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Full text of "Dtsch Zschrft Nervenheilkunde 1909 37"

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DEUTSCHE ZEITSCHRIFT 

fCr 

NERVENHEILKUNDE. 


UNTEE MITWIRKUNG 

der Herren Prof. Bruns-Hannover, Prof. Edinger-Frankfurt a. M., 
Prof. v. Frankl-Hochwart-Wien, Prof. J. Hofl'mann-Heidelberg, 
Prof. v. Monakow-Ziirich, Oberarzt Dr. Nonne-Hamburg, 

Prof. Oppenheim-Berlin, Prof. Quincke-Iviel 


HERAUSGEGEBEN 

VON 


Prof. Wilh. Erb 

emer. Direktor der med. Klinik in Heidelberg. 

Prof. Fr. Schultze 

Direktor der med. Klinik in Bonn. 


Prof. L. Lichtheim 

Direktor der med. Klinik in Kbnigsberg. 

Prof. A. v. Stnimpell 

Vorstand der III. med. Klinik in Wien. 


REDIGIERT VON 

A. STRUMPELL. 


SIEBENUNDDREISSIGSTER BAND. 


Mit 40 Abbildungen und Tafel I, II. 



LEIPZIG, 

V ERL AG VOX F.C.W. VOGEL. 

1909. 


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Druek von AupuM Pri<> in Lvipzii*. 


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Inhalt des siebenunddreissigsten Bandes 


Erstes und zweites (Doppel-)Heft. 


(Au9gegeben am 25. Juli 1909.) 


Seite 


I. Aus der I. medizinischen Klinik des Herrn Prof. v. No or den und 

dem neurologischen Institut in Wien. 

v. Orzechowski, Ein Fall von Kopftetanus mit reflektorischer 
Pupillenstarre. 1 

II. Aub dem neurologischen Institut an der Wiener Universitat. 

Biach, Zur Kenntnis des Zentralnervensystems beim Mongo- 
lismus. 7 


III. Aus der kdnigl. Poliklinik fur Nervenkranke und der konigl. 

Poliklinik fur Hals- und Nasenkrankheiten zu Kbnigaberg i/Pr. 
Goldstein u. Cohn, Weitere Beitrage zur Symptomatologie 
der Erkrankungen der motorischen Kernsaule.21 

IV. Aus der I. med. Universitataklinik in Wien und dem Wiener 

neurologischen Universitatsinstitut. 

Schweiger, Ober Veranderungen der Spinalganglien in einem 
Fall von Landryscher Paralyse (mit Status hypoplasticua) . 35 

V. Aus der Abteilung fur Nervenkrankheiten des St. Stephan-Spitals 
in Budapest. 

Keller, Die Bedeutung des Adduktorenreflexes.49 

VI. Aub der medizinischen Klinik zu Leipzig. 

Steinert, Myopathologische Beitrage. (Mit 2 Abbildungen) . 58 

VII. Aus den radiologischen Instituten der allgem. Poliklinik und des 
Sanatoriums Fiirth in Wien. 

Kienbock, tFber Wachstumshemmung des Skeletts bei spinaler 
Kinderlahmung, (Mit 5 Abbildungen im Text und Tafel I 


und II).105 

VIII. Mitteiluug aus der Nervenklinik der konigl. tingar. Universitat 
in Budapest. 

Herzog, Uber die Erkrankung des Zentralnervensystems bei 

Polyneuritis degenerativa. (Mit 8 Abbildungen).122 

IX. Aus dem Budapester St. Stephan-Krankenhaus. 

v. Dieballa, Heredodegeneration und kongenitale Lues . . 149 
X. Aus der medizinischen Klinik zu Frankfurt a M. 


Claus und Bingel, Uber Messungen der Hauttemperatur bei 
Gesunden und Nervenkranken.1G1 


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IV 


Inhalt des siebenunddreissigsten Bandes. 


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Drittes und yiertes (Doppel-)Heft. 

(Ausgegeben am 24. September 1909.) 

XI. Aus der II. medizinischen Klinik der kiinigl. Universitat Budapest 

(Direktor: Prof. E. Jen dr as si k). 

Csiky, Uber einen Fall von Myasthenia gravis pseudoparalytica 
mit positivem Muskelbefund. (Mit 5 Abbildungen) .... 

XII. Aus der III. med. Abteilung des Neuen allgemeinen Kranken- 

bauses Hamburg-Eppendorf (Oberarzt: Dr. Nonne). 

Nonne u. Holzmann, Weitere Erfahrungen uber den Wert 
der neueren cytologischen, chemischen und biologisehen Unter- 
suchungsmethoden fur die Diff'erentiakliagnose der syphilo- 
genen Erkrankungen des Zentralnervensystems, gesammelt an 
295 neuen Fallen von organisclien Erkrankungen des Hirns 
und des Riickenmarks. 

XIII. Aus dein stiidtiscben Krankenhaus in Mainz, innere Abteilung 

(Direktor: Dr. H. Curschmann) und dem neurologischen In- 
stitut in Frankfurt a. M. (Direktor: Prof. L. Edinger), Abtei¬ 
lung fQr Hirnpathologie (Prof. Dr. H. Vogt, Abt.-Vorstand). 
Hellbach, Zur Kenutnis der Ruckenmarkserkrankungen nach 
Trauma. (Mit 2 Abbildungen). 

XIV. Teleky, Zur Kasuistik der Bleiliihmung. (Mit 11 Abbildungen) 

XV. Aus der medizinischen Universitatskliuik der Universitat Bres¬ 

lau (Direktor: Geh.-Rat v. Strum pell). 

Strassner, Uber die ditl'usen Geschwulste der iveichen Rucken- 
markshaute mit besouderer Berucksichtigung der extramedul- 
liiren Gliomatose. (Mit 3 Abbildungen). 

XVI. Aus der medizinischen Klinik zu Leipzig. 

Stadler, Paramyoclonus multiplex mit Muskelatrophie . 

XVII. Aus der Poliklinik fur Nervenkranklieiteu von Prof. H. Oppen- 
lieim in Berlin. 

Hertz, Ein Fall von Psammom der Araclinoidea des oberen 

Dorsalmarks. iMit 3 Abbildungen). 

Li t era tu rubersicli t. 


Seite 


175 


195 


221 

231 


309 

323 


33S 

347 


Funftes unit sechstcs (Doppcl-)IIeft. 

(Ausgegeben am 21. Oktober 1900.) 

XVIII. Foerster, Uber den Lalimungstvpus bei cortikaleu Herden. (Mit 


S Abbildungen).. 

XIX. Fabrititis, Ein Fall von Stiehverletzung des Uiiekenmarks. Zu- 

gleieh ein Beitragzur Frage liber die Eeitungsbalinen ini Riieken- 
mark. : ..415 

XX. v. Fran k 1 -Hocliwart, Uber die Diagnose der Zirbeldriise. (Mit 

2 Abbildungen). 455 

XXI. IIa seb e- K1 ii nder, I)t*r bakteriologBehe Refund bei .Meningitis 

eerebm^pinalis und seine gerielitsarztliehe JVdeutung .... 40(1 


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I. 


Aus der I. mediz. Klinik des Herrn Prof. v. Noorden und dem 
nenrologischen Institut (Hofrat Obersteiner). 

Ein Fall yon Kopftetanus mit reflektorischer Pupillenstarre. 

Von 

Dr. K. t. Orzechowski, 

Assistent des neurologischen Institats. 

Fr. P., Kutscher, 47 Jahre alt, wurde am 9. IV. 1908 F auf die Klinik 
v. Noorden aufgenommen. 

Aus der Anamnese ist zu erwahnen, dass Pat. im 13. Lebensjahre 
eine Verletzung durch Hufschlag erlitten baben soil. Davon ist rechts, 
ca. 5 cm unterhalb der Crista, eine kreuzergrosse, eingedrtickto Stelle am 
knochernen Schiidel zurtlckgeblieben. Kein Anlialtspunkt ftir Lues. Pat. 
ist seit 13 Jabren verheiratet, bat ein gesundes 12jahrigcs Kind; keine 
Frfihgeburten seiner Frau. Pat. war fnlher stets gesund. Potus: 1 Liter 
Bier taglich. 

22. II. 1908 wurde Pat. von einem Pferdebufscblag an der rechten 
Schlafe und auf der Brust getroffen, trug aber nur einige kleine Haut- 
abschbrfungen davon. Obne dass weiterhin Schmerzen an der Wundflache 
bestanden, schwoll die Augen- und Sclilafengegend an, nacb 2—3 Tagen 
war aber die Scbwellung wieder verscliwunden und die Wuude nacb ganz 
kurzer Zeit verbeilt. Seit einer Wocke traten reissende Schmerzen an der 
Stirn auf, die Lippen wurden scbwer beweglich und scbliesslieli konnte 
Pat. die recbte Mundhiilfte nicht melir otfnen. Damit im Zusainmenliang 
konnte er keine feste Nahrung zu sich nelmien, nur gelegentlich nalirn 
er einen Loftel Milch. Pat. klagt seit.her liber Feblen der Appetenz und 
starken Durst. Ungefiibr seit derselben Zeit vermag er das recbte Auire 
nicht zu schliessen, welches aucli beim Schlaf offen blieb. Am 7. III. trat 
ein allgemeiner Krampf mit Opisthotonus auf. Die Frau des Pat. weiss 
nicht anzugeben, ob der Krampf am Unterkiefer begonnen liat, doch 
scheinen die unteren Extremitiiten am wcnigsten beteiligt gewesen zu sein. 
Der Krampf wahrte nur wenige ]Minuten. Dabei war Pat. angeblich be- 
wusstlos. Nachher fulilte er sich wieder wohl und schmerzfrei. Am 8. III. 
stellte sich Pat. in der Ambulanz der Klinik v. Noorden vor. 

Seit 3—4 Tagen hustet er viel, ist ludser und klagt uber ein Gefiihl 
der Yerengerung der Imftrohre. 

Status praesens (identisch mit dem tags vorher in der Ambulanz 
erhobenen Befund). 9. III. Pat. ziemlich gross, von gut entwiekeltem 
Knochenbau und Muskulatur und massigeni Panniculus. Die Hunt ist gut 
gefarbt. Temp. 36,7°. Die Stelle der vor kurzeni orlittenon Verletzung 

Deutsche Zeitschrift f. Xerveuheilkunde. 37 . Ihl. 1 


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I. Orzechowski 


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aussen und unten vom rechten Auge ist nur durch eine kleine Narbe ge- 
kennzeichnet. Der Sch&del ist nirgends druckempfindlich. Sensorium frei. 
Pupillen sind sehr eng, die rechte etwas enger als die linke, 
sie reagieren wenig auf Akkomodation und gar nicht aufLicht- 
einfall. Die Bewegung des rechten Auges nach aussen ist nicht 
im maximalen AusmaB mfiglicb, sonst sind die Augenbewegungen frei. Am 
rechten Auge erfolgt kein Lidschluss, auch bei grosster Anstrengung wird 
das Oberlid nur bis etwa zur Mitte der Cornea gesenkt, dabei bewegt sich 
der Bulbus nach aussen und oben. Ausgesprochene Lahmung des rechteu 
Facialis in alien seinen Asten. Am linken Auge Blepharospasmus. Die 
linke, nicht gel&hmte Gesichtshalfte ist cigentttmlich starr, es fehlt ein 
eigentliches Mienenspiel. Die Zunge kann nur mit Mtthe gerade vorge- 
streckt werden. Es besteht Krampf der Kaumuskulatur in mittlerem Grade. 
Der Pat. vermag die Zahnreihen nur auf ungefahr 2—5 cm von einander 
za entfernen. Deshalb und, da auch jede BerQhrung zu einer Steigerung 
des Krampfes ftthrt, ist eine nahere Inspektion der Rachenorgane unmoglich. 
Pat. verschluckt sich httufig. An den Lungen normaler Perkussionsbefund, 
die Auskultation ergibt vesikulares Atmen mit vereinzelten mittelblasigen 
fcuchten Rasselgerauschen. Atmung von costo-abdominalem Typus, ziem- 
lich oberflachlich, Frequenz = 20. Pat. hustet viel. Herzbefund normal. 
Arteria radialis etwas verdickt, der Puls, 90, normal. Blutdruck nach 
Gartner 100. Abdomen unter dem Thoraxniveau, Bauchmuskeln stark 
gespannt. Innere Organe normal. PSR leicht auslosbar. Alle Qualitaten 
der Sensibilitat ttberall erhalten. An der linken Hand findet sich eine 
eigentttmliche Steifigkeit der Finger, besouders der ersten 3 radialen Finger; 
dieselben werden in den Intraphalangealgelenken gestreckt gehalten, doch 
konnen alle Bewegungen, wenn auch mit einer gewissen Langsamkeit, aus- 
geftthrt werden. Pat. bekam 20 ccm Antitetanusserum Hochst. 

10. III. Blepharospasmus des linken Auges deutlicher. Temp, in der 
Frtthe 37,5°, Resp. 20, Puls 110, nachmittags 38,5°. Therapeutisch: Injek- 
tion von 20 ccm Antitetanusserum. 

11. III. Uber der ganzen Lunge feuchte Rasselgerausche. Temp, in 
der Frtthe 37,5°, nachmittags 38,0°, Resp. 26, Puls 120. Injektion von 
20 ccm Antitetanusserum und Darreichen von 5,0 g Urethan, Injektion 
von 0,002 Morphium. 

12. III. Acht Anfalle hochgradigster Ateninot. Pat. ringt nach dem 
Atem, springt aus dem Bett, nach wenigen Sekunden wirft er sich im 
starken Opisthotonus quer fiber das Bett. Die Augenbewegung beim 
Blick nach oben gehemmt. Temp. 39,0°, Resp. 36, Puls 130. In¬ 
jektion von 20 ccm Serum, 0,02 Morphium, 5 g Urethan. 

13. III. Clieyne-Stokessches Atmen, Respiration von 30 Atemzttgen 
in der Minute, die Pausen sind moist von 8 Sekunden Dauer. Blitzartige 
Zuckungen in der linken Gesichtshalfte. Der Trismus hat noch zuge- 
nommen. Pat. deutet wiederholt auf die Kehlkopfgegend, hat offenbar Be- 
schwerdcn beim Schlucken. 

14. III. In der Frtthe Exitus. 

Obduktionsbefund (Prof. Ghon): Die Ilaut leicht ikterisch gefttrbt, 
ebenso die Conjunktiven. Die linke Pupille etwa doppelt so weit wie die 
rechte. Am rechten Scheitelbein findet sich eine fiache, muldenformige 
Impression von etwa 3 cm Durchinesser. Am Boden derselben sieht man 


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Ein Fall von Kopftetanus mit reflektorischer Pupillenstarre. 3 

einen 2 cm im Dnrchmesser haltenden Defekt, begrenzt von unregelmQssigen 
Randern und bedeckt von einer derbhautigen Membran. Dem ausseren 
Rande dieses Defektes entsprechend erscheint der Knochen in das Sch&del- 
innere hineingedrtlckt und ist dort als flache Leiste von etwa 4 cm Lange 
mit zackigen Randern sichtbar. Die Dura mater ist hier angewachsen 
und die rechte Konvexitat zeigt diesen Yeranderungen entsprechend im 
Bereiche der vorderen und hinteren Zentralwindung eine 4 cm im Durch- 
messer haltende trichterfOrmige, fast 1 cm tiefe Mulde, deren Rand gleich- 
massig abgerundet ist und deren Basis mit gefasshaltigen, z. T. weisslichen 
Mcrabranen bedeckt erscheint. Im Qbrigen erscheinen die inneren Hirn- 
haute an der Konvexitat etwas verdickt, an der Basis sind sie im allge- 
meinen zart. Die Gefasse der Hirnbasis, besonders die beiden Carotiden, 
verdickt und klaffend. Die Unterhaut, Binde- und Fettgewebe im Bereiche 
der kleinen Narbe Qber dem Jochbogen, zeigt keine Veranderung, der 
Knochen weist am ausseren Augenrand einen ganz kleinen Defekt auf. Milz, 
Follikel am Zungenrande und Tonsillen ohne pathologischen Befund. Beider- 
seitige fibrinOs-eitrige Pleuritis. Bronchopneumonie der Unterlappen, eitrige 
Bronchitis. Im Exsudat der Bronchien wurde ein reichlichps Gemenge 
verschiedener Mikroorganismen festgestellt. Degeneration des Herzmuskels 
und der Leber. Embryonale Lappung der Nieren. Andere Organe samt 
RQckenmark ohne wesentliche makroskopische Veranderung. 

Eine bakteriologische Untersuchung der Hautnarbe wurde unterlassen. 

Histologische Untersuchung. In den Kernen des 3., 4., 5., 6. und 
7. Hirnnerven linden sich normale Verhaltnisse. Nur im Facialiskern der einen 
Seite war in der ventro-medialen Ecke eine Gruppe von 4 chromatolytischen 
Nervenzellen vorhanden (Thioninfarbung, Serienschnitte.) Die Unter¬ 
suchung der Zentralwindungen (mit Ausnahme der im Sektionsprotokoll 
erwahnlen Narbe) und des Kleinhirns ergab negativen Befund. Auch sind 
normale Verhaltnisse im Cervikal- und Lumbalteil des RQckenmarks zu 
finden. Bloss die Dorsalsegmente weisen eine grosse Anzahl von zumeist 
weit von einander versprengten Vorderhornzellen mit vorgeschrittener 
zentraler Chromatolyse, etwas exzentrischem, nie randstandigem Kern, in 
welchem sich ein verlagerter Nucleolus befindet. Auffallend war das Bild 
der Kernkorperchen in solcben Nervenzellen. Wahrend im allgemeinen 
die Nucleoli der sonst normalen grossen Nervenzellen des Bulbus, der 
Purkinjezellen und des RQckenmarks ziemlich zahlreiche, ncben einander 
liegende kleine, runde Vakuolen aufwiesen, zeigten die Kernkorperchen 
der chromatolytischen, seltener die der anscheinend normalen Vorderhorn¬ 
zellen grOssere Anzahl, 6—10 Vakuolen in ihrem Innern, welche ver- 
streut im Leibe der Kernkorperchen lagen und von unregelmassiger, dem 
Grundkontur eines Rechteckes oder Viereckes naher liegender Form waren. 
Manche Vakuolen lagen unter der Peripherie der Kernkorperchen, dieselbe 
an verschiedenen Stellen vorbauchend. Im allgemeinen fiirbten sich alle 
Nucleoli etwas blasser als normal. Die geschilderten Bilder waren am 
besten an Thioninpraparaten nach der Formolhartung zu sehen. Die 
Ma rchifQrbung misslang. Die anderen Farbungsmetlmden ergabeu keine 
neuen Details; insbesondere haben sich die in Beziehung zur rotlektorischen 
Pupillenstarre gebrachten Cervikalsegmente bei der Weigert-Pal-Farbung 
als intakt erwiesen. 

Das Interesse dieses Falles liegt in dem Verhalten der Pnpillen, 

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4 


I. Oezechowski 


welche vollkommen lichstarr bei ziemlich gut erhaltener Konvergenz- 
reaktion waren. Dabei waren beide Pupillen, bevor noch die Morphium- 
medikation begonnen hat, miotisch und ungleicb, und zwar war die 
Pupille an der Seite mit VII-Lahmung weniger eng als die linke. Rechts 
war eine leichte Vl-Parese 'nachweisbar. Die Pupillenstarre wie auch 
die Abducensparese sind schon im ambulanten Stadium der Erkrankung 
beobachtet worden und bestanden unverandert im ganzen Verlaufe der 
Krankheit. Erst einige Tage spater gesellte sich eine geringe Be- 
hinderung der Augenbewegungen beim Blick nach oben hinzu. 

Bekanntlich konnen beim Kopftetanus neben Facialislahmung Er- 
scheinungen von seiten vieler Hirnnerven und insbesondere Lahmungen 
aller Augenmuskeln vorkommen. Obgleich ihre direkte Abhangigkeit 
von der Tetanusnoxe von Rose und anderen bestritten und dieselbe als 
Folge der allgemeinen finalen Erschopfung aufgefasst worden ist, 
scheint jetzt ihre Parallelstellung zur VH-Paralyse keinem Zweifel mehr 
zu unterliegen. Es sind ja seither Falle mit frbhzeitigem Auftreten 
der Augenmuskellahmungen bekannt worden, es sind auch XII-Lah- 
mungen oder sensorische und sensible Storungen im Bereiche der 
Hirnnerven in Fallen von Kopftetanus beobachtet worden, und es tiber- 
dauerte scbliesslich manchmal die Lahmung das Zuriickgehen der 
VH-Paralyse, bez. die Heilung vom Tetanus. Dass das Tetanusgift 
als solches auch ausser am Facialis Ursache von Lahmung sein kann, 
beweist die einen Fall von gewohnlichem Tetanus betreffende Be- 
obachtung von Zak mit IV-Parese. Die Erklarung der Lahmungen, 
als auf Erschopfung beruhend, konnte nur fur wenige Falle gelten, 
in denen sie nur fliichtig, wenig ausgesprochen und sub finem auf- 
traten. Durch Erschopfung ist vielleicht die im vorliegende Falle 
beobachtete Behinderung der Augenbewegungen nach oben verursacht. 
Bei einigen anderen Fallen von Kopftetanus konnte an die Moglichkeit 
des Konnexes mit Scbadeltrauma gedacht werden. Es erscheinen noch 
mehr verdachtig die Falle, in denen das Trauma direkt die Bulbi in 
Mitleidenschaft gezogen hatte. Unter den 6 Fallen mit isolierter einsei- 
tiger oder beiderseitiger Ptosis scheint manchmal der Orbiculariskrampf 
mit der paralytischen Ptosis verwechselt worden zu sein. Krampf 
scheint auch in den 2 Fallen mit Strabismus vorgelegen zu haben. 
Trotz dieser Einschrankungen bleiben in der Kasuistik des Kopftetanus 
mit Hirnnervenlahmungen, welche schon liber 20 Falle zahlt, einige 
einwandfreie Falle tibrig, welche zur Geniige die Meinuug von der 
V ulnerabilitat auch der anderen Hirnnerven ausser jener des VII sttitzen. 
Als diese wurde ich insbesondere die Falle von Rockliffe, Schnitzler, 
Schupfer, Neumann-Schrbtter, Holub, Ross, May weg, Lepine 
et Sarvonnat, Minet et Gaehlinger rechnen. Fiir die Pathogenese 


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Ein Fall von Kopftetanus mit refiektoriacher Pupillenatarre. 


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des Kopftetanus sind solche Beobachtungen insofern von Bedeutung, 
weil die Multiplizitat der Lahmungen und ihre Entfernung von der 
die Infektion vermittelnden Wunde fur die zentrale Angriffsstatte der 
Tetanustoxine pladieren. In diesem Sinne ist besonders das Symptom 
der reflektorischen Pupillenstarre zu verwerten. Dieselbe scheint ausser 
in dem hier mitgeteilten Falle nur bei Schupfer vorgelegen zu haben. 
Sonst wird das Fehlen der Reflexe bei weiten Pupillen als Teil- 
erscheinung der Ill-Labmung erwahnt, wahrend es sich in anderen Fallen 
mit Miosis und tragen oder starren Pupillen entweder um absolute 
Pupillenstarre handelt oder Sphinkterkrampf, bez. Dilatatorparese vor- 
banden war (Lannois: Miosis, Lichtstarre, Konvergenzreaktion wird 
nicht angegeben; Preobraschensky: Punktformige, lichtstarrePupilleD, 
Enopbtalmus, fiber Konvergenzreaktion wird nichts gesagt; Robs: 
Pupille auf der Seite der Facialislahmung erweitert, Fehlen der Licht- 
und der akkomodativen Reaktion derselben). 

Bei der Bedeutung, welche der Nachweis der reflektorischen 
Pupillenstarre fur die Tbeorie des Kopftetanus beanspruchen muss, 
dfirfen die Einwande gegen die Stichhaltigkeit der hier mitgeteilten 
Beobachtung nicht ausser acht gelassen werden. Vor allem decken 
sich die Pupillenreaktionen bei nicht ganz prompter Konvergenzreaktion 
nicht vollkofnmen mit dem typischen Bilde der reflektorischen Pupillen¬ 
starre, obwohl sie doch naher der letzteren als der absoluten Pupillen¬ 
starre zu stehen scheinen. Andererseits ist die Zusammengehorigkeit der 
Pupillenstarre zum Tetanus nicht fiber alien Zweifel sichergestellt, sie 
hatte auch vielleicht ein isoliertes Residuum des vor Jabren gesetzten, 
nacb dem Obduktionsbefund schweren Traumas sein konnen. Es sind 
ja solche, allerdings sehr sparliche Falle einer absoluten und sogar 
reflektorischen Pupillenstarre (Axenfeld) als isoliertes Symptom des 
stattgehabten Traumas beschrieben worden. Ffir die luetische Herkunft, 
des Pupillenpbanomens liessen sich keine Anhaltspunkte geftinnen. 

Die Miosis war in unserem Falle Bestandteil der reflektorischen 
Pupillenstarre. Als isoliertes Symptom wird in Fallen von Kopftetanus 
Miosis nicht selten und zwar haufig auch beiderseitige Miosis erwahnt. 
Oft war sie bloss die Folge der Morphiumtherapie. Die gleichzeitig 
vorhandenen Sympathicusstorungen deuteten in manchen Fallen auf 
die Sympathicuslahmung als ihre Ursache. Am haufigsten wird es 
sich um den Sphinkterkrampf gehandelt haben, welcher in die Parallele 
mit anderen Tetanuskontrakturen zu setzen ist. 

E9 braucht kaum des weiteren erortert werden, dass die reflek- 
torische Pupillenstarre nicht einer cortikalen Reizung, analog der 
Pupillenstarre in epileptischen und hysterisehen Anfiillen, ihren Urspruug 
verdankt, sondern auf eiuer materiellen Liision des pupillaren Licht- 


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6 


I. Orzechowski, Ein Fall von Kopftetanus usw. 


reflexbogens beruhen muss. Die Pupillenstarre in den Anfallen der 
grossen Neurosen scheint ja eine absolute zu sein, jedenfalls mani- 
festiert sie sich bei weiten Pupillen. Das Zustandekommen der reflek- 
torischen Pupillenstarre ware also mit der die Lahmungen der Hirn- 
nerven verursachenden zentralen Lasion identisch und musste auf Unter- 
brecbung des Reflexbogens beruben. 

Der oben angefubrte bistologische Befund bestatigt die bekannte 
Disproportion der klinischen Symptome und der histologischen Ver¬ 
anderungen beim Tetanus. In diesem Falle von Kopftetanus sind 
gerade alle Hirnnervenkerne frei und die Veranderungen finden sich 
im Rfickenmark, und zwar hier fast ausscbliesslicb in dessen Brust- 
segmenten. Auffallig waren die Veranderungen an den Kernkorperchen. 
Lasionen der Nucleoli sind zwar gerade beim Tetanus des ofteren 
beschrieben und abgebildet worden (Goldscheider und Flatau, 
Goebel, Matthes, v. Halban, Sjovall und Kron), doch scheint von 
den genannten Autoren eine derartige Vakuolisierung der Kern¬ 
korperchen, wie wir sie gefunden haben, nicht haufig, wenn flberhaupt, 
gesehen worden zu sein. 

Der vorliegende Fall ist der Klinik des HermProfessor v.Noorden 
durch den Herm Dozenten Erben zugewiesen worden. Ich erlaube 
mir diesen beiden Herren fur seine tlberlassung meinen verbindlicbsten 
Dank auszusprecben. 


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II. 


Aus dem neurologischen Institut an der Wiener Universitat (Vorstand: 

Hofrat Obersteiner). 

Zur Keniitnis des Zentralnerrensystems beim Mongolismus. 

Von 

Dr. Paul Biach, 

Demonstrator am Institut. 

(Mit 4 Abbildungen.) 

Wahrend die Klinik den Typus der mongoloiden Idiotie von 
anderen cbarakteristischen Idiotieformen wohl abzngrenzen vermag 
and dem Mongoloid gewisse ganz eigentumliche Merkmale zuerkennen 
kann, iat dies, soweit die Pathologic und namentlich die patho- 
logiscbe Anatomie in Frage kommt, vorlaufig nieht der Fall. War 
man doch lange Zeit sich nicht iiber das Verbalten der Schild- 
druse bei solchen Idioten im Klaren! Ganz besonders aber gilt die 
Unkenntnis vom Zentralnervensystem, jenem Organ, von dem wohl 
bei gelegentlich so schweren psychischen Schadigungen in erster Linie 
merkliche Veranderungen erwartet werden konnten. Um so fiber- 
rascbender, dass es bis jetzt nicht gelang, einigermassen charakteristiscbe 
Veranderungen des mongoloiden Zentralnervensystems festzustellen. 
Freilich, genaue Untersuchungen, vor allem die mikroskopischen 
unter Anwendung neuerer Farbemethoden, sind so sparlich angestellt 
worden, dass schon aus diesem Grunde erspriesslichere Resultate nicht 
gewonnen werden konnten. So wie die Englander beschrankte sich 
anch eine Reihe deutscher Autoren, wie Fromm, Thiemich, Lange, 
lediglich auf die makroskopischen Verhaltnisse des Gehirns, sein 
Gewicbtusw., ohne auf mikroskopischeForschungeinzugehen. Heinrich 
Vogt ist wohl der einzige unter ibnen, der genauere Daten fiber das 
mikroskopische Verhalten liefert. Ja, auch die Thesen von Seris und 
Desgeorges haben ffir unser Thema kaum besondere Aufklarungen 
gebracht. 

Bei der verhaltnismassigen Seltenheit des Materials habe icb einen 
mir zur Verffigung stehenden Fall aus diesem Gruud einer genaueren 
mikroskopischen Untersucbung unterzogen'). 

1) Obduktionsbefund und Krankengeschichte des mir in liebenswiirdigster 


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II. Biach 


Das Gehira liess bei der Betrachtung erkennen, dass Medulla 
oblongata und Kleinhirn im Vergleich zum Mittel- und Zwischenhirn 
sowie zu den Hemispharen geringer entwickelt war und auffallend 
klein erschien. Aber auch die Breitenausdebnung des verlangerten 
Markes und der BrQcke erschien verkleinert im Verhaltnis zur Breite 
der ganzen Gehirnbasis, besonders, wenn man bier Gehirne normaler 
Kinder zum Vergleich heranzog. 

Dass Kleinhirn und verlangertes Mark bei mongoloider Idiotie tat- 
sachlich unterentwickelt sein kbnnen, darauf baben zuerst die Englander 
Sutherland und Wilmarth hingewiesen; auch Lange und 
Lewkowicz betonen die Kleinheit dieser Regionen in ihren Fallen, 
wahrend Thiemich und Fromm im geringen Gesamtgewicht des 
Gehirns eine mangelhafte Ausbildung zu sehen glauben. 

Namentlich mit Bezugnahme auf die AusfQhrungen bei den letzten 
beiden Autoren sowie auch bei Lange und Comby sei bier noch 
eines Befundes an der linken Hemisphare Erwahnung getan, ehe wir 
zur Besprechung der mikroskopischen Bilder schreiten. Es fanden 
sich im Bereich des linken Parietallappens nach vorne zu bis zu den 
obersten Stirnwindungen (im Operkularteil) die "Windungen etwas 
breiter als im entsprecbenden Abscbnittt der anderen Seite, niedrig 
und auch abgeflacht; da jedoch ein Artefakt nicht mit Sicherheit aus- 
zuschliessen war, sei jedwede Schlussfolgerung aus diesem Befund, 
den ganz ahnlich die erwahnten drei Autoren erheben konnten, unter- 
lassen. 

Zur mikroskopischen Durchsicht wurden kleine Stticke der Frontal-, 
Zentral-, Temporal- und Oecipitalwindungen entnommen und nach 
vorhergehendem kurzen Aufenthalt in Formol teils mit Alkohol zwecks 
Zellfarbungen (Thionin) behandelt, teils in MQllerscher Flussigkeit 
gehartet, ura sie den Methoden von Pal-Weigert, van Gieson, der 
Weigertschen Originalfarbung und der einfachen Hamalaun- mit 
und ohne Eosinnachfarbung zu unterwerfen. Die mit einzelnen, 
direkt dem Formalin entnornmenen Stlicken versuchte Tinktion nach 
Bielschowsky ergab keine schonen Bilder. 

Fiirbung mit Thionin. Die Rinde des Frontallappens zeigt an 
manehen Punkten den fllnfsehichtigen Bau etwas undeutlich. an den meisten 
Stellen jedoch liisst sich derselhe mit Sicherheit erkennen, freilich mehr 
in den inechauisch trcnnenden Zwischenriiunien, als durcli die den einzelnen 
Schichten sonst charakteristischen Zcllt’ormen; letztere zeigen hier alle 

Weise von Assistenten I)r. Poliak zur Verfiigung gestellten Fades sind leider 
nicht erluiltlich gewesen. Das Kind war, wie aus dem Amhulanzprotokoll er- 
sichtlich ist, 0 Monate alt und starb an einer Pneumonie. Die Zeichen des 
Mongolismus waren sehr ausgepragt. 


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Zur Kenntnis des Zentrnlnervensystcms beim Mongolismus. 


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eine gewisse Uniformit&t sowohl hinsichtlich Form und Grosse als auch 
bezilglich der Struktur. Bereits in der Molekularschicht finden sich allent- 
halben Nervenzellen mit mehreren Fortsatzen; ihnen schliessen sich zentral- 
w&rts an die kleinen und grossen Pyramidenzellen, beide nur wenig in 
der Gr8sse verschieden; ihre Form ist weniger dreieckig als rundlich 
Oder oval, die Tigroide nirgends ausgebildet, sondern durch ein fein- 
korniges Protoplasma ersetzt; in einer Reilie von Pyramidenzellen zeigen 
sich zwei Kerne, deren jeder ein wohlausgebildetes, gut tingiert.es Kern¬ 
korperchen enthalt, wobei es mitunter den Anschein hat, als vvaren 
beide Kernmembranen, die man getrennt recht gut jede ftir sich nachweisen 
kann, noch Oberdies von einer gemeinsamen 
Kernmembran umgeben. Beide Kerne be- 
stehen aber vollkommen getrennt, ohnc dass 
etwa verbindende Elemente, Faden im Plas¬ 
ma oder dergleichen bemerkt werden kOnnen. 

Weit grosser ist aber die Zahl derjenigen 
Pyramidenzellen und besonders derjenigen 
Nervenzellen der vierten Schicht, welche an 
Stelle des verdoppelten Kerns lediglich einen 
Kepn, diesen aber mit zweifachem KernkOr- 
perchen versehen aufweisen. Beide Kern¬ 
korperchen lassen sich meistens inmitten 
des Kerns nachweisen, sind entweder gleich 
gross oder differieren unbedeutend; sic unter- 
scheiden sich von denjenigen Zellen, wo, 
wie dies in kadaverOs veranderten Bezirken 
nach v. Orze chow ski zu finden ist, die 
basophilen Kornchen vom I^rnkOrperchcn 
wegwandern, erstens durch die gleiche Fig. 1. 

Grosse beider KOrpercheu und ihr gleich- Zweikernige Pyramidenzelle 
artiges Verhalten Farbstoffen gegenQber, aus der vorderen Zentralwin- 
zweitens aber auch dadurch, dass das ein- dung, 

zelne KOrperchen bei starkeren VergrOsse- 

rungen oft genug zwei, manchmal drei oder vier angelagerte basophile 
Kornchen erkennen lasst. 

Besonders die vierte Schicht ist an solchen, zwei Kernkorperchen 
enthaltcnden Nervenzellen sehr reich; es wechseln Stellen, wo ausschliess- 
lich einkernige polymorphe, kleinere Zellen, die Qbrigens auch hier etwas 
eckig und in ihrer Form und Struktur fast gar nicht ditfereuzicrt sind, 
sich finden, mit Inseln, die wiederum fast ausschliesslich von Elementen 
mit zweifachem Kernkorperchen zusammengesetzt sind. Die Rinde der 
Zentralwindungen ist im Vergleich zu der des Stirnhirns weit besser 
ausgebildet. Nicht nur, dass die Schichtung eine tadellose ist, es sind 
auch die Formunterschiede zwischen den zelligen Bestaudteilen verschie- 
dener und einer und derselben Schicht weit ausgepragter; Pyramiden¬ 
zellen zeigen hier typische Gestalt, ohne dass aber auch hier Tigroide 
deutlich zu erkennen waren. Die rundlichen bis eckigeu, nicht charaktc- 
ristischen Zellen, die im Stirnhirn in Qberwiegender Majoritat auftraten, 
sind hier weniger zahlreich vertreten. In den als Pyramidenzellen gut 
differenzierten Gebilden sind doppelte Kernkorperchen seltener, in den an- 



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II. Biach 


deren, nur wenig scharf differenzierten Nervcnzellen weitaus haufiger, ohne 
jedoch so oftmals aufzutreten wie im Frontallappen. Die Fortsatze der 
Pyramidenzellen sind manchmal korkzieherartig gewanden, dann aber aucli 
in ihrem Zelleib selbst stark geschrumpft, so dass diese Sehlangeluug wohl 
ohne Zweifel ein Kunstprodukt ist. Die Molekularschicht hingegen enthalt 
grOssere Ganglienzellen schon etwas reichlicher. Eine Mittelstellung 
zwischen Stirnhirn und Zentralwindungen nimmt der Hinterbauptslappen 
mit seinen strukturellen Besonderheiten ein. Wir tinden daselbst wohl 
ausgebildete Pyramidenzellen, meist einkernig und aucli bloss ein einziges 
Kernkorperchen enthaltend, nebst rundlichen bis eckigen, mehr unregel- 
massigen Nervenzellen in der zweiten und dritten Schicht, letztere fast 
aussckliesslich sich an der Zusammensetzung der folgenden Sckickten be- 
teiligend, grossenteils zwei Kernkorperchen enthaltend; zweikernige Nerven¬ 
zellen fanden sich in diesen Gehirnpartien 
seltener. Parietal- und Temporallappen bieten 
ein Bild, das, von den eben beschriebenen 
nur wenig abweichend, sich in ihren Rahmen 
einfQgt. 

Die Pia der gesamten Gehirnoberflache 
ist kleinzellig intiltriert; am starksten zeigt 
sich diese Infiltration Qber dem Klein him, 
schwacher Qber den Grosshirnhemispharen, 
den geringsten Grad erreicht sie an der 
Basis. Teilweise lasst sich die Infiltration 
langs der Gefasse aucli in die Rinde selbst 
verfolgen, wo sich dann haufig an den Gang¬ 
lienzellen Neuronophagie beobachten lasst. 
Die in das Zellinnere eindringendeu Oder 
eingedrungenen Kerne der Neuronophagen 
lassen sich leiclit von einem etwa vorhan- 
denen zweiten KernkOrperchen unterscheiden 
und lassen eine Verwechselung mit einem solchen kaum zu. 

Die Markscheidenfarbung nach der Weigertschen Original- 
methode ergab gleichmassig allenthalben das Felilen von Tangentialfasern, 
vielleicht stellenweise etwas rarefizierte Markstrahlen, wahrend das inter- 
radiare Flechtwerk Qberall deutlich hervortrat. Die interradiare Faserung 
war nicht immer gut entwickelt; so war sie im Bereich der Stirnwindungen 
betrachtlich verschmalert im Gegensatz zu ihrer Ausdehnung innerhalb der 
motorischen Sphare. 

Zur Beurteilung der Verhaltnisse der Glia und des Bindegewebes 
wurden Praparate nach van Gieson angefertigt, die aber keine wie immer 
geartete Abweichung von der Norm erkennen liessen. Auch die Gefasse 
verhielten sich, abgesehen von der mitunter beobachteten Infiltration ihrer 
Adventia, die bereits erwahut wurde, durchaus normal. 

Der Thalamus wurde, um eine gcnaue Durchsicht zu ermOglichen, 
in Seric geschnitten und jeder Schnitt abwechselnd mit Thionin oder 
Hamalaun-Eosin gefarbt. 

Die Anomalien traten nur in den Zellen auf; die Markscheidenfarbung 
vermochte in den Faserverhaltnissen keinerlei Abuormitat zu zeigen. 



Fig. 2. 

Nervenzelle aus der Stirnhirn- 
rinde. (Der Kern enthalt zwei 
Kernkorperchen.) 


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Zur Kenntnis dee Zentralnervensy stems beim Mongol ismus. 


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Die Ver&nderungen einzelner Ganglienzellen des Sehhflgels waren im 
Prinzip dieselben wie die in der Rinde; nur traten sie weit sparlicher 
auf and schienen nns im oraleren Thalamusanteil gehaufter aufzutreten 
als im caudalen. Wahrend in einem Gesichtsfeld von 40 bis 50 Rinden- 
zellen dnrchschnittlich sich bis zu 10 Zellen mit zweifachem Kern- 
kOrperchen fanden, gab es solche im Thalamus bei gleichem Gesichtsfeld 
kanm 5; noch sparlicher waren zweikernige Nervenzellen vertreten, von 
denen man bei der Durchsicht kaum in jedem 4. Gesichtsfeld 1 bis 2 
finden konnte. 

Auffallend waren im oralen Thalamusanteil Zellgruppen, die aus Ele- 
menten bestanden, welche sonst nirgends sich fanden: es waren dies meist 
dreieckige Gebilde, grosser als eine Pyramidenzelle, aber kleiner als eine 
Vorderhornzelle, die in Form und GrOsse durchaus einer Ganglienzelle 
sehr ahnelten; auch ihr Protoplasma Hess bis zu einem gewissen Grade 
eine Identifizierung zu. Ihr Kern jedoch zeigte den Typus des Kerns 
einer Gliazelle; durch Thionin blaulich tingiert, mit zahlreichen kleinen 
Granulis versehen, liess er ein deutliches KernkOrperchen kaum hervor- 
treten, war aber selbst sehr scharf konturiert und kleiner als ein Ganglien- 
zellkern. Am meisten konnte man diese Zellen mit denen in Vergleich 
ziehen, die nicht nur in neuroglidsen Bildungen, resp. Neubildungen bei Er- 
wachsenen abgebildet werden (Pellizzi, Stroebe, Bonome, Sano n. a.), 
sondern auch im kindlichen Zentralnervensystem eine Rolle zu spielen 
scheinen (Neurath, Pellizzi, Vogt, Ranke). 

Auch der restliche Teil des Hirnstamms wurde serienweise 
behandelt, nur dass hier die Pal-Weigertsche Methode, meist kom- 
biniert mit der Alaun-Cochenillenachfarbung dfters zur Anwendung kam. 
Bemerkenswert war, dass die Zellveranderungen, wie sie bis jetzt be- 
schrieben wurden, caudalw&rts vom Thalamus fast vollkommen aufhdrten, 
wenngleich man hier und da noch doppelte KernkOrperchen auftreten sehen 
konnte; die auff&lligen Abweichungen, auf die noch aufmerksam gemacht 
sei, weil sie besonders augenfallig wurden, wenn man Schnitte dieser 
Regionen mit ebensolchen von normalen Kindern verglich, bestanden in 
grossem Zellenreichtum, wobei die einzelne Nervenzclle nicht von der Norm 
abwich. Dieser reichliche Zellgehalt konnte in zweifacher Weise sich 
manifestieren. Im Pons, wo die Brttckenkernc sonst betrachtliche Zwischen- 
r&ume zwischen sich lassen, lagen die Zellen dichtgedrSngt neben einander, 
so dass fast jede Zelle die andere berdhrte; der Zellenreichtum zeigte sich 
also so zu sagen diffus. 

In gleicher Weise trat ein analoges Verhalten in den beiderseitigeu 
Nuclei laterales des verlangerten Marks hervor, deren zellige Ent- 
wicklung ebenfalls eine verhaltnismassig starke war. 

Anders dokumentierte sich der Reichtum an Ganglienzellen in der 
Medulla oblongata. Hier traten vorwiegend in den Kernen der Hinter- 
str&nge, teilweise im Hypoglossuskern, endlich auch im sogenannten 
Rollerschen Kern Bildungen auf, die entfernt vielleicht jenen ahnlieh sind, 
welche als „Zellkolonien“ in Spinalganglien missbildeter oder luetischer 
Neugeborener sowie gelegentlich im Thalamus bescliriehen werden, wie- 
wohl ihre Bedeutung in der Form, wie sie hier erschienen, fraglich ist. 
Die einzelne „Kolonie“, von denen eine grossore Anzahl sich an der Zu- 
sammensetzung eines ganzcn Nerveukerns beteiligt, besteht aus 5 bis 


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II. Biach 


6 Ganglienzellen, die sehr nahe aneinander gelagert sind, oline dass jedoch 
in der Regel die Zellgrenzen fiir den Untersucher vollkommen ver- 
schwinden; es imponieren wohl gelegentlich auch solche Verbande bei ober- 
flachlicberer Betrachtung als zwei- Oder auch mehrkernige Nervenzellen. 
Am ausgesprochenstcn konnte man eine solche Anordnung in den Kernen 
des Gollschen und Burdachschen Stranges, im Rollerschen Kern wahr- 
nehmen, wahrend sie im Hypoglossuskern so schwach angedeutet war, dass 
sie dort allein sicherlich gar nicht beachtet worden w'are. 



Fig. 3. 

K kolonienartige Bildungen aus dem XII-Kern. 


Am Schlusse dieser Befunde ware noch eines eigentttmlicben Verhaltens 
der Substantia gelatinosa V. zu gedenken, die, abgesehen davon, dass sie 
zahlreiche Heterotopien bildete, selbst macktig ausgebildet, aus einer Reihe 
von Einzelteilen sich zusammensetzte, welche windungsahulich konfiguriert 
waren. Radienformige Markstrahlen zogen, die Radix spinalis V. quereud, 
schrag durcli die gelatinose Substanz zentralwarts. 

Zusammengefasst ergibt sich also folgender Befund: 

Im Gehirn eines Gmonatlichen Kindes, das den Typus 
des Mongolismus zeigte, findet sich makroskopisch anschei- 
nend Verkleinerung des Kleinhirns samt Briicke und ver- 
langertem Mark. Mikroskopisch erweist sich die Hirnrinde 
mangelhaft differenziert in verschiedener Hinsicht: 1. in 
der Zellform, die nur in manchen Regionen sich zu jener 
der Pyramidenzelle entwickelt. 

Am geringsten ist die Differenzierung hierbei im Stirn- 
hirn fortgeschritten. 


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Zur Kenntnis des Zentralnervensystems beim Mongolismua. 13 

2 . in der Anwesenheit zweifacher Kerne oder doppelter 
Kernkorperchen in einer Reibe von Rindenzellen. 

3. in der mangelhaften Ausbildung der Tigroide, die 
aber aucb auf Leichenchromatolyse zurttckgeffihrt werden 
kann. Daneben Zellenreicbtum, diffus im Pons and den 
Lateralkernen, in Form von Zellhaufchen innerbalb des 
Rollerschen Kerns und der Hinterstrangkerne. 

Sehr wichtig und auffallend ist hierbei ftir uns der Zustand der 
Rinde, weil an uns die Frage herantritt, ob und in wie weit wir diese 
Hirnrinde als patbologisch anzuseben berechtigt sind. Es ware ja 
ausserordentlicb verlockend, schon allein mit Rficksicht auf den Be- 
fund von zweikernigen Nervenzellen und solchen mit doppeltem Kern¬ 
korperchen in dieser Hirnrinde eine Entwicklungsstorung anzunehmen, 
besonders, wenn man in Betracht zieht, wie in anderen Fallen ein 
solcher Befund aufgefasst wird. v. Orzechowskis kritische Sichtung 
der Literatur uber zweikernige Nervenzellen enthebt uns bier der 
Mfihe, neuerdings eine tjbersicht zu geben, aber so viel kann man aus 
den Angaben der Autoren seben, dass ffir die gleicben pathologiscben 
Verhaltnisse im kindlichen Zentralnervensystem, besonders des ersten 
Lebensjabres und denen, wie sie binsichtlicb der Veranderungen in 
der Hirnrinde etwa bei erwachsenen ldioten bestehen, ein ganz ver- 
scbiedener Mafistab augelegt werden muss. 

Die sicb teilweise widersprechenden Angaben der Literatur 1 ) waren 
die Veranlassung zur Anfertigung von Kontrollpraparaten anscheinend 
normaler Rinden ungefahr aus dem gleichen Lebensalter. Auch in 
diesen fanden sich nun Ganglienzellen, hauptsachlich wenig aus- 
gesprochene polymorphe Elemente, mit zweifachem Kernkorperchen, 
wahrend Zellen mit zwei Kernen anscheinend nicht vorhanden waren. 
Trotz alledem glauben wir dem gehauften Vorkommen von Zellen mit 
zweifachem Kernkorperchen, in erster Linie in der Hirnrinde, in vor- 
liegendem Fall eine pathologiscbe Bedeutung nicht absprechen zu 
konnen, wenn man die Zahlenverhaltnisse berficksichtigt. Bei der 
Durchsicbt von 10 Kontrollpraparaten normaler kindlicher Hirnrinden 
fanden sich 36 Zellen mit doppeltem Kernkorperchen, wahrend unser 
Fall in einer gleichen Praparatenanzahl fiber 80 derartige GaDglien- 
zellen bot; dabei wurden nacb Moglichkeit beide Male Schnitte aus 
bomologen Hirnregionen verwendet. Wenn also auch beim normalen 
Neugeborenen Zellen mit zwei Kernkorperchen in der Hirnrinde zu 
den normalen Elementen gehoren, worauf bis nun meines Wissens 
nicht hingewiesen wurde, so sind sie dennoch in unserem Falle weit 

1) Siehe auch hieriiber Probst, Gehirn und Seele des Kindes. 1904. 


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II. Biach 


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eber als Ausdruck einer Entwicklungsstorung oder besser einer mikro- 
skopischen Hemmungsbildung anzusehen: erstens wegen ibres ungemein 
zahlreichen Auftretens, zweitens weil es sich hier bereits um ein 
6 Monate altes Individuum handelte, das docb unter normalen Be- 
dingungen sicherlich zum mindesten weniger derartige Zellenbilder hatte 
aufweisen mQssen als die normalen Neugeborenen, von denen unsere 
Kontrollpraparate meist stammten. 

Besonderes Gewicht muss auch hierbei auf den Umstand gelegt 
werden, dass, nach Regionen gezahlt, der Stirnlappen die grosste An- 
zahl derartiger Zellenbilder enthielt, dessen Rinde also als am meisten 
in der Entwicklung verspatet erscbeint im Gegensatz zu den exquisit 
motorischen Gebieten, deren Storung weniger ausgesprocben war. 
Auch mit dem klinischen Bild lasst sich dieser Befund ganz gut in 
Einklang bringen, wenn in den klinischen Arbeiten fiber den Mon¬ 
golism us nirgends sich ein Hinweis auf Motilitatsdefekte oder Be- 
wegungsabnormitaten findet. Dass umgekehrt Weygandt, Vogt u. a. 
von einer Besserung der psychischen Leistungsfahigkeit, die wahrend 
einiger Jahre moglich ist, berichten, kann gleichfalls nicht wunder 
nehmen; es mfissen sich ebenso wie beim Normalen diese, Entwick- 
lungsstadien darstellenden Phasen sei es weiter aus-, sei es zurfick- 
bilden, um annahernd die Verhaltnisse der spateren Lebensalter zu 
erreichen. Wenn dies bei einer so in der Entwicklung zurlick- 
gebliebenen Hirnrinde, wie in unserem Fall, iiberhaupt noch moglich 
ist, so bleibt doch noch immer die Frage offen, ob die Rinde voll- 
kommen funktionstiichtig sein kann; auf jeden Fall scheint sie uns 
minderwertig in aktiver Hinsicht wie in ihrer Resistenzfahigkeit. 
Sowohl fiber das normale als auch fiber das pathologische Vorkommen 
von Ganglienzellen mit zwei Kernkorperchen in der kindlichen 
Hirnrinde stehen in der uns zuganglichen Literatur Angaben aus. Ja 
selbst fiber zweikernige Ganglienzellen uud ihr seltenes Vorkommen 
in der Hirnrinde weiss nur Alzheimer zu berichten, wahrend Vogt 
zweikernige Nervenzellen und in Teilung begriffene Kerne in der 
Rinde mikrocephaler Idioten fand. Uber das Vorkommen von zwei- 
kernigen Ganglienzellen im fibrigen Zentralnervensystem ist ja weit 
mehr bekannt, und es genfigt, hier nochmals auf die diesbezfigliche 
Publikation v. Orzechowskis zu verweisen. Nur betreffs der doppelten 
Kernkorperchen im Zentralnervensystem mit Ausnahme der Hirnrinde 
sei hier der Arbeiten Wagners (Vorderhorn), Sibelius' u. Marburgs 
gedacht, deren Ergebnisse hinsichtlich der Spinalganglienzellen mit den 
hier fur die Hirnrinde niedergelegten grosse Ahnlichkeit besitzen, 
wenn auch die letzteren normalerweise Kerne mit zwei Kernkorperchen 
in Spinalganglienzellen fanden und erst ihr Vorkommen in grosserer 


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Zur Kenntnis des Zeutralnervensystems beim Mongolismus. 


