Tietze) beobachtet worden.
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Uber den Lahmungstypus bei cortikaleu Hirnherden.
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den langer Anfall von Krftmpfen im rechten Arm. Bewusstsein erhalten,
aber doch eingenommen. Nach dem Anfall besteht vorflbergehend reckts-
seitige Facialisparese und Apraxie der Gesichtsmuskeln; der Mund kann
nicht gespitzt werden, ein Licht kann nicht ausgeblasen werden usw.
c)
Fig. 3.
Cortikale Lahmung der Interossei in Fall 8 (Rindentuberkel).
Fig. 3 a zeigt die Lahmung des Interosseus adductorius digiti V vor der
Operation.
Fig. 3 b und c zeigen die totale Lahmung aller Interossei nach Excision
des Tuberkels und eines kleinen Rindenstuckchens an der Grenze der vorderen
Zentralwindung und der 2. Stirnwindung.
Zunge o. B. Starke Klopfempfindlichkeit der linken Stirnbeinhalfte. Am
rechten Arm ist das Akstehen des Kleiniingers stark ausgesprochen, leichte
Krallenstellung aller Finger. Sonst Status idem. Seit dem Anfall ist das
Allgemeinbefinden schleckt.
Diagnose: Herdformige Affektion in der Nachbarschaft des mittlereu
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XVIII. Fof.rster
Drittels der linksseitigen Zentralwindung. Es ist wahrscheinlich, dass
die Affektion nicht im Bereich der hinteren Zentralwindung gelegen ist,
sondern etwas vor der vorderen sich befindet, da einerseits sensible Aus-
fallserscheinungen nicht vorhanden sind, andererseits sich motorische nur
andeutungsweise in einer Schwache des Interosseus adductorius des rechten
Kleinfingers bieten. Das deutet auf einen unmittelbar vor dem mittleren
Drittel der vorderen Zentralwindung gelegenen Herd.
Am 17. XI. 1908 Trepanation (Professor Tietze). Es finden sich da,
wo der untere Fuss der 2. Stirnwindung in die vordere Zentralwindung
Qbergeht, auf der Pia sitzend drei kleine Tuberkel. Dieselben werden mit
der Pia entfernt und ein kleines Stuck darunter befindlicher Rinde wird
exstirpiert. Knochendeckel wird entfernt. Naht. Nach der Operation
vortibergehend Parasthesien im rechten Arm. Es besteht dauernd aus-
gesprochene Krallenstellung der Finger der rechten Hand, die Grund-
phalange ist Oberstreckt, die Mittel- und Endphalange kOnnen nicht voll-
kommen gestreckt werden (Fig. 3 b u. c).
Dieser Fall ist von grosstem Interesse, weil er uns das Vorhanden-
sein einer ganz isolierten cortikalen Lahmung der Interossei der rechten
Hand vor Augen fiihrt. Wir wissen, dass in der vorderen Zentral¬
windung die Foci fur die einzelnen Gliedabschnitte von oben nach
unten aneinander gereiht sind, und dass die fur die einzelnen Finger
auch von oben nach unten einander folgen, in der Weise, dass der
Kleinfinger am obersten, der Daumen am weitesten unten lokalisiert
ist. Ferner ist der Focus fiir die Streckung eines Fingers vom am
Sulcus praecentralis, der Focus fiir die Beugung hinten am Sulcus
centralis gelegen. Aus unserer Beobachtung kann man schliessen, dass
der Focus fur die Streckung der 2. und 3. Phalange, welche durch
die Interossei besorgt wird, ganz vorne, noch vor dem Focus fur die
Streckung der Grundphalange (Extensor digit, longus) gelegen ist, in¬
dent nach der Exstirpation eines bestimmten Rindenstuckchens, das an
der Grenze der vorderen Zentralwindung und der 2. Stirnwindung ge¬
legen ist, eine absolut typische Interosseusliihmung aufgetreten ist.
Diese Stelle war vor der Exstirpation durch die auf ihr sitzenden
kleinen Tuberkel nur ganz leicht geschadigt und das ftlhrte nur zu
eioer Andeutung von Interosseusparese. Interessanterweise ausserte
sich nun dieser leichte initiale Grad von cortikaler Interosseusparese
genau in derselben Weise, wie sich die beginnende Interosseuslahmung
spinalen oder peripheren Ursprungs aussert, namlich durch eine
Schwiiche des Interosseus internus III, bei der wir auf keine weitere
Anomalie stosseu, als dass in der Ruhe der Kleinfinger abduziert steht
und nicht ordentlich adduziert werden kann; erst im weiteren Verlauf
konimt es dann zu einer mangelhaften Streckung der Mittel- und End-
phalange des Klein- und Goldfingers, bis zuletzt das voile Bild der
Krallenstellung alter 4 Finger entwickelt ist.
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L'ber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden.
395
Es ware interessant, wenn auch durch lokale Reizung der Hirnrinde,
die allerdings raumlich and graduell sebr fein abgemessen sein mfisste,
eine isolierte Reizung der Interossei erzielt werden konnte. Bisher gelang
es meines Erachtens imtner nur, Streckung eines einzelnen Fingers in
alien 3 Gelenken hervorzurufen, also traf der Reiz gleichzeitig das Feld
der Interossei und den unmittelbar dabinter gelegenen Focus des Ex¬
tensor longus. Vielleicht ist aber noch weitere Differenzierung moglich.
Pall 9. Lues. Jacksonsche Epilepsie des linkeu Arms. Cortikale
Liihmung der Interossei links, spiiter auch der Handstrecker
und der langen Fingerstrecker. 1 )
Fr. B., 43 Jahre alt. Luetisch infiziert. Danach mehrere Hg-Kuren. Seit
Jahren keine Kur mehr. Juli 1907 starkes TaubheitsgefQhl im 5. und 4.
Finger der linkcn Hand, dasselbe breitete sich bald Ober die ganze Hand aus
und ging auf den ganzen linken Arm und die linke Brusthiilfte liber. Es trat
dieses TaubheitsgefUhl anfallsweise auf, meist mehrere Male am Tage.
Nach einiger Zeit bemerkte sie, dass der linke Kleinfinger und Ring-
finger krumm wurden und dass ersterer abstand und dem Ringfinger nicht,
mehr genahert werden konnte. Der Kassenarzt verordnete Jodkali sowie
Einreibungen und Elektrisieren, jedoch ohneErfolg; so ging es bis zum 16. X.
16. X. 1907 war ihr gegen Abend Obel, in der Nacht vom 16./17.
heftiger Jacksonscher Krampfanfall im linken Arm ohne Bewusstseins-
verlust; der Anfall griff bald auch auf die linke Gesichtshiilftc liber, der
Mund verzerrte sich nach links, das linke Auge wurde zugekniffen, auch
das linke Bein wurde mit ergriffen. Der Anfall wiederholte sich in der-
selben Nacht 6 mal, stets im linken Arm beginnend und allmahlich Gesicht
und Bein mit ergreifend. Am 26. X. wieder ein Anfall, bei dem aber nur
Arm und Gesicht krampften. Schmierkur eingeleitet. Am 2. XI. wieder
starke Anfalle, ebenso am 6. XI. und am 13. XI.; an diesem Tage hOrten
die Anfalle eigentlich gar nicht auf. Dann noch am 19. XI. mehrere Anfalle.
Wahend dieser Zeit bot nun die Kranke folgenden Status. Nach der
Aufnahme ins Krankenhaus am 17. X. stellte ich fest starke Klopf- und
Druckempfindlickeit des rechten Os parietale vom, starke Druckempfind-
lichkeit des rechten Supra- und Infraorbitalis. Heftige Kopfschmerzen,
narnentlich in der rechten Schadelhalfte. Augenhintergrund normal, Pupillen
reagieren, Facialis und Zunge ohne Stbrung. An der linken oberen Ex-
tremitat steht der Kleinfinger vom Goldfinger und dieser vom Mittelfinger
abduziert und kdnnen beide nicht adduziert werden. Der Kleinfinger be-
findet sich in deutlicher Krallenstellung, die Grundphalange ist Oberstreckt,
die Mittel- und Endphalange sind gebeugt. Am Goldfinger ist die Krallen¬
stellung angedeutet, an den ubrigen Fingern besteht sie nicht (Fig. 4«a).
Die Mittel- und Endphalangcu des Kleinfingers und Goldtingers konnen
nicht vollkommen extendiert werden, bei dem Yersuche dazu nimmt die
Krallenstellung noch deutlich zu. Die Streckung der Grundphalangen ist
nicht eine Spur abgesehwaeht. Die Beugung der Finger ist nicht ein-
1) Der Fall wurde von mir anfangs auf der inneren Abteilung des Allerheiligen
hospitals (Prof. Stern), spiiter ambulant in meiner Sprechstunde beobachtet.
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XVIII. Foerstek
geschr&nkt, nur ist die Kraft der Beugung der Grundphalange des Klein-
fingers deutlich abgeschwacht. Es kann jeder Finger einzeln gebeugt und
einzeln gestreckt werden. Am Daumen sind keine Stdrungen. Hand nach
alien Richtungen aktiv und passiv voll frei beweglich. ebenso Vorderarm,
Oberarm und Schulter. Gesteigerter Triceps- und Radiusperiostreflex
linkerseits.
Keine Sensibilit&tsstdrungen an dcr linken Hand, keinc Tastlahmung.
Rumpf, untere Extremitat, Blase und Mastdarm o. B.
Status am 27. X. 1907. Es befinden sich samtliche Finger in deut-
licber Krallenstellung, die Grundphalangen iiberstreckt, die Mittel- und
Endpbalangen gebeugt. Alle Fin¬
ger sind etwas gespreizt, am
meisten der Kleinfinger; die
Streckung der Grundphalangen
gelingt mit voller Kraft, die
der Mittel- und Endpbalangen
gelingt nickt Die Adduktion der
Finger gelingt auch nicht, wohl
aber die Spreizung unter gleich-
zeitiger Uberstreckung der
a) b)
Fig. 4.
Cortikale Lahmung der Interossei und der Handstrecker in Fall 9
(Lues cerebri, Jacksonsche Epilepsie).
Fig. 4 a zeigt die initiale Lahmung der Interossei des 5. und 4. Fingers.
Fig. 4 b zeigt die Lahmung der Handstrecker.
Grundphalangen. Beugung der Finger gelingt im vollem Umfang, doch
ist die Kraft der Beugung der Grundphalangen herabgesetzt. Leichter
spastischer Widerstand der langen Fingerflexoren. Isolierte Beugung eines
Fingers nicht mehr moglich, es geraten die anderen Finger immer etwas
in Mitbeugung. Ebenso isolierte Streckung eines Fingers unmoglich. Sonst
Status idem.
In den folgenden Wochen weitere Verschlechtcrung.
Status am 10. XI. Krallenstellung und Interosseusl&hmung der Finger
besteht fort, Streckung der Grundphalangen uneingeschrftnkt. Spastischer
Widerstand der langen Fingerbeuger grosser als frtiher, Unf&higkeit einen
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Uber den Liihmungstypus bei cortikalen Hirnherden.
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Finger isoliert zu beugen oder zu strecken. Bengung aller Finger un-
eingeschrftnkt. Totale willktlrliche Lahmung der Handstrecker, die Hand
hangt vollkommen am Vorderarm herab, kann willkiirlich keine Spur auf-
gerichtet werden. Bei dem Versuch dazu erfolgt starke Flexion des
Vorderarms (Fig. 4 b). Beim Faustschluss begibt sich die Hand unwillkGr-
lick in ausgiebige Streckung. Spastischer Widerstand der Handbeuger,
Clonus derselben. Daumen zeigt keine wesentliche Einschrankung seiner
Beweglichkeit, kann aber nicht mehr isoliert bewegt werden, stets beugen
oder strecken sich die anderen Finger alle mit.
Vorderarm und Oberarm ganz ohne Stbrung, ebenso Sensibilitat
ungestdrt.
Status am 20. XI. Es besteht jetzt eine starke Parese der langen
Fingerstrecker, so dass jetzt alle 3 Phalangen nicht mehr ordentlich
extendiert werden konnen. Die Finger sind stark in die Hohlhand ein-
geschlagen, spastischer Widerstand der langen Flexoren erheblich, willkOr-
liche Beugung aller Finger kraftig, isolierte Beugung eines Fingers ohne
Mitbengung der anderen unmoglich. Die Beweglicheit des Daumens ist
auffallend gut nach alien Richtuugen. Der Daumen kann bis zum Klein-
tinger opponiert werden, nur gelingt die Raddrehung und Flexion des
1. Metacarpale nicht so gut mehr wie frtther (Parese des Abductor pollicis
brevis) und die Abduktion des 1. Metacarpale ist schwacher (Parese des
Extensor pollicis brevis).
Lahmung der willkQrlichen Handstreckung, unwillkOrliche Hand-
streckung beim Faustschluss erhalten. Spasmus der Handbeuger, Hand-
beugung gelingt mit leidlicher Kraft. Aktive Supination und Pronation
nicht beschrankt, leichter Spasmus der Pronatoren. Sonst Status idem.
Da die Lahmung immer weiter griff und auch die Jack son sclien Anfalle
trotz der Schmierkur (18 Einreibungen) immer weiter dauerten, riet ich am
20. XI. zur intramuskularen Calomelapplikation. Es wurden injiziert zuerst
0.03, nach 3 Tagen 0,04, dann alle 3—4 Tage 0,05 Calomel, im ganzen
14 Injektionen. Die Krampfanfiille haben sich seit dem 20. XI., also seit
Beginn der Calomelkur, nicht mehr wiederholt, ebenso erfolgte bald rascher
Rtickgang der Bewegungsstorung der Hand und der Finger. Nach 14 Tagen
besteht nur noch eine leichte Interosseusparese, der Kleinfinger steht noch
stark ab. Nach weiteren 3 Wochen ist auch diese Storung ganz gewichen.
Nur die Sehnenretlexe der obercn Extremitat sind noch lebhaft. Kopf-
schmerzen haben ganz aufgchort.
Im Sommer 1908 erneute Attache von Kopfschmerzen, hiiufige Zuckungen
in den Streckmuskeln der Finger des linken Arms. Der Kleinfinger steht
wieder ab und ist in Mittel- und Endphalange gekrtimmt. Erneute
Calomelkur: alle 3—4 Tage 0,05 Calomel, in Summa 16 Spritzen, Summa
0,8 Calomel. Vollkommener Rtickgang aller Erscheinungen. Patientin
befindet sich seitdem dauernd gut. Dezember 1908 und Januar 1909
werden prophylaktisch 0,5 Calomel in 10 Spritzen a 0,05 injiziert.
In dem vorangehenden Falle handelt es sich offenbar um eine
luetische Rindenaffektion im Bereich der rechten Armregion, daher
die Jacksonschen Anfalle im linken Arm. Das Bemerkenswerte der
Ausfallssymptome liegt nur darin, dass auch hier wieder zunachst
eine isolierte, absolut typische Lahmung der Interossei be-
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkuude. 37. Bd. 26
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XVIII. Foerster
stand nnd zwar betraf dieselbe zuerst nur den Kleinfinger und Gold-
finger (Fig. 4 a).
Andere Erscbeinungen der Erkrankung der Armregion bestanden
absolut nicht, keinerlei andere Paresen, insbesondere auch keine spastischen
Kontrakturen der Fingerbeuger, keine Mitbewegungsphanomene; es
kann der Zeigefinger, der Daumen isoliert gebeugt nnd gestreckt werden.
Nur die Sehnen- und Periostreflexe des Arms sind gesteigert. Im
weiteren ergreift die Interosseuslahmung alle Finger, sonst besteben
weiter keine Paresen, aber es stellen sich Zeichen gesteigerter reflek-
torisch-subcortikaler Erregbarkeit der ubrigen Fingermuskeln ein (spa-
stische Kontraktur der langen Beuger, Mitbeugung bezw. Mitstreckung
aller Finger bei willktirlich intendierter Beugung bezw. Streckung
eines Fingers allein). Die weitere Ausbreitung der Lahmung zeigt
nun das hochst Charakteristiscbe, dass sicb eine totale Lahmung
der willkiirlichen Handstreckung einstellt (Fig. 4b), wahrend
die langen Fingerstrecker und die Daumenmuskeln noch
vollkraftig agieren. Dabei zeigt die Hand, die willkurlich nicht
eine Spur gestreckt werden kann, das ffir die aus der Pyramidenbahn-
erkrankung entspringende Koordinationsstorung absolut typiscbe Yer-
balten, dass sie sich infolge der erhaltenen, ja gesteigerten reflekto-
risch-subkortikalen Erregbarkeit der Handstrecker unwillkiirlich recbt
gut mitstreckt, sobald die Finger willkiirlich gebeugt werden, ja dass
diese Mitstreckung vom Kranken nicht unterdruckt werden kann. In
dritter Instanz kommt dann eine Lahmung der langen Finger¬
strecker dazu, so dass die Finger jetzt gar nicht mehr gestreckt
werden konnen, wahrend ihre Beugung uneingeschrankt bleibt. Auch
am Daumen entwickelt sich eine Parese des Abductor pollicis brevis
sowie eine Parese des Extensor pollicis brevis, wahrend der Extensor
longus vollkraftig bleibt, ebenso wie der Adduktor, Flexor brevis und
Flexor longus. Hierzu kommen auch noch Storungen, welche aus der
ungehemmten subcortikalen reflektorischen Erregbarkeit der Finger-
und Handmuskeln entspringen (Clonus der Handbeuger), Kontraktur
der Pronatoren, Mitbewegungsphanomene). Dartiber hinaus hat sich
aber die Bewegungsstorung nicht ausgedehut.
Fall 10. Traumatisehe Rindenepilepsie des rechten Arms.
Monoplegia bracliialis.
Th. Fr., gel). 1880, 22 Jalire alt. Mit 8 .Tahren heftiger Schlag gegen
die linke Selilate. worauf sie 5 Stunden lung Kriimpfe der rechten KOrper-
liiilfte liatte und mehrere Tage ganz zu Bett lag. Sie konnte 4 Wochen
lang die Sebule nicht besuchen. Dann war sie aber gesund, nur blieben
in den nach>teu Jahren der rechte Arm und das rechte Bein in ihrem
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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherdeu.
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Dickenamfang etwas gegen die linke KOrperhalfte zurfick, sie waren zwar
nach alien Richtungen in vollem Umfange frei beweglicb, nur zeigten sie
sich immer eine Spur schw&cher als die linksseitigen Extremit&ten. Beim
Gange zeigten sich keine Storungen des rechten Beins und anch die rechte
Hand konnte bei dem Handwerke, das sie ausfibte — sie ist Posamentier-
arbeiterin — von der Eranken, wie diese ausdrttcklich angibt, immer genau
ebenso geschickt gebraucht werden wie die linke. Nur ermfidete der rechte
Arm manchmal eher. Im September 1901 bemerkte nun die Eranke, dass
der rechte Eleinfinger von den Qbrigen Fingern abstand und sich krfimmte.
Im Laufe der nficbsten Monate wurde die ganze Hand ungeschickt, auck
die anderen Finger krfimmten sich, und Januar 1902 musste die Eranke
ihre Arbeit ganz aufgeben. Auch spfirte sie in den Fingern der rechten
Hand bisweilen ein deutliches Zucken, und es kam wiederholt zu tonisch-
klonischen Erampfen des ganzen rechten Arms, die aber nur von kurzer
Dauer waren.
Status im Janur 1902. Geringe Elopfempfindlichkeit fiber der linken
vorderen Schadelhalfte, etwa an der Grenze zwischen Os frontale und
parietale. Pupillen o. B. Augenhintergrund o. B. Rechtsseitige Facialis-
parese im Bereich der Ober- und Unterlippe, rechtsseitige Hypoglossus-
parese.' Eeine SprachstOrung.
Obere Extremitat: In der Rube stehen die 2. und 3. Phalange der
Finger in Beugung, wfihrend die Gruudphalangen gestreckt sind, die Finger
stehen deutlich gespreizt, am meisten ist der Eleinfinger abduziert.
Die Mittel- und Endphalange konnen willkfirlich nicht vOllig extendiert
werden, bei der Anstrengung, die die Eranke dazu macht, werden die
Grundphalangen Qberstreckt, wahrend die Mittel- und Endphalange in nock
starkere Beugung geraten, die Finger nehmen also typische Erallen-
stellung an. Die Adduktion der gespreizt stehenden Finger gelingt nicht,
nur bei Flexion aller Finger in alien drei Gelenken rttcken sie ganz an
einander. Die Spreizung gelingt gut, aber es erfolgt dabei Uberstreckung
der Grundphalangen. Die Grundphalangen werden willkfirlich in vollem
Umfange extendiert, sogar hyperextendiert, dabei aber immer gespreizt.
Die Flexion der Finger geschieht auch in vollem Umfang und mit guter
Eraft, nur ist die Beugung der Grundphalangen, wenn man ihr Widerstand
lcistet, kraftlos (Interosseusliihmung). Die langen Fingerbeuger zeigen
einen leichten Grad von spastischer Eontraktur. Isolierte Flexion oder
Extension eines Fingers ist unmOglich, stets beugen oder strecken sich
sfimtliche Finger. Der Daumen selbst zeigt in der Rube keine weitere
Anomalie, als dass die Endplialauge etwas flektiert steht, sie kann aber
vollkommen extendiert werden; die Beugung der Grund- und Endphalange,
sowie die Extension der Grundphalange zeigen keine Einschrfinkung, ebenso-
wenig die Extension, Abduktion, Adduktion und Flexion des 1. Metacarpale.
Auch die Opposition des Daumens gegen die anderen Finger zeigt keine
StOrung, nur konnen die anderen Finger wegen der Interosseusparese nur
im Mittel- und Endgliede gebeugt mit der Daumenspitze in Berflhrung
gebracht werden. Der Daumen kann auch nicht isoliert bewegt werden;
soil er abduziert oder extendiert werden, so erfolgt stets Streckung und
Spreizung der anderen Finger; soil er adduziert, flektiert oder opponiert
werden, so erfolgt stets eine leichte Flexion auch der fibrigen Finger.
Der Flexor pollicis longus zeigt leichte spastische Eontraktur, duller geriit
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bei willkQrlicher Abduktion des Daumens das Endglied leicbt in Flexion,
aber es kann auch vollkommen dabei extendiert werden.
Die Hand zeigt keinerlei Stttrung, sie wird in vollem Umfange ex¬
tendiert and flektiert, bei der Extension geraten die Finger in starke
Flexion and diese Mitbewegung kann nicht ausgeschaltet werden, um-
gekehrt ger&t bei jedem Faustschluss, den die Kranke ausftthrt die Hand
in Extension, aber diese kann willkttrlich sehr gut unterdrttckt werden.
Supination und Pronation der Hand zeigen keine Bcschr&nkung, weder bei
passiver noch bei aktiver Bewegung.
Vorderarm wird in vollem Umfange und mit guter Kraft gebeugt und
gestreckt, keine Kontraktur der Beuger Oder Strecker, keine Mitbewegungen
der Hand oder des Oberarms bei willkttrlichen Bewegungen des Vorderarms.
Oberarm ebenfalls nach keiner Richtung in seiner passiven oder
aktiven Beweglicbkeit eingeschrfinkt. Keine Kontraktur der ihn bewegen-
den Muskeln. Keine charakteristischen Mitbewegungen des Vorderarms
oder der Hand bei willkttrlichen Bewegungen desselb^n.
Schnlter aktiv und passiv nach alien Ricbtungen vollkommen frei und
isoliert beweglich.
Der Beugesehnenreflex am rechten Arm, ebenso der Triceps brachii-
reflex und der Radiusperiostreflex sind rechts gesteigert.
Der Umfang des rechten Oberarms betrftgt 21 ’/ 2 cm gegen 23 1 ! 2 cm
links, der Umfang des rechten Unterarms 18 , / 2 cm gegen 20 cm links.
Die elektrische Erregbarkeit der Muskeln des rechten Arms ist
nirgends, auch nicht im Gebiete der Interossei, qualitativ oder quantitativ
verttndert.
Rumpf o. B. Abdominalreflex beiderseits gleich. An der rechten
unteren Extremitttt besteht Andeutung von Fussklonus, etwas spastischer
Widerstand der Kniestrecker. Gesteigerter Achilles- und Patellarreflex
rechts. Kein Babinskischer Zehenreflex. Die willkttrliche Beweglichkeit
ist nach keiner Richtung hin eingeschrankt, nur besteht bei alien Wider-
standsbewegungen eine leichte diffuse Schwache des ganzen rechten Beins.
Der Umfang des rechten Oberschenkels betrttgt 38 cm, ebenso wie links,
der Umfang der rechten Wade 31 cm gegen 32 cm links.
An der linken Kbrperhalfte sind keinerlei Storungen zu eruieren.
Blasen- und Mastdarmstorungen bestehen nicht. Die Sensibilit&t zeigt
eine ganz leichte Differenz fttr alle Qualitatcn zu ungunsten der rechten
Kbrperhalfte sowohl im Gesicht, als am Rumpf und an den Extremitaten.
Keine Tastlahmung der rechten Hand.
Im weiteren Verlauf kehren vereinzelte Jacksonsche Anfalle im
rechten Arm wieder. Ferner breitet sich die Lahmung, die also bisher
sicli ausschliesslich auf das Gebiet der Mm. interossei der rechten Hand
beschrankte, allmahlich weiter aus, und zwar wird zunachst die Hand-
streckung von derselbeu ergriffen.
Im Juni 1002 besteht im ttbrigen genau derselbe Status wie im
.Tanuar, ausserdem aber liangt die Hand am Vorderarm total herab und
kann willkiirlich fast gar nicht extendiert werden, es erfolgt nur die bei
alien Lahmnngen der Handstrecker charaktcristische Flexion des Vorder-
arms. Die Handbeuger zeigen deutlieh spastische Kontraktur, willkQrliche
llandbeugung ist nicht abgeschwiickt. Beim willkttrlichen Faustschluss
extendiert sich die Hand unwillkttrlich recht gut mit. Diese Mitbewegung
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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden.
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kann nicht mehr wie frQher unterdrOckt werden. Hervorzuheben ist, dass
die langen Fingerstrecker und die langen Fingerbeuger sowie die Maskeln
des Daumens noch gar keine Parese zeigen.
August 1902 beginnende Schw&che der langen Fingerstrecker, die
Grundphalangen werden nicht mehr Qberstreckt, die Spreizung der Finger
ist eingeschrankt. Lange Fingerflexoren noch vollkraftig. Handbeugung
leicht paretisch. WillkQrliche Pro- und Supination uneingeschrankt, leichter
spastischer Widerstand der Pronatoren. Am Daumen besteht Parese des
Abductor pollicis brevis, am demselben wird bei der Opposition das 1. Meta-
carpale nicht mehr genQgend flektiert und um seine Langsachse gedreht,
so dass die Vola pollicis nicht ordentlich der Vola digiti gegenObersteht,
sondern nur den radialen Rand berGhrt. Dabei ist der Flexor pollicis
brevis noch ganz intakt, so dass die Spitze des Daumens noch mit der
Spitze des Kleinfingers ohne Mflhe in BerOhrung gebracht wird. Ferner
besteht eine starke Einschrankung der Abduktion des 1. Metacarpale (Parese
des Extensor pollicis brevis), auch die Streckung der Grundphalange ist
schwach (Extensor pollicis brevis), dagegen ist die Extension des 1. Meta¬
carpale und die Streckung der Endphalange noch sehr gut (Extensor
pollicis longus).
Auch die Adduktion des 1. Metacarpale (Adductor pollicis brevis) und
die Flexion der beiden Phalangen (Flexor pollicis longus) ist nicht ein¬
geschrankt.
November 1902. Zur vollkommenen Lahmung der Interossei und
der Handstrecker ist eine fast vollkommene Lahmung der langen Finger¬
strecker getreten. In der Ruhe hangen an der unterstfltzten Hand die
Finger im Metacarpophalangealgelenk total herunter, bei forciertem Streck-
versuch extendiert sich die Grundphalange des Kleinfingers und Goldfingers
noch leidlich, die des Mittel- und Zeigefingers gar nicht. Lange Finger¬
beuger noch gut wirksam, wenn auch gegen links in ihrer Kraft herab-
gesetzt. WillkOrliche Handbeugung etwas paretisch. WillkOrliche Pro
und Supination nicht beschrankt. Spastischer Widerstand der Pronatoren.
Der Daumen zeigt jetzt auch deutliche Parese der Extension des
1. Metacarpale und der letzten Phalange (Extensor pollicis longus), wahrend
die Adduktion des 1. Metacarpale sowie die Flexion der Phalangen noch
gut gelingcn. Auch die Funktion des Flexor brevis zeigt noch keine
wesentliche Einschrankung, indem die Daumenspitze noch mit der Klein-
fingerspitze gut in BerOhrung gebracht werden kann. Die Lahmung des
Abductor pollicis brevis ist eine totale.
April 1908. Interossei und lange Fingerstrecker total gelabmt, Finger
sind ganz eingcsohlagen, lange Fingerflexoren wirken gut, wenn auch gegen
links in ihrer Kraft vermindert. Kontraktur der langen Fingerbeuger,
Handstreckung willkQrlich unmoglich, beim Faustschluss gut ausgefOhrt.
Handbeugung sehr abgeschwacht. Pro- und Supination auch abgeschwacht,
Kontraktur der Pronatoren. Beim Beugen des Vorderarms erfolgt starke
Pronation der Hand als Mitbewegung, ebenso beim Erheben des Oberarms.
Vorderarmbeugung und -streckung etwas paretisch, leichte Kontraktur
der Beuger sowie tier Strecker, bei der Erhebung des Oberarms nach der
Seite erfolgt unwillkOrliche Flexion des Vorderarms (neben Pronation der
Hand) und beim Adduzieren des Oberarms unwillkOrliche Streckung des
Vorderarms. Beide Mitbewegungen konnen nicht unterdrOckt werden. Im
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Oberarm besteht leichte Kontraktur der Adduktoren, Vor- und ROckwfirts-
beweper und Innenrotatoren, auch die aktive Beweglichkeit ist beschr&nkt,
indem der rechte Arm gerade nach vorn nicht ganz so hoch erhoben wird
als der linkc, auch die Erhebung nach der Seite ist etwas besckrftnkt;
dabei unwillkOrliche Flexion des Vorderarms und Pronation der Hand
sowie Erhebung der Schulter. WillkOrliche Adduktion ist recht kr&ftig,
dabei unwillkOrliche Streckung des Vorderarms. ROckw&rtsbewegung des
Arms nicht beschr&nkt, dabei aber unwillkOrliche Flexion des Vorderarms
und Pronation der Hand. WillkOrliche Innenrotation und Aussenrotation
des Oberarms etwas abgeschwacht, aber in vollem Umfange mOglich.
Die rechte Schulter steht eine Spur tiefer als die linke. Sie kann
willkOrlich ebenso hoch erhoben werden als die linke, aber nicht allein,
es erfolgt dabei immer eine Mithebung der linken Schulter sowie eine
Abduktion des rechten Oberarms.
Der Tricepsreflex, der Beugesehnenreflex, der Radiusperiostreflex der
rechten Seite sind lebhaft gesteigert. An der unteren ExtremitOt besteht
derselbe Befund wie zu Anfang. Das Gleiche gilt von der Sensibilitats-
stOrung der rechten KOrperh&lfte. Es besteht nach wie vor keine Tast-
l&hmung an der rechten Hand.
Die Jacks on schen Anfalle im rechten Arm sowie die Kopfschmerzen
Ober dem linken Stirn-Scheitelbein bestehen fort.
Bis August 1903 hat sich der Zustand nicht weiter ver&ndert.
Seitdem habe ich die Kranke nicht wieder gesehen. Auf wiederholte Auf-
forderungen, sich vorzustellen, hat sie nicht mehr geantwortet.
Auch in diesem Falle, in dem wir eine posttr&umatische Rinden-
aflektion annehmen mussen, die im wesentlichen die H&ndregion er-
greift, besteht zunachst eine isolierte Lahmung der Interossei der
rechten Hand, daneben Zeichen ungehemmter reflektorisch-subcorti-
kaler Erregbarkeit der Finger- and Daumenmuskeln (Kontraktur, Mit-
bewegungen.) Auf die Lahmung der Interossei folgt wieder zunachst
eine Lahmung der Handstrecker (wie in Fall 9), die Hand kann
willkilrlich nicht eine Spur extendiert werden bei erhaltener, ja unge¬
hemmter reflektorisch-subkortikaler Erregbarkeit der Extensores carpi
(unwillkOrliche Mitstreckung der Hand bei willkOrlicher Fingerbeugung).
Erst viel spater beginnt auch in die9em Falle wieder eine Parese
der langen Fingerstrecker und zwar zuerst des Zeige-undMittel-
tingers, spater auch des Gold- und Kleinfingers; zuletzt vollkommene
Lahmung der langen Fingerstrecker, wahrend die langen Fingerbeuger
recht kriiftig bleiben. Am Daumen stellt sich auch hier wieder zu¬
erst Lahmung des Abductor pollicis brevis und des Extensor pollicis
brevis ein, wahrend der Extensor pollicis longus lange intakt bleibt
und nur gegen Ende eine Parese erkennen lasst; Flexor pollicis longus,
Adductor pollicis und Flexor pollicis brevis zeigen bis zuletzt keine
Einschriinkung.
Auf die geringl'iigigen Stdrungen von seiten des Beins (gesteigerte
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Uber den Lahraungstypus bei cortikalen Hirnherden.
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Reflexe, Fussklonus) sowie die leichte Herabsetzung der Sensibilitat
for alle Qualitaten an der rechten Korperhalfte soil hier nur hinge-
wiesen werden.
Auf die weitere Ausbreitung der Bewegungsstorung auf die
Muskeln der Hand, des Vorderarms, Oberarms und der Schulter will
ich hier nicht naher eingehen, da sie keine Besonderheiten bietet, son-
dern im wesentlichen der allerdings nicht voll entwickelten Arm¬
lahmung entspricht; die Paresen sind nur geringe, aber die Zeichen
der ungehemmten reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit der Muskeln
(Kontrakturen, unwillkurliche Mitbewegungen) sind voll entwickelt.
Fall 9 und 10 zeigen eine grosse Ahnlichkeit in der Entwick-
lung der Lahmung, in beiden Fallen besteht zunachst ausschliesslich
eine cortikale Interosseuslahmung, an diese schliesst sich eine corti-
kale Lahmung der Handstrecker und an diese erst die Lahmung auch
der langen Fingerstrecker an, wahrend die langen Fingerbeuger keine
Schwache erkennen lassen. Am Daumen beginnt die Lahmung in
beiden Fallen mit einer Lahmung des Abductor pollicis brevis, dann
folgt der Extensor pollicis brevis, wahrend der Extensor pollicis longus
in Fall 9 dauernd, in Fall 10 eine Weile frei bleibt. Adductor pollicis,
Flexor pollicis brevis und Flexor pollicis longus bleiben in beiden
Fallen frei von der Lahmung. Letzteres sowie das Freibleiben der
langen Fingerflexoren entspricht dem Prtidilektionstypus der cerebralen
Armlahmung, auch das frtihe Ergriffensein des Abductor pollicis brevis
entspricht diesem Typus, aber da9 Ergriffensein des Extensor pollicis
brevis bei Integritat des Extensor pollicis longus spricht ftir eine
cortikale Lasion, indem der Focus des einen Muskels ergriffen ist, der
des anderen lange Zeit verschont bleibt; eine derartige Differenzierung
habe ich wenigstens bei Kapselhemiplegie noch nicht angetroffen.
Vollends ist die isolierte Lahmung der Interossei bei intakter Kraft
des Extensor digitor. longus, also die typische Krallenstellung der
Finger nur bei cortikaler Lasion moglich, die den Focus der Interossei
zerstort, den des Extensor longus intakt lasst Die Lahmung der Hand¬
strecker bei erhaltener oder kaum verminderter Kraft der Handbeuger ent¬
spricht auch dem Verhalten der Kapselhemiplegie; was aber den beiden
Fallen ein besonderes Geprage gibt und nur durch die spezielle corti¬
kale Lasion erklarlich ist, das ist die Tatsacbe, dass die Lahmung der
Handstrecker sich an die Lahmung der Interossei anschliesst, wahrend
die langen Fingerstrecker noch intakt bleiben. Diese Differenzie-
rung kommt bei kapsularer Armlahmung nie vor. Sie kann nur so
erklart werden, dass der Focus fur die Interossei und der Focus ftir
die Handstrecker ganz vorne an der vordereu Zentralwindung sich
befinden, wahrend der Focus fur die langen Fingerstrecker hinter dem
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fttr die Interossei zu denken ist. Wenn ein Herd von vorne her die
vordere Zentralwindung trifft, so kann der Focus flir die Intesossei
und der fur die Fxtensores carpi zunachst betroffen werden, und erst
bei einiger Ausdehnung des Herdes nach hinten wird auch der Focus
fQr den Extensor longus mit einbezogen.
In dieser Beziebung ist der folgende Fall hochst lebrreicb, der
anch wieder eine Lahmung der Interossei und der Handstrecker zeigt,
wabrend die langen Fingerstrecker ganz frei geblieben sind.
Fall 11. Rindenepilepsie, Monoplegia brachialis sinistra.
F. L., 30 Jahre alt. Als Kind mit einem Jahr Stnrz von der Treppe,
danach angeblich GehirnentzQndang. Seit dem Alter von 12 Jahren epi-
leptische Krhmpfe, mit 19 Jahren erhebliche Verschlimmerung der Anfalle,
mehrere Anfalle an einem Tage. Da eine ganz leichte Parese der linken
KOrperhalfte bestand, wurde 4. VII. 1900 die Gegend der rechten Zentral¬
windung durch Trepanation (Geh.-R. v. Mikulicz) freigelegt, milchige
Trflbung und Odematose Schwellung der Pia an dieser Stelle gefunden;
einige schwartige Teile der Pia wurden abgeldst und entfernt. Nach der
Operation zunachst totale Hemiplegia sinistra, welche aber rasch zurOck-
ging. Epileptische Anfalle wesentlich gebessert, noch 4—6 Anfalle im Jahre.
Status im Dezember 1907. Die Pupillen reagieren prompt auf Licht,
sind gleichweit. Augenhintergrund normal, Augenbewegungen ungestdrt.
Es besteht eine deutliche Lahmung des linken Gesichtsnerven im Bereich
der Ober- und Unterlippe, die Zunge weicht eine Spur nach links ab.
Am Gaumensegel bestehen keine Lahmungserscheinungen, ebensowenig am
Kiefer. Haltung und Bewegungen des Kopfes ungestort.
Die linke Schulter steht scheinbar tiefer als die rechte, doch ist dies
nur durch die bestehende Skoliose der Wirbelsaule vorget&uscht, die Stel-
lung der Schulter zur Wirbelsaule selbst ist, beiderseits gleich hoch. Die
Haltung von Oberarm und Vorderarm ist rechts wie links normal, die
linke Hand ist gegen den Vorderarm etwas ulnarwarts geneigt, die Finger
der linken Hand sind in alien 3 Gelenken gebeugt, in die Hohlhand ein-
geschlagen, der Metacarpalknochen des Daumens ist ganz adduziert, die
beiden Phalangen des Daumens sind leicht flektiert. Die passive Beweg-
lichkeit der linken Schulter zeigt keine Einschrankung, dagegen stflsst die
passive Beweglichkeit des linken Oberarms nach alien Richtungen hin auf
einen leicht abnormen Widerstand der Muskeln. Im Ellbogengelenk be¬
steht kein nennenswerter Muskelwiderstand bei passiven Bewegungen, wohl
aber stossen passive Bewegungen der Hand auf einen starken Widerstand
der Pronatoren und der Handgelenksbeuger. An den Fingern besteht be-
trachtlicher Widerstand der Beuger, keiner der Strecker, am Daumen ent-
falten die Adduktoren den Hauptwiderstand. Die willkQrlicbe Beweglich¬
keit der linken oberen Extremist ist folgende: Die Schulter wird links
nach alien Richtungen ebensogut wie rechts bewegt und zwar auch for sicli
allein ohne Mitbewegung der anderen Seite und ohne Mitbewegung von
seiten des Anns. Der linke Oberarm wird ebensogut wie der rechte nach
vorn oben, nach der Seite und nach hinten erhoben. Soil der Kranke
den Aim erhoben halten, so ermttdet er dabei elier als rechts. Beim Er-
heben des Anns geht die Hand immer in Pronation, aber es erfolgt keine
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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hiruherden.
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Mitbewegung von seiten der Beuger des Vorderarras. Innen- und Aussen-
rotation sowie Adduktion des Oberarms sind ungestdrt Der linke Vorder-
arm wird vollkraftig gebeugt und gestreckt, ohne dass krankhafte Mit-
bewegungen des Oberarms dabei auftreten. Die Pro- und Supination der
linken Hand ist in vollem Umfange mbglich, beim willkOrlichen Beugen
des linken Vorderarms unwillkOrliche Pronation der linken Hand; die
Streckung der linken Hand ist stark beschrankt, wahrend die Beugung
links fast ebensogut geschieht wie rechts.
Die Fingerbeugung geschieht links und rechts gleich gut, doch kann
L. links keinen Finger und keine Phalange allein beugen, es erfolgt immer
ein vollkommener Faustschluss. Die Streckung der Grundphalangen ist an
alien Fingern links ebensogut wie rechts, die Streckung der Mittel- und
Endphalange ist am 5. und 4. Finger links auch vollkommen mOglich, am
2. und 3. aber sehr beschrankt. Isolierte Streckung eines Fingers un¬
moglich. Spreizung der Finger ist voll mdglich, aber die Annaherung ist
schwach. Am Daumen ist die Abduktion des Mittelhandknochens etwas
mOglich, doch erfolgt dabei starke Mitbeugung der beiden Phalangen, die
Streckung und die Adduktion in Streckung ist sehr beschrankt, die Ad¬
duktion in Beugung ganz gut, die Opposition ganz unmoglich (Lahmung
des Abductor brevis und Flexor pollicis brevis); die Beugung der beiden
Phalangen des Daumens ist gut, die Streckung unmdglich. — Alle feineren
Fingerverrichtungen, wie das Erfassen eines kleinen Gegenstandes mit den
Fingern, das Auf- und ZuknOpfen usw., sind sehr gestOrt; nicht einmal das
Erfassen eines grOsseren Gegenstandes mit alien Fingern (der ganzen Hand)
ist gut mdglich, da die Streckung der Endglieder des 2. und 3. Fingers
mangelhaft ist.
Die Sehnen- und Periostreflexe sind an der linken oberen Extremitat
lebhaft gesteigert. Der Umfang des linken Arms betrhgt in der Mitte des
Oberarms 22 cm gegen rechts, wo derselbe 24 cm ' betragt, der grosst-
messbare Umfang des linken Vorderarms ist 24 cm, der des rechten 25 cm.
Am Rumpf besteht eine starke Skoliose (seitliche VerkrQmmung) der
Wirbelsaule, im Qbrigen gescheben aber die Bewegungen der Wirbelsaule
in vollem Umfange. Auch die Funktion der Bauchmuskeln ist eine beider-
seits gute, ebenso die der Brustmuskeln, speziell bleibt die linke Brust-
halfte bei forcierter Einatmung nicht zurQck. Der Bauchdeckenreflex ist
linkerseits nicht auszulOsen, rechts ist er schwach.
An den unteren Extremitaten besteht linkerseits eine deutliche Steifig-
keit der Plantarflexoren des Fusses, der Strecker des Knies und der Ad-
duktoren des Oberschenkels. Die Sehnenreflexe (Patellar- und Achilles-
reflexe) sind beiderseits lebhaft, links mehr wie rechts, links besteht An-
deutung von Fussklonus. Kein Babinskisches Zehenphanomen. Samtliche
willkOrlichen Bewegungen der linken unteren Extremitat kSnnen in vollem
Umfange und mit voller Kraftentfaltung ausgefOhrt werden, jedes Segment
kann einzeln bewegt werden; beim Gauge wird das linke Bein im Knie
mangelhaft gebeugt, die Fussspitze streift manchmal Ober den Boden.
Stehen ist auf dem linken Bein unmoglich. Der Umfang des linken Beins
ist in der Mitte des Oberschenkels 43 cm, der des rechten 45 cm. Der
Fusssohlenreflex ist beiderseits schwach, qualitativ normal, der Kremaster-
reflex ist beiderseits schwach. Von seiten der Blase und des Mastdarms
bestehen keine krankhaften Stbrungen.
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XVIII. Foerster
Die Sensibilitat ist an der ganzen linken KOrperhfilfte etwas herab-
gesetzt, am wenigsten im Gesicbt and am Rampf, starker an den Ex-
tremit&ten. An diesen betrifft die StOrung vornebmlich die Endglieder,
d. h. Hand and Finger, bzw. den Fuss. Die Sensibilitatsstdrung betrifft
in nur sehr geringem Mafie den Schmerzsinn and die Tempera tar-
empfindung, vorwiegend aber die BerGhrungsempfindung, die Lage- and
Bewegangsempfindung, Emptindang for Drack- and das Lokalisations-
vermOgen. An der linken Hand besteht vollkommene Tastlahmnng.
Von sciten der Sinnesorgane liegen keine in Betracht kommenden
Storungen vor.
Dieser Fall 11, dem eine cortikale, durch operative Ablosung einer
Piaschwarte im Bereiche der Armregion entstandene Lasion zugrunde
liegt, zeigt im wesentlichen nur eine Schadigung der Finger und
der Hand, und zwar sind, wie scbon vorwegnehmend gesagt ist, interes-
santerweise aucb hier wieder nur gelahmt die Interossei und zwar
nur am Zeige- und Mittelfinger und die Handstrecker, wahrend die
langen Fingerstrecker ganz frei von Parese geblieben sind; der corti¬
kale Herd hat also deu Focus far den Extensor dig. longus verscbont,
welcber hinter dem der Interossei gelegen ist. Beachtenswert ist aucb
die Daumenlahmung, indem alle Muskeln desselben bis auf den Ad¬
ductor brevis und Flexor longus fast total gelahmt sind. Es bedeutet,
dass also eine sehr schwere Daumenlahmung, die mit der geringen
Lahmung der Finger, speziell des 4. und 5., scharf kontrastiert und nur
durch den cortikalen Herd, der den Focus far den Daumen ganz zerstort
hat, hingegen den far die anderen Fingermuskeln z. T. intakt gelassen
hat, erklart werden kann. Bei kapsularer Armlahmung sah ich das
nie. Endlich ist auch noch die Handlahmung beachtenswert. Ge¬
lahmt sind die Strecker, dagegen die Beuger intakt, das ware an sich
nichts spezifisch Cortikales, dass aber bei der totalen Lahmung der
Strecker die Supinatoren ganz frei bleiben, ist nur erklarlich aus corti-
kaler Lasion, die den Focus der Strecker zerstort, die anderen Hand-
foci frei gelassen hat
Auch die Muskeln des Vorderams uud des Oberarms und der
Schulter zeigen keinerlei Paresen. Die Symptome der ungehemmten
reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit dei Muskeln sind ausgespro-
chen nur an den Muskeln der Finger und der Hand vorhanden.
Am Bein bestehen leichte Kontrakturen, keine Paresen.
Die Sensibilitat zeigt eine Herabsetzung der Berfihrungsempfin-
dung, der Bewegangsempfindung, der Druckempfindung, des Lokali-
sationsvermogens an der ganzen linken Korperhalfte, Schmerz- und
Temperaturempfindnng sind kaum mit betroffen. An der linken Hand
besteht totale Tastlahmung, doch ist diese durch die bestehenden
Storungen der einfaeheren Empfindungsqualitiiten vollauf erklart
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fiber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnberden. 407
Im Anschluss an die in den Fallen 8, 9, 10, 11 bestehende corti-
kale Interosseusparese mochte ich, hier allerdings nur kursorisch, auf die
relative Haufigkeit derartiger cortikaler Interosseusparesen bei Little-
scher Krankheit, also bei einer Affektion, die im wesentlichen die Bein-
region betrifft, aber doch auch oft die Armregion beteiligt, hinweisen.
Pall 12. Cerebrate Kiuderl&hmung, cortikale Lahmung
des Abductor pollicis brevis. 1 )
A. L., 12 Jahre alt, leidet seit dem 3. Lebensjahre an Krftmpfen und
an einer halbseitigen Schwache des linken Arms und Beins. Krftmpfe in
letzter Zeit sehr gehauft. Aufnahme ins Allerheiligenhospital 21. XI. 1908.
Status praesens. Allgemeiner Ernahrungszustand gut. Pupillen
gleich weit, reagieren prompt. Augenbewegungen normal. Augenhinter-
grund o. B. Parese des linken Lippenfacialis (Stirn- und Augenfacialis
normal). Zunge o. B. Linker Arm 1V 2 cm kftrzer als der rechte, eine
Spur schwacher im Umfang. Stellung der einzelnen Segmente des linken
Arms und der Finger o. B., keine Kontrakturen der Schulter-, Oberarm-
und Vorderarmmuskeln, geringe spastische Kontraktur der Pronatoren und
Flexoren der linken Hand. Keine spastische Kontraktur der Fingerbeuger.
Die Finger lassen sich passiv in alien Gelenken stark hyperextendieren.
Lebhafte Sehnen- und Periostreflexe der linken oberen Extremitat. Die
willkftrliche Beweglichkeit der linken Schulter und des linken Oberarms,
Vorderarms und der Hand ist durchaus nicht beeintrachtigt. Es kQnnen
samtliche Bewegungen in vollem Umfange und mit annahernd der gleichen
Kraft wie rechterseits ausgeffthrt werden, und zwar jede Bewegung jedes
einzelnen Armabschnittes ist ganz isoliert ausffthrbar. Nur bei der Flexion
des Vorderarms kommt es zu einer unwillkftrlichen, nicht zu unterdrftcken-
den geringen Pronation der Hand. Die Finger werden mit voller Kraft
flektiert, aber es kann kein Finger isoliert gebeugt werden, sondern es
kommt immer zu einer leichten Mitbeugung aller anderen Finger und des
Daumens und zu einer nicht zu unterdrttckenden Extension der Hand.
Die Finger werden vollkommen und kraftig extendiert, dabei kommt es zu
einer starken Hyperextension und Spreizung, es kann kein Finger allein
extendiert werden, immer kommt es zu einer leichten Mitextension auch
der anderen Finger und stets zu einer nicht zu unterdrftckenden Flexion
der Hand. Die Adduktion und Spreizung der Finger geschieht auch in
vollem Umfange, aber auch hier bewegen sich stets alle Finger in dem-
selben Sinne. Der Daumen wird im Metacarpo-carpalgelenk vollkommen
kraftig adduziert, abduziert und extendiert, die Beugung beider Phalangen
sowie die Streckung derselben ist weder eingeschrankt noch abgeschwacht.
Die Opposition des Daumens geschieht bis zur Berfthrung der Daumen-
spitze mit dem Kleinfinger, aber es wird dabei das Metacarpale des Daumens
nicht ordentlich flektiert und nicht genftgend um die Langsachse rotiert,
so dass die Spitze des Daumens entweder nur den radialen Rand der
Finger in der Gegend der Mittelpbalange berftbrt, oder es muss, wenn
die Fingerspitzen mit der Daumeuspitze in Berfthrung kommen sollen, der
1) Der Fall ist von mir auf der chirurgischen Abteilung des Allerheiligen-
hospitals (Prof. Tietze) beobachtet worden.
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XVIII. Foehstek
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Finger in beiden Interphalangealgelenken eingebeugt werden. Es bestebt
also ein isolierter Ausfall der Wirkung des Abductor pollicis brevis. Bei
der Opposition stets leichte Mitbeugung aller Finger. Das Kind ist infolge
dessen mit den Fingern der linken Hand bei der Ausffihrung feiner Finger-
verrichtungen sehr behindert, es knOpft scblecht, es fasst feinere Objekte
ungescbickt an usw.
Am Rumpf bestehen keine Stfirungen.
Das linke Bein ist 3 cm kfirzer als das rechte. Es besteht Andeutung
von Babinski links. Patellar- und Achillesreflex lebhaft, kein Fussklonus,
keine Kontrakturen am linken Bein, keine Paresen der cinzelnen Muskel-
gruppen, keine Ataxie des linken Beins; s&mtliche Abschnitte sind einzeln
in vollem Umfange mit voller Kraft beweglich. Beim Gange geht sie etwas
mit Spitzfuss, um die Verkfirzung auszugleichen, das linke Knie jvird am
StQtzbein stark hyperextendiert.
Blase und Mastdarm o. B.
Sensibililtat o. B.
Wegen der schweren und gehfiuften epileptischen Anffille, die typische
Jacksonsche Anfalle darstellen, wird Palliativtrepanation fiber der recbten
Zentralwindung beschlossen.
Dabei wird eine starke schwartige Verdickung der Pia fiber deni
rechten Stirnhin festgestellt, die Zentralwindungen sind im wesentlichen
frei, nur befindet sich eine sehr dicke Scbwarte mit einer cystischen Bil-
dung fiber der vorderen und hinteren Zentralwindung am Knie derselben.
Von einer Entfernung der Piascbwarten wird Abstand genommen. Die
Dura wird vernfiht, der Knochendeckel entfernt, die weichen Schfideldeeken
werden vernaht
Erhebliche Besserung der epileptischen Anfalle. Der objektive Befund
bleibt genau der gleiche.
Das Wesentliche dieses Falles liegt — soweit die paretische Kom-
ponente der bestehenden Koordinationsstorung in Betracht kommt —
in dem Vorhandensein einer isolierten Parese des Abductor pollicis
brevis, die sich darin zu erkennen gibt, dass bei der Opposition des
Daumens, die bis zum Kleinfinger gelingt, das erste Metacarpale nicht
genugend gegen die Mittelband flektiert und um seine Langsachse
rotiert wird; dadurch kommt erstens die Volarflache des Daumens nicht
eigentlich mit der Volarflache der Finger, sondern nur mit dem
radialen Rande derselben in Beruhrung, zweitens geschieht die Be-
rfihrung, wenn der Finger in den Phalangealgelenken gestreckt ist,
nur im Bereich der Mittelphalange und eine Bernhruug der Finger-
spitze ist nur bei Beugung der 2. und 3. Phalange moglich.
Wenn nun auch die Parese des Abductor pollicis brevis die ein-
zige Parese ist, welche im vorliegenden Fall besteht, so ist die Koordi¬
nationsstorung doch keineswegs allein dadurch bedingt, vielmehr be-
steheu noch von seiten der ubrigen Fingermuskeln und der Handmuskeln
bei zwar erhaltener cortikaler Erregbarkeit die Zeichen gesteigerter
reflektorisch-subcortikaler Erregbarkeit, es besteht spastische Kontrak-
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Uber den Lahmuugstypus bei cortikalen Hirnherden.
409
tur geringen Grades der Pronatoren und Flexoren der Hand. Die Hand
fiihrt bei der willktirlichen Flexion des Vorderarms eine unwillknrliche
ununterdrtickbare Pronation, bei der willktirlichen Beugung aller Finger
oder eines einzeinen Fingers, Oder des Daumens, oder bei der Opposition
desselben eine unwillknrliche ununterdrtickbare Extension, bei der will-
kiirlichen Streckung aller Finger oder eines einzeinen Fingers oder des
Daumens, oder bei der Abduktion des Daumens eine unwillktirliche
ununterdrtickbare Flexion aus; die Finger beugen sich alle etwas mit,
sobald einer isoliert gebeugt werden soli, oder der Daumen gebeugt, oppo-
niert oder adduziert wird; sie strecken sich alle mit, sobald einer ge-
streckt werden soil, oder der Daumen gestreckt oder abduziert wird.
Aus beiden Komponenten setzt sich die motorische Storung im
vorliegenden Falle zusammen. Zu beziehen ist die Storung sicher auf
die Schwarte und Cyste fiber der vorderen und hinteren Zentralwin-
dung gerade am Knie derselben, also an einer Stelle, die als Focus
des Daumens bekannt ist. Trotzdem mochte ich darauf aufmerksam
machen, dass die Art der motorischen Storung nichts fBr die corti-
kale Genese Charakteristisches hat. Denn erstens kommt die isolierte
Lahmung des Abductor pollicis brevis auch bei kapsularer Armlahmung
vor, wie schon oben hervorgehoben wurde, und zweitens sind auch die
aus der gesteigerten reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit der Hand
und Fingermuskeln entspringenden Kontrakturen und unwillktlrlichen
ununterdruckbaren Mitbewegungen bei jeder kapsularen Armlahmung
ebenso vorhanden wie bei cortikaler Schadignng der Foci ftir die Hand
und die Finger.
Mir scheint nur, dass bei zirkumskripten Rindenschadigungen in
der Armregion genau dieselbe Kombination der Symptome wie im
vorliegenden Falle recht oft vorkommt, und deshalb wollte ich den
Fall hier mitteilen, indem ich gleichzeitig eine etwas nahere Analyse
der Storung der feineren Fingerbewegungen geben wollte, welche ge¬
rade bei Riudenlasionen so oft hervorgehoben wird. Dass aber diese
Storung weder in den einzeinen Komponenten noch in der Kombina¬
tion dieser Komponenten ftir Rindenlasionen charakteristisch ist, sei
anderen Autoren gegeniiber nochmals hervorgehoben.
tfberblicken wir noch eiumal das, was uns unsere Falle lehren,
im Zusammenhang, so demonstrieren sie ausser der ja langst bekannten
Einteilung der motorischen Rinde in eine Bein- und Armregion usw.
eine weitere Gliederung der motorischen Rinde in Foci fur die Glied-
abschnitte. Diese Gliederung lasst zunachst ein isoliertes Befallensein
der Foci fur einzelne Gliedabschnitte zu: Fall 5 und 6 zeigen das Er-
griffensein des Fuss- und Unterschenkelfocus bei Integritat des Ober-
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410
XVIII. Foebster
schenkelfocus. Viele Falle von Littlerscher Krankheit zeigen das
isolierte Befallensein des Fussfocus oder des Fuss- und Unterschenkel-
focus bei Integritat des Oberschenkelfocus; dasselbe zeigen viele Falle
von infantiler Hemiplegie, in denen zumeist der Fussfocus allein ergiffen
ist. So lehren auch unsere Falle 3, 4 und 5 das isolierte Ergriffensein des
Fussfocus bei Integritat des Unter- und Oberschenkelfocus, was von
v. Monakow als bisber nicbt beobachtet erklart wird (S. 640). Fall 5
und 6 lehren die isolierte Zerstorung des Schulter-, bezw. des Schulter-
Oberarmfocus bei Integritat der Foci for Vorderarm, Hand und Finger,
Fall 7 zeigt die Zerstorung des Focus for Daumen und Finger bei In¬
tegritat der Foci for Hand, Vorderarm, Oberarm und Schulter, Fall 11
endlich zeigt Ergriffensein des Finger-, Daumen- und Handfocus bei
Integritat des Vorder-, Oberarm- und Schulterfocus.
Die Darstellung, die Monakow von der Gliederung der motori-
schen Zone gibt, scheint mir widersprucbsvoll zu sein. Denn auf der einen
Seite erklart er, dass die motorische Vertretung in der Rinde nicht
nach Muskelgruppen oder Gliedabschnitten, sondem nach Bewegungs-
kombinationen geschehe. Andererseits vertritt er die Ansicht, dass
z. B. die Zerstorung des Focus des Daumens gerade die Einzelbewe-
wegungen des Daumens vemichte.
Wenn Monakow die Ansicht vertritt, dass fast jede cortikale
Focalparese, auch wenn sie durch einen begrenzten cortikalen Herd
veranlasst wird, als eine Bewegungsschwache der ganzen Extremitat
und noch offers als kombinierte Monoplegie debutiere, so ist diese
Ansicht wohl durch die hier mitgeteilten Falle als zu eng dargetan.
Das isolierte Ergriffensein eines einzelnen Gliederabschnittes oder
mehrerer Gliederabschnitte bei Integritat der anderen Abschnitte dieses
Gliedeskommt in dieserWeise bei Erkrankungen der Pyramidenbahn in
der inneren Kapsel nicht vor. Dagegen scheint dasselbe bei spinalen
Seitenstrangerkrankungen gelegentlich vorzukommen. Es kann aller-
dings bei leichteren Schadigungen in der inneren Kapsel an der unteren
Extremitat der Fuss nur eine Parese der Dorsalflexoren und der Unter-
schenkel eine Schwache der Flexoren zeigen, wahrend die Bewegungen
des Oberschenkels keine Einbusse ihrer Kraftentfaltung erkennen lassen;
dann ist aber die Parese am Fuss und Unterschenkel auch nur eine
geringftigige. Totale Lahmung des Fusses bei volliger Integritat des
Unter- und Oberschenkels kommt aber meines Erachtens nur bei
cortikaler Lasion vor, nie bei kapsularer. Ebenso kann am Arm bei
kapsularer Lasion leichteren Grades ausscbliesslich eine Parese an den
Fiugern bestehen, wahrend die Muskelu der Hand, des Vorderarms,
Oberarms und der Schulter keine Einbusse an Kraftentfaltung er¬
kennen lassen. Dieser Gegensatz ist aber auch wieder nur moglieh
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{jber den Lahmungstypus bei cortikalen Himherden.
411
bei geringftigiger Parese, zumeist in der Opposition des D&umens.
Totale Lahmung des Daumens und der Finger bei lntegritat der Hand
usw. kommt nur bei cortikaler Lasion vor. Vollends kommt eine
isolierte Schulter- Oder Schulter-Oberarmlfthmung bei lntegritat der
distalen Armabscbnitte nur bei Rindenherden vor.
Die Zerstorung einer ganzen Extremitatenregion, also des Haupt-
ursprungsfeldes der Pyramidenbahnfasern fdr das gekreuzte Bein
oder far den gekreuzten Arm, erzeugt, wenn sie sich einiger-
massen langsam entwickelt, oder wenn sie sich nach akutem Beginn,
in dem die Lahmung alle Muskelgruppen gleichmassig betrifft, allmah-
lich restituiert, keinen anderen Labmungstypus als die Unterbrechung
der Pyramidenbabn selbst, sei es innerbalb der inneren Kapsel oder
weiter unterhalb; es bestebt in beiden Fallen der Pradilektionstypus
infolge des vikariierenden Eintrittes des Hilfsursprungsfeldes fiir die
betreffende Extremitat in der gleichseitigen Bein-, bezw. Armregion
und der von diesen ausgebenden, ungekreuzt zu dem gelahmten Bein
bezw. Arm ziehenden Hilfsbahnen (Pyramidenvorderstrangbahn, homo-
laterale Pyramidenseitenstrangbahn und infolge der difFerenten An-
spruchsfahigkeit der spinalen Kerne der einzelnen Muskelgruppen auf
diese corticogenen Impulse (Falll [Bein], Fall2 [Bein und Arm], Fall 6
[Arm]). Sind dagegen beide Beinregionen zerstort, so besteht totale
Lahmung beider Beine (Fall 1 und 2 der Tabelle I, S. 379), weil die Hilfs-
ursprungsfelder mit ausfallen. Dass gelegentlich bei totaler Zerstorung
einer ganzen Extremitatenregion, besonders in fiUhem Alter, die Korn-
pensation erheblich weiter geben kann, als das ftir gewohnlich der Fall
ist, lehrt der eingangs mitgeteilte Fall von Monakow. Auch in dieser
Beziehung besteht Ubereinstimmung zwischen cortikaler und kapsularer
Lasion. Andererseits darf man nicht obne weiteres annebmen, dass in alien
Fallen, in denen der Ausgleich ein so weitgekender ist, die ganze Armregion
zerstort sei; sondern eine so umfangliche Restitution ist im allgemeinen
nur bei einem zwar die ganze Armregion treffenden, aber dieselbe nur
bis zu einem gewissen Grade schadigenden Prozesse zu erwarten.
Auch die Lahmung bei Zerstorung des Focus eines Gliedab-
schnittes betrifft an sich, wenn sie sich langsam entwickelt oder nach
akuterem Beginn restituiert, nicht alle Muskelgruppen dieses Ab-
schnittes in gleichem Mafie, sondern zeigt infolge des vikariierenden
Eintritts des Hilfsfocus dieses Gliedabschnittes in der gleichseitigen
Hemisphere und infolge der differenten Anspruchsfahigkeit der zuge-
horigen spinalen Kerne relatives Freibleiben hestimniter Muskelgruppen
und eine Lahmung anderer Gruppen dieses Gliedabschnittes, wobei die
Differenzierung demselben Typus folgt wie bei der Zerstorung der ganzen
Extremitatenregion oder bei der kapsularen Hemiplegie. Das lehrt
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412
XVIII. Foerster
Fall 5 und6: Labmung der Beuger, relative lntegritat der Strecker des
Knies bei Zerstorung des Unterschenkelfocus, das lehrt Fall 6 (Ober-
armlahmung): Parese der Vorwarts-, Rfickwartsbeweger und Aussen-
rotatoren, lntegritat der Abduktoren, Adduktoren und Innenrotatoren,
ferner Fall 11 (Daumenlahmung): lntegritat des Adductor pollicis und
Flexor pollicis longus. Labmung aller anderen Daumenmuskeln.
1st dagegen bei Zerstorung des Focus ftlr einen Gliedabschnitt, also
etwa ffir den Fuss, wie in Fall 3, 4, 5 und 6, auch der Hilfsfocus dieses
Fusses in der gleicbseitigen Hemisphere mitgeschadigt, dann kommt
es zu keiner Kompensation und es sind alle Muskelgruppen dieses
Gliedabschnittes gleichmassig willkiirlich gelahmt (Dorsalflexoren
und Plantarflexoren des Fusses). Dasselbe gilt von vielen Fallen
Littlescher Krankheit und der Mehrzahl der Falle von infantiler
Hemiplegie. In Fall 7, wo der Hauptfocus der linken Finger zer¬
stort ist, besteht Labmung der Beuger und Strecker, weil der Hilfs¬
focus der linken Finger in der linken Hemisphere infolge der allge-
meinen Hirnarteriosklerose nicht geniigend funktionstucbtig ist.
Die Foci ftir die einzelnen Gliedabschnitte sind nun ihrerseits
wieder gegliedert in Foci ftir die einzelnen Muskelgruppen, Beuger
und Strecker, Ab- und Adduktoren, Innen- und Aussenrotatoren, und
es kommen bei cortikalen Lasionen isolierte Zerstorungen des Focus
fur eine bestimmte Muskelgruppe vor, wehrend die Foci fur andere
Muskelgruppen frei bleiben, die sonst an sich bei Zerstorung des
Focus fur den ganzen Gliedabschnitt oder vollends bei Lahmung der
ganzen Extremitat sowie bei kapsularer Hemiplegie in die Lahmung
einbezogen sind.
In Fall 5 war z. B. zunachst nur der Focus der Abduktoren des
Oberschenkels ergriffen, wahrend der Focus der Extensoren und Aussen¬
rotatoren noch frei geblieben war. Gleiches zeigt Fall 13 der Tabelle I.
In Fall 8 der Tabelle 1 ist der Focus der Flexoren und Extensoren
des Oberschenkels in der Hauptsache verschont, die aller anderen
Muskelgruppen desselben aber sind zerstort.
In Fall 7 und 11 wurden z. B. die Beuger der Finger eher ergriffen
als die Strecker, in Fall 9 besteht totale Lahmung der Handstrecker,
wiihrend der Focus fur die Supination nicht ergriffen ist. Dasselbe
gilt von Fall 10, in dem die Schwache der Supinatoren erst sebr spat
beginnt. Tn Fall 11 ist der Focus der Supination dauernd ganz frei
geblieben, dagegen der fur die Extension ganz zerstort.
Eine derartige Ausvvahl einzeluer Muskelgruppen eines Gliedab¬
schnittes kommt bei kapsuliirer Hemiplegie kaum vor. Hier ist am
Oberscheukel, wenn dieser uberhaupt an der Lahmung teilnimmt,
zum mindesten fur gewbhnlich Abduktion und Aussenrotation in star-
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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnkerden.
413
kerem Grade, die Flexion etwas paretisch; an der Hand ist die Supi¬
nation mindestens ebenso geschadigt wie die Streckung, an den Fingern
die Extension mebr wie die Flexion.
Endlich sind nun die Foci fur eine bestimmte Muskelgruppe wieder
in Spezialfoci fur die einzelnen Muskeln, ja auch fbr Teile eines Mus-
kels gesondert, und diese Spezialmuskelfoci konnen ihrerseits bei
zirkumskripten cortikalen Lasionen isoliert zerstort werden. So ist der
Focus fGr die Muskelgruppen der Fingerstrecker gesondert in den
Focus fiir die Interossei und fur den Extensor longus und, wie Fall 8,
9, 10 und 11 lehren, kann ersterer isoliert betroffen werden, was bei
kapsuliirer Armlahmung nie vorkommt. Auch im Focus des Daumens
ist der Spezialfocus des Extensor pollicis longus getrennt von dem des
Extensor pollicis brevis gelagert, und in Fall 9 und 10 ist ersterer frei
letzterer zerstort, was bei kapsularer Armlahmung nie vorkommt. Wenn
der Abductor pollicis brevis isoliert betroffen wird, so darf man das
allerdings nicht als ein Zeichen isolierter Zerstorung seines Spezial¬
focus ansehen, sondern dieser Muskel versagt immer am leichtesten und
oft ganz allein sowohl bei leichter Scbadigung des ganzen Daumen-
focus Oder der ganzen Armregion als auch bei ganz leichter Schadi-
gung der Pyramidenbahn in der inneren Kapsel. Das hangt mit der
erschwerten Anspruchsfahigkeit des spinalen Kernes dieses Muskels
auf corticogene Impulse hin zusammen. Sonst kommt aber Lahmung
eines einzelnen Muskels bei Pyramidenbahnerkrankungen innerhalb
der Kapsel usw. nicht vor.
Ganz analog wie die innervatorischen Elemente in der Hirnrinde,
aus deren Zerstorung die Lahmung der willktirlichen Erregbarkeit der
Muskeln folgt, sind nun auch die inhibitorischen cortikalen Elemente
der Zentralwindung, deren Zerstorung die Steigerung eventuell die Un-
unterdriickbarkeit der reflcktorischen Erregbarkeit der Muskeln mit
sich bringt, angeordoet. Auch sie folgt Gliedabschnitten und Muskel¬
gruppen, und im allgemeinen geht die Schadigung der innervatorischen
und inhibitorischen Elemente in unseren Fallen Hand in Hand; so
zeigen in Fall 5 die Muskeln des Fusses willkiirliche Lahmung und
ungehemmte reflektorisch-subcortikale Erregbarkeit, derselbe Fall 5
zeigt spater willkiirliche Lahmung und ungehemmte reflektorisch-sub¬
cortikale Erregbarkeit der Schultermuskeln bei volliger Integritat aller
anderen Gliedabschnitte. Fall 6 zeigt dasselbe Verhalten an der Schulter
und Fall 7 zeigt totale willkiirliche Lahmung und ungehemmte
reflektorisch-subcortikale Erregbarkeit der Finger und Daumenmuskeln
bei Integritat der Hand-, Vorderam-, Oberarm- und Schultermuskeln.
In Fall 9 besteht anfangs willkiirliche Lahmung und ungehemmte
reflektorisch-subcortikale Erregbarkeit der Fingermuskeln bei voller
Deutsche Zeitschrift f. Xervenkeilkunde. 37. Bd. 27
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414 XVIII. Fokrstkr, Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hiruherden.
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Integritat der Hand usw. (bis auf die Steigerung der Sehnen-
reflexe); spater wird die Hand von der Lahmung ergriffen und da
zeigen auch ihre Muskeln Kontrakfcuren und Mitbewegungsphanomene,
wahrend Vorderarm, Oberarm und Schulter dauernd frei davon bleiben.
Genau dasselbe zeigt Fall 10: anfangs Lahmung der Finger und unge-
hemmte reflektorisch-subcortikale Erregbarkeit derselben, Integritat
von Hand bis Schulter einschliesslich. Als spater die Hand gelahrat
wird, zeigen sich auch Kontraktur und Mitbewegungsphanomene an
ihr, wahrend Vorderarm, Oberarm und Schulter noch intakt sind.
Nun lehren aber unsere Falle noch weiter, dass im allgemeinen
die inhibitorischen Elemente vulnerabler sind als die innervatorischen,
so dass bei der allmahlichen Progression des Prozesses von Focus auf
Focus immer die Muskeln des betreffenden Gliedabschnittes zuerst
Kontraktur und Mitbewegungsphanomene zeigen, ehe noch eine An-
deutung von Abschwiichung der willkurlichen Erregbarkeit besteht.
So besteht in Fall 3 Lahmung der Fussmuskeln, ungehemmte reflek-
torische Erregbarkeit der Fuss- und Unterschenkelmuskeln, Integritiit
der Huftmuskeln. Genau das Gleiche zeigt Fall 4. In Fall 6 besteht
anfangs eine Lahmung der Fuss- und Unterschenkelmuskeln, dagegen
eine ungehemmte reflektorische Erregbarkeit des Muskeln des Fusses,
Unter- und Oberschenkels. In demselben Falle finden wir Lahmung
der Schulter- und Oberarmmuskeln, gesteigerte reflektorische Erreg¬
barkeit der Schulter-, Oberarm- und Vorderaiunmuskeln, Integritat der
Hand und Finger. Fall 9 und 10 zeigen Paresen an den Fingern,
keine am Daumen, dagegen ungehemmte reflektorische Erregbarkeit
der Daumeumuskeln. Fall 12 zeigt als eiuzige Parese nur eine Lah¬
mung des Abductor pollicis brevis, dagegen Kontrakturen und Mit¬
bewegungsphanomene an alien Fingern und an der Hand.
Die Tatsache, dass die inhibitorische Funktion ruehr leidet und
dass die Steigerung der reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit der
Muskeln den Paresen vorangeht, bezw. liinger alteriert bleibt und sich
auf weitere Muskelgruppen erstreckt als diese, wird besonders gut
auch durch die Falle von Littlescher Krankheit demonstriert, wo der
Gegensatz ja oft frappirend ist. Sie gilt aber fur alle Lasionen der
Pyramidenbahn, man denke nur an die multiple Sklerose, an die spas-
tische Spinalparalyse, an beginncnde Kompressionsmyelitis, an Heiui-
plegien mit weitgehender Restitution usw.
Fur die Falle mit spinaler und kapsularer Lokalisation ist aber
charakteristisch, dass gerade diese Steigerung der reflektorischen
Muskelerregbarkeit die gauze Kxtremitat betrifl't, wiihrend wir bei corti¬
kalen Lasionen ein gliedweises Befallensein antrelfen.
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XIX
Em Fall yon Stichverletzung des Rflckenmarks. Zugleich
ein Beitrag zur Frage tlber die Leitungsbahnen im Rilcken-
mark.
Von
H. Fabritius-Helsingfors (Finnland),
Assisteuzarzt.
In der folgenden Arbeit will ich einen Fall von Brown-Sequard-
scher Labmung mitteilen, den ich verhaltnismassig lauge Zeit zu be-
obachten Gelegenheit hatte, uud der besonders von seiteu der motori-
schen Sphare mehrere interessante Storungen aufwies.
A. S., 21jiihriger Bauerssolin, wurde am 18. April 1908 ins chirur-
gische Krankenhaus zu Helsingfors aufgenommen. Pat., der sicli seit
einiger Zeit wcgen Schmerzcn im Arme, woran er seit einem Jalire litt,
in Helsingfors aufhielt, wurde am 18. April uugefiihr um 9 Uhr abends
von einem unbekannten Manne Gberfallen, welcher ilirn mit einem scharfon
Gegenstand, walirscheinlicli einem Messer, links im ROcken eine Wunde
beibraclite. Er tiel unmittelbnr zu Boden, ohne sich allein von der 8telle
wegbegeben zu kdnnen. Will beim Uberfall weder in der Gegend der
Wunde noch sonstwo nennenswerte Schmerzen empfuuden haben. Als
unmittelbare Folge bemcrkte Pat. eine vollstiindige Lahmung des rechteu
Beins; linkes Hein und Arme frei heweglick. Bei der Uberfuhrung ins
Krankenhaus maeht sich Empfindliehkeit „im ganzen Korper 1 * fidilbar.
Aus der Wunde eine zicmlich unbedeutende Blutuug.
Status praesens: 19. IV., 1—2 Uhr nachmittags, 10—17 Stunden
post trauma.
Pat. mittelkraftig. Muskulatur und Erintlirung^zustand befriedigeml.
Herz und Lungen normal.
Pat. etwas benommen, liegt. auf dem Rilcken; klagt uber Sehmerzen
in der rechteu Seite und in dem rechten Beiu sowie uber Emptindlichkeit
in der Gegend der Wunde.
Pat. kann den Urin nicht selbst lassen; wurde lieute katheterisiert.
Kein Priapismus.
Pupilleu gleich gross, reagieren lcldiaft.
In der Ilohe des Proe. spin, des 3. Dorsalwirbels. 5—0 cm links von
der Mittellinie eine 3 cm lange Wunde, in einem Winkel von 45° von
unten aussen nach oben innen verlaufend.
Motilitat: Muskeln des Koptes und der Oberextremitaten volUtan-
dig intakt.
O- A
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416
XIX. Fabritius
Rechtes Bein vollstandig und schlaff gelfihmt.
Linkes Bein: Beim ersten Anblick frei beweglich. Bei nQherer Unter-
suchung bemerkt man jedocli folgendes: Zehen leicht und vollkommen nor¬
mal beweglich, ebenso das Fussgelenk und das Knie, in welchen die Muskel-
kraft offenbar normal ist. In der Httfte bemerkt man jedoch deutlich eine
gewisse Herabsetzung der Muskelkraft. Pat. kann das Bein von der Unter-
lage heben, aber es schwankt hin und her und ermttdet bald. DrQckt man
mit der Hand auf die Vorderseite des Oberschenkels und fordert Pat auf,
eine Bewegung in der Htifte auszufQhren, so ergibt sich ganz deutlich, dass
die Beugungsmuskulatur in dem HQftgelenk nicht ihre normale Kraft ent-
falten kann.
Bei passiven Bewegungen mit dem rechten Bein gibt Pat. unbedeu-
tende Schmerzen an und sagt, er habe die Empfindung, „als ob man mit
Nadeln steche*. Die Richtung der passiven Bewegungen (das Bein wird
gehoben, ab- und adduziert) wird annahernd richtig angegeben; ebenso die
Bewegungen mit dem linken Bein.
Sensibilitiit rechts:
Bei PinselberQhrung des rechten Beins Oder des unteren Teils des
Rumpfes fQhlt Pat in den meisten Fallen nichts; zuweilen, besonders wenn
der Pinsel mit den Haaren senkrecht auf die Haut und etwas starker auf-
gestellt wird, antwortet Pat.: „Sie stechen mit einer Nadel." Druck fidhlt
Pat. gut, und verstarkt man denselben oder kneift man, so tut es Pat
sichtlich mehr weh als an den gesunden Korperteilen (Arme, Gesicht).
Ftir Nadelstiche eine ziemlich hochgradige Hyperasthesie.
Audi fOr Temperaturreize ist die Empfindlichkeit gesteigert, so dass
Pat. warme und kalte Gegenstande an dem Bein und am unteren Teil
des Rumpfes warmer oder kalter fQhlt als am Gesicht und an den Armen.
Die Grenze zwischen den verandcrten und der normalen Hautsensibi-
litat verlauft ungefabr zwischen dem 7. und dem 8. Intercostalraume, da-
raut' foltrt eine ungefahr 3—4 Intercostalraume umfassende Zone, in der
grossere Empfindlichkeit als an den Armen und dem Gesicht, aber eine
geringere als an dem Bein angegeben wird. Eine anasthetische Zone ist
nicht nachzuweisen.
Linke Seite: Bis zur Ilohe dos 7. Intercostalraumes fast vdllige An-
iisthesie ftir alio Reize. PinselberQhrung wird grosstenteils garnicht ge-
fiililt, und Druck wird bloss ab und zu. besonders auf der Innenseite des
Oberschenkels empfunden. Fasst und drQckt man den Fuss, so fQhlt Pat.
dies und lokalisiert ziemlich richtig. Kiilte, Warme und Nadelstiche werden
ebenso unsicher wie Druck oder auch gar nicht walirgenommen und rufen
gar keine spezifischen Emptiudungen hervor. fiber dem anasthetischen
Gebiet liegt eine etwa 3—4 Intercostalraume umfassende, etwas hyper-
a>thetische Zone.
Patrllarreflexe: Links normal, werden gut und ziemlich leicht ausgeldst,
nicht schwach; rechts vollig erloschen.
19. IV. abends. Die Parese in der linken Htifte hat dermassen zu-
genommen, dass Pat. das Bein nicht von der Unterlage zu heben vermag.
In den Knie-, Fuss- und Zehengelenken ist die Bcweglichkcit gut erhalten.
Pat. wird katheterisiert. Der Sehmerz in der rechten Seite hat etwas ab-
genonimen.
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417
Ein Fall von Stichverletzung des Ruckenmarks.
20. IV. abends: Die Motilitat ist unverfindert; die linke Hlifte ist
noch schwacher als gestern, doch nicht ganzlich gelahmt.
Sensibilitat: Leichte PinselberUhrung und Streichen mit dem Pinsel
ftthlt Pat. weder auf der rechten noch auf der linken Seite, nur zuweilen ant-
wortet er bei Bertthrung „jetzt“. Druck wird links in den meisten Fallen
nicht geftthlt; nurmanchmal glaubt cr etwasdunkel und andeutlich zu ftthlen.
Auch Alloasthesie wird beobachtet, so dass Pat. zuweilen, z. B. an der
Innenseite des rechten Oberschenkels bertthrt, den Reiz nach links ver-
legt und umgekehrt. Unter der linken Fusssohle ftthlt Pat stets und gut
Bertthrung und Nadelstiche, welche als Druck oder Bertthrung wahrge-
nommen werden. —
Was die Patellarreflexe betrifft, wird insofern eine Veranderung be¬
obachtet, als sie jetzt auf beiden Seiten vermisst werden.
21. IV. abends. Pat. klagt nicht melir fiber Schmerzen, hustet ziem-
lich stark.
Motilitat wie gestern.
Sensibilitat: Links wird Pinselbertthrung fast nie empfunden (da-
gegen wird die Bertthrung an gesunden Kdrperstellen prompt angegeben).
Die normale Empfindlichkeit beginnt ungefahr beim 8. Intercostalraum Oder
ungefahr 1 Querfinger oberhalb des Nabels. Die Grenze ist jedocli nicht
ganz deutlich, weil Pat. Pinselbertthrung zuweilen angeblich schon unter-
halb des Nabels ftthlt. Mit dieser Grenze fallt auch die Grenze fttr Nadel¬
stiche zusammen, d. h. ungefahr vom 8. Intercostalraum aufwirts werden
Nadelstiche durchaus als solche empfunden. Vorher, in einem Gebiet, das
ungefahr 3—4 Querfinger ttber der Leiste beginnt und sich bis einen
Querfinger fiber dem Nabel erstreckt, rufen mittelstarke Stiche nur Be-
rttbrungsgefQhl hervor. Temperaturempfindungen in diesem Gebiete gitnz-
lich aufgehoben. Druck ftthlt Pat. in den meisten Fallen garnicht. —
Wird Athylchlorid auf das linke Bein gespritzt, so sagt Pat., dass „das
linke Bein nach innen rechts gehoben wird u . Nadelstiche in die linke
Fusssohle werden deutlich, aber als Bertthrung empfunden und lOsen dabei
Dorsalflexion des Fusses sowie Kontraktionen des M. quadriceps aus.
Rechts werden Nadelstiche in die Fusssohle nur als starker Schmerz em¬
pfunden, doch werden keine Kontraktionen ausgelost. Kitzeln der Fuss¬
sohle wird rechts nur schwach als solches empfunden, links nicht als
Kitzeln, sondern nur als fiusserst schwache und unbedeutende Bertthrung.
Rechte Seite: Leichte Pinselbertthrung unsicher, wird ungefahr in der
Halfte der Untersucliungen als solche geftthlt, sonst nicht. Bei „Stieldruck“
(ziemlich stark) hat Pat. eine deutliche Empfindung, die jedoch offenbar
nicht vollkommen deutlich und leicht definierbar ist. So sagt Pat. nach
einer Weile: „Sie kueifen“, und sucht dies Geftihl so zu beschreiben, dass
er mit der Hand eine Hautfalte hebt und kneift Deutliche Hyperttsthesie
fttr Nadelstiche.
Patellarreflexe auf beiden Seiten vollig erloschen.
22. IV. Motilitilt: Rechtes Bein fortgesetzt schlaff gelahmt, al>er bei
Aufforderung und starker Anstrengung von seiten des Pat. werden schwache
Flexionsbewegungcn in den Zehen, besonders in der grossen Zehe, beobachtet.
Linkes Httftgelenk nach wie vor paretisch.
Sensibilitat: Links werden Pinselbertthrung und Druck vielleicht
etwas besser als gestern geftthlt, doch iminer undeutlich und konnen nicht
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XIX. Fabritius
unterschieden werden. Pat. sagt nur ganz im allgemeinen, dass man das
Bein berQhre, ohne die Art des Reizes ntther prazisieren zn kOnnen.
Xadelstiche werden nicht als solche, in den meisten Fallen garnicht ge¬
ftthlt. Beim Applizieren von Athylchlorid sagt Pat., dass „das Bein hin-
und herbewegt werde“.
Reckts wird Pinselbertthrung haufiger als gestern empfnnden. Bei Druck
•sagt Pat., dass man kneife.
Patellarreflexe rechts vOllig erloschen.
Links tritt der Patellarreflex,- der gestern vermisst wurde, ziemlich
leicht hervor.
23. IV. abends. Motilitat: Bei Aufforderung schwache, aber deut-
liehe Kontraktionen des Muse. flex, hallucis longus; auch in den beiden
Zehen daneben schwache Flexionsbewegungen.
Die linke Httfte fortgesetzt deutlich paretisch; Pat. will dieselbe auch
nicht gem beugen, weil es ihm Schmerzen in der rechten Leiste und dein
Unterkorper verursache.
Sensibilitat: Links noch immer fast vdllige Anasthesie; zuweilen
antwortet Pat. bei Druck, dass „man das Bein hin- und herbewege“.
Kneifen und Druck werden, wenn Gberliaupt wahrgenommen, meistens nicht
unterschieden. Athylchlorid ruft wie gestern die Empfindung hervor, als
ob das Bein nach oben und unten gehoben wttrde (Pat. demonstriert dies
mit Hilfe der Hand, indem er das linke in der Httfte paretische Bein hebt
und senkt).
Rechts nach wie vor Hyperalgesie, auch fttr Kneifen und etwas star*
keren Druck, die zuweilen unterschieden werden kdnnen, aber gewdhnlich
miteinander verwechselt werden (auffallender Kontrast mit den anderen im
Saale liegenden Kranken bei gleichzeitiger Untersuchung mit Druck und
Kneifen).
Patellarreflexe rechts weg, links heute sehr schwach.
24. IV. Motilitat links wie gestern.
Rechts machen sich Fortsehritte bemerkbar, indem der rechte Fuss
deutlich, obgleich schwach, im rechten Talocruralgeleuk flektiert und exten-
diert werden kann.
Sensibilitat: Links wie gestern; Druck und Kneifen oder Klemmen
des Beines werden oft nicht geftthlt, und besonders auffallend ist es, dass
es Pat., wenn man beim Anlegen der Hand den Oberschenkel nicht schQttelt,
weit schwerer fallt zu unterschciden, wann er bertthrt wird oder nicht.
Rechts: Druck und Klemmen werden fortgesetzt verwechselt.
Deutliche Hvperasthesie auch fur Kneifen.
Patellarreflexe wie gestern.
25. IV. abends. Motilitat: Rechts in den Zehen und dem Fussge-
lenk noch weitor gebessert, Bein im Qbrigen schlaff gelahmt.
Sensibilitat wie gestern. Pinselbertthrung wird beiderseits ab und
zu geftthlt, meistens jedoch garnicht.
Druck und Kneifen werden links, wenn sie ttberhaupt empfunden
werden, ebenso gut wie rechts lokalisiert.
Patellarreflex beiderseits nicht hervorzurufen. — Pat., der noch am
Morgen katheterisiert werden musste, kann zurn ersten Male den Urin
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Ein Fall vou Stichverletzung ties Riiekeumarks.