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Anzahl als pathologisch ansprechen. Das Moment des Alters ziehen 
sie gar nicht in Betracht 

Weniger Gewicht kann auf die Feststellungen gelegt werden, die 
sich mit Form und Tigroidgehalt der Rindenzellen, besonders der 
Pyramidenzellen, befassen. Wir fanden besonders im Stirnhirn 
die Zellformen wenig ausgepriigt, meist u nregelmassig 
oval oder eckig, am ehesten den 
polvmorphen Nervenzellen der 
uormalen Hirnrinde zu ver- 
gleichen. Die Tigroide, aucli in . ■ . . . . 

den ausgesprochenen Pyrami¬ 
denzellen, selten entwickelt. 

Obgleich bei der Vorbehandlung 
des Materials die moglichste Scho- 
nung angewendet wurde, muss den- 
nocb betont werden, dass es nicht 
moglich ist, hier eventuelle Artefakte 
auszuschliessen. Die spate Obduktion 
des Kiudes, der Umstand ferner, dass 
aus ausseren Griinden das ganze Ge- 
hirn fiber 4 Tage in Formalin ver- 
weilen musste, lassen es nicht zu, zu 
entscheiden, ob die geschilderten mor- 
phologischen Veranderungen patholo- 
gischer Natur oder Leichen-, resp. 

Fixationserscheinung sind. Ihr al 1- 
gemeiner Aspekt ware mit einer gan- 
zen Reihe von Angaben seitens Auto- 
ren, die sich gerade mit der patholo- 
gischen Anatomie der Idiotie beschai- 
tigen, recht gut in Einklang zu 
bringen. In erster Linie sind hier 

Vogts Untersuchungen heranzuziehen, der bei Mikrocephalie und 
Mongolismus zahlreiche „NeurobIasten“ iu der Hirnrinde land. 

Herr Dozent Dr. Vogt, der persbnlieh die Gfite batte, meine 
Praparate einer Durchsicht zu unterziehen, konnte sich ebenfalls in 
diesem Sinn aussprechen, und ich darf wohl an dieser Stelle mich ant 
seine Autoritat berufen, wenn er die Kinden- und spez iell die Eyrsi- 
midenzelleD in ihrer Entwieklumi defekt fund und denjeni^en identi- 
fizieren konnte, die er als Xeuroblasten tiezeirlmet. 

Einen ahnlichen Befund verzeiclinen bei Mikroeejdmlie Bourne- 
ville und Oberthur, nur mit dem Untersriiied, dass sie den Xustand. 


Fig. 4. 

Rindenpurtic aus dervorderen Zen- 
tralwindung. Meist polymorphe 
Nervenzellelemente. Wenig Pvra- 
niidenzellen. Die Selii<1 itunir stellen - 
weise versd 1 woinnieii. 


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II. Biach 


wo die Nervenzellen „plutot de oeuroblastes que des cellules nerveuses 
differencees“ sind, als „atrophie extreme" auffassen, wahrend Pellizzi 
seine „anomalie di forma, di disposizione, di orientazione degli elemenii 
nervosi della corteccia cerebrale" in Idiotengehirnen gleich Vogt als 
Entwicklungsdefekt bezeichneb 

Mierzejewski gibt als anatomisches Substrat der Idiotie Neuro- 
blasten in Inseln gleichzeitig mit polymorphen Nervenzellen an, 
ahnlich Schuttleworth und Fletcher Beach, deren Angaben nach 
mikrocephale Idiotengehirne einfach geformte, meistens runde Oder 
ovale Rindenzellen mit wenig Anhangen enthielten. 

Endlich fand Takasu in einem klinisch mit Littlescher Krankheit 
kombinierten Fall von Idiotie die Pyramidenzellen nicht in typischer 
Weise ausgebildet. 

Ob der Fall von Bourneville und Tissier, wo eine Intellekts- 
storung im AnschluB an Kopftrauma auftrat, hierher zu zahlen ist, 
scheint unsicher, wenngleich nach Ansicht beider Autoren die Gang- 
lienzellen der Hirnrinde mangelhaft entwickelt und ahnlich denen bei 
jungen Tieren waren. 

Alle diese Angaben konnen wohl kaum geeignet erscheinen, unsere 
eigenen Befunde zu stiitzen, die sich am ehesten denen Vogts an- 
schliessen. Nur scheint es vielleicht doch zu weit gegangen, direkt 
von „Neuroblasten“ zu sprechen, und ich mochte mich in dieser 
Hinsicht nicht vorsichtig genug aussprechen. 

Anders verhalt es sich mit der mangelhaften Ausbildung der 
Nissl-Schollen; der Zeitpunkt ihres normalen Auftretens findet beson- 
ders in einer Publikation Maschtakows und Marinescos Beriick- 
sichtigung, wiihrend van Biervliet sich nur mit den Vorderhorn- 
zellen befas9t. Seiner Darstellung nach erscheint das Bild der Schichten 
und ZelleD mit alien ihnen zukommenden Eigenttimlichkeiten im 
4 . Embryonalmonat differenziert, um welche Zeit auch speziell die 
ersten chromatophileu Elemente auftreten. 

In unserem 6 Monate alten Fall zeigten die Pyramidenzellen der 
Zentralwindungen, die auch Maschtakow bei seinen Untersuchungen 
beniitzte, keinerlei Nissl-Schollen, sondern es farben sich Zelle und 
Kern diffus; wir hatten also, wenn nicht vielleicht Leichenchromatolyse 
dieser Erscheinung zugrunde liegt, hier sehr wahrscheinlich auch hierin 
eiu Zeichen verspateter Entwicklung zu erblicken, um so mehr, als die 
einzelnen Rindengebiete in mehr oder minder mangelhaftem Vor- 
liandensein von Tigroiden auch unter einander kontrastierten, ein Ver- 
halten, das in seiner normalen Entwicklung noch nicht studiert ist 
und deswegen auch nicht niiher berucksichtigt wurde. 

Soweit die Weigertsche Originalfarbung Aufschluss iiber den 


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Zur Kenntnia des Zentralnervensy9tems beim Mongolismus. 


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Markfaserreichtum gibt, fehlten in unserem Fall die Tangentialfasern, 
ohne dass man hierin, nach den Kontrollpraparaten zu urteilen, ein 
Abweichen von der Norm zu erblicken hatte. Auch die Rarefikation 
einzelner Markstrahlenbundel, besonders im Occipitallappen, sei nicht 
naber erortert. Es lasstsich hier nicht konstatieren, ob, wie Dell’Isola 
angibt, Myelinisation und Bildung der chromatophilen Substanz gleichen 
Schritt halten. 

Auch die Markscheidenbildung in diesem Zentralnervensystem 
konnte eine verlangsamte gewesen sein, wenn wir Flechsigs Unter- 
suchungen in Betracht ziehen, der Frontal-, Operkular-, Angular- und 
Orbitalwindungen seinen „intermediaren“ Gebieten der Markreifung 
(1. Mon at) zurechnet. 

Bevor wir die Besprechung der Hirnrindenbefunde abschliessen, 
sei noch jener ziemlich grossen Anzahl von Nervenzellen gedacht, 
die man in der sonst zellarmen Molekularschicht antreffen konnte. 
Koutrollpr&parate normaler Neugeborener zeigten regelmassig ganz 
analoge Ganglienzellen, von gleicher Form, gleicher Lage, schliesslich 
auch gleicher Anzahl. Es scheint, dass diese Zellgebilde den Cajalschen 
Zellen zu identifizieren sind, wobei ihre Anzahl im vorliegenden Fall 
immerhin einige Beachtung verdient. Lediglich Koppen spricht von 
Ganglienzellen, die bei einem 12.jahrigen epileptischen Idioten mit 
Mikrogyrie in die „aussere Rindenschicht" hinausgeschoben waren. 
Ob damit die gliose Rindenschicht oder die Molekularschicht gemeint 
ist, lasst sich ebensowenig eutscheiden, wie die Frage, ob nicht 
Schrumpfungsvorgange (Koppen beschreibt sklerotische Herde in 
seinem Fall) diese anscheinend abnorme Lagerung bewirkt haben. 

Es bliebe uns noch die beschriebene Zellvermehrung in der Briicke 
und den Seitenstrangkernen sowie die partielle Bildung von zell- 
kolonienartigen Bildungen im verlangerten Mark zu besprechen 
Qbrig. Ftir die Briicke konnen wohl nur mechanische Momente heran- 
gezogen werden, um so mehr, als ein Mangel der Stutzsubstanz aus dem 
Verhalten der Zellen zu den Gefassen sich nicht ergab; aber die ausser- 
liche Ausdehnung der ganzen Briicke war, verglichen mit der Norm, 
eine geringere, so dass viel eher das Aneinanderrucken der Zellen als 
vollkommene Ausbildung der Bruckenkerne gelten kann, die trotz der 
ungQnstigen raumlichen Bedingungen, allerdings auch in Inkongruenz 
mit ihnen, von statten ging. 

Anders verhalt es sich mit dem Nervenzellengehalt der Nuclei 
laterales, dem man auch kaum eine besondere Bedeutuug beimessen 
konnte, hatte nicht Mingazzini in einem Fall von mikrocephaler Idiotie 
einen ahnlichen Befund erheben konnen. Die Medulla oblongata seines 
l’2jahrigen Patienten enthielt Seitenstrangkerne von ausserordentlich 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. 21 . Bd. 2 


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II. Biach 


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starker Entwicklung, aus Zellen bestehend, die nicht nur sehr gross 
waren, sondem auch viel dichter lagen und in der Formatio reticularis 
einen zweifellos grosseren Baum einnahmen als im Normalzustand. 
Wenn Mingazzini zu diesem seinem Befunde, der mit dem unsrigen 
nabezu fibereinstimmt, bemerkt, dass diese starke Entwicklung des 
Seitenstrangkerns, der auch bei Saugetieren (Meerschweinchen, Kanin- 
chen) eine enorme Grosse erreicht, auf einen atavistischen Rtlckschlag 
hindeutet, so besteht far den vorliegenden Fall, wo die Entwicklung 
allerdings keine so exzessive war, kein Grund, sicb seiner Meinung 
nicht anzuschliessen, ja nocb mebr, die Tierahnlickkeit konnte man in 
unserem Fall noch weiter leiten! Es scheinen auch die starke Aus- 
bildung der Substantia gelatinosa V und ihre windungsartige Zu- 
sammensetzung fur eine Analogie mit Rfickenmarksbefunden zu sprechen, 
fiber die ich in Kiirze erst vor noch nicht langer Zeit berichtet habe. 
Leider enthalt sich Mingazzini fiber diesen Punkt naberer Angaben. 

Die kolonienartige Lagerung von Ganglienzellen, wie sie v. Or- 
zechowski (Thalamus), Sibelius und Marburg (Spinalganglien) be- 
schrieben haben, entspricht eigentlich nicht sebr dem vorliegenden 
Typus. Wahrend alle drei Autoren, besonders v. Orzechowski, 
monstrose, unfertige Zellgebilde abbilden, bandelt es sich hier meistens um 
wohlentwickelte Ganglienzellen (Hinterstrangskerne), ffir die selbst wohl 
das Moment einer Entwicklungshemmung kaum Geltung findet; eher 
noch konnte man daran bei den Kolonien im Rollerschen Kern denken, 
wo die Zellen grosser und in Form und Struktur weit weniger 
differenziert sind. Kommt also ffir die Zellelemente selbst eine ver- 
spatete Ausbildung kaum in Betracht, so muss man dennoch einen 
solchen Mangel ffir die Zwischensubstanz annehmen, die sich in den 
Kontrollpraparaten gerade in den Zwischenraumen zwischen den Gang* 
lienzellen innerhalb der Nervenkerne in der Regel breiter erwies. Ich 
mochte aber diesem etwas abnormen Verhalten gerade hier nur wenig 
Bedeutung beilegen, schon deshalb, weil die ganze Anlage der Ent- 
wicklungsstadien, in denen sich die verschiedenen Regionen des 
Zentralnervensystems befinden, eine von der Hirnrinde aufsteigende 
Reihe darstellen: Hirnrinde am tiefsten stehend in ihrer mangelhaften 
Konfiguration, wenig holier bereits der Thalamus; das bereits fast nor- 
male Mittelhirn bildet die Mitte der Reihe und leitetzu der am hochsten 
(was die Bildung der nervosen Elemente anbelangt) stebenden Medulla 
oblongata fiber. 

Auch die feinere histologische Untersuchung des Zentralnerven¬ 
systems bestatigt also im wesentlichen die auf anderem Weg von 
Sutherland, Fromm, Thiemich, Comby, Philipp u. Oberthur, 
Vogt, Weygandt u. a. gefundene Tatsache, dass der Mongolismus 


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Zur Kenntuis des Zentralnervensvstems beirn Mongolismus. 


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eine Hemmungsbildung sei; sie scheint aber geeignet zu sein, ein Licht 
darauf zu werfeD, welcher Art diese Hemmungsbildung, die man besser 
als Entwicklungsstorung bezeichnen konnte, ist. Sie besteht in unserem 
Fall aus zwei Komponenten: 

1. der retardiertenEntwicklung dernervosen, besondersder zelligen 
Elemente in Lage, Schichtung, Form (?) und Struktur inner- 
halb des Vorder-, teilweise auch des Zwischenhirns, vornehm- 
lich der Grosshirnrinde; 

2. einem atavistischen Rlickschlag in der hinsichtlich der einzelnen 
Elemente auf normaler Entwicklungsstufe stehenden Medulla 
oblongata. 

Das Zentralnervensystem war also in doppelter Beziehung minder- 
wertig, onto- und phylogenetiscb, wobei die Frage, inwieweit die erste 
Minderwertigkeit einer Korrektur fabig ist, ohne BelaDg ist. Konnten 
auch die verspatet entwickelten Teile sicb zur Vollkommenbeit weiter 
differenzieren, die Tatsache, dass sie funktionell minderwertig bleiben, 
lasst sich wobl kaum leugnen, wenn nicht schon vorher dieses wenig 
resistenzfahige Nervensystem einer ausseren Krankheitsursache erliegt. 
Charakteristisch fur die mongoloide Idiotie scheint weder die atavistische, 
noch die ontogenetische Komponente zu sein. Wir linden die ana- 
logen Abnormitaten auch bei der mikrocephalen Idiotie ausgepragt 
und kiinnen auch klinisch derartige Ubergange sehen, fUr die unser 
Fall auc,h eine anatomische Grundlage bietet. Mit histologischen Ent- 
wicklungshemmungen, wie den beschriebenen, konnten gewisse Falle 
von Mongolismus zu anderen Idiotieformen (gleicher Atiologie?) uber- 
leiten, denen gegeniiber ein prinzipieller Unterschied nicht besteht; 
sie alle konnen qualitativ gleichartig, quantitativ aber verschieden sein. 


Literatur. 

(Nur die namentlich im Text angefuhrten Autoren sind liier verzeichnet.) 

1) Besta, Due idioti microcefali. (Riv. sperira. di Freniatria 1901. Vol. 
XXX. p. 572.) 

2) Derselbe, Ricerche iutorno alia Genesi ed al niodo di formazione 
della cellula nervosa etc*. (Riv. sperim Freniatria. Vol. XXX. p. 90.) 

3) Biach, Zur Tierahnlichkeit im menschliehen Ruckenmark. (Neurolog. 
Zentratbl. 1908.) 

4) Bourneville, Sur Tanatomie pathologique de Fidiotie. (Ref. Archives 
de Neurologie. 1900. Vol. 10. p. 319.) 

5) Derselbe, De Fidiotie niongolienne. (Le Progri^s medical 1903.) 

6) Bourneville et Oberthur, Idiotie mierocephalique cerveau pseudo- 
kystique. (Arch. d. Neurologie. 10<Jl. XI. p. 273.) 

i) * 


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II. Biacii, Zur Kenntnis des ZentralnervensystemB usw. 


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7) BourneviJle et Tissier, Arrieration intellectuelle consecutive h une 
brulure de la t§te etc. (Progrfes medical. 1890. p. 52.) 

8) Comby, Nouveaux cas de mongolisme infantile, (Zitiert nach Ref. 
Jahrbuch f. Khlk. 1907. 8. 66.) 

9) Dell* Isola, Le variazonidi struttura della cellulanervosa nelle diverse 
epoche di sviluppo. (Riv. Path. nerv. e ment. 1898. 9.) 

10) De Sanctis, II Mongolismo. (Riv. path. nerv. e ment. 1907. XII.) 

11) Desgeorges, Contribution & Petude de Pidiotie mongolienne. (Thfcse 
de Paris 1905.) 

12) Fromm, Sektionsbefund bei einem Falle von Mongolismus. (Monats- 
schrift f. Khlk. IV. 5.) 

13) Kaes, Neuere Arbeiten zur pathologischen Anatomic der Idiotie. 
(Monatsschr. f. Psych, und Neur. 1897. I.) 

14) Koppen, Beitrage zum Studium der Hirnrindenerkrankungen. (Arch, 
f. Psych. 28. 1896.) 

15) Lange, Beitrage zur pathologischen Anatomie des Mongolismus. (Monat- 
schrift f. Khlk. 1906. 5. 233-243.) 

16) Lewkowicz, Uber Mongolismus. (Ref. Monatschr. f. Khlk. 6.) 

17) Magini, Sur la nevroglie et les cellules nerveuses cdrebrales chez le 
foetus. (Arch. ital. de Biologie IX. I. p. 59.) 

18) Marburg, Zur Pathologie der Spinalganglien. (Arbeiten aus dem 
Wiener neurol. Inst. Bd. 8.) 

19) Mierzejewski, 8ur Panatomie pathologique de Pidiotie. (Ref. Archives 
de Neurologie 1900. 10. S. 313.) 

20) Mingazzini, Beitrag zum klinisch-anatomischen Studium der Mikro- 
cephalie. (Monatsschr. f. Phys. u. Neur. 1900. Bd. 7. H. 6.) 

21) Orzechowski, Uber Kernteilungen in den Vorderhornzellen des Men- 
schen. (Arbeiten aus dem Wiener neurol. Inst. Bd. 13.) 

22) Derselbe, Zur Pathologie und Pathogenese der Chorea minor. Fest¬ 
schrift f. Obersteiner. Arbeiten aus dem Wiener neurol. Inst. Bd. 15.) 

23) Pellizzi, Contributo alia Istologia ed alia Patogenese dei Tumori di 
Tessuto nervoso. (Riv. sperim. di Freniatria. Bd. 27. 1901.) 

24) Derselbe, Studii clinici ed auatomo-patologici sull* Idiozia. Torino 1901. 

25) Philippe et Oberthur, Exaraen histologique de deux cerveaux 
d’idiots mongoliens. (C. R. de Bourneville 1902). 

26) Pfister, Uber das Gewicht des Gehirns und einzelner Hirnteile beim 
Saugling und alteren Kinde. (Neur. Zentr. 1903. S. 562.) 

27) Seris, Le mongolisme infantil. 1D0G. These de Paris. 

28) Sibelius, Zur Kenntnis der Entwicklungsstdrungen der Spinalgang- 
lienzellen usw. (Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1901. Bd. 20. S. 35.) 

29) Shuttle worth und Fletcher, Beach, Anatomie pathologique de 
Pidiotie. Ref. Archives de Neurologie. 1900. Vol. 10. p. 301). 

30) Takasu, Beitrage zur pathologischen Anatomie der Idiotie. (Monats- 

schrift f. Psych, u. Neur. 21. 19u7.) 

31) Thiemich, Sektionsbefund bei einem Falle von Mongolismus. (Monats- 
sekrift f. Kinderheilkunde. 1903. II. 3.) 


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III. 


Aus der konigl. Poliklinik fiir Nervenkranke (Prof. E. Meyer) and 
der konigl. Poliklinik flir Hals- und Nasenkranke (Prof. Gerber) zu 

Konigsberg i/Pr. 

Weitere BeitrSge zur Symptomatologie der Erkrankungen 
der motorischen Kernsaule. 

Von 

Priv.-Doz. 

Dr. Kurt Goldstein, und Dr. Georg Cohn,. 

I. Assistant. 1. Assistant. 

Die Seltenheit isolierter Erkrankungen der motorischen Kern- 
gebiete der Oblongata und des Mittelhirns dtirfte die Mitteilung fol- 
gender Falle rechtfertigen, bei denen es sich bei verschiedenartigster 
Atiologie und Verlauf um mehr oder weniger weit ausgedehntes Be- 
fallensein der Kernsaule der motorischen Hirnnerren handelt. 

Die ersten Falle reihen sich einer friiheren Veroffentlichung des 
einen von uns (G. *)) an, indem sie wesentlich die Augenmuskeln be- 
treffen und in das Bild der Ophthalmoplegia progressiva externa 
hineingehoren. 

Fall l. 1 2 ) Robert B., 26 Jalire alt, Schornsteinfeger. 

Familienanamuese o. B. Keine Nerven- und Augenkrankheiten in 
der Familie. Als Kind will Pat. ausser Rachitis immer gesund gewesen 
sein, seine Geburt soli normal gewesen sein, in der Scliule hat er gut ge- 
lernt, an den Augen ist nie etwas aufgefallen. 

Seit mindestens 8 Jahren zunchmendes Herabhangen des 
rechten Augenlides. 

M&ssiger Alkoholismus in letzter Zeit. Vor 4 Jaliren Tripper. Lues 
negiert. Ausser den Augenbeschwerden keinerlei Beschwerden. Kein 
Schwindel, kein Kopfweh usw. 

Objektive Untersuchung am 11. II. 1908: 

Schadel o. B. Angewachsene Ohrlappchon, holier Gaumen, sonst koine 
Degenerationszeichen. Hirnnerven I, II, o. B. Ill, das rechte Augenlid 
b&ngt stark herab und kann gar nicht gelioben werden. 

1) Archiv fur Psychiatric. 1900. 

2) Fur die Erlaubnis der Veroll’entlichung dieses und der beiden folgeu- 
den Falle sagen wir Herrn Prof. Kriickmann (Direktor der konigl. Augeu- 
klinik, hier) unseren verbindlichsten Dank. 


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III. Goldstein u. Coiin 


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tJbrige Oculomotoriusmuskulatur o. B. Pupillen in jeder Beziehung 
frei. IV o. B., V sensorisch und motorisch o. B., VI: Beim Blick nach aussen 
treten besonders rechts zeitweise cinzelne nystagmusartige Zucknngen auf, 
links auch etwas, aber weniger. Es besteht eine geringe Funktions- 
schwache des rechten Externus. 

VII: Mundfacialis beim Zaknezeigen rechts etwas weniger be- 
wegt als links. Mundschluss beiderseits gut. Stirn ist gerunzelt, Funktion 
beiderseits gut, recbte Augenbraue steht dauernd hOher als die linke, elekt- 
risch nirgcnds Storungen. 

VIII, IX, X, XI, XII o. B. Motilitatund Sensibilitat des KOrpers Oberall 
ohne Stdrungen, Romberg, Sehnen und Hautreflexe o. B. Keine Ataxie. 
keine Storungen der passiven Beweglichkeit; gesteigerte mechanische Muskel- 
erregbarkeit und vasomotorisches NachrOten besteht nicht. Innere Organe 
o. B. Urin frei. 

Zusammenfassung. Bei einem 26jahrigen Manne hat sich ini 
Laufe von 8 Jahren eine zunehmende Ptosis des rechten Auges, eine 
geringe Schwache des rechten Abducens und vielleicht eine solche des 
rechten Facialis entwickelt. Bei dem Fehlen aller sonstigen Storungen 
muss eine isolierte Erkrankung im rechten Oculomotorius- und Abdu- 
censkern angenommen werden, die in das Bild der Ophthalmoplegia 
progressiva gehort. Die Tatsache, dass die Erkrankung an zwei 
Stellen eingesetzt und ein dazwischen gelegenes Gebiet (Trochlearis) 
verschont hat, widerspricht nicht den gewohnlichen Erfahrungen; auch 
in dem von G. mitgeteilten friiheren Falle war die Erkrankung keine 
kontinuierliche. Das leichte Befallensein des Facialis ist ebenfalls bei 
der progressiven Augenmuskellahmung schon wiederholt beobachtet. 
worden. 

Fall 2. Anna J., 20 Jahre alt, Schneiderin. 

Familienanamnese o. B. Keinerlei Nervenkrankheiteu in der Familie, 
keine Augenkrankeiten. Keine Muskelkrankbeiten. 

Patientin selbst nie besonders krank gewescn. In der Schule mSssig 
gelernt. 

Vor 2 Jahren angeblich Kopfroso. Seitdem — jedoch nicht sofort 
darauf — beinerkt Pat., dass an ibren Augen etwas nicht in Ordnung sei. 
Vorlier war niclits an den Augen aufgefallcn. Zuerst fiel ihr auf, dass 
das linke Auge herabhing, dann auch das recbte, allmahlich wurden 
sehr langsam hinter einander alle Bcwegungen in beiden Augen 
schwerer, bis sie schliesslich die Augen nicht mehr bewegen 
konnte, so dass sie beim Selien immer den Kopf bin- und herbewegen 
musste. Sonst keinerlei Beschwerden, keine Schmerzen, kein Reissen in den 
Beinen, keine Schwindelanfalle, keine Unsicherheit, beim Gehen, auch nicht 
im Dunkeln. Nicmals voriibergehende Lahmungen oder Schwache einzelner 
Glieder. Keine Storungen beim Wasscrlassen, bei der Stublentleerung. 
Keine Storungen der Qbrigen Sinnesorgane. Keine StOrung beim Sprechen 
oder Schlucken. Das Gedachtnis babe in letzter Zeit gelitten, sie vergesse 
b'ichter, babe auch viol von ibren friiheren Kenntnissen vergessen, sie habe 
aber immer ein schlcchtes Gedachtnis gehabt. 


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Weitere Beitrage zur Symptomatologie usw. 


23 


Im Jahre 1907 wurde Pat. in der hiesigen Augenklinik untersucht; 
aus dem uns von dort freundlichst zur Verftlgung gestellten Befund ent- 
nehmen wir: Beiderseits Ptosis. Fast vdllige L&hmung der Interni, In- 
feriores, Superiores und der Obliqui inferiores. Geringe Funktion des 
Obliquus superior. Beide Abduceutes etwas beweglich. Konvergenz fehlt. 
Pupillenreaktion direkt und indirekt gut. Ebenso Lidschlussreaktion, fast 
koine Reaktion bei Akkomodation. Die Akkoraodation ist leicht paretisch 
(ca. + 1,5 D). 

Untersuckung am 7. YI. 1907. 

Mittelgrosses, gut gebautes Madchen in mittlerem Ernabrungszustand, 
leidlich gutes Aussehen. Am Gesickt fallt eine gewisse Gespanntheit auf, 
etwas wenig Mimik. Die Stirn ist hochgezogen, weist dauernd mebrere 
tief eiugegrabene Falten auf, die auch bei Augenschluss nicht schwinden. 
Dio Augenbrauen sind dauernd stark hochgezogen, die Lidspalte ist beider¬ 
seits sehr niedrig, et\v;a 3—4 mm hoch. Das linke Auge steht in der Ruhe 
etwas nach aussen gewendet, wahrend das rechte etwa gcradeaus sieht. 
Bei krampfhaftem Aufreissen der Augen werden die Lidspalten auch nicht 
wesentlich weiter. Es besteht also sehr ausgesprochene beiderseitige Ptosis. 
Rechts: Internus inferior und superior sowie Obliquus inferior sind fast 
vollig gelabmt. Die Akkomodation ist gut. IV: Obliquus superior zeigt 
eine gewisse Funktion, indem beim Versuch, nach unten zu sehen, eine 
geringe Rollung auftritt. VI: Externus ist etwas beweglich beiderseits, links 
besser als rechts. Pupillen beide ttber mittelweit, rechte enger als linke. 
H L beiderseits prompt +, aucb konsensuelle Reaktion positiv. R/C fehlt, 
Konvergenz unmdglioh. Akkomodation +, R/A +. Conjunktival- und 
Cornealreflex beiderseits schwach. Der Gesichtsschadel ist asymmetrisch. 
Die Zunge weicht beim Herausstreckcn etwas nach rechts ab, 
ist sehr schlaff, Bewegungen nach beiden Seiten gleich gut. Der weiche 
Gaumen wird links etwas mehr verzogen als rechts. Rachenreflex +. Der 
Mund hangt in der Ruhe etwas links, wird beim Sprechen rechts 
etwas mehr bewegt als links. Elektrische Untersuchung: Faradisch 
Facialis nichts. Zunge rechts geringe, aber deutliche Herab- 
setzung der Erregbarkeit. Galvanisch nirgends Storungeu. 

Ubrige Hirnnerven o. B. 

Die Untersuchung des Obrigen KOrpers ergibt von seiten des Nerven- 
systems nichts Pathologisches, keine Zeichen fhr eine Hysterie, keine spas- 
tischen Erscheinungen an den Extremitaten, nirgend Paresen, keinerlei Ano- 
malien der Reflexe, keine Druckpunkte. Romberg nicht, Sensibilitiit tiberall 
ohne Stdrung, ophthalmoskopisch normaler Befund. Die inneren Organe 
zeigen keine wesentliclie StOrung. An der rechten Zungenhiilfte eine etwa 
fhnfpfennigstOckgrosse, blutgefQllte, wenig erhabene Gcschwulst (Angiom?) 

Die Psyche der Pat. ist zweifellos nicht gauz intakt. Es fallt 
sclion bei der Unterhaltung ein albcrn-lappisches Benehmen, haufiges un- 
inotiviertes Lachen auf. Bei der Exploration zeigt sich, dass die Ivenntnisse 
recht gering sind. Pat. sagt auch selbst, dass sie vieles vergessen liabe. 
Einfache Rechenaufgaben kann sie nicht losen, uur das Einfachste gelingt 
ihr. Ebenso ist ihr Urteilsvermdgen ein recht geringes. Es besteht im 
ganzen wohl ein betrUchtlichcr Grad angeborenen Sellwachsinns. 
Fhr die Annahme einer akuten Geistesstorung irgend einer Art liegen 
keine Anhaltspunkte vor. 


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24 


III. Goldstein u. Cohn 


Zusammenfassung: Ein 24jahrigesMadchen erkrankfc angeblich 
nach einer Kopfrose, aber nicht in direktem Anschluss an 
dieselbe mit einer allmahlich fortschreitenden Lahmung samt- 
licher ausseren Augenmuskeln und des Akkoraodations- 
muskels, so dass etwa 2 Jahre nach Beginn eine fast vbllige Lah¬ 
mung der vom Oculomotorius versorgten ausseren Augen- 
muskeln,geringe Lahmung der Trochlearis- und noch leichtere, 
aber auch betrachtliche der Abducensmuskulatur konstatiert 
werden kann. Dazu gesellt sich eine Schwache der rechten Zungen- 
muskeln, desGaumens,derlinken Mundfacialismuskulaturmit 
Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit in der rechten 
Zungenhalfte. 

Im (ibrigen weist das Nervensystem vollig normale Verhaltnisse 
auf. Zur Erklarung des Befundes bleibt kaum eine andere Annahme 
als eine fortschreitende Erkrankung in den Kerngebieten der be- 
troffenen Nerven ubrig. Die Erkrankung begann anscheinend mit der 
Levatorlahmung, also im Oculomotorius-Kerngebiet, und schritt von 
da auf die librigen Oculomotoriuskeme und die Kerne von Troch¬ 
learis, Facialis, Abducens und Hypoglossus fort. Das Symptomenbild 
geht liber die reine Ophthalmoplegie hinaus, die Erkrankung steht 
aber mit ihr zweifellos in engster Beziehung. Ein ahnliches Befallen 
auch nicht zum Augenapparat gehoriger Muskeln nach lang isoliert 
bestehender Ophthalmoplegie hat u. a. Koelichen 1 ) beschrieben. 

Bemerkenswert ist an dem Falle zunachst der Beginn: der angeb- 
liche Anschluss an die Kopfrose. Wahrscheinlich haben wir in der 
infektiosen Erkrankung nur das auslosende Moment fUr das Auftreten 
der Kernerkrankung zu sehen. Sicherlich handelt es sich nicht etwa 
um eine infektiose Poliomyelitis wie in den spater zu erwahnenden 
Fallen; dagegen spricht das Auftreten erst einige Zeit spater nach der 
Infektionskrankheit und das ganz langsame, allmahliche Fortschreiten 
des Prozesses. 

Die bei der zweiten Untersuchung festgestellte geringe Besserung 
gegeniiber dem J /2 Jahr vorher erhobenen Befunde spricht nicht gegen 
die Annahme einer progredienten Kernlahmung. Derartige Schwan- 
kungen sind auch bei anderen Fallen der progressiven Ophthalmoplegie 
beobachtet worden. Auffallend ist das Mitbetroffensein der Akkomo- 
dation, jedoch findet sich etwas Ahnliches auch schon in vereinzelten 
Fallen der Literatur, z. B. bei Strumpell 2 ). Gerade die Akkomodations- 

1) Uber die Ophthalmoplegia externa chron. progr. Gazeta lekarsk. 1904; 
ref. in Neurolog. Zentralbl. v. 10. Miirz 1900. 

2) Neur. Zentralbl. f>. 1SS0. 


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Weitere Beitrage zur Symptomatology usw. 


25 


lahmung verschwand spater so gut wie ganz. Bei beiden mitgeteilten 
Fallen ist das relativ hohe Alter der Kranken — im ersten begann 
die Erkrankung iin 18., im zweiten im 24. Lebensjahre — hervor- 
zuheben* Gewohnlich setzt die Erkrankung weitfruher ein. Bemerkens- 
wert ist schliesslich im ersteu Falle das Vorhandensein von Degenerations- 
zeichen, im zweiten das der Schadelasymmetrie und des betrachtlicben 
angeborenen Schwachsinns. Aueh in dem friiher von G. mitgeteilten 
Falle bestand Imbezillitat. Vielleicht gestattet das haufige Zusammen- 
treffen der progressiven Ophthalmoplegie mit derartigen Zeichen einer 
gestorten Anlage des gesamten Nervensystems einen RQckschluss auf 
die Atiologie der Ophthalmoplegie, die wahrscheinlich auf eine ab- 
norme Anlage zurQckzufnhren ist. 

Ziehen 1 ) zahlt auch in seinem kiirzlichen Vortrag die infantile 
progressive Bulbarparalyse — und dazu gehoren ja Falle wie die 
unsrigen — zu den „auf kongenitaler Anlage beruhenden erworbenen 
atrophischen Lahmungen". 

Der 3. Fall fuhrt zu einigen weiteren Beobachtungen, die von 
den bisherigen mitgeteilten einerseits durch die weitere Ausdehnung 
des Prozesses in der Kernsaule, andererseits durch eine be- 
stimmte exogene Atiologie ausgezeichnet ist. 

Fall 3. Minna N., 36 Jahre alt, Arbeiterin. 

Familienanamnese o. B. Pat. will bis zur jetzigen Krankheit nie 
besonders krank gewesen sein. In der Jugend sicber keine Stdrung an 
den Augen. 

1901 erkrankte Pat. mit Fieber, Kopfschmerzen, Schmerzen in den 
Augen; kein Erbrechen, keine Nackensteifigkeit, keine Halsschmerzen. Sie 
war 8 Tage krank. In dieser Zeit traten ziemlieh pldtzlick die Sto- 
rungen an den Augen auf. Zeitweise war auch die Spracke schlechter, 
kein Yerschlucken. Der Mund wurde schief; kein Kribbeln, kein Taubheits- 
gef&hl usw. Die Stdrung besserte sick nur wenig und blieb die gauze 
Zeit ziemlieh stationkr. Pat. kommt jetzt in Behandlung der kgl. 
Universitkts-Augenklinik, weil das Sehen infolge einer beiderseitigen Kera¬ 
titis e lagophthalmo gestfirt ist. Die objektive Untersuckung am 27. VIII. 
1907 ergibt: 

Kleine Person, Schildelumfang 53, bifrontal 11, biparietal 14, fronto- 
subocciptal 17 cm. Keine Prognathic; angewachsene Okrlappcken; sonst 
keine Degenerationszeicken. 

Hirnnerven: I, II o. B., Ill, IV, VI fast vollstkndige Lilhmung 
skmtlicher kusseren Augenmuskeln; nur minimale Beweglichkeit. 
Pupillen normal in jeder Beziehung, V o. B., VII Stirnrunzeln beider- 
seits schwach. Der Mund stekt in der Ruke links etwas tiefer 


1) Beziebungen zwisehen angeborenen Muskeldefekten, iufantilem Kern- 
schwund und Dystrophia muscularis progressiva infantilis. Berl. kliu. Woekeu- 
schrift 1908. Nr. 34. 


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26 


III. Goldstein u. Cohn 


wie rechts, er wird nach beiden Seiten bin wenig verzogen, sub- 
jektiv nach rechts besser als nach links. Beim Sprechen links 
weniger bewegt als rechts. 

Elektrisch: Stirn beiderseits sehr stark herabgesetzt, so- 
wohl faradisch wie galvanisch beiderseits trage Zuckung, An = 
Ka. Kinn- und Mundmuskulatur beiderseits stark herabgesetzt, 
sowohl faradisch wie galvanisch; links trage Zuckung, An = Ka. 
Rechts gute Zuckung, Ka starker als An. Facialisreflexe fehleu 
beiderseits, Masseterreflex -f-. 

VIII o. B., IX Geschmack ohne Stdrung, X, XI Puls regelraassig, be- 
schleunigt, 106. Atmung ebenso. Sternocleidom. funktionell beider¬ 
seits ohne Stdrung, galvanisch beiderseits etwas trage Zuckung, 
An = Ka. Cucullaris: Keine abnorme Stellung, fftblt sich links starker 
an. Beiderseits scbwache Kraft, keine sichere Funktionsstbrung. 
Elektrisch: Links obere Partie trage Zuckung bei galvani- 
scher Reizung, Anode deutlich starker als Ka; rechts auch 
etwas trage, weniger als links, sonst o. B. 

Gaumensegel: Links wesentlich schlechter als rechts, doch 
beiderseits schlecht beweglich. Das Zapfchen steht in der Rube 
nach links mit der Spitze verzogen. Reflexerrcgbarkeit der Uvula vbllig 
erloschen, Gaumen- und Rachenreflex o. B. 

Kehlkopf: Bei der Respiration ist die Abduktionsbewegung beider 
Stimmbander, und zwar des rechten mehr behindert, so dass die 
Rima glottidis in ihrer grbssten Ausdelinung nur eine Weite von 3 mm hat 
Die Adduktionsbewegungen sind anscheinend normal, Sensibilitat herab¬ 
gesetzt. 

XII: Zunge wird etwas nach links herausgestreckt. 

Elektrisch: Rechts o. B., links trage Zuckung. An = Ka. 

Motilitat der Extremitaten in jcder Bezieliung frei; passive Beweg- 
lichkeit: Links im Kniegelenk deutliche Spannungen, rechts o. B. Sen¬ 
sibilitat o. B Pat.-Reflex beiderseits +, Achillesreflex o. B., Fussohlen- 
reflex fehlt beiderseits, kein Babinski, kein Oppenheim-Mendel dorsal. 
Abdominalreflex Reflexe der oberen Extremitaten o. B. Geringer 

Romberg. Es besteht keine Mastodynie und Ovarie. Mechanische Muskel- 
erregbarkeit und vasomotorisches Xachroten lebhaft. Es besteht beider¬ 
seits Keratitis e lagophtkalmo. 

Innere Organe: Herzgrenzen o. B., erster Ton an der Spitze un¬ 
rein, verlangert, 2. Pulmonalton unrein und klappend, 2. Aortenton o. B. 
Puls regelmiissig, beschleunigt, 106. Lungen und die tlbrigen Organe o. B. 
Uriu frei. Eine spatere Nachuntersuchung ergab den gleichen Befund. 

Zusammenfassung: Bei einer 27jabrigen Arbeiterin stellen sich 
im Verlauf einer fieberhaften Erkrankung Stbrungen an den 
Augenmuskeln und der Mundmuskulatur ein, der Zustand bleibt 
im wesentlichen stationar und eine Untersuchuug 4 Jahre spater ergibt 
fast vbllige Liihmung siimtlicher ausseren Augenmuskeln 
bei Intaktbeit der inneren, Scbwache beider Faciales, besonders 
des linken, mit ausgesprochen elektrischer Veriinderung im 


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Weitere Beitrage zur Symptomatologie usw. 


27 


linken Facialisgebiet. Elektrische Veranderung geringen 
Grades im Stemocleidom. und im Cucullaris, besonders links 
ohne deutliche Funktionsstorung, funktionelle Schwache 
der beiderseitigen Uvulamuskulatur, besonders des linken, 
Schwache der Postici, besonders des rechten, Parese der 
linken Zungenmuskulatur. Wir finden also eine atrophische 
Lahmung von verschiedener Starke im Oculomotorius,Trochlearis, 
Abducens, Facialis, Hypoglossus und Vagoaccessorius. Teil- 
weise sind beide Seiten (III, IV, V) in gleieher Weise, teilweise die eine 
starker wie die andere (VII, IX, X), oder nur die eine (XII) getroffen. Es 
besteht elektrisch in einzelnen Gebieten partielle EaR. Zur Erklarung 
dieser atrophischen Lahmung in. verschiedenen Himnerven ist kaum 
eine andere Ursache, als eine Erkrankung der Kerngebiete anzunehmen. 
Eine periphere Lasion kommt wegen der Multiplizitat der erkrankten 
Nervengebiete, dem Fehlen von Schmerzen beim Ausbruch der Er¬ 
krankung, der eigentnmlichen Auswahl, die nur die motorischen Nerven 
und auch von diesen nicht samtliche Aste betrifft, wohl gar nicht 
in Betracbt Eine extramedullare Wurzelerkrankung ist wegen der 
geringen Allgemeinerscheinungen bei der grossen Ausdehnung, die der 
Prozess an der Basis gehabt baben musste, auch von der Hand zuweisen. 
Auch ware dann das Verschontbleiben der sensorischen Nerven kaum 
zu erklareu. Das Bild, das die Kranke jetzt bietet, ist ein dauernd 
gleiches und ein Residualzustand einer friiheren akuten Erkrankung, 
die als Polioencephalitis acuta zu bezeichnen ist. 

Bemerkenswert ist, dass in einzelnen Gebieten die Storung sich 
nur in elektrischer Veranderung kund gibt, wiihrend die Parese fast 
vollig fehlt. Auch dieses Moment lasst sich am ehesten fur die An- 
nahme einer Kernerkrankung verwerten, ebenso, wie die Auswahl im 
Vagoaccessorius dafur spricht, von dessen Gebiet die Postici am 
starksten betroffen sind, wahrend die Adduktoren ganz frei sind. Vom 
Vagus sind wahrscheinlich auch sensible Abschnitte geschadigt. Es 
zeigt sich eine Herabsetzung der Sensibilitat im Kehlkopf und der 
Reflexerregbarkeit der Uvula am Gaumen und Rachenreflex. Die 
dauernde Pulsbeschleunigung lasst auch vielleicht auf eine Parese des 
Herzvagus schliessen. 

Atiologisch kommt in diesem Falle w r ohl zweifellos die infektio.se 
Erkrankung in Betracht, deren Charakter allerdings zweifelhaft ist, 
aber anscheinend den influenzartigen Erkrankungen nahe steht. Diese 
Infektion ist hier nicht, wie im vorigen Falle, das auslbsende Moment 
ftir die Kernerkrankung gewesen, sondern die eigentliche Ursache. 
Dafur spricht der ganz akute Charakter der Erkrankung, ihr volliger 
Stillstand, nachdem die akuten Erscheinungen verschwunden sind. Wir 


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III. Goldstein u. Cohn 


mfissen danach von einer Polioencephalitis acuta infectiosa 
sprechen, wie sie ja schon, wenn auch selten, beschrieben worden ist. 
Der Fall steht dadurcb nahe dem folgenden, der schon von Herrn Prof. 
Gerber 1 ) mitgeteilt wurde, den wir aber im Zusammenhang nochmals 
anfuhren, besonders auch deshalb, weil sein weiterer Verlauf von 
Interesse ist. 

Fall 4. Heinrich J., 45 Jahre, Lokomotivftthrer. 

Anamnese: Eltern leben und sind gesund, ebenso Geschwister. Eine 
Schwester vor 8 Jahren an Tuberkulose gestorben. Pat. war frtther nie- 
mals krank, Frau gesund, ein Partus praematurus, keine Kinder. Gonorrhoe 
koncediert, Lues negiert. 

Mitte Januar 1905 bekam Pat Ohrenscbmerzen, Halsschmerzen und 
Influenza. Sp&ter erysipelatdse ROtung und Schwellung der Ohrmuschel. 
Nach Abschwellung der letzteren Perforation des Trommelfells, gleichzeitig 
mit dieser wurde das Gesicht schief. Er hatte keine Schmerzen, wurde 
heiser, beim Essen Hustenreiz, Schluckbeschwerden; besonders kam flQssige 
Nahrung stets durch die Nase zurtlck. 

31. I. 1905. Pat. ist ein grosser, gesund aussehender Mann, dessen 
rechte Gesichtshalfte vOllig geliihmt ist. Beim Anlauten steht die rechte 
Gaumenhalfte vollig still. Das Trommelfell im hinteren oberen Quadranten 
gerfltet, zeigt in der Mitte eine ganz kleine Perforation. HQrprOfung: 
Flttstersprache links normal, rechts ad concham = 0. Konversationssprache 
links normal, rechts 6 m. Weber nach rechts, Rinne beiderseits positiv, 
C links bei f. K. A., Fis 4 rechts bei starkstem Anschlag. 

Schadel sonst o. B. Kopfperkussion nicht schmerzhaft, Pupillen =, unter 
mittelweit. R/L +, R/C +, AB frei. 

V vOllig frei, auch Schleimhaut des Mundes und Rachens. 

VII: Rechte Nasolabialfalte etwas tiefer als linke, rechter 
Mundwinkel etwas holier. Pat. spricht nur mit der linken Gesichtshalfte. 
Deutliche Parese samtlicher Aste des rechten Facialis. Augen- 
schluss rechts moglich, aber kraftlos. 

Elektrisch: Faradisch: Galvanisch: 

links reclits links rechts 

Stamm 80 — 

Nerv. 1. Ast 105 95 1. Ast 3,0 — 

„ 2. „ 95 85 2. „ 3,5 - 

„ 3. „ 95 75 3. „ 2,5 — 

Musculus frontalis und cygomaticus und orbicularis oculi rechts bei 
schwilcheren Stromen als links, rechts sehr starker Ausschlag. aber trage. 
Ka —An. 

VIII: Acusticus o.B., IX: Geschmaek beiderseits unsicher, dochohneBe- 
sonderlieit. X: Rechte Kehlkopfhiilfte sowohl bei Phonation wie bei 
der Respiration unbeweglich, in Kadaverstellung, Sprache heiser. 
Rechter Gaumenbogen steht tiefer, bei Bewegungen rechts 
schwiiclier als links, Gaumen wird nach links herttbergezogen. 

1) Gerber, Arch. f. Ohrenlieilkunde. 1900. 


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Weitere Beitrage zur Symptomatologie usw. 


29 


XI: Deutliche Atrophie des rechten Musculus cucullaris mil 
Funktionsschw&che. Sternocleidomastoideus nicht deutlich atrophisck. 

Elektrisch: Cucullaris galvanisch rechts starke Herabsetzung, Ka = 
An, trage Zuckung. 

XII: Zunge gerade, zittert stark, besonders rechts. 

Motilitat der Extremitaten frei, grobe Kraft beiderseits sehr gut, 
Gang etwas unsicher, schwankeud, kein Romberg, Sensibilitat tiberall frei. 

Gaumenreflex, Wfirgreflex, Reflexe der Extremitaten = 

Kniereflex und Achillesreflex -f-; Plantarreflex o. B., ebenso Abdomen- 
und Kremastareflex. 

12. IV. 1905. Bcsseres Befinden. Pat. ist seit dem 4. IV. wieder in 
Dienst ohne Beschwerden, hat an Gewicht etwas zugenommen. Bewegungen 
in der rechten Schulter vollig frei, auch das Heben derselben und die 
Kraft gut. 

Elektrisch: Trage Zuckung, keine Umkehr. Facialis besser, aber 
noch deutlich paretisch. Augenschluss noch nicht vdllig moglicb, am 
schlechtesten Musculus frontalis. 

29. IV. Lidschluss erfolgt vollstandig, wenn auch trage, bei Stirn- 
runzeln bleibt die rechte Seite zurtlck. Rechtes Trommclfell geschlossen. 


Rechts: Links: 

FlQstersprache ad concham normal 

C, positiv positiv 

Fis 4 bei Anchlag positiv 

Sprache klar, sonst Status idem. 

16. V. Fis 4 noch immer negativ. 


5. X. Pat. ftthlt sich wohl, hat keinen Schwindel, klagt fiber Ohrcn- 
sausen. Parese des Facialis fast vollig geschwunden. Elektrisch kein 
Befund mehr. Lidschluss normal, Zunge wird gerade herausgestreckt, Segel 
steht gerade, bewegt sich gut. Rechte Kehlkopfhalfte normal, ebenso die 
linke. Das rechte Stimmband erscheint etwas breiter als das linke, be¬ 
wegt sich bei Phonation wie Respiration gut, nur bleibt beim Glottisschluss 
eine leichte Excavation. Rechte Supraclavikulargrube zeigt noch deutliche 
Delle. Die sternale Partie des Sterneleklo und des Trapezius deutlich 
atrophisch, wenn auch vielleicht etwas weniger als frfiher. 

29. X. 1908. Pat ffihlt sich vollig wohl, hort auf dem rechten Olire 
schleckt. Rechte Gesichtshiilfte normal, Augenschluss gut, Zunge wird ge¬ 
rade herausgestreckt, zeigt leichte fibrillfire Zuckungen rechts, Gaumensegel 
steht gerade, retrahiert sich gut. 

Laryngoskopisch: Vollig in Ordnung. 

Ohr: Rechts fast vollige Taubheit fur Fluster- und Konversations- 
sprache, Fis 4 nur bei stiirkstem Anschlag, links -f-. 

Rinne positiv, Weber nach links. 

Geschmack, Geruch normal. 

Zusammenfassung: Bei einem 4Djahrigen Manne treten iiu 
Verlauf einer Influenza neben einer Otitis media perf. dextra 
rechtsseitige atrophische Lahmung desN. VII, desN. recurrens 
und accessorius, Andeutung von atropbischer Liihmung im 
rechten Hypoglossusgebiet und eine zweifelhaftc Affektiou des 


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III. Goldstein u. Cohn 


N. VIII auf. Schon nach kurzer Zeit tritt mit Ausnahme der Hor- 
fahigkeit eine erhebliche Besserung ein, so dass 3 V 2 Jahre spater nur 
noch geringe Spuren der Storung im Facialis und Trapezius zu finden 
sind, abgesehen von der unverandert bestehenden Schwerhorigkeit. 
Bei der Beurteilung ist zunachst die Horstorung wahrscheinlich auf 
eiue Affektion des Ohres zuruckzuflihreD. Der Umstand, dass sie 
nicht, wie alle tibrigen nervosen Stbrungen, zurUckgegangen ist, legt 
jedenfalls den Gedanken nahe, dass es sich nicht um eine den Lah- 
mungen gleicbstebende Storung, etwa im Gebiet des N. acusticus, 
gehandelt hat Aus diesem Grunde konnen wir die HorstSrung bei 
der Beurteilung des Gesamtprozesses ausser acht lassen. Ahnliche Er- 
wiigungen wie im vorigen Falle lassen zunachst eine ganz peripker 
gelegene Lasion, z. B. eine Polyneuritis, ausschliessen; besonders spricht 
auch gegen ein^ solche die vollige Einseitigkeit der Affektion, die auch 
gegen die Annahme einer extramedullaren Erkrankung zu verwerten 
ist, abgesehen von den anderen Momenten, die hier wie im vorigen 
Falle die Annahme einer solchen unwahrscheinlich machen. Es bleibt 
also auch hier die Annahme einer medullaren Erkrankung ubrig, 
fur deren Atiologie die Influenza, seien es ihre Bakterien oder 
ihre Toxine, heranzuziehen ist. Das Fehlen aller auderen nervosen 
Storungen seitens der Muskulatur, Sensibilitat usw. berechtigen zur 
Annahme, dass auch hier der Prozess sich auf die motorischen 
Kerngebiete beschrankt hat. Die gesteigerten Sehnenreflexe, die 
vielleicht zunachst gegen diese Annahme zu sprechen scheinen, bestehen 
auch heute noch fort und sind auf zweifellosen chronischen Alkoholis- 
mus zuriickzufiihren. Auffallend ist, dass in diesem Falle so schnell 
eine Besserung eintrat, wahrend in dem vorhergehenden, der eine 
gleiche Atiologie hatte, der Prozess sich in keiner Weise zuruckbildete. 
Eine sichere Erkliirung hierfiir liisst sich nicht geben, doch spricht der 
Umstand, dass in ersterem Falle der Umfang der Erkrankung viel 
ausgedehnter war, fiir eine schwerere Lasion, die keine Restitution 
mehr zuliess. 