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selbst lassen. (In den vorhergehenden Tagen bat Pat. zwar geftihlt, wenn
der Urin drangte, hat ihn aber nicht selbst lassen konnen.)
*26. IV. Motilittit: Der rechte Fuss und die Zehen konnen schon mit
merkbarer Kraft bewegt werden. Bein sonst gelahmt.
Die Parese in der linken Htifte bestebt noch, wahrend die Knie- und
Fussgelenke bier intakt sind. Wenn man das Bein in der Htifte passiv
beugt und den Oberscbeukel in der Flexionsstellung sttitzt, kann Pat. den
Unterschenkel kraftig und gut extendieren und ihn in der Luft halten.
Will Pat. selbst die linke Htifte beugen, so verursacht es ihm fortgesetzt
Schmerzeu in dem rechten Unterkorper, wo es aucb bei Hustenanfallen
weh tut.
Seusibilitat: Links wird ebenso wie gestern beobacbtet, dass, wenn
man die Hand vorsicbtig und behutsam auf das Bein legt und dann kneift
und zudrtickt, Pat. gar nichts ffihlt; manipuliert man unvorsichtig und stosst
an das Bein, so gibt Pat. jedoch oft richtig an, wenn man ihn anrtihrt.
Aber die Empfindung ist offenbar ziemlicb verwischt und undeutlicb; Pat.
lokalisiert ziemlich gut, obgleich bisweilen grosse Febler vorkommen (Ober-
und Unterschenkel werden verwechselt).
Recbts werden Kneifen und Druck meistens immer noch verwechselt;
offenbar kostet es den Pat. viel Kopfzerbrechen, sicb klar zu machen, was
vorgeht.
Fortgesetzte Hyperalgesie und auffallend starke Empfindlicbkeit ftir
Kneifen.
Pinselbertihrung beiderseits iiusserst unsichor.
Patellarreflexe beiderseits erloschen.
Pat. uriniert selbst.
27. IV. Zustand genau wie gestern.
28. IV. Es haben ziemlich grosse Veriinderungen stattgefunden.
Heute urn die Mittagszeit beobachtete Pat. eine gewisse Beweglichkeit in
der rechten Htifte, und jetzt (am Abend) adduziert er das rechte Bein mit
ziemlich guter Kraft. Dagegen ist Flexion in der Htifte uumoglich, ebenso
alle Bewegungen in dem Knie; Zehen und Fuss werden wie frtiher bewegt.
Linke Htifte paretisch, aber nicht so sehr wie frtiher; das Bein kann
.jedoch fast in toto von der Unterlage gehoben werden.
Seusibilitat: Tn den Hauptztigen unveriindert. Recbts fortdauerndo
Hypertisthesie.
Patellarreflexe kdnnen jetzt beiderseits ausgelfist werden, obgleich recbts
iiusserst schwach und mit Schwierigkeit, dagegen links ziemlich leiclit.
Spuren von Fussklonus in dem linken Fuss.
Was den Muskelsinn betrifft, der bei den frtilieren Beobachtungen
etwas vernachliissigt worden war, so wird bemerkt, dass er in dem rechten
Knie, welches vollkommen gelahmt ist, ganzlich geschwunden ist: Pat.
gibt an, er konne nur iiusserst schwer erkennen, ob das Bein in dem Knie
extendiert oder flektiert sei, und beim Ausfragen greift er tatsiichlich ofters
absolut fehl; in der Htifte dagegen fQhlt er Bewegungen besser, macht aber
doch Febler; mochte besonders oft behaupten, dass das Bein nach aussen
sreftihrt werde. obgleich es nach oben gesebiebt. In den Fuss- und Zehen-
geleuken scheint der Muskel- und Gelenksinn ziemlich gut zu sein.
Muskelsinn links gut.
29. IV. Zustand in den Hauptztigen unveriindert.
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XIX. Fabritus
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30. IV. Die Muskelstarke (Ad- und Abduktion) hat in der HQfte
zugenommen.
2. V. Bechts wird in der HQfte das Bein adduziert und mit einer
gewissen Kraft bis Qber die Mittellinie gefQhrt oder vielmehr gescbleudert.
Jede Flexion ist dagegen in der HQfte vollkommen aufgehoben. In dem
Kniegelenk werden schon deutliche Extensions- und schwache Flexionsbe-
wegungen beobachtet.
Linke Seite. Pat. hebt nunmekr das Bein gut von der Unterlage und
vermag es eine Weile in der Luft zu halten.
Sensibilitat: Links wird PinselberQhrung in den meisten Fallen
niclit get’Ohlt, auch vorsichtiger Druck wird nicht wahrgenomraen; Nadel-
stiche werden in den meisten Fallen empfunden, aber nicht als spezifische
Empfindungen, sondern als BerQhrung.
Rechts wird PinselberQhrung nunmehr ziemlich gut empfunden, oft
aber auch garnicht.
Druck und Kneifen werden oft verwechselt.
Ziemlich starke Hyper&sthesie.
Lokalisationsvermdgen beiderseits gleich.
Alloasthesie wird ab und zu beobachtet.
Muskelsinn links prompt, rechts in dem Knie vollstandig aufgehoben:
ebenso in den Zehen; in der HQfte wird Ab- und Adduktion richtig an-
gegeben; wird das Bein gehoben, so sagt Pat oft, dass es nacli aussen ge¬
fQhrt werde; hier macht Pat. jedoch offenbar Fehler. Auffallend ist es,
dass die Bewegungen besonders in dem Knie ziemlich grosse Schmerzen
hervorrufen. (Pat. hat die ganze Zeit mit einem Kissen unter den Knieen
gelegen, so dass das rechte Bein in dem HQft- und Kniegelenk leicht
flektiert, ebenso etwas nach aussen rotiert war. Diese langandauernde, un-
bewegliche Lage des Beins und die HyperUsthesie sind wahrscheinlich die
Ursacbe dieser Schmerzen bei passiven Bewegungen.) Patellarreflexe beider¬
seits so gut wie erlosclien. Rechts deutlicher, obgleich etwas kurzer und
schwacher Fussklonus.
3. V. Motilitat: Rechts kann der Unterschenkel extendiert werden.
Linkes Bein kr&ftig, kann schon gut von der Unterlage gehoben werden.
Sensibilitat: PinselberQhrung wird nun gewbhnlich und weit offer
als frQher auf der rechten Seite gefQhlt, links dagegen selten.
Nadelstiche und Kitzeln werden an der linken Fusssohle und zwar beide
als Kitzeln aufgefasst, wobei ziemlich lebhafte Flexionsbewegungen in den
Gelenken des Beins ausgelost werden.
Obgleich nicht so hochgradig wie frQher, besteht rechts fortgesetzt
Hyperasthesie.
Patellarreflexe werden beiderseits ziemlich leicht hervorgerufen und
sind niclit mehr so sclnvach.
4. V. Motilitat: Die Bewegungen in dem rechten Bein werden schon
mit einer gewissen Kraft ausgeluhrt. In dem Fuss und den Zehen sind
Flexion und Extension sowie schwache Adduktion mdglich, Extension im
Knie ziemlich stark und weit starker als die Flexion, die noch schlecht
ist. In der HQfte ist besonders die Adduktion stark hervortretend, die
Flexion vollkommen unmoglich.
Sensibilitat ungefahr wie gestern.
f>. V. Flexion in der rechten HQfte nach wie vor unmoglich.
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Ein Fall von Stichverlet/.ung des Ruckenmarks.
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Sensibilitat: Pat. behauptet, dass heute Nadelstiche auf der Vorder-
seite des linken Obersekenkels schmerzhaft, obwohl ausserst schwach em-
pfunden werden.
8. V. Auch bei sorgfaltiger Untersuchung keine Spur von Flexion in
der rechten Httfte.
Muskelsinn in dem rechten Knie ausserst schlecht, fast 0; in den
Zehen etwas besser.
Rechts fortgesetzte, obgleich nicht besonders hochgradige Hyperasthesie.
Leichte PinselberQhrung wird rechts nunmehr hiiufig empfunden. Links
fuhlt Pat. in den meisten Fallen BerOhrung; auch Pinselbertthrung wird
oft, ja in den meisten Fallen geftthlt.
Schmerzempfindung am linken Oberschenkel nach vorne zu unsicher.
Temperaturempfindungen gleich 0. Athylchlorid wird nur als Berfih-
rung geftthlt.
Pat. sass heute.
11. V. Pat. kann seit gestern und heute unbedeutend das rechte Httft-
gelenk flektieren.
Ftlhlt am linken Oberschenkel, besonders auf dessen Hinterseite, Nadel¬
stiche als schwache spezitische Empfindungen.
12. V. Flexion in der rechten HQfte fortgesetzt ausserst unbedeutend
und schwach. In den Knie-, Fuss- und Zehengelenken werden die Be-
wegungen schon ziemlich gut und mit einer gewissen, obgleich immer noch
unbedeutenden Kraft ausgeffihrt. Bittet man Pat., den Unterschenkel zu
extendieren, so wird ab und zu ein kurzer Clonus in dem rechten Fuss
hervorgerufen. Hyperasthesie schwach.
Druck und Kneifen werden rechts manchmal verwechselt.
Leichte Bertthrung mit dem Pinsel wird nunmehr in den meisten
Fallen beiderseits empfunden.
13. V. Pat. hebt heute das rechte Bein in toto 10—20 cm von der
Unterlage, aber es sinkt doch unter Schwanken und Schwingen gleich zurtlck.
Sensibilitat: Nadelstiche behauptet Pat. als spezifische, schwache
Schmerzempfindung am linken Oberschenkel und besonders auf dessen
Hinterseite und der Aussenseite des Unterschenkels wahrzunehmen. Nadel-
spitze und -knopf werden deutlich von einander unterschieden. Ein Eis-
stQck wird stellenweise links als kalt geftthlt. Warme (heisses Reagens-
glas) ruft keine spezifische Empfindung hervor.
Patellarreflexe beiderseits ebenso schwer hervorzurufen; gelingt es, so
sind sic nicht schwach, sondern fast normal.
16. V. Pat. fiebert (Bronchopneumonie?).
Die Motilitat in dem rechten Bein hat sich gebessert, so dass Pat.
das Bein eine Weile in der Luft schweben lassen kann. Die Kraft in
dem rechten Knie ziemlich gut.
Patellarreflexe nicht stark, treten jedoch hervor.
Fussklonus rechts.
Sensibilitat: Leichte Bertthrung wird ttberall geftthlt.
Kneifen und Druck werden beiderseits gut geftthlt. Verwechselung
kommt jedoch rechts vor.
Nadelspitze und -knopf werden links unterschieden.
Warm und Kalt werden nicht unterschieden. Pat. sagt vom heissen
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XIX. Faijkitils
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Reagensglas auf der Aussenseite des Unterschenkels, dass es einigermassen
deutlich als warm geffthlt wird.
18. V. Pat. fieberfrei.
Motilitat: Das rechte Bein wird gut gehoben und ziemlich test in
der Luft gehalten.
Sensibilitat: Hyperhsthesie reehts fortgosetzt nachweisbar, obgleich
schwach. Kneifen und Druck werden auf dieser Seite recht oft ver-
wechselt.
Linke Seite: Die Spitze und der Knopf einer Stecknadel werden nnn-
mehr ziemlich gut unterschieden, Schmerzsinn jedoch stark herabgesetzt.
Der Temperatursinn macht merkbare Fortschritte. So vermag Pat. beson-
ders, wenn das Glas l&ngere Zeit auf den Oberschenkel gehalten wird,
anzugeben, wann ein Glas (mit heissem Wasser) warm und wann es kalt
ist (ziemlich kaltes Wasser). Ein Eisstflck wird als deutlich kalt be-
zeichnet. Das Auffassungsvermbgen ist otfenbar verlangsamt, aber das
Unterscheideu erfolgt doch mit ziemlich grosser Sicherheit. Die Sensibili-
tiit ist auch ftir diese Sinne auf der Aussenseite des Unterschenkels und
auf der Hinterseite des Oberschenkels besser entwickelt
Der Muskelsinn im rechten Knie unsieher, ebenso in den Zelien.
Patellarreflexe werden beiderseits, obgleich mit Schwierigkeit, hervor-
gerufcn.
19. V. Wenn Pat. sein rechtes Bein mehr bewegt, so zeigt sich in
dem Fuss ein kurzes und schnell vortlbergehcndes klonisches Zittern.
Kniehackenversuch mit dem rechten Bein wird etwas ataktisch ausgefQhrt,
geht aber doch von statten.
20. V. Beim Pat. wird ein kleines linksseitiges Pleuraexsudat kon-
statiert.
Pat. versucht zu stelien, fallt aber zusammen; das rechte Bein ge-
wi'ihrt ihm keine Sttitze.
25. V. Pat. vermag einige Scliritte an KrQcken zu gehen, wobei sich
die Rolle des rechten Beins auf ein Minimum reduziert: es wird langsam
und mtlhsam vorwarts geschleppt und ist ataktisch.
30. V. Pat. geht schon bedeutend besser, aber das rechte Bein ist
ausserst schwach. Bei naherer Untersuchung ergibt sich, dass beim Gehen
besonders zwei Momente storend wirken: einerseits die grosse Schwache
in dem Bein, andererseits cine ziemlich stark hervortretende Ataxie, eine
Unsicherlieit, ein Umhertasten und Suchen mit dem Bein. Der Kniehacken¬
versuch bekraftigt dies noch mehr. Pat. sagt auch, dass sich das rechte
Bein unsieher und eigenttimlich ftihle. Der Muskelsinn ist fortgesetzt ge-
stort; was die Lage des Knies betritft, ftthlt Pat. sie oft nicht und macht
unrichtigc Angalien; ebenso in den Zehen- und Fussgelenken.
Die Sensibilitat hat sich nicht bemerkenswert verfindert. Reehts keine
Ilyperasthesie.
Die Patellarrotlexe werden beiderseits leiclit hervorgerufen, reehts
sogar etwas gestcigcrt. Ein langsamer, aber ziemlich lange anhaltender
Clonus wird in dem rechten Fuss hervorgerufen.
5. VI. Pat. geht auf einen Stock gesttltzt. Beim Gehen wird das
rechte Bein nicht besonders geschleppt; eine autfalleude Ataxie macht sich
in ihm geltend.
Sensibilitat: Links wird ein warmes Reagensglas vom Pat. be-
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Ein Fall von Stichverletzung des Kuckenmarks.
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stimint als warm angegeben; Eis und Athylchlorid werdcn dcutlich ge-
ftihlt; Nadelspitze und -knopf werden unterscbieden. Temperatur- und
Schmerzsinn jedoch stark herabgetzt.
Patellarreflexe rechts gesteigert. Fussklonus rechts (langsame Oscil-
lationen).
7. VI. Pat. geht langsam ohne Stock. Das rechte Bein wird vorsich-
tig und langsam vorwiirts geboben, wobei eine ziemlich starke Ataxie her-
vortritt. Das Bein wird hiermit unbedeutend geschleppt. Auf dem linken
Bein steheud, vermag Pat. das rechte Bein gut zu heben und in seinen
verschiedenen Gelenken zu beugen; die Muskelst&rke im Yerh<nis zur
linken Seite allerdings schwach, aber nicht ganz schlecht. Ein hoherer
Grad von spastischer Steifheit macht sicli nicht geltend. Beim Gehen
hangt die Fussspitze nicht nach unten, sondern die Fusssohle wird hori¬
zontal gehalten.
9. VI. Der Gang verbessert sich standig.
Patellarreflex rechts gesteigert; auf dieser Seite Dorsalklonus in
dem Fuss.
Babinski daun und wann positiv; auch links tritt Babinski zuweilen
unsicher hervor. Oppenheims Reflex beiderseits negativ.
Rechtes Bein etwas atrophisch:
Umfang des rechten Oberschenkels fiber der Mitte 42,5 cm
„ „ linken „ „ „ 44,0 ,,
., der rechten Wade „ „ „ 30,0 „
n linken n „ „ ,, o0,0 „
Pat. hat heute gebadet, und das Badewasser soli an dem linken Bein
einen deutlich, obgleich schwach warmen Eindruck gemacht habcn.
18. VI. Pat. wird aus dem Krankenhause entlassen.
Status: Motilitat links vollkommen intakt.
Rechts: In den einzelnen Gelenken des rechten Beins flihrt Pat. alle
dort moglichen Bewegungen aus. Nur eine gewisse Herabsetzung der Mus-
kelkraft macht sich geltend, und die Bewegungen gehen etwas steifer als
links von statten. Beim Gehen wird das rechte Bein etwas steif gehalten,
aber doch bei jedem Schritt etwas im Knie gebeugt. Das rechte Bein
wird in einem ganz kleinen Bogen nach aussen gefnhrt. und die Fusssohle
schleppt leicht; gibt Pat. bei Aufforderung mehr auf sich acht, so beugt
er das Bein besser im Knie, so dass sich beim Gehen nur eine leichte
Steifheit und Ataxie geltend macht. Pat. wird zwar nach einer Weile
miide, geht aber doch recht lange Wege; besonders des Morgens ist das
Bein milder als am Tage. Steht Pat. litugere Zeit., so werden in dem
ganzen rechten Bein klonische Zuckungen bemerkt. Darf sich Pat. auch
nur leicht mit der Hand stiitzen, so kann er schon allein auf dem rechten
Bein stehen.
Sensibilitat: Die Wahrnehmung von Berllhrung und Druck beider¬
seits ziemlich intakt.
Rechts keine Hyperiisthesie oder Hvperalgesie.
Links behauptet Pat, bei Nadelstichen eine deutliche spezilische, ob¬
gleich ausserst schwache Schmerzempfindung zu haben. Nadelspitze und
-knopf werden meistens von einander unterscbieden. Der Schmerzsinn
offenbar merkbar lierabgesetzt; Athylchlorid und heisses Wasser werden
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XIX. Fabritjus
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deutlich verschieden empfunden. Auf der Vorderseite des Oberschenkels
sind die Temperaturempfindungen am schlechtesten.
Die Grenze zwischen der normalen Sensibilitat fftr Nadelstiche und
der herabgesetzten geht ungef&hr einen Querfinger fiber dem Nabel bin.
Dicht unter dieser Grenze werden Nadelstiche als solche, aber auf der
oberen Seite der Grenze bedeutend starker empfunden.
Muskelsinn am rechten Bein ziemlich gut, doch maclit Pat. ab und
zu Fehler.
Lokalisationsvermogen beiderseits ziemlich gut.
Patellarreflex rechts multipel, links lebbaft, ohne pathologisch zu sein.
Dorsalklonus rechts, aber nicht links.
Babinski und Oppenheim beiderseits negativ, treten aber doch zuweilen
rechts sowohl als links hervor.
Umfang des rechten Oberschenkels etwas unter der Mitte 37 cm
„ „ linken „ « « n r» 40 „
„ der rechten Wade „ „ „ „ 29 „
n r> linken „ » » » » 29 ,,
In einem Brief vom 15. VIII.. also ungefahr 4 Monate nach der Ver-
letzung, teilt Pat. mit, dass „das rechte Bein sich gut, aber doch nicht
vollstandig entwickelt habe, der Oberschenkel sei noch schwach. Ich kanu
gut gehen, muss aber etwas hinken, weil ich das Geffihl habe, als ob das
rechte Bein lfinger als das linke sei. Morgens ist das Bein etwas steifer.
als wenn man eine Zeit lang in Bewegung gewesen ist, da sich das Bein
dann tiberall gut beugt. Heftige Wendungen kann ich nicht machen. Ich
kann jetzt leicht einen 3 km langen Weg, ohne auszuruhen, zurficklegen
und gehe nach kurzem Ausruhen denselben Weg zurfick. Wenn es draussen
drfickend heiss ist, ist das Bein bedeutend schwftcher, als wenn es kfihl ist.
Das linke Bein ist vollig in Ordnung, nur dass es weder Wftrme noch
Kalte ffiblt. Wenn man auf das Bein kaltes Wasser giesst, so ffihle ich
in demselben Reissen oder Frostschfitteln genau, wie wenn es einem kalt
ist. Heiss wird nur als schwache WSrme gefQhlt, wenn man in der Bade-
stube seinen heissen Atem an das Bein haucht.“
In einem Brief vom 24. IX., also mehr als 5 Monate post trauma,
erklart Pat., dass er gut 3 km in einem Stock gehen kdnne und sein
rechtes Bein nach Belieben bewegen, jedoch nicht laufen kOnne.
Warme- und Kalteempfindung ist im Verhfiltnis zur rechten Seite
schwach. Der gefOhllose Fuss schwitzt leicht. „Das rechte Bein ffihlt nicht
immer gut, in welcher Stellung es sich befindet, sobald ich nicht mit den
Augcn nachsehe." Pat. hinkt jetzt nur unbedeutend.
Am 1. III. 1909 schreibt Pat., dass die Motilitfit immer besser ge-
worden sei, nur ermfide das rechte Bein schneller und leichter als das
linke. „Natttrlich zeigt es noch immer Zeichen von Schwfiche und erscheint
ungeschickter." Der Gang ist so gut wie frfiher und Pat. kann sogar
laufen. Er braucht nur ganz unbedeutend zu hinken, „man merkt es kaum“.
Die Empfindliehkeit im . linken Bein hat sich nur wenig verbessert.
„Nadelknopf und -spitze unterscheide ich nicht, sondern nur das Eiskalte
Oder das sehr Heisse; die emidinde und unterscheide ich.“
Zusammenfassnng: Ein 2ljiihriger Mann erhalt einen Messer-
stich in den Riicken 5—6 cm links vom Proc. spin, des 3. Dorsal-
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Ein Fall von Stichverletzung des Riickenmarks.
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wirbels. Unmittelbar im Anschluss daran tritt eine vollstandige schlaffe
Lahmung des recbten Beins ein; das linke bleibt dagegen anfangs in-
takt. 16—18 Stunden spater tritt jedoch eine merkbare Parese in den
Bewegungsmuskein des linken Hliftgelenks ein, und ungefahr 24 Stunden
spater kann das linke Bein in dem Hliftgelenk nicht gebeugt werden.
Knie-, Fuss- und ZebeDgelenke dagegen links intakt und die Bewegungen
in ihnen von gewohnlicher Kraft. Diese Storung auf der linken Seite
beginnt sich jedoch ziemlich schnell zurtickzubilden, innerbalb 10—14
Tagen kann Patient wieder das Bein in toto von der Unterlage heben
und kann es einige Augenblicke in der Luft halten; einige Tage spater
ist keine motorische Storung mehr in dem Bein zu bemerken.
Auch rechts geht die Lahmung ziemlich schnell voruber. Schon
4 Tage post trauma beginnen schwache Flexionsbewegungen in der
grossen Zehe und schwachere in den angrenzenden Zehen; darauf wird
der Fuss bewegt, 2 Wochen post trauma auch das Knie (Extension
und schwache Flexion) und am 22. Tage wird auch die rechte Httfte,
wenn auch ausserst schwach, flektiert. Adduktion und Abduktion in
diesem Gelenk haben sich schon etwas frfiher eingestellt. Die motorische
Kraft nimmt darauf allmahlich zu, bleibt jedoch ziemlich lange sehr
mangelhaft, was im Verein mit einer auffallenden Ataxie in diesem
Bein und dem etwas geschwachten Zustand des Patienten (Pleuritis
serosa sin.) das Gehen hocbgradig erschwert, welches deswegen erst unge¬
fahr 50 Tage nach dem Trauma — wenn auch in geringem Grade —
ohne Stock moglich wird. Das rechte Bein schleift vielleicbt etwas,
das Knie wird etwas steif gehalten, wird aber, wenn auch unbedeutend,
gebeugt, und der Fuss hangt nicht herab. Das Haupthindernis fur
das Gehen bildet eine gewisse Ataxie sowie die grosse Schwache.
Die Patellarreflexe: Unmittelbar nach der Verletzung waren sie auf
der vollkommen gelahmten rechten Seite vollig erloschen. Links werden
sie gut hervorgerufen. Den folgenden Tag werden sie auf beiden Seiten
vermisst, bleiben darauf weg oder sind ausserst schwach und wahrend
3—4 Wochen schwer auslbsbar; beginnen darauf leichter hervorzu-
treten, werden stark und sind 2 Monate post trauma auf der rechten,
d. h. auf der motorisch relativ schwer geschadigten Seite multipel,
auf der linken Seite lebhaft.
Rechts tritt nach ungefahr 4 Wochen Clonus in dem Fuss her-
vor, der allmahlich recht lebhaft wird. Links kein Clonus.
Babinski, Oppenheitn unsicher, eher negativ als positiv.
Die Sensibilitat ist linkerseits unmittelbar nach dem Trauma so
gut wie vollstandig aufgehoben. Leichte BerGhrungen (Pinselberiih-
rung) werden in den meisten Fallen, ebenso wie Druck, garnicht ge-
fuhlt, besonders wenn man beim Applizieren der Hand auf das Bein
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XIX. Fakritils
vorsichtig und behutsam vorgeht, so dass das Bein nicht erschfittert
oder gertittelt wird. Geschieht dies trotzdem, so erleichtert es sicht-
lich die Entstehung einer Art Empfinduug.
Schmerz- und Temperaturreize rufen gar keine Empfindungen oder
hbchstens bin und wieder ein undeutliches Berlihrungsgefiihl hervor.
Rechts wird besonders am Anfang recht bedeutende Hyperasthesie
und Hyperalgesie bemerkt. Pinselberuhrung wird dagegen mehrere
Tage garnicht geftihlt. Auch spezifische Druckempfindungen (von nicht
schmerzhaftem Charakter) konnen auf dieser Seite ausgelost werden.
Alle diese Empfindungsstorungen gehen allmahlich zurnck: Pinsel-
beruhrungen werden beiderseits empfunden, ebenso Druck; die Hyper-
iisthesie verschwindet und zwar ungefahr in demselben MaCe, wie die
Motilitat in dem hyperasthetischen Bein zuriickkehrt.
Schliesslich konnen auch die Schmerz- und die Temperaturemptin-
dung 2 Monate post trauma auf der linken Seite hervorgerufen werden,
wenngleich ausserst schwach, unvollkommen und unsicher.
Muskelsinn auf der motorisch schwer gestorten Seite teilweise
ziemlich schwer angegriffen.
Lokalisationsvermogen nicht gestbrt.
Wiihrend einer Woche Blasenlahmung. Kein Priapismus.
Von den vielen interessanten Symptomen, die dieser Fall bietet.
will ich zuerst die motorischen Stbrungen naher betrachten.
Das linke Bein war motorisch intakt, nur dass in der linken Hufte
eine innerhalb 10 Tagen vollig voriibergehende Parese konstatiert werden
konnte. Nun ist die Frage: Wie soli man diese isolierte, nur das eiue
Gelenk des Beins umfassende Stbrung auffassen und erkliiren, wahreud
die tibrigen Gelenke tadellos funktionierten?
Offenbar — und dariiber konnen wohl die Ansichten nicht geteilt
sein — muss die Ursache in einer Liision des linken Pyramidenseiteu-
stranges oder wenigsteus in einer Schadigung von dessen Funktion
gesucht werden, uud vor allem mussten wohl die Leitungsbahnen, die
den Kontakt zwisehen dem hoheren Nervensystem und den Bewegungs-
muskeln des Huftgelenks vermitteln, aftiziert gewesen sein. Aber wo-
her diese, wenn ich so sagen darf, elektive Wirkung gerade auf die
Balmeu der HiifteV
Gehen wir von der Annahme aus, dass die motorischen Bahnen
innerhalb des Pyramidenseitenstrangs ditfns gestreut um einander ver-
laufen, so konnen wir. wie mir scheint, diese Stbrung allerdings nicht
verstehen. in dem Falle batten wir eine Parese itn linken Bein finden
miisseu, aber eine Parese, an der samtliche Muskeln des Beins beteiligt
gewesen wiiren. Auch deBoecks Auffassung des Leitungsverlaufs inuer-
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Em Fall von Stichverletzung des Riickenmarks.
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lialb des Pyramidenseitenstranges kann uns keine Antwort auf unsere
Frage geben. Dieser Forscber glaubte namlich durch Tierexperimente
festgestellt zu haben, dass bei Reizungen z. B. des Halsmarks die
Starke der Reize flir die Muskeln, die in Tatigkeit treten, bestimmend
sei, und zwar in der Weise, dass sich bei schwacherer Reizung vorzugs-
weise die mehr proximal, der gereizten Stelle naher gelegenen Muskeln,
bei starkerer die entfernteren, mehr distal gelegenen kontrahieren
wtirden. Aber in diesem Falle miissten wir erwarten, dass, da die beim
Patienten vorhandene Lasion ein gewisses Hindernis fur die Leitung
im Riickenmark herbeigefiihrt hatte, zu allererst die Zehen, der Fuss
und das Knie paretisch geworden waren, nicht aber wie hier die Htifte.
Wie soil man dann die vorhandene Stoning in der linken Hiifte
verstehen?
Mir scheint, dass die Erklarung ungesucht gefunden werden kann,
darin namlich, dass die Bahnen der Hiifte — und in "Obereinstimmung
hiermit wahrscheinlich auch die Bahnen der iibrigen Gelenke — grup-
penweise zusammen innerhalb des Pyramidenseitenstranges verlaufen
und dass in diesem Falle besonders die Bahnen der Hiifte dem Ein-
fluss der Lasion ausgesetzt worden waren. Und noch ungezwungener
driingt sich uns diese Erklarung auf, wenn wir durch eine eingehende
Analyse der Symptome, die der Fall bietet, einen Einblick in den Ver-
lauf der Lasion und deren Ausbreitung innerhalb des Riickenmarks zu
gewinnen versuchen.
Die aussere Wunde befand sich ziemlich weit links von der Mittel-
linie; andererseits muss die rechte Rtickenmarkshalfte und besonders
der rechte Pyramidenseitenstrang auf irgend eine Weise schwer be-
sehiidigt gewesen sein, weil das rechte Bein unmittelbar im Anschluss
an das Trauma gelahmt wurde und wabrend einer verhaltnismassig
langen Zeit schwere motorische Stbrungen aufwies. Gleichzeitig kann
der linke Pyramidenseitenstrang, wie die Storungen in der Beweglich-
keit des linken Beins zeigen, nicht in seiner ganzen Ausdehnung, son-
dem nur teilvveise affiziert gewesen sein. Unter diesen Umstanden
und wenn wir uns das Bild des Querschnitts des Riickenmarks und
dessen Lage in dem Rtickenmarkskanal vor Augen halten, gelangen
wir zu dem Schluss, dass das Instrument von hinten und links in das
Riickenmark eindrang und nach rechts und etwas nach vorn verlief,
und dass es, ehe es die rechte Pyramidenbahn traf, entweder die hin-
teren oder hinteren innereu Teile des linken Pyramidenseitenstranges
liidierte oder in grosserem oder geringerem Abstand tangierte. Am wahr-
scheinlichsten sind die besehadigten Bahnen nicht direkt durchschnitten,
sondern nur sekundar durch die Lasion affiziert worden, weil sich die
Storung in dem Hiiftgelenk, wie gut zu verfolgen war, erst allmahlich
im Verlauf von 15—2u Stunden post trauma entwickelte.
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XIX. Fabritiub
Somit wtirden wir zu dem Schlusse kommen, dass die hinteren
Oder hinteren medialen Teile des linken Pyramidenseitenstranges in der
Hohe der Lasion funktionshemmenden Einfllissen dieser Oder jener
Art ausgesetzt werden, uud klinisch zeigt der Fall eine in verhaltnis-
massig kurzer Zeit vollstandig vorubergehende Stoning in der Bewegung
der linken Hufte. Durfen wir nun hieraus schliessen, dass die Bahnen
des Hiiftgelenks zu hinterst und medial im Pyramidenseitenstrang
verlaufen?
Ich glaube, diese Frage bejahen zu konnen und zwar erstens darum,
weil die Literatur uns mehrere ahnliche Falle bietet von — wenn ich
so sagen darf — medullarer Monoplegie, Lahmungen eines einzelnen
Gelenks, welche am besten durch die Annahme einer partiellen Lasion
innerhalb des Pyramidenseitenstranges erklart werden konnen. Und
zweitens, weil viele — und teilweise besonders sorgfaltige — experi-
mentelle Tieruntersuchungen zu demselben Resultat gefuhrt haben.
Alle diese Tatsachen habe ich in einem fruheren Aufsatz zusammen-
gefasst, auf den ich hinweise; ich beschranke mich daher hier nur auf
ein kurzes Referat desselben.
Wir finden namlich in der Literatur viele Falle, wo wir auf Grund
von Obduktionen oder durch Analyse der vorhandeneu Symptome an-
nehmen miissen, dass die hinteren inneren oder hinteren Teile des
Querschnittes des Pyramidenseitenstranges in grosserer oder kleinerer
Ausdehnung ladiert waren, und in diesem Falle sind die Bewegungen
der Hlifte und des Knies gestort oder fUr einige Zeit aufgehoben ge-
wesen, wahrend die Bewegungen des Fusses und der Zeben nebst denen
des Knies oder einfacb die Bewegungen des Fusses oder der Zeben
intakt waren. Zweitens habe ich selbst einen Fall beobachtet und in
der Literatur drei andere gefunden, wo eine Lasion des ausseren oder
vorderen ausseren Teils des Pyramidenseitenstrangquerschnitts wahr-
scheinlich gewesen war, und in diesen Fallen sind Storungen in den
Zeben und dem Fussgelenk oder in diesen Gelenken und im Knie
vorgekommen.
Und die Tierexperimente, die Woroschiloff 1874 machte, resul-
tieren u. a. darin, dass „zum ofteren die Muskeln des Fusses gelahmt
warden, wenn das aussere Drittel der Seitenstrange weggeschnitten war,
und umgekehrt beweglicb blieben, wenn das genannte Stfick erbalten
und das mittlere Drittel des Stranges verletzt gewesen. Unter diesen
Umstanden trat dagegen eine Liihmung in den Muskeln des Huftge-
lenks ein“. Flat.au und Gad fanden wiederum, dass bei Reizungen
der hinteren Teile des Seitenstrangs in dem Halsmark die hintere
Extremitiit auf derselben Seite zuerst in Bewegung kam. Sogar
de Boeck, der eine diffuse Gruppierung <ler Bahnen innerhalb des
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Ein Fall von Stichverletzung des Riickenmarks.
429
Pyramidenseitenstranges fiir wahrscheinlich halt, findet, dass es „hautig,
doch keineswegs immer gelang, von deni aussersten Rande des Seiten-
stranges aus die Muskeln des Fusses durch schwachere Strome zu er-
regen, als von anderen der Mittellinie naher gelegenen Einstichen 11 .
Auf Grund aller dieser und einiger anderer Tatsachen glaube ich Fol-
gendes iiber den Yerlauf der motorischen Bahnen innerhalb des Pyra¬
midenseitenstranges aussprechenzudlirfen: Die motorischen Bahnen
innerhalb des Pyramidenseitenstranges verlaufen nicht dif-
fus und unregelmassig um einander gestreut, sondern die
Bahnen des Beins verlaufen, wenigstens in den Hauptziigen
in dem hinteren oder inneren hintereu Teile zusammen, die
der Arme in dem ausseren oder vorderen ausseren, und inner¬
halb dieses Gebietes liegen die Bahnen fur die mehr proxi¬
mal gelegenen Korperteile mehr medial (resp. medial und
nach hinten), fiir die distaleren mehr nach vorn oder vorn
aussen, also innerhalb des Gebiets derBeine die Bahnen der
Hiifte am meisten nach hinten innen oder hinten, worauf die
des Knies und am meisten vorn aussen oder aussen die des
Fusses. Und fiir die Bahnen des Arms gilt wahrscheinlich
eine analoge Anordnung.
Stellen wir diese Resultate mit den Verhaltnissen in dem vorlie-
genden Falle zusammen, so mtissen wir zugeben, dass die tjbereinstim-
mung auffallend ist. Wir haben auch in diesem Falle eine Storung
der Beweglichkeit der Hiifte und gleichzeitig eine Funktionsstorung
am wahrscheiulichsten in den hinteren oder hinteren inneren Teilen
des Pyramidenseitenstrangs auf derselben Seite. Und demnach ist es
uns wohl auch erlaubt, diesen Fall als eine wichtige Stiitze fiir die
Richtigkeit der fruher erzielten Resultate zu registrieren.
Aber auch in anderer Hinsicht gibt uns der Fall einen Beitrag
zur Aufklarung der Gruppierung der motorischen Bahnen, einen Bei¬
trag, der in dieselbe Richtung weist wie der eben erwahnte.
Wenn wir die Wiederherstellung der Motilitat in dem anfangs
vollstandig gelahmten rechten Bein des Patienten verfolgen, finden wir
folgende Details:
Wir sehen, dass sich die ersten Bewegungen auf dieser Seite am
4. Tage in den Zehen, am 6. Tage in dem Talocruralgelenk einstellten,
am 10. und 12. Tage zeigten sich Adduktion und Abduktion in der
Hiifte und am 14. Tage deutliche Extensions- und schwache Flexions-
bewegungen in dem Knie. Aber erst am 22. Tage kann eine minimale
Flexion in der Hiifte vor sich gehen.
Nun kann diese Wiederherstellung der Motilitat auf zweierlei
Weise erklart werden.
Deutsche Zeitschrift f. Xervenheilkunde. 37 . B<1. 2S
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430
XIX. Fahkitii/s
Entweder so, dass gewisse funktionshemmende Momente, die im
Anschluss an die Lasion entstanden sind, allmahlich in Wegfall kamen,
worauf die Bahnen, die auch fruher den Kontakt zwischen dem Zentrum
und den gelahmten Teilen vermittelten, frei und funktionsfahig wurden.
Oder auf die Weise, dass sich die Leitung vom zentralen Nerven-
system neue Wege gebildet haben wUrde. Wir wisseu namlich, dass,
wenn auch der eine Pyramidenseitenstrang ganz und gar durchge-
schnitten wurde, die Motilitat doch nach langerer oder ktirzerer Zeit
in gewissem MaBe zuriickkehrt, und dies geschieht, wie Tierexperi-
mente bewiesen haben, dadurch, dass sich Impulse von seiten der in-
takten Rtickenmarkshalfte geltend zu machen beginnen.
Welche von diesen Moglichkeiten liegt in unserem Fall vor?
Die Sache ist von grosser Wichtigkeit. Sollte namlich die erste
Alternative am wahrscheinlichsten sein, so hatten wir eine neue und
schOne Bestatigung der Richtigkeit der Annahme vor uns, die eben fur
die Gruppierung der motorischen Bahnen innerhalb des Pyramiden-
seitenstranges entwickelt wurde. Die Motilitat kehrt ja in den Haupt-
ziigen in der Ordnung zuriick, die wir nach meiner Annahme zu er-
warten hatten, wenn der Pyramidenseitenstrang einer Schadigung aus-
gesetzt worden ware, die, ohne die anatomische Kontinuitat innerhalb
desselben zu unterbrechen, eine vortibergehende Funktionsunterbrechung
verursacht hatte, und wenn die hemmenden Einfliisse allmahlich und
in der Weise entfernt worden waren, dass die vorderen und vorderen
ausseren Teile zuerst und danach die mehr nach hinten gelegenen zu
funktionieren begonnen hatten.
Um Klarheit zu gewinnen, mlissen wir erstens die Art, die Be-
sehaffenheit der Motilitat, die in unserem Falle wiederkehrt, und dann
auch die Zeit, innerhalb welcher dieses geschah, untersuchen und sie
dann mit den Verhiiltnissen in den Fallen, wo eine wirkliche Total-
liision des Pyramidenseitenstranges vorlag, vergleichen.
In diesen Fallen pflegt die zurlickgewonnene Motilitat — beson-
ders handelt es sich um den Gang — eine ziemlich bestimmte, typische
— um nieht zu sagen stereotypische — Form anzunehmen, die von
Wernicke und Mann eingehender studiert und beschrieben worden
ist. Besonders sind es die Beinverkiirzer und vor allera die Kniebeuger
und die Streckmuskeln des Fusses, welche in Mitleidenschaft gezogen
werden, so dass das affizierte Beiu beim Gehen wie ein mehr oder
weniger steif'es Gan/.es mit herabbangender Fussspitze geschleppt und
gleichzeitig in einem Bogen nach aussen geschleudert wird.
Vergleichen wir die Storung bei unserem Patienten mit diesem
Bible, so linden wir, dass sie nicht damit ubereinstimmt. Am 60. Tage,
als Patient 10 Tage olme Stiitze gegangen war, war das Bein zwar
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Ein Fall von Stichverletzung dcs Riiekenmarks.
431
noch paretisch, wurde ganz unbedeutend oder, wenn Patient darauf
achtete, garnicht gesclileppt nnd wurde in einem leichten Bogen nach
aussen geflihrt. Aber man konnte deutlich merken, dass das Bein bei
jedem Schritt in dem Knie gebogen wurde, und vor allem hing der
Fuss nicht nach unten, sondern wurde in normaler Stellung gehalten.
Die Hauptstorung bestand vielraehr — ausser in der grossen Schwache
— in einer merkbaren Ataxie, die auf einer Unterbrechung der Mus-
kelsinnsbabnen beruhte.
Noch mehr als die Beschaffenheit dieser „Gemeinschaftsbewegungen“
zeigten die sogenannten „Sonderbewegungen“, dass wir es kaum mit einer
Totallasion des rechten Pyramidenseitenstrangs zu tun hatten. Forderte
man den Patienten, wenn er auf dem linken Bein stand und sich an einen
Tisch stiitzte Oder auch wenn er im Bette lag, auf, eiuzelne Bewegungen
mit dem rechten Beine auszufubren, so tat er das fast ebenso gut wie
ein Gesunder. In der Hufte konnten Flexion, Extension, Ab- und Ad-
duktion ausgeflihrt werden, obgleich die Muskelkraft deutlich herab-
gesetzt war; das Knie wurde gut gebeugt und gestreckt, und mit dem
Fusse wurden alle Arten von Bewegung offenbar ganz normal und
mit recht guter Kraft vollzogen. Dies sieht man nun nicht nach einer
Totallasion des Pyramidenseitenstrangs. Die Bewegungen in den ein-
zelnen Gelenken geschehen in diesen Fallen steif und langsam, und
daneben tritt die schon erwahnte charakteristi 3 che Lahmungoder Parese
in den Dorsalflektoren des Fusses und in den Beugern des Knies mehr
oder weniger hervor.
Und auch die Zeit, innerhalb deren sich die Motilitat zuriickbildet,
spricht entschieden gegen eine Totallasion des r. Pyramidenseitenstrangs.
Schon am 4. Tage post trauma beginnen die ersten Bewegungen in
den Zehen, und in 21 Tagen ist die Beweglichkeit in samtlichen Ge¬
lenken zurlickgekehrt, obgleich in der Hufte noch ausserst unvollstan-
dig und schwach. Erst verhaltnismassig spat — am 37. Tage — be-
ginnt Pat. sich an Kriicken fortzubewegen, aber dies beruhte ganz sicher,
wenigstens teilweise darauf, dass eine akute serose Pleuritis mit Fieber
hinzukam, die die Krafte des Patienten wesentlich herabsetzte und die
Kekonvalescenz verzogerte. Auf jeden Fall gestalten sich die Verhalt-
nisse bei einer Totallasion ganz anders.
So beriohtot v. Arx fiber einen Fall, in dem wir es wahrscheinlich
mit einer Totallasion des rechten Pyrainidensei tens trances zu tun liaben.
Im Anschluss an einen Messerstieh links in den Rfleken entstaud eine
Paraplegic. 9 Tage spiiter konnten die Zehen auf der linken Seite bewegt
werden, d. h. auf derselhen Seite, wo sich die iiusserc Wumle befand, und
4 Woclien spiiter wurde der Fuss frei uml nach Belieben bewegt, wahrend
das reclite Bein fortgesetzt vollkominen geliilimt war. „Erst nach 6 Woclien
kann das in dem Knie Hektierte, nach aussen rotierte und abduzierte rechte
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XIX. Fabritius
Bein vom Pat. adduziert werden, und 3V2 Monate post trauma, als sieh
Pat. schon einen Monat an Krtlcken etwas fortbewegte, waren in der rechten
Htifte nur Abduktion und Adduktion sowie Extension, jedoch stark be-
hiudert mdglich.“ In dem Kniegelenk ist die Extension mOglich (stark
behindert), aber koine Flexion; andere Bewegungen in dem rechten Bein,
ausser zuweilen einer minimalen Beugung der Zeben, sind nicbt mSglieh.
Das Bein wird beim Gehen stark geschleppt, wird im Kreisbogen nacli
vorne gebracht, indem die Fussspitze am Boden schleift.
In einem von Raymond mitgeteilten Falle sehen wir ebenso anfangs
Paraplegie, aber die Motilit&t in dem rechten Bein wird innerhalb 4 Ids
5 Tagen wieder hergestellt, so dass nur eine gewisse Steifbeit Obrig bleibt.
Links w&hrend 4 Wochen vollige L&hmung, bis Pat. eines Tages bemerkt,
dass das Bein zeitweise von starken Zuckungen erschOttert wird; allmahlich
kOnnen auch kleinere Bewegungen ausgeffthrt werden. Zirka *j 2 Jahr
spater ist das Gehen ohne StQtze, obgleich mit Schwierigkeit, moglieh.
Der Gang typisch residuar-hemiplegisch. Das linke Bein kann unbedeutend
flber das Bett gehoben, aber nicbt in der Luft gehalten werden, sondern
es macht grosse Oscillationen und f&llt bald zurQck.
Xolte teilt einen Fall mit, wo im Anschluss an einen Messerstich
das der Wunde entgegengesetzte Bein gelahmt wurde, wahrend das Bein
derselben Seite vollig intakt war. Erst am 31. Tage fangt in der kleineu
Zehe eine „Andeutung“ von Beweglichkeit an, am 33. Tage werden die
4. und 5. Zehen bewegt, am 36. Tage samtliche Zehen und desgleichen
in dem Fussgelenk leichte Bewegungen ausgeftlhrt; am 37. Tage leichte
Abduktion und Flexion in der Hiifte, am 40. Tage wird das Bein 30" ab-
duziert und bis aber die Mittellinie adduziert; am 42. Tage wird der beim
Sitzen herabhangende Unterschenkel, „freilich sebr mtlhsam und langsam u ,
extendiert, Pat. kann „das gestreckte Bein jedoch nicht flektieren“. Xacli
dem 45. Tage beginnt Pat. an Krttcken zu gehen, und 7 Monate post
trauma geht er am Stock Oder wendet sein linkes Bein „wie ein Am-
puticrter seine Protese“ an; „er wirft den Unterschenkel vor, wobei sicli
die rechte(V) Schulter leicht hebt. Das linke Bein wird dabei ziemlich
steif gehalten und gescbiebt das Heben der Schulter wohl nur, um ein
Schleifen dcs linken Fusses liber die Erde zu verhindern u .
Wie naan sieht, besteht in diesen Fallen und dem meinigen ein wesent-
licher Unterschied in den Erscheinungeu. Nicht nur die Beschaffenheit
der wiedergewonnenen Motilitat ist eine ganz andere, sondern auch die
Zeit, die sie brauchte, um sich zu entwickeln, ist merkbar langer. Kurz-
um, die Verhiiltnisse sowohl im Detail als im Ganzen sind in meinem
Falle derart, dass wir mit ziemlich grosser Sicherheit behaupten
diirfen, dass eine Totallasion nicht vorhanden ist. Aber andererseits
kijunen wir wohl auch fiir ausgemacht halten, dass die Storung, die
das rechte Bein des Patieuten aufvvies, nicht einfach ein Fernsymptom
war, vielmehr muss wohl eine partielle Liision vorliegen. Und am
wahrscheinlichsten ist wold, dass sie vorzugsweise die hinteren Teile,
die hintere Ilalfte oder sogar mehr umfasste. Schon die L^e der
iiusseren Wunde ziemlich weit links von der Mittellinie zusammen mit
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Ein Fall von Stichverletzung des Kiitkenmarks.
4:53
dem Umstande, dass die Pvramidenseitenbahn auf derselben Seite nicht
durchschnitten war, wie ich es frfiher zu beweisen versucht babe, lassen
uns vermuten, dass das Instrument einen ziemlich schragen Verlauf,
hauptsachlich von links nach rechts und schwach von hinteu nach vorn,
gehabt und somit vielleicht zuerst die hinteren Teile der rechten Pyra-
midenbabn getroffen babe. Weiter wurde die Motilitat in den Zehen
und dem Fussgelenk schon ausserst schnell — innerhalb einer Woche
— hergestellt und nabm auch bald fast normale Kraft und normalen
Charakter an, und desgleichen wurde die Beweglichkeit in dem Knie
in verhaltnismassig kurzer Zeit hergestellt, und nicht nur Extension,
sondern auch Flexion wurde mbglich, worauf ein grosses Gewicht
gelegt werden muss. Alle diese wiedergewonnenen Bewegungen
sprechen schon an und fur sich dafiir, dass sie durch schon fruher
sie auslbsende Bahnen vermittelt wurden und dass also der Teil des
Pyramidenseitenstrangs, in dem sie verlaufen, nur indirekt in die Lasion
hineingezogen worden war; dieses lasst sich auch mit meiner Annahme
uber die Gruppierung der Bahnen der Pyramidenseitenstrange ganz
ungezwungen verstehen: Die Lasion hat vorzugsweise die hinteren Teile
des Ruckenmarksquerschuitts getroffen und die vorderen frei gelassen,
unter anderen auch die in dem vorderen Teile des rechten Pyramiden-
seitenstranges verlaufenden Bahnen des rechten Knies und Fusses.
Dagegen ist die Wiederherstellung der Beweglichkeit in der rechten
Htifte schwerer zu erkliiren. Flexion und Extension stellen sich
3 Wochen post trauma ein, aber da diese Bewegungen auch in den
Fallen von Totalliision der Pyramidenbahn zuriickkehren, kbnnen sie
in diesem Fall ebenso gut darauf beruhen, dass die Bahnen der Htifte
innerhalb des gleichseitigen Pyramidenseitenstranges nach einer funk-
tionsunfahigen Zeit wicder zu funktionieren begannen, wie darauf, dass
eine Kompensation von seiten der gesunden Seite stattgefunden hat.
Dariiber lohnt es sich nicht zu diskutieren.
Jedenfalls kbnnen wir es wohl fur sehr wahrscheiulich halten, dass
der rechte Pyramidenseiteustrang nicht in seiner Gesamtheit durch¬
schnitten, sondern wenigstens in seinen vorderen Teilen intakt war,
wiibrend andererseits eine ziemlich schwere und eingreifende Lasion
in seinen hinteren Teilen oder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft
bedeutende Erschutterungen der Funktion dieser Bahn verursacht hatte,
und zwar nicht nur wiihrend der niichsten Zeit nach dem Trauma,
sondern auch wahrseheinlich fOr lange Zeit in der Zukunft. Wir sehen
also, dass die Motilitiit des rechten Beins, als Patient 2 Monate post
trauma das Krankenhaus verliess, Abweichuugen vom Normalen
aufwies, welclie — wenn auch nicht vom residuar-hemiplegischem
Tvpus — doch bedeuteud waren. Ausser einer noch gut merk-
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XIX. Fabritrs
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baren Schwiiche und Ataxie wollen wir vor allem gesteigerte, mul¬
tiple Patellarreflexe auf der rechten Seite, Fussklonus und eine ge-
wisse Steifheit konstatieren. Noch 4 Monate spater ist das Bein
des Morgens steif, Patient kann keine heftigen Wendungen machen:
5 Monate nach dem Trauma kann Patient „auf jede Weise gehen,
aber nicht laufen"; und ungefabr 10 Monate post trauma hinkt Patient
so unbedeutend, dass man es kaum merkt. Wir sehen auch in anderen
Fallen, wo kaum eine Totallasion vorliegen kann, ahnliche Erschei-
nungen. In einem von Reinhardt mitgeteilten Fall tritt nach einem
Messerstich links von der Mittellinie eine Lahmung der Extremitaten
der linken Seite ein, aber schon am 2. Tage ist ein Teil der Bewegungen
sowohl im Arm wie im Bein moglich; 4 Wochen post trauma geht
Patient hinkend. Links Dorsalklonus und gesteigerte Reflexe. In diesem
Falle liegt wohl kaum eine Totallasion des linken Pyramidenseiten-
stranges vor, und doch sehen wir spater ziemlich deutliche Abwei-
chungen vom Normalen, Abweichungen, die in den Hauptzugen mit
denen meines Falles ubereinstimmeu. Ebenso in einem Falle von
Albrecht, wo schon 5 Tage post trauma alle Bewegungen, obgleieh
schwach, moglich waren und Patient 16 Tage spater das Bein „un-
geniert, wie er will", bewegte. Trotzdem konnten noch 4 Jahre spater
Dorsalklonus, gesteigerte Reflexe und schwache Storungen in dem
Gauge beobachtet werden. Vielleicht wirkt eine in der Nahe der
Pyramidenbahn entstandene Narbe veraDdernd und umstimmend
auf deren Leitungsvermogen, oder Zirkulationsveranderungen oder
irgend welche sonstigen anderen Einfliisse rufen die gesteigerte Reflex-
tatigkeit hervor.
Hierrait habe ich die Analyse der raotorischen Storungen in un-
serem Falle beendigt und bin auf den Einwand bereit, dass sie viel¬
leicht zu spekulativ sei. Wir sind nicht berechtigt, wird man sagen, die
Berechnung einer Lasion in dem lebenden Riickenmark auf die Art,
wie es hier geschehen ist, zu machen. Wir miissen damit recbnen.
dass viele unberecheubare Faktoren mitspielen konnen, z. B. Zer-
reissungen, Kompression usw. und vor allem, dass Blutungen ganz
beliebige Veranderungen an Stellen hervorrufen konnen, die wir nicht
zu bestimmon vermogen.
Dieser Einwand ist berechtigt und kann durch einen einzigen Fall
nicht zuriickgewiesen werden. Alter wie ich friiher hervorzuheben ver-
suchte, stehen die Schliisse, zu denen ich durch meine Analyse ge-
langt bin, nicht in diesem einzigen Falle vereinzelt da; viele andere
Fiille sjtrechen ganz dieselbe Spraehe, und diese Resultate stimmen
mit vielen positiven Tierexperimenten zusammen. Und je mehr ich an
der Hand der in diesem und in meinem friiheren Aufsatz eutwickelteu
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Ein Fall von Stichverletzung des Riickenmarks. 435
Gesichtspunkte in das Verstandnis von Fallen traumatischer Brown-
Sequard-Lahmung einzudringen versuche, desto klarer werden diese
Falle; Erscheinungen, die sich sonst der Aufmerksamkeit entziehen
oder als Zufalligkeiten wirken wfirden, treten als notwendige und na-
tiirliche Glieder eines gesetzmassigen Ganzen hervor und das Krank-
heitsbild lasst sich besser hberblicken, leichter beherrschen.
Als Beispiele und weitere Sttttze will ich bier 3 Falle anfOhren. In einem
von Brown-Sequard mitgeteilten Falle treten motorische Storungen in
beiden Beinen im Anschluss an einen Messerstich auf, der rechts von der
Mittellinie in der HOhe des 9. bis 10. Dorsalwirbels zugefOgt wurde. Linkes
Bein total gelahmt, nur dass „on remarque quelques petits mouvements
dans les orteils“. Recbts, d. h. auf derselben Seite wie die aussere Wunde,
sind die Bewegungen in den Fussgelenken und in dem Knie nicht bloss
moglich, sondern „les mouvements sont assez Stendus 44 ; aber Pat. kann
das Bein in dem Htlftgelenk nicht beugen. 2 Tage spater bewegt Pat.
gut das rechte Bein; links beschrankt sich die Beweglichkeit nicht rnehr
auf die Zehen: „Le malade commence ii ftechir le pied sur la jambe. 44
Der Status 21 Tage post trauma zeigt, dass sich die Beweglichkeit in dem
rechten Bein von Tag zu Tag bessert; links ist die Beweglichkeit aucli
besser, aber „lorsqu’ou dit au malade de flechir la cuisse sur le bassin
il ne peut le faire — les mouvements du pied sont faciles 44 . Am 28. Tage
beugt Pat. das Bein in der Hdfte, und am 44. Tage ist die Beweglichkeit
„presqu’a l’dtat normal 14 zurhckgekehrt.
Bei der Analyse zeigt dieser Fall eine bis in Einzelheiten gehende
Ahnlichkeit mit den Verhaltnissen in meinem Falle. Die Storungen
sind nicht ganz gleich gross, also wahrscheinlich auch nicht die La-
sion in dem Riickenmark. Die ausere Wunde befindet sich rechts
von der Mittellinie, das rechte Bein zeigt in dem Hiiftgelenk schnell
vorubergehende Storungen der Beweglichkeit, Storungen, die ich schon
in meinem fruheren Aufsatze berticksichtigt habe und deswegen jetzt
unerwahnt lasse; in dem der ausseren Lasion entgegengesetzten, linken
Beine liegt eine totale Lahmung vor, nur dass in den Zehen kleine
Bewegungen merkbar sind, die meiner Theorie gemass darauf deuten,
dass der rechte Pyramidenseitenstrang in seinen vorderen Teilen funk-
tionsfahig geblieben, auch in prognostischer Hinsicht von gunstiger
Bedeutung war. Schon zwei Tage spater beginnt Patient auch den
Fuss zu beugen; darauf sind die Angaben unvollstandig, aber es geht
doch aus ihnen hervor, dass der Oberschenkel erst am 28. Tage in
der Hufte gebeugt wurde; also ein ahnlicher Riickgang der Symptome
wie in meinem Falle.
Einen andercn Fall treffen wir hoi Gilbert. Messerstich rechts von
der Mittellinie in der Hobe des 1. bis 2. Dorsalwirbels. Status am folgen-
den Tag: Linkes Bein gelahmt, aber „les orteils souls out conserves
quelques legers mouvements de flexion et d'extension 44 . Rechtes Bein veil-
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436
XIX. Fabkitius
kommen intakt. Die Krankengeschichte teilt mit, dass sich die Motilitiit
am 2., 3. und 4. Tage stetig verbessert, am 7. Tage kann Pat. „presque
soulever sa jambe“. Am 10. bis 17. Tage beginnt Pat. aufzustehen. Am
28. Tage geht Pat. an Krttcken, schleppt aber das Bein sehr stark nach.
Vergleichen wir diesen Fall mit dem Brow-Sequardschen und
meinem Fall, so finden wir, dass in alien eine analoge Lasion vor-
liegt. Die aussere Wunde und die hauptsachliche Lasion in demR&cken-
mark, besonders der ladierte Pyramidenseitenstrang, liegen je auf einer
Seite der Mittellinie. In meinem Fall ist das Bein bis zum vierten
Tage vollstiindig gelahmt, dann stellen sich schwache Bewegungen in
den Zehen ein. In dem Brown-Sequardschen Fall waren die Zehen
gar nicht gelahmt, sondern konnten sich unmittelbar nach dem
Trauma bewegen, die Motilitiit in der Hiifte der entgegengesetzten
Seite war gestort. Gilberts Patient bewegt die Zehen, das andere Bein
aber ist vollkommen intakt. Und die Restitution erfolgt- in urage-
kehrter Ordnung, bei Gilberts Patienten am frlihesten, ebenso bei
demjenigen Brown-Sequards, und am spatesten bei meinem. Die
Falle sind, wie mir scheint, so schlagend, dass man kaum mehr
verlangen kann; rnankonnte sie ineineReihe einregistrieren undordnen,
die uns eine ahnliche, aber nur gradweise verschieden grosse Zer-
stbrung des Rlickenmarksquerschnittes und als Folge derselben ver¬
schieden starke, von Gelenk zu Gelenk zunehmende Motilit&tsstb-
rungen zeigen wurde.
Der dritte Fall, den ich mitteilen will, ist dadurch gauz beson¬
ders interessant, dass die Lasion durch eine Revolverkugel hervor-
gerufen wurde, die, im Gegensatz zu den Verhaltnissen in den frtiheren
Fallen, die vorderen Teile des Rtickenmarks affizierte und hauptsach-
lieh auf sie storend einwirkte.
Der Fall ist von Hiillstrdm mitgeteilt worden und betrifft ein
15jahriges Miidchen, das am 6. Sept. 1907 durch einen Revolverschuss
verwundet wurde. Ungefahr in der Mitte der rechten Wange sieht man
eine 3 mm messende Wunde. Die Ausgangsoffnung fehlt. Die Proc. spin,
des 3. und 4. Halswirbels stark druckcmpiindlich. Die ganze linke KOrper-
hiilfte von der Clavicula abwarts anastlietiseh, die rcchte Seite empfindlich.
Linke Seite motorisch intakt, reclits gelahmt.
8. IX. Svmptome unveriindert.
9. IX. Reclite Hand und Arm fortgcsetzt vollig gelahmt; in der Htlfte
und dem Knie sind selion schwache Bewegungen rnoglich, der Fuss da-
gfgen vollstandig gelahmt. Die Sensibilitat links beginnt schwach zurdck-
zukehren.
12. IX. In dem rechten Obersehenkel sciion melir Kraft.
15. IX. Bewegt unbedeutend die Zehen des rechten Fusses.
23. JX. Die Kraft im Bein viel grosser.
oi>. IX. Setzt. sich (dme Ililfc. Kami die Riicken- und Rumpf-
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Ein Fall von StichverletzuDg des Ruckenmarks.
437
niuskeln, ebenso alle Muskeln des rechten Beines bewegen; am Arm aber
nur unbedeutende Bewegungen in dem Schultergelenk.
6 . X. Gekt ohne StQtze. Bewegungen in dem Arm- und Ellenbogen-
gelenk moglich.
7. X. Vermag schon etwas die Hand und die Finger zu bewegen. Die
Sensibilit&t links hat sich bedeutend gebessert, ist aber immer nocli
schwacher als rechts.
Pat. wurde einige Wochen spater ins chirurgische Krankenhaus zu
Helsingfors (Finnland) aufgenommen. Ein hier (von Seite zu Seite) aufge-
nommenes Rontgenbild zeigt, dass die Kugel in der HOhe des zweiten Cer-
vikalwirbels und in der Hohe des vorderen Teiles des RQckenmarkskanals
sitzt. Ob auf der linken Oder rechten Seite, ist aus dem Bild nicht zu er-
sehen, und auf einem Bilde von vorn nach hinten, welches dies entscheiden
sollte, sieht man die Kugel gar nicht, weil der Hinterkopf beschattet.
Was den Zustand der Pat. im llbrigen betrifft, war diese am 31. Dez.
1907, also ungefahr 4 Monate post trauma, so weit hergestellt, dass „der
Gang unbehindert und die Bewegungen in dem Arme beinahe normal wareu“.
Wir mussen in dem vorliegenden Falle, wie es Hallstrom tut,
annehmen, dass eine Zerreissung des Marks oder der motorischen
Bahnen nicht vorliegen kann. Dagegen spricht namlich die schnelle
und so vollstandige Restitution sowohl der motorischen wie der sen-
siblen Storungen. Hochst wahrscheinlich muss wohl vielmehr ein
Blutextravasat, Odem oder dergleichen komprimierend oder irgend wie
sonst auf das Mark und indirekt auf den Pyramidenseitenstrang in der
Hohe der Kugel storend gewirkt haben. Und das funktioushemmende
Moment muss, wie man aus der Lage der Kugel zu schliessen be-
rechtigt ist, am meisten und langsten auf die vorderen Teile des
Ruckenmarksquerschnittes, am wenigsten auf die hinteren storend ge¬
wirkt haben; und umgekehrt mQssen wohl in dem Mafie, wie das
Blut oder das Exsudat um die Kugel resorbiert wurde, zuerst die mehr
entfernten, also die hinteren, spater die vorderen Teile des Quer-
schnittes entladen und frei gemacht worden sein. 1m Anschluss hieran
entwickelt sich folgendes Kranklieitsbild: Nach einer volltsandigen
Lahmung des rechten Arms und Beins stellen sich am dritten Tage
schwache Bewegungen in der Htifte und dem Knie ein, wahrend Fuss
und Arm noch unbeweglich sind; am siebenten Tage in dem Fusse
und in den Zehen, ebenso in der Rumpfmuskulatur und den Muskeln
der Schulter, schliesslich in dem Ellenbogen, Handgelenk und zuletzt
in den Fingern. Also eine bis ins einzelne gehende Ubereinstimmung
mit dem, was wir nach meiner Annahme von der Gruppierung der
motorischen Bahnen innerhalb des Pyramidenseitenstranges zu er-
warten haben.
Diese Anordnung stimmt iibngens mit den Kenntnissen, die wir
iiber den Verlauf der Pyramidenbahnen in dem hoheren Nervensystem
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XIX. Fabritius
besitzen, gut iiberein. Wie wir wissen, sind ja nicht nur die ver-
schiedenen Korperteile, das BeiD, der Rumpf, dei Arm usw., in der
motorischen Region durch ihre respektiven Gebiete vertreten, sondern
auch innerhalb dieses Gebietes ist eine Differenzierung noch inso-
weit moglich, dass, wie es scheint, einer jeden Muskelgruppe oder
Muskelfunktion eine bestimmte Stelle entspricht. So liegt %. B. inner¬
halb des Zentrums des Armes beim Menschen das Zentrum des Dau-
mens und Zeigefingers wabrscheinlicb am tiefsten, darauf folgen nach
aufwarts die Centra fur die ubrigen Finger, dann das Zentrum der
Hand usw. gelenkweise aufwarts, so dass das Zentrum der Schulter
relativ am hochsten liegt Gehen wir von der Gehirnrinde weiter, so
kann wohl in dem Centrum semiovale eine diffuse Umlagerung der
Bahnen kaum stattgefunden haben, weil in dem hinteren Schenkel der
Capsula interna die Bahnen hinter einander in derselben Ordnung liegen,
wie sie innerhalb der motorischen Region fibereinander gelagert sind.
Und was schliesslich das Gebiet der Pyramidenkreuzung anbetriflt,
hat besonders Wallenberg betont, dass die Bahnen des Armes und
Beines hier isoliert liegen und von Lasionen isoliert getroflen werden
konnen. Warum soli man da nicht annehmen dttrfen, dass die moto¬
rischen Bahnen auch innerhalb des Rfickenmarks gruppenweise ange-
ordnet sind?
Jedenfalls scheint es mir der Mfihe wert, die Aufmerksamkeit auf
die Erscheinungen zu lenken, bei denen wir eben verweilt haben, be¬
sonders auf die Monoplegien, welche von einer partiellen Lasion des
Pyramidenseitenstranges abhangen: damit zuktinftige Beobachter auf
sie vorbereitet seien, um dann entweder meine Resultate zu widerlegen
oder zu bestatigen oder etwas Neues zu finden. Aber — und dies
muss ich auch hier wie schon in meinem frfiheren Aufsatze von neuem
betonen — nur bei akut eintretenden Zerstorungen haben wir ein
Hervortreten der Monoplegien zu erwarten, von denen hier die Rede
war. Bei langsam vor sich gehenden Zerstorungen tritt parallel mit der
Zerstorung eine Kompensation von der gesunden Seite her ein, welche
mehr oder weniger vollstandig die Erscheinungen verdeckt, die sich
bei einer akuten Lasion unzweifelhaft eingestellt hatten
Wir gehen nun zu den sensiblen Storungen des Patienten fiber.
In den Hauptzfigen entsprechen sie dem Brown-Sequardschen Krank-
heitsbilde, d. h. Hyperasthesie auf der motorisch gelahmten und eine
ziemlich vollstiindige Aniisthesie auf der anderen Seite. Die Storungen
veriinderten sich jedoch stark, worauf es sich niiher einzugehen lohnt.
Die linke Seite des Patienten, besonders das linke Bein, das ab-
gesehen von einer vollstandig voriibergehenden Parese motorisch intakt
war, war ungefiihr wiilirend der drei ersten Woclien fur alle Reize so
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Ein Fall von Stichverletzung des Riickennmrks. 4;)9
gut wie vollig gefuhllos. Darauf beginnt die Empfindlichkeit all-
mahlich zuriickzukehren, und als Patient zwei Monate post trauma
das Krankenhaus verliess, konnte er auf dieser Seite auch leichte Pinsel-
berlihrung und ebenso Druck ftthlen, den er von leichten Beriihrungen
gut unterscheiden konnte. Auch der Schmerzsinn, der anfangs vollig
vermisst wurde, wurde in geringem Grade hergestellt. Bei Nadel-
stichen behauptete Patient jedoch am Ende seines Krankenhausaufent-
haltes eine deutliche, wenn auch schwache spezifische Schmerzempfin-
dung zu haben, und Nadelspitze und -knopf konnte er unterscheiden;
aber die hervorgerufene Empfindung muss doch ziemlich schwach ge-
wesen sein, weil man sogar lange und tief stechen konnte, ohne so
viel Unbehagen zu erwecken, dass er das Bein weggezogen hatte. Mit
dem Temperatursinn verhalt es sich in den HauptzOgen wie mit dem
Schmerzsinn, doch war die wiedergewonnene Sensibilitat fur Tempe-
raturreize noch unvollkommener als die Schmerzempfindlichkeit. Ex¬
treme Temperaturen, ein Reagensglas mit heissem oder ziemlich warmem
Wasser, Eisstticke oder Athylchlorid, kalte Reagensgliiser rufen beim
Patienten spezifische, aber sehr schwache Temperaturempfindungen
hervor, und in der Tat gibt er richtig an, wann warme oder kalte
Gegenstande auf das Bein appliziert werden. Aber ftir mittelstarke
Temperaturen hat Patient offenbar das IJnterseheidungsvermogen ver-
loren, was auch aus seinem zweiten, 4—5 Monate post trauma da-
tierten Briefe hervorgeht.
Konnen diese Storungen auf der Basis unserer gegenwartigen Auf-
fassung iiber die sensiblen Leitungsbahnen verstanden werden und
wie entsprechen sie den Zerstorungen, die wir im Ruekenmark
vorfinden?
Wir wissen jetzt — oder wenigstens stelit miser Wissen gegeu-
wartig auf diesem Standpunkte —, dass die sensible, zum Zentrum
aufsteigende Leitung von jeder Stelle unseres Korpers durch zwei ver-
schiedene Bahnen oder Gruppen von Bahnen vermittelt wird, das
heisst einerseits durch die Hinterstrange auf derselben Seite, anderer-
seits durch gekreuzte Bahnen, die in dem Hinterhorn auf derselben
Seite entspringen, darauf im Verlauf von einigen Segmenten durch
die graue Substanz steigen, dabei allmiihlich nach der entgegengesetzten
Seite umbiegen, mu schliesslieh in den peripheren Toil des contra-
lateralen Seitenstrauges zu gelangen. Auf diesen Bahnen verteilen
sich die versehiedenen Hautsinneseindriieke so, dass die Sehmerz-,
Kalte- und Warmeempfindmigen — was man wolil jetzt als ausser
allem Zweifel stehend anselieu muss — ausschliesslich in den gekreuzten
Bahnen emporsteigen, wiihrend die Beriihrungs- und Druckemptin-
dungen — oder, wie man kiirzer sagen miisste, Druckempfindungen,
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44(1
XIX. Fabritii's
da die Beruhrungsempfindung nichts anderes als eine schwache Druck-
empfindung ist — sowohl auf dem einen als auf dem anderen Wege
fortgeleitet werden konnen.
In unserem Falle mussen wir wohl annehmen, dass die beiden
Leitungswege derjenigen Teile der linken Korperhalfte, die unterhalb
der Lasion lagen, wenigstens unmittelbar nacb dem Trauma unter-
brochen waren. Das rechte Bein war ja wahrend der ersten Tage
vollkommen gelahmt, unzweifelhaft darum, weil der rechte Pyramiden-
seitenstrang durch die Lasion ausser stand gesetzt worden war zu
funktionieren. Aber flir sicher konnen wir halten, dass diese Stoning
sieh nicht einzig und allein auf die Pyramidenbahn beschrankte, son-
dem auch die umgebenden Teile des rechten Seitenstranges umfasste,
also auch die lateralen Teile desselben und folglich zugleich die Teile,
wo die gekreuzten Bahnen der linken, unter der Lasion gelegenen
Korperhalfte verliefen. Nun erinnern wir uns weiter, dass die aussere
Wunde 5—6 cm links von der Mittellinie lag; das verletzende Instru¬
ment musste deswegen, ehe es den rechten Pyramidenseitenstrang traf,
erst wenigstens den rechten Hinterstrang mehr Oder weniger vollstan-
dig durchschneiden, aber wabrscheinlicb, ja fast sicher, auch den linken
schwer beschadigen. Fast sicher, dtirfen wir wohl sagen; denn der
Umstand, dass auch das linke Bein, wenn auch bloss in der HOfte,
motorisch gestort war, zeigte, dass die Lasion ihre Wirkung wenigstens
teilweise bis zum linken Pyramidenseitenstrange ausdehnte, und dieses
konnte wohl kaum moglich sein, ohne dass der linke Hinterstrang be-
schadigt wurde. Der Umfang der Zerstorung der sensiblen Leitungs¬
wege in der nachsten Zeit post trauma war folglich dieser: Beide
Hinterstrange -f- den Leitungswegen, die in dem rechten Seitenstrange
aufsteigen, funktionsunfiihig.
Diese Zerstorung miisste nach der eben erwahnten zur Zeit ghl-
tigen Auffassung iiber die sensible Leitung eine vollstandige Anasthesie
auf der linken Seite zur Folge gehabt haben. Dies war ja auch in
den Hauptziigen der Fall. Wahrend der ersten Wochen war Patient
in den meisten Fallen fiir jede Art Reize unempfindlich, alle Empfin-
dungen von der linken Seite, besonders die des linken Beins (ausser
Lageempfindungen) waren aufgehoben. Doch, in den meisten Fallen,
miissen wir betonen. Denn wir diirfen den Umstand nicht mit Still-
schweigen ubergehen, dass Patient ab und zu bei Bernhrung, Druck,
Xadelstichen usw. bemerken konnte, dass ein Reiz auf das linke Bein
ausgeiibt wurde. Auf diese interessante Tatsache werde ich spater
zurlickkommen. Vorhor werden wir bei der Wiederherstellung der
Sensibilitat der linken Seite verweilen.
Nach den drei ersten Wochen begann die Sensibilitat allmahlich
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Ein Fall von Stichverletzuug des Riickemuarks.
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zuriickzukehren, und beim Verlassen des Krankenhauses konnte Patient
Beruhrung und Druck fiihlen und unterscheiden; er behauptete auch
spezifiscbe, obgleich ausserst schwache Temperatur- und Druckempfin-
dungen zu haben.
Dies kann nun, was die Druckempfindungen betrifft, dadurcb ge-
schehen sein, dass der linke Hinterstrang, der vielleicht nicht durch-
schnitten worden, sondern nur funktionell gestort war, wieder in (3rd*
nung kam und in den Stand gesetzt wurde, Eindriicke fortzuleiten.
Dies konnen wir jedoch nicht entscheiden, wir mussen uns vielmehr
auf Vermutungen beschranken.
Dagegen konnen wir uns mit grosserer Gewissheit tiber die Mbg-
lichkeit der Restitution der contralateralen Babnen der linken Seite
aussprechen. Wie ich frtiher hervorgehoben habe, lag wabrscheinlich
nicbt eine totale Lasion des rechten Pyramidenseitenstranges, sondern
nur eine Lasion seiner hinteren Teile vor. Das recbte Bein war anfangs
vollstandig gelahmt, aber am 4. Tage begannen die Bewegungen in den
Zehen und allmablich auch in dem Fuss und Knie zuriickzukehren,
und diese Bewegungen wurden wahrscheinlich durch Bahnen in dem
rechten Pyramidenseitenstrang vermittelt, die dies auch friiher getan
batten, d. h. durch Bahnen, die allein funktionell geschadigt waren,
aber wieder funktionsfahig wurden. In Analogie hiermit durfen wir
wohl auch schliessen, dass die in dem Seitenstrang aufsteigenden zen-
tripetalen Leitungswege, besonders die mehr ventral gelegenen, wieder
leistungsfahig wurden und anfingen, Eindriicke von der linken Seite
fortzuleiten. Dies mussen wir auch besonders deshalb annehmen, weil
die Temperatur- und Schmerzempfindung, obgleich ausserst schwaeh,
moglich wurden. Wir miissen es namlich jetzt als so gut wie be-
wiesen betrachten, dass diese Empfindungen nicht auf anderen Wegen
als durch den contralateralen Seitenstrang ausgelost werden konnen;
eine Kompensation durch neue Bahnen ist nicht moglich; das haben
schon zahlreiche und sichere Falle gezeigt, wo eine Zerstbrung der in
Frage kommenden Teile von vollstandiger und dauernder contralatc-
raler Thermanalgesie begleitet waren. Dass andererseits die ausgelbsten
Empfindungen so ausserst verwischt und unklar waren, lasst sich auch
verstehen. Denn wir mussen wohl annehmen, dass die in Betraeht
kommenden contralateralen Bahnen, wenn auch funktionstiichtig nach
dem Trauma, doch bei weitem nicht normal waren. Seitens der mo-
torischen Sphare hatten wir viele von dem Normalen abweichende
Erscheinungen zu verzeichnen: gesteigerte multiple Patellarreflexe und
Fussklonus auf der rechten Seite, eine gewisse, wenn auch nicht be¬
sonders hochgradige Steifheit, welche sich u. a. nach fiinf Monaten
geltend machte, so dass Patient zwar fast uugeniert gehen, aber nicht
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442
XIX. Fabiutiis
laufen konnte. Eine analoge Veranderung konnen wir uns auch auf
dem sensiblen Gebiete vorstellen.
Wir kehren nun zu dem schon kurz erwahnten Umstande zurfick,
dass bei Priifung mit verschiedenen Reizen auch in der nachsten Zeit
nach dem Trauma, als sich links fast vollstandige Anasthesie geltend
machte, diese Reize ab und zu eine Art Empfindung beim Patienten her-
vorriefen. Ein Eingehen auf diesen Umstand hat um so mehr Interesse,
als wir dadurch Gelegenheit erhalten, eine Frage zu erortern, die schon
seit den ersten Tierexperimenten am Ruckenmark bis zum heutigen
Tage so viel Aufmerksamkeit erweckt hat und so scbwer zu erklareu
gewesen ist, die Frage namlich nach dem enormen Kompensationsver-
mogen des Ruckenmarks, dem Vermbgen, die sensiblen Storungen
zu verhtillen, obwohl die Zerstorung verhaltnismassig kolossal war.
Wir finden in der Literatur relativ wenige Falle, wo bei grossen
Lasionen eine absolute Anasthesie der einen Korperhalfte zu ver-
zeichnen ware. Schon Brown-Sequard wendet in solcben Fallen
von der Sensibilitiit der sensibel gestorten Seite Ausdriicke an, wie
„considerablement diminuee, presque annihilee, presque perdue" usw.,
und bei den meisten iibrigen Autoren begegnen wir ahnlichen Aus-
drncken. Auch in dem uns vorliegenden Falle seben wir ein ahn-
liches Verhalten.
Wie soil man dies verstehen?
Wir sahen, dass wenigstens in der ersten Zeit nach der Verletzung
beide Leitungswege der linken Seite, der linke Hinterstrang und die con-
tralateralen Bahnen in dem rechten Seitenstrang funktionsunfahig waren.
Unter diesen Umstanden miissen wir wohl die Bahnen, die tatsachlich
noch ab und zu gewisse Empfindungen auf der linken Seite vermittelten,
in den Teilen des Riickenmarksquerschnitts suchen, die nicht von der
Lasion getroffen worden waren, also vor allem in dem linken Seiten¬
strang; oder vielleicht kbnnten wir annehmen, dass einzelne Faden
unter der sonst zerstorten Bahnen der linken Korperhalfte inmitten
der zerstorten intakt geblieben und imstande waren, periphere Reize
fortzuleiten.
Diese letztere Vermutung muss wohl ohne weiteres zuruckgewiesen
werden. Denn es sind — wie oben erwiihut — zahlreiche Falle, auch
mit Sektionsbefund, bekannt, in denen eine gleich grosse Zerstorung
wie in unserem Falle vorkam und wo dieselben Symptome von seiten
der sensiblen Sphare wie in unserem Falle vorlagen. Wir konnen in
alien diesen Fallen nicht auf einen Zufall bauen, dass sich namlich
einige Bahnen vor der Zerstorung gerettet hiitten; sondern wir mtlssen
die Erklarung auderswo suchen.
So bleibt in unserem Falle nur der linke Seitenstrang iibrig. Hier
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Ein Fall von Sticliverlctzung des Kuckenmarks.
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mussen wir die Bahnen suchen, die uns eine Erklarung fur die noch
in dem iinken Bein teilweise erhaltene Empfindlichkeit geben.
Man hat sich gedacht, dass sich die Leitung kurzer Bahnen be-
diene, die so zu sagen treppenformig die Reize von Segment zu Seg¬
ment nach aufwarts leiten wurden. Aber dies ist nie bewiesen worden.
Und gegen diese Vermutung spricht in unserem Fall ein Umstand
sehr stark. Wenn Patient einen auf das linke Bein ausgeiibten Reiz
wahrnahm, so konnte er ihn richtig lokalisieren. Dies zeigt wohl
deutlich, dass die im Bewusstsein erweckten Empfindungen nicht nur
irgend eine Empfindung, sondern Empfindungen eines bestimmten, im
Raume projizierbaren Wertes waren. ' Es musste sich hier um eine
Empfindung handeln, die schon frliher erweckt werden konnte, und um
Bahnen, die auch in normalem Zustand funktioniereu.
Diese Bahnen waren hochst wahrscheinlich die seniblen, den
Muskeln und Gelenken entstammenden Bahnen, die, wie es schon das
Brown-Sequardsche Krankheitsbild erfordert, ungekreuzt aufsteigen.
Anatomisch entsprechen diesen Bahnen teils der Hinterstrang auf der-
selben Seite und — wahrscheinlich — teils die gleichfalls ungekreuzt
aufsteigende Flechsigsche Bahn (Fascialus spinocerebellaris) (Mar¬
burg, Lewandowskyu. a.). In unserem Fallewar, wie ich schon frliher
zu zeigen versucht habe, der linke Hinterstrang nach der Verletzung
wahrscheinlich ausser stand, zu funktionieren, und es bleibt uns somit
das Flechsigsche Bundel auf der Iinken Seite iibrig, in dem wir den
Leitungsweg linden konnen, durch welchen die linke, unterhalb der
Lasion gelegene Korperhalfte mit dem Zentrum in Verbindung stand.
Wie kann aber diese Bahn, die eigentlich im Dienste des Muskel-
sinns steht, Empfindungen hervorrufen, die durch Druck oder andere
Reize ausgelost werden?
Wir konnen dem Verstandnis der Frage etwas naher kommen,
wenn wir von Heads Untersuchungen ausgehen, die ich nach Alrutz
zitieren muss, da mir die Originalquellen nicht zuganglicb waren.
Head liess an seinera Iinken Arme den Ram. cut. nervi rad. und Ram.
lat. nervi musculocut. durchsehneiden und beobachtete u. a. infolge
dieses Eingrilfs folgeude Sensibilitatsstorung am radialen Teil des
Unterarms und der Hand: Reizung mit Baumwolle, Nadelspitze und
alien Arten von Wiirme und Kalte oder mit Induktionsstromen konnte
nicht wahrgenommen werden. Ebenso wurde keine Empfindung aus-
gelbst, wenn man an den Haaren zog oder wenn ein Druck gegen eine
gehobene Hautfalte ausgetibt wurde. Mit einem Wort: alle Formen
von kutaner Empfindlichkeit waren verschwunden. Dagegen wurde
jeder Druck gegen die Hautoberflache gleich empfunden und gut
lokalisiert; sogar wenn das in Frage kommende Hautgebiet mit eiuer
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XIX. Fabritius
Bleistiftspitze oder einem Stecknadelkopf beriihrt wurde, konnte die
Reizung sogleich wahrgenommen werden. Diese tiefe Sensibilitat
musste nach Head durch die zentripetalen NerveD, die in der Tiefe
zusammen mit den motorischen verlaufen, vermittelt werden. Dieser
Verlauf gilt jedoch nur von dem peripheren Teil dieser Nerven, im
Ruckenmark findet eine Umschaltung statt, ob aber diese die tiefe
Sensibilitat vermittelnden Babnen gekreuzt oder nicbt, oder sowohl
gekreuzt als ungekreuzt verlaufen, geht aus Alrutz' kurzer Mitteilung
nicbt hervor. Wir konnen uns ja denken, dass sie wenigstens teil-
weise zusammen mit den Babnen des Muskelsinns verlaufen, die in
unserem Falle auf der linken, sensibel -gestorten Seite unleugbar in-
takt waren, da Patient auch mit geschlossenen Augen jede Bewegung
in seinem linken Bein sogleich und genau angeben konnte. In dieser Weise
konnten wir vielleicht den unbedeutenden, unsichem Rest von Empfind-
lichkeit erklaren, der in unserem Fall und auch in anderen Fallen,
wo die beiden normalen Leitungswege der einen Korperhalfte durch-
schnitten waren, auf der sensibel gestorten Seite erhalten zu sein pflegt.
Aber wir konnten die Empfindlichkeit auch anders erklaren, und
unser Fall besonders gibt uns einen Fingerzeig. Wennwirdie Sensibilitat.
die unser Patient auf der linken Seite aufwies, mit Heads Beschreibung
der tiefen Sensibilitat bei sich vergleichen, ist der Unterschied auffallend.
Auch wenn die tiefen Druckbahnen im Ruckenmark bloss teilweise nur zu
einem geringen Teil zusammen mit den zentripetalen Leitungswegen des
Muskelsinns verlaufen sollten, konnten wir — scheint es mir — eine
etwas bessere und vor allem eine konstantere Empfindlichkeit der linken
Seite erwarten dtirfen. Jetzt konnte Patient nur ab und zu angeben,
ob er beriihrt wurde, und besonders tat er es, wie ich unzahlige Male
Gelegenheit hatte zu sehen, wenn die beriihrende Hand unvorsichtig auf
das Bein appliziert wurde, so dass eine Erschiitterung desselben erfolgte.
Frappant waren auch die vom Patient gegebenen Antworten: „Jetzt be-
wegen Sie das Bein“ oder „Sie schwiugen das Bein“. Es waren Bewe-
gungsempfindungen, die im Bewusstsein auftauchten. Wurde das Bein ge-
hoben, das Knie gebeugt oder das Bein anderswie bewegt, so hatte Pa¬
tient, wie erwahnt, auch mit geschlossenen Augen eine durchaus deut-
liche Vorstellung davon. Und auch bei leichter Erschiitterung des
Beins musste eine gevvisse Verschiebung in den Gelenken stattfinden;
Patient full It, dass eine Verschiebung seines Beins stattgefunden hat,
er hat es nicht selbst bewegt und er schliesst, dass es jemand auf die
eine oder andere Weise bewegt hat. Die Empfindung nimmt eine - un-
klare Form von Druck und Beriihrung an; hochst wahrscheinlich
klingen Druckempfiudungen assoziativ mit. Auch bei einem gesunden
Mensehen sind die Gelenk- und Bewegungsempfindungen nicht spezi-
ty Google
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Ein Fall von Stichverletzung des Ruckenmarks.
445
fisch, sie sind immer mit gleicbzeitigen Hautempfindungen vermischt.
Die in der Haut, die ein G-elenk umgibt, befindlichen Druckapparate
werden bei jeder Bewegung einer gewissen, mehr oder weniger starken
Reizung ausgesetzt und die entstandenen Druckempfindungen farben
und assoziieren sicb mit den Bewegungsempfindungeu. Besonders deut-
lich tritt das hervor, wenn wir z. B. einen Karbunkel, erne oberflach-
liche Wunde oder dergleichen in der Nahe eines Gelenks haben. Bei
jeder Bewegung entstehen Schmerzen. Auf diese Weise konnen die
Empfindungen der Glieder, Sehnen oder Muskeln gewissermassen die
Hautempfindungen ersetzen. Und umgekehrt dflrfen wir wohl auch
annebmen, dass die Hautempfindungen Defekte im Muskelsinn teil-
weise decken konnen. Und das Resultat bleibt das schon erwahnte
hocbgradige Kompensationsvermogen bei Lasionen des Riickenmarks.