Fall 5. Paul J., 40 Jalire alt, Vorschlosser. 

Familienananine.se 0 . B. Pat. war als Kind im allgemeinen gesund, 
hat im Jalire 1800 eine Lues aequiricrt, die auf Sehmierkur schwand. 
Spiiter bekam er Gesehwtlre auf Brust und Rtlcken. Seit langer Zeit 
links Ohrenlaufen und Schmcrzen im Kopf. 

Mai 1900 tiel ihm ein ciserner Gegenstaud auf die Stirn, nach sechs- 
wochentlicher Krankheit vollige Besserung. 

Oktober 1900. Erste Erscheinungen der jetzigen Krankheit. Die 
Sprache wurde undeutlich, lispclnd, gleichzeitig wnrde die 
Zunge auf der liuken Seite schrniiler, er konute sie schlechter 
herausstreeken. Ni ein als Schrnerzen. 


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Weitere Beitrage zur Symptomatologie usw. 


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Dezember 1906 wurde er lieiser, dann bekam er Schluckbe- 
schwerden, er konnte Flttssiges besser herunterbringea als feste Speisen, 
doch kam ihm die Nabrung oft durch die Nase zurOck. Nie Herzklopfen, 
nie Atembeschwerden, keine Stdrung der Blase. Nach Quecksilber- 
and Jodbehandlang etwas Besserung. Spater traten Schmerzen in 
tier Schulter, hin und wieder Schwindel, Reissen in den Beinen and Kalte- 
gefohl vom Knie abwarts auf. 

29. V. 1907 Untersuchung. 

Schadel stark asymmetrisch seit der Geburt. Augen: Linke Pupille 
etwas weiter als rechte, R/L, R/C +, Conj., Corn. -J-. AB frei, etwas 
mangelnde Konvergenz der Augen, Lidspalten gleich. 

V o. B., VII: Vielleicht etwas schwRchcre Beweglichkeit der linken Seite, 
aber wohl mit der Asymmetrie des Schadels und Gesichtes zusammen- 
hiingend. Keine eigentliche Parese. Keine elektriscbe StOrungen. 

Larynx: VollstRndiger StillstaDd der linken Kehlkopfhftlfte 
in Medialstellung bei Respiration und Phonation. Die rechte Halfte normal. 
Anatoraisch keine Ver&nderung. 

Schulter links gegen rechts etwas abgeflacht, der obere 
Schulterblatteil des Cucullaris fOhlt sich wesentlich dflnner als der rechte 
an. Sonstige Muskeln der Schulter o. B. In der Muskulatur links 
Flimmern. 

Elektrisch: Herabsetzung, An = Ka, trage Zuckung. 

XII: Zunge stark nach links verzogen, linke Halfte viel 
schm&ler und khrzer als rechts, deutlich geschrumpft, ftthlt sich 
auffallend derb und hart an. Elektrisch links stark gegen rechts 
herabgesetzt, trage Zuckung, An = Ka. Gaumensegel hebt sich 
links schlechter als rechts. SeusibilitRt Oberall normal, kein Rom¬ 
berg, kein Westphal. Pat.-Reflex +, beiderseits gleich, Achillesreflex 

, =. Fussohlenreflex o. B., obere Extremitatenreflexe -(-, =, 
mechanische Erregbarkeit der Muskeln +. Keinerlei Spasmen in den 
Extremitaten, innere Organe o. B. 

Am Kdrper eine Anzahl grosser strahliger, typisch luetischer Narben. 
Otoskopisch im linken Trommelfell eine kleine runde Perforation unten, 
fdtider Eiter, der von unten her bei Luftverdiinnung kommt. Rinne ne- 
gativ, Weber nach links, FlOsterzahlcn 2 1 / 2 m. 

Therapie: Sublimatinjektion, hohe Dosen von Sajodin innerlich. 

Nachuntersuchung Dezember 1907: Zunge unverandert, Parese 
des Recurrens geschwunden, Cucullaris funktiouell wesent¬ 
lich besser, aber noch ausgesprochene elektriscbe Verande- 
rungen. 

Fall 6. Gregor M., 32 Jahre. 

Mutter an Geisteskrankheit gestorben, Vater lebt, soli gesund sein. 
Pat. ebenso wie seine 2 Schwestern sind selir nervos, hat sonst keine be- 
sonderen Krankheiten durchgemacht. Yor 10 Jahren luetische Infektion, 
Kur von 9 Suhlimatinjektionen. Kein Ausschlag, keine Beschwerden bis 
August 1907. Hier begannen allmahlich Schluckbeschwerden, 
Pat. verschluckte sich und wurde lieiser. Sprache sonst o. B. Zwei 
Monate Jodbehandlung und Faradisation wie Strychnininjektion erzielten 


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III. Goldstein u. Cohn 


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keine wesentliche Besserung. Er bekam Doppeltsehen, stolperte nach 
der rechten Seite, weil er dort. nicht ordentlich sehen konnte. Anfangs 
Schwindel und Kopfschmerzen, besonders im rechten Hinterkopf, in den 
Beinen h&ufig Stiche. Blase o. B. 

Befund von Mitte Oktober 1907: 

Hagerer, blasser Mann. Innere Organe o. B., Schadel o. B. 

I u. II o..B. Bei Blick geradeaus weicht das rechte Auge 
nach der Nase zu ab. Bei extremer Blickrichtung nach rechts 
bleibt der temporale Cornealrand etwa 1V 2 —2 nim vor der 
ausseren Kommissur stehen. Bei Fixation gerade vor ihm 
stehender Personen treten die typischen Doppelbilder der Ab- 
ducenslakmung auf. Pupillenreaktion und Augenhintergrund 0 . B. 

V: Druckempfindlichkeit des ersten Astes rechts, sonst keine Sensi- 
bilitatsstOrung. Facialis fnnktionell und clektrisch ohne Stdrung, vielleicht 
nicht ganz glcichmassig innerviert, ohne dass jedoch eine Parese festgestellt 
werden kann. 

Larynx: Epiglottis liegt tief und steht mit der Basis nach rechts, 
die rechte Kehlkopfhalfte sowohl bei Phonation wie Respira¬ 
tion vollstandig still. Linke bewegt sich normal. Gaumensegel 
steht links schon in der Ruhe etwas holier als rechts, wird 
links hdher gehoben als rechts, jedoch rechts ebenfalls deutliche 
Bewegung. Rachenreflex +. Cucullaris: Deutliche Atrophie der 
Scapularportion des Cucullaris. Fossa suprascapular is sehr 
abgeflacht, eloktrisch starke Herabsetzung fttr faradischen und 
galvanischen Strom. Keine qualitativen Anomalien. Der Sterno- 
cleido fehlt rechts fast ganz, sowohl bei der einfachen Be- 
sichtigung wie funktionell; clektrisch ist keine Erregbarkeit 
zu erzielen. Die Zunge weicht stark nach rechts ab, ihre rechte 
Halfte ist schmiiler und dtinner und zeigt quere Faltungen. 
Elektrisch: Deutliche wurmformige Zuckung auf der rechten 
Seite, An starker als Ka. 

Peetoralis und Deltoideus sowie siimtliche Obrigen Schultermuskeln 
0 . B., Qberhaupt sonst keine Motilitiitsstorungen, keine Ataxie, nirgends 
Sensibilitiitsstorungen. Pat.-RoHex beiderseits deutlich gestcigcrt, ebenso 
Aciiillesreflex. Keine Cloni, Fussohlenreflex 0 . B., ebenso Abdominal- 
und Kremasteretlex. Obere Extremitiiten zeigeu lebhafte Reflexe. Mecha- 
uische Muskelerregbarkeit lebhaft, ebenso vasomotorisches Nachroten. 
Pat. selbst ist sehr emptindlich und nervos. 

Therapie: Encrgische Schmierkur, Einreibungen mit Jothion- 
salbe, innerlich Sajodin. Die Augensymptome haben sich er- 
heblich gebessert, wahrend die tlbrigen Erscheinungen bei der 
Entlassung des Pat., die vorzeitig erfolgen musste, noch keine 
Anderung zeigten. 

Zusainmenfassung: Fall 5 und 6 zeigen eiDe weitgehende 
syraptomatische Ubereinstimmung. Wenn wir bei Fall 6 von der Uber- 
empfindlichkeit ini N. V und den gesteigerten Sehnenreflexen sowie 
den iibrigen Zeieheu vermehrter nervbser Erregbarkeit, die auf seine 
allgemeine nervose Konstitution zurtickzufubren sind, absehen, so 


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Weitere Beitrage zur Syinptomatologie usw. 


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haben wir in beiden Fallen einseitige atropbische Lahmungen, 
resp. Paresen mehrerer Himnerven: X, XI und XII. Im Fall 6 
kam noch voriibergebend eine Parese des N. VI hinzu. Bei 
der Lokalisation der Diagnose konnen wir wiederum auf die schon 
bei Fall 3 gemachten Erorterungen zuruckgreifen und auch hier nach 
ahnlichen Erwagnngen eine periphere oder basale extramedullare Er- 
krankung ausschliessen. Im besonderen spricht noch gegen eine basale 
Erkrankung die Einseitigkeit der Affektion und im Fall 6 die Mitbe- 
teiligung des Abducens beiFreibleiben von VII und VIII. Also mtissea 
wir auch hier eine medullare Erkrankung und zwar eine der 
motorischen Kernsaule annehmeD. Es unterliegt wohl keinem 
Zweifel, dass die Lues in beiden Fallen atiologisch allein in Be- 
tracht kommt. Bei beiden Patienten ist die Infektion sichergestellt 
und auch der Erfolg der antiluetischen Kuren lasst sich im selben 
Sinne verwerten. 

Zur Beurteilung der Art der vorliegenden Erkrankung diirfte es 
zweckmassig sein, sie mit ahnlichen, in der Literatur niedergelegten 
Fallen zu vergleichen. Es kommen besonders, soweit wir die Literatur 
iibersehen, die Falle von Rautenberg 1 ) und Pel 2 ) in Betracht. 

Besonders der Fall Pels zeigt eine fast vollstandige Uberein- 
stimmung mit den von uns beschriebenen. Dies ist um so bemerkens- 
werter, als in diesem Falle dieselbe Atiologie wie in unserem Falle 
vorlag — die Lues. Wie schon Pel annimmt, haben wir wahrschein- 
lich eine luetische Gefassaffektion gewisser Aste der Arteria spinalis 
anterior vorauszusetzen, die zur Verstopfung der Gefasse und Alteration 
der Blutversorgung der betreffenden Kernzonen gefuhrt hat. Es ist 
besonders nach Duret bekannt, dass das hintere Gebiet der Rauten- 
grube, also das Kerngebiet des Vagoaccessorius und Hypoglossus, von 
einem gemeinsamen Gefass versorgt wird. Es wurde sich durch die 
Annahme einer Erkrankung gerade dieses Gefiisses einfach erklaren, 
warum gerade Hypoglossus und Vagoaccessorius wiederholt allein 
befallen gefunden wurden. 

Moglicherweise handelt es sich aber urn eine Kernerlcrankung 
auf luetischer Basis, wie sie im Anschluss an Charcots Lehre von 
den parenchymatbsen Poliomyelitiden von verschiedenen Autoren ver- 
teidigt wird. Allerdings ist bei einer derartigen Annahme die 
Neigung zur Restitution in unseren Fallen auffallend. Eher konnte 
noch eine Meningoencephalitis, die nur in hervorragendem Malle, 
wie etwa in dem von Preobraschewski jiiugst (Xeurolog. Zentralbl. 


li Rautenberg, Berl. klin. Wochenschr. 10i'2. Nr. 7. 

2) Pel, Berl. klin. Wochenschrift 1SS8. Nr. 20. 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. 37. Bd. •”> 


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34 III. Goldstein u. Cohn, Weitere Beitrage zur Symptomatologie usw. 

1908 ) beschriebenen Falle von syphilitischer Poliomyelitis, die vordere 
Kernsaule betrifffc, ein Bild, wie das unsere Patienten zeigen, in Be- 
tracbt kommen. Eine sicbere Entscheidung lasst sich nicht treffen. 

Das wesentliche Charakteristikum der Falle ist auch hier wie bei 
der cbronischen progressiven Ophthalmoplegie, wie bei den infektiosen 
Encephalitiden die ausschliesslich motoriscbe Storung. 

Obne dass wir weiter in eine theoretiscbe Erorterung fiber die Ur- 
sacbe der Bevorzugung der motoriscben Kernsaule bei so verscbieden- 
artiger Atiologie eintreten wollen, schien es uns wert, diese bemerkens- 
werte Tatsache durch einige neue und zum grossten Teil recht seltene 
Falle neu zu belegen. 

Zum Schluss sagen wir gem unseren verehrten Chefs, Herren 
Prof. Meyer und Herrn Prof. Gerber, flir die Erlaubnis der Publi- 
kation der Falle unseren besten Dank. 


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IV. 


Aus der I. med. Universitatsklinik in Wien und dem Wiener neuro- 

logischen Universitatsinstitut. 

liber Verftnderungen der Spinalganglien in einem Fall yon 
Landryscher Paralyse (mit Status hypoplasticus). 1 ) 

Von 

Dr. Ludwig Schweiger. 

Aasistent am neurologischen Institnt in Wien. 

(Mit 3 Abbildungen.) 

Wiihrend das klinische Bild der Landryschen Paralyse seit den 
ersten Publikationen von Landry, Westphal u. a. keine wesentliche 
Bereicherung erfahren hat, schwankt das pathologisch-anatomische 
Substrat dieser Krankbeit noch immer, und es lassen sich kaum fur 
alle Falle in gleicher Weise charakteristische Veranderungen nach- 
weisen. Ich glaube daher, dass es von Interesse sein dfirfte, Befunde 
mitzuteilen, die noch bei keinem der bisher veroffentlichen Falle kon- 
statiert wurden. 

Der Fall wurde mir von der I. med. Univ.-Klinik zur Bearbeitung 
iiberlassen, wof&r ich Herrn Prof. v. Noorden zu besonderem Danke 
verpflichtet bin. Die KrankeDgeschichte wurde von Herrn Dr. Bondi 
verfasst und mir in tiberaus liebenswiirdiger Weise zur Verfugung 
gestellt 

P. R., 27 Jahre alt, Schneiderin. 

Anamnese (nach Angabe der Mutter der Pat.): Der Vater starb au 
Hemiplegie, die Mutter ist gesund. Ein Bruder starb an Phthisis pulmonum 
im 15. Jahre, zwei BrQder in frtiher Kindheit zwei Geschwister siml 
gesund. 

Die 27jahrige Pat war als Kind kr&ftig, lernte frdh laufen; doch 
hatte sie bis zum 5. Jahre Rachitis, mit 6 Jaliren Variolois (Variola?), 
der eine zwei Monate andauernde Entzllndung dcs rechten Auges folgto, 
das seither atrophisch wurde. Auch hatte sie dainals Olirenschmerzen und 
Otorrhoe und ist seit dieser Zeit etwas schwerhdrig. Mit 8 Jaliren hatte 
Pat. einen 14 Tage dauernden, mit Fieber verbundenen Darmkatarrh. Pat. 
hatte nie Menses, doch traten jeden Monat unbedeutende Schmerzen im 


1) Demonstriert auf der 2. Tagung des Vereins Deutscher Nerveniirzte 
zu Heidelberg 4. —6. Oktober IDuS. 


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36 


IV. SCHWEIGER 


Abdomen auf. Fluor war nie vorhanden. Sonst. war Pat. immcr gesutid, 
hat weder Lungensymptome noch Herzbeschwerden. Sie hat 5 Volks- 
schulklassen durchgemacht und kam mit 14 Jahren in die Lehre. Sie ist 
starke Alkoholikerin. For Lues keine Anhaltspunkte. 

Die gegenwSrtige Erkrankung begann am 9. Februar; am 8. fOhlte 
sich Pat. noch vdllig wohl und ging ihrer Beschaftigung als Schneiderin 
bis 9 Uhr abends nach. Auch die vorhergehenden Tage war Pat. be- 
schwerdefrei, insbesondere hat sie keine Erkaltungskrankheiten durchge¬ 
macht Am 9. klagte sie Qber Ameisenlaufen in den Handen und Zehen, 
am Nachmittag konnte sie noch etwas niihen, bemerkte jedoch, dass sie 
die Nadel nicht spflre. Am 10. und 11. war der Gang der Pat. selir 
scblecht und langsam. Der Arzt wies sie an ein Nervenambulatorium, wo- 
hin die allerdings schon sehr schwer bewegliche Pat. an beiden Tagen 
noch mit der Mutter in der Tramway fahren konnte. An diesen beiden 
Tagen hatte sie kein Ameisenlaufen, doch, wie sie spontan angibt, in 
Handen und Ftlssen kein GefQhl mehr; nur am 11. hat sie geringfUgige 
stechende Schmerzen in beiden Fflssen. Kaltegefiihl trat nicht ein, da- 
gegen ftthlte sie sich abends stets heiss und hatte in beiden Nachten lang 
andauernde starke Schweissausbrticbe. Am 12. morgens konnte Pat. sich 
nicht mehr erheben und war seither gelithmt und bettliigerig. Gleichzeitig 
klagte sie Qber heftige Schmerzen, die nach ihrer Angabe hauptsachlich 
in der Kreuzgegend lokalisiert waren, von wo sie gOrtelfdrmig urn den 
Leib ausstralilten. Auch konnte sie nur mehr schwer atmen, hatte Schluck- 
beschwerden und konnte selbst FlGssigkeiten nur mit Mflhe herunterwGrgen; 
dock trat weder Verschlucken noch Erbrechen ein. Die Sprache war sehr 
erschwert. Seit 10. hatte Pat. stark herabgesetzten Appetit, seit dem 11., 
an welehem Tage Pat. noch freiwilligen Stuhlgang von normaler Be- 
schatfenheit hatte, Obstipation. Dieser Zustand hielt vom 12. bis zum 14., 
dem Tag ihrer Aufnahmc ins Krankenhaus auf die Abteilung des Herrn 
Dozenten Salomon, der sie bereits ausserhalb des Krankenhauses unter- 
sucht hatte, unverandert an. Kopfschmerzen oder irgend welche patholo- 
gischen Erscheinungen von seiten des Magens oder Darmtraktes traten 
nicht auf, auch im Urin und seinen Absonderungen waren keine Ande- 
ruiigen zu konstatieren. Pat. hat sich nie beniisst. 

Status praesens nervosus (am 14. Februar, dem Tage ihrer Auf- 
nalnne ins Krankenhaus): Die sehr fett-leibige Pat. nimmt passive RGckenlage 
ein und kann sich nicht selbstandig aus ihr erheben. Sie klagt tlber 
keinerlei Schmerzen, doch macht sie einen schwerleidcnden Eindruck. Sie 
liegt ruhig im Bett und hat keine Kriimpfe oder sonstige anfallsweise 
auftretenden Erscheinungen. Die Spraclie ist sclnverfallig, manchmal 
lallend und von eigenttlmlicher Betonung. Auf alle Fragen gibt sie rich- 
tige, doch etwas miihsame Antworten. Eine eingehende psychische Unter- 
suchung ist wegen der sclnveren Prostration nicht ausftihrbar, doch scheint 
keine grdbere psychische Alteration vorzuliegen. 

Gchirnnerven: 

I nicht geprtift. 

II: Trtibung der reehten Cornea, Augenspiegelbefund beiderseits normal. 

Ill, IV, VI: Augenbewegungen nach alien Seiten frei. Deutlicher Nystag¬ 
mus. Die rechte Lidsj>alte ist enger als die linke. Pupillen reagieren 
prompt auf Licht und Akkomodation. 


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Uber Veranderuogeu der Spinalganglien (mit Status hvpoplasticus). 37 


V: Keine Druckpunkte, Sensibilitat im Gesicht ftberall erhalten. Kau- 
bewegungen normal. 

VII: Stirnfalten, Augenliderheben und Mundwinkelverziehon ungestort, 
ebenso Speichelsektretion. Verstrichensein besondcrs der rechteu Nasola- 
bialfalte. 

VIII: Nicht geprttft. 

IX, XII: Die Zungc wird nacli alien Seiten frei bewegt. 

X: Atembewegung deutlich erschvvert. Keine Pulsverlangsamung. 

XI: Kopf passiv nacli alien Seiten frei beweglich. Aktiv vermag 
Pat. den Kopf nicht zu bewegen. 

Rumpf: Keine Atropbien, keine fibrillaren Zuckungen. Pat. kann sicli 
aktiv nicht erheben, bei passiver Bewegung deutliche Schmerzempfindung. 
Die Wirbelsaule ist gerade, kein Gibbus, die Dornfortsatze der unteren 
Brustwirbel sind schmerzempfindlich, ebenso die Dornen der Lendenwirbel- 
siiule. Sonst nirgends Druckpunkte. Die ausschliesslich geprhften taktilen 
Emptinduugen ttberall erbalten. Bauchdeckenreflexe fehlen (Adipositas?). 
Vasomotoren: Bei Bestreichen der Rumpfhaut bleiben rote Flecken. 

Obere Extremitaten: Keine deutlichen Atrophien, doch sind die Extre- 
mitiiten stark abgemagert. Leichte Atrophien der interdigitalen Muskelu 
vorhanden. Die Gelenke sind passiv frei beweglich, der erhobene Arm 
fallt aber bald kraftlos nieder. Auch im Schultergelenk kann Pat. nur 
geringe Exkursionen machen. Im Ellenbogen kann sie nur nach innen 
flektieren, supinieren kann sie nicht. Passiv ist die Pronation im Ellen¬ 
bogen mOglich, ebenso die Streckung des gebeugten Armes. Die Finger 
der rechten Hand kann Pat. nicht vdllig strecken. Im Handgelenk sind 
alle Bewegungen mdglich, nur rechts die Abduktion eingeschriinkt. Die 
Sensibilitat, soweit sie bei der Pat. prdfbar ist, erhalten. Bicepsreflex er- 
lialten, Tricepsretlex fehlt, ebenso Radialis- und Ulnarisreflex. 

Untere Extremitaten: Keine Atrophie, keine fibrillaren Zuckungen. 
Die aktive Beweglichkeit ist ganz vernichtet, bei passiver Bewegung kein 
passiver Widerstand. Alle Reflexe sind ganz aufgehoben, nirgends Druck- 
empfindlichkeit der Nervenaustrittsstellen. Sensibilitat ist nicht gut 
prtifbar. Elektrisch wurden Nerven und Muskeln bei dem raschen Ver- 
fall der Pat. nicht geprQft, doch hatteu sie kaum irgend welche patho- 
logischen Verhaltnisse aufgedeckt, da Anderungen der elektrischen Erreg- 
barkeit gewdhnlich erst in der 2. Krankheitswoche auftreten. 

Blasen- und Mastdarmfunktion erhalten, ira Ham kein Zucker, etwas 
Serumalbumin. 

Am 15. Februar 12 Uhr mittags Lumbalpunktion. Die ersteu Tropfen 
scheinen unter hohem Druck zu stehcn, die Messung ergibt 140 min Druck. 
Die Fltlssigkeit ist vbllig klar. Es wird abgelassen, bis der Druck auf 
90 mm sinkt. Keine Pulsanderungen. Die im pathologisch-anatomischen 
Institut vorgenommene Untersuchung (Erdheim) ergab: Wcder Exsudat- 
zelleu noch Bakterien nachweisbar. 

Decursus: Am 15. Februar nachmittags urn 3'/ 2 Uhr begann die At- 
mung oberflachlich zu werden, erfolgtc nur nielir mit der Halsmuskulatur, 
starke Cyanose trat ein, die auf Sauerstoll'inhalation zuruckging. Nacli 
einer Kampherinjektion wird die Atmung leichter, die Cvanose verschwindet. 
Dieser Zustand halt unverandert bis 1 /.,7 Uhr an. Urn ’ 4 8 Uhr werden 


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38 


IV. SCHWEIGEE 


2 Tropfen einer 1 proz. AtropinlSsung in jedes Auge getr&ufelt (zwecks 
Augenuntersuchung). 

Hierauf trat dnrch 10 Minuten rasende Pulsfrequenz auf. Sonst ist 
der Puls normal, dio Spannung eher hoch. Dann verflacht die Atmung 
wieder, Cyanose tritt ein; Pat. erhfilt durch die nachsten 1% Stunden 
Sauerstoff, zum Schluss arbeitet nur mehr der Facialis. Nach l j 2 9 Ubr 
sistiert der Puls, kOnstliche Atmung noch bis 9 Uhr. Exitus nach sieben- 
tagiger Dauer der Krankbeit. 

Das Bild, das uns der Verlauf der Krankheit bietet, ist in seinen 
wesentlichen Zugen das typische der Landryschen Paralyse (Oppen- 
heim). Es handelt sich hier um eine schlaffe Lahmung, die zuerst 
und sebr intensiv in den unteren Extremitaten auftrat, sich dann in 
schneller Folge auf die oberen Extremitaten und auf die Bulbarnerven 
erstreckte und in 7 Tagen zum Exitus fuhrte. Der letale Ausgang 
bei Landryscher Paralyse ist haufig, ja ist nach Ansicht Hartoghs 
fur alle typischen Falle dieser Krankheit charakteristisch. Ebenso ist 
es das Fehlen der Blasen- und Mastdarmstorungen. Die Temperatur 
war bis auf eine leichte Steigerung ante exitum normal wie in den 
meisten Fallen. Bemerkenswert aber, insbesondere in Bezug auf den 
histologischen Befund im Nervensystem, sind die Storungen der Sen- 
sibilitat, der Vasomotoreu und der Schweissekretion, die zwar im 
einzelnen schon bei Landryscher Paralyse beschrieben wurden, sich 
aber selten so ausgepragt fanden wie in diesem Falle, was ich be- 
sonders mit Rucksicht auf die spater beschriebenen histologischen 
Veranderungen schon jetzt betonen will. Ira Beginn klagte Pat. liber 
Ameisenlaufen und Parasthesien, dann iiber geringfugige, spontane 
Schmerzen in beiden Fussen und iiber heftige spontane Schmerzen, 
die nach ihrer Angabe hauptsachlich in der Kreuzgegend lokalisiert 
waren, von wo sie giirtelformig um den Leib ausstrablten. Letzteren 
ahnliche konnte ich in der Literatur der Landryschen Paralyse nicht 
finden. Dann waren die Dornfortsatze der unteren Brustwirbelsaule 
und der Lendenwirbelsaule druckempfindlich. Weiter hatte sie Schmerz- 
empfindlichkeit in der Bauchmuskulatur bei passiver Bewegung, starke 
Schweissausbriiche (Pal), wobei die Kranke nur ante exitum eine leichte 
Steigerung der Temperatur hatte, und vasomotorische Erscheinungen. 
Eine feinere Prlifung der Sensibilitat musste leider bei dem hoch- 
gradigen Schwachezustand der Pat. unterbleiben. 

Klinisch reiht sich somit dieser Fall an die in der Literatur ver- 
zeichneten an, ohne irgend eine wesentliche Besonderheit zu zeigen. 
Die Obduktion (Obduzent Dr. Bartel) ergab Folgendes: Akutes Odem 
der Leptomeningen, Hyperplasie der Zungengrundfollikel, der Hals- 
und Mesenteriallymphdriisen, Follikelschwellung der Milz, Thymus- 
persistenz; kasige, zum Teil verkreidete Tuberkulose in den media- 


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Uber Veranderungeu der Spinalganglien (mit Status hypoplasticus). 39 


stinalen, bronchotrachealen und portalen LymphdrOsen; Tuberkulose 
des Uterus mit Atresie im Corpus uteri und Bildung eines Uterus 
bicornis; alte fibrinose Verwachsung der Adnexe und der Darm- 
schlingen, sowie Verwachsung beider Lungen, leicbte Hypertropbie 
des Herzens, geringgradige Stauung der Nieren. 

Die histologische Untersuchung nahm ich im neurologischen Univ.- 
Institut des Herrn Hofrat Obersteiner vor, dem ich fur die giitige 
Forderung meiner Arbeit an dieser Stelle meinen Dank aussprechen 
mochte. Sie erfolgte an folgenden Organen: Medulla oblongata, ROcken- 
mark, zwei Lumbal- und einem oberen Dorsalganglion (Seite unbekannt); 
von den spinalen Ganglien wnrden nur diese drei zwecks anderer Unter¬ 
suchung herausgenommen; hintere Cervikal- und Lumbalwurzeln in 
Zusammenbang mit dem Riickemnark und den Spinalganglien; an 
Quer- und Langsschnitten folgende Nerven: Vagus, Phrenicus, Ulnaris, 
Ischiadicus und Tibialis; weiter an exzidierten Muskelstuckchen des 
Musculus biceps humeri und Vastus femoris. 

Die angewendeten Farbungsmethoden waren die nach Pal-Wei- 
gert mit Nachfarbung, nach Czokor, Hamalaun-Eosin, van Gieson 
und Marchi; das Rtickenmark und die Ganglien wurden auch nach 
Nissl behandelt. 

In der Medulla oblongata fand sich bis zur Hohe des oberen 
Endes der Oliven eine starke Hyperamie der Kerne, insbesondere des 
Vagus- und Hypoglossuskerns. 

Im Riickenmark fand sicb, vom Sakralmark angefangen, bis ins 
Cervikalmark eine ausserordentlich starke Hyperamie der grauen 
Substanz der Vorderhorner, des commissuralen Graus und in geringem 
Grade der Clarkeschen Sauleu. Auch die Hinterhorner mit Ausnahme 
der Rolandoschen Substanz sind beteiligt. Die Kapillaren sind 
strotzend geflillt, auch sind zahlreiche frische Blutextravasate vor- 
handen. Am starksten sind diese Veranderungen im Dorsalmark 
ausgepragt. Auch partielles Odem der grauen Substanz und leichte 
Verdickung nebst starkem Blutreichtum der Pia sind zu konstatieren. 
Nur wenige Ganglienzellen /.eigen leichte Schwellung oder schlechte 
Tinktion der Nisslkorperchen. Die grosse Mehrzahl ist intakt. In¬ 
filtrate fehlen vollkommen. In der weisscn Substanz sind weder nach 
Pal-Weigert, noch nach Marchi Veranderungen nachzuweisen. 

Die hinteren Wurzeln, soweit sie im Zusammenhang mit dem 
Riickenmark untersucht wurden, zeigen hauptsachlich Hyperamie, 
nach Marchi keine Veranderungeu; unmittelbar am Lumbalganglion 
untersuchte hintere Wurzeln weisen dagegen eine Infiltration wie die 
peripheren Nerven auf. 

In den untersuchten Quer- und Liiugssclmitten (Fig. 1) des Nervus 


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IV. SCHWEIGF.R 


vagus fiel eine hocligradige interstitielle Neuritis ins Auge. Der 
ganze Nerv ist von zelligen Elementen durchsetzt, die stellenweise 
herdformige Infiltrate bilden. Dagegen sind die Gefasse nur massig 
gefiillt; mit Marchi-Farbung erwiesen sich die einzelnen Fasern als 
normal. Eine ebensolche interstitielle Neuritis ist im Nervus phre- 
nicus, ischiadicus und tibialis vorhanden, wogegen der Nervus ulnaris 
wenig affiziert ist, was auch dem klinischen Bilde entspricht. Nach 
Pal-Weigert und Marchi erwiesen sich alle untersuchten Nerven 
bis auf wenige Etzholzsche Kbrperchen unverandert. 

Die Oberarm- und Oberschenkelmuskeln zeigen eine akute gra- 
nulare, fettige Degeneration, die sich auf einzelne Fibrillenbundel 



Fig. 1. 

Nervus vagU9. Hatnalaun-Eosinfarbung. Reichert Oc. 4, Obj. 4. 

beschraukt und den bei akuten Infektionskrankheiten beschriebeuen 
Verauderungen (Lorenz) entspricht, und wenige kleinzellige Infiltrate. 

Einen iiberaus bemerkenswerten Befund bieten die drei unter¬ 
suchten Spiualganglieu. Die Sclmitte sind 10 fi dick. Sie zeigen 
(Fig. 2) einen eminenten Reichtum an zelligen Elementen und Kernen. 
Das Bindegewebe zwischen den einzelnen Ganglienzellen ist mit Haufen 
von rundlichen und oblongen Zellen infiltriert, von denen ein Teil 
blass gefiirbt ist Letztere sind als gewucherte Kapselendothelien auf- 
zufassen. Die iibrigen sind bei Hatnalaun-Eosinfarbung dunkel und 
erwiesen sich zum Teil als Bindegewebskerne, zum Teil als Lympho- 
cyten; auch Leukocyten sind vorhanden. Eine Gefassftillung tritt 
nicht hervor, was im Zusammenhalt mit der auch in den peripheren 
Nerven mangelnden Gefassuberfullung auf das Fortschreiten der 
Krankheit langs der Lymphgefasse scliliessen liisst. Wesentliche Yer- 


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Uber Veranderungen der Spinalganglien (rait Status hypoplasticus). 41 

anderungen haben die Ganglienzellen erlitten (Fig. 3). In den meisten 
findet sich „homogene Kernschrumpfung 44 (Marburg), die sich ins- 
besondere in ihren ersten beiden Stadien, in der lichten homogenen 



Fig. 2. 

Spinalganglien (lumbal). Hamalaun-Eosinfarbuug. Reichert Oc. 4, Obj. 5. 


r 

& 



Fig. 3. 

Spinalganglien (dorsal). N issl-Fiirbung. Reichert Oc. 4, Obj. 5. 

Fiirbung des Kernleibes, weiter in der Sclirumpfung des Kerns uud 
Schwellung des Nucleolus ausgepnigt findet. Fie Ganglienzellkbrper 
sind fast durchwegs patbologisch verandert. Es gelang kaum, Zellen 


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IV. SCHWEltiER 


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zu finden, die noch die in Normalzellen vorhandenen groberen Scholl en 
und die typische Anordnnng der Nisslkorperchen aufweisen. In 
einigen ist auch Randstellung des Kerns vorhanden (2. Stadium der 
axonalen Degeneration nach Marburg). In einzelne Ganglienzellen 
sind zellige Elemente eingedrungen. Die Nervenfasern sind nach 
Pal-Weigert und Marchi intakt. Plasmazellen konnten nur ganz 
vereinzelt nachgewiesen werden. 

Ich fand Spinalganglienveranderungen bei Landryscher Para¬ 
lyse nur bei einem, allerdings langsamer verlaufenden (20 Tage), 
aber im histologischen Befunde des Nervensystems meinem rfecht 
ahnlichen Falle von Pal erwahnt, die sich in einzelnen mikro- 
skopischen Blutaustritten und anscheinender Kernvermehrung im inter- 
stitiellen Gewebe ausserten, weiter in einem Falle von Sherman und 
Spiller, der einen 2ljahrigen Mann betraf und in 38 Stunden letal 
geendet hatte. Er beschreibt eine intensive Infiltration der lumbalen 
Spinalganglien und eine deutlich ausgesprochene Proliferation der 
Kapselendothelzellen; an einigen Stellen haben die Endothelzellen die 
Nervenzellenkorper zerstort. Er erwahnt noch kleine Hamorrhagien 
in den Ganglien bei gleichzeitiger intensiver Entzundung des Zentral- 
nervensvstems und starker perivaskuliirer Zellinfiltration. Die beige- 
gebene Abbildung gleicht ganz den in meinem Fall vorhandenen 
Bildern. Uber die peripheren Nerven und die dorsalen Spinalganglien 
werden keine Angaben gemacht. Spiller hebt hervor, dass der pa- 
thologisch-anatomischen Ahulichkeit dieser Veranderungen bei Rabies 
und Landryscher Paralyse auch die Ahulichkeit des klinischen Bildes 
der paralytischen Wut, die ebenfalls in der Form einer aufsteigenden 
Lahmung verlauft, und der Landryschen Paralyse entspricht. Klinisch 
ist im Vergleich mit meinem Fall auf das Auftreten von roten 
Flecken auf Abdomen und Brust als Symptom einer wahrscheinlich von 
der Erkrankung der Spinalganglien abhiingigen Lahmung der Vasomo- 
toren hinzuweisen. Sonst entgingen die Spinalganglien der Untersuchung. 

Nach dem eben geschilderten Befunde meines Falles konnen wir 
die Landrysche Paralyse hier pathologisch-anatomisch als Poly¬ 
neuritis ascendens acutissima definieren. Der Prozess in den 
Nerven ist eine interstitielle Entzundung, die die Nevenfasern in ihrer 
Funktion schwer schadigt, aber so rasch verlauft, dass keine bistolo- 
gisch nachweisbaren Veranderungen, keine Marchi-Degenerationen 
auftreten konnen. 

Auch Nauwerck und Barth beschreiben in ihreu Fallen von 
Landryscher Paralyse als hauptsachlichste Veranderung eine inter¬ 
stitielle Neuritis des lschiadicus, der vorderen und hinteren Wurzeln 
und heben hervor, dass die degenerativ-atrophischen Prozesse in den 


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Uber Veranderungen der Spinalganglien (mit Status hypoplasticus). 43 


Nerven viel weniger ausgepragt und sekundarer Natur sind. C entann i 
beschreibt ebenfalls eine interstitielle Neuritis nebst geringftigigen Ver¬ 
anderungen im Ruckenmark. 

Anatomisch wurde wiederholt eine Polyneuritis acuta als haupt- 
sachlichste oder einzige Grundlage der Landryschen Paralyse fest- 
gestellt, so von Eichhorst, Roth (von oben nach abwarts fortschrei- 
tend), Ross, Eisenlohr (interstitielle und parenchymatbse Neuritis 
und Ruckenmarksveranderungen), Dejerine und Got/. (Neuritis der 
vorderen Wurzeln), Krewer (er bezeichnet die Landrysche Paralyse 
als 2. und 3. Stadium einer chronischen degenerativen Neuritis, an die 
sich eine akute diffuse degenerative Myelitis anschliesst), Roily, der 
nach dem Resultate der Befunde eines Falles auf die Untersuchung der 
feinen Muskelaste der Nerven bes’onderes Gewicht legt, da nach seiner 
Ansicht die Noxe zuerst auf die peripberen Teile des Nervensystems 
einwirkt und von dort aus sich weiter verbreitet. Diesen gegentiber 
stehen Befunde, die ausschliesslich Veranderungen im Ruckenmark als 
die Grundlage der Landryschen Paralyse bezeichnen. So Jagic, 
Monckeberg (Poliomyelitis anterior acutissima), Lohrisch (Polio¬ 
myelitis acuta disseminata), Wickman (der sie als eine Form der 
Heine-Medinschen Krankheit bezeichnet und sie ebenfalls als akute 
Poliomyelitis auffasst) u. a. 

Durch meine Befunde einer Entztindung in den Spinalganglien 
bei gleichzeitiger interstitieller Entztindung der peripheren Nerven und 
den geringfQgigen Veranderungen im Riickenmark, die sich haupt- 
sachlich als Hyperamie darstellen, wird nun die Diskrepanz zwischen 
den einzelnen Untersuchungsresultaten unserem Verstandnis niiher ge- 
bracht, da in diesem hier beschriebenen Falle das Wesentliche der 
pathologisch-anatomischen Veranderung eine ascendierende Neuritis 
acutissima ist. Der ascendierende Charakter tritt in unserem Falle 
durch die starkere Beteiligung der Spinalganglien und die geringere 
der Medulla in Erscheinung. Sie gehort somit in die grosse Gruppe 
der akuten toxischen Erkrankungen des Nervensystems, die sich bald 
als Polyneuritis, bald als Poliomyelitis, bald als Poliencephalie ausseru. 
Das Toxin der Landryschen Paralyse ergriff demnach hier primar die 
peripheren Nerven, wanderte von hier naeh aut'warts, ergriff die Spinal¬ 
ganglien und weiter das Riickenmark. 

Die heftige Entztindung des Nervus vagus ist ebenfalls, wenn wir 
nach den geschilderten Verhaltnissen der Medulla oblongata schliessen 
durfen, primar und hat die Respirationsliihmung und damit den letalen 
Ausgang verursacht. Die Mitbeteiligung der peripheren Enden des 
Vagus ist aus dem Eintritt der rasenden Pulsfrequenz nach Atropin- 
eintraufelung zu schliessen. 


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IV. SCHWEIGER 


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Wir mtissen wohl in ihrem ascendierendem Charakter und in der 
Tendenz zur Invasion der bulbaren, resp. der Respiration dienenden 
spinalen Nerven das unterscheidende Merkmal der neuritischen Form 
(v. Leyden) der Landryschen Paralyse von anderen akuten Polv- 
neuritiden sehen, bei denen intensive, auch parenchymatose Verande- 
rungen ini peripheren Nervensystem vorhanden sind, ohne direkt das 
Leben zu gefahrden (Eisenlohr). Femer ware bier auch auf die 
Alkoholpolyneuritis zu verweisen, die ja bisweilen ein der Landry- 
scben Paralyse ahuliches Bild erzeugt (Myrtle, Broadbent, Jolly), 
sicb aber doch in einzelnen Symptomen und in ihrem Gesamtver- 
lauf von dem klinischen Bild der Landryschen Paralyse unterscheidet, 
wie das Remak und jiingst auch in klinischer Hinsicht Buzzard 
beleuchtet haben. In unserem Falle durfte der Alkohol wie in den 
Fallen Krewers die Disposition zur Landryschen Paralyse abge- 
geben haben. 

Die hier vorhandene plastische Entzundung in den Spinalganglien 
gleicht dem in den Spinalganglien beschriebenen Prozess der Neu- 
ronophagie und zwar hauptsachlich der von Foissuer und Sjovall 
nach Ruckenmarksbefunden neuerdings bestatigten primaren Form, da 
die Bindegewebswucherung und Kernvermehrung im Vordergrund steht, 
die Ganglienzellen zwar in verschiedenem Grade affiziert, doch nur in 
wenige von ihnen zellige Elemente eingedrungen sind. 

In der Literatur fand ich die geschilderte Veranderung in den Spinal¬ 
ganglien bei Mannkopf (akute Myelitis), Arndt (in 2 Fallen von 
progressiver Paralyse), Eisenlohr (bei akuterMyelitis dorsalis), Babes, 
van Gehuchten und Nelis, Golgi, Daddi, Crocq, Sanou. a. (bei 
Rabies), Crocq (in einem Falle von Krup mit analogen Anderungen 
im Ganglion plexiforme vagi), Head und Campbell (in 17 Fallen von 
Herpes zoster, bei dem sie nach ihren Untersuchungen die Spinal- 
ganglienveranderung als atiologischen Faktor auffassen), Marburg 
(in einem Falle von progressiver Paralyse, bei einer Sulphonal-Trional- 
vergiftung, weiter in je einem Falle von Krup, Tetanie und Herpes 
zoster und in 3 Fallen von Pemphigus), Thomas und Hauser (in 
einigen Fallen von Tabes). Experimentell fand diese Veranderung 
ausser den bei Rabies genaunten Forschern Tirelli, der aseptische 
Gauglienliisionen untersuchte, und auch bei Tieren wurde sie gefundeu 
(Arndt, Timofeew, Bose u. a.). Weiter ziihlt Sand noch eine 
Anzahl Krankheiten auf, bei denen diese Veranderung beschriebeu 
wurde. Es ist mir von vornherein unwahrscheinlich, dass diese Affektion 
des Ganglion, da sie sich bei so verschiedenartigen Krankheiten findet 
und niclit stets trophische Veranderungen der Haut vorhanden sind, 
gerade bei einer davou stets filr das klinische Symptomeubild verant- 


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Uber Veranderungen 'der Spinalganglien (mit Status hypoplasticus). 45 

wortlich gemacht werden mtisste. Es gilt dies insbesondere von Herpes 
zoster, bei dem seit den eingehenden Untersuchungen von Head und 
Campbell die3e akute, tiberaus heftige hamorrhagische Entzundungdes 
Spinalganglions fur die Hautveranderungen verantwortlich gemacht 
wird. Die auf Grund dieser Uberlegung gewoDnene Ansicht wird 
ubrigens durch Untersuchungen von Lesser und Dubler gestiitzt, 
welche diese Veranderungen nicht in alien Fallen von Herpes fauden 
und sie dort, wo sie vorhanden war, als fortgeleitete EntzOndung auf- 
fassen. Auch Spitzer kommt in seiner zusammenfassenden Arbeit 
iiber Herpes zoster zu dem Schlusse, dass nur ftir eine beschrankte 
Zahl von Zostereu die Spinalganglienerkrankung die Bedeutung ernes 
iitiologischen Faktors habe. 

Es scheint vielmebr, dass diese Affektion durch die aufgezahlten 
Infektionen oder Toxine bedingt werden kann, von denen Rabies und 
Herpes als Hauptursachen in Betracht kommen. An diese reiht sich 
nun nach der Untersuchung dieses Falles die Landrysche Paralyse. 
Es sind auch in dem klinischen Bild die starke herpesahnliche Mitbe- 
teiliguug der Sensibilitat und trophiscbe Storungen auflallend: Ameiseu- 
laufen und Partisthesien im Beginn, dann Anasthesie, spontane stechende 
Sehmerzen in den Fiissen, insbesondere aber die herpesahnlichen giirtel- 
fdrmigen Sehmerzen, die starken Schweissausbriiche und Lahmungs- 
erscheinungen der Vasomotoreu (wie auch bei Spiller und Pal). Das 
differente Verhalten der Sensibilitat, der Schweissekretion und der 
Yasomotoren in den einzelnen Fallen der Landryschen Paralyse diirfte 
somit auf die starkere oder schwachere Beteiligung der Spinalganglien 
zurlickzufiihren sein. 

Leider wird demnach durch die Feststelluug dieser Veranderungen 
in den Spinalganglien bei Landry.seller Paralyse deren nosologische 
Stellung keineswegs fixiert, sondern wir werden wieder nur auf ein 
Toxin als Ursache dieses Symptomenkomplexes und der verschieden- 
gradigen histologischen Veranderungen hingewiesen. 

Die bakteriologische Untersuchung der Lumbalflussigkcit ergab 
wie in den Fallen von Seifert, Kapper, Hunter u. a. ein negatives 
Resnltat, so dass, wie schon friiher ervviihnt, die Annahiue eines spezi- 
tisch wirksamen Toxins unvermeidlich wird. 

Zum Schlusse will ich nocli darauf hinweisen, dass der Fall von 
Bartel unter den von ihm untersucliten Fallen hypoplastischer Kon¬ 
st itution angefuhrt wird. Er gehiirt mit zu den besonders ausgepriigten, 
da er alle cbarakteristisclien Merkmale zeigt: Die Korperliinge ist 8 cm 
geringer als der Durchscbnitt, Thymus persistent, die Follikel der Milz 
und der Mesenteriallympbdrusen sind vergrbssert, mangelude Menstrua¬ 
tion, Rachitis und als Entwicklungsanomalie Uterus bicornis. Es 


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IV. SCHWEIGER 


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liegt nun sehr nabe, anzunehmen, dass die mit diesem Zustande stets 
verbundene verminderte Widerstandsfahigkeit des ganzen Organismus 
sich hier darin geaussert bat, dass das Toxin der Landryscben Para¬ 
lyse so rasch die Lebensfabigkeit des Nervensystems untergraben und 
zum Exitus gefuhrt hat. 

Ahnliche tlberlegungen wurden von Chvostek fQr die Myasthenie 
darzulegen versucht. Doch kann auf Gruudlage meines einzelnen 
Falles die Frage, ob fur die Atiologie und fdr den Verlauf der Landry- 
schen Paralyse der Status thymico-lymphaticus als wesentlicher Faktor 
mit in Betracht kommt, nicht entschieden werden. Vielleicht dQrfen 
wir aber hierin die Ursache erblicken, warum die einzelnen Falle oft bei 
anscheinend ganz gleichen histologischen Veranderungen heilen oder 
rasch letal endigen. 


Literatur. 

1 ) Arndt, Rudolf, Untersuchungen uber die Ganglienkorper der Spinal- 
gauglien. Arch. f. mikrosk. Anatomie. 1875. 11. S. 140. 

2) Babes, Viktor, Studien uber die Wutkrankheit. Virch. Archiv. 1SS7. 
110. S. 562. 

3) Bartel, Julius, Uber die hypoplastische Konstitution und ihre Be- 
deutnng. Wiener klin. Wochenschr. 1908. 21. Nr. 22. S. 783. 

4) Bose, Des lesions du syst&me nerveux dans la clavel^e, leur assimi¬ 
lation avec les lesions de la rage et la syphilis. Comptes rendus de la society 
biol. 25. Juli 1908. XV. Nr. 27. 

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actions. 1884. LXVII. S. 133. 

6 ) Buzzard, Farquhar, Certain acute infective or toxic conditions of 
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Anatomie und allgemeinen Pathologic. 1S90. VIII. S. 358. 

8 ) Chvostek, Myasthenia gravis und Epithelkorper. Wien. klin. Wochen- 
schrift 1903. 21. Nr. 2. S. 37. 

9) Crocq, Les lesions anatomo-pathologiques de la rage sont-elles sp^ci- 
liques? Journ. d. Neurol. 1900. p. 241. 

10 ) Daddi, Contribute alTanatomia pathologica della rabbia neiruomo. 
Boll. Soc. Med. chir. di Pavia. 1897. 

11 ) Dejerine et Goetz, Note sur un cas de paralysie ascendante aigue. 
Archives de physiol. 1S76. XVIII. S. 312. 

12) Eichhorst, Hermann, Neuritis acuta progressiva. Virchows Archiv. 
1377. 69. S. 265. 

13) Eisenlohr, Neuropathologische Betrachtungen. III. Akutc Myelitis 
dorsalis, Veranderungen der vorderen Wurzeln, Spinalganglien und Extremi- 
tatennerven. Virch. Arch. 1S7S. 73. S. 82. 

14) Derselbe, Uber Landrvsche Paralyse. Deutsche med. Wochenschr. 
1890. 16. Nr. 38. S. 841. 


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Uber Veranderungen der Spinalganglien (mit Status hypoplasticus). 47 

15) Golgi, Uber die pathologische Histologie der Rabies experimentalis. 
Berl. klin. Wochenschr. 1894. 31. S. 325. 

16) Gunnar Foissnerund Ejnar Sjovall, Uber die Poliomyelitis acuta 
saint einem Beitrag zur Neuronophagiefrage. Ztschr. f. kl. Med. 1907. 53. S. 1. 

17) Hartogh, Beitrag zur Atiologie der Landryschen Paralyse. Mitteilgn. 
avis den Hamburger Staatskraukenanstalten. 1S01. S. G2G; refer, in Jahres- 
ber. f. Neur. u. Psych. 1902. 5. S. 387. 

18) Head uud Campbell, The Pathology of Herpes zoster and its Bea¬ 
ring on sensible Localization. Brain 1900. 23. S. 353. 

19) Hunter, Review of neurology 1900. 

20) Jagie, Zur Kenntnis der akuten Poliomyelitis der Erwachsenen (akute 
aufsteigende Spinallahmung). Wiener med. Wochenschr. 1S99. 49. S. 394. 

21) Jolly, Uber akute aufsteigende Paralyse. Berl. klin. Wochenschr. 1S94. 
31. Nr. 12. *8. 281. 

22) Kapper, Julius, Beitrag zur Klinik der Landryschen Paralyse mit 
besonderer Beriicksichtigung ihrer Bakteriologie und Histologie. Wien. klin. 
Wochenschr. 1900. 13. Nr. 7. S. 152. 

23) Krewer, Zur pathologischen Anatomie und Atiologie der akuten auf- 
steigenden Spinalparalyse (Landry). Zeitschrift f. klin. Med. 1897. 32. S. 115. 

24) Landry, Note sur la paralyse aseendante aigue. Gazette hebdamo- 
daire. 1857. 

25) Lesser und Dubler, zitiert nach Lugaro. 

20) v. Leyden, Uber multiple Neuritis und akute Paralyse nach Influenza. 
Zeitschr. f. klin. Mediz. 1894. 24. S. 1. 

27) v. Leyden u. Goldscheider, Die Krankheiten des Riickenmarks uud 
der Medulla oblongata. Nothnagel X. 

28) Lohrisch, Ein Beitrag zur pathologischen Anatomie der Landryschen 
Paralyse. Arch. f. Psych. 1905. 40. 8. 422. 

29) Lorenz, Die Muskelerkrankungen. Nothuagcls Handbuch. 

30) Lugaro, Pathologische Anatomie der Spinalganglien. Handbuch der 
pathologischen Anatomie des Zentralnervensystems. 1904. 1. 

31) Macnamara, Eric, und Bernstein, Julius, Landry-Paralysis. Brit, 
med. Journal. 1900. II. S. 24S. 

32) Mannkopf, Berliner klin. Wochenschr. 1801. 

33) Marburg, Otto, Zur Pathologic der Spinalganglien. Arbeiten aus 
dem neurologischen Institut an der Wiener Universitat. 19o2. S. S. lo3. 

34) Monckeberg, Munch, med. Wochenschr. 1903. 

35) Myrtle, On a case of acute ascending Paralysis: chronic alcoholism. 
Brit. med. Journ. 1882. II. S. 312. 

30) Nauwerck und Barth, Zur Pathologic der Landryschen Lahmung. 
Zieglers Beitrage zur pathologischen Anatomic. 1SS9. 5 . 8. 1. 

37) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheitcn. 5. Anil. 1908. 8. 018. 

38) Pal, Uber multiple Neuritis. 1891. 8. 22. 

39) Remak, Neuritis und Polyneuritis. Nothnagel XT, 3. Toil. 8. 429. 

40) Roily, Zur Kenntnis der Landryschen Paralyse. Miinehn. medizin. 
Wochenschr. 1903. 50. 8. 1283. 

41) Ross und Bury, On peripheral neuritis. D93. 

42) Roth, Neuritis disseminata acutLsima. Korrcspondenzbl. der 8,-lnveiz. 
Arzte. 18S3. 13. S. 317. 


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48 


IV. Schweiger, Uber Veranderungen der Spinalganglien usw. 


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43) Sand, La Neuronophagie. M£moires couronndes, publ. par Pacad6mie 
de Belgique. 1906. T. 19. p. 1. 

44) Sand, Un cas de rage humain suivi d’autopsie. Journal de Neuro- 
logie. Bruxelles 1S98. p. 132. 

45) Seifert, Uber Landrysche Paralyse. Festschrift zur Feier des SOjahr. 
Bestehens des Stadtkrankenhauses zu Dresden-Friedriehstadt; refer. Neurol. 
Zentralbl. 1900. S. 523. 

46) Sherman u. Spill er, A case of Polioencephalomyelitis in an Adult 
(Landrys Paralysis). Philadelphia medical Journal. 1900. 5. S. 734. 

47) Spiller, William, Remarks on the importance of the so-called spe¬ 
cific lesions in rabies. University Medical Magazine. 1901. XIII. p. 776. 

4S) Spitzer, Ludwig, Neuere Erfahrungen fiber Herpes zoster. Zentral- 
blatt ffir die Grenzgebiete der Medizin u. Chirurgie. 1901. S. 497 u. 545. 

49) Thomas et Hauser, Les alterations du ganglion rachidien chez les 
tabdtiques. Nouvelle Iconographie de la Salpetrifere. 1904. XVII. 

50) Tirelli, Dei processi riparativi nel ganglio intervertebrale. Annal. di 
Freniatria e scienc. affin. 1895. p. 9. 

51) Timofeew, Betraehtungen fiber den Bau der Nervenzellen derSpinal- 
ganglien und des Sympathicus beim Vogel. Monatsschr. f. Anatomie u. Phys. 
1898. S. 259. 

52) van Gehuchten u. Neiis, Les lesions histologiques de la rage chez 

les animaux et chez l’homme. Le Nevraxe. Bd. 1. 1. Heft. S. 79. 

53) Westphal, Beobachtungen und LJntersuchuDgen fiber die Krankheiten 
des zentralen Nervcnsystems. Uber einige Falle von akuter todlicher (sogen. 
akuter aufsteigender) Paralyse. Arehiv f. Psychiatrie. 1876. 6. S. 765. 


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V. 


Aus der Abteilung ffir Nervenkrankheiten des St. Stephan-Spitals in 
Budapest (Oberarzt Prof. Dr. Julius Donath). 

Die Bedeutung des Adduktorenreflexes. 

Von 

Dr. Koloman Keller, 

Assistenz&ixt. 

Die eingehende Untersuchung der Reflexe des gesunden und 
kranken Organismus bat nicht nur unsere Kenntnisse auf dem Gebiete 
der Nervenpathologie bereichert, sondern gab uns damit auch ein wich- 
tiges Hilfsmittel zur Erkennung zahlreicher Nervenerkrankungen an 
die Hand. Die Entdeckung des Babinskiscben Phenomena bietet 
eine rasche und verlassliche Orientierung bei der Unterscheidung 
organischer und funktioneller Nervenleiden; dies regte verschiedene 
Forscher an, nach gleichwertigen Reflexen zu suchen, welche in jenen 
Fallen, wo das Babinskische Zeichen fehlt, geeignet waren, Aufklarung 
zu verschaffen. 

Wenn wir unsere gegenwartigen Kenntnisse tiber diese Frage uber- 
scbauen, durfen wir sagen, dass dieses Phanomen in der Diagnose von 
Nervenleiden — einige besondere Falle ausgenommen — unsere Er- 
wartungen im grossen und ganzen erfullt hat. Dennoch tauchen hier 
und da Mitteilungen auf, welche sich mit der Erorterung neuerer 
differentialdiagnostischer Symptome bescbaftigen. Mit dieser Arbeit 
inochte ich die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Adduktoren- 
reflexes lenken, insofern es gelungen zu sein scheint, eine gewisse Ge- 
setzmassigkeit im Verhalten dieses Reflexes sowohl im gesunden als 
kranken Zustand nachzuweisen. 

Der Adduktorenreflex ist als das Prototyp der an den unteren 
Gliedmassen auslosbaren Knochenhaut- bezw. Knochenreflexe sclion seit 
laugerem bekannt, ohne dass jedoch die Forscher ihm eine besondere 
pathologische oder diagnostisehe Bedeutung zuerkannt hiitteu. Vielleieht 
hat der Umstand, dass es gelingt, denselben von den verschiedensten 
Gebieten auszulosen, ferner dass er nicht nur als selbstaudiger Reflex 
vorkommt, sondern auch oft die reflektorische Kontraktion auderer 

Deutsche Zeitschritt f. Ncrvenhoilkundc. o7. Bd. 4 


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V. Keller 


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Muskelgruppen begleitet, den klaren Einblick in sein Verhalten getrubt. 
Tatsache ist, dass dieser Reflex auf den ersten Augenblick und nur 
an einzelnen Krankheitsfallen geprOft, sich — ich mochte sagen — 
ziemlicb launenhaft verhalt, aber bei eingehenderer Beschaftigung zeigt 
sich dennoch die Gesetzmassigkeit der Erscheinung. Die Ergebnisse 
fruherer Forscher sind demzufolge rbapsodiscber und nicht systema- 
tischer Art. Erb z. B. lost den Adduktorenreflex derselben Seite yon den 
Muskelsehnen der Adduktoren, des Gracilis und Sartorius, aus und be* 
merkt dabei, dass dieser eventuell sogar von dem inneren Rande des 
Oberschenkels auslosbar sei. Gleicherweise gelang es ihm nocb durcb 
Beklopfen der Sebne des Tibialis post., wobei sich nicht nur dieser 
verkurzte, sondern auch als Begleiterscbeinung die Kontraktion der 
Adduktoren zu beobachten war. Strflmpell lost den Reflex durcb 
Beklopfen des inneren Condylus der Tibia, der Dornfortsatze der 
Lendenwirbel sowie der Lendengegend aus. Hierbei hatte er Gelegen- 
heit, auch die eontralaterale Zusammenziebung wahrzunehmen. Wenn 
wir noch erwahnen, dass das obere Drittel der vorderen Tibiaflache, 
das Capitulum fibulae, der Malleolus intemus geeignet sind, den Reflex 
auszulosen, so baben wir die reflexogene Zone annahernd in ihrer 
ganzen Ausdehnung geschildert. Sternberg hat in seinem bekannten 
Werke fiber die Reflexe bemerkt, dass der Adduktorenreflex selten 
auszulosen sei, und Sahli vermochte diesen von der vorderen Kante 
der Tibia nur in 5 Proz. der Fiille auszulosen. 

Im Jahre 1899 untersuchte Ganault 1 ) an Hemiplegischen das Ver¬ 
halten des contralateralen Adduktorenreflexes und fand, dass dieser 
bereits 24 Stunden nach erfolgter Affektion erscheint. An Hemiple¬ 
gischen alteren Datums konnte er von der gesunden Seite aus bei 
Perkussion der Patella in etwa 70 Proz., von der gelabmten Seite aus 
jedoch in 20 Proz. der Falle den Reflex auslosen. Bei gesunden Indi- 
viduen war er nur in 10 Proz. vorhanden. 

Huismans 2 ) sah in Fallen von Syringomyelie und Neuritis (Neu¬ 
ritis plex. lumbosacralis), bei welchen auf der einen Seite der Patellar- 
sehuenreflex fehlte, aut Beklopfen dieser Patellarsehne eine Kontrak¬ 
tion der gegcnseitigen Adduktoren eintreten. Interessant erscheint auf 
jeden Fall die Tatsache, dass es bei fehlendem Patellarsehnenreflex 
gelingt, von ebenderselben Patellarsehne aus den contralateralen 
Reflex hervorzurufen, und es zeigt sich hier das schon vielfach be- 
merkte eigentiimliche Yerhalten dieses Reflexes, so dass Huismans 

1 ) Contribution it lYtude de quelqucs Reflexes duns l’Hemiplegie de cause 
organique. These de Paris ISOS. Ref. Revue N’eurolngique 1S00. p. 173. 

2i Huismans, Gekreuzte Adduktorenreflexe bei Syringomyelie und Neu¬ 
ritis. Deutsche med. Wochenschr. 1002. N'r. 40. If. s v 2. 


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Die Bedeutung des Adduktorenreflexes. 


51 


den Grand des bei Neuritis auf der erkrankten Seite zu beobachtenden 
Reflexes in der Neurasthenic sucht, wabrend er dessen Vorkommen 
bei Syringomyelie als vollstandig unerklarbar bezeichnet. 

Hirschberg 1 ) beschrieb 1903 den Fussadduktorenreflex als einen 
exquisit pathologischen, weil es ihm unter physiologischen Verhalt- 
nissen niemals gelungen ist, diesen zu linden. Nach seinen Unter- 
suchungen ist der Fussadduktorenreflex stets zugegen, wenn das Ba- 
binskiscbe Phanomen vorhanden ist, ja, er gebt so weit, dass er in 
Fallen, wo Babinski fehlt, dem etwa vorhandenen Fussadduktoren¬ 
reflex diagnostiscbe Wichtigkeit beilegt und hieraus eine organiscbe 
Erkrankung des Zentralnervensystems folgert. 

Hirscbbergs Beobachtungen haben jedocb, wie wir sehen werden, 
nur Teilerscheinungen klargelegt, indem er den Reflex nur vom 
inneren Rande des Fusses auslost; mit der reflexogenen Zone in ihrem 
vollen Umfange hat er sich nicht beschaftigt, sondern nur mit deren 
periphersten Grenze. Seine auf das Babinskische Zeicben Bezug 
nebmenden Aufstellungen bestehen jedocb nur in einem Bruckteil der 
Falle zu Recbt; docb konnen wir diesen Reflex auch dann dem Ba- 
binskischen Zeichen keineswegs als gleichwertig erachten, und zwar 
aus dem Grunde, weil — wie das meine Beobachtungen nachweisen 
sollen — der Adduktorenreflex auch bei funktionellen Nervenerkran- 
kungen eine enorme Steigerung erfahren kann. Ausserdem loste 
Hirschberg den Reflex in der Weise aus, dass er mit einer Nadel 
langs des inneren Fussrandes streicht. Es ist sehr wahrscheiulich, 
dass auf diese Weise ein pathologischer Sohlenreflex zustande kam, 
zu welchem sich auch eine Oberschenkeladduktion gesellte. Wohl 
wissen wir, dass die verschiedenen Arten der Reflexe mittels verschie- 
dener Weise ausgelost werden, z. B. gelingt es nicht, den Fussohlen- 
reflex, den man bekanntlich durch Streichen auslosen kann, selbst mit 
sehr kraftigen Schlagen hervorzubringen, auch dann nicht, wenn die 
Hautreflexe gesteigert sind. 

Ziemlich wichtige Beitrage hieruber enthiilt die Arbeit von Valo- 
bra und Bertolotti 2 ). Diese untersuchten gesunde ludividuen mittels 
eines mit schwerem und breitem Gummikopf versehenen sog. Deje- 
rineschen Hammers. Bei 35 Proz. der untersuchten PersoDen trat 
auf Beklopfung des inneren Knochels auf derselben Seite eine Kon- 
traktion der Schenkeladduktoren ein. Von der unteren Flache der 

1) R. Hirschberg, Note sur un Reflexe adducteur du j)ied. Revue neu- 
rologique 1903. p. 702. 

2 ) J. Valobra u. M. Be rtolotti, Uber einige none Knochcnrefiexe der 
unteren Gliedmassen im gesuuden und pathologischen Zustande. Neurolog. 

Zentralbl. 1904. Nr. 24. 

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V. Keller 


Ferse konnten sie in 40 Proz. den contralateralen Adduktorenreflex 
von dem inneren Condylus des Femur oder der Tibia, von der Patella 
oder von der Oberflache der Tibia in 60 Proz. den Reflex auf derselben 
Seite und in 50 Proz. auf beiden Seiten hervorrufen. 

Sie betonen, dass die Auslosung dieser Reflexe einzig und allein mit 
dem erwahnten Dejerineschen Hammer gelingt, dagegen nicht mit 
dem gewohnlichen Perkussionshammer. Dass dieser Reflex sich ahnlich 
den Sehnenreflexen verhalt, wurde bei vielen funktionellen und or- 
ganischen Nervenleiden, sowie in anderen akuten und cbronischen 
Intoxikationszustanden nachgewiesen. Bei cerebralen Hemiplegien 
und Reizzust&nden der sensitiven Bahnen (Iscbias, Rbeumatismus) 
wurde in vielen Fallen die Steigerung des Adduktorenreflexes kon- 
statiert. Bei der Neuritis des Iscbiadicus kann man neben dem 
Ausfall des Achillessehnenreflexes sowohl den homolateralen als auch 
den contralateralen Reflex in seiner ganzen Integritat auslosen und 
daraus auf eine wirkliche Dissoziation der Sehnen- und Knochen- 
reflexe schliessen. 

Bei Neuritis multipl. und Tabes bat man ahnliche Beobachtungen 
gemacbt. Mir ist es nicbt gelungen, diese Dissoziation der Reflexe 
zu linden; bei den von mir untersuchten Tabikern und anderen, mit 
Verminderung der Sehnenreflexerregbarkeit einhergehenden Leiden 
zeigte der Adduktorenreflex den Charakter der Sebnenreflexe, indem 
bei Fehlen der Sebnenreflexe der Adduktorenreflex ebenfalls ausblieb. 
Deshalb konnen wir die von Yalobra und Bertolotti aufgestellte 
Folgerung, dass der bei Fehlen des Achillessehnenreflexes bestehende 
Adduktorenreflex auf eine Dissoziation derselben, also auf ihre ver- 
schiedene Natur hinweise, keineswegs fur rich tig ansehen; dann mtisste 
man auch die verschiedene Natur des Patellar- und des Achilles¬ 
sehnenreflexes annehmen, wenn bei Gegenwart des einen der andere 
fehlte. Sie haben tibrigens in Bezug auf die Pathogenese dieses Re¬ 
flexes auch eine neuere Hypothese aufgestellt und zwar in dem Sinne, 
dass sie die infolge der Perkussion im Knochengerust der unteren 
Extremitat entstehende Vibration als einen Reiz der hinteren Wurzeln 
ansehen, von wo diese auf den gewohnlichen Bahnen (Vorderhomer 
usw.) fortgeleitet, die Reflexbewegung hervorruft. 

Noica und Strominger 1 ) Ibsen den Adduktorenreflex von der 
Gegend der Tuberositas tibiae aus, halten deuselben fur gleichen Ur- 
sprunges mit den Sehnen- und Hautreflexen und lokalisieren ihn in 
dieselben Zentren des Rtickenmarks wie die ubrigen Reflexe. 


1 ) D. Noica u. L. Strominger, Reflexes osseux. Revue neurologique 
1906. Nr. 21. p. 969. 


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Die Bedeutung des Adduktorenreflexes. 


53 


Forster 1 ) ruft durch Beklopfen des oberen Astes des Scham- 
beins eine Adduktorenkontraktion hervor. Aucb seiner Ansicbt nach 
verhalt sich der Reflex analog den Sehnenreflexen und er folgert aus 
dem Umstand, dass der Reflex bei Tabes haufig erhalten ist, dass sein 
Zentrum im Rttckenmark urn ein Segment boher liege als das des 
Patellarreflexes, und dieses daher gegebenen Falles eine topische Dia¬ 
gnose ermogliche. Er halt das Fehlen dieses Reflexes fur patho- 
gnostiscb. 

Ich untersuchte den Adduktorenreflex ausser an Gesunden in 100 
Fallen von funktionellen sowie organischen Erkrankungen des Nerven- 
systems gleichzeitig mit samtlichen fibrigen Reflexen und gelangte 
auf Grund dieser meiner Untersuchungen zu dem Resultate, 
dass nicht nur das Vorhandensein oder Fehlen des Adduk¬ 
torenreflexes uberhaupt bei der Unterscheidung normaler 
und krankhafter Zustande des Nervensystems von Bedeu- 
tung ist, sondern auch die Ausbreitung der reflexogenen 
Zone ausschlaggebend ist. Diese reflexogene Zone hangt 
von derNatur des Leidens, aber auch von dessen Intensitat 
ab, mit der sie sich im geraden Verhaltnis verbreitert oder 
verengert. Dadurch gewann dieser Reflex auch prognostische 
Bedeutung, indem beim Fortschreiten des Prozesses die 
reflexogene Zone sich erweiterte und bei der Besserung des 
Zustandes sich wieder verengerte. 

Betrachten wir nun das Verhalten unseres Reflexes sowohl 
bei Gesunden als auch bei Erkrankungen, die mit Verande- 
rung der Sehnenreflexe (also Verringerung, Fehlen oder Steigerung) 
einhergehen. 

Bei gesunden Individuen gelingt es, im Liegen bei gebeugten und 
ein wenig nach aussen rotierten unteren Extremitaten, wobei wir zur 
Kontrolle unsere linke Hand auf die Gegend der oberen Insertion des 
M. adductor magnus andrticken, den Adduktorenreflex auszulosen und 
zwar von dem Gebiete der Fossa poplitea, der medialen Oberflache 
des Kniegelenks, ferner dem inneren Condylus der Tibia wie auch 
von den Sehnen der Kniebeuger und der Adduktoren. Dies erfolgt 
bei 30 Proz. der Gesunden. Gelegentlich, jedoch selten, gelingt es, 
mittelst kraftigen Schlages des Perkussionshammers von dem oberen 
Drittel der vorderen Tibiaflache den Reflex auszulosen. Nach meinen 
Beobachtungen fanden sich bei solchen scheinbar gesunden Indi- 


1) Forster, Ober Bauchdecken- und Adduktorenreflexe. Berliner Ge- 
sellschaft f. Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Sitzung vom 17. Febr. 1!)03. 
Ref. Neurolog. Zentralbl. 1903. Nr. 5. 


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V. Keller 


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viduen, wo mit dem gewohnlichen Perkussionshamraer vom inneren 
Fussknochel aus der Reflex ausgelost werden konnte, bei eingehender 
Untersuchung stets zum mindesten funktionelle Reizerscheinungen 
des Nervensystems. 

Demzufolge gilt bei Gesunden als reflexogene Zone die 
mediate Gegend des Kniegelenks und reicht dieselbe hoch- 
stens bis zum oberen Drittel der Tibia. 

Eine besondere Erscheinung ist, dass bei Kind era — auch bei 
vorbandener Steigerung der Sehnen- und Hautreflexe — der Adduk- 
torenreflex bis zum 12. Lebensjahr sehr scbwer auszulosen ist und 
zwar sowohl bei gesunden, als aucb bei funktionell erkrankten. Den 
Grund hierfQr darf man wobl in der schwacheren Entwicklung des 
kindlichen Adduktors erblicken. Nattirlich fehlte der Reflex bei Lah- 
muDgen nach Poliomyelitis anterior acuta, wahrend er bei einem an 
genuiner Epilepsie leidenden 15jabrigen Madchen mit allgemein ge- 
steigerter Reflexerregbarkeit bis hinunter zum inneren Knochel aus¬ 
gelost werden konnte. 

Bei einer durch Fall zustande gekommenen Yerletzung des Rllcken- 
marks in der Hohe des 2. Lumbalsegments, wo samtliche Sehnen- und 
Hautreflexe feblten und Anasthesie vorlag, fehlte der Adduktoren- 
reflex auf beiden Seiten. Gleicherweise fehlt der Reflex bei Spondy- 
litiden, wo die Reflexzentren im lumbalen Teil des Ruckenmarks zu- 
grunde gegangen sind. Bei einer beginnenden juvenilen Tabes, wo die 
Achillessehnenreflexe bereits geschwunden waren, die Patellarreflexe 
jedoch nocb geutigend lebhaft waren, fehlte der Reflex auf beiden 
Seiten; meine Beobachtungen widersprecben demnach denen Valobras 
u. Bertolottis. Bei den vorgeschrittenen Tabesfallen fehlte mit den 
Sehnenreflexen zugleich auch der Adduktorenreflex. Bei Polyneuritiden 
alkoholischen oder unbekannt infektiosen Ursprungs und in einem 
Falle, wo es sich um Diabetes handelte, fehlte der Adduktorenreflex 
auf beiden Seiten, wenn auch im letzteren Falle der linke Patel- 
larreflex ein wenig gesteigert war, wahrend die (ibrigen Reflexe 
feblten. Im allgemeinen darf man daher den Satz aus- 
sprecheu, dass bei Erkrankungen des Nervensystems, 
welche mit Verringerung oder Fehlen der Sehnen reflexe 
einhergehen, der homolateral e Adduktorenreflex eben- 
falls schwacher wird oder ausbleibt, und in solchen Fallen, 
wo der Reflex dennoch vorhanden ist, die reflexogene Zone 
von dem medialen Condylus des Oberschenkels bis hochstens 
zum oberen Drittel der Tibia reicht. Diese Beobachtungen ge- 
statten keineswegs eine Folgerung auf die Dissoziation der Knoehen- 
und Sehnenreflexe. 


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Die Bedeutung des Add uktoren re flexes. 


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Wir wollen nan sehen, wie sich unser Reflex bei Erkrankungen 
mit gesteigerten Sehnenreflexen verhalt. 

Bei organischen Erkrankungen, wie Entzundungsprozessen der 
Rfickenmarkshaute, luetischen oder andersartigen Myelitiden, luetischer 
Meningomyelitis, kombinierten Systemerkrankungen, Sclerosis multiplex, 
cerebraler Hemiplegie, Hirngummi, Hirnarterienverkalkung, Encephalo- 
malacie, Hydrocephalus, wo die ein- oder beiderseitige spastische Lah- 
mung von einer Steigerung der Sehnenreflexe, beziehungsweise von Fuss* 
oder Patellarklonus begleitet war — in alien.diesen Fallen war der Adduk- 
torenreflex stets scbon durch sehr leichten Hammerschlag auslosbar, vor- 
ausgesetzt, dass der hochgradige Spasmus die Auslosung der Qbrigen 
Sehnenreflexe nicht gleichfalls beeintrachtigte. Proportional zur Stei¬ 
gerung der Sehnenreflexe findet man die reflexogene Zone 
fiber die normale Grenze hinausgeriickt und zwar nach unten 
fiber die vordere Flache der ganzen T ibia bis auf den inneren 
Fussknochel, die mediale Flache des Fusses,ja so gar in Fallen 
sehr gesteigerter Reflexerregbarkeit bis zum ersten Meta- 
tarsalknoche n. Besonders wichtig erscbeinen meine Beobachtungen 
bei cerebralen Hemiplegien sowie anderen Prozessen, welche mit halb- 
seitiger Steigerung der Sehnenreflexe einhergehen; hier zeigt sich, 
dass auf jener Seite, wo die Sehnenreflexe in hoherem Grade 
gesteigert sind oder eventuell auch Fuss- und Patellar¬ 
klonus vorhanden ist, das Auslosungsgebiet des homolate- 
ralen Adduktorenreflexes stets tiefer reicht, als auf der 
normalen oder relativ gesunden Seite, ja sogar unter Um- 
standen bis zur untersten Grenze hinunterreichen kann. 
Ferner konnte ich bei luetischer Myelitis und Meningomyelitis die 
interessante Erscheinung beobachten, dass im Beginn oder auf der 
Hohe der Erkrankung die reflexogene Zone ein- oder beiderseitig so¬ 
gar die unterste Grenze erreichte, dass dann mit der Besserung des 
Zustaudes die reflexogene Zone sich mehr und mehr einengte, wenn- 
gleich dabei keine nachweisbare Verringerung der im fibrigen erhohten 
Sehnenreflexerregbarkeit eintrat, mit der Verschlimmerung des Zu- 
standes aber (Bettlagerigkeit, Exitus in einein Falle) die reflexogene 
Zone aufs neue Ausdehnung gewann. Auf Grund dieser und obiger 
Tatsachen dfirfen wir den Satz aufstellen, dass in der Erweiterung 
oder Verengerung der reflexogenen Zone des Adduktoren¬ 
reflexes ein objektives MaG fur die Steigerung oder Ver¬ 
ringerung der allgemeinen Sehnenreflexerregbarkeit ge- 
geben ist. 

Als eine beachtenswerte Frage erscheint fernerhin, ob nicht dieser 


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V. Keller 


gesteigerte Adduktorenreflex in diagnostischer Beziehung gleichwertig 
ist mit dem Babinskischen Phan omen? 

Obschon mehr als 50 Falle mit ausgesprochenem Babinskischen 
Zeichen zu meiner Verfhgung standen, vermochte ich zwischen Ba¬ 
binskischen Phanomen und Intensitat des Adduktorenreflexes sowie 
Ausdehnung der reflexogenen Zone keinen Zusammenbang zu finden, so 
dass der Adduktorenreflex zu der Diagnose degenerativer 
oder irgend welcher Affektionen der Pyramidenbahnen un- 
geeignet ist. 

Dasselbe beweisen auch die Beobachtungen bei den sogenannten 
funktionellen Nervenleiden. Bei Neurasthenic, Hysterie (darunter 
Astasie-Abasie), traumatischen Neurosen finden wir stets im geraden 
Verhaltnis zur Reflexibilitat eine weitere, bezw. engere reflexogene 
Zone, welche bei einem an sexueller Neurasthenie leidenden Individuum 
ebeuso grosse Ausdehnung zeigte, wie sie sich bei irgend einer mit 
Clonus einhergehenden spastischen Labmung findet. Zu beachten ist 
in diesen Fallen, dass wir den Adduktorenreflex nicht mit der hier 
haufig hervorzurufenden allgemeinen Reflexirradiation verwechseln, 
was wir durch wiederholte Yersuche oder durch Ablenkung der Auf- 
merksamkeit des Kranken vermeiden konnen. 

Bei diesen funktionellen Nervenerkrankungen erstreckt 
sich die reflexogene Zone gewohnlich von dem oberen Drit- 
tel der Tibia bis zum inneren Fussknochel. 

Meine Ergebnisse lauten demnach wie folgt: 

1. Der homolaterale Adduktorenreflex verhalt sich voll- 
standig analog den Sehnenreflexen. 

2. Die pathologische sowie die klinische Bedeutung des 
Adduktorenreflexes besteht nicht so sehr in der Starke der 
Muskelkontraktion, als vielmehr in der Ausdehnung der 
reflexogenen Zone, und zwar ist dieser bei Prozessen, welche 
mit Reflexmangel einhergehen, verringert, oder er fehlt, und 
reicht dann die reflexogene Zone hochstens bis zum oberen 
Drittel der Tibia; dagegen in Fallen von Sehuenreflexstei- 
gerung, sei es auf funktioneller, sei es auf organischer 
Grundlage, beziehungsweise bei spastischer Lahmung kann 
die reflexogene Zone sogar bis zur medialen Flache des 
Fusses hinunter reichen. 

3. Die Ausdehnung der reflexogenen Zone des Adduk¬ 
torenreflexes ist der allgemein erhohten Sehnenreflexerreg- 
barkeit proportional, gleichviel, ob wir es mit organisohen 
oder funktionellen Leiden zu tun haben. Die Verringerung, 


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Die Bedeutuog des Adduktorenreflexes. 


57 


beziehungsweise Steigerung der Sehnenreflexerregbarkeit 
geht mit der Einengung oder Erweiterung der reflexogenen 
Zone einher. Dadurch nimmt der Adduktorenreflex eine 
Sonderstellung unter den Reflexen ein. 

4. Das Vorhandensein oder Fehlen des Adduktoren¬ 
reflexes sowie die Grosse der reflexogenen Zone stehen mit 
krankhaften Zustanden der Pyramidenbabnen — also aucb 
mit dem Babinskischen Phanomen — in keinerlei Zusam- 
menbang. 

Meinem verehrten Chef, Herrn Prof. Donath, spreche icb fQr das 
Interesse, welches er dieser Arbeit stets zugewendet hat, meinen ver- 
bindlichsten Dank aus. 


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VI. 


Aus der medizinischen Klinik zu Leipzig. 

Myopathologische Beitr&ge. 

Von 

Privatdozent Dr. Hans Steinert, 

1. Assistenten der Klinik. 

I. Cber das klinische nnd anatomische Bild des Muskelschwunds 

der Myotoniker. 

Mit einer Mitteilung zur Kenntnia der tabiformen Hinterstrangs- 

degenerationen. 

(Mit 2 Abbildungen.) 

Im Jahre 1904 hatte ich Gelegenheit, der Leipziger medizinischen 
Gesellschaft drei Falle von Thom sen scher Krankheit vorzustellen, die 
mit progressiver Dystrophie der Muskulatur kompliziert waren.*) Die 
Yerteilung der Dystrophie war eine recht eigenartige und in alien drei 
Fallen dieselbe. Meine Mitteilung ist bisher an einer allgemein zugang- 
lichen Stelle noch nicht veroffentlicht worden**) und demgemass auch 
fast ganz unbeachtet geblieben.***) Noch immer geht die allgemeine 
Meinung selbst derjeoigen Autoren, die sich speziell mit dieser Frage 
beschsiftigt haben, dahin, dass die Dystrophien der Myotoniker keiner 
durchgehenden Regel folgten, sondem eine in verschiedenen Fallen 
ganz verschiedene Verteilung zeigten und auch verschieden zu deuten 
seien. In manchen Fallen sind myopathische, in anderen spinale Atro- 
phien angenommen worden. Nur hie und da wird ganz beilaufig er- 
wahnt, dass bestimmte Muskelgebiete verhiiltnismassig haufig befallen 
werden. Hoffmann u. Hans Curschmann nennen die Gesichts- und 
lvaumuskeln, Rindfleisch ausserdem noch die Muskeln des Halses. 
Von einem regelmassig wiederkehrenden Typus ist aber auch bei diesen 
Forschern durchaus nicht die Rede. 

Ich mochte nun im Folgenden an der Hand meiner damals be- 
schriebonen Falle, meiner unterdessen erweiterten klinischen Erfahrung 
und miter kritischer Berucksichtigung der Literatur zeigen, dass bei 

*) Falle 1—3 der vorliegeiuleu Arbeit. 

**j Sie ist nur in der Buchausgnbe der Gesellscbaftsberichte enthalten. 

***) Nur Zanietowskv hat sie, soviel ich selie, einer niilieren Bespreehung 
gewurdigt. Zeitsehriit fiir Elektrotherapie. 6. Jahrg. S. 424 tf. 


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Myopathologische Beitrage. 


59 


der flberwiegenden Mehrzahl der Falle von Muskelatrophie bei Myo- 
tonikern ein ganz bestimmter, durch cbarakteristische Symptomgrup- 
pierung und Verlaufsweise ausgezeichneter Typus myopathischer Dys- 
trophie vorliegt, so regelmassig wiederkehrend, wie nur bei irgend 
einer anderen Form von progressiver Dystrophie, und so eigenartig, 
dass man angesichts dieses Bildes die Thomsensche Krankbeit mit 
grosster Bestimmtheit vermuten darf, auch wo die Klagen des Patienten 
zunachst nicht darauf bindeuten. 

In einem der im Jabre 1904 demonstrierten Falle haben wir unter- 
dessen die Autopsie vornehmen konnen. Bisber liegt tiberbaupt nur 
ein einziger Sektionsbefund eines Myotoniekranken vor.*) Ein Obduk- 
tionsbefund von dystropbiscber Myotonie ist iiberhaupt noch nicbt 
veroffentlicht worden. Somit mussten wir aucb aus diesem Grunde 
auf das Tbema der Myotonia atrophica zurtickkommen. 

Ich gebe zunachst das klinische Bild der 6 von mir selbst be- 
obachteten Falle. Mit Ausnahme des letzten, ganz neuen, sind sie 
zwar samtlich auch anderen Arzten scbon bekannt geworden und 
haben an dieser oder jener Stelle der Literatur, meist in Sitzungs- 
berichten, Erwahnung gefunden. Einer der Krauken (Nr. 1) gehort 
sogar zu den bekanntesten unter den Leuten, die gegenwartig als 
interessante Falle die deutschen Kliniken bereisen. Eine genauere 
Beschreibung liegt aber nur von einem der Patienten (Nr. 3) vor, und 
auch sie gibt nicht das vollentwickelte Krankheitsbild wieder. Es ist 
also nicht Qberfllissig, auch von diesen Fallen die Krankengeschichten, 
wenn auch nicht in aller Breite, so doch in ihrem wesentlichen Inhalt 
mit mogliebster Vollstandigkeit mitzuteilen. 

Fall 1. G. R., Backer**). 

Befund vom Februar 1904. 

Anamnese. In der Familie des damals 31jahrigen Patienten scheinen 
Falle von Thomsenscher Krankbeit bisher nicht vorgekommen zu sein. 

*) Dejerine u. Sottas, Revue de m£d. 1895. — In dem Bericht von Cad¬ 
bury u. Leopold fiber die pathologisch-anatomische Literatur Nordamerikas 
von 1902—190(5 (Lubarsch-Ostertags Ergebnisse d. allg. Path. 12. Jahrg. 1908. 
S. 3S2) findet sich die Angabe, dass neuerdings ein zweiter Obduktionsbel'und 
von Myotonie veroffentlicht worden sei. Die Angabe beruht auf einem Irrtuni. 
In der fraglichen Arbeit von Spiller (Univers. Pa. med. Bull. XVII. 1904 5, 
p. 342) handelt es sich um Myatonia congenita, nicht um Thomsensche 
Krankbeit. 

**) Vgl. Strfimpell, Miinch. med. Wochenschr. 1903. Nr. 27. — Steiuert, 
1. c. 1904. — T. Cohn, Neurol. Zentralbl. 1904. S. 111S. — Berg, Dissert. 
Bonn 1904. — Nonne, Neurol. Zentralbl. 19U5. S. 142. — Siemcrling, Munch, 
med. Wochenschr. 1905. S. 1072. — Rindfleisch, Deutsche med. Wochenschr. 
1905. S. 1414. — Hoffmann u. Hoche, Arch. f. Psych. 42. Bd. $. 259 u. 
Neurolog. Zentralbl. 190(5. S. 5715. — Hoche, Miinch. med. Wochenschr. 1900. 


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60 


VI. Steinert 


Der Kranke selbst war in jQngeren Jahren vOllig gesund und hat 
1895/6 ohne irgend welche StOrungen im Gebrauch seiner Gliedmassen als 
Artillerist gedient. Der Herr Regimentsarzt hat die Gefalligkeit gehabt, 
uns diese Angabe des Kranken zu bestatigen. Ans dem amtlichen Bericht 
geht weiter hervor, dass R. in der Militarzeit einen schweren Gelenkrheu- 
matismns Oberstanden hat und wegen Lungenspitzenkatarrhs und „hoch- 
gradiger Blutarmut“ als dienstunbrauchbar entlassen worden ist. 

Im Jahre 1899, etwa ein Jahr nach einem zweiten Gelenkrheumatis- 
mus, bemerkte R. die ersten Erscheinungen seines jetzigen Leidens, ein Ge- 
fQhl der Taubheit in den Fingcrspitzen und eine anfangs ganz leichte „Steifig- 
keit“ myotonischen Charakters in den Fingern. Die letztere Beschwerde 
nahm allmahlich zu und breitete sich nach und nach fiber fast die gesamte 
KOrpermuskulatur aus. 

Annfihernd gleichzeitig mit der Bewegungsbehinderung entwickelte sich 
ein Muskelschwund in den jeweils befallenen Gebieten. 

Nach den Armen wurden vor l 1 ^—2 Jahren Gesicht und Zunge be¬ 
fallen. Es bildete sich eine SprachstOrung und eine habituelle Luxation 
des Unterkiefers aus. Die Muskeln des Halses und der Beine sollen erst 
im letzten Jahre ergriffen worden sein. 

Der Kranke will wissen, dass ein Arzt schon 1902 bei ihm das Fehlen 
der Patellarsehnenreflexe konstatiert habe. 

Status: Grosser, blasser, stark abgemagerter Mann. 

Die Behaarung des Kopfes, besonders des Scheitels, sehr spftrlich. 

Wir besprechen zuerst als Hauptbefunde die Symptome der uns hier 
speziell besch&ftigenden Affektion, die sich in folgende Gruppen teilen lassen. 

a) Die dystrophischen Erscheinungen. 

Facies myopathica. Leichter Lagophthalmus, wulstige Lippen. Mimik 
fast vOllig erloschen. 

Masseteren und Temporales ganz mager und schwach. Offenbar da- 
durch bedingte habituelle Luxatio mandibulae. 

Parese des Gaumensegels. 

Eigentfimliche SprachstOrung, die zweifellos der Ausdruck eines 
dystrophischen Prozesses der beteiligten Muskulatur ist. Der Kranke 
spricht: 

1. offen nasal (Gaumenparese). 

2. leicht heiser. Die Laryngoskopie zeigt neben einer Internusparese 
ein seitliches Verschwinden der Stimmlippen in der Ruhelage, was wohl 
durch eine hochgradige Atonie der Adduktoren sich erklfirt.*) 


S. 1833. — Mannel, Diss. Kiel 1907. — Bingel, Munch, med. Wochenschr. 
1908. S. 1717. — Schonborn-Krieger, Klin. Atlas der Nervenbrankheiten. 
Heidelberg 1908. Tafel 24. — Chvostek, Zentralbl. f. innere Med. 1909. S. 394. — 
Knoblauch, Krankheiten des Zentralnervensystems. Berliu 1909. S. 128/9. — 
Bingel nennt noch eiuige andere Autoren, die sich fiber den Fall geaussert 
haben sollen. 

*) Herr Prof. Prey sing, damals Assisteut der Leipziger Ohrenkliuik, dem 
ich den Fall vorstellte, bestiitigte diese Auffassung. Audi Siemerling (1. c.) 
hat spater, gestiitzt auf eine Untersuchung dureh Prof. Friedrich, die Meinung 
ausgesproehen, dass eine Dvstrophie der Adduktoren vorliige. (Vgl. den ana- 
tomischen Befund unseres Falles 2.) 


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Myopathologisehe Beitrage. 


61 


3. Der Patient schleudert die Worte heraus. Wenn er auf besondere 
Aufforderung bin leiseund langsam spricht, ist seine Sprache deutlich und ver- 
stftndlich, die Lantbildung ohne Tadel. Doch strengt ihn das sichtlich an, und 
er verffillt bald wieder in das schwer verstandliche Poltern und Schleudern. 

Man wird annehmen dfirfen, dass der Kranke hauptsachlich deshalb 
mit so kraftigen Exspirationsstbssen spricht, weil er sich dadurch die An- 
strengung eines exakten Glottisschlusses erspart. Weil eine normale Sprache 
gerade die erheblicher geschadigten Teile starker in Anspruch nehmen 
wQrde, ist er auf eine an sich zwar auch angestrengte und mfihsame, aber 
ihm augenscheinlich immer noch bequemere Art zu sprechen verfallen, bei 
der wenig Oder nicht geschwftchte Muskeln, die exspiratorischen Hilfsmus- 
keln, eine starke UnterstQtzung leisten kbnnen. Diese Sprechweise ist bis 
zu einem gewissen Grad mit der Art, wie er seine Glieder bewegt, in Ana¬ 
logic zu bringen. Auch dabei erspart er durch das schleudernde Verfahren 
paretischen Muskeln einen Teil ihrer Arbeitsleistung. 

4. Der Kranke spricht gequetscht, mit starker Verengerung des Isth¬ 
mus faucium und Hebung des Kehlkopfs. Diese Anomalie wird auch bei 
Gesunden als Begleiterscheinung abnormer, forcierter Sprechweisen nicht 
selten beobachtet Zum Teil hangt sie bei unserem Kranken aber wohl 
auch mit dem durch die starkere Atrophie einzelner Muskeln gestQrten 
Kraftgleichgewicht der beim Sprechakt beteiligten Muskulatur zusammen. 
Wir glaubten wenigstens, uns auch bei der elektrischen Untersuchung ttber- 
zeugen zu kdnnen, dass die Heber des Kehlkopfs besser erregbar waren 
als die den Kehlkopf gegen das Sternum fixierenden Muskeln. 

Wenn Patient leise und langsam spricht, kann er das Quetschen ziem- 
lich gut vermeiden. 

In ihrem Gesamtbild hat die SprachstOrung etwas hbchst Eigenartiges. 
Die Klangfarbe der Sprache ist eigentfimlich blechern, ihre Toulage liegt 
fiber der mittleren. 

Hals. Die Sternocleidomastoidei sind nur als dflnne, funktionslose 
Strange zu ffihlen. Nur durch die elektrische Untersuchung kann man 
nachweisen, dass noch Reste kontraktiler Substanz in ihnen erhalten sind. 
Wenn der Kranke seinen Kopf in den Nacken zurfickgelegt hat, kann er 
ihn nicht ohne Hilfe der Hand wieder aufheben. 

Schultergfirtel und Arme. Die Schultern sind etwas nach vorn 
gesunken, die Scapularspitzen stehen vom Thorax ein wenig ab. Die Cu- 
cullares sind sehr stark atrophisch, reclits ist sogar nur durch die elek¬ 
trische Untersuchung noch das vorderste clavikulare Bfindel als kontrak- 
til nachzuweisen. Wenn der Kranke die rechte Schulter hebt, verwendet 
er unter anderem die oberste costale Portion des Pectoralis maior als 
Hilfskraft. Die beiden Latissimi dorsi sind fast vollstfindig geschwunden 
und gelahmt. Die ttbrige Muskulatur des Schultergfirtels ist verhiiltnisinassig 
viel weniger gesch&digt, aber doch auch durchweg dtirftig und wenig 
krfiftig. Nur die Rhoniboidei fallen durch eine reclit gute Entwickluug 
und Leistung auf. An den Deltoidei ist der proximate Abschnitt allein 
Anschein nach viel starker atrophisch als der distale Teil. 

Die Vorderarnie sind stark atrophisch, die Brachioradialcs fast vdllig 
geschwunden. Die Oberarnnnuskeln sind weniger stark reduzicrt, ebenso 
die kleinen Handmuskeln, die in ihrem Volumen etwa der allgemeinen 
Magerkeit entsprecheu durften. 


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VI. Steinekt 


An den Erectores trunci, den Bauchmuskeln war nichts Krankhaftes 
zu bemerken. 

Die Muskulatnr der Beine ist gleichmilssig mager, ihre grobe Kraft 
durchweg gering. Beim Gehen leichtes Beckenschaukeln. 

b) Myotonische Erscheinungen bei willkQrlichen Bewegun- 
gen sind in folgenden Muskeln nackweisbar. 

Zun&chst im Levator palpebrae. Da die Heber der AugSpfel das myo¬ 
tonische Pkanomen nicht zeigeu, so bleiben, wenn der Kranke nach vorange- 
gangener Hebung der Blickebene die Augen wieder senkt, nur die Lider zurtlck, 
so dass das Bild des Gr&feschen Symptoms entsteht (sog. „Pseudo-Gr&fe“). 

Ferner zeigen die Gesichtsmuskeln, Kaumuskeln, die Zunge, die Ex- 
tensoren des Kopfs, die Muskeln der oberen Extremit&ten die myotonische 
Behinderung in der gewOhnlichen Weise. Nach langerem Schweigen ist 
eine myotonische SprachstOrung vorhanden. For die Orbiculares oculorum 
ware die kleine Besonderheit hervorzuheben, dass der Lidschluss auch nach 
vielfachen Wiederholungen myotonisch behindert bleibt. Auch bei Be- 
wegungen des rechten Knies, beider Ffisse und der Zehen tritt die typische 
Steifigkeit zutage.*) 

c) Myasthenische Erscheinungen. Der Kranke klagt, dass seine 
Kaumuskeln nach Ablauf des Stadiums der Steifigkeit sehr rasch ermQdeten. 
Objektiv ist das nicht recht deutlich zu beobachten., Sehr auffallend ist 
dagegen das rasche Nachlassen der Fahigkeit, zu schlucken. Nachdem 
einige Bissen vdllig glatt geschluckt wordeu sind, bleiben die n&chsten im 
Schlund stecken und kcinnen nur unter grossen Schwierigkeiten und durch 
Nachspfilen mit Fliissigkeit weiter befordert werden. Dann muss der 
Kranke eine Pause maclien, wahrend deren sich der Schluckapparat rasch 
erholt. Durch diese StOrungen erstreckt sich die Nahrungsaufnahme des 
Kranken liber „den ganzen Tag“. Endlich tritt beim Gehen eine ErmOd- 
barkeit der Muskulatur hervor, die durchaus den Charakter des Myastheni- 
schen tragt. Nach Ablauf der myotonischen Hemmung geht der Kranke 
eine Zeit lang ganz gut, mit geringem Beckenschaukelu, wie es bestandig 
vorhanden ist; dann nimmt aber bald das Beckenschaukeln zu, die Kniee 
werden abnorm durchgedrQckt, die Ftisse fangen an zu „tapsen, als wenn 
zwei Personen gingen“; wenn die Hacke aufgesetzt ist, klappt die Sohle 
unmittelbar nach. 

Nach diesen hauptsiichlichen Symptomkomplexen sind noch einige 
sonstige Befunde nachzutragen. 

Innere Organe. Kleine Struma. 

Atmungs- und Kreislaufsorgane oline Besonderheiten. Die Blutdruck- 
schwankungen im kQnstlichen Nauheimer Bad verliefcu in der normalen 
Kurve.**) 

Die Untersuchung der Bauchorgane ergab einen kleinen Milztumor. 
Die l)ampfung war vergrossert, der untere Milzpol palpabel. 

*) Hoche liat spiiter (1. c.) nocli Myotonic des Sphincter iridis bei unserem 
Kranken festgestellt. Als wir lbul den Kranken beobachteten, bestand keine 
myotonische Pupillenreaktion. 

**) Diese Untersuchung wurde vorgenommen, weil icb friiher bei einem 
Myastheniker eine eigenartige abnorme Kurve gefunden babe. Archiv f. klin. 
Med. Bd. 78. 


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Myopathologische Beitriige. 


63 


Die Harnausscheidang war quantitativ nnd qualitativ normal, norniale 
Tag- und Nachtmengen, kein Eiweiss, kein Zucker, nornialer Gehalt an 
Harnsfiure und Kreatinin. 

Normaler Blutbefund. 

Aus dem Nervenstatus ist noch hervorzuheben: 

Insuffizienz der Konvergenz. 

Areflexie der oberen Extremitaten, Fehlen der Patellar-, Achilles- 
sehnen- und Kremasterreflexe. 

Sensibilitat: Starke Hypiisthesie der Haut an den Fingern und 
Zehen und an zwei symmetrischen, etwa in der Form von Beinschienen 
fiber beiden Schienbeinen gelegenen Streifen. Herabsetzung der Gelenk- 
emptindung an den oberen und unteren Extremitaten (andere Qualitaten 
der tiefen Sensibilitat wurden nicht geprfift). Allgemeine Analgesie fttr 
den faradischen Strom. 

Bewegungen der Extremitaten werden im Bett bei Augenschluss 
ausgesprochen unsicher und ausfahrend, ataktisch, ausgefQhrt, dagegen ist 
kein Rombergsches Phanomen vorhanden und auch bei schwierigen Geh- 
fibungen keine Ataxie wabrzunehmen. 

Endlich sei noch erwahnt, dass der Kranke eine beginnende Kontrak- 
tur der Palmaraponeurose der linken Hand aufwies. 

Mechanische Erregbarkeit: Unerregbar ist der N. facialis und 
fast sein gesamtes Muskelgebiet. 

Hochgradige Herabsetzung, teilweise bis zur Unerregbarkeit, zeigen 
dieMuskeln des Nackens, Rfickens und die meisten der unteren Extremitaten. 

Zuckung mit Nachdauer geben die Zunge, die Depressoren der Mund- 
winkel, die Muskeln der oberen Extremitaten, der Unterschenkel und Fflsse. 
Gelegentlich wird ein feinfascikulfires Nacbwogen (Bechterew) nach der 
mechanischen Reizung beobachtet. 

Elektrische Erregbarkeit: Nirgends EaR. 

Faradische Untersuchnng. Nerven: Quantitativ nirgends grobere 
Anomalien. Die myotonische Nacbdauer der Kontraktion feblt nur bei 
Reizung der Radialnerven. In den unteren Extremitaten tritt sie nur bei 
starken StrOmen ein. 

Muskeln: Die starker atrophischen zeigen eine Herabsetzung ilirer 
Erregbarkeit. Nacbdauer meist erst bei stfirkeren Stromen, an den unteren 
Extremitaten fehlt sie. 

MyaR (nur bei direkter faradischer Reizung) in den Daumen- und 
Kleinfingerballen, den Bicipites brachiorum, dem rechteu Pronator teres. 
Andeutungen noch in anderen Muskeln. 

Galvanische Untersucbung. Nerven: Quantitativ annfihernd 
normale Verhaltnisse. Nacbdauer feblt an den Nn. VJI, radiales (selbst 
bei 25 M.-A.) und im Bereich der unteren Extremitaten. An den tibrigen 
Nervcnstfimmen (Hypoglossi, Mediani, Ulnares) ist sie bei stfirkeren Stromen 
naclnveisbar. 

Muskeln: Die Erregbarkeit der starker atropliischen ist lierabgesetzt. 

Myotonische Nacbdauer geben bei stfirkeren Stromen sfimtliclie Mu<- 
keln der oberen Extremitaten, viele abcr erst bei etwas Lingerer, niebt bei 
sehr kurzer Reizdauer. Die Kontraktionen der myotonisch reagierenden 
Muskeln steigen langsam an. In den Extensoren am Unterarm ist die 
myotonische Nachdauer am wenigsten deutlieh ausgesprochen. Dagegen ist 


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64 


VI. Steinert 


auch in den Zungenmuskeln nnd im Depressor anguli oris MyoR nach- 
weisbar. 

Die Muskeln der unteren Extremitaten sind frei von erheblichen 
Anomalien. 

Ferner * fin den wir in vielen Muskeln der oberen KOrperhalfte die 
merkwtlrdige Erscheinung, dass die schwachsten Oberhaupt uachweisbar 
wirksamen Strdme schon tetaniscbe Kontraktionen hervorrufen, und zwar 
gilt das besonders fQr die Anodenschliessungsreizung. Wir nnden bei den 
minimalen wirksamen Stromstarken ASTe neben KSZ oder auch ASTe und 
KSTe, und zwar ASTe > KSTe. 

Im Februar 1907 wurde R, wieder in der Elinik beobachtet. 

Die Dystrophie der Muskeln der unteren Extremitaten ist deutlicher 
geworden. Das Beckenschaukeln tritt mebr bervor, und es bat sich eine 
doppelseitige Parese der Dorsalflexoren der Fftsse entwickelt. Rechts 
Steppergang. Vielleicht sind auch die Erectores trunci nicht mehr intakt 

Die myasthenischen Erscbeinungen waren zu dieser Zeit nicht nach- 
weisbar. 

Die SensibilitatsstOrungen und die eigentOmlichen, den Charakter des 
Ataktischen tragenden BewegungsstOrungcn der Glieder bei Bewegungen 
im Bett sind verschwunden. Wir wollen gleicb hier betonen, dass es uns 
zweifellos erscheint, dass beides, Sensibilitats- und Bewegungsstbrungen, 
hysterischer Natur gewesen ist. Die Ataxie, die nur im Bett zu beobacbten 
war, zeigte denselben eigentOmlichen Widerspruch, der die hysterische 
Dysbasie charakterisiert. Bei dieser kann der Kranke schlecht gehen. im 
Bett sind die Bewegungen seiner Beine normal. Hier sahen wir das Um- 
gekehrte: Ira Bett eigenartige ataktische Symptome, die beim Gehen vdllig 
verschwanden. 