Eine Erscheinung, bei welcher wir noch verweilen miissen, ist der
in den drei ersten Wochen nach der Yerletzung aufgehobene Beruh-
rungssinn, das beiderseitig vorkommende Unvermogen des Patienten,
Pinselbernbrungen wabrzunehmen.
Bei balbseitigen Ruckenmarkslasionen ist diese Storung scbon
friiher beobachtet worden und besonders hat Leyden unter dem Namen
relative Hyperasthesie ein Symptom beschrieben, das darin besteht,
dass bei vorhandener Hyperasthesie gleichzeitig eine Hypasthesie fur
leicbte Beriihrung vorliegt, so dass schwacbe Reize gar nicht geftihlt
werden, aber unmittelbar, nacbdem sie empfunden worden sind, einen
schmerzhaften Charakter annebmen. "Wagner und Stolper haben
in einem Fall, wo sie diese Erscheinung beobachtet haben, die taktile
Hypasthesie mit einer Zerstorung des Hinterstrangs auf derselben
Seite in Zusammenbang gebracht. Und in der Literatur finden wir
bei naherer Durchmusterung mehrere Falle relativer Hyperasthesie
(Jolly, Reinhardt, Weiss, Urban, Veit), wo mit grosster Wahr-
scheinlichkeit eine Storung in den Hinterstrangen vorliegt, und be¬
sonders ist der von Muller 1871 publizierte Fall mit Leichenbefund
bemerkenswert. Oberflachliche Beriihrung konnte garnicht wahrge-
nommen werden, dagegen aber war Patient auf der linken Seite be¬
sonders fur „intensivere Reize (Druck, Stoss, Kalte)“ empfindlich. Die
linke Ruckenmarkshalfte und der rechte Hinterstrang waren durch-
schnitten. Die aussere Wunde lag einen Zoll breit rechts von der
Mittellinie.
Dieser letzte Fall eriunert stark an unseren, ausser dass die Lasion,
wie man aus den iibrigen Symptomen zu sehliessen berechtigt ist, un-
zweifelhaft etwas grosser war. Aber auch bei unserem Patienten miissen
die beiden Hinterstrange, wenigstens wahrend der niichsten Zeit nach
der Verletzung, funktionsunfiihig gewesen sein, und der Fall spricht
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkuude. 37 . Bd. *29
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446
XIX. Fabkitics
also wie auch der Mtillersche daffir, dass eine Storung oder Zersto-
rung der Hinterstrange einen Verlust des Vermogens, leichte Berfih-
rungen wahrzunehmen, wenigstens fttr eine Zeit lang herbeifuhrt
Frfiher oder spater sehen wir namlich beinahe in alien Fallen, dass die
Storung kompensiert wird, und dies muss wobl offenbar dadnrch ge-
schehen, dass andere Bahnen, d. h. die kontralateralen, sich allmablich
schwachen Reizen anpassen, denn eine Wiederherstellung der Leitung
in den Hinterstrangen hat sicher in den meisten Fallen nicht statt-
gefunden, sie sind definitiv durchschnitten. Eine solche Dbung der
Empfindlichkeit ist ja fibrigens nicht unwahrscheinlich, sondern sie
hat Entsprechungen auf mehreren anderen Gebieten. Blinde konnen
ja z. B. die Empfindlichkeit in der Fingerhaut bis zu einem unglaub-
lichen, weit fiber das Normale gehenden Grade ausbilden.
Dass die Hinterstrange Leitungswege ffir schwachen Druck (Be-
ruhrung) sind, ist eine noch nicht allgemein anerkannte Sache. Zwar
enthalt ja schon Schiffs bekannte Lehre von der sensiblen Leitung
diese Annahme, aber auch andere Ansichten sind ganz vor kurzem
ausgesprochen worden. So hat Petren die Vermutung geiiussert, dass
der Drucksinn der tieferen Teile zusammen mit dem Muskelsinn in
den Hinterstrangen aufsteige, wahrend die Druckempfindungen der
Haut zusammen mit den fibrigen Hautsinnseindrncken in dem gekreuzten
Seitenstrang fortgeleitet werde. Oppenheim scheint in der letzten
Auflage (190$) seines bekannten Lehrbucbs der Krankheiten des Ner-
vensystems keine bestimmte Ansicht zu vertreten. Kurzum, die Frage
scheint ungelost zu sein.
Es scheint daher geboten, darauf hinzuweisen, dass unser vor-
liegender Fall ebenso wie die eben erwahnten Falle von relativer Hyper-
asthesie entschieden ffir die Richtigkeit der alten Schiffschen Lehre
sprechen. Und ich habe in einem grosseren Aufsatze auch mehrere
andere Tatsachen zusammengefasst, die, wie mir scheint, ganz unzweifel-
haft und tiberzeugend die Hinterstrage als die Leitungswege ffir alle
Arten von Druckreizen, fur starke wie schwache, bezeichnen. Ich will
hier auf den sorgfaltig untersuchten Hennebergschen Fall hinweisen,
in dem ein Tumor den linken Seitenstrang vollstandig zerstort hatte,
wahrend die rechte Rfickenmarkshalfte und die beiden Hinterstrange
intakt waren. Ein genauer, 10 Tage vor dem Tode aufgenommener
Seusibilitiitsstatus unterrichtet uns davon, dass „Pinselberflhrungen
iiberall empfunden werden. Bertihrung mit dem Pinsel und mit dem
Pinselstiel wird gut untersehieden“. Auf der rechten Seite, deren
kontralaterale Bahnen in dem linken Seitenstrang also ganz und gar
zerstort waren (Schmerz- und Temperaturempfindungen auf der rechten
Seite waren gleichfalls aufgehoben), leitete folglich der Hinterstrang
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Ein Fall von Stichverletzung des Riickenmarks.
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alle taktilen Reize, Beriihrung und Druck, fort. Aber einen Einwand
kann man macben. Eben erwahnte icb, wie sich in Fallen, wo die
Hinterstrange durchschnitten sind, die anfangs bestebende taktile Hyp-
astbesie allmahlicb zurfickbildet und zwar wahrscheinlich dadurcb, dass
andere Babnen (die kreuzenden) sich leicbten Reizen anpassen. In
Hennebergs Fall konnen wir uns denken, dass der rechte Hinter-
strang im Gegenteil allmahlicb wabrend des Wachstums des Tumors
die Rolle der in dem linken Seitenstrang zerstorten Bahnen fiber-
nommen babe, und dass das in Hennebergs Fall bestehende Leitungs-
vermogen der Hinterstrange fur leichte Beriihrung eine durch die Um-
stande hervorgerufene pathologische Abweichung vom Normalen sei. Aber
dieser Annabme konnen wir mehrere Falle von Verletzungen des
Riickenmarks entgegenstellen. Ich hatte Gelegenheit, einen Fall zu
beobachten — und in von Piltz, J. Hoffmann, Vucetic, Rein¬
hardt und Albrecht mitgeteilten Fallen liegen analoge Verhaltnisse
vor —, wo nach einem Messerstich links vom Proc. spin, des 4. Cer-
vikalwirbels eine 6—8 Wochen bestehende, aber vollkommen vor-
iibergehende linksseitige motoriscbe Storung nebst einer 8 Monate
spater nocb bestehenden vollstandigen Thermanalgesie rechts eintrat.
Diese Symptome berechtigen uns zu behaupten, dass eine verhaltnis-
massig oberflacbliche Lasion der linken Rfickenmarkshalfte vorlag, und
sicber konnen wir behaupten, dass die rechte Halfte des Riickenmarks
in der Hohe der Lasion und auch der Hinterstrang auf dieser Seite
intakt waren. Die bestehende Thermanalgesie der rechten Seite zeigt
wieder, dass die contralateralen Bahnen dieser Seite durch die Lasion
durchschnitten wurden; die rechte Seite verfugte also bloss fiber Lei-
tungswege in dem Hinterstrang. Und Patient konnte beiderseits und
ganz ebenso gut wie ein Gesunder Pinselberiihrung und Druck em-
pfinden und sie von einander unterscheiden. Wir haben also die Be-
weiskette geschlossen: Der Hinterstrang wird durchschnitten und Patient
verliert das Verinogen, leichte Beriihrung auf dieser Seite zu perzi-
pieren; der Hinterstrang bleibt erhalten und der contralaterale Leitungs-
weg wird durchschnitten oder durch einen Tumor zerstort. Schmerz-
und Temperaturempfindung verschwinden auf der einen Seite, aber
Beriihrung und Druck werden wie friiher fiberall wahrgenommen und
konnen unterschieden werden.
So bleibt schliesslich noch eine Erscheinung der sensiblen Sphare
iibrig, die auch in unserem Falle hervortritt, die Hyperasthesie.
Das rechte Bein und der untere Teil des Bauches auf der rechten
Seite ungefahr bis zur Nabelhohe waren hyperasthetisch: Nadelstiche
riefen lebhaften Schmerz hervor, und bei Druck oder Kneifen hatte
Patient zwar erst eine deutliche Druckempfindung, aber bei Steigerung
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XIX. Fabbitius
des Reizes nahm die Empfindung ziemlich bald einen schmerzbaften
Charakter an, was besonders gut beim Yergleich mit der Sensibilitat
an gesunden Stellen (Anne, Gesicht) hervortrat. Diese S to rung beginnt
sich allmahlich zuriickzubilden, und die Besserung geht Hand in Hand
mit der Besserung der Motilitat. Einen Monat nach der Verletzung,
als die Bewegungen samtlicher Glieder des recbten Beins schon, ob-
gleich noch schwach und unvollkommen, zurtickgekehrt waren, ist in
der Krankengeschichte verzeichnet: Hyperasthesie reehts fortgesetzt,
obgleich schwach, nachweisbar. 6 Wochen post trauma keine Hyper¬
asthesie.
Wie soil man die Hyperasthesie erklaren?
Ich kann hier nicht auf die zur Erklarung dieser Erscbeinung
aufgestellten Theorien eingehen. Eine ziemlich vollstandige Zusammen-
stellung derselben finden wir z. B. bei Henneberg, auf dessen Auf-
satz ich verweise. Anstatt dessen benutze ich die Gelegenheit, um
eine Theorie vorzulegen, die ich liber die Anordnung der sensiblen
Leitung im Ruckenmark und der Hyperasthesie aufgestellt habe.
Ich bin von der Auffassung ausgegangen, in welcher die moderne
Rtickenmarksforschung resultiert. Ich habe also angenommen, dass
von den verschiedenen Sinnesempfindungen, die durch unsere Haut
ausgelost werden, die Schmerz-, Warme- und Kalteempfindung einzig
und allein durch gekreuzt, im contralateralen Seitenstrange aufsteigende
Bahnen fortgeleitet werden, wahrend die Druckempfindungen sowohl
durch den Hinterstrang derselben Seite wie durch Bahnen, die zu-
sammen mit den Schmerz- und Temperaturbahnen verlaufen, auslos-
bar sind.
Weswegen hat die Natur diese Anordnung getroffen und vor
allem: Was kann kann die Aufgabe, der Zweck der doppelten Druck-
bahnen sein?
Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, habe ich verschie-
dene in der Literatur vorhandene Falle durchmustert, und zwar einer-
seits solche, wo nur der Hinterstrang funktioniert, andererseits solche,
wo dies die contralaterale Beruhrungsbahn tut. Aber irgend ein Unter-
schied in der Funktion der beiden Bahnen konnte auf diesem Wege
nicht gefunden werden.
Da hatte ich Gelegenheit, einen Fall von Stichverletzung des Rticken-
inarks zu beobachten, den ich in einein anderen Aufsatze vollstandig
referiert und auch hier etwas beriihrt habe. Es handelte sich um
einen Patienten, bei dem die Temperatur- und Sehmerzbahnen der rechten
Seite und also auch die contralateralen Beruhruugsbahnen dieser Seite
vollstiindig durchschnitten waren, so dass noch 8 Monate spater jede
Schmerz- und Temperaturempfiudung auf der rechten Seite aufgehoben
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Ein Fall von Stichverletzung des Riickenmarks.
449
war. Bertthrte man Patient leicht, fiihlte er es augenblicklich und
gut; wurde die Beriihrung zu immer starkerem Druck gesteigert, so
gab Patient ganz richtig die Art und Intensitat des Reizes an, aber
das, was seine Empfindungen von denjenigen eines Gesunden unter-
schied, war die totale Abwesenheit aller Arten von Gefuhlsalteration;
das Unbehagen, die Unlust, die dem Auftreten des Schmerzes voraus-
gebt, konnte gamicbt konstatiert werden; man konnte mit der Faust
einen Druck gegen das rechte Bein ausiiben, ohne dass Patient eine
Miene verzog oder versucht hatte, das Bein wegzuziehen; er hatte nur
die Empfindung eines starken Drucks. Die Gefiihlsbetonung, der Ge-
fiihlston, der unsere Empfindungen mehr oder weniger deutlich be-
gleitet, wurde vermisst, und dies, scheint mir, gibt uns die Moglich-
keit, die Bedeutung der contralateralen Bahnen und die Aufgabe der
beiden Druckbahnen zu verstehen.
Die zentripetalen Bahnen des Riickenmarks sind in zwei grossen
Hauptgruppen angeordnet. Einerseits haben wir die den spinalen
Ganglien entstammenden direkten Leitungswege in den Hinterstrangen,
andererseits die sekundaren, in dem Hinterhorn entspringenden und in
dem entgegengesetzten Seitenstrange aufsteigenden Bahnen. Die Auf¬
gabe der ersten ist, alle Druckreize von der leisesten Berlihrung bis
zum starksten Druck fortzuleiten, und sie tun es, wenn ich so sagen
darf, ohne diesen Reiz zu verwischen; sie zeigen dem Bewusstsein die
objektive Seite des Reizes, dessen Qualitat und Intensitat an, aber
nicht die subjektive Seite: die BeschafFenheit dieser Einwirkung auf
unseren Korper. Erst wenn die contralateralen Bahnen in Tatigkeit
treten, verstehen wir diese Seite der Erscheinung; wir beginnen Un¬
lust, Unbehagen zu fiihlen, bis der Schmerz hervortritt, um uns zur
Reaktion gegen den drohenden Eingriff zu zwingen. Kurzum, die Lei-
tung in den contralateralen Bahnen bildet die physische Unterlage fur
das Gefuhlselement unserer Hautempfindungen.
Von diesem Standpunkte aus miissen wir uns vorstellen, dass unsere
durch mechanische Reize von derHaut vermittelten Sinnesempfindungen
durch eine gleichzeitige Einwirkung und durch eine Zusammenwir-
kung der Reizung in den beiden Bahnen entstehen. Bei leichter Be-
ruhrung, z. B. wenn wir mit der Hand einen Gegenstand so zu sagen
objektiv untersuchen wollen, sind es vor allem die Bahnen der Hinter-
strange, die in Anspruch genommen werden, natiirlich ausser den
„Muskelsinnsbahnen“, die die Stellung und die Bewegungen unserer
Finger vor dem Bewusstsein projizieren. Bei zunehmender Starke des
Reizes nimmt auch die Leitung in den contralateralen Bahnen — „den
Gefuhlsbahnen 11 , wie ich sie neunen ruochte — immermehr zu, die Em-
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450
XIX. Fabrjtius
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pfindung wird immer mehr druckend und peinigend und das Subjektive
in der Empfindung beginnt zu dominieren.
Auch unter den Symptomen, die unser Patient bot, war eitie
Erscheinung, die mir der jetzt angefOhrten Annabme zuzustimmen
scheint. Ich bemerkte, dass Patient wahrend der ersten Wochen
nach der Verletzung an seinem hyperasthetischen rechten Bein nur
schwierig Druck und Kneifen unterscheiden konnte. An gesunden
Korperstellen geschah es dagegen prompt. Die Ursache konnten
wir vielleicht darin suchen, dass die Reize von der hyperasthetischen
Seite nur durch die kontralateralen Babnen fortgeleitet wurden. Patient
hatte deshalb eine mehr oder weniger stark gefuhlsbetonte Druckem-
pfindung, aber die exakte Bedeutung des Reizes konnte er nicbt an-
geben, weil durch die Lasion der Hinterstrange die notigen diesbezug-
lichen Nachrichten nicht zum Gehirn befordert werden konnten.
Aber wir kehren zur Frage nach der Hyperasthesie zurQck.
Hyperasthesie nennen wir in Ubereinstimmung mit den Annahmen
iiber die Leitungsverhaltnisse den Zustand, wo die Gefuhlsbetonung
einer erweckten Empfindung abnorm stark ausfallt, und die anatomisch-
physiologische Unterlage mussen wir in einer so oder so entstandenen
unproportionierten Steigerung des Reizungszustandes suchen, die in den
contralateralen Bahnen von dem hyperasthetischen Hautgebiete aus-
gelost wird.
Durch eine eingehende Analyse von 81 Fallen glaube ich nach-
gewiesen zu haben, dass die Hyperasthesie dann auftritt, wenn eine
Lasion, z. B. ein Messerstich, eine anfallsweise verlaufende Krankheit,
eine Blutung, eine Riickgratfraktur oder -luxation usw. plotzlich die
Kontinuitiit der einen Riickenmarkshalfte unterbricbt, und besonders
in dem Fall, dass der Pyramidenseitenstrang und seine nacbste Um-
gebung liidiert wurden. Es tritt namlich ein ganz auffallender Par-
allelismus zwischen den motorischen Strangen und der Hyperasthesie
auf; liegt, eine akute einseitige Totallahmung im Anschluss an eine
Lasion von der oben aufgezahlten Art vor, so haben wir auch sicher
Hyperasthesie auf dieser Seite; ist die Lahmung partiell oder ausserst
schnell voriibergehend, so konnen wir in der Regel keine Hyperasthesie
erwarten, doch gil)t es hier eine wichtige Ausnahme. Es scheint, als
ob die Hyperasthesie sich immer beim Eintritt einer Lahmung des
Hfiftgelenks einstellte, sei es, dass diese Hiiftlahmung allein oder als
Teilsymptom einer Totallahmung besteht, wogegen in Fallen, wo eine
Stbrung des Arms, des Fusses oder Knies oder nur eines dieser Teile
vorliegt, die Hyperasthesie vermisst wird. Dieses habe ich in Uber-
einstimmung mit meiner friiher entwickelten Auffassung iiber die Grup-
pierung der motorischen Bahnen so gedeutet, dass. wenn die hintersten
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Ein Fall von Stichverletzung des Ruckenmarks.
451
Teile des Pyramidenseitenstranges oder seine nachste Umgebung durch-
schnitten warden, dann die Hyperasthesie eintritt. Diese Stelle ist
auch durch yiele sorgfaltige Tierexperimente als diejenige des ROcken-
marksquersclmittes bezeichnet worden, deren Zerstorung Hyperasthesie
in den tiefer gelegenen Teilen verursacht (Woroschiloff, Koch und
besonders Martinotti).
Den Effekt dieser Leitungsunterbrechung innerhalb des Riieken-
marks mochte ich so erklaren, dass durch denselben die unter der
Lasion liegenden Zellen plotzlich aus ihrem Zusammenbang mit dem
zentralen Nervensystem herausgerissen werden. Ihre Wirkungsart,
ihre Reaktion auf Reize, fur die sie noch zuganglich sind, verandert
sich hierdurch so, dass in den entsprecbenden zellulifugalen Bahnen
abnorm starke Reizungen hervorgerufen werden. Und auf diese Weise
entsteht auch in den im Hinterborn liegenden Zellen, aus welchen die
Temperatur- und Schmerzempfindung auslosenden Bahnen entspringen,
um in dem contralateralen Seitenstrang aufzusteigen, ein unproportio-
niert starker Reizungszustand, und der Gefiihlston der ausgelosten Em-
pfindungen wird abnorm stark: es entsteht Hyperasthesie.
Von dieser Auffassung ausgehend konnen wir die Hyperasthesie
oder ihre Abwesenheit in fast alien 81 Fallen, die ich analysiert habe,
verstehen und erklaren. Wo sie vermisst wird, liegt eine partielle
Lasion der Pyramidenbahn vor, oder die Angaben beziehen sich auf
eine so spate Zeit nach dem Trauma, dass die Hyperasthesie sich schon
zurfickgebildet hat, oder die Zerstorung des Riickenmarksquerschnittes
ist langsam vor sich gegangen. Dass wir in den beiden letztgenannten
Fallen keine Hyperasthesie zu erwarten haben, ist nur die Konsequenz
der gemachten Annahme. Denn wenn einmal eine Veranderung der sen-
siblen Zellen, aus denen die contralateralen Bahnen entspringen, die
Ursache der Hyperasthesie ist, so ist es vollig naturlich, dass die
Zellen allmahlich zu Verhaltnissen zurfickzukehren bestrebt sind, die
mehr mit dem Normalen iibereinstimmen. Die Hyperasthesie muss
abuehmen oder ganz und gar verschwinden. Dieses trifft auch in den
meisten Fallen zu; die Falle, in denen sie Jahre und Monate bleibt,
sind gezahlt, und in dem Falle ist ihre Intensitat nur ein Bruchteil
der ursprunglichen.
Und wenn die Zerstorung des Querschnittes langsam vor sich
geht, haben wir keinen Grund Hyperasthesie zu erwarten. Wir nehmen
z. B. den Hennebergschen gut beobachteten Fall. Hier hatte, wie
schon friiher erwiihnt, ein Tumor den linken Seitenstrang vollstandig
(auch die Pyramidenbahn mit den angrenzenden Teilen) zerstort. Und
Henneberg schreibt: „Unser Fall wiirde somit zu dem Schluss be-
rechtigen, dass eine isolierte Durchschneidung des Seitenstrangs beim
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452
XIX. Fabritius
Menschen wohl die Schmerz- und Temperaturempfindung auf der gegen-
uberliegenden Seite aufhebt, nicht aber Hyperasthesie auf der Seite
der Lahmung erzeugt." Aber Henneberg gebt Ton einer unrich-
tigen Pramisse aus. Er dlirfte gar nicht von einer „Durchschneidung
des Seitenstrangs“ sprechen, weil nicht eine solche, sondern eine Zer¬
storung durch einen Tumor vorlag. Im Gegenteil mttssten wir auf
Grund der Kenntnisse, die wir liber den Effekt einer Stichverletzung
vom selben Umfange wie die Lasion in Hennebergs Fall besitzen,
folgendermassen sagen konnen: Wenn die Zerstorung mit einem Messer
erfolgt ware, so hatten wir sicher Hyperasthesie konstatieren konnen;
nun erfolgte sie aber durch einen Tumor, und die Hyperasthesie wurde
vermisst; in dem ersten Falle trat die Zerstorung plotzlich ein, in dem
letzteren'langsam; das ist der Unterschied. Die unter der Lasion ge-
legenen Zellen hatten bei Hennebergs Patient Zeit und Gelegen-
heit, sich allmahlich den veranderten Verhaltnissen anzupassen und
deshalb blieb die Hyperasthesie aus. Weswegen sollte nicht auf dem
sensiblen Gebiet ebenso gut eine Ausgleichung stattfinden wie auf
dem motorischen ? Eine Woche vor dem Tode bewegte Patient, wenn
auch mangelhaft, noch beide Arme und das Bein der linken Seite,
wo der Pyramidenseitenstrang ganz sicher schon zerstort war; ja sogar
einen Tag vor dem Tode konnte Patient, obgleich schon elend, den
linken Arm in dem Ellenbogen beugen; die Funktion des Triceps ist
„leidlich erhalten", die Extensoren und Flexoren der Finger sind
schwach; in dem Bein werden die Bewegungen mit sehr „herab-
gesetzter Kraft“ ausgefiihrt. Also ein recht bedeutender Rest der
Motilitat, obgleich die Muskelkraft herabgesetzt ist; aber mehr
konnte man kaum von dem zyanotischen und rochelnden Patienten
erwarten. Eine vollstandige Lahmung lag wahrend der ganzen
Krankheitszeit uberhaupt nicht vor, die Kompensation ist gleichzeitig
mit der Zerstorung vor sich gegangen. Und eine gleiche Kompen¬
sation, ein Streben, den Folgen des wachsenden Tumors entgegenzu-
wirken, diirfen wir auch innerhalb der sensiblen Sphare erwarten.
Wir kommen nun zu unserem Fall zurtick. Eine ziemlich starke
Hyperasthesie konnte anfangs an dem vollkommen gelahmten rechten
Beine bemerkt werden; noch als die Motilitat in samtlichen Segmenten
des Beines schon, obgleich schwach und rudimentar zuruckgekehrt
war, konnte eine leichte Hyperasthesie nachgewiesen werden. Dies
liisst sich leicht verstehen. Wir sahen schon friiher bei der Analyse
des Falles, dass hdchst wahrscheinlich die hintersten Teile des rechten
Pyramidenseitenstranges von der Lasion getroffen waren, also auch
wenigstens teilweise das Gebiet, dessen Zerstorung Hyperasthesie mit sich
bringt. Und wenn, wie wir im Vorhergehenden anseinandergesetzt
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Ein Fall von Stichverletzung des Ruckenmarks. 453
haben, die Wiederherstellung der Lasion in dem Mark hauptsachlich
von vom nach hinten von den mehr ventral liegenden, von der Wunde
relativ entlegenen Teilen zu den mehr dorsalen erfolgte, so verstehen
wir auch, dass die Hyperasthesie linger als die motorischen Storungen
dauerte, und dass sie z. B. noch vorhanden sein musste, als Patient
die Zehen, den Fuss und das Knie, nicht aber die Hlifte bewegen
konnte. Dass die Hyperasthesie, wenn auch ziemlich stark, nicht von
derselben Intensitat war wie in einigen in der Literatur mitgeteilten
Fallen, lasst sich durch die verhaltnismassig nicht zu grosse Lasion
erklaren, die ausser den vorderen Teilen des Pyramidenseitenstranges
auch wahrscheinlich die medialen Teile und das anliegende Gebiet
intakt liess.
Weshalb bemerken wir aber auf der linken Seite keine Hyper¬
asthesie, wo die Beweglichkeit der Hiifte wahrend der ersten Zeit
nach der Verletzung gestort war? Auch hier dtirfte das Hyperasthesie
auslosende Gebiet wenigstens funktionell gestort gewesen sein. Die
Erklarung ist die, dass die Leitung der contralateralen Bahnen unter-
brochen war, eine eventuell vorhandene Hyperasthesie konnte nicht
zum Zentrum fortgeleitet werden.
Literatnr.
1) Albrecht, Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1887. Bd. 20.
2) v. Arx, Korrespondenzbl. f. schw. Arzte. 1898.
3) Brown-S£quard, Journal de Physiol. 1S03—1865.
4) de Boeck, Arch. f. Anat. u. Phys. Phys. Abt. 1889.
5) Fabritius, Studien liber die sensible Leitung im menschliehen Rucken-
mark auf Grund klinischer und pathologisch-anatomischer Tatsachen. Arbeiten
aus dem pathologischen Institut der Universitat Helsingfors 1908. Bd. 2, H. 1.
Kargers Verlag. Berlin.
6) Derselbe, Uber die Gruppierung der motorischen Bahnen innerhalb
des Pyramidenseitenstrangs. Ebenda.
7) Flatau und Gad, Neurol. Zentralbl. 1897.
8) Gilbert, Arch, de Neurologie. 1882.
9) Head, Brain 1905—1906. Zitiert nach Alrutz, Uppsala Lakareforening
forhandl. Bd. XIII. Nr. 4.
10) Henneberg, Arch. f. Psychiatrie. Bd. 33.
11) Hallstrum, Duodecim 1907.
12) Hoffmann, J., Deutsches Arch. f. klin. Med. 1SS0. Bd. 30.
13) Jolly, Arch. f. Psychiatrie. Bd. 33.
14) Koch, Virchows Arch. Bd. 73.
15) Lewandowsky, M., Untersuchungcn liber die Leitungsbahnen des
Truncus cerebri und ihreu Zusammenhaug mit denen der Medulla spin, und des
Cortex cerebri. Jena 1904.
10) Derselbe, Die Funktionen des zentralen Nervensystems. Jena 1907.
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454 XIX. Fabrjtius, Ein Fall von Stichverletzung des Ruckenmarks.
17) Leyden, Klinik der Ruckenmarkskrankheiten.
18) Marburg, Arch. f. Anat. und Physiol. 1904. Supplement.
19) Martinotti, Arch. f. Anat. und Phvs., Phys. Abt. 18,S9.
20) Muller, W., Beitrage zur pathologischen Anatomic und Physiologic
des menschlichen Ruckenmarks. Festschrift 1871.
21) Nolte, Inaug.-Diss. Bonn 1887.
22) Petrdn, Skandin. Arch. f. Physiologie. Bd. 13. 1902.
23) Piltz, Arch. f. Psych. 1906.
24) Raymond, Lemons sur les maladies du svsteme nerveux. 1896.
25) Reinhardt, Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1898. Bd. 47.
26) Urban, Deutsche med. Wochenschr. 1S98.
27) Wagner u. Stolper, Deutsche Chirurgie. 189S. Bd. 11.
28) Wallenberg, zitiert nach Bruns, Die Geschwiilste des Nervensystem*.
1901.
29) Weiss, Arch. f. klin. Chir. Bd. 21.
30) Woroschiloff, Ber. d. Ges. d. Wissensch. z. Leipzig 1S74.
31) Vix, Korrespondenzblatt der arztlichen Vereine im Rheinland usw.
1874. Nr. 14.
32) Vucetic, Wien, allgem. Zeitung 1S92. Bd. 37.
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XX.
fiber Diagnose der Zirbeldrtisentumoren.
Von
Prof. Dr. L. y. Frankl-Hochwart.
(Mit 2 Abbildungeb.)
Ubersicht: 5 1 ' 2 j^briger Knabe.
Vater und 2 Vatersbrtlder Kieraenspalte; bei 2 Gescbwistern kon-
genitale Anomalien. Ab 3. Lebensjahr ungewfihnliches Lfingenwachstum,
geistige Frflhreife. Zirka 5 Monate vor dem Tod Strabismus, spater pro-
gressiv fortschreitende Augenmuskellahmung, Entwicklung von Stauungs-
papille, beftiger Kopfschmerz. Zirka 4 Wochen vor dem Tod sehr starkes
Wachstura des Penis, starke Erektionen, Behaarung des Genitale, des
Schienbeins. Die Stimme wurde auffallend tief. — Interkurrierende
Scarlatina. Exitus.
Diagnose: Tumor cerebri, die Zirbeldrfise zerstorend.
Obduktion: Teratom der Zirbeldrfise.
Am 13. Januar wurde mir von Herrn Primarius Dr. Hanke ein
Fall*) zur Untersuchung zugewiesen, bei dem der Verdacht auf Hypo-
physentumor bestand.
5V2J a hriger Knabe.
Anamnese: Der Vater hat eine kleine Kiemenspalte vor dem rcchten
Ohr; beide BrQder desselben desgleiclien, die einzige Schwester des Vaters
hat keinerlei Anomalien. Eine iiltere verstorbene Schwester des Kindes
hatte ein H&mangiom an der reehten Scliamlippe; ein jfingerer Bruder
einen Naevus am reehten Unterschenkel.
Bei der Geburt des Kindes niclits Besonderes. Im 7. Monal Pertussis,
im 2. Jahr Kehlkopfdiphtherie; bis zum 4. Jahr skrophuldse Drfisen. Im
3. Lebensjahr begann das Kind plbtzlich auffallend zu wachsen und hatte
mit 5 Jahren die Grosse einen 7jahrigen Kindes erreicht. Urn diese Zeit
fiel die ungewdhuliche geistige Entwicklung auf: das Kind beschaftigte
sich hauptsachlioh mit Fragen fiber die Unsterbliclikeit und fiber das Leben
nach dem Tode, ohne dass es von der Umgebung zu solchen Gedanken
angeregt worden war. Es war von ungewbhnlicher Gutherzigkeit; eines
Tages fragte es: „\Vie komrnt es, dass icli so glficklich bin, wenn ich
anderen etwas schenke?” Um diese Zeit wurde das Kind auffallend dicker.
*) Der Fall wurde von mir in der Diskussion gelegentlich eines Vortrages
von v. Eiselsberg in der Gesellschaft der Arzte am 19. II. 1909 erwiilint (siehe
Wien. klin. Woehcnschr. 19()9. S. 2^7); vergl. aucb den Vortrag in der Gesell¬
schaft der Nerveniirzte. Wien, 18. IX. 1909.
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456
XX. v. Frankt.-Hochwart
Im August 1908 machte sich Schielen geltend — ein Zustand, der immer
mehr zunahm; direkte Augenmuskellahmungen waren im Dezember 1908
noch nicht konstatierbar (Klinik Fuchs). Mitte Dezember Kopfschmerz,
Schlafsucht, permanentes Gahnen, kein Erbrechen; am 28. Dezember Fieber,
Erbrechen, Angina, Scarlatina. Am 3. Januar 1909 fieberfrei, doch immer
schlafsftchtig und apatbisch. Seit 9. Januar Zunahme des Kopfschmerzes.
Die Aufwftrtsroller der Augen versagten, der reckte Abducens wurde
paretisch, am 12. Januar Parese beider Abducentes, Incontinenz-
erscheinungen.
Ab Anfang Dezember 1908 wurde auffallendes Wachstum des Penis
von dem ausserordentlich aufmerksam beobachtenden Hausarzte vermerkt.
Rascb kam es zum Auftreten starker Genitalhaare, sowie kleiner Haare
an den Schienbeinen; oft wurden sebr deutliche Erektionen konstatiert.
Die Stimme wurde auffallend tief. Urinmenge 700 g. Appetit ziemlich
gut, docb nicht ungewohnlich, keine Polydipsie, massige Obstipation; Moti-
litat frei, keine Ohnmacht.
Status praesens (13. I. 1909): Das Kind macht den Eindruck eines
9jahrigen Knaben.*) Korperliinge 123 cm. Fettentwicklung mittleren
MaBes. Knochen gleichmassig entwickelt. Penis 7 cm lang, Hoden hasel-
nussgross, die Behaarung am Genitale wie bei einem 15jahrigen Indi-
viduum. An den Tibien kleine Harchen, Axillen haarlos, Haupthaar nor¬
mal. — Scarlatina-Exanthem, leichte Angina; innerer Befund, Urinbefund
negativ. — Augenbefund (Primarius Dr. Hanke): Pupillenreaktion trag.
Beiderseits Abducensparese, besonders rechts, Heber und Senker beiderseits
gelahmt, linker Interims paretisch, rechter normal. Gesichtsfeld allseitig
konzentrisch eingeengt; am rechten Auge hochgradige temporale Gesichts-
feldeinschrankung, fast bis zum Fixierpunkt. Die nasale EinschrSnkung
ist viel weniger prononciert. Doppelseitige Stauungspapille. Im Obrigen
Hirnnervenbefund negativ (Facialis symmetrisch, Zunge gerade, gut beweg-
lich. Kauen normal, Uvula wird prompt gchoben, Sensibilitat im Gesicht,
Geschmack, Geruch normal, Kopfbewegungen frei, keine Schluckanomalien,
GehOrbefund negativ). Die Stimme ist auffallend tief wie bei einem
mutierenden Knaben. Die Lippen leiclit geschwellt, sonst an den Schleiin-
hauten nichts Besoiuleres. An der linken oberen Extremitat geringes
Zittern; sonst Motilitat normal, keine Ataxie, Sensibilitat ohne Stoning:
Sehnenretlexe normal, kein Clonus, kein Babinski. Bauchdecken- und
KremasterreHex normal.
Decursus: Am 14. 1. 1909 Zunahme der Somnolenz und des Kopf¬
schmerzes. Incontinentia urinae. Anf Fragen unwirsche, doch klare Ant-
worten. Vormittag Erbrechen, epileptoider Anfall; in der Nacht Er¬
brechen. — Am 15. I. Facialisparese rechts. Am 16. und 17. starke
Somnolenz; Oedema fugax des Gesichtes. Allmahliche Zunahme der Som¬
nolenz, der Ilerzschwacho. — Vom 18. bis 20. geringe Nackensteitigkeit.
Am 21. I. tiefes Koma, Cornealreflexe erloschen; fortwalirende Erektionen
(lurch 2 Stunden. Temperatur 39,7, selir beschleunigte Atmung, fliegender
Puls. Am 22. I. 4 Ulir nachmittags stertordses Atmen, tiefes Koma.
Exit us i/ 2 0 Uhr abends.
* i Knaben dieses Alters haben gewdhnlieh eine Kbrperliinge von 105 cm.
Die Lange von 123 cm ent-pricht dem Alter von ea. 9 Jabren.
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Ober Diagnose der Zirbeldriisentumoren.
457
Es war natttrlich klar, dass es sick urn einen Hirntumor handeln
musste. Dafttr sprach der Kopfschmerz, das Erbrechen, die Konvulsionen,
die Stauungspapille sowie die Augenmuskellahmungen. Die trophischen
StOrungen sowie das merkwiirdige Verbalten des Genitalsystems liessen
mich zuerst an einen Hypophysentumor denken. Der Vergleich aber mit
einigen frflheren Fallen, das Yergleicken mit den Darlegungen Marburgs,
mit dem icb die Sache aucb noch tbeoretisch durchsprechen konnte, liessen
die Diagnose gcrecbtfertigt erscheinen, dass es sick am einen Tumor handle,
der die ZirbeldrQse konsumiert batte.
Es wurde mir die Gehirnsektion gestattet, und ich lasse nun das
Resultat der von Herrn Prosektor Dr. Erdheim am 23. I. 1909 aus-
gefiihrten Obduktion folgen. Ftir die aussergewohnliche Sorgfalt,
die er darauf verwendet hat, erlaube ich mir, ihm an dieser Stelle
den aufrichtigsten Dank zu sagen.
123 cm lange, mannliche Kindesleicbe von grazilem Knochenbau, massig
entwickelter Muskulatur und gut erhaltenem Panniculus adiposus. Die auf-
gebobene Hautfalte ist an der Streckseite des Oberarms 8 mm, am Abdomen
5 mm, an der Streckseite des Oberschenkels 10 mm dick. Die Epidermis
vorne am Thorax, an den Ober-
armen und der Aussenseite der
Kniee leicht schuppend. Odeme
fehlen. Die Haut und die
sichtbaren Schleimhaute ana-
misch. Die Hande und Fbsse
stehen in einem richtigen, pro-
portionalen Verbaltnis zur KOr-
pergrdsse; die Ohrmuschel
beiderseits 6 cm hoch. Die
Pupillen beiderseits massig
weit, die linke etwas weiter
als die rechte. Das Kopfbaar
bellbraun, trocken. Im Gesicht
keine Bebaarung wahrnehm-
bar. Der Hals schlank. Die
Mammae vollstandig flacb; ein
Drllsenkorper nicht palpabel.
— Der Thorax schmal, wenig
gewOlbt. Das Abdomen etwas
iiber dem Niveau des Thorax;
pseudomelanotische Yerfarbung der Bauchdecken. Der Mons veneris (Fig. 1)
dicht behaart; die Haare erreicben daselbst eine Lange von 23 mm. Der
Penis von der Wurzel bis zur Spitze der Gians 6 cm lang; seine Zirkum-
ferenz betragt ebenfalls 6 cm. Die Haut des Scrotum und des Penis
dunkclbraun pigmentiert. Durch das Scrotum bindurcb gemessen ist der
linke Hoden 28:17:12, der rechte 21:16:12 mm gross (in Wirklichkcit
mQssen natarlicb die Hoden kleiner sein). Die Oberschenkelhaut von
hellbraunen, bis 1 cm langen Harchen bedeckt; ebenso die Unterscbenkel
dicht behaart. Die oberen Extremitateu und die Axillen sind jedocb von
auffallender Bebaarung frei.
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458
XX. v. Frankl-Hochwart
Die weichen Schadeldecken feucht, blutreich, nicht verdickt. Das Sch&del-
dach 19 cm lang, 13,5 cm breit und 2—4 mm dick. An der Tabula externa
nichts Pathologisches wahrnehrabar. Die Diploe stellenweise vorhanden,
im allgemeinen byperamisch; die Tabula interna rauh anzuffihlen, usuriert,
die Impressiones digitatae vertieft. Im Bereicbe der Scbeitelbeine ist die
Usur der inneren Tafel so hochgradig, dass die Yenen der Diploe bloss-
liegen; die Knochennahte sind dehiscent. Die Dura mater stark gespannt.
Fig. 2.
D = Dura mater. F = Falx major. S = Zirbeldriisenstiel. T = Tumor.
K = Kleinhirnzelt.
wenig durchscheinend, byperamisch. Im grossen Sichelblutleiter reichlich
dunkles, fllissiges Blut. Die Innenflache der Dura glatt und glanzend.
Es wird die grosse Sichel vorne durchtrennt und zurtickgeschlagen.
Behufs Herausnahme des Gehirns werden die Gefasse, die Hirnnerven, das
Kleinhirnzelt und die Medulla oblongata in ganz regularer Weisc durch-
schnitten; es gelingt danach leicht, das Hirn aus der Schadelbasis heraus-
zuholen. Dabei gleitet aus dem Innern des Gehirns, zwischen dem Hinter-
hauptslappen und dem Kleinhirn, zusammen mit dem Kleinhirnzelt ein etwa
walnussgrosser Tumor hcrvor und bleibt an der Dura hangen*) (Fig. 2).
*) Bekanntlieh ereignet es sich bei Sektionen nicht selten, dass bei der Hirn-
herausnahme auch eiue nicht vergrosserte Zirbel aus ihrem Lager herausgerissen
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Uber Diagnose der Zirbeldrusentumoren.
459
Die nahere Untersuchung des Tumors ergibt, dass derselbe im sagittalen
Durchmesser 5 cm misst, im queren 2,5 cm und im HOhendurchmesser 2,9 cm.
Seine Konsistenz ist weich, die Oberflache grobhOckerig, im flbrigen aber
glatt, glanzend, von Gefassbaurachen bedeckt; die hOckerige Beschaffenheit
ist durch an der Oberflache vorspringende, verschieden grosse Cystchen mit
klarem Inhalt bedingt. Die Farbe des Tumors ist vorwiegend rot; doch
wechseln Partien von gelbgrauer mit solchen von dttsterroter und rot-
braunerFarbe ab. An 2 Stellen baften der Tumoroberflache Hirnsubstanz-
partikelchen an (diese rQhren von den mit dem Tumor herausgerissenen
Habenulae her). Der Tumor haftet mittels eines ganz kurzen fibrdsen,
die Vena magna cerebri enthaltenden Stieles an jener Stelle der Dura fest,
wo der untere Rand der grossen Sichel mit den freien Randern des Klein-
hirnzeltes zusammen stbsst. Die Leptomeningen an der Basis und der
Eonvexitat sind vollstandig zart und durchsichtig, ihre Venen gut gefttllt
Die Hirnwi.ndungen deutlich abgeplattet, die Sulci verstrichen, die Kon¬
sistenz des Gehirns etwas herabgesetzt; an der Basis failt das blasig vor-
gewdlbte Tuber cinereum auf. Die Nervi optici und ihre Querschnitte sind
weiss; aucb an den anderen Hirnnerven nichts Pathologisches wahrnehmbar.
An der Schnittflache erweist sich die Hirnsubstanz stark durchfeuchtet.
Die Seitenventrikel sind betrachtlich erweitert; ihr Ependym zart, glatt,
glanzend, fest. Auch die 3. Kammer, besonders der Eingang in dieselbe,
von oben stark dilatiert. Der Oberwurm erscheint in seinem vorderen An¬
ted abgeplattet. Die Zirbel fehlt vollstandig, ebenso die Habenulae, deren
Abrissstelle noch deutlich erkennbar ist. Auch das Dach der vorderen
Halfte des Aquaeductus Sylvii fehlt zum Teil, wodurch der Einblick in
denselben mflglich ist. Der Aquadukt ist hier stark dilatiert, insbesondere
in querer Richtung; sein Ependym wulstig verdickt, br&unlich bis rotbraun,
pigmentiert. Der hintere Teil des Aquaeductus und die 4. Kammer sind
nicht erweitert; das Ependym der Rautengrube ist zart und glatt.
Danach ist es klar, dass der Tumor die Stelle der Zirbel eingenommen
haben muss, daselbst den Aquaeductus Sylvii komprimierte, was zu einer
betrachtlichen Dilatation des vorderen Anteiles desselben, der 3. Kammer
und der Seitenventrikel fQhren musste, wahrend der hintere Teil des
Aquaeductus und die 4. Kammer nattlrlich nicht erweitert wurden.
Die Hypophyse ragt aus der Sella nicht vor; das Operculum sellae
zieht flach hinweg. Der Hirnanhang ist 13:10:7 mm gross, seine Schnitt¬
flache rotbraun; die Sella erscheint nicht erweitert und nicht vertieft:
Sie ist 1 cm tief, etwa 1,3 cm breit und misst im sagittalen Durchmesser
1,1 cm. Der Sattelboden ist ebenso wie die Schadelbasis im allgemeinen
rauh anzufQhlen, usuriert.
Die Mittelohrschleimhaut erscheint beiderseits trocken, blass, frei von
irgend welchem Belag.
In Folgendem sei der histologische Befund des Tumors aus-
zugsweise mitgeteilt. Derselbe wird in ausfiihrlicherer Weise von
Herrn Dr. Erdheim in einer besonderen Arbeit besprochen werden.
wird und an der herunter gefalleneu Dura haugen bleibt, wobei die Vena magna
cerebri als Verbindungsstiel fuuktioniert. Schou darum erschien es sehr walir-
seheinlich, dass der vorhaudene Tumor der Zirbel angeliorte. (Prosector.)
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460
XX. v. Frankl-Hochwaht
Der in toto in Formol fixierte Tumor wurde seiner Ganze nach in
eine Stufenserie zerlegt. Jeder 4. Schnitt wurde mit Hamalaun-Eosin ge-
farbt. Der Tumor ist stellenweise von einem lockeren, balkig aufgebauten,
gefassreichen Bindegewebe Oberkleidet, von dem aus die Blutgefhsse viel-
fach sich in die Geschwulst hineinbegeben. An mehreren Stellen liegt dem
Tumor direkt Hirngewebe an und sein Stroma wSchst in letzteres, teils
verdrangend, teils infiltrierend vor. Am kinteren Tumorpol finden sich
weite, dfinnwandige Yenen, deren Wande vom Tumorgewebe durchwacksen
sind; dieses ragt in Form von Geschwulstthromben zum Teil in die
Venen hinein.
Das eigentlich Tumorstroma erinnert durch seinen Kernreichtum und
durch seine Faserarmut sowie das bttndelige Geftlge an ein Spindelzellen-
sarkom; stellenweise, namentlich um die bald zu erw&hnenden epithelialen
Gebilde herum, weist es myxomatbsen Charakter auf. Ein auffallender
Bestandteil des Tumorstroma ist hyalines Knorpelgewebe, welches in Form
meist rundlicher, hbchstens 3 mm grosser Herde vorgefunden wurde. Der
Knorpel hatte embryonalen Charakter; einer der Knorpeiherde ist verkalkt
und zeigt in rudimentarer Weise enchondrale Ossifikation. Sehr haufig
finden sich im Stroma Rundzelleninfiltrate. Das Tumorgewebe ist sehr
reich an Blutgefassen und zwar sowohl an Kapillaren, als auch an grossen
Gef&ssen; letztere sind sehr haufig von Thromben erf&llt, die sich in alien
Stadien der Organisation befinden. Unter den epithelialen Gebilden des
Tumors kann man solche mit Drflsenepithel und solche mit Plattenepithel
unterscheiden: erstere formieren langgestreckte, manchmal verzweigte
Drlisenschlauche, kleine Follikel, aber auch recht grosse Cysten mit glatter
oder papillarer Wand. Das Epithel meist einschichtig, selten flimmernd
oder vom Typus der Becherzellen, meist von indifferentem Charakter; nur
stellenweise ist das Epitbel mehrschichtig. Die aus Plattenepithel aufge¬
bauten Gebilde haben vollstandig den Charakter der Epidermis und weisen
typische Verhornung auf. Das Zentrum solcher Cysten ist von konzentrisch
geschichteten Hornperlen eingenommen; doch fehlen Haare, Talg- und
SchweissdrQsen vollstandig. Zylinder- und Pflasterepithel kdnnen sich in
der mannigfaltigsten Art in ein und demselben epithelialen Gebilde kom-
binieren. Sehr ausgebreitet sind im Tumor Nekrose-Herde, welche meist
mit ausgedehnten Blutungen einhergehen; Ablagerungen kamatogenen Pig-
mentes sind nur an wenigen Stellen nachweisbar.
Yon der Zirbel ist nock ein ca. 8 mm breiter und an der dicksten
Stelle 2 mm dicker Rest erhalten, welcher der Tumoroberflacke in Form eines
Plattchens eng anliegt. Histologisch ist das Zirbelgewebe, soweit es er¬
halten ist, fast gar nicht verandert. Es finden sich im gefassffthrenden,
netzfOrmig angeordneten Stroma die typischen Zellhaufen und sehr reich-
lich geschichtete Kalkkonkremente; auch eine kleine Cyste liegt mitten im
Zirbelgewebe.
So wie in das benachbarte Hirngewebe, so dringt auch ins Zirbel-
drlisengewebe der Tumor infiltrierend ein, dasselbe allmahlich zerstorend
und durch Atrophie zum Schwinden bringend. Auch erstrecken sich Blu¬
tungen vom Tumor kontinuierlich in die Zirbel hinein. Die mikroskopische
Untersuchung der Ilypophyse ergab keine Abweichung von der Norm.
Die mikroskopische Diagnose des Zirbeltumors lautet: Embryo-
nales Teratom.
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Uber Diagnose der Zirbeldriisentumoren.
461
Die im neurologischen Institut vonHerrn Hofrat Obersteiner
unter gfitiger Mitwirkung von Herrn Doz. Dr. Marburg ausge-
ffihrte Untersuchung des Gehirns ergab Folgendes:
Hfirtung rnit Formol-Mllller. Schnittfarbung nach Weigert-Pal. —
Sehr starke Ausweitung des 3. Ventrikels, insbesondere in den dorsalen
Partien, aber auch in der Tubergegend. Samtliche Thalamuskerne sind
deutlich ausgepragt und in ihrer Faserung vollkommen intakt. Caudalwarts
erweitert sich der Ventrikel immer mehr; auch hier lasst sich eineFaser-
degeneration nicht konstatieren. Die beiden Tanien sowie die beiden
Ganglia habenulae und die Fasciculi habenulae pedunculares sind wohl
stark verdrangt, aber intakt. Der Eingang in den Aquaeductus erscheint
ad maximum verbreitert. Von einer Commissura posterior oder Commissura
habenularum ist nichts zu sehen; von letzterer kann man nur die Ansatze
an die Ganglia habenulae linden. Die Decke des Aquaeductus fehlt voll-
standig; ob dieselbe artificiell oder durch Tumordruck zerstort ist, lasst
sich nicht entscheiden. Jedenfalls betrifft die Zerstdrung nur ein minimales
Gebiet, da die Corpora quadrigemina — wenn auch stark lateralwarts
verdrangt — vollkommen vorhanden sind. Auch die Gebilde der Hirn-
schenkelhaube lassen ausser Verdrangungserscheinungen keinerlei Degenera-
tionen erkennen: so zeigen sowohl die Oculomotorius- wie die Trochlearis-
kerne normale Verhaltnisse.
Diagnose: Hydrops des 3. Ventrikels und des Aquaeductus. Zer¬
stdrung der hinteren Commissur(?). Kompression und Verdrangung der
Corpora quadrigemina latero-caudalwarts.
Im beschriebenen Fall sehen wir als die hervorragendsten
Symptome einerseits die Erscheinungen am Auge (Stauungspapille,
Augenmuskellahmung), andererseits die dystrophischen Erscheinungen
(abnormes Langenwachstum, ungewohnlicher Haarwuchs), verbunden
mit Dysgenitalismus in Form von abnormer Entwicklung geschlecht-
licher Erregungszustande. Als mit letzteren Erscheinungen vielleicht
zusammenhangendes Phanomen ist auch die pramature geistige Ent- '
wicklung hervorzuheben: das sich Beschaftigen mit den Weltproblemen.
— Derartiges Bestreben, den Weltratseln naher kommen zu wollen, ist
ja ein baufiges Vorkommen bei der Pubertatsentwicklung. — Nicht
uninteressant ist noch in unserem Falle das Konstatieren von ange-
borenen Anomalien bei den verschiedenen Familienmitgliedern.
Der Uberblick fiber die Literatur ergibt nur eine sparsame
Auswahl von ahulichen Fallen:
1. Der Fall von Ogle. Derselbe bescbreibt einen im G. Lebensjahr
verstorbenen Knaben. Einige Monate vor seinem Tode war das Kind in
seinem Wesen ganz verandert, masturbierte viel und wurde sehr schlaf-
sttchtig. Bei der Untersuchung fiel der schwankende Gang und die steife
Rttckenhaltung auf. Der Erniihrungszustand wird als „gut“ bezeichuet.
Der Penis war wie bei einem Jungling von 17 Jahren, die Haare am
Genitale waren autlallend entwickelt, die Hoden schienen nicht vergrossert.
Deutsche Zeitschrift 1'. Xervenheilkunde. 37. Bd. 3<j
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462
XX. v. Franki.-Hochwart
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Zeitweilig kam es zu Erbrechen sowie zu Krampferscheinungen mit.
Opisthotonus. Die Schlafsucht wurde immer auff&lliger, allm&hlich kam
es zu doppelseitiger Parese der Recti externi, Pupillenstarre, leichter Neu¬
ritis optica, Erblindung. Die Kniereflexe verschvvanden allmahlich. Die
Nekropsie ergab ein eigentttmliches Alveolarsarkom der ZirbeldrQse mit
Hamorrhagien und Cystenbildungen.
2. Der Fall von Gutzeit. Es handelt sich um einen 7 3 4 jahrigen
Knaben, der ca. 8 Monate vor seinem Tod unter Erbrechen und Kopf-
schmerz erkrankte; nach einigen Monaten Doppelsehen, schleppender Gang,
Schlafsucht, HOrstdrung, Nebelsehen. Bei der Untersuchung erschien der
Patient „kraftig gebaut und gut genfthrt". Er verlangte permanent zu
essen, war etwas benommen und gahnte auffallend viel. Die Bewegungen
waren unsicher, ataktisch. Puls retardiert. Neuritis optica. Parese des
linken Musculus rectus internus; Bnlbusrollung nach unten unmdglich,
nach oben mit stark nystaktischen Zuckungen. Pupillen eng, different,
starr. Hdrvermdgen herabgesetzt. Incontinentia alvi et pineal.; hie und
da Zuckungen im Gesicht. Crines pubis „reichlich entwickelt 14 .
Nekropsie: Teratom der Zirbel mit Koinpression der VierhQgel.
3. Der Fall von Oestreich-Slawyk aus der Klinik von Heubner.
4jahriger Knabe. Normale Entwicklung; mit 3 Monaten Stimm-
ritzenkrampf, mit 1 Jahr epileptiforme Anfalle. Vom 3. Lebensjahr an
still und sclieu, zum Weinen geneigt. Gleichzeitig auffallende Kdrper-
entwicklung. Uberm&ssiges Wachstum des Penis. Das Urinlassen war
zeitweilig schmerzhaft, sp&ter stellte sich Bettn&ssen ein. Dazu gesellte
sich Unbeholfenheit des Ganges, zeitweise Verwirrtheit, die mit normalem
psychischen Verhalten abwechselte. Esslust sehr rege. Das Kind war far
sein Alter sehr gross, hatte starken Knochenbau, kraftige Muskulatur und
reichliches Fettpolster. Kdrperlangc 108, Kdrpergewicht 20 kg, ent-
sprechend einem Kind von 7—8 Jahren. Stimmung gleichgttltig. Be-
nehmen etwas „altklug“, sonst dem Alter entsprechend. — Geringer Stra¬
bismus convergens dexter, leichter Nystagmus, Pupillentragheit, typiscke
Stauungspapille. Mammae hypertrophisch, 2 cm hoch; es lasst sich Colo¬
strum ausdrttcken. Penis stark hypertrophisch, in schlaffem Zustand 9 cm
lang; Hoden taubeneigross, am Mons veneris reichliche 1 cm lange
Schamhaare.
Nekropsie: Psammosarcoma cysticum glandulae pinealis Hydro¬
cephalus internus.
4. Sehr wichtig ist der Fall Mar burgs, bei dem es sich im Gegen-
satz zu den oben befindlichen mannlichen Fallen um ein 9jahriges weib-
liclies Iiulividuum handelt. Dasselbe zeichnete sich durch seine be-
sondere Adipositat aus, wiihrend an den Genitalen — auch nekroskopisch
— nichts Abnormes naehzuweisen war. Dasselbe war nahezu 6 Monate
vor dem Tode an den Erscheinungen eines Hirntumors erkrankt. Gleich
nach Beginn des Leidens bemerkten die Eltern eine Zunahme des Kdrper-
fettes, die schliesslieh exzessive Grade annahm; andere Anomalien des
Wachstums wurden nieht bemerkt.
Bei der Beobachtung envies sich das Cranium als kydrocepkal; ausser-
dem bestand maehtige Adipositas, besonders an der Brust und am Bauche.
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Uber Diagnose der Zirbeldrusentumoren.
46:5
Am Auge fand sich Atrophie nach Stauungspapille; daneben leicbte Ataxie
der oberen Extremit&ten, schwere an den unteren, die zudem noch etwas
spastisch waren; linke obere Extremit&t paretisch, Reflexsteigerung, Adia-
dokokinesis and Asynergie cerebelleuse.
Nekropsie: Zusammengesetzter Tumor der ZirbeldrOse.
Der genannte Autor stellt eine Reihe von Fallen zusammen, bei
welchen auch bei vorhandener Zirbeldrusengeschwulst Adipositat be-
stand. Ganz auffallend konnte ich dieses Symptom seinerzeit im be-
rfihmten Falle von „Vierhugeltumor“ Nothnagels beobachten. Ich
hatte durch zwei Jahre Gelegenheit, mich mit diesem damals 18—20-
jiihrigenManne zu beschaftigen. Als ich mich fiir die vorliegende Literatur
mehr interessierte, erinnerte ich mich nachtraglich, dass der sonst wohler-
zogenejunge Mann oft in cynisch ostentativer Weise onanierte. Friih-
zeitige Masturbation erwahnt noch Feilchenfeld bei einem derartigen
Kranken. Exzessive Onanie hebtferner Biancone bei einem jugendlichen
Individuum hervor,bei welchem die Nekropsie einen Vierhiigeltumorauf-
wies; fiber die Epiphyse ist in dem Befund leider nichts ausgesagt.
Auch bei diesen Andeutungen von Genitaleigentfimlickeiten sehen wir
nur Individuen mannlichen Geschlechtes, von einem weiblichen Dys-
genitalismus bei den uns beschaftigenden Geschwfilsten ist nichts
Sicheres bekannt. Allerdings litt die 28jahrige Patientin Neu¬
manns an Menstruationsanomalien; der Fall ist aber ffir diese
Frage deshalb nicht voll verwertbar, weil in der Nekropsie ausdrfick-
lich hervorgehoben wird, dass die Hypophysis platt gedrtickt erschien.
Wenn wir nun nach diesemExkurs auf unsere Hauptfrage zuruck-
gehen, so lasst sich mit dem vorliegenden Material die Aufstellung
des folgenden diagnostischen Satzes versuchen: Wenn sich bei
einem sehr jugendlichen Individuum (Knabe) neben den
Allgemein-Tumorsymptomen sowie neben den Symptomen
der Vierhti'gelerkrankung (Augenmuskellahmung, Blicklah-
mung, Ataxie) abnormes Langenwachstum, ungewobnlicher
Haarwuchs, Yerfettung, Schlafsucht, pramature Genital-
und Sexualentwicklung, eventuell geistige Friihreife findet.
hat man an einen Zirbeldriisentumor (Teratom) zu denken.
Am schwierigsten kann unter Umstanden die Differential-
diagnose von den Hvpophysistumoren ohne Akromegalie
sein: Auch da kommt es zu sexuellen Dystrophien, zur Verfettung
(Degeneratio adiposo-genitalis-Typus Frohlich), zum Exophthalmus,
Nystagmus, Opticusveriinderungen, zur Schlafsucht, Polyurie, Poly-
dipsie, zu epileptischen Anfallen, zu psychischen Anomalien, zu eigen-
tUmlichen Temperaturanomalien; bei beiden Zustanden tritt relativ
selten Bradycardie auf. Man wird eher an eiuen Pinealtumor denken,
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-164
XX. v. Fkankl-Hochwart
wenn bei einem nicht akromegalischen jungen Individuum (nicht alter
als 7 Jahre) Genitalhypertrophie, fiberstarke Entwicklung der Scham-
und Axillenhaare eintritt, wenn sich damit sexuelle Reizzustande ver-
binden. Beim Hypophysistumor komint es zur genitalen Unterfunk-
tion; auch ist bei letzterer Krankbeit die Adipositat oft yiel ausge-
sprochener. Flir die Diagnose „Tumor der Hypophysis" spricht
bitemporale Hemianopsie, eventuell der positive radiologische Befund
an der Sella turcica — Dinge, die der ZirbeldrQsenschwellung kaum
zukommen. Bei den Tumoren der Zirbeldrfise scheint die Blicklah-
mung manchmal etwas Charakteristisches zu haben; nberhaupt sind
die Augenmuskellahmungen mehr im Vordergrunde der Erscheinungen.
Auch die Ataxie, die Horstorung, der Schwindel sind viel prononcierter,
die Stauungspapille haufiger. Die genuine Atrophie, welche bei den
Hypophysistumoren so oft konstatiert wird, ist bei den Zirbeldrusen-
geschwiilsten anscheinend recht selten. Nicht unerwahnt sei, dass
bei den Zirbeldrusentumoren, namentlich im Kindesalter, das mann-
liche Geschlecht pravaliert; bei den Hirnanh an ggesch wtilsten beteiligen
sich beide Geschlechter ziemlich gleichmassig. Kinder mit Pineal-
tumoren sind eher gross, solche mit Hypophysistumoren eher klein.
Vielleicht konnte der Nachweis von kongenitalen Anomalien am Indi¬
viduum oder in der Familie gelegentlich einmal eine Sttitze zur Dia¬
gnose bilden. (Man vergleiche liber die Differentialdiagnose mein
Referat auf dem Budapester internationalen medizinischen Kongress
im September 1909; auch abgedruckt in der Wr. med. W. 1909. Nr. 37ff.).
Wenn wir uns nun Bberlegen, welche Bedeutung die Zirbel-
drtlse flir den Organismus haben kann, so gibt uns die Morpho¬
logic nur einige vage Anhaltspunkte. (Man vergleiche darnber die
Ausfiihrungen Marburgs [daselbst Literatur].) Man hat in der ge-
nannten Drlise eines der konstantesten Gebilde der gesamten Wirbel-
tiere vor sich. Wahrscbeinlich hat dieses Organ nur in der frtthen
Kindheit beim Menschen eine Bedeutung, da bereits vor der Pubertat
die Involution auftritt. Die Experimentalpathologie hat uns
bisher uber die Funktion dieses Organs nichts gelehrt. Klinische
Erwagungen weisen darauf hin, dass wir dieselbe zu den sogenannten
Blutdriisen zu rechnen haben. Es scheint, dass von ihr eine gewisse
Hemmung fiar die Genitalentwicklung ausgeht; wenn die Druse funk-
tionsunfahig wird, kommt es zu einer Hypertrophie des Genitalsystems.
Es scheint da eine gewisse Gegensiitzlichkeit zur Hypophyse zu be-
stehen: Zerstorung dieses Organs provoziert bekanntlich Unterent-
wicklung resp. Unterfunktion des Genitales.
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Uber Diagnose der Zirbeldriisentumoren.
465
Literatur.
Die Literatur der Zirbeldriise findet sich ausfiihrlich dargestellt bei
O. Marburg, Zur Kenntnis der normalen und pathologischen Histologie der
Zirbeldriise. Arbeiten aus dem Wiener neurologischen Institut (H.Obersteiner).
17. Bd. 1909. S. 217.
Man vergleiche ferner:
1) Biancone, G., Contributo alio Studio dell Tumori delle Emineuze Bige-
mine. Rivista Sperimentale di Freniatria. Vol. XXV. Fasc. III.—IV. 1899.
2) Feilchenfeld, Ein Fall von Tumor cerebri. N. Z. 1885. Nr. 18. Seite4C9.
3) Gutzeit, Teratom der Zirbeldriise. I.-D. Konigsberg 1896.
4) Heubner, Tumor der Glandula piuealis. Deutsche mediz. Wocbenschr.
1898. Vereinsbeil. Nr. 29.
5) Neumann, Max, Zur Kenntnis der Zirbeldriisengeschwiilste. Monats-
schrift f. Psychiatrie und Neurologic. 1901. Bd. 9. S. 337.
6) Nothnagel, Geschwulst der Vierhiigel. Wiener med. Klinik. 188s.
S. 162. 193. 225.
7) Osterreich-Slawyk, Riesenwuchs und Zirbeldriisengeschwulst. Virch.
Arch. Bd. 157. S. 475.
8) Ogle, C., Sarcoma of piueal body. Transact, of the patholog. society
of London ls99. Bd. I. p. 4.
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XXI.
Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis
nnd seine gerichtsarztliche Bedentung.
Von
Dr. Hasche-Klttnder,
z. Z. Arzt an der Irrenanstalt Friedrichsberg-Hamburg.
Es gibt zahlreiche Formen von Meningitis cerebrospinalis, die
mehrfachen Ursachen ihre Entstehung verdanken und einen verschie-
denen V erlauf nehmen konnen. Eine Einteilung der Meningitisformen
kann daher von verschiedenem Gesichtspunkte aus erfolgen. So kann
man unterscheiden eine akute und eine chronische Meningitis cere¬
brospinalis. Da jedocb der bakteriologische Befund bei der chroni-
schen Form, zumal wenn wir von der tuberkulosen absehen, eine we-
sentliche Rolle bisher nicht gespielt hat, so wird uns im Vorliegenden
vorwiegend nur die akute Cerebrospinalmeningitis beschaftigen.
Dieselbe kann epidemisch und nicht epidemisch auftreten; sie kann
eine serose und eitrige Beschaffenheit besitzen; sie tritt auf infolge von
Traumen, bei Infektionskrankheiten, im Anschluss an entzundliche
Erkrankungen benachbarter oder auch entfernt liegender Organe, bei
Intoxikationen und nach anderen Schadlichkeiten. Endlich kann man
die Meningitis cerebrospinalis vom Gesichtspunkte der Entstehung und
der verschiedenen Erreger betrachten. Uber die Atiologie besitzen wir
hauptsachlich erst seit der Zeit genauere Kenntnisse, seitdem wir die
Mikroorganismen als die Erreger vieler Krankheiten kennen. Der
erste, welcher im Exsudat von Meningitis cerebrospinalis Mikroorga¬
nismen, „Monadinen“, nachgewisen hat, ist Klebs 1 ), Ende der sieb-
ziger Jahre. Quincke fiihrte dann im Jahre 1891 die Lumbal-
punktion in die moderne Therapie bei Gehirn- und Riickenmarks-
krankheiten ein. Damit wurde gleichzeitig in diagnostischer Hin-
sicht ein iiberaus w T ert,volles Untersuchungsmaterial gewonnen. Die
bakteriologische Untersu chung der Cerebrospinalfliissigkeit trat in
den Vordergrund des Interesses, und man konnte Schlusse auf die
Entstehung und die verschiedenen Formen der Meningitis und ihre
Erreuer ziehen. Die verschiedensten pathogenen Mikroorganismen, wie
1) Klebs Arcliiv f. exper. Path. Bd. 4.
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Der bakteriologisehe Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 467
1. Meningokokken, 2. Diplococcus lanceolatus, 3. Tuberkelbazilleo,
4. Influenzabazillen, 5. Diphtheriebazillen, 6. Frankelscher Pneumo¬
coccus, 7. Bacterium coli, 8. Pyocyaneus, 9. Rotz- u. Pestbazillen, 10.
Typhusbazillen, 11. Streptokokken, 12. Staphylokokken u. a. wurden
in der Cerebrospinalflussigkeit nachgewiesen.
Die vorliegende Arbeit wird
1. die Erreger der Cerebrospinalmeningitis und
2. die gerichtsarztliche Bedeutung derselben
bebandeln.
Derjenige Mikroorganismus der Cerebrospinalmeningitis, urn den
wohl am meisten gestritten ist, dnrfte der Erreger der epidemischen
Genickstarre sein. Erst die grosse schlesische Epidemie im Jahre
1905 hat endlich den jahrelang herrschenden Streit, ob dieselbe
durch den Pneumococcus, ob durch den Meningococcus, Weichselbaum
oder Jaeger hervorgerufen wird, entschieden.
Der erste, der bei einer epidemischen Meningitis Mikroorganismen
gefunden haben will, scheint Gaucher 1 ) im Jahre 1881 gewesen zu
sein. Er will nicht nur im Exsudate der Hirnhaute, sondern auch
wiihrend des Lebens im Blute und im Urin Kokken gesehen haben.
Leyden 2 ) fand 1883 im Exsudat einer primaren Cerebrospinal¬
meningitis Mono-, Diplo- und Streptokokken; Kokken, die er nicht fur
Pneumokokken hielt.
FoaBordoni und Uffreduzzi 3 ) berichteten 1886 von zwei Fallen
primarer Meningitis cerebrospinalis, in denen sie aus dem Exsudat
eine Kokkenart kultivieren konnten, welche mit dem Diplococcus
pneumoniae identisch war, und den sie fur die Ursache der Genick¬
starre hielten.
Net ter 4 ) berichtete 1887 neben anderen Fallen, bei denen es sich
urn Gehirnhautent/.undung nach Pneumouie handelte, auch von einem
Fall primiirer Meningitis, in denen er Pneumokokken fand.
Denselben Pneumococcus hat Weichselbaum 5 ) 1887 bei einer pri¬
maren Meningitis gefunden. Dieselbe Arbeit enthalt jedoch noch 6 ob-
duzierte Cerebrospinalmeningitiden, in denen er iunerhalb der Eiterzellen
des Meningealexsudats einen Diplococcus, zu 2 oder 4, zuweilen in
kleinen Hiiufchen zusammenliegend, oline Kapsel, beschreibt, der nach
G ram entfarbt wird, nur bei Brutofentemperatur spiirlich auf der Ober-
fliiche des Agars in runden oder etwas unregelmassig fein granulierten
1) Gaucher, zit. nach Kolle-Wassermann, Haudbuch.
2 ) Zentralbl. f. klin. Medizin. 1883.
3) Deutsche mod. Wochensehr. 1880. 15. IV.
4) Archives gum'rales do mod. Paris 1887.
- 5) Fortschritte dor Medizin 1887. 18. 19.
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468
XXI. Hasche-Ki.ixi>er
Kolonien mit gekerbten Randern wachst und nach sechs Tagen ab-
gesfcorben war. In Bouillon fand er das Wachstum kfimmerlicb; auf
Kartoffel konnte ein solches iiberhaupt nicht konstatiert werden.
Goldschmidt 1 ) und Edler 2 ) konnten 1888 in je einem Falle
den Befund Weichselbaums bestatigen.
Im folgenden Jabre hat Weichselbaum 3 4 ) den Diplococcus intra-
cellularis noch in 3 Fallen, den Diplococcus pneumoniae in 7 Fallen
gefunden. Der Autor glaubte damals, dass der haufigste Erreger der
idiopatbischen Meningitis der Diplococcus pneumoniae sei, und dass
er in vielen Fallen eine epidemische Meniningitis hervorrufe. Gleich-
zeitig sprach er auch dem Diplococcus intraeellularis dieselben Faliig-
keiten zu.
Guarneri 1 ) fand 1888 in zwei Fallen im Exsudat von Menin¬
gitis cerebrospinalis intracellular Gonokokken ahnliche Diplokokken,
die den Weichselbaumschen glichen.
Bonome 5 ) beobachtete in5 von 17 Fallen einenCoccus, der weder
identisch war mit dem Diplococcus lanceolatus Fraenkel, noch mit
einem anderen Streptococcus. Es handelt sich hier offenbar um den
von Schottmfiller 6 7 8 ) beschriebenen Streptococcus mucosus, der extra¬
cellular liegt, Gram -+- ist, auf Nahrboden gezfichtet, Ketten bildet,
eine Kapsel besitzt und auf Agar sehr durchsichtige, nicht leicht er-
kennbare Kolonien zeigt. Foa Bord oni u. Uffreduzzi ^ fassen den
eben beschriebenen Streptococcus, Diplococcus pneumoniae und Diplo¬
coccus intraeellularis als Varietaten einer Kokkenart auf.
Flexner und Barker s ) berichten fiber eine Epidemie von 200
Fallen und bezeichnen als ihren Erreger ebenfalls den Frankelschen
Pneumococcus, sie haben jedoch nur zwei Falle bakteriologisch
untersucht.
Haleschini 9 ) untersuchte 13 Falle von Meningitis, darunter 8
Falle von primiirer Meningitis und will stets den Diplococcus pneu¬
moniae, allerdings in zwei Varietaten, gefunden haben.
Panienski 10 ) fand in sechs Fallen von Meningitis cerebrospinalis
1) Zentralbl. f. Bakt. 2. <>49.
2) Edler, Sanitatsberieht der preuss. Armeeu 1SSS.
3) Wiener klin. Wochensehr. 1SS3.
4) Kef. Zentralbl. f. Bakt. 1SSS.
f)i Zieirlera Beitriige zur patholog. Anatomie 1890. Bd. 8.
6) Deutsche med. Wochensehr. 1903.
7) Zentralbl. f. Bakt. Bd. 7.
8) American journ. of the med. Assoc. 1S94.
9) Zit. nach Kolle-Wassermann, Handbuch. 19')3.
10) Deutsche militar. Zeitschrift.
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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinal is usw. 469
epidemica einen Coccus, der wohl mit dem Streptococcus mucosus
identisch sein diirfte.
Auch Quadu 1 ) fand in 8 Fallen von 86 Erkrankungen im Blute
intra vitam und im Meningealeiter den Diplococcus Fraenkelii.
Righi 2 ) will in Fallen von Genickstarre aus dem Blute, das er
einer Fingerbeere entnommen hat, im Ham und den Faeces Pneumo-
kokken nachgewiesen haben.
Der erste, der den Diplococcus intracellularis intra vitam gefunden
und darauf hingewiesen hat, dass er der eigentlich spezifische Erreger
der ubertragbaren Genickstarre bis auf vereinzelte kleinere Epidemien
ist und streng von dem Streptococcus und Pneumococcus geschieden
werden musse, ist Jtiger 3 ). Er untersuchte wahrend der wtirttem-
bergischen Epidemie 1893/1894 14 Falle anatomisch und bakterio-
logisch und fand in alien Fallen den Diplococcus intracellularis. Es
unterliegt wohl keinem Zweifel, dass Jager im frischen Ausstrich-
praparat in vielen Fallen den von Weichselbaum 1887 beschriebenen
Diplococcus gesehen und auch von ihm Kulturen angelegt hat; doch
sind die Kulturen, die er beschreibt und dann mikroskopisch unter¬
suchte, was Aussehen, Wachstum und Fiirbbarkeit nach Gram anlangt,
von dem Weichselbaumschen Meningococcus so verschieden, dass
es sich nicht, wie Jager annahm, um eine Varietat handeln kann.
Der Coccus, den Jager nach Zuchtung gewann und der zum Teil
von Leichenteilen stammte, die bereits in Faulnis nbergegangen waren,
muss nach den Untersuchungen von Albrecht und Ghon 4 5 ) 4 ), Weich¬
selbaum 6 ), Schottmtiller 7 8 ), Kaberlah s ) u. a. als Yerunreinung
angesehen werden.
Wenngleich Jager das Verdienst nicht abzusprechen ist, auf den
Diplococcus intracellularis als den Erreger der Meningitis cerebrospi-
nalis epidemica hingewiesen zu haben, so wurde doch dadurch, dass
der von ihm gezuchtete Coccus mit dem echten Weichselbaum, dem
er mikroskopisch glich, ftir identisch erklart wurde, eine grosse Ver-
wirrung angerichtet, die in der Literatur einen heftigen Streit zur
Folge hatte.
Eine Reihe von Klinikern zuchteten bei Fallen sporadisch und epi-
1) Ref. Baumgarten, Jaliresbericht 1893.
2) Ref. Baumgarten, Jaliresbericht 1893.
3) Zeitschrift f. Hygiene 1693. Bd. 19.
4) Wiener klin. Wohhensehr. 1901.
5) Zentralbl. f. Bakt. ItK>3. 23.
<i) Zentralbl. f. Bakt. 1903. 23.
7) Deutsche med. Woehenschr. I'm 13 .
8) Berl. klin. Wochenschr. 19< >3.
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470
XXI. Hasche-Klundeu
demisch auftretender Genickstarre verscbiedenartige Kokken (Diplo-
kokken, Pneumokokken, Streptokokken, Staphylokokken), die alle raebr
oder minder far eine Abart des Weichselbaumschen Meningo¬
coccus gehalten wurden, aber nicbts mifc ibm zu tun batten. Jager 1 )
selbst unterschied Weichselbaum-Staphylokokkentypus dick, Sta-
phylokokkentypus zart, Streptokokkentypus. Ich will nur kurz auf
die Arbeiten von Heubner 2 ), Pfaundler 3 ), Sorgense 4 ), Wil¬
helm Mailer 5 ), Hunermann 6 ), Zupnick 7 ) verweisen. Diesen stehen
Arbeiten anderer Autoren gegenuber, denen die Zuchtung des
Weichselbaum gelang, wie Bonhoff 8 ), Kamen 9 ), Councilman,
Hallory und Wright 10 ), die von 35 Sektionsfallen 31mal kul-
turell oder mikroskopisch oder auf beide Weisen im Meningitiseiter,
und von Faber 11 ), der von 31 Fallen 27 mal mikroskopisch und kul-
turell den Meningococcus Weichselbaum fand.
Die ersten, die darauf hingewiesen und es an einem grossen
Material auch nachgewiesen haben, dass der von Jager gezOchtete
Diplococcus absolut nichts mit dem Erreger der Meningitis cerebro-
spinalis epidemics, dem Diplococcus intracellularis Weichselbaum, zu
tun hat, waren Albrecht und Ghon. Sie liessen sich von Jager
Stamme schicken und stellten mit den von ihnen gezUchteten Vergleiche
an. Sie halten den Diplococcus intracellularis nur dann fur den echten
Weichselbaum, wenn er:
1. den Typus der Mikrokokken gonorrboeae mit Teilung in zwei
auf einander senkrechten Richtungen besitzt, sich nach Gram
nicht farbt, meist intracellular gelegen ist;
2. wenn das Wacbstum nur bei Brutofentemperatur erfolgt; in
Agarstichkulturen ein Oberflachenwachstum vorhanden ist;
3. wenn die Qppigen Kulturen auf der Agarplatte grauglanzend
im auffallenden, grauweiss im durchfallenden Licbt aussehen;
4. wenn er auf der Bouillon eine Rabmbaut bildet;
5. wenn die Lebensfahigkeit eine geringe ist;
6. wenn er nur eine geringe Pathogenitat fur Versuchstiere hat.
1) Zentralbl. f. Bakt. 19<>3. 33.
2) Deutsche med. Wocheusehr. 1000.
3) Jahrbuch f. Kinderheilkde. 1S99.
■I) Zentralbl. f. Bakt. Bd. 39. 1.
5) Deutsche med. Wocheusehr. 1S97.
G) Deutsche med. Woehensshr. 1S99. 39.
7) Deutsche med. Wocheusehr. 1899. S. 835.
8) Miinch. med. Wocheusehr. 1901.
9) Zentralbl. f. Bakt. 24. 1:5, 10.
10) Kef. Hvg. Rundschau 1899.
Ill Zeitschr. f. ilvg. Bd. 34.
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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 47 1
Die Untersuchungen Albrechts undGohns werden bestatigt durch
die Arbeiten von Kaberlah 1 ), Schottmfiller 2 ), Kutscher 3 ), Fiei-
uer 4 ), Kfister 5 * * ), Bettencourt und Fran<;a°), Pick") u.a. Schott-
miiller 8 ) wies darauf hin, dass der Meningococcus Jager wahrschein-
lich ein Saprophyt ist, da er einen identischen Coccus haufig auf Blut-
platten als Verunreinigung gefunden und auch gezuchtet hat. Die
Ansicht Schottmiillers teilte Kaberlah 9 ). Beide fordern, dass die
Spinalflfissigkeit, um einerseits Verunreinigungen zu vermeiden, an-
dererseits um das Absterben des Diplococcus Weichselbaum zu ver-
hindern, unmittelbar nach der Lumbalpunktion untersucht bezw. die-
selbe kulturell verarbeitet wird.
Schneider 10 ) fand den Meningococcus Weichselbaum bei 91
Untersuchungen 73mal; Huger 11 ) wies ihn in 50 Proz. der Falle
nach. Lenhartz hat eine Znsammenstellung von fiber hundert Fallen
und fand den Meningococcus in fiber 95 Proz. Bettencourt und
Franca 1 ' 2 ) wiesen ihn in 271 Fallen stets nach.
Interessant sind auch die Beobachtungen Flfigges 13 ), dem der
Xachweis der Meningokokken Weichselbaum von den 193 eiuge-
sandten Praparaten in 04 Fallen gelang. Flfigge machte auf gewisse
Veranderungen im Verhalten der langere Zeit im Laboratorium fort-
ge/.fichteten Stamme aufmerksam. Von einigeu Kulturen beobachtete
er, dass sie trotz haufiger Ubertragung auf neue Niihrboden uur spiir-
lich wuchsen und schliesslich ganz versagten. Audere Kulturen wuehsen
besser, blieben zart und veriiuderten sich gar nicht. Die dritte Ka-
tcgorie passte sich allmahlich den kfinstlichen Wachstnmsbedingungen
an, nalim einen snprophytischen Charakter an, wuchs fippiger, schneller,
gedieh auf Nahrboden, die den Ansprfichen der jungen Kulturen nicht
gcufigt hatten, und hielt sich selbst bei langen Umzuchtungsintervallen
lebensfahig. Gleichzeitig wurde sie der Gramfarbe zuganglich. Flfigge
1) Berl. klin. Wocbcnscbr. 1905.
2) Deutsche med. Wochenschr. 1905.
3) Deutsche med. Wochenschr. luOO.
4) Zentraltd. f. Bakt. 1 SO!*. Id. 49.
5a) Miiuch. med. Wochenschr. 19 <m>.
5 hi Berl. kliu. Wochenschr. 1901 j.
01 Archives de Vi 11 st it lit de Bacterioloirie.
7j Berl. klin. Wochenschr. 1905.
s) Deutsche me<|. Wochenschr. 1905.
9; Berl. klin. Wochenschr. 19o5.
l'ii Kliu. Jalirbuch. 15.
11) Klin. Jalirbuch. 15.
12) Zeitschr. f. Hv<r. 19)i4. Bd. 40.
Id) Klin. Jahrhuch. Bd. 15.
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472
XXI. Hasche-Klunder
glaubt, dass hier bei Anlegung der Kulturen neben den echten Me-
ningokokken aucb ihnen ahnliche Kokken vorhanden waren, die fiber
den Meningococcus Weichselbaum die Oberhand gewannen und die
bakteriologischen Veranderungen verursachten. Die Erklarung, wie
Jager zur Zfichtung seiner vermeintlichen Meningokokken kam, dtirfte
hierrait gegeben sein.
Flexner 1 ) hat zahlreiche Versuche fiber die biologischen und
patbogenen Eigenschaften des Diplococcus intracellularis Weichsel¬
baum gemacht. Er halt fur ein wichtiges differentialdiagnostisches
Moment gegenfiber anderen gramnegativen Diplokokken das Ver-
halten gegenfiber verschiedenen Temperaturen und Zuckerarten, die
Neigung der Meningokokken, auch auf gfinstigem Nahrboden schnell
zu degenerieren und abzusterben. Weichselbaum unterscheidet sich
yon den anderen Diplokokken vor allera noch dadurch, dass er sich
in ilfissigen Kulturmedien, besonders in einer mit Toluol versetzten
Salzlosung, auflost. Flexner hat mehrfach durch intraspinale Injek-
tion von Meningokokkenkulturen bei Affen eine Meningitis erzeugt.
Ein bei ihnen gewonnenes Serum erwies sich in drei oder vier Fallen
als wirkungsvoll.
Hohe 2 ) berichtet, dass die fiblichen Desinfektionsmittel in mas-
siger Konzentration die Meningokokken toteten, wahrend Jager an
seinen Stammen hohe Resistenzgrade beobachtete.
Lingelsheim 3 ) ist endlich wahrend der schlesischen Epidemie
1905/1906 auch der Nachweis der Eintrittspforte des Meningococcus
Weichselbaum in den menscblichen Organismus gelungen und hat
auf die Wege seiner Verbreitung hingewiesen.
Da die Meningitis haufig mit Katarrhen der oberen Luftwege,
wie Schnupfen und Husten, beginnt, ausserdem Nase, Ohr, Rachen
und Gehirn mit einander mehr oder weniger in Verbindung stehen, so hat
Weichselbaum die Erreger im Nasenrachenraum und den Neben-
hohlen und im Ohre gesucht, und hat den Pneumococcus lanceolatus
in der Paukenhbhle und der Nase bei einem an Meningitis Erkrankten
gefunden.
Strumpell 4 ) verwies auf die Nasenhohle als die Eingangspforte
der Menigitiserreger infolge einer eitrigen Rhinitis, die er bei einer
epidemischen Genickstarre in mensa sah. Jager und Scherer 5 ) wollen
1895 den Diplococcus intracellularis in alien Fallen epidemischer
1) Zentralhl. f. I’.akt. Abt. 1. Bd. 43.
2) Klin. Jahrbueh. Bd. 13.
3) Klin. Jalirbueli. Bd. 15.
4) Deutsches Arcliiv fiir klin. Med. Bd. 22.
5) Zeitschrifr t'. Hygiene. Bd. 19. 1895.
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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 473
Meningitis im Nasenrachenraum gefunden haben, doch haben dieselben
offenbar den von Jager gsziichteten (Pseudo-) Meningococcus oder
den Meningococcus Pfeiffer, den Micrococcus catarrhalis oder crassus
gesehen, die oft wohl Varietaten einer Art sind und haufig im Nasen-
sekret Gesunder vorkommen.
Der erste einwandfreie, d. h. kulturelle Nachweis des Erregers
der Genickstarre im Nasensekret eines Genickstarrekranken bezw. An-
steckungsverdachtigen gelang Albrecht und Ghon. 1 ) 2 ) Spater folgen
andere einwandfreie Befunde von Lord 3 ), Weichselbaum und
Ghon 4 ), E. Meyer 6 ), Drigalski 6 ), Lingelsheim 7 ), Goppert 8 ),
Gravitz 1 -'), Westenhoeffer 10 ), Ostermann 11 ), Kolle und Was-
sermann 12 ), Kutscher. 13 )
Lingelsheim untersuchte nun 787mal das eingesandte Nasen¬
sekret und fand in demselben 182 mal den Meningococcus, und zwar
von dem aus Beuthen stammenden 130:390 in 33 Proz. der Falle.
Das Resultat war haufig negativ, sobald die Erkrankung bereits langer
bestand. Von den 182 positiven Fallen war das Sekret 147 mal, d. h.
in 80 Proz. in den ersten 5 Krankheitstagen entnommen. Von 60
Fallen, in denen die Entnahme des Sekrets technisch von ein und
derselben Person gut ausgefnhrt und dasselbe sofort eingeliefert und
sofort untersucht wurde, waren 49 positive Resultate. 50 Personen
von 60 waren jedoch nur im Beginn der Erkrankung, einmal versagte
die Untersuchung und in 46 Fallen wurde ein positives Resultat er-
zielt Endlich hat Lingelsheim noch Gesunde auf Meningokokken
Weichselbaum und zwar ersteus solche, die mit Meningitiskranken
in nahe BerOhrung gekommen waren, wie Arzte, Pfleger und Ange-
horige, und endlich 56 Kinder aus einer Volksschule untersucht.