Fall 2. K. S., Handelsmann.*) 

Befund von 1904. 44jakriger Patient. 

Die myotonischen Erscbeinungen bestehen seit der Kinderzeit. Vater 
und Bruder sollen. an Myotonie gelitten haben. 

Seit Ende der 90 er Jahre hat sich ein Muskelschwund entwickelt, an- 
fangs vorwiegend im Gesicht, in den Sternocleidomastoidei, an den Handen. 
Mit der Zeit hat er die gesamte KOrpermuskulatur ergrili'en. 

Status: Grosser, skelettartig magerer, blasser Mann mit vollig kalilem 
Scheitel. 

Chronische Lungentuberkulose. 

Myotonische Storung beim Offnen und Schliessen des Muudes, bei 
seitlichen Bewegungen der Zunge, bei den moisten Bewegungen der Extre¬ 
mitaten. Fruher war das Phanomen noch ausgebreiteter. Nach augen- 
arztlichem Bericht ist es auch beim Accommodationsvorgang nachweisbar 
gewesen. Die Handotlnungsbewegung ist im Gegensatz zum Handschluss 
nicht von nivotonischer llemmung gefolgt. 

Die Dystrophie. Fast ganz gleichmiissig und symmetrisch liber den 
ganzen Kdrjier ausgebreitete enorme Abmagerung der Muskulatur. Noch 
starker als die tllu igen sind die kleinon Ilandmuskeln reduziert, insbeson- 
dere ist der reclite Daumenballen fast vollig geschwunden. Facies myopa- 

*) Vgl. Ki'ister, Leipziger mod. Gesellscliaft vom 10. VI. 02. Ref. Munch, 
med. Wochensehr. I'jn2. Steinert, 1. c. 19U4. 


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Myopathologische Beitriige. 


65 


thica. In dem totenkopfartigen Gesicht treten die Lippen wulstig hervor. 
Leichte Ptose beiderseits. Die Atrophie der Kaumuskeln hat auck in 
diesera Falle zu einer habituellen Unterkieferluxation geftlkrt. Die Sprache 
ist in genau derselben eigentftmlichen Art ver&ndert wie im Falle 1. 

Hochgradige allgemeine Muskelschwacke. Der rechte Daumenballen 
vOllig gelilhmt.. 

Die Gangart nach Ablauf der myotonischen Storung zeigt deutlich die 
hochgradige Parese aller beteiligten Muskeln. 

Von weiteren Befunden verdient Erwfthnung das Fehlen der 
Patellar- und Achillessehnenreflexe bei erhaltenen Biceps- und Triceps- 
rcflexen. Geffthlsvertaubung nur in der Haut der Zcken. 

Elektrisches Verhalten. Nirgends EaR. 

Die Erregbarkeit der atrophischen Muskeln ist herabgesetzt. 

MyoR bei direkter galvaniscber und faradischer Reizung mit starkeren 
Strbmen und bei etwas langerer Dauer der Reizung in einer Reihe von 
Muskeln der oberen Extremitaten. In den Streckern am Unterarm fehlt 
die Erscheinung. 

Hier und da finden wir myotonisches Verhalten auch bei der mechani- 
schen Reizung der Muskulatur. 

Der Sektionsbericht dieses Falles folgt spater. 

Pall 3. J. J., Schuhmacher.*) 

Befund von 1904. Der 30 Jahre alte Patient entstammt angeblich 
einer Thomsenfamilie. In der Lehrzeit traten die Erscheinungen der 
Myotonie zuerst deutlicher hervor. In den letzten Jahren sind sein Ge¬ 
sicht und seine Vorderarme abgemagert. 

Status: Kraftig gebauter Mann. 

Missbildung des rechten Ohres (Coloboma lobuli). 

Innere Organe ohne Besonderheiten. 

Die Muskulatur im ganzen von mehr als normalem Volumen. Ab¬ 
gemagert sind dagegen die Vorderarme. Auch die Tricipites brachiorum 
sind mager. An den kleinen Ilandmuskeln ist mehr ihre verhaltnismiissig 
schlaffe Konsistenz als e.ine eigentliche Abmagerung auffallig. 

Facies myopathica. Die Kaumuskeln dagegen voluminos. 

Auffallend mager sind endlich noch die Sternocleidomastoidei. 

Die Muskelkraft ist fast durchweg geringer, als dem Muskelvolumen 
entspricht. Besonders schwach sind die Muskeln der Arme, mit Ausnahme 
der Heber der Schultern, und vor allem die mageren Muskeln der Vorder¬ 
arme und hier wieder in erster Linie die Strecker. Die Finger kOnnen 
nur unvollkommen extendiert werden. 

Alle Bewegungen haben, nach Ablauf der anfanglichen myotonischen 
Hemmung, fttr gewbhnlich etwas Sclilatfes, Schleuderndes. 

Die myotonische BewegungsstOrung ist fast liber die gesamte 
Muskulatur verbreitet. „Pseudo-Grafesches“ Phiinomcn wie bei R. Frci 


*) Die Literatur, die iiber diesen Fall existiert, siehe bei Jensen, Deutsches 
Arch. f. klin. Med. Bd. 77. — Siehe ferner Schultze, Deutsche med. Woehen- 
schrift. 1897. Ver.-Beil. S. 184. — Schiefferdecker-Schultze, Deutsche Zeit- 
schrift f. Nervenheilkunde. 25. Bd. — Steinert, 1. c., ID**4. — Berg, Mtiskcl- 
atrophie bei Thomsenscher Krankheit. Diss. Bonn 1904. 

Deutsche Zeitschrift f. Nerveulieilkuude. 37 . bd. 5 


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VI. STEINERT 


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sind alle Muskeln der Augiipfel und das Gebiet dcs Stirnfacialis. Audi 
das Schlucken, Sprechen und Atmen ist ungestOrt. 

Mechanische Erregbarkeit. Fast samtliche Muskeln geben auf 
Beklopfen nachdauernde Kontraktionen. Nur im Stirngebiet, in den Kau- 
muskeln und - in den Erectores trunci fehlt diese mechanische MyoR. 

Die mechanische Erregbarkeit beider Nervi faciales ist gesteigert. 

Elektrische Erregbarkeit. Nirgends EaR. 

Faradische Untersuchung. Nerven: Quantitativ in den Radiales 
vielleicht leichte Herabsetzung, sonst normal. Langsamer Tetanusanstieg. 
Bei starken Strdmen tlberall, ausser im Stirnast des Facialis, Nachdauer. 

Muskeln: Uberall — in den unteren Extremitftten erst bei slarkeren 
Stromen — Nachdauer. MyaR im linken Daumenballen. 

Galvanische Untersuchung. Nerven: Quantitativ normale Ver- 
haltnisse. Uberall myotonische Nachdauer, ausser bei Reizung des Facialis- 
stirnastes und des Radialis. 

Muskeln: Audi hier keine erheblichen quantitativen Anomalien. Bei 
stiirkeren StrOmen Qberall Nachdauer. In der Radialisgruppe der Unter- 
arme sind jedoch extreme Stromstiirken notig, urn sie hervorzurufen. 

In einigen Muskeln der Streckergruppe an beiden Unterarmen findet 
sich bei normaler quantitativer direkter und indirekter Erregbarkeit for beide 
Strcime eine exquisit wurmformige KSZ und ASZ bei direkter galvanischer 
Reizung, dagegen ist die AOZ vollig prompt. Nach einer Anzahl von Rei- 
zungen kommen auch auf Schliessungsreize vollig prompte Zuckungen. Die 
betr. Muskeln geben keine MyaR, wold aber bei starkeren faradischen 
und selir starken galvanischen Stromen die gewohnliche Form der mvo- 
tonischen Reaktion. 

Auch bei diesen Kranken begegnen wir der eigenartigen, auch im 
Fade 1 beobachteten Erscheinung, dass niimlich in einer Anzahl von Mus¬ 
keln der oboren Extremitiiten der minimale Reizeffekt schon den Cbarakter 
des Tetanus triigt. Es gilt dies wiederum hauptsachlich fftr die AS-Reizung, 
so dass wir bei den schwaehsten wirksamen Stromen ASTe neben KSZ, 
gelegentlich aber auch ASTe und KSTe linden, wohci der ASTe bei einem 
nocli etwas selnvacheren Strome als der KSTe eintritt. Dieser miuimale 
Tetanus iiberdauert hier und da auch schon die Reizungsfrist etwas, so 
dass also schon bei der minimalen, tiberhaupt wirksamen Reizgrosse MyoR 
besteht. 

Aus dem Norvenstatus ware sonst nur noch hervorzuheben, dass 
die Patellarsehnenretloxe etwas schwach waren, was die Folge einer 1899 
bei dem Kranken vorgcnommenen blutigen Dehnung beider Crurales 
sein kann. 

Als nicht uninteressante Nebenbefundc ldeiben uns noch einige 
Anomalien im Bereich des Gelenkapparats zu erwidinen tlhrig. Zuniichst 
eine pathologische Stellung der Humoruskopfe, die nach vorn verlagert 
erscheinen. In den beiden Schultergelenken Ivrepitation und eine erlieb- 
liche Einschrankung der Beweglichkeit. Ferner ist die voile Extension 
der Ellenbogen nieehaniseh etwas behindert. Endlich besteht eine leichte 
Subluxation des Carpalgelenks des reehten Daumens, durch die cr habituell 
in leichter Opposition steht. 

Es gelang uns auch mittels des Rontgenverfahrens und mit speziali- 
stischem chirurgisehen Beirut nicht. diese Anomalien befriedigend zu erkliiren. 


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Myopathologische Beitriige. 


67 


An der Beugeseitc des linken Yorderarms eine jedenfalls als Sehnen- 
scheidenschwellung zu deutende l&ngliche wulstfdrmige Prorainenz. 

Ausgesprocbener Dermatographismus. Bei mftssig tiefen Nadel- 
stiehen fliesst kein Blut, um die StichOffnung herum bildet sich ein linsen- 
grosser weisser Fleck, genauer gesagt, ein ganz flacber Wall, der sich erst 
nach einiger Zeit rotet. Diese wohl auch sonst bei starkem Dermato- 
grapbisraus sich findende Erscheinung ist von Kron*) einmal bei Myotonic 
geseben und speziell beschrieben worden. 

Pall 4. M. H., 36 Jabre alt, Buchdrucker, Bruder des folgenden 
Falles.**) Weitere Myotoniefalle sind in der Familie nicht rait Sicherheit 
nacbweisbar. 

Als Kind war Pat. „der dickste in der Schule und sebr kraftig“. Seit 
der Lebrzeit ist er allgemein abgemagert. Seit etwa 6 Jahren bemerkt 
er eine Schwache und Abmagerung der rechten Hand und etwa ebenso- 
lange das myotonische Verhalten derselben. Yiel spater seien dieselben 
Erscheinungen auch in der linken aufgetreten. In den letzten Jabren ist 
dem Kranken eine Veranderung seiner Sprache und eine mehrere Winter 
hinter einander sich zeigende Neigung zum „Erfrieren“ der Hande auf- 
gefallen. Die Angaben sind anscbeinend nicht reclit zuverlassig. 

Status: Grosser, sebr magerer Mann. Die Behaarung von der Stirn 
zurhckgewichen, Scheitel fast kahl. Seborrboea sicca der Kopfhaut. 

Wir stellen zunachst wieder die Hauptbefunde zusammen: 

1. Die Erscheinungen der Dystrophie. Typische Facies myo¬ 
pathica. Die Kaumuskeln dtlrftig und schwach. Wir fOgen gleicb binzu, 
dass die Kiefergelenke beim Offnen des Mundes schmerzen. Ferner sind 
die Halsmuskeln und in besonders hohem Grade die Sternocleidomastoidei 
abgemagert und paretiscb. Die Daumenballen fast vollig geschwunden und 
gelabmt. In geringerem Grade dystrophisch sind die Interossei der Hande. 
Die Fingerstreckcr sind ausgesprochen paretiscb. 

Die Sprache ist leise, etwas verwaschen, in tlbermittlerer Tonlage. 

2. Myotonische Erscheinungen. Von den willktlrlichon Bewe- 
gungen ruft nur der Handschluss ein deutliches myotoniscbes Pbanomen 
hervor, und zwar tritt es schon bei sanften, jede Kraftanstrengung ver- 
nieidenden Bewegungen ein und verscbwindet auch nach hautiger Wieder- 
holung nicht. 

Contralaterale Mitbewegungen beim aktiven Handschluss sind nachweis¬ 
bar. Ich erwahne sie, weil Passler, als er den Kranken beobachtete, sie 
vermisst hat und das ausdrticklich hervorbebt. 

Mechaniscbe Erregbarke.it. Sebr ausgesprocbenes myotonisches 
Verhalten der Zunge, Andeutungen in einzelnen Muskeln der Anne, viel- 
leicbt auch des Gesichts. 

Rechts Chvosteks Facialispbanomen. 

Elektrische Erregbarkeit. Die elektriscbe Erregbarkoit der 
Daumenballen ist erloschen, sonst nirgends sebr erbebliche quantitative 

*) Berliner klin. Wochensclir. 18HS. 

**) Beide Bruder demonstriert. von Piissler auf der XILVersammlung niittel- 
deutscher Neurologen und Psychiater zu Dresden. Kef. Is’eurolog. Zentralldatt. 
1906. S. 1064. 

5 * 


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VI. Steixert 


Anomalien. Nirgends EaR. MyoR nur von den Nervi mediani aus und 
nur mit starken faradischen StrOmen. 

In einzelnen Muskeln an den oberen Extremitaten fanden wir bei 
direkter galvanischer Reizung ausgesprochene Zuckungstrftgheit, die aber 
nach einigen wiederholten Reizungen verschwand, um vdllig prompten Kon- 
traktionen Platz zu machen. Wie wir seben werden, handelt es sich dabei 
wohl um eine eigenartige Form myotoniscber Reaktion. Nachdauer der 
Kontraktion, MyoR im gewGhnlichen Sinne konnte, wie scbon ausgedrQckt, 
bei direkter Reiznng nirgends beobachtet werden. 

Hier und da (Interossei, Flexor carpi rad. dext.) trat schon beim 
minimalen wirksamen Reiz eine tetaniscbe Kontraktion ein, an Stelle der 
zu erwartenden KSZ schon ein KSTe, sei es, dass die anfangs zuckungs- 
fdrmig verlaufende Kontraktion in ihrem absteigenden Schenkel in einen 
niedrigen Tetanus Gberging, sei es, dass der Muskel auf der Hebe seiner 
Kontraktion bis zur StroraOffnung verharrte. 

Von den sonstigen Befunden nennen wir zunachst die an den 
inneren Organen. 

Kleine parenchymatGse Struma. 

Chronische Lungentuberkulose. 

Mitralinsuffizienz. 

Starke peripberische Arteriosklerose. 

Atrophie der Testes. Varicocele links. Libido und Potenz, die frflher 
normal waren, vollkommen erloschen. 

Im Blute zahlreiche basophil gekOrnte Erythrocyten. (Der Kranke 
hat frtther an Bleikoliken gelitten.) 

Vom Nervenstatus ist nur noch zu erw&hnen, dass an beiden Ober- 
schenkeln die typischen Zeicben der Meralgia paraesthetica — angeblich 
seit Jahren — bestehen. 

Wenn der Kranke sich bGckt, tritt in der Glutaalmuskulatur ein 
fascikulares Wogen auf. 

An den Handen ist das haufige, von einem GefGhl des Absterbens be- 
gleitete leichenhafte Erblassen der Finger auffallig. 

Fall 5. R. H., 34 jiihr. Steinschleifer, Bruder des vorigen. 

Vor ca. 10 Jahren bemerkte Pat. eine Schw&che seiner Arme, die all- 
mablich zunahm, so dass er 1 Jahr nach dem Auftreten der ersten Sym- 
ptome seine Berufsarbeit einstellen musste. 

Um diese Zeit kamen nun auch noch neue StGrungen im Gebrauch 
der Hande binzu, die nach der ganz charakteristischen Schilderung des 
Patienten sofort als myotonisch angesprochen werden mttssen. Zur gleichen 
Zeit wie in den Handen merkte der Kranke auch beim Gehen und beim 
Kauen gleicbartige Steifigkeitsbeschwerden. 

Bald nachher soli die Abmageruug seiner Hande und Arme begonnen 
haben. 

Er klagt endlich noch fiber hantiges und leichtes Erfrieren (Rot-, 
Wund- und Taubwerden) seiner Finger und Zohen in winterlicher Kalte. 

Status: Kleiner, sehr magerer Mann, dfirftige Kopfbehaarung wie 
beim Bruder. 

Erscheinungcn der Dystrophic. Facies myopathica. 

Doppelseitige, angeblich von jelier bestehcnde, vielleicht angeborene, 
hochstens in den lctzten Jahren etwas verschlimmcrte I’tose. 


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Myopathologische Beitrage. 


69 


Atrophie and Parese der Kaumuskeln. Beira Offnen des Mundes rfickt 
das linke Capitulum mandibulae in pathologisckem Grade weiter nach vorn 
als das rechte. 

Atrophie nnd Parese der Sternocleidomastoidei. 

Die gesamte Muskulator der Arme ist stark und annahernd gleich- 
mfissig abgeniagert und schwach. Der rechte Daumenballen ist fast vollig 
geschwunden und gelahmt. 

Die myotonische StOrung der willkfirlichen Bewegungen ist nur 
beim Handschluss deutlich zu beobachten. Sie zeigt dieselbeij Besonder- 
heiten, wie wir sie beim Bruder geseben baben, dass sie auch beim vor- 
sichtigen Schliessen der Faust auftritt und nach bfteren Wiederholungen 
uicht. uachlasst. 

Die mehr subjektiv empfundene als recht demonstrable myotonische 
Steitigkeit in den Beinen tritt dagegen nur bei anstrengenden Bewegungen, 
wie Treppensteigen, und erst beim 8. oder 4. Schritt ein, um nach eiuigen 
weiteren wieder zu verschwinden. 

Mechanische Erregbarkeit. Mechanische MyoR nur in der Zunge. 
Beiderseits Chvosteks Facialisphanomen. 

Elektrische Erregbarkeit. Die Erregbarkeit des rechten Daumen- 
ballens ist nahezu vollstfindig erloschen. Sonst finden sich keine sehr er- 
heblichen quantitativen Anomalien. 

Nirgends echte EaR. 

MyoR in manchen Muskeln der Arme, vielleicht am deutlichsten in 
den Beugern am Unterarm, und zwar bei starker direkter und indirekter 
faradischer und direkter galvanischer Reizung. Auch beim Einschleichen 
des galvanischen Stroms tritt die nachdauernde Kontraktion ein, wie 
Passler bemerkt, aber nach unsereu Beobachtungen doch nur bei einer 
Geschwindigkeit der Stromstfirkeanderung, die auch beim Gesunden Mus- 
kelkontraktionen auslust. Wegen des etwas ungewohulichen Verhaltens 
des myotonischen Phanomens beim willkfirlichen Handschluss heben wir 
bier besonders hervor, dass nach wiederholten elektrischen Reizungen die 
Nachdauer aufhbrte. 

Auch in diesem Falle wieder beobachteten wir mehrfach, dass als 
Etl'ekt des miniinalen wirksanien galvanischen Reizes keine Zuckuug vom 
gewbhnlichen Verlaufe auftrat, die abschwellende Zuckung ging vielmehr 
in einen niedrigen Tetanus fiber. Bei starkeren Strbmcn bekam man einen 
Tetanus gewOhnliclier Form, schliesslich auch Nachdauer. 

Die Interossei der Hftnde gaben eine Pseudoentartungsreaktion. Bei 
labiler galvanischer Reizung der Muskeln erhielten wir eine exquisit wurm- 
furmige Zuckung. Die niihere Untersuchung zeigte, dass es sich um 
einen trfige ansteigenden und auch nur triigc wieder abschwellenden KSTe 
und ASTe handelle, die beide zugleich beim miniinalen Reizwert (1,8 M.-A.J 
eintraten. Die Tragheit blieb auch bei wiederholten Reizungen bestehen. 
Bei starkeren faradischen und galvanischen Strbmcn trat Nachdauer auf. 

Von sonstigen Befunden, zuniichst an den inneren Organen, 
ist nur weniges nachzutragen. Die Brust- und Bauchhbhle ergeben nor- 
male Befunde. 

Interessanterweise haben wir bier wieder eine Atrophie der Testes. 
Libido und Potenz siud erloschen. Links Varicocele. 


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VI. Steinert 


Die weitere Untersuchung des Nervensystems ergab nichts Be- 
merkenswertes. 

Der rechte Zeigefinger ist durch eine posttraumatische Narbenkon- 
traktur ulnar abduziert und in der Streckung der ersten Phalanx etwas 
behindert. Auch in den flbrigen Fingcrn der rechten Hand ist die Streckung 
der Metacarpophalangealgelenke leiclit beeintr&chtigt, vielleicht durch eine 
beginnende Dupuytrensche Kontraktur. 

Pall 0 . R. B., 32jahriger Arbeiter. 

Anamnese: Vater an Phthise, Mutter nach langj&hrigem Aufenthalt 
in der Irrenanstalt gestorben. Von den Geschwistern ist keins fiber 
16 Jahre alt geworden. Uber das Vorkommen von Myotonie in der Fa- 
milie ist nichts bekannt. 

Patient ist wegen Krampfadern milit&rfrei. 

Angeblich seit einer 1902 erlittenen Brustquetschung besteht ein 
Lungenleiden. 

Eine Schwiiche seiner Hfinde und Arme fiel dem Kranken schon in 
der Schulzeit auf. Er konnte schlecht festhalten, nicht klettern. 

In der Lehrzeit bemerkte er zuerst eine Erschwerung der HandOffnung 
nach dem Zufassen. Seit Jahren ist manchmal im Beginn des Sprechens 
die Zunge steif, so dass er kein Wort herausbringt. Im letzten Jahr ist 
eine Shnliche Steifigkeit auch im linken Bein vorgekommen, fast nur beim 
Treppensteigen, selten beim Gehen auf ebener Erde. Das rechte Bein war 
nie betroffen. Dass gerade das linke befallen ist, schiebt er auf eine An- 
zahl chirurgischer Krankheiten, die er vor Jahren gerade an diesem Bein 
durchgemacht habe (2 „GeschwQre“, 1 Abszess, eine Verletzung mit der 
Sense). 

Seit einer im Jahre 1905 erlittenen Verletzung der linken Schulter 
(nach den mir gUtigst zur Einsicht tiberlassenen Unfallsakten wahrschein- 
lich einer Luxatio humeri) hat sich nach der Angabe des Kranken eine 
wesentlich stiirkere Storung in der Gebrauclisfiikigkeit besonders der linken, 
aber auch der rechten Hand entwickelt. Hiinde und Vorderarme sind ab- 
geinagert, die linke Hand konnte bald nicht melir vollstilndig geschlossen 
werden. 

In den vorliegenden firztlichen Berichten ist die Myotonie nicht er- 
vahnt und lediglich von einer Erkrankung des linken Arms die Rede, die 
auf Verletzung peripherischer Nerven bezogen worden ist. Es soli EaR 
festgestellt worden sein. Pat. bezieht, eine Unfallrente. 

In den letzten Jaliren — so lauten weiter die Angaben des Kranken — 
ist sein Gesicht mager, sind die Lippen dick geworden. Doch schon 1902 
sei ilnn gesagt worden, dass er mit offenen Augen schlafe. 

Ebenfalls in den letzten Jahren hat die Potenz stark abgenommen. 
Libido felilt jetzt vdllig, Pollutionen kommen gar nicht melir, Erektionen 
nur noch selten vor. Seine Hoden sind kleiner geworden. 

In der letzten Zeit fallen ihm seine grossen Ilarnmengen auf. Es be¬ 
steht alier keine Nykturie. 

Im Winter 1902/3 hat er einmal die linke Hand erfroren. Seit dem 
Unfall von 1905 fallt ihm auf, dass die Hand, besonders in der Kiilte, 
leiclit dick und blau wird. 

Befund: Abgemagerter Mann von unregelmiissiger Schfidelform und 


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Myopathologische Beitrage. 


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Zahnbildung, Progenie, eigentflmlicher Zungenform (an Stelle der Spitze 
eine Einkerbung.) Dllrftige Scheitelbehaarung. 

Dystrophische Erscheinungen. Facies myopathica. 

Vom Platysma ist beiderseits nichts nachzuweisen. 

Die Zunge — abgesehen von ihrer Missform — gerunzelt, diinn, 
ausserordentlich schlafF. 

Die Temporales sehr mager, vielleicht dystrophisch. 

Die Sprache leicht nasal, aber wohl infolge der bestehendeu adenoiden 
Vegetationen und Nasenmuschelschwellungen. 

Hochgradigc Atrophie und fast vOllige Lahmung der Sternocleido- 
mastoidei. 

Hocligradige Abmagerung und entsprechende Parese bcider Vorder- 
arme, besonders der Streckmuskeln. Die Brachioradiales vollig oder fast 
vollig geschwunden. 

Links sind auch die kleinen Handmuskeln atropbiscb. 

Auf die UnraOglichkeit, die linke Hand vbllig zu schliessen, kommcn 
wir noch zurflck. 

Myotonische Erscheinungen. Die typische myotonische StOrung 
der intendierten Bewegungen ist in der Zunge und beim Schluss der Finger 
deutlich zu beobachten. 

Mechanische Erregbarkeit. Mechanische MyoR in der Zunge, 
den Musculi bicipites brachiorum, den Beugemuskeln an den Vorderarmen, 
den kleinen Handmuskeln. 

Beiderseits Chvosteksches Phanomen. 

Elektrisches Verhalten. Herabaetzung der Erregbarkeit der dys- 
trophischen Muskeln. Nirgends EaR. 

MyoR bei direkter faradisclier Reizung in denselben Muskeln, die 
auch mechanische MyoR gaben, in den Beugern am Unterarm auch bei 
indirekter faradischer Reizung. Bei direkter galvanischer Reizung konnte 
MyoR in der Zunge und in den kleinen Handmuskeln nachgewiesen werden. 

Innere Organe. Tub. pulmonum. 

Herztfine sehr leise. Zeitweise Bradykardie. 

Hoden stark atrophisch, von Sperlingseigriisse. 

Polyurie, bis ca. 4000 ccm taglich. Spez. Gew. um 1008, kein Eiweiss, 
kein Zucker. 

Vom Nerve ns tat us ist wenig nachzutragen. Es ist auffallend, dass 
von den Sehnen- und Periostredexen der oberen Extremitaten (Radius, 
Triceps, Biceps) nur der rechte Trieepsreflex deutlich ausliisbar ist, wahrend 
die Reflexe an den uutercn Extremitaten sich normal verhalten. 

Der Kranke friert ausserordentlich leicht und beginnt dann stark 
zu zittern. 

Grosse Neigung zu Crampis. 

Als eigeuartige Nebeubefumle sind merkwUrdige Sellnenkontrak- 
turen zu erwiihnen. Die Strecksehnen am linken Vorderarm sind verkUrzt, 
uodurch sich die Behinderung des Fingerschlusscs erklart. Auch die linke 
Bicepssehne ist leicht verkUrzt und dadurch die Streckung des Ellenbogens 
um ein weniges eingeschrankt. 

Die Endglieder beider Daumen stelien bestandig in llyperextension, 
ohne jedoch in dieser Stellung fixiert zu sein. 


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VI. Steinekt 


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Wer die Krankengeschichten dieser 6 Falle, auf die ich zunachst 
im einzelnen nicht weiter eingehen will, auch nur flfichtig durchsieht, 
wird iiberrascht aein, wie ausserordentlich diese Falle sich ahneln, wie 
geradezu stereotyp gewisse Zuge ganz eigener Art sich bei ihnen immer 
von neuem wiederholen. Wir kommen gleich darauf zurnck. 

Zunachst ist angesichts dieser Tatsache ein Blick auf die Litera- 
tur der mit Muskelschwund verbundenen Falle von Myotonie unerlass- 
lich. Es drangt sich da sofort die Notwendigkeit auf, wie es auch 
Hoffmann getan bat, aus dem ziemlich sparlichen Material die Falle 
von vornherein auszuscheiden, in denen die Muskelatrophie zweifellos 
den Charakter einer mehr oder minder zufalligen Komplikation tragt. 
Es sind dies zunachst die schon von Hoffmann abgelehnten 5 Falle, 
die er selbst*), die Dana, Deleage (2 Falle) und Bettmann publi- 
ziert haben. In dem Falle Hoffmanns und in einem, wenn nicht 
beiden von Deleage, hat es sich wohl um neuritische Affektionen ge- 
handelt, bei Dana um eine Muskelatrophie nach einem chirurgischen 
Eingriff und bei Bettmann vielleicht um einen angeborenen Defekt. 
Ebenfalls auszuscheiden sind die Falle von Braun (Fall 6 seiner Arbeit, 
der eine Bleilahmung bei einem Myotoniker betrifft), Wertheim-Salo- 
monson (anscheinend eine Komplikation mit cerebraler Kinderlahmung), 
Rindfleisch (Komplikation mit Syringomyelie), die ganz unklaren, 
nur kurz mitgeteilten Falle von Bregman und v. Voss (Fall 5 in 
dessen Arbeit), der anscheinend nie veroffentlichte, nur einmal in einer 
Diskussionsbemerkung erwahnte, von seinem Autor als Syringomyelie 
gedeutete Fall vou Frankl-Hochwart**). 

Ferner muss der Fall von Pelz (Fall 1 seiner Arbeit) unbertick- 
sichtigt bleiben, da klinisch eine eigentliche Atrophie nicht festzustellen 
war und der mitgeteilte anatomische Befund einer solchen mir nicht be- 
weisend zu sein scheint. Wenn wir allerdings hbren, dass der Patient eine 
Parese besonders der linken Hand, einen maskenhaften Gesichtsausdruck 
und augenscheinlich auch eine Kaumuskelschwache gehabt hat, so er- 
geben sich aus diesen und anderen Einzelheiten ftir den, der die nach- 
folgenden Ausfuhrungen bereits iibersieht, so enge Beziehungen zur 
Myotonia atrophica, dass ich personlieh nicht zweifle, dass der Fall in 
diese Gruppe gehort. Aber diese Auffassung liisst sich eben erst ruck- 
schaueud gewinnen und sie bleibt eine, wenn auch recht sichere 
Vermutung. 

Endlich iibergehen wir auch solche Falle, bei denen gar nicht mit 
Sicherheit von einer Atrophie, sondern nur davon die Rede ist, dass 

*) Zeitschrift f. Nervenlieilkunde. 9. Bd. S. 272 und Neurolog. Zentralbl. 
1895. S. 618. 

**) Wiener klin. Wochenschr. 1901. S. 722. 


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Myopathologteche Beit rage. 


73 


etwa die Vorderarme verhaltnismassig mager gewesen seieD, wenn 
schon da, wie spater klar werden wird, sicher das erste Stadium einer 
myotonischen Dystrophie vorgelegen haben kann. 

Ich moehte auf diese aus der folgenden Besprechung ausgeschlossenen 
Falle nicht noch einmal zuriickkommen und deshalb gleich hier bei- 
laufig erwahnen, dass diese Gruppe doch mancberlei Beachtenswertes 
bietet In 3 oder 4 Fallen sind neuritische Affektionen anzunehmen 
gewesen. Wir werden noch 2 Falle kennen lernen (Lannois, Schon- 
born), in denen neben einer echten Myotonikerdystrophie vielleicht 
noch eine neuritische atrophische Parese als Komplikation bestand. 
Auch unser Fall 4 hat eine neuritische Erkrankung, die doppelseitige 
Meralgia paraesthetica. Jedenfalls wird man die Haufigkeit der peri- 
pherisch-neuritischen Komplikationen als auffallend bezeichnen durfen. 

In einem der Falle wurde ein Muskeldefekt als augeboren aufge- 
fasst. In dem Vossschen Falle von myotonischer Dystrophie bestand 
ein sicher angeborenes Fehlen eines Teils der Bauchmuskulatur. Das 
wiederholte Vorkommen angeborener Missbildungen des Muskelappa- 
rats bei einer Krankheit, die ohnehin den dringenden Verdacht einer 
endogenen Anomalie der Muskelanlage erwecken muss, darf gewiss 
auf Beachtung Anspruch machen. Voss erinnert bei dieser Gelegen- 
heit daran, dass Steche in der Zeitschrift ftir Nervenheilkunde (Bd. 28, 
S. 250) von einem Madchen mit progressiver Dystrophie zu berichten 
weiss, dessen Mutter einen vielleicht kongenitalen partiellen Defekt 
eines Cucullaris aufwies. Leider ist die Deutung des Falles ganz frag- 
lich. Jedenfalls warden solche Zusammenhange. wenn sie ofter zu 
finden waren, auf die PathogeDese der familiaren Myopathien ein inte- 
ressantes Licht werfen konnen. In der Literatur ist ja von Beziehungen 
zwischen progressiver Muskeldystrophie und kongenitalen Muskel- 
defekten ofters die Rede.*) Einwandfreies Material habe ich aber 
nirgends gefunden. 

Uber Missbildungen uberhaupt und sog. Stigmata degenerationis 
wird bei Thomsenscher Krankheit, soviel ich sehe, ohne die Literatur 
speziell daraufhin dureharbeiten zu konnen, nicht haufig berichtet. 
Wir wollen im Anschluss an den eben erwiihnten Punkt doch gleich 
darauf hinweisen, dass im Bereich uuseres Materials einige Mai Dinge, 
die hierher gehoren, beobachtet worden sind. Gleich der eben er- 
wahnte Fall Voss hatte neben seiuem Bauch muskeldefekt und Kryptor- 
chismus noch eine Missbildung der Ohren. Unser eigener Fall 3 hatte 
ebeufalls ein missgebildetes Ohr, Fall 6 neben anderen Stigmaten eine 


*) Kalischer, Neurolo<r. Zentralld. S. 0S.3 u. 732. — Binjr, Deut¬ 

sches Archiv f. klin. Med. 83. Bd. S. 1 ! 19 . 


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VI. Steixert 


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Fonnanomalie der ZuDge. Im Sinne eines primaren Fehlers der Kor- 
peranlage konnte auch die Komplikation mit Syringomyelie gedeutet 
werden, von der, wie wir sahen, in 2 Fallen berichtet wird. In dem 
genauer bescbriebenen Falle Rindfleischs wird man sich der Diagnose 
des Autors anschliessen mnssen. Oppenheim erwahnt in seinem Lehr- 
bucb, dass eine Komplikation der Thomsenschen Krankheit mit psy- 
chischen Storungen, Epilepsie, Migrane usw., nicht ungewohnlich sei. 
Im Anschluss daran ware an die Hysterie unseres Falles 1 zu erinnern. 
Auch der Fall von Lortat-Jacob et Thaon ist w'ahrscheinlich 
hysterisch gewesen. 

Wir kehren nach dieser Abschweifung zu unserem Thema zuruck. 
In der Literatur bleiben noch 26 Falle tibrig. Ich mochte sie samt- 
licb, zum Teil im Gegensatz zu den Autoren, als myotonische Dystro- 
phie ansprechen. Es sind dies die 2 Falle von Hoffmann, 2 von 
Fuchs, 3 von Pelizaus, 2 von Furnrohr, je 1 Fall von Schon- 
born, Jolly, Cassirer, Kornhold (Obs. II), Jaquet, Bernhardt, 
Longard, Rossolimo, Frohmann, Hans Curschmann, Nogues 
et Sirol, Lannois (Fall 1), Schott, Gaupp, Lortat-Jacob et 
Thaon, Berg (Fall 3) und Voss. Ich mochte nicht diese Falle alle 
im einzelnen hier durchnehmen, glaube vielmehr durch eine Gesamt- 
nbersicht dieser und meiner eigenen Beobachtungen der Wertung und 
Deutung auch des Einzelfalles am besten zu dienen. 

Aus dem literarischen Material mochte ich zunachst 2 Falle, die 
beiden von Hoffmann beschriebenen Geschwister, herausgreifen und 
neben meine Beobachtungen stellen, weil die Ahnlichkeit hier *m 
grossten ist und am unmittelbarsten eiuleuchtet. In alien diesen 8 
Fallen tritt die Pradilektion bestiinmter Muskeln sehr deutlich hervor. 
Alle 8 haben eine Facies myopathica, wobei wir hinzufiigen mochten, 
dass wenigstens 6 von ihnen — um von unserem in dieser Beziehung 
nicht sicheren Falle Nr. 6 abzusehen — auch eine starke dystrophische 
Parese der Kaumuskeln haben. Bei alien sind von den Halsmuskeln 
allein oder vorzugsweise die Sternoeleidomastoidei befallen. Bei alien 
endlich bestohen dystrophische Prozesse an den oberen Extremitaten, und 
zwar sind iiberall gewisse distale Muskelgruppen, die Muskeln derVorder- 
arme oder die kleinen Handnmskeln, ganz ausgesprochen bevorzugt. 

Neben und nach den Pradilektionsmuskeln konnen dann freilich 
auch andere Gruppen befallen werden und schliesslich kann jenes Bild 
hoebgradiger allgeineiner Ainyotrophie entstehen, wie wir es in Fall 2 
vor uns batten. 

Mit der Entwicklung des Muskelschwunds gingen iiberall wie bei 
den allgemein bekannten Formen progressiver Dystropliie die ent- 
sprechenden Storungen in der Funktion der Muskeln parallel. 


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Myopathologische Beitrage. 


75 


Der durch die Bevorzugung desHand-Vorderarmgebiets, derSterno- 
cleidomuskeln und des Gesichts ausgezeichDete Verteilungstyp ist in 
hokem MaBe charakteristisch ftir die Muskelatrophien der Myotoniker. 
Unter anderen Bedingungen ist eine gleiche Verteilung kaum beschrie- 
ben worden. Nur in einem eigentumlichen Falle einer Myopathie, 
den Baumler und Rein hold beschrieben haben, und der durch spon- 
tane Zungenkrampfe und seltsame Schwankungen im Grade der funk- 
tionellen Storungen ausgezeichnet ist, finde ich ein analoges Bild. Als 
mir der Fall 6 dieser Arbeit als ein Dystrophiefall von ungewohnlicher 
Art vorgestellt wurde, sah ich mich durch eben die Verteilung der 
Atrophie sofort veranlasst, nach Erscheinungen der Myotonie zu for- 
schen, die dem behandelnden Arzte bis dahin entgangen waren. Sie 
liessen sich unscbwer finden. 

Ist es ein Typus Oder ist es der Typus der Muskelatrophien der 
Myotoniker, den wir hier vor uns haben? Ich nehme das letztere an, 
und es wird sich fragen, ob diese Annabme vor der Betrachtung des 
tibrigen vorliegenden Materials bestehen kann. 

Es sind ausser den genannten noch 4 weit fortgeschrittene Falle 
beschrieben worden, von Nogues und Sirol, von Ftirnrohr (Fall 2 
seiner Arbeit) und 2 Falle von Fuchs. Leider erfahren wir tiber 
diese Falle nicht alles, was zu wissen wfinschenswert ware. In dem 
erstgenannten liegt nur ein fragmentarischer Status vor, der sich anf 
die Bescbreibung der Atrophie von Arm- und Beinmuskulatur be- 
schrankk Allerdings scheint das beigegebene Bild uber eine hoch- 
gradige Atrophie der Gesichts-, Kau- und Halsmuskeln keinen Zweifel 
zu lassen. Auch im Falle Ffirnrohrs handelt es sich um eine extreme 
Ausbreitung der Atrophie, die kaum einen Muskel am ganzen Korper 
verschont hatte. Diese beiden Falle bieten also das terminale Stadium 
unseres Falles 2, nur dass wir leider nicht darfiber unterrichtet werden, 
ob bei der Entwicklung dieser Bilder die Bevorzugung uuserer Pradi- 
lektionsmuskeln deutlich hervorgetreten ist Jedenfalls wird aber auch 
nichts mitgeteilt, was diese Falle von unserem Typus unterschiede. 
Hat schon die finale, ganz diffuse Atrophie an sich etwas Eigenartiges, 
so kommen ffir den Fall Ffirnrohrs, fiber den wir genauer orien- 
tiert werden, noch einige absonderliche, zum Teil spiiter noch zu er- 
wahnende Einzelheiten des klinischen Bildes in Betracht, die seine 
Zugehorigkeit zu unserer Gruppe erharten. Ich nenne bier nur die 
Hodenatrophie, von deren verhaltuismiissig hiiufigeni Vorkommen bei 
unseren Fallen auch noch weiterhin die Bede sein soli. Die beiden Falle 
von Fuchs werdenains nur kurz geschildert, aber es ist dock so viol 
ersichtlich, dass sie eine Atrophie der Gesichts-, Hals- und Armnniskeln 
hatten. Von dem einen wird ausdrficklick hervorgehobeu, dass die 


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76 


VI. Steinert 


Sternocleidomastoidei und die Vorderarmmuskeln besonders befallen 
gewesen seien, der andere babe sich im ganzen ebenso verhalten. Es 
scheint also kaum zweifelhaft, dass auch diese Falle das von uns als 
charakteristisch erkannte Verhalten dargeboten baben. 

Diejenigen Falle, fiber deren Entwicklung wir ausreichend unter- 
richtet sind, lehren uns, dass der regelmassige erste Ort des atrophi- 
scben Prozesses an den distalen Teilen der oberen Extremitaten, an 
den Vorderarm- oder kleinen Handmuskeln zu suchen ist. Wir werden 
also den Tatsacben keinen Zwang antun, wenn wir Falle, in denen 
die Atrophie auf diese Stellen mehr oder weniger beschrankt ist, als 
initials Falle des typischen Prozesses ansprechen. Hier kommen zu- 
nachst die Beobachtungen von Bernhardt, Jolly, Jaquet, Lon- 
gard, Hans Curschmann und Gaupp in Betracbt. Die Patienten 
sind meist junge oder doch noch nicht lange von dem Muskelschwund 
befallene Individuen. Neben den Hand- oder Vorderarmmuskeln 
waren in den Fallen Gaupps und Jaquets auch die Deltoidei oder 
Teile derselben betroffen. In den Fallen von Bernhardt, Gaupp und 
Hans Curschmann war scbon die Tragheit der Mimik den Autoren 
aufgefallen, ohne dass sie sich aber entscblossen batten, sie als sicher 
pathologisch zu betracbten. 

Es sind nun noch einige weitere Falle in der Literatur beschrieben 
worden, bei denen von den Pradilektionsmuskeln und fiberhaupt im 
Bereich der oberen Korperhalfte nur erst Hand- und Vorderarmuskeln 
erkrankt waren, wahrend doch scbon einige Muskeln der unteren Ex¬ 
tremitaten eine deutliche Atrophie erkennen liessen. Wir wollen schon 
hier hervorheben, dass die Beteiligung der unteren Extremitaten in 
jedem Stadium des Prozesses eintreten kann, insofem also einer be- 
stimmten Regel nicht folgt. Wir kommen auf diesen Punkt spater 
zurfick. 

Es ist hier zunachst Fall 1 von Ffirnrohr zu nennen, bei dem 
neben einer Atrophie der Vorderarme, vielleicht auch der Daumen- 
ballen, eine Abmagerung an der Vorderseite beider Oberschenkel 
festgestellt worden ist Im Falle Korn ho Ids fand sich neben der 
Dvstrophie der Hand- und Vorderarmmuskeln an den Beinen eine 
leichte Atrophie eines Teils der Muskulatur. Der Autor meint, dass auch 
eine Schwliehe und Abmagerung der Sacrolumbales bestanden habe. 
In dem Falle Bergs (Fall 3 seiner Dissertation) war neben einer 
Atrophie der Unterarme und einer Schwache der Pectorales wieder 
eine Abmagerung im Gebiet der Quadricipites femorum zu beobachten. 
Frohmann beschreibt einen 19jahrigen Mann mit Atrophie der In- 
terossei der Hande und der Cucullares. Dazu meint der Verfasser 
in den klinisch nicht atrophisch erscheinenden Wadenmuskeln histo- 


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Myopathologiscke Beitrage. 77 

logisch atrophische Fasern in kornigem Zerfall nachgewiesen zu 
haben.*) 

Eine etwas besondere Stellung nehmen die Falle von Lannois 
nnd Schonborn ein, in denen von „Steppage“, doppelseitiger Pero- 
neuslahmung, berichtet wird, wahrend im iibrigen die Atrophie auf 
die Vorderarme bezw. Vorderarme und Hande beschrankt war. In 
diesen beiden Fallen hat die Entwicklung der Peroneuslahmung das 
ganze Krankbeitsbild eingeleitet. Zum mindesten fttr den Fall Schon¬ 
born wird man aber die Moglichkeit nicht ablehnen konnen, dass es 
sich um eine komplizierende postinfektiose Neuritis an den Beinen ge- 
handelt hat. 

Haben wir so den voll entwickelten, weit fortgeschrittenen Fallen 
eine Qruppe initialer Falle gegenhberstellen konnen, die durch das 
mehr oder minder ausschliessliche Befallensein distaler Muskelgruppen 
der oberen Extremitaten charakterisiert sind, so schieben sich die 
iibrigen bekannten Beobachtungen als tlbergangsfalle zwischen djese 
beiden Gruppen zwanglos ein. 

Schon einzelne unserer initialen Falle deuteten den "Obergang an, 
in dem bei ihnen schon die Facies myopathica sich vorzubereiten schien. 
In dem Falle von Schott und bei den 3 Geschwistern, die Pelizaus 
beschreibt, ist nun die Facies myopathica neben der Atrophie distaler 
Muskeln der oberen Extremitaten, zu der sich bei den Kranken von 
Pelizaus wieder eine Atrophie der Deltoidei gesellte, mehr oder 
weniger vollstandig ausgesprochen. In Cassirers nur kurz mitge- 
teiltem Falle besteht neben einer ziemlich ausgedehnten Muskelatro- 
phie an den Armen eine solche der Gesichtsmuskeln, in Rossolimos 
auch noch der Kaumuskeln. Der Fall von Lortat-Jacob undThaon 
hat eine Atrophie der Muskeln der Arme und des Schultergiirtels, des 
Gesichts und der Zunge. Der Vosssche Kranke hat atrophische kleine 
Hand- und Vorderarmmuskeln und Stemocleidomastoidei, dabei einen 
„mttden u Gesichtsausdruck. Uberall also die eigenartige Pradilektion 
scharf ausgesprochen, der Ubergang zu den voll entwickelten Fallen 
unverkennbar. Wir sehen in einem Teil dieser Ubergangs falle wieder 
einzelne oder zahlreichere Muskeln auch der unteren Extremitaten mit 
ergriffen, bei Voss eine Atrophie an dem einen Unterschenkel, bei dem 
Fall von Cassirer sind die Glutaen, bei dem von Lortat-Jacob 
und Thaon Beckengurtel und vordere Oberschenkelmuskeln betroffen, 
der Kranke von Rossolimo hatte sogar eine diffuse Atrophie der Beine. 


*) Wer eine grossere Erfahrung in der Histologie meiiscliliclier Muskeln 
besitzt, wird mir freilich zugeben, dass man aus diesem Befuude nicht auf eine 
Muskelatrophie im klinisch-pathologisehen Sinne sehliessen kann. 


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VI. Steinert 


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Wenn wir das hiermit, soweit ich sehe, vollstandig vorliegende 
Material reslimierend Qberblicken, so wird trotz aller scheinbaren und 
wirklicben Verschiedenheiten der Falle doch die durchgehende Gesetz- 
massigkeit in Entwicklung und Lokalisation des atrophischen Prozesses 
nicht zu verkennen sein. 

Ausnabmslos sind in alien Fallen gewisse Muskelgruppen der oberen 
Extremitaten, die Muskeln der Vorderarme und die kleinen Handmus- 
keln, befallen, entweder die einen oder die anderen oder beide zusam- 
men. Hier bat, wie wir sahen, die Dystrophie in alien Fallen, deren 
Entwicklung wir genauer kennen, ihren Ausgang genommen. Hier 
finden wir auch in den weiter fortgeschrittenen Dystrophien immer 
die am starksten oder mit am starksten erkrankten Muskeln. Das 
zeigen unsere Beobacbtungen wie aucb die der Literatur, und nur in einem 
Falle, dem von Nogues und Sirol, ist die Schilderung so summarisch, 
dass wir liber die Einzelheiten nichts Bestimmtes aussagen konnen. 

Die Entwicklung geht im allgemeinen symmetrisch vor sich. In 
einzelnen Fallen ist die eine obere Extremitat geraume Zeit vor der 
anderen erkrankt, und zwar war dann fast immer die rechte zuerst be- 
troffen, wie in unserem Falle 4 und bei dem Patienten Schonborns. 
Auch spater noch sehen wir hier und da einzelne Muskeln des rechten 
Arms starker als die des anderen ergriffen. Im Falle 6 war die linke 
Extremitat vielleicht friiher, jedenfalls starker betroffen, anscheinend 
unter dem begunstigenden Einfluss eines Traumas. 

Die weitere Ausbreitung des Ubels geht sehr verschieden schnell 
vor sich. Manche Falle bleiben Jabre lang im Initialstadium. Auf 
die Atrophie an den Vorderarmen und Handen folgt die Entwicklung 
der Facies myopathica, wahrend gelegentlich auch schon andere Ge- 
biete an den Armeu und Schultern in Mitleidenschaft gezogen werden. 
Die Deltoidei waren in manchen Fallen besonders friih mit erkrankt. 
Es folgen weiter die Sternocleidomastoidei. Im Falle Voss waren sie 
— etwas abweichend von dem Verhalten der anderen Falle — schon 
atrophisch, ebe die Facies myopathica ganz deutlich ausgesprochen war. 
Ganz besonders oft siud in diesen Stadien auch die Kaumuskeln stark 
befallen. Schliesslich kaun, wie wir sahen, die Abmagerung die ganze 
Korpermuskulatur ergreifen. Die Pradilektion des Prozesses flir be- 
stimmte Gebiete wird dann wolil meist noch einigermassen kenntlich 
sein, so wie wir sie bei unserem Falle 2 noch auf dem Sektionstische 
bei der Besichtigung der Leiche festzustelleu vermochten. Vielleicht 
ist aber flir das Spiitstadium doch auch gerade die ausserordentlich 
diffuse, keinen Muskel ganz verschonende und verhiiltnismassig recht 
gleichmassige Ausbreitung der Dystrophie bis zu einem gewissen Grade 
charakteristisch. Dabei ist die Gebrauchsfiihigkeit der Glieder flir die 

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Myopathologisehe Beitrage. 


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leichtereD, einfacheren Leistungen des taglichen Lebens auch in den 
sehwersten Fallen, die wir kennen, leidlich erhalten geblieben. Zur 
volligen Lahmung ist es immer nur in vereinzelten Muskeln gekommen. 

Sehr schwer geschadigt, ja so gut wie vollstandig geschwunden 
sind in einer grosseren Zahl von Fallen die Daumenballen und die 
Brachioradiales gewesen. Ich nenne zum Beleg fur die ersteren unsere 
Falle 2, 4 und 5, fur die letzteren unsere Falle 1 und 6, die eine der 
Hoffmannschen Beobachtungen, die Falle von Cassirer, Fuchs und 
Voss. Auch Gaupp halt flir nOtig, den „Supinator longus" beson- 
ders zu erwahnen. 

Zu dem Entwicklungsgange, wie wir ihn geschildert haben, kann 
nun in jedem Stadium die Beteiligung der unteren Extremitaten hin- 
zutreten. In 2 Fallen ist eine atrophische Parese des Peroneusgebiets 
der Entwicklung der Dystrophie der oberen Extremitaten sogar voraus- 
gegangen, wir sahen aber, dass die Deutung dieser Vorkommnisse nicht 
absolut sicher ist. Teilen wir die fibrigen Falle unseren obigen Aus- 
fiihrungen entsprechend in 10 initiale, 12 voll entwickelte und 8 Uber- 
gangsfalle ein, so entfallen auf jede dieser Gruppen 4 Falle mit amyo- 
trophischen Veranderungen an den unteren Extremitaten, wobei aller- 
dings in dem eiuem der initialen Falle die Atrophie nur aus einem 
vieldeutigen mikroskopischen Befuude diagnostiziert worden ist. 

Unter den 4 Fallen der 2. Gruppe finden sich die drei, in denen 
es zu einer ganz allgeraeinen hochgradigen Atrophie gekommen war, 
alle 3 auch mit einer diffusen Atrophie der unteren Extremitaten (Fall 2 
dieser Arbeit, der 2. Fall Furnrohrs und der von Nogues et 
Sirol). Der 4., unser Fall 1, steht den eben genannten nicht viel 
nach, auch bei ihm waren schliesslich wohl die Muskeln der unteren 
Extremitaten samtlich nicht mehr normal, wenn auch vielleicht die 
Glutaen und die Dorsalfiexoren der Fiisse am starksten ergrilfeu waren. 