Im ersten Falle fand er bei 15 Proz. Meningococcus Weichsel¬
baum im Nasensekret, im zweiten Falle bei 4 Kindern, doch stellte
1) Wiener klin. Wochenschr. 1001.
2) Wiener klin. Wochenschr. 1005.
3) Zentralbl. f. Bakt. Abt. 1. Bd. 34.
4) Wiener klin. Wochenschr. 1005. 25.
5) Klin. Jahrbuch 1900. 15.
6) Deutsche med. Wochenschr. 1905. 25.
7) Klin. Jahrbuch. Bd. 15.
8) Berl. klin. Wochenschr. 1905. Klin. Jahrbuch 1906. 15.
9) Berl. klin. Wochenschr. 1905.
10) Klin. Jahrbuch. 1000. Bd. 15.
11) Deutsche med. Wochenschr. 1906.
12) Klin. Jahrbuch. 15.
13) Deutsche med. Wochenschr. 1900.
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474
XXI . Hasche-Klundek
es sich heraus, dass samtliche 4 Kinder aus Hausern stammten, in
denen die epidemische Genickstarre aufgetreten war.
Kutscher 1 ) untersuchte im Mai—Juni 1905 in Berlin das Nasen-
sekret Gesunder auf Meningokokken Weicbselbaum and zwar stets
mit einem negativen Resultat Nur bei zwei Personen, welcbe in
Beziehung zu Meningitiskranken gestanden batten, zuchtete er aus
dem Nasensekret einen Diplococcus, welcher hinsichtlich der Farbung
nach Gram und seiner kulturellen Eigenschaften sowie dnrch die
Agglutination mittels eines hochwertigen spezifischen Serums als Me¬
ningokokken identifiziert werden mussten. Im Winter setzte er seine
Untersuchungen fort und isolierte bei 4 von 57 Personen, von denen
sich nicht nacbweisen liess, dass sie mit an Genickstarre Erkrankten
in Verbindung gewesen waren, einen Diplococcus, welcher morpho-
logiscb, kulturell und durch sein immunisatorisches Verbalten vom
ecbten Meningococcussicb nichtunterscheidenliess. Kutscher schliesst
daraus, dass entweder die sogenannten Kokkentrager ihre Keime durch
Kranken erhalten haben oder dass dieselben gelegentlich auch einmal im
Nasensekret Gesunder vorkommen. Vor kurzem brachte er noch eine
Bestiitigung dieser Beobachtung, indem er unter 400 Soldaten eines
Berliner Regiments 8 Meningokokkentrager feststellte.
Kolle und Wassermann 2 ) haben zahlreiche Untersuchungen
bei Gesunden und Kranken des Moabiter Krankenhauses angestellt,
haben jedoch nirgends, mit Ausnabme zweier Falle, den typiscben
Meningococcus Weichselbaum finden konnen. In diesen beiden Fallen
handelte es sich lmal um ein Kind, welches unter dem Verdacht
der Genickstarre ins Krankenhaus geschickt war, in dem anderen
Falle um den Vater eines meningitiskranken Kindes.
Dass Individuen, die mit Meningitiskranken in nahere Berbhrung
gekommen sind, Meningokokken im Nasensekret beherbergen und als
Zwischentrager andere mit Genickstarre infizieren konnen, wird ferner
bestatigt durch Arbeiten von Ostermann 3 ), Hasslauer 4 ), Dieu-
donne 5 ) und Jehle 6 ) sowie letzthin durch die Arbeiten von Bruns
und Hahn 7 ), Krohne 8 ), Bahr 9 ), Wollenweber 10 ), Ditthorn und
Gildemeister. 11 )
1) Deutsche med. Wochenschr. 1900.
2) Klin. Jalirbuch. Bd. 15.
3) Deutsche med. Wochenschr. 1906.
4) Zentralbl. f. Bakt. 1906. Abt. 1. Bd. 40.
5) Zentralbl. f. Bakt. 1906. Abt. 1. Bd. 40.
6) Berl. klin. Wochenschr. 1906. 7) Klin. Jahrbuch. Bd. 18.
8) Klin. Jahrbuch. Bd. 17. 9) Klin. Jahrbuch. Bd. 17.
10) Klin. Jahrbuch. Bd. 17. 11) Klin. Jahrbuch. Bd. 17.
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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 475
Jehle 1 ) glaubt, dass die Epidemie in Schlesien ihre grosse
Ausbreitung auf dem Wege der Grube gefunden hat. Bergleute, die
in der Grube von fiberall her zusammenstromen, seidn von Kollegen,
deren Kinder an Genickstarre erkrankt waren, mit Meningokokken
infiziert und batten die Keime dann zu Hause weiter tibertragen. Der
Ansicht Jehles, dass die Gruben zur Weiterverbreitung der epide-
mischen Genickstarre beitragen konnen, schliessen sich Krohne 2 )
und Bahr 3 ) an.
Die neuesten Untersuchungen fiber das Vorkommen der Meningo¬
kokken im Nasensekret stammen von Bruns und Hahn. Sie wiesen
bei den Familienangehorigen im Ansteigen der Epidemie (Marz 1907)
61 Proz., beim Abflauen schliesslich nur noch 8,5 Proz. Kokkentrager
nach und scbatzten die Anzahl der vorhandenen gesunden Kokken¬
trager 10- bis 20mal so gross wie die ^nzabl der Kranken.
Westenhoffer 4 5 , 8 ) fand bei seinen anatomiscben Untersuchungen
fast stets eine katarrhalisch-eitrige Pharyngitis und Angina retro-
nasalis im Beginn der Erkrankung und halt den Rachen, speziell die
Rachentonsille fiir die Eintrittspforte des Krankheitserregers. F lfi gge 6 )
behauptet, dass es ohne Rachenaffektion keine Genickstarre gibi
Wie verbreitet sich nun der Meningococcus im menschlichen
Korper? Westenhoffer 7 ) fand neben der Nasen- und Rachen-
erkrankung sehr haufig eine Otitis, jedoch nie vor dem dritten Krank-
heitstage, fast stets war eine Tracheitis, Bronchitis oder Broncho-
pneumonie vorhanden; er halt die Genickstarre ffir eine Inhalations-
krankheit.
Goppert 8 ) betont ausserdem die haufigen Erkrankungen des
Magen- und Darmtraktus, wie Hyperamien, Petechien, entzfindliche
Schwellungen der Solitarknotchen, der Peyerschen Haufen, Blutungen,
Geschwtirsbildungen, Erscheinungen, die wohl auf das Verschlucken
von meningokokkenhaltigem Nasen-Rachen- und Bronchialsekret zu-
rfickzuffihren sind; er fand ferner die Meningokokken in der Schleim-
haut des Larynx, der Bronchien und in brochopneumonischen Herden.
1) Berl. klin. Wochenschr. 1006.
2) Klin. Jabrb. Bd. 17.
3) Klin. Jabrb. Bd. 17.
4a) Berl. klin. Wochenschr. 1005.
4b) Fortschritte der Med. 1005.
5) Klin. Jahrbuch. 1006. Bd. 15.
6) Versammlung des deutschen Vereins fur 611’entliche Gesundbeitspflege.
Bremen 1007.
7) Berl. klin. Wochenschr. 1005 u. Fortscliritte der Medizin 1005.
8) Berl. klin. Wochenschr. 1005. Klin. Jahrbuch 1006. 15.
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476
XXI. Hasche-Klundkr
Jacobitz ! ) bat 2 mal die Erreger aus dem Sputum ztichten konnen.
Weichselbaum' 1 2 ), Ghon 3 ), Lenhartz 4 ), Schottmuller 3 * )
beobachteten Myocarditis, miliare Herzabszesse, Pericarditis, Endo¬
carditis, Nephritisiuterstitialis (SchottmUller), Cystitis purulenta, Epi¬
didymitis, Gelenkerkrankungen; Reuter 0 ) Periorchitis; Drigalski 7 )
will den Meningococcus im Herpesblascben, Pick ? ) in den Ductus eja-
culatorii gefunden haben. Yon Menigokokken im Blut intra vitam
berichten Lenhartz 4 * ), Schottmuller'•'), Harcowich 10 ), Dieu-
don|ne 4 ). Dass auch im Blut die Meningokokken von anderen Keimen
tiberwuchert werden, geht aus einem von Lenhartz 11 ) mitgeteilten
Fall hervor, in dem wenige Stunden vor dem Tode fast nur Meningo¬
kokken, vereinzelte Streptokokken, post mortem hingegen fast nur
Streptokokken gefunden wurden.
Lingelsheim 12 * ) fand in 3:30 Fallen Meningokokken im Herz-
blut, 2:29 in der Milz, 0:25 in den Driisen, 2:3 in bronchopneumo-
nischen Herden, 1:1 im Pleuraexudat; in makroskopisch nicht ver-
anderten Nasenhohlen 0: 10, Otitis 1:12, einmal im Herzblut Meningo¬
kokken und Staphylokokken. Wenn bei Sektionen in vielen Fallen
Entziindungen des Nasen- und Rachenraums nicht gefunden wurden,
so ist damit uoch nicht gesagt, dass eine solche Erkrankung nicht
bestanden hat, bevor Symptome von Gehirnentzundung auftraten. Nach
den Untersuchungen von Kirchner 1:i ), Lingelsheim 14 ), Westen-
hbffer 13 ), Kutscher 10 ), Bruns und Hahn 17 ) muss man annehmen,
dass die Keime vou Person zu Person beim Anhusten und Anniesen uber-
tragen werden. Die iufizierte Person erkrankt dann etwaselbstan Genick-
1) Zeitschr. f. Hygiene 10‘ >7.
2) Zentralbl. f. Bakt. 1903. 23.
3) Deutsche med. Wochenschr. 1902.
4) Notlmagels Handbuch, svst. Erkrankungeu.
7 >) Deutsche med. Wochenschr. 1903.
<»; Zcitschr. f. Hygiene 1907.
7) Deutsche med. Wochenschr. 1905. 25.
5) Berl. klin. Wochenschr. 190.3.
9 Deutsche med. Wochenschr. 1903.
I 1 *) Wiener klin. Wochenschr. 19 <m.;. 1312.
11) Zentralbl. 1'. Bakt. 190(1. Abt. 1. Bd. 40.
12) Klin. Jahrbueh. Bd. 13.
13a Berl. med. GesellschaA 31. V. 1905; bi Berl. klin. Wochenschr. 11*05;
c) Klin. Jahrbueh 1900.
14) Klin. Jahrbueh. Bd. 15.
1.5) Klin. Jahrbueh. 19o(>. Bd. 15.
l'l) Deutsche Tiled. Wochenschr. 1900.
17) Klin. Jahrbueh. Bd. Is.
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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 477
starre, oder — und das dtlrfte meistens der Fall sein — verbreitet
als Kokkentrager die Keime weiter, die dann besonders bei Kindern
mit einem lymphatiscben Habitus oder bei geschwachten, schlecht
genahrten Individuen, die dazu disponieren, einen frucbtbaren Boden
finden und hier eine Gehimentzlindung hervorrufen. Kutsclier 1 ),
Ostermann 2 ), Bruns und Hahn 3 ; erwahnen Falle, in denen im
Nasensekret Meningokokken gefunden wurden, die erst nach 3 Tageu,
3 Wochen und 2 Monaten erkrankten.
Die tJbertragung durch staubhaltige Luft durfte wobl uur in den
allerseltensten Fallen erfolgen, da die Kokken sich nur bei hoherer
Temperatur lebensfahig halten und ausserdem schnell eintrocknen.
Nicht dagegen ist von der Hand zu weisen, dass die Keime gelegentlich
durch Taschentiicher (Familientaschentlicher) verbreitet werden konnen.
Meistenteils dtirften dann die Keime vom Nasenrachenraum in die
Nebenbohlen, ins Obr, in die Stimhohle, durch die Foramina ethmoidalia
ins Gehim gelangen. Da beim Husten und Schneuzen gelegentlich
eine Verletzung eines Gefasses stattfinden kann, so ist es nicht aus-
geschlossen, dass Keime von hier aus in die Blutbahn eindringen, eine
Meningokokkensepsis, ev. mit zahlreicheu Metastasen hervorrufen. Dass
eine Invasion in die Blutbahn erfolgen und die Krankheit letal ver-
laufen kann, bevor eine Meningitis erfolgt, lehrt ein Fall von Schott-
m filler 4 ), der einmal den Meningococcus Weichselbaum bei einer
verrukosen Endocarditis fand, ohne dass klinisch oder anatomisch ein
entzundlicher Gehirnprozess nachzuweisen war. Andrews 1 ) fand Me¬
ningokokken im Blut bei einem Fall schvver verlaufender Septikamie
mit Purpura haemorrhagica, ohne dass klinische Erscheinungen von
Meningitis vorlagen; ebensowenig waren bei der Autopsie irgend welche
Veranderungen am Gehirn zu finden. Mischinfektionen mit andereu
Keimen dfirfen bei der Meningitis zu den Seltenheiten gehoren; jeden-
falls muss man stets den Verdacht haben, dass Verunreinigungen vor-
liegen. Erwahnt sei nur, dass Schottmiiller vor kurzem im Allge-
meinen Krankenhaus Eppendorf bei Meningitis epidemica anfangs
Jager und Weichselbaum, spater nur Weichselbaum ziichtete. Jager'*;
will Mischinfektionen mit Diplococcuspneumonie, Streptococcus pyo¬
genes und Kapselbacillus 1895 beobachtet haben. Doch sind diese
Angaben wie die vieler anderer nicht einwandsfrei, da M. Jager und
1) Klin. Jahrbuch. Bd. 18.
2) Deutsche rued. Wochenschr. 1900.
3) Klin. Jahrbuch. Bd. 18.
4) Deutsche mod. Wochenschr. 1905.
5) Berl. ined. Wochenschr. 1900. 772.
6) Zeitschr. f. Hvjriene 1895. Bd. 19.
Deutsche Zeitschrift t'. N'ervt-nhellkuuda. 37. BJ. 31
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478
XXI. H ASCHK-KLf NDEIt
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M. Weichselbaum durcheinander geworfen werden. Gelegentlich ist
kurz ante mortem Staphylococcus oder Streptococcus (Lenhartz 1 ))
gemeinsam mit Menigococcus gefunden; ferner Weichselbaum und
Pneumococcus. Albrecht und Ghon 2 ), Councilman 3 ), Kirchoer 4 )
berichten von einem 15jahrigen Jiingling, bei dem intra vitam Me-
ningokokken W. gefunden wurden und bei dem sich bei der Obduk-
tion eine Tuberkulose aller Organe fand.
Ferner berichtet Lingelsheim 5 ) von Mischinfektionen mit
Streptokokken, Staphylokokken, Pneumokokken. Um Meningokokken
von ahnlichen, zumal von den gramnegativen, intracelluliir lie-
genden Kokken zu unterscheiden, hat man in letzter Zeit ferner
auch vielfach den Weg der Agglutination benutzt; doch sind hieriiber
die Autoren sich noch nicht einig. Gerade so wie ein Bacterium
coli ein Bacterium typhi bis zu einem gewissen Titer agglutinieren
kann, so hat man Ahnliches auch zwischeu Meningococcus Jager und
Weichselbaum beobachtet. .Jager 6 ) berichtet, dass der von ihm be-
schriebene Meningococcus den Weichselbaum bis zu einer Verdunnung
von I : 300 agglutinierte, wiihrend andere solches bestreiten.
.J ochmann ") stellte ein hochwertiges Serum her, das den Diplo-
coccus intracellularis in Verdiinnungen bis zu 1:500 agglutinierte.
Dieudoune'') spricht schon solche Kulturen als Meningokokken an,
die in einer Serumverduunung von 1:100 agglutiniert werden. Kut-
scher 9 ) berichtet von leicht und schwer agglutinablen Meningokokken-
stiimmen. Er fand jedoch bei letzteren in der Regel dann eine posi¬
tive Rcaktion, wenn er dieselhen in den Brntofen bei 55° stellte.
Albrecht und Ghon |0 ) berichten ebenfalls, dass 2 Meningokokken-
stamme sich gegenseitig agglutinieren, wiihrend bei Jiiger und Weich-
sclhaum eine Agglutination nicht stattfindet. Wollen weber 1 ’) be¬
richtet. dass Hiissiges Meningokokkensermn mit einem Titer von
l:lbOn Mcningokokkenstiimme in Verdiinnungen von 1:400, 1 : S<>0
1‘ NotImairelx Handbucli, syst. Erkrankuniren.
2j Wiener klin. Woclicnsehr. 1M07.
31 Xentrallil. 1’. Bakt. 2-1. l. r >, 10
1 a I I’.erl, meil. (.ie^ellseltaf't 31. V. lllo.7; 1>| Berl. klin. Wochenschr. 11*03;
ei Klin, .lalirlmeli It'oii.
fo Klin .lalirlmeli. I*• 1. 17.
• Xentrall.l. f. Bakt. lUOM. 23.
T 21. K'inrre.'. tiir ituiere Medi/.in.
" Xentrallil. f. Ilakt. I'.ioil. Al't. 1. Bd. 1'>.
ln iit'i'iie miliiar. Xeit-ehr. lU'o. .7.
I 1 Wiener klin. Woelieti-clir. 1'70,7.
II Klin. 3 all 11 illeli. Bd. 1 7.
Gck igle
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Der bakteriologiscbe Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 479
und 1:1000 agglutinierte; doch zeigten zwei unechte Diplokokken-
stamme ebenfalls hohe Agglutinationswerte: 1:400, 1:800. Wollen-
weber halt die Agglutinationsprobe dann ffir beweisend, wenn die
Aufschwemmung einer sonst typischen Kultur in einer Serumver-
dfinnung von 1:400 Dach 4 Stnnden Ausflockung, nach 24 Stunden
Brutschrankaufenthalt einen Niederschlag in klar gewordener Flussig-
keit zeigt.
Bruns und Hahn 1 ) fanden ebenfalls gut agglutinable Stamme,
die mit dem Merckschen Serum in Verdiinnung bis 1:1500 aggluti-
nierten, w&hrend andere nur einen Titer von 1:100 erkennen liessen,
der allerdings bei Brutofentemperatur meist hoher ging.
Lingelsheim 2 ) Wollenweber, Ditthorn und Gildemeister
(Kl. Jahrbuch XVII) haben die serodiagnostische Reaktion mit Me-
ningokokken an Blutproben ausgefuhrt. Wahrend Lingelsheim
Agglutinationswerte bis 1:200 zu verzeiohnen hatte, fand Wollen¬
weber in 53 Proz. nur einen Wert von 1:10, in 33 Proz. von 1:30.
Ditthorn u. Gildemeister 3 ) beobachteten die Agglutnine nicht
vor dem 10. Krankheitstag.
tjbereinstimmung herrscht im ganzen bei fast alien Autoren in
Bezug auf die Tierpathogenitat des Meningococcus. Er ist pathogen
fur weisse Mause, weniger pathogen ftir Meerschweinchen und Kanin-
chen. Heubner 4 ) hat ferner bei Ziegen, Ohlmann 5 ) bei Pferden,
Lingelsheim 6 ) bei einer Affenart durch iDjektion von Meningo-
kokkenkulturen eine Meningitis hervorgerufen.
Die Ergebnisse der letztjabrigen Untersuchungen fiber den Erreger
der epidemischen Genickstarre sind kurz folgende:
1. Der Meningococcus Weichselbaum ist der Erreger der Menin¬
gitis cerebrospinalis und hat nichts gemeinsam mit dem von
Jager beschriebenen Diplococcus intracellularis.
2. Die Eingangspforte sind die oberen Luftwege; er setzt sich
vor allem im lymphatischen Gewebe des Nasenrachenraums
nieder und verbreitet sich von dort weiter.
3. Um den Meningococcus Weichselbaum zu zttchten, muss das zu
untersuchende Material sofort weiter verarbeitet werden, da
derselbe nur geringe Lebensfahigkeit besitzt, indem er nur bei
Brutofentemperatur gedeiht, schnell von Saprophyten fiber-
1) Kin. Jahrbuch. Bd. 18.
2 ) Deutsche med. Wochenschr. 1905. 26. 31.
3) Klin. Jahrbuch. Bd. 17.
4) Deutsche med. Wochenschr. 1906.
5) Journ. of Amer. Assoc. 1906. 3.
6) Deutsche med. Wochenschr. 1905. 26. 31.
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wuchert wird und schnell eintrocknet. Er kann bei genugea-
der Sorgfalt in der Lumbalfliissigkeit stets mikroskopisch oder
wenigstens kulturell nachgewiesen werden.
4. Wird bei einem Meningitiskranken die Lumbalfliissigkeit sofort
untersucht und findet sich in ihr mikroskopisch ein gramnega-
tiver Diplococcus intracellularis, so ist die Diagnose als wahr-
scheinlich zu betrachteD. Durch die Kultur wird die Diagnose
gesichert.
Bei Untersuchung des Nasensekrets ist die Anlegung der Kulturen
unerlasslich. Ein positives Resultat der Agglutination mit einem Anti-
meningokokkenserum wird jedenfalls die Diagnose ganz sicher stellen.
Eigene Untersuchungen.
Dank der Liebenswiirdigkeit von Herrn Dr. Sellottmiiller, der
rair zwei Weichselbaumstamme, von denen der eiue von der schlesi-
schen Epidemie, der andere von einer Patientin des Allgemeinen Kran-
kenhauses Eppendorf (Abteilung Oberarzt Dr. Sehottmtiller) herruhrte,
und einen Stamm Jager, welcher ihm seinerzeit von Herrn Prof. Jager
iibersandt war, zur Verfugung stellte, war es mir mbglich, Nachunter-
suchungen anzustellen und mich selbst von der Verschiedenheit des
Diplococcus Jager und Weichselbaum zu iiberzeugen. Zweimal fami
ich den Diplococcus Jager zufallig auf einer Blutplatte als Veruneiniguug
und habe von ihnen Kulturen angelegt. Ausserdem standen mir noch
mehrere Stamme von Streptococcus mucosas und Pneumokokken zur
Verftigung.
Mikroskopisch sail ich den Weichselbaum im hitngeuden Tropfen
moist als Diplococcus, bald zu vier, bald in kleineren, bald in grosseten
Haufchen zusammenliegend. Die Diplokokken waren nicht immer gleich
gross, waren an den einander zugekehrten Flachen abgeplattet, zeigten
Molekular-, aberkeine Eigenbewegung. Ich habe nie Ketten beobachtet, doch
sahen manche Priiparate Staphylokokken ahnlich. Die Kokken fiirbten sich
nicht nach Gram.
Der mir von Herrn Dr. Schottmttller zur Yerftlgung gestellte Jager
untersehied sich mikroskopisch nicht von dem Diplococcus, den ich zuerst
auf einer Blutplatte als Verunreinigung fand. Beide glichen im gauzen
dem Weichselbaum, doch erschienen die einzelnen Kokken etwas grosser
und lageu gelegentlich zu mehreren hinter einander. Der zweite Diplo¬
coccus, den ich als Verunreinigung auf einer Blutplatte fand, bestand ent-
schioden aus grbsseren Einzelkokken; sonst glich er den beiden auderen.
A!lo drei fiirbten sich nach Gram.
Kulturell erfolgte heim Weichselbaum kein Wachstum auf Ge¬
latine; er gedieh nur bei Brutofentemperatur.
Auf Blut bildeten sich nach 24 Stunden bei feinem Ausstrich kaum
stecknadelgrosse, feinen Tautrupfchen ahnlielie Kolonien, die bei durchfallen-
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Der bakteriologische Behind bei Meningitis cerebrospinalis usw. 481
dem Licht einen blaulichen Schimmer batten, bei auffallendem Licht weiss,
mit einem Stich ins Graue erschienen. Nach 3 Tagen flossen die Kolonien
allmahlich zusammen und wuchsen lippiger.
Die auf Blntagar geivachsenen Kolonien wurden nach Uberimpfung
zu Agglutinationsversuchen verwandt, nachdem auf Agar, Ascitesagar,
Glyzerinagar, Hammelserum, Bouillon, Gallenbouillon, Peptonwasser, Lack-
musmolke, Kartoffel, Milch Drigalski-Kulturen angelegt waren. Auf Agar
war ein Wachstum nicht eingetreten. Die anderen St&mme wurden leider
beim Uberimpfen verunreinigt mit Ausnahme einer Glyzerinagarkultur, die
am 4. Tage vereinzelte graue stecknadelkopfgrosse Kulturen eben oberhalb
des Kondenswassers zeigte. Dieser Stamm sowie ein Stamm den ich vom
hygienischen Institut in Hamburg durch Yermittlung erhielt, wurde noch
einmal auf die oben erwahnten Nahrboden Oberimpft. Gelatine blieb steril.
Am bestcn gedieh das Wachstum auf Blutagar, dann auf Hammelserum,
Ascitesagar, dann Traubenzuckeragar, schwach auf Glyzerinagar, Kartoffel,
ganz vereinzelte Kolonien auf Drigalski, gar nicht auf Agar. In den
tiOssigen Nahrbbden am besten in Milch, Gallenbouillon, sparlicher in
Peptonwasser, Lackmusmolke, am geringsten in Bouillon. Auf Hammelserum
und Ascitesagar fand sich nach 24 Stunden ein feiner, dQnner, glanzender,
durchscheinender Rasen, der nach 24 Stunden tlppiger, zah - schleimig
wurde. Ein ahnlicher Rasen bildete sich anf den anderen festen Nahr-
boden, der einen blaulichen Schimmer bei durchfallendem Licht hatte. Die
einzelnen Kolonien waren anfangs rund, scharf konturiert, waren grosser
als Streptokokken. Bei alteren Kolonien eutwickelten sich Degenerations-
formen. Die Kokken quollen auf, nalimen schwer Farbstoff an und
farbten sich nicht gleichmassig. Bei Agarstichkultur war ein Wachstum
nicht erfolgt. Bei Traubenagarstich und Neutralrotagarstich, der die Farbe
nicht anderte, fand sich ein grauer Belag an der Oberflache der Einstich-
stelle, nach der Tiefe zu nahm das Wachstum schnell ab, hOrte 1 cm
unterhalb der Oberflache vollig auf. Auf Drigalski batten sich ganz ver¬
einzelte fein sandkornahnliche Kolonien gebildet; eine Rotung des Nahr-
bodens war, wenn tlberhaupt vorhanden, nur minimal. Bouillon, Pepton¬
wasser, Gallenbouillon blieben klar; am Boden bildete sich ein brockliger
Satz, an der Oberflache ein feines zartcs Hhutchen, das bei unvorsichtigen
Bewegungen sofort vernichtet wurde. Milch gerann nicht. Auf Kartoffel
bildete sich ein ganz feiner weisser Rasen, der nacli einigen Tagen eine
leicht braunliche Farbe annahm. Mit Glyzerinagar wurden a-, /?-, y-Platten
gegossen, die klein stccknadelkopfgrossen Kolonien zeigten mikroskopisch
leichte Einkerbungen und nalimen nach 2 Tagen im Zentrum eine etwas
braunliche Farbe an.
Jager war kulturell leicht zu ztlchten. Nach 24 Stunden hatte sich
auf Agar, Glyzerinagar bereits ein tlppiger, zusammenhangender, grauer
Belag gebildet, der am Rande einen blaulichen Schimmer hatte. Die
Kolonien waren nach 24 Stunden bereits so tippig wie der Stamm Weichsel-
haum nach 3—4 Tagen und waren zusammengeflossen. Nach 3 tagigem
Wachstum bestand ein dicker Belag, der einer weissen Staphylokokken-
kultur iihnlich sail. Der .Tager wuchs auf Gelatine bei Zimmertempcratur;
die Stichkulturen wuchsen Oppig his auf den Boden. I'jtjtiges Wachstum
bestand auf Drigalski. der rot wurde; ehenfalls nahm Neutrallcakmusmolke
eine rote Farbe an. Endlich bestand tlpjiiges Wachstum auf Kartoffel, <tie
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br&unlich wurde. Auf Blutagar bildete der Diplococcus Jager einen gelb-
grttnen Belag, der nach einigen Tagen eine gelbe Farbe annahm.
Die Kultaren der auf deu Blutplatten zufftllig als Verunreinigung ge-
fundenen Diplokokken glichen den Kulturen des von Jager besckriebenen
Meningococcus. Am deutlichsten konnte ich den Unterschied des Diplo¬
coccus Jager vom Diplococcus Weichselbaum auf einer Blutplatte beob-
achten, auf der der Diplococcus Jager, von dem ebenfalls spater Kulturen an-
gelegt wurden, als Saprophyt wuchs. Ich hatte auf einer Blutplatte 2 Osen
Meningokokken Weicbselbaum-Kulturen verrieben, da ich glaubte, in der
ersten Ose nur wenig Material zu haben. Bei dem 2. Ausstrich muss ich
den auf der Blutplatte zufallig vorhandenen Saprophyten Diplococcus berQhrt ,
haben, denn am folgenden Tage zeigte sich an der Stelle des 2. Ausstrichs ein
gelblich-grQner, zaher schleimiger Belag wahrend an der Stelle des ersten ein
zarter grau-blaulicher Rasen mit stecknadelkopfgrossen Kolonien gewachsen
war. Nachweiteren 24 Stunden war der Weichselbaum von dem Saprophyten
vdllig tlberwuchert, mikroskopisch, was die Farbung nach Gram anlangt, und
makroskopisch zeigten beide Ausstriche das beschriebene differente Verhalten.
Ich habe mehrfach a-, $•, y-Platten mit beiden Diplokokkenarten an-
gelegt, doch gelang es mir nicht beide Diplokokken am folgenden Tage
zu differenzieren, da olfenbar der Saprophyt den Meningococcus Weichsel¬
baum schon nach 24 Stunden uberwuchert hatte.
Haufiger habe ich beide Diplokokken auf einem Objekttrager nach
Gram gefarbt; stets fand ich den Jager bzw. den Saprophyten grampositiv,
hingegen den Weichselbaum stets gramnegativ.
Neben dem Meningococcus Weichselbaum und Jager habe ich noch
von dem Streptococcus mucosus und dem Diplococcus lanceolatus, die
ebenfalls far die Erreger der Genickstarre angesehen sind, Kulturen an-
gelegt und dieselben mit dem Meningococcus verglichen.
Im Gegensatz zu dem Diplococcus intracellularis Weichselbaum bildet
der Streptococcus mucosus, der ebenfalls als Diplococcus vorkommt, Ketten,
die Teilungsachse steht J_ zur Kettenachse; die Einzelglieder sind von
einer Kapsel umgeben. Ausserdem entfarbt sich der Mucosus nicht nach
Gram. Er wachst auf Agar sparlich, bildet nach 24 Stunden stecknadel-
kopfgrosse, zarte, durchsichtige, farblose Kolonien, die nach 48 Stunden
ttppiger werden und einen schleimigen, fadenziehenden Charakter an-
nehmen. Der Belag wird nach wenigen Tagen trocken, der Coccus ist
nach ca. 6 Tagen meist nicht mehr zu ttbertragen. Er whchst gut auf
Gelatine und bildet hier bereits schon nach 24 Stunden einen fadenziehen¬
den Belag. Die Kolonien sind mikroskopisch rund, von braungelber Farbe,
sehen den Jitgerschen Kolonien ahnlich. Bei Gelatine- und Traubenzucker-
strichkulturen und Gallenagarstrich findet Wachstum in die Tiefe statt.
In Bouillon wurde ein Wachstum nicht beobaehtet, Pepton und Gallen-
bouillon wurden ganz lcicht getrdbt. Milch gerinnt in ca. 48 Stunden,
Lackmusmolke und Drigalski nehmen eine rote Farbe an. Auf Blutagar
bildet sich ein gliinzond grUner, schleimiger Belag, der spater dunkelgrUn
wird und dann wegtrocknet. Auf Hanunelserum wurde ein Wachstum
nicht beobaehtet.
Der Diplococcus lanceolatus bildet mikroskopisch Diplokokken von
liinglicher weisser Form, einer Lanzette oder KerzenHamme ahnlich. Die
zugespitzten Enden kbnnen einander zu- und abgewandt sein, die Kokken,
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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 433
die keine Eigenbewegung haben, die statt lanzettfOrmig auch rand sein
kOnnen und verschieden gross sind, bilden baufig Ketten von 6—8 Giedern.
Nach Gram wird der_ Coccus nicht entfarbt. Auf Agar und Blutagar
bildet sich ein feiner (jberzug, der aus kleinen, etwa stecknadelspitzen-'
grossen, Tautropfen ahnlichen, wasserklaren Kolonien bildet, welche sich bei
schwacher Vergrdsserung als etwa linsengrosse, schafrandige, mattgraue,
strukturlose Auflagerungen darstellen; bei starkerer VergrOsserung erkennt
man eine feine Granulierang. Bei durchfallendem Licht haben die Kolonien
einen blaulichen Schimmer. Auf Gelatine erfolgte bei 22° kein Wachstum.
In Strichkulturen fand kein Wachstum auf der Oberflache statt; im Impf-
stich zeigte sich ein Streifen. In FleischbrQhe, Peptonwasser bildete sicli
ein sparliches Sediment. Milch gerann, Lackmusmolke wurde rot gefarbt;
auf der Kartoffel bildete sich ein feiner Ciberzug von grauweisser F$rbe.
Ich habe dann noch Agglutinationsversuche angestellt und zwar
mit einem Stamm, der von einer Kranken herruhrte, einem Stamm
von der schlesischen Epidemie, einem Stamm, den ich dureh Vermitte-
lung vom hygienischen Institut in Hamburg erhalten batte, einem
Stamm, der Herrn Dr. Schottmiiller von Herrn Professor Jager
Qbersandt war, und den Verunreinigungen, die ich auf Blutplatten ge-
funden batte. Diese Stamme wurden znsammengebracht mit dem Serum
der Patientin Sch., das 8 Wochen nach der Entfieberung entnommen
ist, mit Normalserum und Immunserum; ferner wurden Kontrollproben
angestellt. Der Meningokokkenstamm der Patientin Sch. wurde durch
das Serum von Sch., entnommen 8 Wochen nach der Entfieberung, in
einer Yerdftnnung von 1:100 agglutiniert; sonst fand eine Agglutination
zwischen Sch.-Serum und den anderen Stammen nicht statt. Ebenso
wenig ergaben alle erwahnten Meningokokkenstamme (Jager oder
Weicbselbaum), mit Normalserum zusammengebracht, eine Agglu¬
tination. Hingegen wurde Stamm Sch. und Immunserum makroskopisch
in einer Verdunnung bis 1:500, Stamm Weicbselbaum und Immun¬
serum in einer solchen bis 1:500. des echten Jager und Immunserum
bis 1:200, der Verunreinigung Jager und Immunserum hingegen tiber-
haupt nicht agglutiniert. Mikroskopisch war die Agglutination nicht
sicher als positiv zu bezeichnen. Mikroskopisch bildeten sich bei
Stamm Sch. und Serum Sch. in einer Verdtinnuug von 1:10O,
Stamm W., Stamm Sch. und Stamm Jager -j- Immunserum bis zu
einer Verdlinnung von 1:1000 kleine Haufchen; doch waren diese
Kokkenhaufchen nicht mit der Agglutination von Typhusbazillen zu
vergleichen.
Nachstehend die Tabelle (S. 484).
Wesentlich Neues haben die Nachprufungen nicht ergeben. Eigen-
artig ist nur, dass der von Prof. Jager iibersandte Stamm -{- Immun¬
serum in einer Verdunnung von 1:200 makroskopisch deutlich noch
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484
XXI. Hasche-Klunder
Stamme
Serum Schuhmacher
Normalserum
makro-
skopisch
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Immunserum
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+
+
+
+
+
—
+
+
+
+
—
Verunreinig.
Jiiger
Gonococcus
agglutiniert wurde. Dieser Stamm Jager scheint also noch cine gewisse
Verwandtschaft mit dem Meningococcus Weichselbaum zu liaben. Der
deni Diplococeus .lager ahnliche Saprophyt + Immunserum hingegen
ergab keine Agglutination.
1 her die anderen Erreger der Cerebrospinalmeningitis, die teil-
weise schon Erwahnung gefunden haben, kann ich mich kurzer fassen.
Der Streptococcus lanceolatus ist, abgesehen von dem Tuberkel-
bacillus, der haufigste Erreger der Meningitis cerebrospinalis. Gelegent-
1 ich rufc er eine solche hervor im Anschluss an eine Pneumonie, Otitis
media, Empyem der Stirnhohle, im Anschluss an ein Trauma, doch
kunnen auch die Meningen anscheiuend primar erkranken.
Die ersten, die auf das Vorkommen von Meningitis bei Pneuino-
nie im dahre I860 aufmerksam gemacht haben, waren Immermann
and Heller 1 ). Xauwerk 2 ) berichtet 1881 liber eitrige Meningitis
bei kruposer Pneumonie. Foa und Bordini- Uffreduzzi :i ) sowie
Praenkel 1 ) fanden im eitrigen Exsudat bei Meningitis den Diplo-
coccus lanceolatus und hielteu ihn fur den Erreger der epidemischen
Genickstarre. Diese Beobachtungen bestatigten Weichselbaum *')
(Compt. rend. soc. de biol. 18S7. d4), Netter 6 ) u. a. Spiiter glaubten
li Deutsche Archiv f. klin. Medizin 5.
‘J) Deutsches Archiv klin. Medizin 1SS1
.I) Deutsche med. Worhcn^chr. Is'**). 1 T». IV.
1 Deutsche med. Wochenschr. 1 SSii.
?)] Fortscliritte der Medizin. Is87.
•1 Archive* general*** de med. Paris 18S7.
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Der bakteriologisclie Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 4§5
viele Autoren, dass mehr oder weniger zahlreiche Varietaten des
Frankelschen Pneumococcus bestanden, die beztiglich ihrer Form,
des Wachstums ihrer Kulturen, ihrer Lebensfabigkeitund Virulenz sowie
ihrer Tierpathogenitat ein mannigfaches Yerhalten zeigen konnten.
So wurden Diplococcus pneumoniae, Weichselbaum und Jager, sowie
Streptococcus mucosus f&r Varietaten einer Art gehalten und als
Erreger der epidemischen Genickstarre angesprochen, bis durch die
Untersuchungen von Albrecht u. Ghon 1 ), Weichselbaum 2 ), Schott-
miiller 3 ) Lingelsheim 4 ) u. a. dieser Konfusion ein Ende gemacht
wurde. Ob der Diplococcus pneumoniae Fraenkel imstande ist, kleine
Epidemien hervorzurufen, darilber sind die Autoren auch heute sich
nicht einig.
Schon Jansen 5 ) und spater BrunDer G ) haben darauf hingewiesen,
dass die krupose Pneumooie epidemisch auftritt. Bei einer Reihe der-
artiger Pneumonien wurde der Lanceolatus gefunden, und man sah
relativ haufig im Anschluss an dieselben eine Meningitis entstehen.
Ausserdem beobachtete man, das die Meningitis ohne Pneumonie auf-
trat, und man wies bei ibr im Meningealeiter oder intra vitam in
der Spinalflussigkeit den Frankelschen Pneumococcus nach. Dass
derselbe, welcher auch im Nasensekret Gesunder gefunden ist, Neigung
hat, von der Nase und dem Ohre aus auf die Meningen uberzugehen,
darauf hat bereits Weichselbaum 7 ) hingewiesen.
Mag man nun mehrere in einer Gegend durch den Lanceolatus
hervorgerufene Cerebrospinalmeningitiden als mehrere einzelne, spora-
discbeFalle oder als kleine Epidemie auffassen, mit der Weichselbaum-
scben Meningitis haben sie nichts zu tun.
Wie der Meningococcus, so gelangt auch der Lanceolatus von der
Nase und ihren Nebenhohlen oder vom Ohre aus auf dem Wege der
Lymphbahnen ins Gehiru. Er kann aber auch durch Verletzung eines
kleinen Gefasses in der Nase oder naturlich von der Lunge aus in die
Blutbahn gelangen und so eine Pneumokokkensepsis mit Metastasen
hervorrufen. Ich erwahne nur kurz den Befund bei Endocarditis in
den Gelenken, Pericarditis, Peritonitis usw.
Mischinfektionen von Pneumokokken mit anderen Bakterien ge-
horen imruerhin zu den Seltenheiten. Dass Pneumokokken gelegent-
Wiener klin. Wochenschr. 1901.
2) Zentralbl. f. Bakt. 1903. 23.
3) Deutsche rued. Woehenschr. 1005.
4) Klin. Jahrbuch. Bd. 15.
5) Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 1SS4.
0) Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 1SS4.
7) Fortschritte der Medizin 1SS7. IS. 19.
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XXI. Hasche-Klundek
lich einmal mitMeningokokken vorkommen, ist bereits erwahnt.Netter 1 )
sowie Panienski 2 ) beschrieben einen Fall Ton Pneumococcus ge-
meinsam mit Staphylococcus bei Meningitis.
Zum Unterschied von Weichselbaumscher Meningitis ist die
Lanceolatus- Meningitis prognostisch weit ungQnstiger. Wahrend im
Allgemeinen Krankenhaus Eppendorf die Mortalitat bei ersterer ca.
50 Proz. betrug, gehorte eine Heilung bei Lanceolatus-Meningitis zu
den grossten Seltenheiten. Fur Tiere ist der Lanceolatus ebenfalls
pathogener als der Weichselbaum.
Ein anderer Erreger der Meningitis, der gelegentlich mit dem
Meningococcus Weichselbaum, dem Meningococcus Jager und dem
Pneumococcus Fraenkel verwechselt oder fur eine Varietat dieser Mikro-
organismen gehalten wurde, ist der Streptococcus mucosus von Schott-
miiller 3 ).
Bono me 4 ) beschreibt einen Coccus, der mit dem Mucosus offen-
bar identisch ist, und den er fur den Erreger der epidemischen Genick-
starre halt, in seiner Arbeit „Zur Atiologie der Meningitis cerebro-
spinalis epidemics" und nennt ihn Streptococcus meningitidis. Denselben
Mikroorganismus fand Panienski 5 ) als den Erreger der Epidemie
von Genickstarre in der Garnison Karlsruhe wahrend des Winters
1892/93. SchottmOller 6 ) ztichteteihn 1896 aus einem parametritischen
Abszess, 1899 aus einer Peritonitis, fand ihn spater mehrfach bei Pneu-
monie sowie im Eiter bei Meningitis, die ihren Ausgang vom Mittel-
obr nahm. Er machte darauf aufmerksara, dass dieser Coccus weder
mit dem Meningococcus noch mit dem Lanceolatus das Geringste zu
tun hat, und ist der Ansicht, dass der Mucosus imstande ist, spora-
dische Falle wie kleine Epidemien von Meningitis cerebrospinalis her-
vorzurufen. Weitere Beobachtungen fiber den Streptococcus mucosus
teilen Heim 7 ), Neumann 8 ) und Proscheska 9 ) mit. Prognostisch
sind Streptococcus mucosus-Meningitiden sehr ungQnstig. Mischinfek-
tion von Mucosus und Pneumokokken kommt gelegentlich vor
(Schottmuller 10 )).
1) Archives gen. de med. 1890.
2) Deutsche militar. Zeitsckrif't.
3) Munch. med. Woehenschr. 1903.
4) Zieglers Beitriige zur patholog. Anatomic. 1890. Bd. S.
5) Deutsche militar. Zeitselirift.
0) Miinch. med. Woehenschr. 1905.
7) Zeitselirift f. Hygiene. Bd. 50.
8) Zentralblatt f. Bakt. Bd. 57.
9) Deutsches Arch. f. kliu. Med. Bd. 70.
10) Miinch. med. Woehenschr. 1'5.
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Der bakteriologlsche Befund bei Meningitis cerebrospiwilis usw. 437
Der haufigste Erreger der Meningitis cerebrospinalis ist offenbar
der Tuberkelbacillus. Die tuberkulose HirnhautentzQndung, die klinisch
haufig mit der epidemischen Genickstarre verwechselt wurde, hat stets
die Bedeutung einer sekundaren Erkrankung. Die primare Tuberku-
lose hat meistens ihren Sitz in den Lungen, der Pleura, in verkasten
Bronchial- und Mesenterialdriisen, am Knochen und in den Gelenken,
seltener im Hoden, Nebenhoden, Ovarien und Tuben. Wird ein tuber-
kuloser Herd bei der Obduktion nicht gefunden, so kann er sich irgend-
wo versteckt halten; leicht kann eine kleine verkaste Lymphdruse
(Bronchialdrflse) ubersehen werden. In anderen Fallen findet man ge-
gelegentlich einen kariosen Herd im Mittelohr, Warzenfortsatz oder
Keilbein. Die primare Tuberkulose kann langst ausgebeilt sein, in
verkalkten Herden bleiben die Tuberkelbazillen oft lange Zeit lebens-
fahig und konnen noch nach Jahren wieder verschleppt werden und
dann eine Cerebrospinalmeningitis hervorrufen. Der Tuberkelbacillus
und dessen Virus kann eine solche entweder auf hamatogenem (z. B.
haufig Eiubruch eines tuberkulosen Herdes in eine Lungenvene) oder
auf lymphogenem Wege (haufig Einbruch in den Ductus thoracicus)
oder endlich per contiguitatem (u. a. kann eine Wirbelkaries auf die
Ruckenmarkshaute ubergehen) erzeugen. Striimpell 1 ) glaubt, dass
das Gift gelegentlich in den Lymphscheiden der Nerven zum Arach-
noidalsack des Rtickenmarks und von hier zur Gehirnbasis gelangt.
Die Meningealtuberkulose im Gefassgebiet der Hirnarterien deutet auf
eine embolische Entstehung hin. Bald sehen wir eine miliare Tuber¬
kulose, die in etwa der Halfte der Falie die Meningen mitbefiillt, bald
nur eine Leptomeningitis entstehen.
Wie fur Meningococcus Weichselbaum, so scheint auch ftir den
Tuberkelbacillus das kindliche Gehirn besonders empfanglich zu sein.
Bei der Tuberkulose wird am haufigsten die Basis des Gehirns zwischen
Chiasma und Medulla oblongata ergriffen. Das haufig grungelbe Ex-
sudat, das von kleinen Knotchen durchsetzt ist, findet sich ferner in
der Fossa Sylvii, zumal in der Umgebung der Gefasse. Im Rucken-
mark ist die Aracbnoidea getriibt, die Pia verdickt, die vorderen
Rfickenmarkshaute sind meist weniger befallen als die hinteren.
Die Tuberkelbazillen in den Meningen sind bereits kurz nach der
Entdeckung des Tuberkelbacillus durch Koch gefunden. Lichtheim 2 )
fand dieselben 1893 zuerst intra vitam in der Spinalfiussigkeit. Wah-
rend dieselben anfangs nur ausnahmsweise in derselben gefunden
1) Lehrbuch.
2) Deutsche med. Wochenschr. 1S93. 46.
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wurden, werden dieselben jetzt von vielen Klinikeru (Lenhartz) fast
regelmassig nachgewiesen.
Die Prognose der tuberkulosen Meningitis ist durckaus infaust,
wenngleich vereinzelte Falle vou Heilung Henkel 1 ), Jansen 2 ) be-
scbrieben habeu. Doch sind hier wohl die akuten Meningitiden in
ein chronisches Stadium iibergegangen. So berichten auch Rilliet u.
Barth ez 3 * ) von einem Fall, bei dem 2 durch ein paar Jahre von ein-
ander getrennte Erkrankungen an tubrk. Meningitis auftraten and bei
der Sektion frische und alte Herde gefunden wurden. Von ahnlichen
Fallen berichten Pollitzer und Henoch. 1 )
Mischinfektioneu vou Tuberkelbazillen mit Streptokokken, mit
Wei chse 1 baumschen Meningokokken (Kirchner 5 * * * ), S ch o tt m ii 11 e r'}
u. a.) und auch mit Pneumokokken sind gelegentlich beobachtet.
Bei den auderen Infektionskrankheiten, wie Influenza, Typhus,
Diphtherie, Erysipel, Maseru, Scharlach usw., treten zwar Symptome,
die auf eine Atfektion des Zentraluervensystems schliessen lassen, nicht
allzu selten auf, trotzdem gehort es zu deu Seltenheiten, dass die In-
fektionserreger intra vitam in der SpiualHiissigkeit oder in mensa in
den Meningen nachgewiesen werden.
Pfuhl'X 9 * 11 ) hat zuerst den Influenzabacillus in dem Meuingeal-
eiter gefunden und berichtet spater von 12 Fallen, in denen er den
Influenzabacillus bei Meningitis beobachtet haben will. Ihm folgen
Mitteilungen von Nauwerek '"), Haecke "), Slawyk 12 ), Ghon 13 ) u.
E. Frankel M ).
Can tan i 13 ) spritzte Kanincben Intluenzareinkulturen in die Ge-
liirnsubstanz und erzeugte bei ihnen eine Meningitis mit Krampfen und
Tiiihmungserscheinungen.
1) Deutsche nied. Woclienselir. 1900.
2) Miinch. nied. Woclienselir. 1S90.
oi Notlmagels Hatidhuch. 1-1.
-II Notlmagels Handhvich 1-1.
5) a) fieri. nied. Gesellselialt 31. V. 19o5; hi llerl. klin. Woclienselir. 1905;
e) Klin. Jahrh. 1900.
ti .Miinch. nied. Worhcnsehr. 1
7; Deutsche nied. Woclienselir. 1-S92.
si Zeitschrift 1‘. Hygiene. ISuT.
9i Militiirzeitsehrift 1S95.
l"i Deutsche nied. Woehenschr. 1^95.
11) Munch. nied. Woclienselir. 1^97.
12' Zcitschr. !'. Ilycdcne 1907.
13i Deutsche nied. Woclienselir. 1902.
1-1 Zeit-ehr. f. Hvgienc Ives.
15 Zeitsehriit f. Hygiene. ]sU<;,
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Der bakteriolognche Be fund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 439
Pfuhl 1 , 2 , 3 ) (s. o.) berichtet fiber Mischinfektionen der Influenzaba¬
zillen tnit Staphylokokken und Streptokokken und Frankel schen
Pneumokokken. Die Eingangspforte sind offenbar die oberen Luftwege,
die weitere Verscbleppung der Keime erfolgt wohl hauptsachlich per
continuitatem und auf den Lymphwegen, indem die Bazillen von der
Xasenschleimhaut in den Nasenrachenraum und von dort durch die
Lamina cribrosa ins Gehirn iiberwandern, und in einzelnen Fallen
durch die Blutbahn. Pfuhl fand die Influenzabazillen bei Meningitis
im Gehirn in den Lymph- und Blutgefassen und im Protoplasma der
Ganglienzollen, im verlangerten Mark, im Epithel und Lumen des
Zentralkanals, in den Lungenalveolen, Bronchialschleim, Pankreas,
Leber, Harnkaniilchen, Lymplidriisen. Walter 4 ), Kamen 5 ), Peucker 6 )
berichteten iiber ahnliche Falle. Letzterer von einer Mischinfektion
mit Staphylokokken. Slawyk”) fand die Influenzabazillen bei einer
unter dem Bilde der Meningitis verlaufenden Allgemeininfektion, ausser-
dem iu einzelnen Gelenken. Feruer seien die bei einer Allgemeininfek¬
tion, gelegentlieh auchnur bei InHuenzameningitis auftretenden schweren
ulcerosen hamorrhagischon Magen- und Darmerscheinungen erwiihnt.
Schottmfiller s ) teilt einen Fall von Meningitis mit, die durch
den Pseudoinfluenzabaeillus hervorgerufen wird, der nur auf hamoglobin-
haltigem Nahrboden wuchs und bedeutend grosser war als der ln-
fluenzabacillus.
Die ersten Beobachtungen iiberTyphusbazillen im Meningeneiter und
im Rtickenmark sind bereits Mitte der 80 er Jahre gemacht. Cursch-
raann' 1 ) berichtet 1S86 von einem unter den Erseheinungen von Landry-
scher Paralyse verlaufenden Typhus. Mikroskopisch und kulturell wies
er im Rtickenmark und Gehirn den Typhusbacillus nach. XachCursch-
mann folgen weitere Beobachtungen von Neumann u. Schafer 1 "),
Freyhan 11 ) Kamen 1 -). Kfihnau 13 ), Hoffmann 11 ), Boden 1 ').
1) Deutsche med. Wochenschr. lSf‘2.
2) Zeitsclirift f. Hygiene 181)7.
3) Militarzeitschrift Dim.
4) Deutsche tiled. Wochenschr. W»».
5i Wiener med. Wochenschr. IShti.
•i Prager med. Wochenschr. 11.Ml.
7) Zeitsclirift f. Hygiene 1MM.
5) Deutsche med. Wochensi'hr. ItMj.
0) Nothnagel. Der rnterleihstyphus.
ID) Virchows Arcliiv. Iss7. Bd. loo.
ID Deutsche med. Wochenschr. 1'sss.
12 1 Zentralhlat; f. linkt. IS'.m. Bd. 7.
13: Berl. klin. Wochenschr. ls>,.
14) Deutsche med. Wochenschr. W,t7.
17)) Ref. Miinch. med. Wochcnsc-iir. Is'M.
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490
XXL Hasche-Klunder
Intra vitam wies zuerst Jemma 1 ) in der Lumbalflfissigkeit Typhus-
bazillen nach. Ihnen folgten weitere Untersuchungen von Lewko-
witz 2 ), Schfitze 3 ). Schiitze berichtet von einem Fall von Menin¬
gitis, bei dem am 8. Tage durch das Auffinden von Typhusbazillen
in der Lumbalflfissigkeit die Diagnose gestellt wurde, wahrend erst die
fur Typhus cbarakteristischen Symptome (Roseolen, Stuhl, Milzschwel-
lung) viel spater auftraten. In einem 2. Falle wurden Typhusbazillen
in der Spinalflussigkeit nachgewiesen, ohne dass meningitische Er-
scheinungen vorhanden waren. Lenbartz u. Schottmfiller 4 ) be-
richten von 2 Fallen von eitriger Meningitis, in denen intra vitam in
der Lumbalfliissigkeit und im Blut Typhusbazillen nachgewiesen wurden,
wahrend sonst bei der spateren Sektion krankhafte typhose Erschei-
nungen nicht gefunden wurden.
Eine andere Eingangspforte als der Mund durfte bei Typhus kaum
in Betracht kommen. Von der Darmwand und seinen lymphatischen
Apparaten, in der sie, wie oben erwahnt, Veranderungen nicht unbe-
dingt hervorzurufen brauchen, verbreiten sich die Mikroorganismen in
die Lymphdrfisen und gelangen durch das Lymphgefasssystem in die
Blutbahn.
Mischinfektionen von Typhus- mit anderen Bazillen bei eitriger
Meningitis sind nicht haufig. Eisenlohr, Boden 6 ) beobachteten Bac¬
terium typhi gemeinsam mit Staphylokokken. Curschmann 6 ) be¬
richtet fiber einen Fall von tuberkuloser und typhoser Meningitis, tjber
das Vorkommen von Typhusbazillen gemeinsam mit Streptokokken
und Staphylokokken habe ich in der Literatur Angaben nicht gefunden.
Ein dem Typhusbacillus ahnliches, aber weder mit demselben noch mit
dem Bact. coli identisches Bacterium fanden bei primarer Meningitis
Neumann u. Schafer 7 ).
Die anatomisch-pathologischen Veranderungen, die das Bact. typhi
am Gehirn und den Ruckenmarkshauten hervorruft, sind im ganzen
dieselben wie bei den anderen eitrigen Meningitiden, auf die an anderer
Stelle ich noch zuriickkommen werde.
Hintze 8 ) beschreibt eine typhose hamorrhagische Pachy- und
Leptomeningitis. Vincent 9 ) und viele andere beobachteten die bei
1 ) Zeutralblatt f. innere Med. 1898.
2) Jahrbuch f. Kinderheilkunde. 1902.
3) Berl. klin. Woehenschr. 1905-
4) Nothnairels Handbueh. Bd. 3. Heft 4.
5 ) Ref. Munch, med. Woehenschr. 1899.
6 ) Not linage 1, Der Unterleibstyphus.
1 ) Vircliows Archiv 1SS7. Bd. 109.
8 ) Zeutralblatt f. Bakt. Bd. 14.
9) Virchows Archiv. Bd. 130.
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Der bakteriologische Betund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 491
allgemeiner Sepsis gelegentlich auftretenden Erscheinungen und fanden
den Typhusbacillus ausser im Gehirn und Ruckenmark im Abszess-
eiter, Mesenterialdrtisen, Milz, Leber, Niere, Knocbenmark, Herzblut,
Herzklappen, Knocben, Gelenken usw., Bo den 1 ) in den Yentrikeln.
Daruber, dass der Diphtberiebacillus eine eitrige Meningitis hervor-
ruft, fehlen Mitteilungen. Nur Morell u. Wolff 2 ) wollen bei einem
4 V* Monate alten Kinde mit tuberkuloser Meningitis aus der Lumbal-
fliissigkeit intra vitam den Diphtheriebacillus gezucbtet haben, ohne
dass diphtheriscbe Erscheinungen beobachtet waren.
Proschaska 3 ) berichtet von einer Gonokokkensepsis, bei der er
eine eitrige Leptomeningitis beobachtete und aus dem Eiter den Gono¬
coccus zuchtete. Meningitiden bei Gonorrhoe sind ferner yon Engel-
Reinjers u. Polozoff 4 ) beschrieben.
Als Erreger Ton Masern und Scharlacb sind gelegentlich Strepto-
kokken angesprochen, doch ist ein Nachweis hieruber nicht erbracbt;
da Angina bezw. Diphtherie meist im Anfangsstadium Ton Scharlach
Torbanden ist, ausserdem eine Streptokokkensepsis mit Meningitis ge¬
legentlich nach Tonsillenerkrankungen auftreten, so wird man das ge-
legentliche Yorkommen Ton Meningitis cerebrospinalis streptococcica
im Yerlauf Ton Scharlach nicht leugnen konnen. Menzer 5 ) fand
in der Lumbalflfissigkeit frei und intracellular liegende Diplokokken,
die den Meningokokken ahnlich waren und Ketten bildeten (Strepto¬
coccus mucosus?). Der Kranke war im Anschluss an Scharlach-
diphtherie an einem Ohrleiden erkrankt, das eine typische Cerebro-
spinalmeningitis herTorrief.
tjber Meningitis cerebrospinalis, Terursacht durch den Rotz, be¬
richtet Tedescho 6 ).
Albrecht und Ghon 7 ) und die deutsche Pestkommission be-
richten fiber das Vorkommen Ton Meningitis bei Bubonenpest und
fanden im Meningeneiter den Pestbacillus.
Der Bacillus pneumoniae ist als Erreger einer Meningitis nur bei
allgemeiner Sepsis beobachtet. Die primare Erkrankung war eine
Bronchopneumonie, in anderen Fallen eine eitrige Otitis, Rhinitis
1 ) Ref. Miinch. med. Woehenschr. 1899.
2) Journ. of Americ. Assoc. 1907. 20.
3) Deutsches Arcliiv f. klin. Med. Bd. 7.
4) Ref. in Baumgartens Jahrbiichern. 1892.
5) Berl. klin. Woehenschr. 1901. 11.
6 ) Virchows Arcliiv. Bd. 130.
7) Zitiert nach Kolle und Wassermann, Handbuch.
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XXI. Hasche-KlCnoer
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Oder Tonsillitis (Lenhartz 1 ), Weichselbaum 2 ), Dmochowski 3 ),
Canon 4 ).
Neben Meningitis fand sich auch eitrige Pericarditis, Pleuritis,
Gelenkeiterungen. Lenhartz 5 ) fand intra vitarn massenhaft Pneu-
moniebazillen im Blut. Houl und Pesina 6 7 ) fanden neben dem Bacillus
pneumoniae noch den Bacillus pyoceaneus.
Uber das Vorkommen von Bacillus coli communis bei eitriger
Meningitis als Teilerscheinung allgemeiner Pyamie berichten Stern’)
und Scherer. 8 )
Als Ausgangspunkt der Sepsis wurden Mittelohr, Gallenwege, Pro¬
cessus vermiformis — Nabeleiterung (in 2 Fallen) gefunden.
Noeggerath 9 ) fand einen Bacillus coli immobilis capsulatus bei
eitriger Meningitis eines Sauglings, die erst im Yerlauf von 2 l / 2 Mo-
naten zum Tode fuhrte. In dem durch Lumbalpunktion gewonnenen
dicken Eiter fand er einen unbeweglichen Kapselbacillus, der Indol
bildete und dem Bact. lactis aerogenes ahnlich sah.
Eine durch das ebengenannte Bacterium hervorgerufene Menin¬
gitis teilt Beitzke 10 ) mit. Es handelt sich um ein kongenital syphi-
litisches Kind, das unter dem Bilde der Septikamie zugrunde ging.
Das Bact. lactis aerogenes wurde aus dem Meningitiseiter gezlichtet.
Scheib 11 ) hatte bereits vorher denselben Mikroorganismus als Erreger
einer Gehirnentzlindung nach Mittelohreiterung gefunden.
Moser 12 ) demonstrierte auf dem Kongress der Gesellschaft fur
innere Medizin 1905 ein anaerobes Bacterium, das eine eitrige Menin¬
gitis verursacht hatte.
tiber einen Fall von akuter eitriger Meningitis mit sturmischem
Anfangsstadium, in welchem die mikroskopische Untersucbung und
das Kulturverfahren der Lumbalfliissigkeit als Erreger den Micrococcus
tetragenes albus (in Reinkultur gewonnen) feststellten,berichtetPende 13 ).
1 ) Nothnagels Handbucb. Bd. 3. Heft 4.
2) Monatsschrift f. Ohrenheilkunde 1887.
3) Zentralblatt f. Bakt. 1892.
4) Deutsche med. Wochenschr. 1893.
r») Nothnagels Handbuch. Bd. 3. Heft 4.
(ii Zitiert nach Kolle und Wassermaun, Handbuch.
7) Deutsche med. Wochenschrift 1893.
8 'i Jahrbuch f. Kinderheilkunde 1902.
9) Munch. med. Wochenschr. 1907. 017.
10 ) Zentralblstt f. Bakt. Bd. 37. 4.
11) Frag. med. Wochenschr. 1900. 2.1.
12 1 Verhandlungen des 10. Kongresses fur die Ges. fiir innere Medizin 1901.
13) Munch, med. Wochenschr. 1900. S. 2208.
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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 493
Eossel *)und Berka 1 2 ) fanden bei einer eitrigen Meningitis im An¬
schluss an Otitis media den Bacillus pyoceaneus. Von Ohon und
Mttller 3 ) wurde derselbe Mikroorganismus bei einer Meningitis eines
Sauglings nach einer Nabeleiterung gefunden.
Hitschmann und Lindentbal 4 ) beobachteten eine nach Schadel-
fraktur entstandene Meningitis, deren Erreger der Frankelsche Gas-
bacillus war.
Endlich sei bier noch der Cerebrospinalmeningitiden Erwahnung
getan, die durch Streptokokken und Staphylokokken hervorgerufen
werden. Dass der Streptococcus mucosus, der von einzelnen noch
iramer fGr eine Varietat des Diplococcus pneumoniae gehalten wird,
sporadisch und zuweilen auch epidemisch eine Meningitis cerebro¬
spinalis hervorrufen kano, babe ich bereits erwahnt Die anderen
Streptokokken und Staphylokokken durften, wenn tlberhaupt, nur in
den allerseltensten Fallen primar ein Meningitis erzeugen. Ip man-
chen der publizierten Falle wird wobl der primare Herd nicht gefunden
sein. Schafer und Neumann 5 ) wollen den Streptococcus pyo¬
genes als Erreger einer primaren Meningitis beobachtet haben.
Sekundar finden sich hingegen Streptococcus pyogenes sowie
Staphylococcus pyogenes aureus vereinzelt, auch citreus und albus
relativ oft und zwar am haufigsten bei otogener Meningitis, ferner
bei Meningitis als Komplikation von Erysipelas faciei, Tonsillitis, Pneu-
monie, die abscediert hat (Lenhartz 6 ), Netter 7 ), Kirchner 8 )), end¬
lich die Meningitis als Komplikation von allgemeiner Sepsis. In den
meisten Fallen dringen die Mikroorganismen von der ausseren Haut
(besonders die Staphylokokken bei Furunkel, Schrunden, Karbunkel,
Trauma), von den Schleimhauteu der Rachenhohle (Angina, Diph¬
theric, Tonsillarabszess) und von dem weiblichen Geschlechtskanal
(Streptokokken) ein. Vielfach erfolgt ein unmittelbarer Einbruch in
eine Vene, haufig werden die Keime auf thrombophlebitischem Wege
weiter verschleppt. Der Mischinfektion von Strepto- und Staphylo¬
kokken mit anderen Meningitiserregern habe ich bereits Erwah¬
nung getan.
Wahrend die tuberkulose Meningitis an den Knotchen leicht er-
1) Zeitschr. f. Hygiene. Bd. 36.
2) Wiener klin. Wochensehr. 1003.
3) Zitiert nach Kolle-Wassermann, Handbnch.
4) Sitzungsberiekt der kaiserl. Akademie der Wissenschaft in Wien. 1S99.
5) Virchows Archiv 1887. Bd. 109.
6) Nothnagels Handbuch. Bd. 3. Heft 4.
7) Extrait des Archives g£n<$rales de med. 1SS7.
8) Berl. klin. Wochensehr. 1893.
Deutsche Zeitsckrift f. Nervenlieilkunde. 37. Bd. 32
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494
XXI. Hasche-Klundee
kennbar ist und vor allem die Basis zwischen Chiasma und Medulla
sowie die Rolandschen Furchen befallt, breitet die eitrige Meningitis,
die durch die anderen Bakterien hervorgerufen wird, sicb gleichmassig
liber Basis und Scheitel vom hinteren bis zum vorderen Pol aus.
Makroskopisch findet sich zwischen Dura und Pia in den Arachnoidal-
raumen und Maschen ein eitriges Exsudat, das in der Nahe der gros-
seren Gefasse besonders stark ausgepragt ist. Am Ruckenmark nimmt
es hauptsachlich die hinteren Abschnitte der Peripherie ein. Die Pia
zeigt starke Hyperamie, ist mit Blutpunkten durchsetzt. Die Ventrikel-
fliissigkeit ist viel trttber als bei der tuberkulosen Entziindung; das
Ependym ist haufig mit Eiter bedeckt, das Gehirn ist gelegentlich mit
kleinen Abszessen durchsetzt. Die mikroskopische Untersuchung der
Cerebrospinalflussigkeit weist im Gegensatz zu der tuherkulosen Leuko-
cyten in den Exsudatmassen auf.
Welche gerichtsarztliche Bedeutung haben nun die bakteriologi-
schen Befunde bei Meningitis ccrebrospinalis ?
Eine Cerebrospinalmeningitis erlangt eine forensische Bedeutung,
wenn dieselbe sich mittelbar oder unmittelbar an ein Trauma an-
schliesst, das gewaltsam, durch einen Unfall, durch eine Operation u.
dergL herbeigefuhrt sein kann. Meistenteils ist die traumatische Me¬
ningitis die Folge einer Wundinfektion.
Zunachst kann bei einer Schadelyerletzung mit gleichzeitiger Ver-
letzungder ausseren Weichteile direkteine Kommunikation des Schadel-
innern mit der Aussenwelt hergestellt werden, so dass eine direkte Ein-
gangspforte fur Infektionskeime gegeben ist. Zweitens sieht man
gelegentlich infolge einer Wunde eine allgemeine Sepsis und dann
metastatisch eine Gehimentzfindung auftreten.
Entsteht eine Meningitis infolge Wundinfektion, so sind ihre Er-
reger in der liberaus grossten Zahl der Streptococcos und Staphylo¬
coccus (aureus, albus, citreus). Ist durch die Yerletzung eine Kom¬
munikation der Schadelhohle mit der Aussenwelt hergestellt und eine
Infektion eingetreten, so dfirften fur den Gerichtsarzt kaum Schwierig-
keiten entstehen. Denn wenn auch die Befunde der Pia an sich im
grossen und ganzen keinen bestimmten Anhalt fur die Diagnose einer
traumatischen Meningitis geben, so gewinnen sie doch ausschlag-
gebende Bedeutung, wenn neben ihnen noch im Leben entstandene
Verletzungen des Schadeldachs oder der Weichteile bestehen und der
Nachweis gefiibrt werden kann, dass die Veranderungen der Pia zu
diesem in ursachlichem Zusammenhang stehen. Die Einwanderung
pathogener Infektionstrager erfolgt meistens durch den freien Zutritt
der Luft, in anderen Fallen durch einen mit Keimen beladenen ein-
dringenden Fremdkorper. Auch isolierte Kontinuitatstrennungen der
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Der bakteriologiache Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 495
Schadelweichteile ohne Verletzung der Knochen, ja haufig recht un-
bedeutende oberflachliche Qaetachwunden konnen das Zustandekommen
einer traumatischen Meningitis gelegentlich bewirken, da zwischen den
Weichteilen und dem Schadelinnem infolgeder Lymph- und Blntbabnen
(Santorinische Emissarien, Diploerenen) zablreiche Kommunikations-
wege bestehen, die den Eitererregem den Eingang gewahren. Bei
Zerreissung eines Blutgefasses femer bilden sich Thromben, die infek-
tioses Material zuweilen aufnehmen und spater zerfallen und im Gefass-
system fortgeschleppt werden, oder sie setzen sich fiber die Sinus der
Dura hinaus in die Venen der weichen Hirnhaute fort und rufen eine
Entzfindung derselben bervor. Auch hier wird es dem Gerichtsarzt
meist obne weiteres gelingen, die Bahnen, welche die Infektionserreger
vom Trauma bis zur Schadelhohle genommen haben, aufzufinden.
Tritt mebr oder weniger unmittelbar im Anschluss an ein Trauma
eine Sepsis und als Komplikation eine Meningitis auf, so dfirfte eben-
falls der Nachweis des ursachlichen Zusammenbanges zwischen Me¬
ningitis und Verletzung nicht schwer fallen. Meist wird man ohne
weiteres im Blut und Meningeneiter Bakterien nachweisen konnen.
Andebs hingegen liegen die Verhaltnisse dann, wenn zwischen Trauma
und meningitischer Erkrankung ein Zeitraum von mehreren Wochen
liegt und wahrend derselben das Allgemeinbefinden wesentliche Sto-
rungen nicht geboten hat. In der Regel wird man nattirlich in einem
solchen Falle einen Zusammenhang zwischen Trauma und Erkrankung
ablehnen. Dass jedoch auch noch Wochen nach einer Verletzung eine
Gehirnentzfindung bestehen kann, beweist u. a. der folgende Fall 1 , 2 ), den
ich wahrend meiner Assistentenzeit am Eppendorfer Krankenhause
(Abteilung Oberarzt Dr. Nonne) zu beobachten und begutachteu Ge-
legenheit hatte.
Am Abend des 8. X. 1904 wurde der 55jfthrige Hilfsarbeiter E. R.
mit der Diagnose Delirium tremens ins Eppendorfer Krankenkaus geschickt.
Derselbe war frflher nie ernstlich krank, war 6tarker Potator (90 Pfg.
Schnaps pro die). Am 13. IX. fiel ihm ein 20 Pfund schweres Gewicht
auf den linken Unterschenkel und streifte seinen linken Fuss. Er war
3 Tage krank zu Hause, nahm dann die Arbeit wieder auf und lief noch
l&ngere Zeit mit einem Verband an der grossen Zeke umher. Am 27. IX.
legte er sich wegen Schmerzen im Bein und Kreuz zu Bett, litt seit dem
1 . X. an Rheumatismus in den Beineu und bekam 8. X. ein Delirium, das
anfangs filr ein alkoholisches gehalten wurde.
Status: Mittelgross, massig genahrt, von gelber Gesichtsfarbe, Wangen
braunrOtlich gefarbt, allgemeiner Tremor, Schwcissausbruek am ganzen
1 ) Hasche-Klunder, Zur Pathologic des Delirium tremens. Jalirbiicher
der Hamburger Staatskraulcenanstalten. Bd. 9.
2 ) Zipperling, Cher akute infektidse Wirbclentziindung (Spondylitis in-
fectiosa). Ebendort. Bd. 10.
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XXL Hasche-Kxunder
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KOrper. Leicht benommen, verwirrt, desorientiert, psychomotorisch erregt
wie ein Alkoholdelirant and mit den fttr Delirium tremens typischen Sinnes-
tauschungen. Temperatur 38,8. Normale Reaktion der Pupillen, belegte,
trockene, zitternde Zunge, gerfiteter Rachen. Geringe Nackensteifigkeit;
Dnick- and Klopfempfindlichkeit der Wirbelsaule. Uber den Langen ist
nichts Krankhaftes nachzuweisen, Ober der Herzspitze systolisches Blasen;
kleiner frequenter, regelmassiger Puls; sonst innere Organe normal. Urin
frei von E. und Z.; Druckempfindlichkeit der Oberarme und Oberschenkel;
Sehnenreflexe sind infolge der aktiven Spannungen nicht auszulOsen; keine
Paresen, Romberg, Ataxie, Dermographie. An der grossen Zehe eine an-
scheinend einige Tage alte HautabschQrfung.
4. X. Viel verwirrter, Nackensteifigkeit hat stark zugenommen; keine
SchdttelfrOste. Temperatur 39,2, kein erhohter Spinaldruck. SpinalflQssig-
keit getrQbt, enthalt zahlreiche Leukocyten. IOV 2 Uhr abends unter all-
mahlich zunebmender Benommenheit Exitus letalis.
5. X. Auf den am 4. X. entnommenen Blutplatten sind zahlreiche
Staphylokokken gewachsen, ebenso von einem Ausstrich der SpinalflOssigkeit
Klinische Diagnose: Meningitiscerebrospinalispnrnlenta; Staphylo-
kokkamie.
Sektion. Brust- und Bauchhflhle: Abgesehen von leichter Milz-
schwellung und trtlber Nierenschnittflache nichts Besonderes. Gehirn: An
der Basis, zumal an dem dem Clivus aufliegenden Teil, ist die Pia getrhbt,
an der Medulla oblongata, dem Pons und den angrenzenden Partien des
Kleinhirns von etwas stllzig-eitriger FlOssigkeit durchsetzt An den
Pauken-, Nasen-und NebenhOhlen, die mittels Harkeschen Schnitts erOffnet
werden, finden sich keine krankhaften Veranderungen; die Wirbelsaule wird
median in sagittaler Richtung durcbsagt. Arachnoidea und Pia sind durch
eitrige Massen verklebt, besonders im Lumbalteil. RQckenmarksubstanz
ist weich. Die Spongiosa des 3. und 4. LendenwirbelkOrpers ist von gelb-
lichen Eiterherden durchsetzt. An den Qbrigen Wirbeln sind makroskopisch
keine Veranderungen zu sehen, nur der 12. Brustwirbel weist einen kleinen
Eiterherd auf. Beide Mm. psoas sind in ihrem Ursprung eitrig infiltriert,
zwischen den Muskelbauchen finden sich ausgedehnte Eiteransammlungen;
die aus den osteomyelitischen Herden auf Agar angelegte Eulturen ergeben
als Erreger den Staphylococcus aureus in Reinkultur. Die Sektion ergab
Leptomeningitis purulenta cerebrospinalis, Osteomyelitis columnae verte-
bralis; Intumescentia lienis.
Ein makroskopisch nicht veranderter Wirbel sowie die mit Eiter durch-
setzten Herde eines kranken Wirbels wurden von Dr. E. Fraenkel mikro-
skopisch untersueht. Bei dem makroskopisch intakten Wirbel fanden sich
mikroskopisch kleine Eiterzellen, in deren Zentrum dichte Kokkenhaufen
lagen. In den Schnitten der eitrig durcksetzten Wirbel finden sich Qberaus
zahlreiche Eiterzellen, denen dicht zusammenliegende Staphylokokkenhaufen
beigemengt sind.
Im vorliegenden Falle hat der Kranke bei dem Trauma am 13.
IX. 1904 neben der Quetschung der 'grossen Zehe eine, wenn auch
geringe Verletzung der Wirbelsaule erlitten, die denselben am Weiter-
arbeiten nicht wesentlich hinderte. Als sich spater der Nagel der mit
nichtsterilem Verbandmaterial umwickelten Zehe loste, ist oflFenbar die
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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 497
Invasion der Staphylokokken erfolgt, die sich imLumbalteil der Wirbel-
saule, der durcb das Trauma betroffen wurde (gewissermassen dem
Locus minoris resistentiae) ansiedelten und dort eine Osteomyelitis
hervorriefen, die 14 Tage nach dem Unfall Schmerzen hervorrief.
Von dem osteomyelitischen Herde sind, wie aus dem klinischen Ver-
lauf und dem Sektionsbefunde hervorgebt, die Kokken in den Wirbel-
kanal eingedrungen und baben die Meningitis cerebrospinalis erzeugt
Die Deutung des Falles hatte auf grosse Schwierigkeiten gestossen,
wenn der Tod einige Tage spater, nach Heilung des Zehendefektes,
erfolgt ware und die Anamnese betr. der geringen Fussverletzung im
Stich gelassen hatte.
Handelt es sicb also um die Frage, ob eine Cerebrospinalmenin-
gitis mit einem Trauma zusammenhangt, und wird bei der Sektion die
Eingangspforte der Infektionserreger nicht gefunden, so ist ausser der
Erofinung der Nebenhohlen des Kopfes, auf die ich noch zuriick-
kommen werde, eine Untersuchung der Wirbelsaule, bezw. der grossen
Rohrenknocben unbedingt erforderlicb.
Ein Trauma ist aber auch imstande, eine Cerebrospinalmeningitis
hervorzurufen, ohne dass eine aussere Verletzung und Infektion der
Wunde stattgefunden hat.
Bei bestehenden eitrigen Prozessen in den der Schadelhohle be-
nachbarten Nebenhohlen (Nasen-, Kiefer-, Stirn-, Rachen-, Augenhohle
und Mittelohr) konnen durch eine innere Verletzung, wie unkomplizierter
Schadelbruch, Kontusionen, Gebirnerschutterungen, bei denen haufig nur
kleinere innere Blutungen, Blutextravasate entsteben, Verhaltnisse ge-
schaffen werden, die entweder ein direktes tjbergreifen krankhafter
Prozesse auf das Gehirn ermoglichen oder eine Verschleppung und
Vermebrung von im Korper bereits vorhandenen Eitererregem hervor-
rufen. Dieselben finden in den Blutextravasaten, Thromben einen
gttnstigen Nahrboden. Es entstebt anfangs lokal eine Entzundung,
die sich auf die weitere Umgebung bis zum Gehirn bin fortsetzen
kann; Keime konnen ferner ins Gefasssystem gelangen und Ibsen im
Gehirn metastatisch eine Enlziindung aus. Ferner kann ein gesunder
Mensch in der Nase, im Rachen, Mund und Ohr pathogene Keime, wie
Meningokokken, Pneumokokken, Influenzabazillen und dergl., beher-
bergen. Das Trauma gibt dann den Anstoss zu ihrer Verbreitung
und Entwicklung und bereitet ihnen im verletzten Korper einen ge-
eigneten Angriffspunkt. Endlich ist die Moglichkeit gegeben, dass
durcb ein Trauma ein Locus minoris resistentiae geschatfen wird, der,
wenn das Individuum hinterher Infektionserreger in sich aufninnnt,
die Entstehung einer Gebirnentzundung begiinstigt.
Sind durch eine Kopfverletzung Fissuren im Schadelknochen ent-
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XXI. Hache-Klunder
standen, so ist auch, ohne dass eine Verletzung der ausseren Weich-
teile stattgefunden bat, in vielen Fallen eine Kommunikation des
Schadelinnern mit der ausseren Luft nnd ihren Infektionskeimen her-
gestellt, da ja mit der Nasen-, Rachen- und Mundhohle durch Ein-
nnd Ausatmung standig ein Austausch mit der ausseren Luft stattfindet.
Um so verstandlicher ist es, dass bei bestehenden eitrigen Pro-
zessen in der Nachbarschaft des Gehirns Infektionserreger durch die
Fissuren in die Schadelhohle einwandem und dann eine Meningitis er-
zeugen konnen.
Hat bingegen eine Schadelfraktur nicht stattgefunden, so kann
die Diagnose einer traumatischen Meningitis auf grosse Schwierigkeiten
stossen.
Bei einem Trauma, das eine GehirnentzQndung zur Folge hat, ist
anzunehmen, dass eine Verletzung und mag sie auch noch so gering
sein, stattgefunden hat, mag sie in einer ausseren Wunde, in einer
Lasion der Schleimhaute, in einer Zerreissung kleiner Blutgefasse, in
einem Auftreten von Blutextravasaten bestehen. Der Nachweis einer
solchen kann allerdings gelegentlich nicht mehr moglich sein, da bei
eingetretenem Exitus eine derartige Wunde haufig langst verheilt ist.
Infolge dessen sind neben der Eintrittspforte der Infektionserreger auch
die Wege nicht mehr aufzufindcn, auf denen die Eeime zum Gehim
gelangten. Mit absoluter Sicherheit ist dann die Meningitis als aus-
schliessliche Folge der stattgehabten Gewalteinwirkung nicht mehr zu
bezeichnen, sondern man kann nur noch von einem mehr oder minder
hohen Grad von Wahrscheinlichkeit reden. Denn die anatomischen
Befunde von der Pia an sich bieten keinen Anhalt fur eine trauma-
tische Meningitis. Die Schwere der Verletzung, der zeitliche Zwischen-
raum zwischen Trauma und Entzundungserscheinungen, die Lokali-
sation der Entzundung in Bezug auf den Angriffspunkt des Traumas,
der bakteriologische Befund, sowie vor allem die klinischen Erschei-
nungen sind .von grosser Wichtigkeit fur die Diagnose. Eine Com¬
motio cerebri ohne jede Verletzung wird kaum imstande sein, eine
GehimentzQndung auszuldsen. Auf eine zeitliche Aufeinanderfolge
von Gewalteinwirkung und Meningitis ist auch nicht immer ein allzu
grosses Gewicht zu legen. Denn haufig ist das Trauma eine Folge
der bereits bestehenden Erkranknng. Forensisch kommenhier vor allem
jene Falle in Betracht, wo die Gehirnentzundung auf bestimmte Miss-
handlungen, Ziichtigungen, wie Ohrfeigen, Balgereien, zurtickgefuhrt
werden. Die auffallende Zerstreutheit, Gedankenlosigkeit, Unaufmerk-
samkeit oder Tragkeit, die vom Lehrer getadelt wird, sind gelegentlich
bereits die Vorlaufer der im Entstehen begriffenen Krankheit. Meistens
wird man allerdings dann bei der Sektiou eine Erkrankung der Neben-
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Der bakteriologische Behind bei Meningitis cerebrospinalis usw. 499
hohlen des Schadels, eine tuberkulose oder epidemisclie Meningitis
nachweisen konnen.
Immerbin ist die Moglichkeit nicht yon der Hand zu weisen, dass
auch nach einer verhaltnismassig leichten Yerletzung gelegentlich ein-
mal eine Gehirnentzundung auftreten kann.
Welches sind nun die BakterieD, die hauptsachlich als Erreger
bei der traumatiscben Meningitis in Betracht kommen.
Handelt es sich um eine Wundinfektion, mag diese nun eine All-
gemeininfektion oder einen lokalen Prozess, der sicb auf die Meningen
fortsetzt, bervorrufen, so sind die Erreger der Gehirnentzundung
meistens Streptokokken oder Staphylokokken, in vereinzelten Fallen
sind wobl auch der Pyocyaneus, der Gasbacillus und das Bacterium
coli gefunden, wie denn iiberhaupt das Vorkommen anderer Mikro-
organismen nicht geleugnet werden kann.
In den anderen Fallen findet man bei einem sonst gesunden
Organismus wohl am haufigsten den Frankelschen Pneumococcus.
Wie bereits erwahnt, hat zuerst Weichselbaum 1 ) auf das Vorkommen
des Pneumococcus in der Nase und ihren Nebenhohlen, sowie im
Mittelohr hingewiesen und auf den Zusammenhang desselben mit den
genuinen Meningitiden aufmerksam gemacht. Ortmann 2 ) teilte zu¬
erst einen Fall mit, in dem der Pneumococcus als Bewohner der
Nasenhohle nach einer Kopfverletzung dem Triiger den Tod gebracht
hatte. Netter 3 ) berichtet von einer Meningitis, hervorgerufen durch
Pneumococcus, Streptococcus und Pyocyaneus im Anschluss an eine
Schussverletzung des harten Gaumens.
Auch den Meningococcus hat man nach stattgehabten Kopftrau-
men als Erreger einer Gehirnentzundung gefunden. Marx 4 ), Schott-
mttller 5 ), Goppert 6 ) teilen einige derartige einwandsfreie Falle
mit, in denen eine Weichselbaumsche Meningitis wahrend einer
Epidemie im Anschluss an eine Schadelfraktur entstanden ist.
tber eine durch den Influenzabacillus verursachte traumatische
Meningitis berichtet Curschmann 7 ). Er ist der Ansicht, dass die In-
fektion mit Influenza auf dem Blutwege stattgefunden hat, und dass
durch das Trauma, das mit einer Gehirnerschiitterung einherging, ein
Locus minoris resistentiae geschaifen wurde, der den Mikroorganismen
1) Fortschritte der Medizin 1887. 18. 19.
2) Virchows Archiv 1890.
3) Ref. Zentralbl. f. Bakt. 1890. S. 842.
4) VierteljahrBschrift f. ger. Med. 1904.
5) Deutsche med. Wochenschr. 190.1.
6) Berl. kliu. Wochenschr. 1905. Klin. Jahrbuch 190(5. 15.
7) Deutsche med. Wochenschr. 1904.
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500 XXI. Hasche-Klunder, Bakteriolog. Befuod bei Meningitis cerebrospin.
einen gttnstigen Boden zu ihrer Entwicklung bot. Uber ahnliche Falle
von schwerer posttraumatischerlnfluenzameningitis berichten Freund 1 )
und Huismann 2 ). Im letzteren Falle wurde das Individuum erst
16 Tage nach dem Schadelbruch infiziert.
Am haufigsten sind wohl noch die Falle von posttraumatischer
tuberkuloser Meningitis. In einem Yollkommen gesunden Organismus
dtlrfte wohl durch das Trauma allein niemals eine tuberkulose Gehim-
entzfindung erzeugt werden. Es milsste dann scbon sein, dass mit der
Verletzung Tuberkelbazillen in die Wunde eindringen. In den anderen
Fallen ist anzunehmen, dass die pathogenen Organismen bereits vor-
ber im Korper, wenn auch nur in einem latenten, zur Zeit unschadlichen
Zustande vorbanden waren, und dass das Trauma den Anstoss zu ihrer
Verscbleppung oder Yermehrung gegeben hat.
Gerichtsarztliche Bedeutung und zwar vor allem in strafrechtlicher
Beziehung kann gelegentlich die Frage erlangen, ob das Trauma die
einzige TJrsache der Meningitis, oder ob diese nicht vielmehr auf die
spatere Wundbehandlung oder andere zufallig hinzukommende Um-
stande zurfickzuffihren ist. Jn vielen Fallen wird eine Entscheidung
dieser Frage nicht moglich sein. Denn selbst wenn pathogene Keime
an dem Instrumente sich befinden, das die Verletzung verursachte, so
ist die Moglicbkeit absolut nicht ausgeschlossen, dass dieselben erst
nacb dem Trauma an demselben haften geblieben sind; es ist femer
nicht unumganglich notwendig, dass gerade diese Keime die Krank-
heitserreger sein mfissen; die Wunde kann auch hinterher infiziert sein.
Wie diese Frage, so wird auch die Frage nach der traumatischen
Meningitis fiberhaupt in einzelnen Fallen unentschieden bleiben mfissen.
Eine genaue Krankengeschichte mit eingehenden Angaben fiber das
Trauma, die ersten krankhaften Erscheinungen, den frfiheren Gesund-
heitszustand des Yerletzten, sowie eine sorgfaltig ausgefuhrte Sektion,
die auch die Nebenbohlen des Kopfes, der Wirbelsaule und eventuell
die grossen Rohrenknochen beriicksichtigt, werden uns allerdings in
den meisten Fallen in den Stand setzen, wenigstens eine Wahrschein-
lichkeitsdiagnose zu stellen.
1) Monatsschrift f. Unfnllheilkde. 1894.
2) Deutsche hied. Woehensehr. 1899.
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