Auch unter den Ubergangsfallen, bei dem Patienten Rossolimos, 
begegnet uns noch einmal eine fast diffuse Dystrophie der Beine. In 
Cassirers Fall waren die Glutaen, in dem von Lortat-Jacob et 
Thaon Glutaen und Quadricipites, in dem von Voss der eine Unter- 
sehenkel betroffen. 

Von den initialen Fallen war bercits die Rede. 

Auch an den unteren Extremitaten scheint eine Vorliebe fur be- 
stimmte Muskeln unverkennbar zu sein. 

Dieser Umriss des kliuischen Bildes soil im Folgenden durch einige 
Einzelheiten ergiinzt werden. 

Auffallend haufig finden w r ir ausser der Gesichts- und Kaumuskel- 
atrophie noch weitere Stbrungen in bulbiiren Muskelgebieten. Die hbclist 
eigenartige, ganz gleiche Sprachstbrung unserer beiden ersten Falle hat 


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in der Krankengeschichte des Falles 1 ihre eingehende Darstellung 
gefunden. Wir glaubten ihre hauptsachlichen Zfige aus einer Dys- 
trophie der Keblkopf- und Gaumenmuskeln ableiten zu konnen. Den 
unsere Diagnose bestatigenden Sektiousbericht des Falles 2 geben wir 
am Ende dieser Arbeit. Fall 4 hatte eine verwaschene Spracbe. 
Cassirers Patient sprach bulbar und hatte Schluckstorungen. 2 von 
den 3 Fallen von Pelizaus sprachen undeutlich und nasal, alle 3 
hatten Schluckstorungen. Schotts Kranker sprach „schwerfallig u , 
Gaupps Patient „monoton“ und nasal, auch ein Fall Hoffmanns 
nasal. Schonborns Patient naselte von Jugend auf. Auf die nasale 
Sprache unseres Falles 6 ist kein Gewicht zu legeD, dagegen ist die 
Zuugenatrophie bemerkenswert, der wir auch bei Lortat-Jacob et 
Thaon begegnen. Jedenfalls haben mehr als ein Drittel aller be- 
kannten Falle noch abgesehen von der Facies myopathica Schwache- 
zustande in den Apparaten des Sprechcns und Schluckens. Ausser im 
Falle Schonborns ist eine Facies myopathica immer dabei, bei Gaupp 
ist wenigstens die Tragheit der Mimik notiert 

Im Bereich der Augenmuskeln kommt nur Ptose vor. Wir sahen 
sie in unseren Fallen 2 und 5, ferner wurde sie von Gaupp und von 
Furnrohr (bei seinem 2. Fall) beschrieben. Voss’Patient hatte tief- 
stehende Lider, die aber gut gehoben wurden. 

In Verbindung mit der Kaumuskelatrophie sind mehrfach Ano- 
malien der Kiefergelenke gesehen worden, habituelle Luxationen in 
den Fallen 1 und 2, leichtere Storungen in den Fallen 4, 5 und bei 
dem Patienten Rossolimos. 

Ein weiterer Punkt betrifft das Verhaltnis der Beuger und Strecker 
an den Unterarmen zu einander. Hans Curschmann hat besonders 
hervorgehoben, dass in seinem Falle nur gewisse Muskeln der Strecker- 
gruppe dystrophisch und paretisch waren, wahrend die myotonischen 
Erscheinungen sich auf deren Antagonisten, eiuige Beugemuskeln, be- 
schrankten. Vielleicht liegt hier doch nicht eine individuelle Eigen- 
heit des Falles, sondern nur ein besonders eklatanter Ausdruck einer 
auch sonst sich ofters wieder findenden Verteilungsweise vor. 

Was zunachst die myotonischen Phanomene anlangt, so nimmt in 
dieser Ilinsicht in alien meinen hier mitgeteilten Fallen das Gebiet 
der Strecker am Unterarm insbesondere den Beugern gegenuber eine 
Sonderstellung eiu. Ich habe das fiir die ersten 3 Fiille in meinem 
friiheren Bericht schou hervorgehoben. Viermal, in den Fallen 2, 4, 5 
und G, sehen wir wohl beim Schliessen, aber nicht beim Offnen der 
Finger eine inyotouisehe Steifigkeit eintreten, und in den beiden anderen 
Fallen /.eigen sich wenigstens bei der elektrischen Priifung die myo- 
tonischen Anomalien im Bereich der Streckmuskeln viel weniger voll- 


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Myopathologische Beitrage. 


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standig ausgebildet als in den Beugern. Also eine ausgesprochene Vorliebe 
der myotonischen Storungen fiir bestimmte Beugemuskeln, wie in dem 
Curschmannschen Falle, in alien unseren 6 Beobachtungen. tlbrigens 
tritt uns das auch in den nicht atrophischen Fallen von Thomsen- 
scher Krankbeit ofters entgegen. 

Dazu haben wir nun auch in drei von unseren Fallen (3, 4 und 6) 
Paresen ausschliesslich Oder vorzugsweise in antagonistiscben Muskeln, 
in der Streckergruppe. Zweimal ist die Ahnlichkeit mit dem Cursch¬ 
mannschen Falle besonders gross: in den Fallen 4 und 6 haben wir 
eine starke Parese der Fingerstrecker neben Myotonie der Fingerbeuger. 

Aber auch in der Literatur wird Ahnliches berichtet. In den 
Fallen von Voss und Gaupp bestand eine vorzugsweise starke Atro- 
phie und Parese der Strecker, wahrend das myotonische Phanomen 
besonders beim Schlus9 der Finger hervortrat. 

Wir verlassen die Frage der Verteilung der Dystrophie und wenden 
uns zu einer Anzahl ofters wiederkehrender Begleiterscheinungen. 

Zunachst ein Kuriosum, das zu der grossen ausseren Ahnlich¬ 
keit, die viele der Falle unter einander zeigen, immerhin beitragt: die 
partielle Kahlkopfigkeit. 5 von unseren 6 Fallen haben einen kahlen 
Scheitel. In der Literatur wird dasselbe gelegentlich ausdrucklich er- 
wahnt, in anderen Fallen ist es aus den beigegebenen Photogrammen 
zu erkennen (Falle von Hoffmann, Rossolimo, Nogues et Sirol, 
Lannois, Furnrohr). Bettmann wirft bei der Beschreibung seines 
Falles, der zu den von uns oben abgelehnten gehort, seltsamerweise 
die Frage auf, ob wohl eine Alopecie eine innere Beziehung zur 
Thomsenschen Krankheit haben konne. 

Sehr merkwurdig ist die Haufigkeit der Hodenatrophie. Wir haben 
sie viermal gesehen (Falle 2, 4, 5 und 6), und zweimal ist sie in der 
Literatur, namlich von Gaupp und im Falle 2 von Furnrohrs Arbeit 
beschrieben worden. In unserem Fall 2 war der Zustand seiner Hoden 
erst bei der Autopsie bemerkt worden. In unseren ubrigen 3 Fallen 
war die frtiher normale Potenz allmiihlich erloschen. Der Fall Gaupps 
scheint von jeher absolut impotent gewesen zu sein. Furnrohrs 
Kranker besass die Potentia coeundi noch, war aber kinderlos. 

Weiter sind die recht haufigen Storungen auf vasomotorischem 
Gebiete bemerkenswert. Bei den Brlidern H. (Fall 4 und 5 unserer 
Arbeit) bestand eine Neigung zum Erfrieren der Hiinde, der wir auch 
bei den Patienten Hoffmanns (Fall 1 der Arbeit) und Furnrohrs 
(Fall 1) wieder begegnen. Bei den beiden H. wurden ausserdem an- 
fallsweise die Finger unter unangenehmen Pariisthesien kadaveros bleich 
und kalt, besonders in der Kiihle. Auch dera genaunten Kranken 
Ftirnrohrs erstarrten die Hiinde leicht iu der Iviilte und waren immer 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkundo. 37. Bd. 6 


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VI. Steinert 


kalt Unser Fall 6 hatte ebenfalls seine linke Hand einmal erfroren 
und klagte, dass seine Hande, besonders die linke, leicht ganz blau 
warden. Dieser Mann war ganz abnorm frostig und geriet, wenn man 
ibn entblosste,in heftiges Zittern. Schonborns und Gaupps Patienten 
hatten livide, kuble Hande. 

Die tiefen Reflexe speziell an den Beinen sind bei der atrophischen 
Myotonie haufig herabgesetzt oder aufgehoben. Es zeigen das unsere 
Falle 1 und 2, die Beobachtungen von Rossolimo, Hans Cursch- 
mann, Nogues et Sirol, Kornhold, Voss und die beiden Falle 
Fiirnrohrs. Bei dem Kranken von L anno is fehlen ausserdem auch 
die Sohlenreflexe. In unserem Falle 6 bestand eine partielle Areflexie 
der oberen Extremitaten. Cassirer berichtet, dass in seinem Fall die 
Sehnenpbanomene an den Armen fehlten. Vielleicbt darf man die Er- 
scheinung ahnlich deuten, wie analoge Vorkommnisse bei der Myasthenie 
von mir*) und anderen gedeutet worden sind, als eine dem Grundpro- 
zess koordinierte, aus den gleichen ursachlichen Bedingungen hervor- 
gegangene Storung. Manehe Beobachter haben an eine tabische Kom- 
plikation gedacht, ohne aber klinisch ausreichende Anhaltspunkte fQr 
ihre Annahme beibringen zu konnen.**) Wir kommen bei Besprechung 
der pathologischen Anatomie auf diesen Punkt zuriick. 

Da wir eben von tabischen Symptomen sprecben, darf die leichte 
Inkontinenz der Blase in dem Curschmannschen Falle nicbt uner- 
w&hnt bleiben. 

Sensibilitatsstorungen sind bier und da beobachtet worden, leichte 
Gefuhlsvertaubung an den distalen Teilen der Extremitaten in unseren 
beiden ersten Fallen, ferner von Berg und Rossolimo. Grobere 
Ausfallserscheinungen waren immer durch Komplikationen bedingt. 
Bei den vorubergehenden schwereren Anasthesien unseres ersten Patienten 
und wohl auch in dem Falle von Lortat-Jacob et Thaon hat es 
sich um Hysterie gehandelt, in unserem 4. Falle um eine doppelseitige 
Meralgia paraesthetica. 

In einigen Fallen linden wir eigentlimliche Sehnen- und Gelenk- 
anomalien, wie sie wohl auch bei anderen Dystrophieformen gelegent- 
lich vorkommen. Dupuytrensche Kontraktur haben wir zweimal 
gesehen, in den Fallen 1 und 5, schwer zu deuteude Gelenkverandc- 
rungen im Falle 3, Sehuenkontrakturen eigener Art im Falle 6. 

Endlich wollen wir noch ganz beilaufig erwahnen, dass in 4 Fallen 
Strumen der Schilddruse gefunden worden sind: in unserem Falle l und 4, 
ferner von Gaupp und von Bernhardt. Eine leichte Milzschwellung 


*) Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 78. 

**) Vergl. diizu Hoffmann, Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 18. 


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Myopathologische Beitrage. 


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haben nur wir einmal gesehen (Fall 1). Die auffallende Polyurie 
unseres ersten Falles erinnerte uns an einen gleichen Befund in einem 
von uns beschriebenen Fall von Myasthenie.*) 

Wie sind nun diese Falle von atrophischer Myotonie zu 
deuten? 

1. Dass es sich um echte Thomsensche Krankheit handelt, ist 
nicht zweifelhaft Das hat vor allem auch Hoffmann betont. Melir- 
fach sind es ganz typische Falle von Myotonia congenita gewesen, die 
von der Dystrophie befallen worden sind, wie unsere Falle 2 und 3. 
In beiden waren die myotonischen Storungen fiber den ganzen Korper 
ausgebreitet, in beiden sind die Bescbwerden frfihzeitig hervorgetreten, 
in dem einen bestanden sie seit der Kinderzeit, bei dem anderen baben 
sie sich, wie so oft, in der Pubertats- und Lehrzeit manifestiert. So- 
viel wir horen, sollen in den Familien beider auch sonst Falle von 
Myotonie vorgekommen sein. Der Fall 3 ist wiederholt zum Gegen- 
stand prinzipieller Untersuchungen fiber die Thomsensche Krankheit 
gemacht worden. 

Wenn die Myotonie nun in einer ganzen Reihe unserer Falle 
weniger typisch in die Erscheinung getreten ist, so werden wir diese 
darum doch nicht von den Obrigen abtrennen mogen. Einmal zeigt 
schon der einheitliche Typus des dystrophischen Prozesses, das wir 
es hier mit einer in sich geschlossenen Gruppe zu tun haben, und 
weiter ist nicht zu ttbersehen, dass das Bild der echten Thomsen- 
schen Krankheit sich mit den Jahren erweitert hat, dass wir etwas 
abweichende Formen kennen gelernt haben, dass manche Eigentfim- 
lichkeiten, die wir bei dystrophischen Myotonien finden, auch sonst, 
bei nicht atrophischen Fallen, vorkommen, die schon durch ihre Farni- 
lienzugehorigkeit als echte Thomsensche Krankheit charakterisiert 
sind. Ich denke an das spate Manifestwerden der Thomsenschen 
Erscheinungen, an die geringe Intensitat und Ausbreituug der Storungen 
iu manchen Fallen. Als solche dfirftig, ja rudimentar entwickelte 
Myotonien nennen wir aus dem Kreise unseres Materials die Falle 
von Gaupp, Curschmann, Cassirer, unsere Falle 4 —6. Auffallend 
spat manifestiert hat sich die Myotonie bei unserem ersten Fall und 
bei dem Kranken Kornholds. Beide Patienten haben ihre ganze 
Militarzeit noch ohne irgend welche Storungen von seiten ihres Be- 
wegungsapparats durchgemacht Auch in den Fallen Jollvs, 
Cassirers und Rossolimos ist die Krankheit auffallend spat be- 
merkt worden. Endlich wird auch der mangelnde Nachweis der 
Familiaritat nicht gegen die Diagnose der Thomsenschen Krank- 


*) Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 7S. 

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VI. Steinert 


heit angeftihrt werden durfen, da ganz tjpische Falle gelegentlich iso- 
liert vorkommen. 

2. Die Myotonie ist das Primare in diesen Fallen. Auch hierin 
wird man Hoffmann nur beistimmen konnen. Die Dystrophie ist 
als eine Yerlaufseigentnmlichkeit mancher Falle von Thomsenscher 
Krankheit anzuseben. 

Einzelne Beobachtungen konnten fur sich allein allerdings im 
Sinne einer Prioritat und Superioritat der Dystrophie gedeutet werden. 
Wir begegnen einige Male der bestimmten Angabe, dass die myoto- 
niscben Erscheinungen erst hervorgetreten seien, als die Dystrophie 
scbon bestanden habe (Hans Curschmann, Kornhold, Lannois). 
In anderen Fallen (unsere Falle 4—6) war die Dystrophie weiter aus- 
gebreitet als die myotonischen Erscheinungen. 

Das Yerhaltnis zwischen Myotonie und Dystrophie ist aber in 
diesen Fallen nur scheinbar verschoben. 

Entscheidend ist, dass wobl Myotonien ohne Dystrophie, dass aber 
niemals — allem Anscheine nach — Dystropbien des hier vorliegenden 
Typus obne Yerbindung mit Myotonie beobachtet werden. Die An- 
lage zur Myotonie ist zweifellos angeboren. So mag es vorkommen, 
dass einmal die Anfange der Dystrophie die erste deutliche Ausserung 
dieser Anlage bilden. Dass die eigentlichen myotonischen Phanomene 
mancbmal erst recht spat in die Erscheinung treten, wissen wir ja 
auch aus sonstigen Erfahrungen. Dabei ist eins nicbt zu vergessen: 
wenn ein Kranker uns sagt, „seine Steifigkeit" oder sein „Krampf“ 
sei erst urn diese oder jene Zeit aufgetreten, so beweist das ganz ge- 
wiss nieht, dass die Myotonie vorher auch ftir eine sorgsame arztliche 
Untersuchung latent gewesen ware. Die myotonische Behinderung 
kann so gering sein, dass der Kranke sie kaum beachtet. In dem 
Falle Lortat-Jacob et Thaon wurde man erst bei der elektrischen 
Priifung der atropbischen Muskeln auf die myotonischen Phanomene 
aufmerksam, die daraufhin auch bei willkiirlichen Bewegungen nach- 
gewiesen wurden. In unserem Fall 6 veranlasste uns, wie gesagt, erst 
die Typizitat des Atrophiebildes, nach den Symptomen der Thom- 
senschen Krankheit zu fahnden. 

Endlich ware auch das verstandlich, dass das Auftreten dystro- 
phischer Schwachezustande mit den nunmehr erhohten Anforderungen 
an die Innervationsanstrengungen des Kranken gelegentlich zur Mani- 
festierung latenter myotonischer Veriinderungen beitriige. Wir wissen 
ja, wie gern myotonische Storungen gerade dann zu allercrst sich be- 
merkbar machen, wenn hdhere Anforderungen an die Kraftleistung 
des Kranken herantreten. 

Die Myotonie oder die myotonische Yeranlagung ist also der 


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Myopathologische Beitrage. 


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Boden, auf dem die Myotonikerdystrophie sich entwickelt; dass myo- 
tonische Erscheinungen umgekehrt sich erst auf der Grundlage irgend 
einer Dystrophieform herausbildeten, ware ubrigens auch ohne jede 
Analogie. L anno is hat eine zweite Beobachtung seiner Arbeit in 
diesem Sinne gedeutet. Doch ist die Annahme, dass die von ihm be- 
schriebenen Krampfe myotonische seien, keineswegs gentlgend begrlindet. 
Ebensowenig sind die Falle, die Magneval in diesem Sinne deutet, 
einwandfrei. 

3. Die Dystrophie der Myotoniker ist ein primar myopathischer 
Prozess. Dem voll entwickelten Bilde gegeniiber mit seiner Facies 
myopathica wird niemand eine andere Vermutung hegen, und damit 
ist nach unseren Ausfuhrungen der Schluss ohne weiteres gegeben, dass 
dieser Auffassung auch fttr die tibrigen Falle der Gesamtgruppe Geltung 
gegeben werden muss. Es ist immer wieder der vermeintliche Nach- 
weis von Entartungsreaktion gewesen, der zu abweichenden Erklarungen 
einzelner Falle gefuhrt hat. Daneben nattlrlich auch die grosse aussere 
Abnlichkeit, die das Bild des Initialstadiums mit den spinalen pro- 
gressiven Atrophien verbindet. 

Wie steht es nun mit den elektrodiagnostischen Befunden? 

Ehe wir uns zur Frage der Entartungsreaktion und ihrer Yortau- 
schung wenden, soil von einer anderen eigenartigen Erscheinung die 
Rede sein, die darin besteht, dass in manchen Fallen bei der direkten 
galvanischen Reizung eiuzelne Muskeln schon auf die minimalen 
Stromstarken mit tetaniformen Dauerkontraktionen *) reagierten, Zuck- 
ungen also tiberhaupt nicht zu erzielen waren, ohne dass die Reiz- 
schwelle etwa abnorm tief gelegen hatte. 

Wir haben das in 4 Fallen (1, 3, 4 und 5) beobachtet. Bei star- 
keren Stromen trat dann vielfach in den betr. Muskeln auch Nach- 
dauer der Kontraktion, also die gewohnliche Form der myotonischen 
Reaktion ein. Einmal fanden wir, im Falle 3, dass schon bei der 
minimalen Reizgrosse die tetaniforme Kontraktion einzelner Muskeln 
die Reizungsfrist etwas uberdauerte. Eine ahnliche Neigung zum Ein- 
tritt von Dauerzuckungen hat Eulenburg**) bei Paramyotonie ge- 
sehen. Remak***) fasst sie als „unvollstandige myotouische Reaktion" 
auf. Unsere Beobachtungen scheinen flir diese Deutung zu sprechen. 

Wenn vielfach von Entartungsreaktion bei der atrophischen Myo- 
tonie berichtet wird, so ist zunachst zuzugeben, dass zweifellos in 

*) Ich vermeide den'Ausdruck tetanisch, urn nichta zu prajudiziereu, trotz 
der ausseren Gleichformigkeit. 

**) Neurolog. Zentralbl. 18S6. S. 2G5. 

***) Elektrodiagnostik. Wien und Leipzig, 1895. S. 80. Vergl. auch Pelz, 
Arch. f. Psychiatrie. XLII. S. 70S. 


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VI. Steinert 


nicht wenigen dieser Falle trage, ja wurmformige Zuckungen bei 
direkter galvaniscber Reizung zur Beobachtung kommen. Wenn man 
nun darin nach der gebrauchlichen, aber docb eben nicht ganz aus- 
nahmslos gtiltigen Regel das patbognomonische Merkmal der Ent- 
artungsreaktion sieht, so liegt eine Verwechslung ausserordentlich 
nabe. Icb selbst babe 3 mal diese Zuckungstragheit gesehen, glaube 
aber mich in jedem Falle durch die nahere Analyse der Erscheinung 
Qberzeugt zu haben, dass es sicb in der Tat nicht um Entartungs- 
reaktion bat bandeln konnen. 

Zunachst in unserem Falle 3 war die Zuckungstragheit nur bei 
Scbliessungsreizungen nachweisbar, wahrend die Anodenoffnungszuckung 
vollig prompt verlief. Nach offerer Wiederholung der Reizung ver- 
loren auch die Schliessungszuckungen ihren tragen Charakter. Ganz 
ahnlich lagen die Dinge im Falle 4. Im Fall 5 bekamen wir bei 
labiler Reizung in einzelnen Muskeln eine exquisit wurmformige Kon- 
traktion. Bei naherem Zusehen konnten wir feststellen, dass es.sich 
in diesem Falle um ein trages An- und Abschwellen sogenannter Dauer- 
zuckungen handelte, wie wir sie oben als „unvollstandige myotonische 
Reaktion" kennen gelernt haben. 

Die Eigenbeiten der Zuckungstragheit unterscheiden unsere Be- 
funde durchaus von der Entartungsreaktion und bringen sie vielmehr 
zu der gewohnlichen Form der myotonischen Reaktion in enge Be- 
ziehung. Ich mochte aus folgenden GrQnden annehmen, dass es sicb 
nicht um Entartungsreaktion, sondern um eine besondere Form myo- 
tonischer Reaktion gehandelt hat. Erstens gehort ein toniscb-trages 
An- und Absteigen der Kontraktion ganz allgemein zum Bilde der 
myotonischen Reaktion. Zweitens stimmt die Erscheinung, dass in 
unserem Falle 3 nur die Schliessungserregungen, die bekanntlich die 
starkeren sind, eine trage Zuckung hervorriefen, gut mit der Tatsache 
tiberein, dass die myotonische Reaktion vielfach nur bei starkeren Rei- 
zungen deutlich hervortritt. Auch ein dritter Punkt, das Nachlassen 
der Zuckungstragheit bei wiederholten Reizungen (Fall 3 und 4), ent- 
spricht dem gewohnlichen Verhalten der myotonischen Reaktion, bei 
wiederholten Reizungen zu versehwinden. Die eben an 2. und 3. Stelle 
genannten Erscheinungen sind dagegen der Entartungsreaktion durch¬ 
aus fremd. Im Falle 5 tauschte, wie wir sahen, die sog. „unvollstan- 
dige myotonische Reaktion" die Entartungsreaktion vor.*) Gegen die 

*) Hier liess die Triigheit bei wiederholten Reizungen nicht nach; dieser 
Fall zeigte aber auch bei wiederholten willkiirlichcn Bewegungen nicht das ge- 
wi'iludiche Nachlassen der myotonisehsn Stbrungen, wahrend allerdings die bei 
starkeren elektrischen Stromen auftreteude Naclidauer durch eiuige Wieder- 
liolungen des Versuchs zu erschopf'en war. Ich trage bei dieser Gelegenheit 


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Myopathologisshe Beitrage. 


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Annahme einer Entartungsreaktion sprach ferner in alien Fallen das vol- 
lige Fehlen der charakteristischen quantitativen Erregbarkeitsanomalien, 
fttr myotonische Reaktion noch die Beobachtung, dass, wenigstens in 
den Fallen 3 und 5, bei weiterer Steigerung der Reizstarke myotoni¬ 
sche Reaktion von der gewohnlichen Form in den betreffenden Mus- 
keln auftrat 

Man sieht aber, wie leicht eine Pseudoentartungsreaktion die echte 
vortauschen kann. Ich mochte es deshalb durch die schlichte Angabe 
„EaR“, wie wir sie bei Jolly, Pelizaus, Schonborn, Rossolimo, 
Schott, Hans Curschmann und Voss finden, doch nicht als be- . 
wiesen ansehen, dass es sich wirklich um Entartungsreaktion gehan- 
delt hat. tjbrigens sind einer ganzen Reihe von Autoren selbst Be- 
denken liber die Deutung ihrer Befunde gekommen. Pelizaus halt 
die Entartungsreaktion fur modifiziert durch myotonische Erscheinungen, 
Schott hat den Eindruck, als ob Entartungs- und myotonische Reak¬ 
tion kombiniert waren, Cassirer rechnet ganz direkt mit der Moglich- 
keit, dass die EaR nur vorgetauscht sein konnte. Hoffmann hat, 
wohl als erster, auf die Gefabr einer Verwechslung hinge wiesen. 

Eine weitere Eigenart der Reaktionsweise auf den elektrischen 
Reiz besteht darin, dass vielfach auf kurzdauernde galvanische und 
faradische Reize keine nachdauernde Kontraktion erfolgte, wiihrend sie 
sofort eintrat, sobald man den Strom — bei unveranderter Stromstarke 
— etwas langer geschlossen liess. Ich habe diese Erscheinung zuerst 
bei den Fallen 1 und 2 beobachtet und beschrieben. Passler hat sie 
spater bei den Gebriidern H. funseren Fallen 4 und 5) gesehen und 
beschreibt sie folgendermassen: „Bei der galvanischen Stromschwan- 
kung tritt nicht wie bei der gewohnlichen MyR ein rascher Anstieg 
mit nacbfolgender Dauerkontraktion ein, sondern es erfolgt erst unter 
dem Einfluss des konstanten Stromdurchflusses eine allmahlich zu- 
nehmende tonische Kontraktion, die nur ganz langsam wieder abnimmt." 
Man kann vermuten, dass dieses Phanomen zu 2 mehr oder minder 
regelmassigen Merkmalen der myotonischen Reaktion enge Beziehungen 
hat: erstens zu der Tragheit des myotonischen Zuckungsanstiegs und 
zweitens zu der Tatsache, dass der Eintritt der Nachdauer in sehr 
vielen Fallen eine gewisse Energie der Muskelkontraktion voraussetzt.*) 

naeh, dass ich eine Erschbpfbarkeit der unvollstandigen myotoniselion Reaktion 
in dem Sinne, dass allmahlich an Stelle der Dauerkontraktioncn Znckungen 
getreten waren, nicht beobachtet habe. 

*) ▼. Bechterew hat besonders darauf hingewiesen, dass im allgemeinen 
durch die Kraft der Kontraktion Eintritt und Starke der Nachdauer gefbrdert 
werden. Das ist keine atypische Erscheinung, wie gclegentlieh z. B. von l’elz 
angenommen zu werden scheiut. fiber diese und einige anderc Besonderheiten 


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VI. Steinert 


Wird die Reizung friih unterbrochen, so ist der Muskel noch nicht 
auf der Hohe der Kontraktion, und es kommt deshalb nicht zur Nach- 
dauer. Da man die Erscheinung, wie gesagt, auch bei galvanischer 
Reizung beobacbtet, so gewinnt es in der Tat den Anschein, als ob 
nicht nur die Stromschwankung, sondern aucb der gleichmassige Fluss 
des Stroms in diesen Fallen eine Reizwirkung auf den Muskel aus- 
tibte. Passler hat sich, freilicb ohne weitere Priifung, ob es wirk- 
lich so sei, diese Annabme zu eigen gemacbt und weitgehende Schlfisse 
fiber das Wesen der Myotonie darauf aufgebaut. Er hat das Phanomen 
nur in atrophischen Muskeln gefunden. Auch meine Beobachtungen 
darfiber betrafen mehr oder weniger stark atrophische Muskeln. 

Ich mochte auf weitere elektrodiagnostische Einzelheiten nicht ein 
gehen und mich nur noch mit der Frage der myasthenischen Reaktion 
beschaftigen, die unser Fall 1 voll ausgebildet darbot und die auch 
im Fall 3 nicht ganz fehlte. Ich habe schon frfiher auf eine sympto- 
matologische Beziehung zwischen myotoniscben und myasthenischen 
Erscheinungen gelegentlich hingewiesen.*) Neuerdings hat Rind- 
fleisch myasthenische Reaktion bei seinem mit Syringomyelie kom- 
plizierten Falle von Myotonie beobachtet, Voss hat sie in seinem Falle 
von atrophischer Myotonie (in nicht atrophischen Muskeln) gesehen 
und zitiert — ohne Ortsangabe — eine weitere Beobachtung von 
Kleist fiber myasthenische Erscheinungen bei der Thomsenschen 
Krankheit. In der Literatur unseres Gebiets finden sich weiter noch 
Angaben von Nogues et Sirol fiber Ermudbarkeit bei willkfirlichen 
Bewegungen und von Rossolimo fiber Nachlassen der Wirkung des 
faradischen Stroms. Doch sind diese Bemerkungen zu kurz und un- 
bestimmt, um recht verwertbar zu sein. Wir fanden in unserera Falle 
bei rhythmischer faradischer direkter Muskelreizung zunachst die myo- 
tonische Reaktionsweise, dann eine Anzahl anscheinend normaler Kon- 
traktionen, dann aber nahrnen diese an Hohe rasch ab, bis endlich 
die Reizung fiberhaupt keinen sichtbaren Effekt mehr hervorrief. Auch 
eine Dauerreizung von mehreren Minuten blieb jetzt erfolglos. Meine 
Beobachtungen sind von Nachuntersnchern des Falles bestatigt worden.**) 
Dagegen hat man sich gegenfiber den gleichzeitig von mir beobach- 
teten myasthenischen Erscheinungen bei willkfirlichen Bewegungen 

der ja durchaus nicht stereotypen, sondern in fast jedem Falle wieder ihre 
eigenartigen Ziige zeigenden mvotonischen Phiinomene finden sich gerade mit 
Bezug auf unsere h'iille einige liier nicht wiederholte Bemerkungen in der Buch- 
ausgahe der Sitzuugsberiehte der Leipziger mod. Gesellschaft von 1904. S. 17. 

*) Deutsches Arcliiv f. kliu. Med. 78. Bd. S. 301 5. 

**) Vgl. T. Colin, Neurolog. Zentralbl. lft()4. S. 1118 und Rindfleisch, 
Deutsche med. Wochenschr. 1905. S. 1414. 


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Myopathologische Beitrage. 


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skeptisch verhalten. Ich glaube dennoch nicht, dass sie auf hysteri- 
schem Boden erwachsen oder gar simuliert waren. Dafur waren sie, 
wie ich mit T. Cohn bebaupte, zu charakteristisch. Die myastheni- 
sche Reaktion, die wir dabei beobachtet haben, spricht doch ganz ge- 
wiss viel gewichtiger flir die echt myasthenische Natur, als es dagegen 
sprechen konnte, dass der Mann unzuverlassig in seinen Angaben und 
hysterisch war. 

Erwahnen mochte ich noch zum Schluss der klinischen Ausfuh- 
rungen das verhaltnismassig nicht seltene Vorkommen der mechani- 
schen Ubererregbarkeit der Nervi faciales, des sog. Chvostekschen 
Phanomens, das bekanntlich im Krankheitsbilde der Tetanie eine grosse 
Rolle spielt Wir haben es in 4 von unseren 6 Fallen (3, 4, 5 und 6) 
gefunden. Auch Hans Curschmann, Rossolimo, Berg und Schott 
haben es bei der amyotrophischen Myotonie gesehen. Hans Cursch¬ 
mann hat in seinem Falle sehr eingehend nach alien anderen Symptomen 
der Tetanie gefahndet, ohne aber irgend eines von ihnen nachweisen 
zu konnen. Eine Verbreitung der mechanischen tjbererregbarkeit auf 
andere Nervenstamme habe ich nicht beobachtet. In eigenartigem 
Gegensatz zu diesen Befnnden steht die vollige mechanische Unerreg- 
barkeit der Nervi faciales in unserem ersten Falle. 


Pathologisch-anatomischer Teil. 

Der Patient K. S. (Fall 2) ist in der Nacht zum 9.1. 1905 im 
hiesigen stadtischen Pflegehaus unter den Erscheinungen allgemeinen 
Krafteverfalls gestorben. Der Chefarzt der Anstalt, Herr Sanitatsrat 
Dr. Lohse, hatte die Freundlichkeit, mir die Autopsie des Falles zu 
uberlassen, die dann auf meine Bitte im pathologischen Institut der 
Universitat durch Herrn Dr. Verse am Morgen des 10. I. vorgenom- 
men wurde. 

Bei der ausseren Besichtigung der Leiche fiel die ausserordentliche 
Dystrophie fast der gesamten Muskulatur sofort in die Augen. Dabei 
trat aber doch noch die Pradilektion bestimmter Gebiete deutlich hervor. 
Die Daumenballen waren so gut wie vollig gesehwunden, die Gesichts- und 
Eaumuskeln aufs ausserste reduziert, wahrend nur die Lippen eigentftrnlich 
wulstig hervortraten; von den Sternocleidoinastoidei war zunachst weder 
durchs Gesicht noch durchs Geflilil irgend etwas nachzuweisen. Neben der 
schweren Muskelabraagerung verdient Erwiilmung, dass ein sparliches Fett- 
polster erbalten geblicben war. Das Sektionsprotokoll bezeichnet den Er- 
nilhrungszustand als leidlich. 

Uber den Befund au den inneren Organen lautet die Sektionsdia- 
gnose: Tuberculosis obsoleta et induratio nigra apicis pulmonis utriusque. 
Pleuritis chronica fibrosa adhaesiva bilateralis. Emphysema pulmonum. 


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VI. Steinert 


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Bronchitis. Tracheitis. Atrophia fusca myocardii. Dilatatio cordis, prae- 
cipae atrii et ventriculi dextri. Insufficientia valvulae tricuspidalis. In- 
duratio cyanotica hepatis et renum. Intumescentia levis lienis. Atrophia 
maxima testis utriusque. 

Bei der Sektion des zentralen Nervensystems zeigte sich die 
Arachnoidea des Gehirns weisslich verdickt, sowohl an der Konvexit&t als be- 
sonders auch an der Basis. Das Gehirn war ziemlich schwer, von durchaus 
normaler Konfiguration. Es wurde mit lOproz. Formalin injiziert und 
in dieselbe Fltlssigkeit eingelegt. Die spatere Untersuchung auf zahlreichen 
Durchsclinitten ergab ebenfalls ftkr die Betrachtung mit blossen Augen 
ganz normale Verhaltnisse. 

Am Kflckenmark war ausserlich auch nichts Abnormes zu erkennen. 
Es wurde im ganzen in 10 proz. Formalin eingelegt. Auch auf den spater 
angelegten Querschnitten war der makroskopische Befund normal. 

Von der Autopsie der Mu skein ist Folgendes zu bemerken. Der 
rechte Daumenballen ist fast vollig geschwunden, nur vereinzelte, ganz blass 
rotlich gefarbte Faserbttndel sind in der bindegewebigen Masse, die an 
seine Stelle getreten ist, noch erkennbar. Auch der Interosseus primus 
ist selir verdQnnt und von gleicher Farbung. Der Adductor pollicis er- 
scheint dagegen gut erhalten, von braunlichroter Farbe, ebenso die Interossei 
des 2. Interstitiums. Auch an der linken Hand ist der Daumenballen sehr 
stark atrophisch und nur der Adductor verhaltnismassig gut. Die Mus- 
keln am Vorderarm, die rechts nachgesehen wurden, waren ebenfalls von 
mehr briiunlich-roter Farbe, wenn auch ziemlich stark atrophisch. 

Fast ganz geschwunden ist der Orbicularis oris im Bereich der Ober- 
lippe, nur einige schwach rbtlich gefarbte Bfludel sind noch nachweisbar. 
Auch die Temporales sind ausserst dtlnn, etwas besser die Masseteren. 
Der Uuterkiefer ist in seinen Gelenken abnorm frei beweglich. 

Die Muskeln des Kehlkopfs, der nach langerem Verweilen in 10 proz. 
Formol genau prapariert wurde, erwiesen sich als viel blasser, derber, 
trockener, w’olil auch dflrftiger als die eines zum Vergleich herangezogenen 
etwa gleichalterigen muskelgesundcn Mannes. 

Die Sternocleidomastoidei priisentieren sich als blass gelblich-braunliche, 
ausserst dlirftige Biindel, die Pectorales, die Bauchmuskeln sind leidlich 
gut erhalten, die RQekenmuskeln starker atrophisch. 

Die Muskulatur der unteren Extremitaten wurde auf der rechten Seite 
genauer untersucht. Der Quadriceps femoris ist ziemlich stark reduziert, der 
isartorius ist besser. Die Gastrocnemii erscheinen noch ziemlich intakt und 
sind von dunkelroter Farbe. 

Mikroskopisclie I'ntersnchungeii. l. Hirnrinde. Es wurden 
aus der Armregion der linken Hemisphare Blbcke entnommen, die beide 
Zentralwindungen umfassten. Zellfiirbung nach einer etwas modifizierten 
Nissl-IIeldschen Methode, Markscheidcnfarbung nach Weigert. 

Die Untersuchung auf pathologische Veranderungen ergab bei beiden 
Methoden ein negatives Resultat. Die Ganglienzellen zeigten ein in alien 
wesentlichen Punkten nonnales Verlialten, die mit Methylenblau farbbare 
Substanzportion war vielfach etwas dtlrftig entwickelt, krUmelig ttber den 
Zclleib verstreut, aber grbbere VeriUnlerungen fehlten durchaus. 

Mittelst der Markseheidenmethode bekamen wir ein normal entwickeltes 


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Myopathologische Beitrage. 


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Netz grOberer and feiner Fasern, nirgends war ein Faserausfall zu be- 
obachten. 

2. Ruckenmark. Bldcke aus alleu Hohen wurden ebenfalls sowobl 
der Zellfarbung mit der — um der vorangegangenen Formalinfixierung 
willen — etwas modifizierten Nissl-Heldschen Methode und mit Neu- 
tralrot als auch der Weigertscken Markscheidenfdrbung unterworfen. 

Die Zellf&rbung gab im wesentlichen normale Bilder, jedenfalls keine 
Veranderungen, die mit der Muskelatrophie in irgend eine Beziehung zu 
bringen gewesen whren. Die Ganglienzellen speziell der Vorderhorner 
waren Qberall in normaler Zahl nacbweisbar. Die Details des Zellbildes 
wichen hier und da von der Norm ein wenig ab, so fanden wir nicht 
selten eine etwas unrcgelmassige Anordnung und teilweise Zerbrockelung 
der N i s s 1 korper. In einzelnen Zellen bestand stiirkere Chromatolyse, be- 
sonders in der Umgebung dss Kerns, so dass nur an der Zellperipherie 
noch deutliche Schollen lagen, ganz ausnahmsweise war die ckromopliile 
Substanz als feinstes Pulver diffus tlber die ganze Zelle verteilt, die dann 
gewohnlich etwas aufgetrieben war und abgerundete, plumpe Formen 
zeigte (homogene Scbwellung). In verhaltnismiissig vielen Zellen fanden 
sich grosserc Masscn von Pigment, die dann hitufig an der Stelle, wo sie 
lagen, den Zelleib vorbuchteten. 

Eine erhebliche Vermehrung der Gliazellen war nirgends zu bemerken. 



Fig. 1. 

Markscheidenfarbung. Lendenan sell well ung (Fig. 1. Photo- 
gramm). In den Ilinterstriingen besteht ein starker, ziemlich scharf uni- 
schriebener Faserausfall. Die Degenerationszone nimmt beiderseits ein drei- 
eckiges Feld ein. Die Dreiecke sind so gelegen, dass je eine Ecke ventral, 
eine dorsal und eine lateral gericlitet ist. Die beiden ventralen Ecken be- 
rQliren sich etwa an der Grenze des ventralen und des mittleren Drittels des 
Septum posterius. Eine ganz leichte Lichtung erstreckt sich von dieser Stelle 


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VI. Steinert 


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aus beiderseits unmittelbar am Septum bis an die hintere Commissur heran. 
Die medialen Dreiecksseiten schliessen zwischen sich ein intaktes Feld ein, 
das dem Dorsomedialbtlndel entsprickt. Die dorsale Ecke des Degenerations- 
feldes reickt nicht bis an die Peripherie des Marks heran, so dass das 
Dorsomedialbtlndel mit dem ebenfalls intakten hinteren seitlichen Feld in 
Zusammenhang steht. Mit der lateralen Ecke legt sich das helle Gebiet 
im Bereich der Wurzeleintrittszone dem Hinterhorn an. Das ventrale 
Hinterstrangsfeld, bzw. die vorderen seitlichen Felder sind intakt. In den 
hinteren seitlichen Feldern zeigt noch ein lateralster, neben der Stelle des 
Wurzeleintritts an der Peripherie des Marks gelegener Bezirk beiderseits 
eine leichte Aufhellung. 

Die Fascrn der extramedullilren hinteren Wurzeln sind stark gelichtet. 
Im Gebiet der Wurzeleintrittszone und des Hinterhorns fallt vor allem die 
Dtlrftigkeit der bogenfdrmig in das Hinterhorn einstrahlenden Fasern auf. 

Das Fasernetz der Vorderhflrner sowie die vorderen Wurzeln sind da- 
gegen vbllig intakt. 

Brustmark. Die Hinterstriinge sind fast in ihrer ganzen Ausdeh- 
nung etwas gelichtet. Stark degeneriert sind die Gollschen Strange. 
Weniger scliarf heben sich zwei beiderseits im Zentrum der Burdachscken 
Strange gelegene streifenformige Degenerationsgebiete ab. Gut erkalten 
sind die vorderen und hinteren seitlichen Felder. In den Gollschen 
Strangen ist ein schmales Bflndel durch seine gute Erhaltung ausgezeich- 
net, das so gelegen ist wie im unteren Lendenmark das Dorsomedialbtlndel, 
das dort eben seiner Lage wegen als „Centrum ovale" bezeichnet wird. 

Halsanschwellung. Stark gelichtet sind die Gollschen Strange, 
besonders in ihfen medialen, dem Septum anliegenden Partien, ferner 
zwei schmale, etwa der Grenze zwischen Gollschen und Burdachsclien 
Strangen entsprechende, dorsal sich etwas verdickende und leicht lateral 
abgebogene Streifen, endlich beiderseits ein Gebiet im Zentrum des mitt- 
leren Drittels des Burdachsclien Strangs, das sich der Wurzeleintritts¬ 
zone annahert. Ganz gut sind die vorderen und hinteren seitlichen Felder. 

Wiederum starker Faserausfall in den hinteren Wurzeln, leichte 
Lichtung in der Wurzeleintrittszone, besonders sind wieder die Bogenfasern 
dOrftig. 

Vordere Wurzeln, das Fasernetz der Vorderhorner, wie hier noch ein- 
mal betont sei, vollstandig normal. 

Oberes Halsmark (Fig. 2. Photogrannn). Degeneration der Gollschen 
Strange. In den Burdachsclien Strangen ist beiderseits ein streifenformiges 
Gebiet aufgehellt, das zum grossten Teil am Rande des Gollschen Stranges 
verliiuft, im dorsalen Teil der Hinterstrange aber mit einer scharfen 
Knickung seitlich abgebogen ist. 

In diesem Gebiet zeigen die hinteren Wurzeln keinen erheblichen 
Fasernausiall mebr, und dementsprechend ist aucli die Wurzeleintrittszone 
gut entwickelt. 

3. Muskulatur und peripherische Nerven. Als wir an die Unter- 
suchung der Muskeln herantraten, bestand keine Totenstarre melir. Es 
wurden zuniichst Zupfpniparate vom frisehen Muskel angeferf igt, das Qbrige 
Material wurde in lOproz. Formol eingelegt, z. T. spiiter noch in Osmium- 
saurelosungen und Joresscbe Fltlssigkeit tlbertragen. Paraftineinbettung, 


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Myopathologiscke Beitrage. 


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Farbung nach vanGicson. Einzelne Praparate warden auch nach Heiden- 
bain mit Eisenalaunhiimatoxylin behandelt. 

M. orbicularis oris, Oberlippe. 

Frisches Praparat. Zwischen reichlichen Streifen fibrdsen Binde- 
gewebes nur vereinzelte erhaltene Muskelfasern. Dieselben zeigen eine 
unregelmissige, meist recht starke Kornelung. Die Querstreifung ist 
stellenweise nur undeutlicb sichtbar. Auf Essigsfturezusatz versclnvindet 
der grSsste Teil der Kornchen. Muskelnerven vollig normal. 

Paraffinschnitte. Das Bild lftsst sich am besten als Muskelcirrhosc 
bezeicbnen. Die spiirlichen atropliischen Muskelfasern durch breite Binde- 
gewebsstreifen von einander getrennt, die Muskelfasern im alien Stadien 
des Schwundes. Stellenweise linden wir nur nocli vereinzelte Fibrillen um 
einen Oder einige Kerne gelagert, an anderen Orten ganz „leere“ Kern- 



Fig. 2 . 

schlauche, ohne alle Reste von kontraktiler Substanz. Die verschiedenen 
Kernformen stark vermehrt, aber Binnenkerne nur vereinzelt. Ofters sind 
es grosse blbschenformige Kerne, die jnan auch im Innern der Fnsern an- 
trifft. Vielfach ganze Haufen und Ketten von Muskelkernen. Die Langs- 
streifung der Muskelfasern tiberall sehr ausgesproclien. Die Querstreifung 
fehlt hie und da. An den Langsschnitten linden sich gelegentlich stabchen- 
formige Kerne in spindelfbrmige Raume eingelagert, die durch ein ort- 
liches Auseinanderweichen der Fibrillen entstanden sind. An den Polen 
der Kerne sieht man vielfach eine feiue Kornelung des Sarkoplasma. In 
langeren solchen interlibrillarcn Rbumeu liegen auch manchmal gauze Reihen 
von Kernen, deren jeder von seinem Nachbar durch einen kleinen Zwischen- 
raum getrennt ist. Vereinzelt wachsige Faserdegeneration. Die quer ge- 
troffenen Fasern zeigen eine sehr deutliche Fibrillenfelderung. 

Temporalis (Paraffinschnitte). Neben besser erhaltenen stark cir- 
rbotische Partien. Faserdicke ganz wechselnd. Neben annahernd runden 


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VI. Stein ert 


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oder regelmassig polygonalen ganz difforme verdrGckte Querschnitte. Die 
Querstreifung fast ttberall deutlich, im einzelnen von sehr verschiedener 
Besohaffenheit, manchmal fein, after grbber, die hellen Querstreifen haufiger 
von Qberwiegender Breite. Die Hensenschen Streifen oft gut sichtbar. 
Die Langsstreifung Qberall ausgespochen. Die Querschnitte meist sehr 
deutlich gefeldert. Ziemlich reichlich Vakuolen, wie sie weiterhin noch 
naher beschrieben werden. Hie und da Binnenkerne. Nerven ohne Be- 
sonderheiten. 

Masseter. Frisch: Zwischen reichlichem Bindegewebe stark ge- 
kbrnte Muskelfasern, die Querstreifung vielfach undeutlich. Auf Essig- 
saurezusatz verschwindet der grbsste Toil der Granula. Nerven vollig 
normal. 

Paraffinschnitte von osm. Material. Die Fasern zeigen die ver- 
schiedensten, z. T. sehr hohe Grade von Atrophie. Zahlreiche und grosse 
Muskelkerne aller Formen, z. T. in gewaltigen Haufen und Reihen, hie 
und da Kerne und Kernreihen, die nur noch vereinzelte Fibrillen mit sich 
fQhren. Sparliche Binnenkerne. Das Bindegewebe erscheint verhaltnismassig 
weniger stark gewuchert als in anderen Muskeln. 

Quer- und Langsstreifung stark ausgesprocben. Der Hensensche 
Streifen ist stellenweise sichtbar. An den Querschnitten deutliclie 
Fibrillenfelderung. 

In manchen Fasern verlaufen die Fibrillen auffallend gewellt, in ver- 
einzelten sind grbbere Strukturanomalien vorhanden, homogen glasige Be- 
schaffenheit, verworrene Anordnung der Fibrillen, wachsige Degeneration 
in grbsseren oder ktlrzeren Faserabschnitten. Hie und da befinden sich 
Vakuolen, wie sie uns noch wieder begegnen werden. Manchmal liegen 
Binnenkerne in grbsseren Lticken zwischen den Fibrillen. 

Kornelungen sind nicht nachweisbar, doch ist zweifellos in einigen 
wenigen Fasern Fett vorhanden gewesen, das aber trotz der Osmierung ge- 
lost worden zu sein scheint. Dass es vorhanden war, ist aus der siebfbr- 
migen Querschnittsstruktur jener Fasern zu schliessen (vgl. die Schieffer- 
deckersche Abbldg. 20c, die dritte der gezeichneten Fasern auf Tafel 9/10 
des 25. Bds. der Zeitschr. f. Nervenheilkunde). Grbsscre Fettmassen zwischen 
den grbsseren Muskelabschnitten haben die Fiirbung leidlich gut an- 
genommen. 

Nerven normal. Die Radspeichenstruktur der Markscheiden vielfach 
selir schbn hervortretend. 

An den Muskelspindeln nicltts Bemerkenswertes. 

Kehlkopfmuskeln, Cricoarvtaeno'ideus posterior und lateralis und 
Arytaeno'idei; Zupfpriiparate und Gcfriersclinittevon formolfixiertem Material. 
Die Priiparate vom Crieoaryt. post, wiclien vom normalen Vergleichsbilde 
verhaltnismiissig wenig ab. Fine Reilie von Proben aus dem lateralis 
zeigte liauptsiichlieh cine durrhgehende Verschmiichtigung der Fasern, 
dabei iJberwiegon der Langsstreifung, hie und da Granulierung des Proto- 
plasmas an den Polen der Kerne. In den Arytaeno'idei traten sehr grobe 
Veranderungen der Faserstruktur neben den Zeiehen der Atrophie beson- 
ders stark hervor. In dem vermehrten, hie und da lipomatosen Zwischen- 
bindegewebe lagen neben ganz dtlnnen, oftenbar atrophischen Fasern sehr 
zahlreiche ganz besonders dicke Fasern, die aber nicht etwa hypertrophisch, 
sondern infolge eines Degenerationsprozesses aufgeschwollen waren. Je 


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Myopathologiscke Beitrage. 


95 


dicker eine Faser oder ein Faserabschnitt, desto grSber war im allgemei- 
nen die Struktur verhndert. Die Fasern waren mit wenigen Ausnahmen, 
die dicken Fasern fast obne Ausnahme, trtlbe und schlecht durchsichtig, 
sehr im Gegensatz zu den lichten und klaren Fasern der Vergleichsraus- 
keln. Die Langsstreifung ausserordentlich stark ausgesprochen, die Quer- 
streifung sehr zurhcktretend. Vielfacb stark welliger, ja verworrener Verlauf 
der Fibrillen, an vielen, sehr stark aufgetriebenen Stellen Zerfall dcr 
Substanz in schollige, wie aufgekaufte Massen von krtimelig-korniger 
Struktur. 

Es erscheint sehr interessant, dass gerade die Stimmbandadduktoren, 
deren Dystrophie wir klinisch diagnostiziert batten, die grdbsten anatomi- 
schen Veranderungen aufwiesen. 

Rechter Daumenballen. Das frische Bild gleicht dem vom Orbi¬ 
cularis oris. Auch hier ganz normale Nervenastchen. 

Paraffinschnitte. Ausserordentlich stark cirrhotischer Zustand. 
Dflrftige Muskelfasern in miichtigen Bindegewebsmassen einzeln einge- 
sprengt. Wiederum sind einzelne Fasern auf wenige Fibrillen reduziert, 
die einen oder einige Kerne lose umgeben. Wiederum auch vdllig leere 
Kernschlauche. Kerne in alien Formen, zahlreich, vielfach sehr gross, 
blaschenfflrmig. Binnenkerne vereinzelt. Die Querstreifung meist gut 
ausgesprochen, die dunkeln Hauptstreifen den hellen gegenQber an Breite 
zurttcktretend. Die feineren Details der Querstreifung treten deutlich her- 
vor, insbesondere ist die Hensensche Mittelscheibe in der anisotropen 
Substanz recht gut sichtbar. Die Langsstreifung ist so scharf ausgeprkgt, 
dass die Fasern vielfach geradezu in ihre Fibrillen aufgelbst erscheinen. 
Auf den Querschnitten sind die Fibrillen deutlich sichtbar, anscheinend 
kommen verhaltnismassig wenige auf die Faser. Die Fasern sind nicht 
immer recht scharf umgrenzt. Vereinzelte Fasern haben ein homogenes, 
glasiges Aussehen. Hie und da sind die Kerne von hellen Hofen um¬ 
geben. Auch in den Muskelspindeln erscheinen die Fasern atrophisch. 
Die intramuskularen Nerven sind vOllig normal. 

Sternocleidomasteideus. Paraffinschnitte von osmiertem und von 
mit Joresscher Fltlssigkeit behandeltem Material. 

Der Querschnitt dieses Muskels umschliesst Partien sehr verschieden- 
artigen Aussehens: manche, die, abgesehen von der Schmachtigkeit der 
Fasern, einen fast normalen Eindruck machen, andere von stark cir- 
rhotischem Charakter, die inmitten reiclilichen, derben Bindegewebes viele, 
besonders stark atrophische Fasern beherbergen, dazwisdien Streifen von 
Fettgewebe. Neben den einfach verdunnten Fasern viele von verdrtlcktem, 
ditformem Querschnitt in „atrophischer Degeneration" (Schiefferdecker.) 
Die Langs-, aber auch die Querstreifung zunieist sehr deutlich ausgesprochen, 
vielfach sind die feinsten Strukturdetails sehr gut kenntlich. Besonders 
an dQnnen L&ngsschnitten treten die einzelnen Fibrillen oft sehr scharf 
hervor. Die Querschnitte zeigen vorzugsweise Reihenfolderung, oft in sehr 
scharfer und klarer Auspragung. 

Die Muskelkerr.e aller Art sind ausserordentlich zahlreich und treten 
oft in machtigen Reihen auf, insbesondere linden sich viele grossc belle, 
rundliche und stabfdrmige Kerne an der Peripherie und im Innern der 
Fasern. Die Binnenkerne sind in diesom Muskel so reichlich, dass kaum 
eine Faser ohne solche zu linden ist, manche Fasern einc grosse Zahl 


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96 VI. Steinekt 

davon umschliessen. Zehn auf die Faser konnten wir vielfach zahlen. 
Neben den dunkel gefiirbten kleinen und den schon genannten grossen 
hellen Formen kommen auch viele ganz grotesk gebildete Exemplare vor. 

Auf den Querschnitten waren eigenartige Faserabspaltungen zu kon- 
statieren, derart, dass aus einer grossen Faser ein sektorenfbrmiger Ab- 
schnitt wie ein Stack aus einer Torte herausgelost schien, das nun durch 
eindringendes Perimysium intern, von der Mutterfaser getrennt wurde. 

Einzelne Fasern zeigten stark welligen oder verworrenen Verlauf der 
Fibrillen, einzelne eine gleichmassig feine kornige Struktur, wie Mattglas. 
Sehr haufig fanden wir Yakuolen verschiedener Art. Manche imponierten 
nur als Lttcken zwischen den etwas auseinander gedrangten Fibrillen- 
btlndeln. In den so entstekenden Hdfen lagen manchmal grosse blaschen- 
fdrmige Kerne. In anderen Fallen w r aren aber an der Stelle der Vakuolen 
die Fibrillen zweifellos zugrunde gegangen, unregelmassig, aber scbarf 
begrenzte Defekte erschienen auf dem Querschnitt ausgefallen oder heraus- 
geschlagen. Manchmal waren diese Yakuolen mit einer feinkbrnigen Masse 
erftlllt. Solche R&ume bekerbergte manche Faser in grosser Anzahl, so 
dass der Querschnitt eine wabige Struktur oder etwa das Aussehen eines 
angeschnittenen Schweizerkases erhielt. Vereinzelt sahen wir kreisrunde, 
verhaltnisnnissig dick erscheinende, dunkler gefarbte Fasern, die sogenann- 
ten Kontraktionsknoten, auf dem Querschnitt. Vakuolen der genannten 
verschiedenen Arten kamen auch in den Muskelfasern der zahlreich vor- 
handenen Spindeln vor. 

Die Beugemuskulatur vom rechten Vorderarm wurde im einer 
ganzen Anzahl von Stttcken an osmiertem und an mit Joresseher FlQssig- 
keit behandeltem Material untersucht. 

Wir fanden auch hier recht abwechslungsvolle Bilder: neben kleinen, 
anscheinend einfach atro]diischen Partien sehr ausgedehnte Abschnitte in 
alien Stadien der C'irrhose. Das Bindegewebe ist von wechselnder Reieh- 
lichkeit, stellenweise so massenhaft, dass die erlialtenen Fasern vbllig ver¬ 
einzelt hie und da eingesprengt erscheinen. Seiner Beschaffenheit nacli 
ist es mehr oder minder derb, an vielen Stellen verhaltnism&ssig kern- 
reieh. An einigen Stellen hat es lipomatbse Einlagerungen. In den 
starker cirrhotischen Partien ganz besonders stark atrophische Fasern, 
manche ausserst diinn, nur nocli aus wenigen Fibrillen bestehend, auf dem 
Langsschnitt manchmal nur noch eine liingstaserige Beschaffenheit zeigend. 
Nicht selten auch von kontraktiler Substanz vcillig leere Kernschlauche. 
Vielfach fill It die mangelhafte, unscharfe Begrenzung der Fasern auf. 

Die Muskelkerne sehr stark vermehrt, oft in enorm grossen Haufen, 
Zeilen und Zopfen auftretcnd. Auffallend reichlich Binnenkerne. In der 
Struktur der einzelnen Fasern trat die Langsstreifung Qberall sehr scharf 
liervor, widirend aber auch die Querstreifung in alien Details in der Regel 
deutlich kenntlich war. Manche stark atrophische Faser erschien fast 
strukturlos, vereinzelt wurde wachsige Degeneration gesehen. 

Vereinzelt osmiumgeschwarzte Kdrnchen in den Fasern. 

In recht vielen Fasern hat ten wir auch hier eine starke Vakuolisierung 
zuniichst in der beim Sternocleidomastoideus beobachteten Form einfacher 
Protoplasmahofe in der Umgebung von Binnenkernen, aber auch wabige 
Bilder, wie sie dort geschildert wurden. Manche Fasern waren mehr 
homogen geworden, die Vakuolen waren aus der Substanz der Faser wie 


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Myopathologische Beitrage. 


97 


mit dem Locheisen aasgestanzt, von regelm&ssig runder oder ovaler, scharfer 
Begrenzung. Hier and da lagen Kerne anch in diesen LQcken. Manche 
Fasern zeigten in einem Teil ihres Querschnitts, sei es in der Peripherie 
oder im Zentrum, eine milchglasartige Beschaffenheit, w&hrend der Rest 
eine deutlich fibrilllire Struktur erkennen liess. Hier und da fand sich 
auch diejenige Degenerationsform, die Schiefferdecker in den Muskel- 
spindeln von Paralysis agitans gefunden hat nnd in seiner mehrfach er- 
wahnten Arbeit (Zeitschr. f. Nervenheilkde. 25. Bd.) auf Seite 217 beschreibt 
und auf Abbildung 22 abbildet. Bei unserem Fall waren es nicht Spindel- 
fasern, die die Veranderung zeigten. Auf Langsschnitten zeigen sich hier 
und da Reihen dichtgedrangter oder durch kleine Abstande von einander 
getrennter Kerne in langgestreckten LQcken gelagert, die zwischen den 
auseinandergewichenen Fibrillen gelegen sind. 

Von den zahlreichen Muskelspindeln mOchte ich hervorheben, dass ihre 
Muskelfasern auch hQuiig Binnenkerne enthielten. Die Nerven in und 
ausserhalb der Spindeln waren wiedernm vdllig normal. 

Rechter Quadriceps femoris. 

Paraffinschnitte. 

Deutliche Atrophie. Vermehrung des Zwischengewebes, das reichlich 
Bindegewebskerne, aber auch Muskelkernzeilen enthalt Die Bindesubstanz 
ist verhaltnismassig locker gewebt, hier und da sind lipomatOse Partien 
eingelagert. An den Muskelfasern fQllt die Starke LQngsstreifung auf. 

Die Muskulatur der rechten Wade hot in frisch gezupfter Probe 
keine erheblichen Anomalien. 

Zum Schluss eine kurze Diskussion der anatomischen Befunde. 
Was lehren sie uns? 

Unser Wissen tlber das anatomische Verhalten des Zentralnerven- 
systems bei der Tbomsenschen Krankbeit grundet sich bisber auf den 
einzigen bekannten Sektionsbefund, den Dejerine und Sottas in einem 
klinisch nicht atrophischen Fall erhoben baben. 

Auch wir haben in unserem atrophischen Fall, um von der 
Hinterstrangsdegeneration zunachst abzusehen, wie die genannten For- 
scher in alien wesentlichen Punkten normale Verhaltnisse gefunden. 
Keine kranbhaften Veranderungen bei der makroskopischen und mikro- 
skopischen Durchforschung, insbesondere gaben die motorischen Bahnen 
von den Rindenzellen bis zu den feinen Nervenastchen der Muskeln 
ein vollkommen normales Bild. Die einzige Anomalie im Bereich des 
motorischen Apparats lag in der Muskulatur selbst, eine Bestatigung, 
wenn man will, der sich fast ganz allgemeiner Anerkennung erfreuen- 
den royopathologischen Auffassung des Kraukheitsbildes. Also auch 
die Dystrophie sicher myopathischer Natur. 

Ehe wir auf den Muskelbefund zurlickkommen, seien ein paar 
Worte fiber die Hinterstrangsdegeneration gestattet Siebotdas typische 
Bild der initialen Tabes, war ganz sicher keine funikulare Myelitis, 
keine pseudosystematische Degeneration. Neben der eigentUmlich elek- 
tiven Degeneration bestimmter Fasersysteme in der Medulla haben 

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkumie. 37. Bd. 7 


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98 


VI. Stein ert 


wir die starke Entartung der extramedullaren hinteren Wurzeln. Die 
Pathogenese dieser Degeneration erortern, hiesse die ganze Lehre von 
der Entstehung der Tabes hier aufrollen. 

Aber auf die Frage diirfen wir einen kurzen Blick werfen: Was 
bedeutet dieser Befund far unseren Fall, fDr die atrophische Myotonie 
tiberhaupt? 

An eine zufallige Komplikation mit einer gewohnlichen Tabes wird 
nicht zu denken sein. Die klinischen Symptome reichten bei dem 
Patienten zur Diagnose einer Tabes bei weitem nicht aus, so wenig 
wie bei all den anderen Fallen von atrophiscber Myotonie, die ein- 
zelne tabische Symptome dargeboten haben. Aber eben tabische 
Symptome sind bei vielen solchen Fallen vorhanden. Die Idee, dass 
in unserem Fall diese Erscheinungen ihre anatomische Grundlage 
in Wurzel- und der Hinterstrangsdegeneration gehabt haben, ist ge- 
wiss unabweisbar, und der Gedanke liegt nahe, dass in anderen 
gleichen Fallen eine ahnliche Rtickenmarksveranderung zugrunde liegen 
mochte. 

Die myotonische Erkrankung rGckt damit in eine gewisse interes- 
sante Nachbarscbaft zum Diabetes mellitus. Aucb bei ihm linden wir 
zwar keine typische klinische Tabes, aber haufig tabische Symptome, 
ebenso wie bei der Thomsenschen Krankheit Und als anatomischen 
Befund haben wir dabei, wie die interessanten Untersuchungen von 
Schweiger*) aus dem Obersteinerschen Institut an einer ganzen 
Reihe von Fallen gezeigt haben, eine im strengen Sinne des Worts 
tabiforme Degeneration. 

Bemerkenswerterweise ist noch eine andere sehr pragnante Er- 
scheinung ebenfalls beiden Krankheiten, dem Diabetes mellitus und 
der atrophischen Myotonie, eigen, namlich die mit Impotenz verbundene 
Hodenatrophie, die in bald einem Viertel unserer Falle festgestellt 
worden ist 

Wir wollen der Versuchung widerstehen, nach weiteren Analogien 
zu suchen, etwa davon zu reden, dass wir es bei der Thomsenschen 
Krankheit mit einer Muskelerkraukung zu tun haben und bei Diabetes 
mit Storungen gewisser Stoffwechselleistungen, die zum Muskelsystem 
bekanntlich sehr enge Beziehungen haben. Es ist denkbar, dass in 
beiden Fallen pathologische Stoffwechselprodukte die ursachlichen 
Trager der Riickenmarks- und der Hodenerkrankung sind. Liegen doch 
manche Erfahrungen vor, die auf einen abnormen Stoffwechselverlauf 
bei der Myotonie hindeuten. Vielleicht konnten aber diese Kompli- 
kationen auch als direkte Ausserungen einer hereditaren Minderwertig- 


*) Wiener med. Wochenschr. 1007. Nr. 32. 


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Myopathologieche Beitrage. 


99 


keit der Anlage angesprochen werden, gemass den neueren Erfahrungen 
fiber die Vielseitigkeit, mit der sich die „heredo-degenerative Krankheit" 
an den verschiedensten Organen und Systemen des Korpers zu aussern 
vermag. Diese Andeutungen sollen geniigen, damit wir nicht mfissigen 
Spekulationen verfallen. 

Interessant ist, dass auch bei anderen Myopathien tabiscbe Sym- 
ptome im oben bezeichneten Sinne vorkommen.*) 

Nun zu den Befunden an der Muskulatur! 

Unsere bisherigen Kenntnisse fiber die Histologie der myotonischen 
Muskeln gehen zurfick erstens auf die Untersuchungen Erbs und 
seiner vielen Nachfolger an excidierten Muskelproben, zweitens auf 
den einzigen dem unserigen vorangegangenen vollstandigen Sektions- 
befund von Dejerine und Sottas, und endlich drittens auf die Unter¬ 
suchungen Schiefferdeckers, die sich allerdings auch nur auf eine 
excidierte Probe — aus dem Deltoideus unseres Falles 3 — bezogen, 
aber mit neuer und ganz besonders grfindlicher Methodik durchgefuhrt 
worden sind. Was wir sicher wissen, ist ausserordentlich wenig. Die 
Muskelfasern sind hypertrophisch. Schiefferdecker hat dazu bei 
seinen Untersuchungen eine Veranderung der „Muskelkurve“ festge- 
stellt. Dies® Muskelkurve stellt graphisch dar, in welchen Prozent- 
zahlen sich Fasem verschiedener Querschnittsflache an dem Aufbau 
des Gesamtmuskels beteiligen. Diese Verhaltnisse hat er also gegen- 
fiber dem seiner Meinung nach sehr konstanten Verhalten der Norm 
verschoben gefunden. Die Muskelkerne sind vermehrt. Schieffer¬ 
decker hat mittels sehr mfihevoller Untersuchungen festgestellt, dass 
es sich um eine Hypertrophie und Hyperplasie der Kerne handelt, dass 
aber die relative Kernmasse auf den Gesamtmuskel berechnet dabei 
normal bleibt. Uber die feineren Strukturdetails liegen ganz wider- 
sprechende Angaben vor. Man kann zusammenfassend sagen, dass 
einzelne Fasern mit alien moglichen degenerativen Veranderungen, 
einzelne atrophische Fasern auch in den klinisch nicht atrophischen 
Fallen recht haufig gefunden werden. Schiefferdecker hat Veran- 
derungen gefunden, die er fur spezifisch halt: eine feine, nur bei ganz 
bestimmter Fixationsweise, namlich bei Anwendung von Joresscher 
FlQssigkeit, bervortretende Kornelung des Sarkoplasmas und gewisse 
Veranderungen, Verdickung, Entrundung des Querschnitts, Verklum- 
pung der Fibrillen, dabei Abnahme der relativen Fibrillenmenge. 

*) Vgl. Steinert, tjber Myasthenie und mvasthenische Keaktion. Deut¬ 
sches Arch. f. klin. Med. 78. Bd. S. 358. 

Der an dieser Stelle beschriebene geheilte Fall von Myasthenic bot auf der 
Hcihe der Krankheit recht ausgesprochene tabi.sche Symptome uud dabei wieder- 
um auch Impotenz und zwar absolute Iinpotenz mit vollig erloschener Libido. 


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VI. Steinert 


Die bisherigen Bericbte fiber die Ergebnisse von Probeexcisionen 
aus den Muskeln atrophischer Myotonie bieten wenig Charakteristisches: 
Atropbie, Kernvermehrung, Vermehrung des Bindegewebes, daneben 
aucb degenerative Veranderungen von Muskelfasern. 

Unsere eigenen Untersuchungen belehrten uns in erster Linie fiber das 
Bild der Atrophie. Am auffallendsten war ein Zustand, den man wobl 
als Muskelcirrhose bezeichnen kann, nur dass er nicht fiberall, nicht in 
alien Partien des Muskelqnerschnitts gleich stark ausgepragt war. Neben 
den cirrhotischen fanden sicb andere Partien, die mebr das Bild der ein- 
fachen Atrophie oder der „einfachen atrophischen Degeneration" mit 
zahlreichen deformierten, an ihrenNachbarn abgeplatteten und zwischen 
ihnen verdrfickten Fasern zeigten. Das, wie gesagt, an vielen Stellen ganz 
ausserordentlich stark vermehrte Zwischengewebe war bald von lockerer, 
kernreicher, bald von derber Beschaffenheit. Neben den einfach fibrosen 
fanden sich lipomatose Partien. In das Bindegewebe waren die 
Muskelfasern eingebettet, bald in kleinen Gruppen, bald ganz vereinzelt 
in machtigen fibrosen Massen. Die Fasern selbst sind in alien Stadien 
des Schwundes, nicht selten nur noch sparliche Reste kontraktiler 
Substanz, sparliche Fibrillen in der Umgebung gewucherter Muskel- 
kerne, schliesslich auch vollig leere Sarkolemmschlauche. An solchen 
Stellen bezeichnen nur noch Haufen oder Reihen von Muskelkernen 
den Ort der geschwundenen Fasern. Auch an den besser erhaltenen, 
besonders aber an den stark atrophischen Fasern fallt oft die unscharfe 
Abgrenzung gegen das Bindegewebe auf. 

Die Muskelkerne sind stark vermehrt, sie treten sehr vielfach in mach¬ 
tigen Haufen und Reihen auf, und es fallt besonders auch der Reich- 
tum an grossen hellen Kemen auf. Neben wohlgestalteten kommen 
groteske Formen vor. Binnenkeme finden sich in den meisten unter- 
suchten Muskeln nur vereinzelt, in dem Sternocleidomastoideus und 
den Beugern vom Unterarm in ganz ausserordentlicher Menge, so dass 
fast jeder Faserquerschnitt eine grossere oder geringere Zahl davon 
umschliesst. 

Was das feinere Faserdetail anlangt, so heben wir hervor, dass 
die Querstreifung im allgemeinen sehr gut und deutlich und oft bis 
in die feinsten Einzelheiten kenntlich ist. Stellenweise schienen uns 
die Fasern durch ein Dberwiegen der isotropen Substanz auffallend hell. 
Auch der Hensensche Querstreifen ist oft in vielen Praparaten sehr 
gut zu sehen. Daneben ist aber doch fiberall auch die Langsstreifung 
zu erkennen, oft tritt sie stark hervor und manche stark atrophischen 
Fasern erscheinen wie aufgelbst in eine mebr oder minder sparliche 
Zahl von einzelnen Fibrillen. Auf den Querschnitten fast fiberall sehr 
klar ausgesprochene Felderung. 


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Myopathologische fieitrage. 


101 


Grannlierungen, die auf Essigsaure zum grossten Teil verschwanden, 
fanden wir mehrfach in den frischen Praparaten, an denen dadurch die 
Qnerstreifung oft etwas getrtlbt erschien. Anl gefarbten und osmierten 
Querschnitt konnten wir ganz vereinzelt Fettkornchen nachweisen. 

Grobere Strukturanomalien fanden sich immer nur an einer 
kleinen Minderzahl von Fasern, am banfigsten noch ein auffallend 
welliger, mancbmal ein direkt verworrener Verlauf der FibrilleD, ver¬ 
einzelt auch homogene, mattglasartige Beschaffenheit, wacbsige Dege¬ 
neration und andere Entartungsformen. 

Verhaltnismassig haufig kamen auch Yaknolen vor, in denen manch- 
mal Kerne lagen. Es handelte sich entweder um Lucken, die durch 
einfaches Auseinanderweichen der Fibrillen entstanden schienen, in 
anderen Fallen war aber an Stelle der Vakuolen die fibrillare Substanz 
zweifellos zugrunde gegangen. 

Auch nur vereinzelt sahen wir die sogenannten Kontraktionsknoten. 
Endlich mochte ich noch die eigenartigen Faserzerspaltungen erwahnen, 
wie ich sie beim Sternocleidomastoideus beschrieben habe. 

Die Atrophie, die Vakuolenbildung betraf hier und da deutlich 
auch die Fasern der Muskelspindeln. 

Wenn wir das Ganze fiberblicken, so handelt es sich um Verande- 
rungen, wie wir sie im wesentlichen ahnlich oder gleichartig bei den 
verschiedensten Formen von Muskelatrophie linden. Wenn f&r die 
Myotonie wesentliche und spezifiscbe Veranderungen bekannt waren, 
so batten wir hoffen diirfen, sie auch in unserem Fall zu finden, denn 
trotz der schweren Atrophie waren die myotonischen Pbanomene bis 
in die letzte Lebenszeit hin nachweisbar geblieben. Dass Erscheinungen 
von Hypertrophie noch vorhanden sein wiirdeu, war nicht zu erwarten. 
Aber die Veranderungen, in denen Schiefferdecker die spezifisch 
myotonischen gefunden zu haben hofft, hatte man vielleicht nachweisen ' 
konnen. Die eigenartigen Kornchen im Sarkoplasma sind nun — 
frisches Material hat Schiefferdecker nicht untersucht —anscheinend 
nur bei einer ganz bestimmten Fixierungsweise darzustellen, namlich 
bei der Fixierung in der FlQssigkeit von Jo res, deren Salze dabei 
offenbar von ausschlaggebender Bedeutung sind. Unser Material war 
leider zunachst in 10 proz. Formol eingelegt worden. Da ich nicht 
glaubte, a priori ausschliessen zu dtirfen, dass eine nachtragliche Be- 
handlung mit der Fllissigkeit von Jores noch Erfolg haben konnte, 
machte ich den Versuch, konnte aber die fragliche Granulierung nicht 
beobachten. Bezfiglich der weiter von Schiefferdecker als wesent- 
lich beschriebenen Fibrillenveranderungen, vor allem der Entrundung 
des Fibrillenquerschnitts mochte ich ein ganz sicheres Urteil fiber 
meinen Fall nicht abgeben wegen der ausserordentlicheu Schwierig- 


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102 


VI. Steinebt 


keiten, diese unendlich feinen Details der Faserstruktur ganz zuver- 
lassig fe8tzustellen. Die neuen Untersuchungsmethoden yon Schieffer- 
decker, die Bestimmnng der Muskelkurve, der relativen Kernmasse 
usw. anzuwenden, habe ich mich nicht entschliessen konnen. Einmal 
sind diese Untersuchungen so mfihsam, dass sie far jemanden, der nicht 
seine ganze Arbeitszeit diesen Dingen zu widmen vermag, nur schwer 
durchfubrbar sind, und dann konnten wir bei unserem Material yon 
atropbischer Myotonie obnehin nicht Resultate zu gewinnen hoffen, 
die mit denen Schiefferdeckers, die sich auf nicht atrophische myo- 
toniscbe Muskeln bezieben, vergleichbar gewesen waren. Sollte die 
weitere Entwicklnng unseres Wissens fiber diese Dinge es wiinschenswert 
machen, diese Luckeunserer Untersuchungen auszuffillen, so wird das ge- 
scbehen konnen, denn das Material bleibt selbstverstandlich aufbewabrb 

Eine Frage mochten wir nicht unterdrucken. Sind es denn wirk- 
lich spezifiscbe Veranderungen, die Schiefferdecker gefunden bat, 
und sind sie geeignet, wie dieser Forscher hofft, das Wesen der Krank- 
heit unserem Verstandnis erheblich naher zu bringen? Vielleicht ist 
der Histolog, der vorzugsweise normales Material bearbeitet, doch zu 
rasch geneigt gewesen, flir eine Krankheit „spezifische“ Veranderungen 
anzunehmen. Wer viel pathologische Muskeln untersucbt, wird in dieser 
Beziebung immer vorsichtiger und kommt leicbt dem Standpunkt nahe, 
in der Variabilitat und Unregelmassigkeit der Befunde geradezu die 
Regel innerhalb eines weiten Gebiets der pathologischen Histologie 
der Muskeln zu sehen. 

Es ware gewiss sehr interessant und wertvoll, wenn die Zukunft 
erwiese, dass die Schiefferdeckerschen Befunde ganz regelmassig 
jedem Falle von Myotonie zukamen. Aber ware wirklich ein Ver¬ 
standnis der Krankheit damit gewonnen? Doch zunachst nur im be- 
- scheidendsten Sinne und Umfange. Von einem Verstandnis patholo- 
gischer Muskelzustande konnte man meines Erachtens erst dann reden, 
wenn es gelungen ware, zwischen bestimmten Strukturveranderungen 
des Muskels und bestimmten Storungen seiner Funktionen auch eine 
innere ursachliche Beziehung nachzuweisen. Solange diese Lficke 
klafft, werden die Ergebnisse auch der sorgsamsten histologischen 
Durchforschung der Fasern, der genauesten Untersuchungen des Mus- 
kelaufbaus doch immer nur eine symptomatische Bedeutung haben und 
giinstigsten Falls unsere Meinung liber den muskularen Sitz eines 
Leidens zu stutzen geeignet sein. 

Also nicht vou der Histologie allein, sondern yon der experimen- 
tellen pathologischen Physiologie der Muskeln sind hier die nachsten 
dringend notigen Aufschliisse zu erhoffen. Freilich sind auf diesem 
Gebiet bisher wenig mehr als die ersten tastenden Schritte getan. 


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Myopathologischer Beitrag. 


103 


Knoblauch hat neuestens in einigen anregenden Arbeiten der 
Idee Ausdruck gegeben, dass fflr die Beurteilung pathologischer Mus- 
kelzustande aus der Berncksichtigung des verschiedenen anatomischen 
und physiologischen Verhaltens der roten und weissen Muskelfasern, 
die normalerweise in den menschlichen Muskeln gemischt auftreten 
sollen, wichtige Ergebnisse wQrden gewonnen werden konnen. Er hat 
auch die Myotonie ins Bereich seiner Spekulationen gezogen. Auch 
auf diesem Gebiet fehlt vorlaufig noch jeder feste Grund und Boden. 
Wir werden in einem spateren Stuck dieser myopathologischen Bei- 
trage Gelegenheit haben, mit ein paar Worten auf diese Frage ein- 
zugehen. 

Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchungen mochte ich 
dahin zusammenfassen, dass ich glaube gezeigt zu haben, dass es sich 
in jedem Falle von sogenannter amyotrophischer Myotonie um ein 
typisches Krankheitsbild handelt, und zwar um eine myopathische pro¬ 
gressive Dystrophie, von der echte ThomsenBche Falle befallen werden. 
Das klinische Bild dieser Muskeldystrophie ist ein ganz scharf .um- 
scbriebenes, einheitliches, in hohem MaCe charakteristisches, es kommt 
in dieser Form nur bei der Thomsenschen Krankheit vor. Eine 
Reihe mehr oder minder haufiger Einzelziige und Begleiterscheinungen 
heben die Eigenart des Bildes noch scharfer hervor. Nur an die ver- 
haltnismassig haufige Impotenz und Atrophie der Hoden mochte ich 
hier noch einmal besonders erinnern. 

Der vorstecheudste anatomische Zug ist eine weit verbreitete 
Cirrhose der Muskulatur. Im Bereich des Nervensystems fanden wir 
lediglich eine echte tabiforme Hinterstrangsdegeneration, die wohl nicht 
als eine zufallige Komplikation, sondern als die anatomische Grund- 
lage einiger der Begleiterscheinungen der Krankheit anzusprechen ist. 
Die Entstehungsbedingungen der Rtickenmarksveranderungen sind wahr- 
scheinlich mit der Grundkrankheit gegeben. 


Literatur. 

(Vergl. auch die Zitate im Text.) 

1) Baumler-Reinhold, Arch. f. Psych. 8. S. 1 und Zeitschr. f. Ner- 
venheilkde. 4. S. 189. 

2) Berg, Muskelatrophie bei Thomsenscher Krankheit. Diss. Bonn 1904. 

3) Bernhardt, Deutsche med. Wochensehr. 1899. S. 109. 

4) Bettmann, Z. f. Nervenheilkde. Bd. 9. 

5) Braun, Thomsensche Krankheit. Diss. Leipzig 1902. 

6) Bregman, Neurol. Zentrlbl. 19(>8. S. 875. 

7) Cassirer, Neurol. Zentrlbl. 1904. S. 39. 

8) Hans Curschmann, Berl. kliu. Wochensehr. 1905. Nr. 37. 


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104 


VI. Steinert, Myopathologisehe Beitrage. 


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9) Dana, zit. bei Hoffmann (15). 

10) Del^age, zit. bei Hoffmann (15). 

11) Frohmann, Deutsche med. Wochenschr. 1900. Ver.-Beil. S. 6. 

12) Fuchs, Neurolog. Zentrlbl. 1905. S. 783 und Wien. klin. Wochenschr. 
1904. S. 722. 

13) Fiirnrohr, Z. f. Nervenheilkde. 33. S. 14. 

14) Gaupp, Zentrlbl. f. Nervenhlkde. S. 65. 

15) Hoffmann, Z. f. Nervenhlkde. IS. 

16) Derselbe, Arch. f. Psych. 42. S. 259 u. Neurol. Zentrlbl. 1906. S. 576. 

17) Jaquet, Semaine mdd. 1903. S. 3S1. 

18) Jolly, Neurolog. Zentrlbl. 1896. S. 140. 

19) Kornhold, Maladie de Thomsen. Th£se de Paris 1S97. 

20) Lannois, Iconogr. d. 1. Salpctr. 1904. XVII. S. 450. 

21) Longard, Deutsche med. Wochenschr. 1898. Ver.-Beil. S. 91. 

22) Lortat-Jacob et Thaou, Arch, de neurol., 2. Serie. XX. 1905. S. 132. 

23) Magneval, Des myotonies atrophiques, These de Lyon 1904. 

24) Nogu£s et Sirol, Iconogr. d. 1. Salpetr. 1899. XII. S. 15. 

25) Passler, Neurolog. Zentrlbl. 1906. S. 1064 5. 

26) Pelizaeus, Berl. klin. Wochenschr. 1897. S. 609. 

27) Pelz, Arch. f. Psych. 42. S. 704. 

28) Rindfleisch, Z. f. Nervenhlkde. Bd. 33. 

29) R os soli mo, Iconogr. d. 1. Salpetri^re. 1902. XV. p. 63. 

30) Schonborn,Z. f. Nervenheilkde. 15- S. 274. 

31) Schott, Z. f. Nervenhlkde. Bd. 21. 

32) Steinert, Verhandlungen der medizinischen Gesellschaft zu Leipzig, 
1904. Buchausgabe. S. 12. 

33) v. Voss, Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie. 1900. Bd. 8. S. 85. 
3-4) Voss, Z. f. Nervenheilkde. Bd. 34. S. 465. 

35: Wer th eim-Salonion son, Ref. Neurol. Zentralbl. 1S99. 8. 223. 


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VII. 


Aus den radiologischen Instituten der allg. Poliklinik und des 
Sanatoriums Fiirth in Wien. 

Cber Wachstnmshemmnng des Skeletts bei spinaler Kinder- 

lfthmung. 

Von 

Priv.-Doz. Dr. Robert Kienbock. 

(Mit 5 Abbildungen im Text und 10 Hildern auf Tafel I. II.) 

Die sogenannte spinale Kinderlahmung, Poliomyelitis anterior acuta 
infantum, wurde ausftihrlich zuerst von J. Heine 1 ) (1840,1860) studiert; 
er wendete seine Aufmerksamkeit auch dem Zustande des Skeletts an 
den gelahmten Extremitaten zu. Nach Eintritt der Lahmung — sagt 
Heine — magert nicht nur die Muskulatur ab, es bleibt vielmehr auch 
das gelabmte Glied beira Vergleich mit dem gesunden allmahlich in 
der Langsentwicklung zuriick, der Arm ist schliesslich oft um 1—2 Zoll, 
das Bein oft um 2—6 Zoll ktirzer als das gesunde. Die Wachstums- 
hemmung verteilt sich proportionell auf Hand, Vorder- und Oberarm, 
auf Fuss, Unter- und Oberschenkel. Ferner sind die Knochen diiuner 
als normal, dieEpiphysen und die iibrigeu normalen Kuochenvorspriinge 
sind kleiner. Der Umfang der Patella, des Schulterblattes, der Schulter 
ist oft um V 3 kleiner, das Becken kann z. B. nach 12 odor 20 .lahren 
viel zu klein sein und dadurch in auffallendem Kontrast zmn kriiftig 
gebauten Oberkbrper stehen. Nicht selten entstehen bei para- und 
hemiplegischen Patienten laterale „paralytische“ Riickgratsverkrummun- 
gen, die sich spater bis zu den grossteu Deformationen des ganzen 
Korpers ausbilden konnen. Muskelatrophie und Knochenatrophie gehen 
gewohnlich parallel, doch kann auch Missverhiiltnis zwischen beiden 
bestehen. 

In der Folge wurde die bei spinaler Kinderlahmung an den ge¬ 
lahmten Teilen vorhaudene Hypoplasie der Knoehen oft studiert —- 


1) J. Heine, Lahmuntrszustantle tier unieren Kxtrmntiiten usiv. K. Kohler, 
Stuttgart 1840, und Spinale Kinderlahmung (Monograjdiie). Cotta, Stuttgart 


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106 


VII. Kienbock 


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fast von alien Neurologen —, handelte es sich doch um eine sehr haufige 
Erkrankung und um augenfallige Erscheinungen. *) 

Die Hypoplasie der Skelettabschnitte kann durch die Erkrankung 
des Vorderhorns der grauen Rtickenmarksubstanz erzeugt sein und 
so der Muskelatrophie und -hypoplasie gleichwertig sein; zum Teil wird 
die Knocbenatropbie auf die Inaktivitat durch Labmung der Musku- 
latur zurttckgeftihrt, ist dann dieser subordiniert Ausser der Unter- 
entwicklung der Knochen gibt es aucb eine Stellungsanomalie der 
Knocben und eine von Lahmung und Kontraktur abhangige Deforma¬ 
tion. Die Knocben sind aber nicht nur in ihrer Grosse und Form 
schlecht entwickelt, sondern auch in ihrem GefQge, sie besitzen eine 
dllnnere Kompakta (Diaphysen der Rohrenknochen) und weitmascbige 
Spongiosa. Durch Bruchigkeit und angeblicb auch Erweichung kann 
es zu Verbiegung, Infraktionen und Frakturen und somit weiteren 
Formveranderungen kommen. 

Im Radiogramm lassen sich die Knochenveranderungen sehr 
schon erkennen. Der Schatten des hypoplastischen Robrenknochens 
ist im Vergleich mit dem normalen knrzer, der diaphysare Teil stark 
verdunnt, der epiphysare Teil weniger, aber auch verkleinert. Der 
zarten Diaphyse scheinen zu grosse Epiphysen aufgesetzt zu sein. Der 
Schatten ist ferner weniger dunkel als normal, namentlich am epiphy- 
saren Abschnitt; hier sieht man auch weitmaschigere Strukturzeich- 
nung, die dadurch besonders deutlich hervortritt Am Diaphysenteil 
zeigt sich die Corticaliszone verdtinnt. Auch die oben genannten 
Formveranderungen, Verbiegungen, Infraktionen usw. lassen sich gut 
erkennen. 1 2 ) 

Auf Veranderungen des Thorax und des Beckens — die bisher 
nicht haufig studiert worden sein durften — sei hier an der Hand 
von mehreren bemerkenswerten Fallen von spinaler Kinderlahmung die 

1) Was die „paralytisehe Skoliose“ nach spinaler Kinderlahmung betriflt, 
so wird sie von Messner, Hoff a u. a. durch 3 Momente, charakterisiert: sie 
fixiert sich erst spat oder gar nicht, es kommt nur selten zu hochgradiger 
Rippenbuckelbildung uud die Achsendrehung der Wirbelsaule tritt sehr in 
den Hintergrund. 

2) Radiologische Untersuchungen bei Hypoplasie der langen Rohren- 
knochen nach spinaler Kinderlahmung wurden verofi'entlicht: von Nonne, Uber 
radiographisch nachweisbare akute und chronische Knochenatrophie bei Ner- 
vcnerkrankungen. Fortschritte auf dem Gcbiet der Riintgenstrahlen. Bd. 5. 
1901—1902. S. 293; Neurath, Uber selteuere Knochendeformitaten nach spi¬ 
naler Kinderlahmung. Wiener med. Presse 1901. Nr. 4 (Verlangerung der ge- 
liihmten Extremitaten); v. Rutkowski, Ein Beitrag zum Rontgenverfahren 
im Dienste der Neurologic. Oharit/’-Annalen 1904; Furnrohr, Die Rontgen- 
strahlen im Dienste der Neurologie. Karger, Berlin 1906. 


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Uber Wachstumshemmung des Skeletts bei spinaler Kindcrliihmung. 107 


besondere Aufmerksamkeit gelenkt, und zwar namentlich soweit sich 
die Veranderungen im Radiogramm nachweisen lassen. 

I. Thoraxform. 

Fall 1 . 34 Jahre alter Mann. Folgezustand nacli Polio¬ 

myelitis anterior acuta infant.: hochgradige Muskel- und 



Knochenatrophie an der rechten Thoraxhalfte, rechten Schulter 
und Oberextremitat, paralytischer Torticollis, paralytische 


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108 


VII. Kienbock 


Skoliose, asymmetrischer paraly tischer Thorax. Die erste rechte 
Rippe einen Tumor vortfiuschend. 

Karl SI., 34 Jahre alt, Commis. Untersuchung am 9. Januar 1907, 
ttbersandt von der chirurgischen Abteilung der Poliklinik (Professor 
Alex. Fraenkel) zur Feststellung der Natur eines in der rechten Supra- 
clavikulargegend vorhandenen, prominenten, knoclienharten, festsitzenden 
„Tumors“ mittelst Rdntgenuntersuchung. 

Patient, der die Lahmung des rechten Armes seit Kindheit hat und 
vor 10 Jahren luetisch infiziert wurde, klagt fiber Schmerzen in der 
Gegend des Tumors seit 1 Jahr. 



Fig. 2. 

Skizze zum Dorsalbild von Fall 1. Die arabischen Ziffern bezeichnen die 
AVirbelkorper und dorsalen Teile der Rippen, die romischen Ziffern die ventralen 
Rippenenaen. Die Rippen mit ungeraden Zahlen sind des leichteren Verstand- 
nisses der Zeichnung wegen dunkler gehalten als die Rippen mit geraden Zahlen. 
Zwerchfell, Herz- und Gef&sskonturen, sowie Trachea sind durch punktierte 

Linien markiert. 

Klinischer Befund. Mittelgrosser Mann; Knochenbau und Musku- 
latur im nicht erkrankten Gebiet krfiftig. Uber den Lungen Erscheinungen 
von Tuberkulose. Herzbefund normal. 

Die Haltung des Patienten ist eine eigentttmliche: Der Hals erscheint 
„nach vorne rechts verschoben“, die rechte Nackenschulterlinie ist stark 
verkfirzt, der Kopf wird etwas nach vorne links vorgestreckt gehalten, das 
Kinn ist gehoben und etwas nach rechts gedreht (char. Haltung bei Torti¬ 
collis paralytica durch Lfihmung eines M. sternocleidomastoideus, vgl. 
Hoffa). Die Wirbelsfiule zieh tvom Lumbalteil in gerader Lipie schrfig 
nach rechts oben; dadurch befindet sich die Kopfachse des Mannes in einer 
Vertikalen, die den Fussboden lateral von der rechten Ferse trifft (paralytische 
Skoliose durch Schwfiche der r. Rumpfmuskulatur). (Textfigur 1.) 


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Uber Wachstumshemmung des Skeletts bei spinaler Kinderlahmung. 109 

Die rechte Schulter ist nicht nur rauskelatrophisch, sondern auch 
viel kleiner als die linke, die rechte Clavicula kflrzer and dflnner als 
die linke. Der Thorax ist stark asymmetrisch und vorne auffallend flach. 
Die Rippen ziehen von der Wirbelsaule sehr steil nach vorne unten, 
namentlich rechts, daher liegt das Sternum mit dem Schultergtlrtel sehr 
tief. Die Ebene z. B., in welcher die rechte 9. Rippe auf ihrem dorso- 
ventralen Weg verlftuft, bildet mit der Yertikalen nur etwa 40°. Das 
Brustbein liegt ferner schr&g und ist vom Ansatzpunkte der 3. Rippen- 
knorpel abwirts deprimiert. Auch die anterolateralen Teile der Brustkorbes 
sind links und rechts etwa von der 4. Rippe abwarts flach eingedrtickt 
(asymmetrischer paralytischer Thorax). 

Links ist die Muskulatur gut entwickelt, rechts dagegen sind M. cu- 
cullaris, deltoideus, pectoralis, ferner die Muskeln des Oberarms, Vorder- 
arms und der Hand hochgradig atrophisch. Der rechte Arm ist auch in 
alien Teilen verkttrzt, die rechte Hand verkleinert Der rechte Arm ist 
im Schultergelenk aktiv nur wenig beweglich, Halswirbelsaule und’Kopf 
werden gut bewegt. 

Die Thoraxtiefe betragt in mittlerer HOhe 18 V 2 cm, der Brustumfang 
in MamillarhOhe 80 cm. 

Lange des Armes 
(Akromion bis 

Mittelfingerspitze r * 72 '2’ 1 78 cnv 
bei Streckung) 

Umfang des Oberarmes r. 15,3, 1. 26,5 cm 

„ „ Yorderarmes r. 19,5, 1. 26,5 cm 

„ der Mittelhand r. 19,0, 1. 23,3 cm. 

Radiologischer Befund. Obere Rumpfhalfte. Dorsalbild 
(bei ROckenlage des Mannes, Focusplattendistanz ca. 80 cm). Der Schatten 
der Dorsalwirbelsaule verlauft fast geradlinig von oben rechts nach unten 
links, der Schatten des Sternum ist nicht zu sehen. Infolge der Skoliose 
ist das rechte Thoraxfeld viel breiter als das linke. Die Schatten der 
Rippen ziehen im Bogen weit nach abwarts (obwohl der Focus der Rohre 
nicht weiter kopfwarts stand als etwa senkrecht Ober der Mitte des Corpus 
sterni); so ist z. B. vou der 1. rechten Rippe das sternale Ende etwa 10 cm 
weiter unten projiziert als das KOpfchen, von der 3. Rippe um 17, 
von der 5. Rippe um 22 cm tiefer. Die Schatten der Schulterblatter liegen 
tief (statt von der 2. bis 7. von der 4. bis 9. und 10. Rippe). Der 
Schatten des rechten Schulterblattes liegt der Wirbelsaule viel naher als 
der des linken und ist entsprechend der veritpderten Lage des Knochens 
am Thorax anders gestaltet. Der obere Winkel des rechten Schulterblatt- 
schattens ist vom Wirbelsaulenschatten 3 cm (gegen 9 cm links) entfernt, 
wahrend die unteren Winkel beiderseits von dem Wirbelsaulenschatten 
ziemlich gleich weit abstehen. Der Schatten des Akromion ist rechts viel 
kleiner als links, noch grosser ist der Unterschied an den Schatten der 
Schlttsselbeine; dieses erscheint rechts 13 cm lang (gegen 19 cm links), ver- 
schmalert und aufgehellt, das sternale Ende ist aueh deformiert. Der 
Schatten des ersten Rippenpaares ist auffallend hell, die Konturen ver- 
laufen unregelmftssig — entsprechend hochgradiger Porose der Knoehen 
und Jnfraktionen. 

Die Zwerchfellkuppenlinie liegt beiderseits tief, der Ilerzschatten ist 


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VII. Kienbock 


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median gestellt. Einige unregelm&ssige Schattenherde in den Lungenfeldern 
weisen auf Tuberkel hin. 

Der Schatten der ganzen Schulter (Muskulatur) ist rechts klein und 
hell, so z. B. auch des Cucullaris, so dass die 1. Rippe rechts der Haut- 
oberfl&che genfthert erscheint. Der mit dem Finger in der rechten Supra- 
clavikulargegend getastete knochenharte Tumor stellt nichts anderes als die 
Konvexitat der 1. Rippe dar. Die Prominenz und leichte Tastbarkeit erklart 
sich durch den steil abfallenden Verlauf der Rippe, den Tiefstand des 
Schultergtlrtels und die Abwesenheit der normalen Muskelschicht. R. Hu¬ 
merus subluxiert. (Tafelflgur 1 , Skizze dazu in Textflgur 2.) 

Radiogramme der Hande. Die rechte Hand erscheint in alien 
Dimensionen kleiner als die linke, Knocben und Muskeln hypoplastisch; 
natOrlich ist auch der Schatten heller. 


Handlange (Radiusende gegenfiber Os lunatum bis Mittel- 
fingerspitze) 

Handbreite (in mittlerer Metacarpalregion) 

Carpallange (Os lunatum proximal bis Os capitatum distal) 

Lange des Metacarpus III 
Lange der Grundphalanx des Mittelfingers 
„ „ Mittelphalanx „ „ 

„ „ Endphalanx „ „ 

Die Endphalanx ist also an der affizierten rechten Hand zwar auch 
schmachtiger, aber langer als an der linken Hand. (Tafelfiguren 2 u. 3.) 


rechts 

links 

19,5 

22,8 

7.5 

10,1 

3,2 

3,5 

6,4 

7,0 

4,4 

4,6 

2,9 

3,0 

1,9 

1,7 


Ahnliche Falle von einseitiger Entwicklungshemmung des Thorax 
bei spinaler Kinderlahmung wurden zuerst von Messner (Uber Asym- 
metrie des Thorax und Kontrakturen der Wirbelsiiule nach Kinder¬ 


lahmung. Zentralblatt fflr Chirurgie 1892, Nr. 44) beobachtet. 


Differentialdiagnostisch interessanter Fall. 

Franz U., 34 Jahre alt, Untersuchung an der Klinik Professor 
v. SchrOtters im Mai 1898. 

Der rechte Ann des sonst wohlgewachsenen Manues ist um 10 cm 
kiirzer als der linke, angeblich nach Erkrankung im dritten Lebensjahr. 
(Niihere Details unbekannt.) Das rechte Schultergelenk ist ein 
Schlottergelenk, der Muse, deltoideus sehr atrophisch, der Arm im 
librigen aber imr wenig atrophisch. Koine Hautnarbe. 

Das Radiogramm der Schulter zeigt, dass der Kopf des Humerus 
fehlt, der obere Teil der Diaphvsc ist verdickt, unregelmassig abgerundet 
und etwas durchsichtiger; weiter abwarts zeigt der Knocben normale Dicke 
und Form. Das Schulterhlatt sclieint etwas verkleinert, namentlich die 
Pfanne, die Processus acromialis und coracoideus aber kraftig entwickelt. 
Clavicula verdiinnt. M. cucullaris und deltoideus atrophisch, Oberarm- 
muskulatur genOgend voluminos. (Tafelflgur 4.) 

Das Bild wurde vom Verfassei - im Wiener med. Klub am 23. November 
1898 deinonstriert (Wiener klin. Wochenschrift 1898, S. 1163); damals 
wurde der Fall als Folge von spinaler Kinderlahmung aufgefasst. Heute 
glaube ich aber, es handle sich elier um die Folge eines Entztindungs- 
prozesscs, noch •walirscheinlicher aber einer Geburtsverletzung. 


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tjber \Vach8tnmshemmung des Skeletts bei spinaler Kinderltihmung. m 


II. Beckenform. 

Fall 2. 41 jahriger Mann. Schlaffe Paraplegie seit dem 

5. Lebensgjahr. Ausser Muskolatrophie aucli bedeutende Hypo- 
plasie des Beckens und der Unterextremitaten, welche dadurch 
in starkem Kontrast zur krSftigen Entwicklung der oberen 
Korperbafte stehen. Skoliose. 

Georg P . .. k, 41 Jakre alt. Untersuchung des Mannes am 19. 
November 1902. 



Fig. 3. Fall 2. 


Anamnese. Patient ist aus gesunder Familie aus Mistelbacli (Niedcr- 
Osterreicb). 

Im 5. Lebensjahre geriet er nach seiner Angabe unter die Pferde 
eines Wagens und erlitt bedeutende Hautabschtlrfungen an den Unter- 
schenkeln (jetzt sind an beiden Waden unregelmassige, verastelte, z. T. 
eingezogene Hautnarben sichtbar); er war nicht gelahmt Er wurde durcb 
mehrere Wochen im Bett gehalten und behandelt, konnte dann wieder 
gut gehen und war weiterhin ganz gesund. Nach mebrercn Monaten 
wachte er eines Morgen mit Paraplegie auf; sie hatte sich nachts 
im Schlafe eingestellt, ohne dass Kriimpfe, Fieber etc. bemerkt worden 
waren. Seitdem sind die Beine gelahmt. Keine Blasen- und Mastdarm- 


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VII. Kienbock 


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stOrungen. Geschlechtsfunktionen normal In der letzten Zeit ab und zu 
Magenbeschwerden. 

Klinische Befund. Der Mann bewegt sich auf der Strasse, wo er 
bettelt, auf einem ganz niederen kleinen Wagen sitzend fort, indem er 
mittelst einer Hebelvorrichtung die Rader dreht. Im Zimmer „geht er 
mit den Httnden", indem er sich auf die Arme stQtzt und den KOrper 
vorwarts hebt. Das rechte Bein lenkt er mit der rechten Hand, das linke 
hat er in die rechte Leistenbeuge eingeschlagen. (Textflgur 3.) 

Habitus. Es besteht ein grosser Kontrast zwischen dem sehr kraf- 
tigen OberkOrper (Kopf, Hals, obere Rumpfhalfte und Armen) und dem 
kleinen UnterkOrper mit den atrophischen gelahmten Unterextremitaten. 

Kopf gut entwickelt, norraales Haupthaar, guter Bartwuchs, sehr gute 
Inteliigenz, Pupillenreflexe normal. Thorax samt Muskulatur, ebenso die 
Arme sehr kraftig entwickelt. Becken verhaltnismassig zu klein; Gesfiss- 
muskulatur sehr atrophisch. Unterextremitaten fast vollstandig gelahmt; 
sie sind hochgradig atrophisch und deutlich verkttrzt, nur die Gelenke 
sind verhaltnismassig gross; Pes equinus, rechts mehr als links ausgespro- 
chen. Haut der Unterschenkel starke behaart, Fttsse etwas cyanostisch. 
Penis und Hoden gut entwickelt 

Die linke Unterextremitat kann aktiv in keinem Gelenk bewegt werden, 
die rechte Untererxtremitat im Kniegelenk gar nicht, in Httft- und Sprung- 
gelenk ein wenig, in den Zehengelenken ziemlich gut Die Gelenke 
zeigen Kontrakturen: Die Httft- und Kniegelenke kdnnen passiv nicht ganz 
gesteckt werden, letztere nur bis zu einem Winkel von 120°. In den 
Sprunggelenken ist nur sehr wenig Kontraktur. 

Patellar- und Achillessehnenreflexe sowie Fussohlenhautreflexe fehlen. 
Bauchdeckenreflex beiderseits lebhaft, ebenso Anal- und Kremastereflex. 
Keine Spontanbewegungen in den Beinen. 

Sensibilitat fttr alle Qualitaten normal, auch in der Genitoanal- 
gegend und an den Beinen bis hinunter. 

Im Dorsolumbalteil ist die Wirbelsaule stark nach rechts 
skoliotisch mit Kyphose; weiter oben besteht leichte Linksskoliose. Be- 
wegungen des Rumpfes beim Sitzen sehr gut. Patient kann sich auch 
mit etwas Beihilfe der Hande vom Liegen am Rttcken aufsetzen, wobei 
sich die Bauchmuskeln gut kontrahieren. Beim Liegen kann Patient — wenn 
die gebeugten, aufwitrts sehenden Kniee festgehalten werden — auch das 
Becken vom Boden aufheben und drchen. Wahrend die Gesttssmuskulatur 
dttrftig ist, zeigt die Rttckenmuskulatur kraftige Ausbildung. 

MaLle: Sitzhohe (Boden bis Scheitel) 80 cm. Siebenter Cervikaldorn 
57 cm fiber dem Boden. Kopfumfang 57 cm, GesichtshOhe 19. Hals- 
uinfang 40. Distanz Jugulum — Sym])hyse 54. Brustumfang 99, Bauch- 
urnfang 90, Biakromialdistanz 42. Antero-posteriorer Thoraxdurchmesser 
in Mamillarhdhe 22 1 / 2 , sagittaler Beckendurchmesser (Sacrum — Sym- 
pliyse) 18 1 / 2 - Dist. crist. 24, spin. 21 l / 2 . Lange des Oberarms (Akro- 
inion bis Olekranon) bei Beugung 33, des Yorderanns (bis Stylus ulnae) 
26, der Hand (bis Mitteltingerspit/.e) 18 1 / i . Arnilange bei Streckung72. Um- 
fang des Oberarms in der Mitte 33, des Vorderarms maximal 29, Faust- 
breite 10 1 / 2 . Umfang des Oberscbenkels (Mitte) 27, der Wade 21, des 
Mittelfusses 21 1 2 . Fussliinge r. 19 1 / 2 , 1. 20. Beinliinge (von Sp. a. s. 
seitlich zum Knicgelcnksspalt und danu bis zur Soble) 72. Lange des 


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Ober Wachstumshemmung des Skeletts bei spinaler Kinderlahmuog. 113 


Oberschenkels (grosser Trochanter bis Patella bei Beugung) 39, des 
Unterschenkels und deformierten Fusses (oberer Rand der Patella bis Sohle) 
44, der Tibia 29, der Fibula 80 cm. 

Die Hypoplasie des Beckens und der Unterextremitaten zeigt sich 
besonders gut bei einem Yergleich mit den MaBen eines normalen 
mittelgrossen Mannes. 

Patient Normaler 


Distantia cristarum. 24 31 

Lange des Oberschenkels. 39 43 

„ „ Unterschenkels (Tibia). 29 39 

„ „ Fusses. 20 25 

Umfang des Oberschenkels. 27 47 

„ der Wade.21 37 



Fig. 4. Fall 2. Skizze zum dorsalen Beckenbild. 


Die VerkrUmmung dcr Wirbelsaule samt Hypoplasie des Beckens und 
der GesSssmuskulatur hat zur Verkleinerung der SitzhOhe von 100 auf 
80 cm geftlhrt. 

Radiologische Untersuchung. Anteroposteriores Becken¬ 
bild (Dorsalbild), beim Liegen am RQcken bei 65 cm Focusplattendistanz 
aufgenommen. Es liegt das Projektionsbild eines allgemein nahezu gleich- 
mSssig verengten Beckens vor; das linke Sitzbein scheint etwas kleiner 
als das rechte zu sein, entsprechend der vollstandigeren Lahmung der 
linken Unterextremitat. (Textflgur 4.) 

Zum Vergleich ist das unter ziemlich gleichen Umstanden aufgenom- 
mene Radiogramm des Beckens eines gesunden Mannes herangezogen. 

MaBe (durch Projektion stark vergrOssert, namentlich an den von 
der Platte weit entfernten Teilen; so betragt die Dist. cristarum im Proj.- 
Bild beim Pat. 29 statt 24, beim Gesunden z. B. 37^2 s t at t 31): 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenhellkunde. 37. Bd. 8 


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VII. Ki exbock 


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Patient 

Gesunder 

Hohe des Beckens . 

... 20 

26 

Distant, cristar. 

... 29 

37 1 2 

„ spinar. post, sup. 

... 11 

12 1 2 

Querer Durchmesser des Beckeneingangs . . 

. . . 13 \' 2 

14 1 2 

„ „ „ Beckenausgangs 

(Tuber. 


ischii) ca. 8 1 ,' 2 

ca. 10 

Distant, foss. acetab . 

. . .15—1614V 2 — 15V 2 

Distant, spinar. ischii . 

... 9 V 2 

10 

Die Radiogramme vom Kniegelenk 

und Fuss zeigen 

nament- 


lich die betrachtliche Verkleinerung der Knochen. 


III. Allgemeine Hypoplasie des Korpers, „Infantilismus“. 

Pall 8 . 25jahriges Madchen. Akat fieberhafter Beginn im 
11. Lebensjahr, Zurtlckbleiben von hochgradiger schlaffer 
atrophischer Lahmung der Hals- and Rumpfmuskalatur, hoch¬ 
gradiger Parese der Unterextremitaten, mittelgradiger Parese 
der Oberextremitaten. Keine Sensibilitats- and Sphinkteren- 
stbrungen. Hirnnerven and Psyche normal. Wachstumsstill- 
stand des ganzen KOrpers. Neben der ausgebreiteten hoch- 
gradigen Atrophie und Hypoplasie der Mnskeln Hypoplasie des 
ganzen Skelettes, in der Grosso entspreohend dem 11.—12. Lebens- 
jahre, aber Ossiflkation vollendet. Schlangenformige Skoliose 
der Wirbelshule. KOrperlange 125 cm. Flaches Gesicht mit zu 
kleinem Nasenraum und zu kleinen Nebenhdhlen. Fast voll- 
standiger Mangel der Mammon. Periode ziemlich regelmassig. 
Bedeutende Adipositas. Exitus nach 19jahrigem Bestand des 
Leidens (mit 12jahriger Bettruhe) an den Folgen von eitriger 
Proctitis im 30. Lebensjahre. Hochgradige ausgebreitete 
Atrophie der Vorderhorner. Harnsaure Nierensteine. Kein 
Decubitus. 

Pauline B., 25 Jahre alt, Untersuchung auf der Abteilung von Prof. 
H. Schlesinger im Kaiser Franz Josef-Spital am 15. November 1902.*) 

Anamnese (von der Patient in selbst erhoben). Vater und Mutter 
an unbekannter Krankheit gestorben, waren normal gewachsen, auch der 
Bruder ist mittelgross. Patientin ist in Wien geboren, hat auch stets 
bier gelebt. Sie hat mehrere Kinderkrankheiten durchgemacht, entwickelte 
sich aber zun&chst normal, war dick und gesund. Im 11. Lebensjahre 
kam eine fieberhaftc Krankheit, angcblich „IIirnliautentzQndung a , und 
Patientin lag mehrere 'Page oder Woehen (?) zu Bett. Seither blieb eine 
allgemeine Muskelschwache in alien Gliedern zurflck; Pat. wurde sogar all- 
mahlich zunehmend schwitcher und vom 18. Lebensjahre an konnte sie 
nieht mehr gehen. 

1) Ieh bin Herrn Dr. Hitschmann dafiir zu Dank verpflichtet, dass er 
mieh auf den Fall aufmerksam machte, und Herrn Prof. Dr. H. Schlesinger, 
dass er mir das genaue Studium des Falles gestnttete. Herr Dozent Czyh- 
larz war so freundlich, mir den Sektionsbefund von Ilerrn Prof. Kretz zur 
Verfugung zu stellen. 


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Ober Wachstumshemmung des Skeletts bei spiualer Kinderlahmung. H5 

Am 5. Oktober 1897 (i. e. vor 5 Jahren, im 20. Lebensjahre) wurde Pat. 
in das Spital mit akut fieberhafter Erkrankung aufgenommen. Die innere 
Abteilung wurde damals von Professor H. Lorenz geleitet. Zundchst 
schien Typhus vorzuliegen, dann trat am rechten Ohr MittelohrentzQndung 
auf; die Temperaturen erreichten durch l&ngere Zeit 89°. Damals wurde 
ein somatischer Zustand vorgefunden, der sich vom jetzigen nicht stark 
unterscheidet. Passive Bewegungen waren zuweilen schmerzhaft, ebenso 
waren die Knochen auf Druck mitunter schmerzhaft; auch traten hin und 
wieder Schmerzen in den Gliedern und besonders im Kreuz und um den 
Leib auf; haufig Kopfschmerzen. Eine Zeit lang musste Pat katheterisiert 
werden, der Harn war frei von Eiter. 

Die Menses traten im 13. Lebensjahre auf, waren anfangs unregel- 
nuissig und schmerzhaft, in der letzten Zeit ziemlich regelmassig. 

Vom 11. Lebensjahre an hOrte die Kranke anscheinend zu 
wachsen auf, sic will sogar allmablich kleiner geworden sein (zunehmende 
VerkrQmmungder Wirbelsaule). Im Jahre 1897 wurden die folgenden MaBe 
erhoben: Kbrperlange 125 cm, Kopfumfang 52, Umfang des Obcrarms 
17, des Vorderarms 16 %, des Thorax in Mamillarhohe 67, des Abdomens 
in NabelhOhe 47, des Oberschenkels (15 cm oberhalb der Patellen) 32, 
etwas Qbcr der Patella 26, der Waden 18 cm. Lange des Oberschenkels 
(gr. Trochanter bis Patella) rechts 30, links 32, des Unterschenkels 27 cm. 

Befund (Kienbflck) am 15. November 1902. Sehr fettleibiges, infantil 
aussehendes, blasses Madchen. KOrperl&nge 125, Kopfumfang 52. Passive 
RUckenlage, Temperatur normal, am Puls keine Besonderheiten. Respira¬ 
tion ruhig, keine Schmerzen in der Ruhe. Ruhiger Gesichtsausdruck. 
Befund an Lungen, Herz, Leber und Milz normal. Harnlassen normal, 
Harnbeschaffenheit normal. Stuhl nur durch Klysma, welches alle zwei 
Tage gegeben wird. 

Hautdecken recht blass, etwas trocken, wenig pigmentiert, Achsel- 
hbhlen sehr feucht; Qberall sehr bedeutender straffer Panniculus, sowohl 
im Gesicht als auch am kurzen Hals, am Rumpf und an den Extremitaten. 
Entsprechend der hochgradigen Muskelatrophie und starken Fettsucht 
zeigen die Formen, namentlich die Extremitaten, nicht die normale Muskel- 
modellierung (Saulenform der Extremitaten). Achselhaare und Scham- 
haare massig reichlich. Mammen nicht zu fOhlen, bier auch keine 
besondere Fettanhaufung, Warzen kindlich. 

Das Haupthaar der Kranken ist blond und ziemlich dicht (in der 
letzten Zeit stark ausgefallen). Grosser rundlicher Kopf, Stirnhbcker vor- 
stehend, grosses, auffallend breites und Baches, dickes Gesicht. Augen- 
brauen gut entwickelt, Ohren proportioniert. Pupillen nach Form, Grosse 
und Reaktion normal. Augendistanz ziemlich gross, Nase in den oberen 
zwei Dritteln breit, Nasenwurzel nicht eingezogon. Kinn gut entwickelt. 
Zabne sehr schlecht, viele sind gerissen, manclie karibs, so auch der rechte 
obere Schneidezahn. Die unteren lateralen Schneidezahne besitzen halb- 
mondformig excavierte Kronen; keine raehitisehen Furchen. Gaumen 
hochgewOlbt Schleimhftute selir blass. Augenbefund normal. Geschmack, 
GehOr normal. Keine Facialislahmung. Intclligenz gut, Geduchtnis sehr 
gut, GemOtszustand entsprechend, Stimme ziemlich hoch, normal, Sprache 
nicht gestbrt, nur durch Zahnverlust erschwert. Schilddrtlse nicht zu 
ftihlen (kurzer Hals uuil ThoraxformitiU). 

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VII. Kienbock 


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Bedeutende Skoliose mit Verkrflmmung des Dorsalteiles nach rechts, 
des Lumbalteiles nach links; dabei lftsst sich die Form der Wirbel- 
saule durch passive Anderung der Lage sehr verandern. Angulos 
Ludovici sehr stark vorspringend, der Rippenbogen ist rechts and links 
weit abstehend, die Rander wie aufgekrampelt Rippenenden leicht verdickt. 
Rumpflange (im Bogen gemessen vom Jugulum bis zur Scharaspalte) 50 cm. 
Urafang der Brust in der HOhe des Rippenbogens 70 cm, des Leibes urn die 
Hoften 74 cm. Die Oberextremitaten sind nicht verkrQmmt, sie reichen, wenn 
ausgestreckt, bis zur Grenze des ersten und zweiten Drittels des Ober- 
schenkels, 57 cm lang, Proportionen der einzelnen Teile normal, Hande 
klein, gut geformt, Vorderarmknochenenden leicht verdickt. Mittelhand- und 
Fingergelenke sehr schlaff, passive seitliche und dorsale Beweglichkeit ver- 
mehrt Lange Armknochen auf Beklopfen nicht schmerzhaft, kaum biegsam. 
Der Versuch, die Ober- und Unterschenkelknochen zu biegen, gelingt 
bei massiger Gewaltanwendung kaum. Im linken Kniegelenk besteht 
Subluxation der Tibia nach hinten. Pes equinus beiderseits. Lange der 
U.-E. von Spina ant. sup. bei Streckung abwarts bis Ferse 70 cm, vom 
Damm abwarts ca. 53 cm. Fusslange 18 cm. Ftlsse proportioniert gross, 
Knochel nicht verdickt 

Sensibilitat am ganzen Korper normal. 

Drehungen des Kopfes gut, respiratorische Thoraxbewegung gut Die 
Kranke kann sich nicht aufsetzen, und wenn man sie aufgesetzt hat, zeigt 
sich, dass auch der Kopf gehalten werden muss, er wttrde sonst wegen 
Lahmung der Halsmuskulatur herabfallen; doch kann Pat. beim Liegen 
den Kopf vor-, rtlck warts und seitlich bewegen. Beim Befehl, sich auf- 
zusetzen, spannen sich die Bauchmuskeln nicht an. Pat. kann sich von 
der Rttckenlage mit dem Gesass nicht abheben, kann auch den Rumpf 
nicht seitlich bewegen, nicht drehen: Rumpfmuskulatur ganz gelahmt. 
Wenn Pat. ftlr das Bettmachen aufgehoben wird, hangen die KOrper- 
teile wie tot herab; Pat. ist dabei angstlich und hat leichte Schmerzen 
im Rilcken. Bauchdeckenreflexe erhalten. 

Aktive Bewegungen in alien Gelenken der Arme durchftthrbar, Pat 
kann die Schultern und Arme heben, aber alle Bewegungen sehr schwach; 
Handedruck sehr schwach. Periostreflexe fehlen. Nirgends Hemmungen 
(lurch Kontrakturen. 

Die Unterextremitaten kOnnen ebenfalls in alien Gelenken aktiv ge- 
beugt, gestreckt und gedreht werden, aber auch nur sehr schwach; die 
Gelenke sind schlaff, nur beginnende Kontrakturen an den Sprunggelenken, 
Pes equinus. Redressement schmerzhaft. 

Radiogramme. 1. Kopf, seitlich. Der Schadcl scheint etwa nor¬ 
mal gross und normal dick, das Gesichtsskelett aber zu klein; die Nasen- 
liohe ist zu niedrig, das ganze Gesichtsskelett viel zu flach (== zu wenig 
vorspringend). Die Stirnholilen sind viel zu klein, der Unterkiefer aber 
in den aufsteigenden und horizontalen Asten recbt gut entwickelt, die Alveolar- 
fortsatzo des Unter- und Oberkiet'ers gut ausgebildet. Die Zahne sind nor¬ 
mal gross, es sind koine retinierten Zalnie zu finden. Die vordere Flucht 
der Schncidczahuc liegt senkrecht, fast in einer Graden, die Zahne sind 
nicht nach vorne gerichtet. Die Sella turcica ist von normaler Grdsse. 
Atlas und Ejiistoplieus sind etwa normal gross, nach unten zu werden die 
Halswirbel allmahlich etwas kleiner. 


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Cber Wachstumshemmung des Skeletts bei spinaler Kinderlahmung. H7 


Die Distanz der Verbindungslinie der vorderen Wande der beiden 
Pori acustici externi zum Nasenstachel ist viel zu klein; sie betragt auf 
der Platte 10 (gegen ca. 11 V? cm im Radiogramm normaler Schadel). 

Distanz von der Basis der vorderen Schadelgrube (Lamina cribrosa 
bis zum harten Gaumen 5 (normal 6), von bier bis zur Kinnspitze 7 cm 
(normal ca. 7 x \ 2 ). (Tafelflgur 5.) Die Ma6e bezieben sich durchwegs 
auf Radiogramme, sind also grosser als die tatsacblichen. 

2. Thorax, Dorsalbild. Die GrOsse entsprichtetwa dein 11.—12. Lebens- 
jahr. Es besteht hochgradige bogige Rechtsskoliose der ganzen Dorsal- 
wirbelsiule. Hochstand der r., Tiefstand der 1. Zwerchfellhalfte. Im 1. 
Lungenfeld kleine Schattenkerde, wie von tuberkulOsen Infiltrationen. 
Quere Thoraxbreite in mittlerer HerzbOhe 25 cm (durch Proj. stark vergr., in 
Wirklicbkeit ca. 18 cm?). Die Wirbelsbule ist so stark verbogen, dass der 
6. Brustwirbel 8 V 2 cm weiter rechts liegt als der 12. Brustwirbel. (Tafel- 
figur 0 und Textflgur 5.) 



Fig. 5. Fall 3. Skizze zum dorsalen Thoraxbild. 

3. Reckter Oberarin, Innenbild. Dicker Panniculus, sebr grazile 
Muskulatur, etwa wie bei einem 11—12jahr. Kind; Biceps zu stark durch- 
lassig (verfettet), Humerus sebr grazil, zu stark durchiassig, Lange 29 cm. 
Ellbogengelenk klein. 

4. Rechte Hand, Volarbild. Die GrOsse entspricht dem 11.—12. 
Lebensjahr, die Ossifikation ist ganz vollendet, an den Plmlangen sind aber 
noch die frbheren Knorpelzonen als Spongiosaverdichtung (Epiphysenmarken) 
zu erkennen. Vorderarmknochen, Carpalien, Metacarpen und Phalangen sind 
proportioniert und durchwegs deutlich atrophiscb (durchsichtiger, mit dllnuer 
Corticalis, weitmaschiger Spongiosa). Die Metacarpen und Fingerknochen 
sind dabei plump geformt. Handlbnge (proximale Flacbe des Lunatum 
bis Spitze der Endphalanx des Mittelfingers) 14,6 und zwar Carpalteil 
(Lunatum und Capitatum) 3,1, Metacarpus III 4,6, Mittelfinger Grund- 
phalanx 3,3, Mittelphalanx 2,2, Endphalanx 1,3 cm. Ilandbreite in der 
Linie des Metacarpophalangealgelenks Y samt Weicbteilen 6,6 cm. Musku¬ 
latur gut entwickelt. (Tafelflgur 7.) 


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VII. Kienbock 


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5. Becken, Dorsalbild. Lendenwirbelsftule nach links skoliotisch> 
diese sowie Kreuzbein recht gut entwickelt. Das Becken hat die GrOsse 
wie im 11.—12. Lebensjahr; es ist etwas asyrametrisch, quer verengt. Die 
Oberschenkelknochen sind oberhalb des kleinen Trochanters gut entwickelt, 
weiter abw&rts zu dttnn. Die Oberschenkelmuskulatur links ist sehr stark 
durchlassig (atrophisch und verfettet). Das Radiogramm bildet mit dem 
Ausdruck der linksseitigen Beckensenkung, Abduktion der linken und Ad- 
duktion des rechten Beins ein Spiegelbild zu Fall 2. 

MaCe ira Bild: Beckenhtthe 18 (Proj. vergr.), Dist. cristar. 25.7 
(projektorisch vergr.). Dist. spin. post. sup. 4,7 (verwertbar). Distanz der 
Pfannend&cher 19 (Proj. vergr.). Dist. spin. isch. 6,2 (verw.), Dist. for. acet. 10. 
Beckeneingang quer 11 (Proj. vergr.), Dist. tub. isch.. (Beckenausgang quer) 
4,8. Breite des Sacrum (Proj. vergr.) 11,7, Lange von Sacrum samt Coccyx 
11,3 cm. (Tafelllgur 8.) 

6. Rechtes Kniegelenk, medial. Gelenkenden atrophisch, mit 
weitmaschiger Spongiosa. Femurdiaphyse grazil, oberhalb der Kondylen 
leicht nach hinten abgebogen. Fibula ungemein dttnn. Oberschenkelmus¬ 
kulatur dttnn und sehr durchsichtig. Panniculus dick. (Tafelfigur 8.) 

7. Rechter Unterschenkel, Hinterbild. Panniculus sehr dick, 
Wadenmuskulatur sehr dttnn. Unterschenkelknochen in den Diaphysen sehr 
schlank (Fibula besonders dttnn), in den Enden sehr atrophisch (weit- 
maschige Spongiosa). Die Knochen erscheinen leicht S-f5rmig verkrttmmt: 
die oberen Enden lateral, die unteren Enden medial abgebogen. Lange der 
Tibia 29,7, der Fibula 30,5 cm. Fusswurzelknochen sehr atrophisch. (Tafel¬ 
llgur 10.) 

8. Rechter Fuss, plantar. Plutnpe, aber atrophische Metatarsen und 
Phalangen, Metatarsus III 5,8 cm, 3. Zehe 3,2 cm lang. Gelenke nicht 
usuriert Dicker Panniculus. Fussbreite (Mittelfuss in der Mitte) 8,2 cm. 

Charakterisierung des Skeletts. Das Skelett entspricht in der 
Grttsse beilaufig dem eines 11—12 jahrigen Kindes. Die Ossifikation ist 
vollendet; nur an den Phalangen sind noch Epiphysenmarken, i. e. un- 
genttgend umgeformte Spongiosa an Stelle der Epiphysenzonen vorhanden. 
Der Nasenraum und die NebenhOhlen sind klein, Schadel, Alveolarfortsatze 
und Unterkiefer aber gross. 

Das Skelett zeigt zahlreicke Deformationen: Die Wirbelsttule ist 
hockgradig skoliotisch, das Becken zu klein, querverengt, namentlich im 
Ausgang, und asymmctrisch. Die langen Rokrenknochen sind nur an 
den Diaphysenkolben etwas verbogen, sonst gerade, sehr grazil. Das 
gauze Skelett ist bedeutend atrophisch, in der Spongiosa porotisch, nicht 
envcickt. 

Verlauf. Durcli die folgenden Jahre blieb der Zustand auch weiter- 
hin fast unverandcrt. 

Ira Jahre 1907 stellte sich Fieber ein, Patientin wurde im Laufe 
einiger Wochen schwiicher und es trat am 30. April 1907 Exitus ein. 

Epikrise zum klinischen Befund. Es haudelt sich also bei 
einem Miidchen um das akute Eiusetzen einer Erkrankung im 11. Lebens¬ 
jahr, sofort mit ausgebreiteten Liihmungen einhergehend, welche zum 
Teil als atrophische, schlaffe Liihmungen zuruckbleiben und dann ganz 


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Uber WachstumsbemmuDg des Skeletts bei spinaler Kinderlahmung. {\ 9 

langsam fortschreiten. Es dfirfte demnach Poliomyelitis anterior 
acuta vorgelegen haben mit Eintreten in auffallend spatem Lebens- 
alter und mit selten grosser Ausbreitung (cervico-dorso-lumbal), viel- 
leicht mit spaterem langsamen Fortschreiten. Hirnnerven, Spbinkteren 
und Hautsensibilitat sind nicht gestort. Arme und Beine sind unvoll- 
standig gelahmt, Bals- und Rumpfmuskulatur ist so bedeutend gelahmt, 
dass Kopf und Rumpf, wenn sie nicht gestiitzt werden, wie tot herab- 
fallen. Es besteht hochgradige, unfixierte paralytische Skoliose. 
Yom 18. Jabre an Unfahigkeit, zu stehen und zu gehen. Zu Kontrak- 
turen ist es nur an den Unterextremitaten in geringem MaOe ge- 
kommen mit Pes equinus. Im 20., 25. und 30. Lebensjahr wird das 
Individuum in einer Korpergrosse vorgefunden, wie sie etwa dem 
11.—12. Lebensjahr entspricht Die Korperlange betragt 125 cm — 
wenn man sich die Skoliose gestreckt denkt, wurde die Korperlange 
etwa 130 cm betragen. Die Muskulatur ist an Rumpf und Extremitaten 
und zwar an den Beinen viel mehr als an den Armen hochgradig atrophisch, 
dunn und verfettet. Das Skelett ist ebenfalls hypoplastisch und atro¬ 
phisch, was zum Teil durch die im 11. Lebenjahr einsetzenden Lah- 
mungen erklart werden kann (Inaktivitatsatrophie), z. T. aber direkt 
durch Erkrankung der Vorderhorner im RQckenmark erzeugt sein 
konnte. Der Panniculus ist sehr dick, das Allgemeinbefinden gut. Die 
Rtickenschmerzen diirften einfaeh auf Subluxationen in den Wirbelge- 
lenken beruhen. Die Menses sind im 13. Jahr aufgetreten, die Brust- 
drtisen haben sich aber aus unbekannten Grfinden nicht entwickelt. 

Entsprechend der Erhaltung der trophischen Zentren ffir die Haut 
im Rtickenmark und der normalen Sensibilitat ist es durch die lange 
Zeit der Bettruhe nicht zu Decubitus gekommen. 

Die Diagnose konnte nach den anamnestischen Daten und nach 
dem klinischen Befund 1902 mit grosser Wahrscheinlichkeit auf akute 
Poliomyelitis anterior gestellt werden: man denke an den akut fieber- 
haften Beginn mit zurlickbleibenden Labmungen und das Fehlen ini- 
tialer Schmerzen — was gegen Neuritis spricht. Querschnittsrayelitis 
kam nicht in Betracht, da spastiscke Symptome an den unteren Extre¬ 
mitaten: Steigerung der Patellarretlexe, Sensibilitats- und Sphinkteren- 
storungen, fehlten. 

Die von Herrn Professor Kretz am 1 . V. 07 vorgenommene Sek- 
tion bestatigte die klinische Diagnose: 

„Anatomische Diagnose: Chronische Atrophie eines grossen 
Teiles der Vorderhorner des Brust- und Lendenmarks; eitrige 
Proctitis; kleine Harnsaurekonkremente in beiden Nieren- 
becken; verrucose Endocarditis. 

Kleine, abgemagerte weibliche Leiclie, 114 cm lang, mit blasseu 


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VII. Kienbock 


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Decken und spfirlichen Totenflecken auf der Rfickseite. Breites Gesicht 
mit niederem breiten Nasenrilcken; reichliches Kopfhaar; Conjunktiven 
und Mundschleimhaut blass; leicht strumOs verdickter Hals. Thorax mit 
im unteren Teil eingesunkenem Sternum. Brfiste klein, mit eingesunkenen 
Warzenhbfen; Abdomen leicht eingezogen. Die Wirbelsaule im unteren 
Brustsegment stark nach links ausgebogen. Die oberen Extremitaten 
(54 cm vom Akromion bis zur Mittelfingerspitze) von kindlichem Habitus; 
die unteren (60 cm vom Trochanter bis zur Fusssohle) sehr dfinn, rund- 
lich, in Htlft- und Eniegelenk in halber Beugestellung und im Enie zu- 
gleich nach hinten subluxiert; beiderseits Spitzfussstellung. Schamhaare 
reichlich. 

Sch&deldach 50 cm Umfang, kurzoval, dfinnwandig, die Eranznaht 
im Mittelteile verstrichen und dementsprechend eine leichte Einsattelung 
der SchadelwOlbung; Dura leicht abziehbar, innere Meningen zart und 
ziemlich blutarm; das Gehirn blutarm, mit engen Ventrikeln. Spinal- 
flfissigkeit klar, das Rfickenmark und seine Haute ziemlich blutreich (Hy- 
postase bei Rfickenlage); die graue Substanz der VorderhOrner im 
Brust- und namentlich im Lendenmark stellenweise ganz reduziert, die 
Qbrige Zeichnung ohne nennenswerte Abweichung. 

Rachenschleimhaut blass, Halsdrfisen klein; massige Eolloidstruma; 
Fettgewebslappen von Thymusgestalt im vorderen Mediastinum. Beide 
Lungen frei, wenig pigmentiert, fiberall lufthaltig, von massigem Blutgehalt 
Im Herzbeutel wenig klares Serum, das Herz klein, kontrahiert, die 
Aortenklappen und die Elappen des rechten Herzens intakt. Die 
Mitralsegel miteinander an den Eommissuren etwas verwachsen, die freien 
Rander verdickt und mit zahlreichen feinwarzigen, grauen-graurotlichen 
Exkreszenzen besetzt Herzfleisch leichter zerreisslich; in der Aorta 
in der Gegend der Sinus Valsalvae unregelmassige gelbe Flecken. Leber 
unter dem geblahten Colon verborgen, klein, ziemlich blutreich. Etwas 
vergrQsserte, scblaffe Milz mit grauroter Pulpa. Beide Nieren von ent- 
sprechender GrOsse, embryonal gelappt, daneben kleine eingezogene 
Herde in geringer Anzahl; am Schnitte die Zeichnung im allgemeinen 
normal, nur den erwahnten Einziehungen entsprechend kleine Rindcn- 
defekte fiber den Pyramidenstreifen. Schleimhaut des Beckens blass, etwas 
verdickt und beiderseits ein paar hanfkorngrosse Eonkremente von 
gelblicher Farbe. Blase fast ganz leer, in ihr ein ahnliches mohnkorn- 
grosses Steinchen. 

Genitale virginal, Uterus noch mit langer Cervix. Ovarien wenig 
gekerbt. 

Magen schleimhaut blass, mit ein paar kleinen Ekchymosen im pylo- 
rischen Anteil; Dttnn- und Dickdarmschleimhaut gleichfalls ohne wesent- 
licheu Befund; dagegen in der Flexura sigmoidea und im Rectum die 
Schleimhaut von eitrigem Schleim bedeckt, fleckweise lebhaft injiziert, 
aufgelockert und im Rectum fiber dem Sphincter tertius ein paar seichte 
talergrosse Geschwfire mit eitrigem Grund. 

An den grossen Mu skein der unteren Extremitaten und des Rfickens 
neben ihrer zarten Beschaffenheit fettig-gelbe Streifung von verschiedener 
Ausdelinung." 

Der Fall verdient wie ersichtlich sowohl in allgemein neurolo- 
gischer Hinsiclit als auch namentlich wegen des Wachstumsstillstandes 


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Deutsche Zeitschrift f. tlervenhellkunde, 37. Band. 








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Uber Wachstumshemmung des Skeletts bei spinaler Kinderlahmung. 121 

besonderes Interesse; man kann in gewissem Sinne von Infantilismus 
sprechen. Die ausgedehnte Vorderhornerkrankung des Riickenmarks 
mit ausgebreiteten Lahmungen hat zu hochgradiger Hypoplasie des Ske¬ 
letts gefuhrt, das in seiner Grosse dera 11.—12. Lebensjalire entspricht, 
aber keine epiphysaren Knorpelzonen mehr enthalt. Auch das Genitale 
und die BrQste sind unentwickelt geblieben. 

Ahnlich lokalisierte, fast generalisierte Hypoplasien des Skeletts 
kommen sowobl bei anderen Muskelerkrankungen der Kindheit vor, so 
bei neurotischer und idiopathischer Muskelatropbie, als auch bei infan- 
tiler Polyarthritis. 1 ) 


Bemerkungen zur Tafel I and II. 

Die Originalradiogramme sind gemeinsam, also auf dasselbe 
MaB verkleinert, auf etwas unter i j 3 der natfirlichen Grosse. Da- 
durch konnen die Grossenunterschiede der Korperteile bei den Kranken leicht 
erkannt werden, uamentlich die hochgradige Hypoplasie im Falle 3 (Fig. 5—10). 
Man vergleiche iusbesondere die Grosse von Fig. 1 und 6, von Fig. 3 und 7. 

1) Eienbock, Hochgradige Wachstumshemmung des Korpers nach in- 
fantilem chronischen Gelenkrheumatismus. Wiener Gesellschaft fur innere Me- 
dizin. 5. VI. 1902. Algyogyi, Infantile Polyarthritis chronica mit Hypoplasie 
der Rohrenknochen und Halswirbel. Ebendaselbst 1. IV. 1909. 


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vni. 


Mitteilung aus der Nervenklinik der konigl. ungar. Universitat in 
Budapest (Direktor: Prof. Dr. Ernst Jendrassik). 

Uber die Erkrankung des Zentralnervensystems bei 
Polyneuritis degenerativa. 

Von 

Dr. Franz Herzog, 

Assistent. 

(Mit 8 Abbildungen.) 

In letzterer Zeit vermebren sich die Beobachtungen von Polyneu¬ 
ritis mit Veranderungen im zentralen Nervensystem. Diese Verande- 
rungen konnen teilweise als sekundare betracbtet werden, als Folge der 
pathologischen Prozesse in den peripheren Nerven, teilweise sind diese 
Veranderungen aber derartig, dass man sie mit der peripheren Er¬ 
krankung nicht in ursachlichen Zusammenbang bringen kann. In 
letzterem Falle kann man die zentralen Veranderungen nur dadurcb 
erklaren, dass das schadigende Gift nicht nur auf das periphere Nerven¬ 
system, sondern auch auf das zentrale direkt einwirkte und auch hier 
Veranderungen verursachte. Nicht bei der rheumatischen, sondern bei den 
infolge Giftwirkung entstandenen Polyneuritiden wurden haufig zentrale 
Veranderungen gefunden. Der Nachweis der haufigen Beteiligung des 
Zentralnervensystems ist vom pathologischen Standpunkt jedenfalls 
wichtig, jedoch ist er auch prognostisch nicht gleichgultig, da die 
Prognose durch die zentrale Erkrankung ungtinstiger wird. 

In dem ersten meiner Falle sprachen die klinischen Symptome 
entschieden fur die Beteiligung des Zentralnervensystems, in dem 
zweiten wurde dies durch die mikroskopische Untersuchung nach- 
gewiesen. 

Fall 1 . R. N., 25 Jahre alt, Beamter, wurde am 15. IV. 1903 auf 
die Nervenklinik aufgenommen. Seine Eltern leben und sind gesund. 
Zwei altere Gesclnvister sind gesund, zwei Gescliwister starben jung an 
unbekannter Kranklieit. Von Krankheiten im Kindesalter erwfthnt der 
Patient, dass er sieli als 7jahriger Kuabe den rechten Arm verrenkte und 
dass er im neunten Lebensjahre drei Tage angeblich wegen Sonnenstich 
das Rett luitete. Vor fttnf Jahren hatte er ein Ulcus durum, das nach 
zwei Monaten lieilte. Damals waren auch die Leistendrttsen angescbwollen, 
sie waren jedoch nicht schmerzhaft. Einige Monate spiiter bekam er am 


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Uber die Erkrankg. d. Zentralnervensy stems bei Polyneuritis degenerativa. 123 

ganzen KOrper einen Ausschlag and es entstanden am den After GeschwOre. 
Zu dieser Zeit machte Patient eine drei Monate dauernde Quecksilberkur. 
Seither gebrauchte Patient jahrlich zehn Einreibungen und nahm ausser- 
dem zeitweilig Jodkali. Wahrend dieser Zeit hatte er oft heftige Kopf- 
sclunerzen, die besonders nachmittags auftraten. Seit einigen Monaten 
liatte er oft reissende Schmerzen in den Beinen. Vor zwei Wochen musste 
er wegen starken Schwindels einen Tag lang liegen. 

Seine jetzige Krankheit begann eine Woche vor seiner Aufnahme mit 
Parasthesien in der Gegend des Afters und im rechten Oberschenkel. 
An diesen Teilen empfand er BerQhrungen nicht so deutlich wie an anderen 
Stellen. Zur selben Zeit warden seine Beine schwacher und auch das 
Kauen fiel ihm schwer. Die Kraft der Beine nahm rasch ab und Dach 
vier Tagen konnte er nicht mehr gehen. Auch das Schlingen wurde 
sohlecht, er verschluckte sich, er musste oft husten, beim Trinken floss 
die FlOssigkeit durch die Nase heraus und kompakte Speisen konnte er 
kaum hinunterschlucken. 

Das Knochensystem und die Gelenke des gut entwickelten, mittel- 
niiissig genabrten, etwas blassen Kranken sind normal. Die Schleimhaute 
sind blass, vergrOsserte LymphdrQsen sind nicht vorhanden. An den 
inneren Organen ist nichts Pathologisches nachweisbar. Sein Appetit ist 
gut. Er hat Stuhlverstopfung und beim Beginn des Urinierens muss er 
warten. Der Urin enthalt keine fremden Bestandteile. Seine Temperatur 
ist bei der Aufnahme 36°, der Puls 80. 

Untersuchnng des Nervensystems. Das Runzeln der Stirn, das 
Schliessen der Augen und Zeigen der Zahne ist nicht gestdrt und geschieht 
beiderseits gleich. Der Kranke beklagt sich jedoch, dass ihm beim 
Sprechen das Bewegen des Mundes schwer falle. Die Zusammenziehung 
der Kaumuskeln ist kraftlos. Die Zunge bewegt sich gut. Das Schlucken 
gelingt unvollkommen, ein Teil des Bissens gelangt in die Nase. Der 
weiche Gaumen bewegt sich gut und beiderseits gleichfbrmig. Die Be- 
wegungen des Halses, der oberen Extremitaten und des Rumpfes sind nor¬ 
mal und auch die Bauchmuskeln kontrahieren sich gut. Die Kraft aller 
dieser Muskcln ist ungefahr normal. 

Der Kranke kann in der RQckenlage seine unteren Extremitaten nicht 
heben, das Streckcn und Beugen der Ober- und Unlerschenkel gelingt in 
geringem Grade. Die Bewegungen der FOsse und Zehen sind nicht be- 
schrankt, die Kraft der Beine ist sehr stark vermindert, er kann weder 
stehen noch gehen. Die rechte Unterextremitat ist etwas starker als die 
linke. 

Die Muskeln sind nicht atrophisch, ihr Tonus ist normal: die Unter- 
extremitaten kdnnen bis zu 85° Ober die Wagcreclite gchoben werden. 

Die Patellar- und Tricepssehnenreflexe sind vorhanden. Die Achilles- 
sohnenreflexe sind schwer auslosbar. Die Sohlenrctlcxe zeigen Bcugetypus, 
die Bauch-, Kremaster- und Inguinalreflexe sind auslosbar. Die olektrische 
Erregbarkeit der Muskeln ist normal, es bestcht keine Ermildungsreaktion. 

Vom Nabel abwhrts fOhlt er die Pinselbertthrungen schwacher, sonst 
ist die BerOhrungsempfindung normal. Schmerz-, Kiilte- und Warmesinn 
sind nicht beeintrachtigt. Die Nervenstiimme sind nicht druckemptindlich. 
Der Kranke fOhlt Kribbeln in den Beinen, im Bauch unter dem Nabel 
und in der rechten Hohlhand. 


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124 


VIII. Herzog 


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Die rechte Pupille ist weiter als die linke and reagiert tr&ge bei 
Belichtung and bei Accomodation. Die Reaktionen der linken Pupille sind 
normal. Die Bewegungen der Augen sind nicht beschr&nkt. KOrper- 
gewicht 65 Kilo. 

16. IV. Es werden Einreibungen mit grauer Salbe verordnet (tag- 
lich 4 g). Der Kranke trank tagsflber wenig Milch, abends konnte er 
jedoch nicht mehr schlucken. Ernahrung per rectum. Temperatur 86,8 °, 
Puls 88. 

16. IV. Die Sprache ist nhselnd. Temperatur normal. Puls 88. 

18. IV. Morgens spricht er kaum verstandlich, abends bessert sich 
die Sprache etwas. Er kann nichts schlingen und kann den Mund nicht 
bffnen. Hochste Temperatur um 4 Uhr nachmittags 37,8 °. Puls morgens 
100, nachmittags 120. Atmung 20. Abends Sublimatinjektion (0,05). 
Die Inunktionen bleiben weg. 

19. IV. Er kann seine Zunge kaum herausstrecken. Sie weicht da- 
bei nach links. Die Bewegungen des weichen Gaumens sind unvollkommen. 
Temperatur um 35,5°. HOchste Temperatur abends um 10 Uhr: 86,7°. 
Puls vormittags 100, nachmittags 116. Die Atmung ist etwas erschwert. 

20. IV. Retentio urinae. Ernahrung durch die Magensonde. Tem¬ 
peratur morgens 35,4°, Puls 100. Nachmittags steigt die Temperatur 
langsam, um 8 Uhr ist sie 89,2°, dann sinkt sie wieder. Um 12 Uhr 
nachts 37,1°. Puls nachmittags 4 Uhr 120. Schweres Atmen. 

21. IV. Besserung der Sprache und der Zungenbewegungen. Tem¬ 
peratur 36,9°, Puls 88. Katheterisieren. Ernahrung durch die Sonde. 

22. IV. Der Kranke sieht am linken Auge nicht deutlich. Die linke 
Pupille ist weit und reagiert weder bei Belichtung, noch bei Accomodation. 
Die rechte Pupille ist mittelweit und reagiert gut Herpes an den Lippen 
beiderseits, besonders an der Unterlippe. Temperatur normal. Puls 88. 
Katheterisieren. Ernahrung wie gestern. 

23. IV. 0,05 g Sublimat Temperatur normal. Puls 84. Ernah¬ 
rung wie gestern. Gesichtsmuskeln fast vollkommen gelahmt. Das Zu- 
sammenziehen der Lippen, das Pfeifen gelingt nicht Die Augen kann 
der Kranke kaum schliessen. Die Sensibilitat im Munde ist intakt. Die 
Zunge bewegt sich schlecht und weicht beim Hervorstrecken nach rechts 
ab. Der weiche Gaumen bewegt sich nicht, die Uvula weicht nach links 
ab. Katheterisieren. Urotropin. 

24. IV. Temperatur normal. Puls 84. Vollstandige Lahmung der 
unteren Extremitaten, nur die Bewegung der Zehen ist erhalten. 

25. IV. Die elektrische Erregbarkeit aller Muskeln ist normal. 

27. IV. Die Kraft der oberen Extremitaten ist vermindert. Das 
Schlingen gelingt mit Mtlhe. 

28. IV. Das Schlingen geht gut. 0,05 g Sublimat Die Zunge 
bewegt sich besser. Die linke Pupille reagiert auf Licht und bei Acco¬ 
modation. 

1. V. 0,05 g Sublimat. Die Bewegungen der Zehen bessern sich. 
Die oberen Extremitaten sind starker. Die Muskeln und die Nerven- 
s tarn me sind druckempfindlich. Der Kranke hat im ganzen Kdrper 
Schmerzen. 

4. V. Ilaufiger Harndrang. Im Urin ist ein wenig Eiter vorhanden. 
Temperatur abends 8 Uhr 38°, Puls 104. Blasenspillung. 


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Uber die Erkrankg. d Zentralnervensy9tems bei Polyneuritis degenerativa. 125 

5. V. Temperatur morgens 38,6°, Puls 98. 

6. V. Der Kranke ist fieberfrei. 0,05 g Sublimat. 

13. V. Sublimatinjektion. Das Katheterisieren bleibt weg. 

25. V. Die geiahmten Muskeln reagieren auf faradischen Strom 
nicht, bei Reizung mit galvanischem Strom entstehen tr&ge Zuckungen. 
Anode = Kathode. Beim Beklopfen der Patellarsehnen entstehen in den 
beiden Mm. quadricipites Zusammenziehungen, die Unterschenkel bewegen 
sich jedoch nicht. 

26. V.—5. VI. Der Zustand des Kranken besserte sich langsam. 
Das Schliessen der Augen gelingt. Die Kraft der H&nde ist unver&ndert. 
Den rechten Fuss kann er bewegen. Die Empfindlichkeit der Muskeln 
und der Nerven ist geringer. Elektrisieren, Massage, lane Bader. Blasen- 
spttlung. Protylin. 

14. VI. Ham normal. Die Muskeln und Nerven sind nimmer em- 
pfindlich. 

10. VIII. Sehr langsame Besserung der Lahmungen. Korpergewicht 
55 Kilo. 

6. IX. Die Patellarsehnenreflexe sind gut auslosbar. Die gelahmten 
Muskeln sind wieder faradisch erregbar. Kathode > Anode. Die Erregbar- 
keit vom Nerven aus ist gut. An den unteren Extremitaten ist der Tonus 
vermindert, besonders an der linken. 

28. X. Der Kranke ist starker. Er kann mit UnterstQtzung stehen. 

16. XI. In den Muskeln der unteren Extremitaten sieht man fasci- 
kuiare Zuckungen. 

14. I. 1904. Der Kranke kann gehen, wenn er auf der einen Seite 
unterstotzt wird und sich ausserdem auf einen Stock stotzt 

Am 8. II. 1904 verlasst er die Klinik. 

Am 17. XI. 1904 sucht er wieder die Klinik auf. Inzwischen hat er 
90 Einreibungen mit Quecksilbersalbe gemacht, ausserdem wurde er elek- 
trisiert, massiert und gebrauchte Bader. Sein Gang ist etwas spastisch. 
Die Patellarsehnenreflexe sind gut auslSsbar. Die Achillessehnenreflexe 
sind schwach. Beiderseits ausgesprochenes Bab inski sches Symptom. Fuss- 
clonus besteht nicht. Der Kranke leidet an geringen Urinbeschwerden 
und an Obstipation. Die Zuckungen der Muskeln sind noch immer trage. 

26. V. 1905. Die Harnbeschwerden sind geringer. Zeitweilig be- 
stehen reissende Schmerzen in den Armen und Beinen. Kein Intentions- 
zittern, kein Nystagmus. Der Gang ist spastisch, die Kniee reiben sich 
aneinander. Die Patellarsehnenreflexe sind gesteigert. Babinski vorhanden. 
Die Achillessehnenreflexe sind schwer auslosbar. Kein Fussclonus. In 
den Muskeln sieht man fascikulare Zuckungen. An der Innenseite des 
linken Unterschenkels besteht eine Hypasthesie von Handgrdsse. 

15. XI. 1907. Der Zustand des Kranken ist beiuahc unverandert. Er 
hat zeitweilig reissende Schmerzen in den Extremitaten. In letzter Zeit 
entstehen oft schmerzhafte Zusammenziehungen in den Beinen, die seinen 
Gang stCren. Wahrend des Gehens kreuzen sich seine Kniee. Beim Uri- 
nieren muss er noch immer pressen. Die unteren Extremitaten sind 
hvpertonisch, sie kdnnen gestreckt bis ungefahr 60 " gelioben werden. Die 
Patellar- und Achillessehnenreflexe sind gesteigert. An beiden Flissen 
Babinskisches Zeichen. Die Sensibilitiit ist intakt. Der Kranke kann 
nur auf einen Stock gestiitzt gehen. Die linke Pupille ist weit, die reclite 


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mittelweit, sie reagieren gut bei Belichtung und bei Accomodation. Die 
elektrische Erregbarkeit der Muskeln ist normal. Vor einem halben Jahre 
erkiiltete sich Patient. Damals wurde seine linke Hand schwach. Dies 
besserte sich, die Kraft der linken Hand ist jedoch auch jetzt noch herab- 
gesetzt. 

Bei dem 25jahrigen Kranken, der vor 5 Jahren ein Ulcus durum acqui- 
rierte, entstaud ziemlich rasch eine Lahmung der Beine, der einige 
Monate dauernde reissende Schmerzen vorausgingen. Die Schwache 
der Beine nahm schnell zu, so dass der Kranke nach vier Tagen 
nicht mehr stehen konnte. Zu dieser Zeit hatte er Parasthesien in den 
Beinen. Damals war seine rechte Pupille weiter und ihre Licht- und 
Accomodatensreaktion trage. Alsbald entstanden Schlingbeschwerden, 
die FlUssigkeit floss beim Schlingen durch die Nase zuriick, und beim 
Uriniren musste er pressen. Dann verbreitete sich die Lahmung auf 
andere Gehirnnerven, auf die Nervi faciales und die motorischen Teile 
der Trigemini, auf die Nn. hypoglossi, auf die Schlingmuskeln, und am 
linken Auge entstand eine Accomodationslahmung mit Erweiterung 
undStarre der Pupille. Wahrend dessen wurde die Lahmung der unteren 
Extremitaten fast vollstandig. Auch die oberen Extremitaten wurden 
schwach, das Schlingen wurde unmoglicb, die Sprache kaum verstand- 
lich, und es entstand Harnretention. Hierzu kamen unregelmassige 
Temperaturerhohungen, zeitweilig subnormale Temperaturen, wahrend 
der Puls auch bei normaler Temperatur frequent war. Auch Atem- 
beschwerden bestanden haufig. In den Beinen, im unteren Teil des 
Bauches und in der rechten Hand hatte der Kranke Parasthesien. 
An den unteren Extremitaten fuhlte er die Pinselberuhrungen schwa- 
cher. Die Haut- und Sehnenreflexe waren auslosbar, die Achilles- und 
Patellarsehnenreflexe waren schwach. Am Ende der zweiten Woche 
begann eine geringe Besserung in diesem schweren Zustand. Die 
Sprache wurde verstandlicher, die Bewegungen der Zunge besser 
und der Puls war weniger frequent. Die elektrische Erregbarkeit 
der Muskeln war zu dieser Zeit noch normal. Nach einigen Tagen 
ging auch das Schlingen wieder, die oberen Extremitaten wurden 
kraftiger und die linke Pupille reagierte wieder auf Licht und 
bei Accomodation. Auch die Motilitat der unteren Extremitaten 
begann zuriickzukehren. Damals hatte der Kranke im ganzen 
Korper Schmerzen und die Nerven und Muskeln waren druck- 
emptiudlich. Nach einem Mouat kann der Kranke wieder spontan 
urinieren. Anfaugs der siebenten Woche wurde in den gelahmten 
Muskeln Entartungsrecktion nachgewiesen. Dann besserte sich die 
Lahmung sehr langsam, die Druckschmerzhaftigkeit der Muskeln und 
Nervenstamme wurde geringer, die Patellarsehnenreflexe wurden gut 


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Uber die Erkrankg. d. Zentralnervensystems bei Polyneuritis degenerative 127 

auslosbar, die faradische Errregbarkeit der Muskeln kebrte zurQck, 
es entwickelte sich jedoch eine Hypotonie an den unteren Extremi- 
taten. Sieben Monate nach Beginn seiner Krankheit kann der Kranke 
wieder aufrecht stehen. 

Die Symptome und der Verlauf in dieser Periode der Krankheit 
machen es unzweifelhaft, dass es sich um eine akute Erkrankung des 
peripheren Nervensystems handelte. Die rasch entstehende und sich 
schnell verbreitende schlaffe Lahmung der Muskeln, deren baldige 
Besserung in manchen Gebieten, die Entartungsreaktion, die Beteiligung 
der Gehirnnerven oder von Teilen derselben, die Hypasthesie der 
unteren Extremitaten, die Parasthesien in diesen, im Bauch und der 
rechten Hand, die Druckschmerzhaftigkeit der Nerven und Muskeln, 
die Schmerzen vor Beginn der Lahmungen sprechen entschieden dafur, 
dass der Kranke an Polyneuritis litt. Ungewohnte Erscheinungen 
sind bei dieser Krankheit das Erhaltensein der Sehnenreflexe, auf 
dessen Bedeutung in unserem Falle ich noch zurtickkommen werde, 
und die bedeutenden Urinbeschwerden. Ersteres wurde schon ofter 
beobachtet, und manchmal waren die Sehnenreflexe sogar erhoht. 
Auch die Poliomyelitis konnte in unserem Falle in Betracht kommen. 
Dies ist jedoch unwahrscheinlich, da stiirkere Schmerzen und die 
Druckschmerzhaftigkeit der Nerven und Muskeln nicht zu den Sym- 
ptomen dieser Krankheit gehoren. Auch die Beteiligung der Gehirn- 
nerven spricht mehr flir Polyneuritis und die Blasenstorungen passen 
noch weniger in das Krankheitsbild der Poliomyelitis, als in jenes 
der Polyneuritis. Die Entwicklung der Symptome ware fur die akute 
Poliomyelitis zu langsam, fur die subakute zu rasch. Endlich spricht 
noch flir Polyneuritis, dass spater alle Symptome verschwanden, die 
auf der Erkrankung der peripheren Neurone beruhten. 

Der Kranke meldete sich ungefahr 1 1 / 2 Jahre nach Beginn seiner 
Krankheit wieder an der Klinik. In dieser Zeit war in seinem Zu- 
stande schon eine bedeutende Veranderung eingetreten, es bestand 
namlich auf beiden Fussen Babinskisches Zeichen. Sein Gang hatte 
sich etwas gebessert, er ist aber ein wenig spastisch geworden. Nach 
6 Monaten untersuchten wir den Kranken wieder. Der Gang war in 
grosserem MaBe spastisch, die Patellarsehuenreflexe waren lebhaft und 
in den Muskeln konnte man fascikulare Zuckungen beobachten. Die 
Achillessehnenreflexe waren noch immer schwer auslosbar, und an der 
Innenseite des linken Unterschenkels war die Haut hypasthetisch. 
Nach 2 V 2 Jahren wurde der Kranke neuerdings untersucht. Er nimmt 
eine Veranderung seines Zustandes nicht wahr. Beim Gehen stort 
ihn die Hypertonie der Beine. Die Patellar- und Achillessehnenreflexe 
sind erhoht, Babinskisches Zeichen an beiden Fussen. Die Sensi- 


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VIII. Herzog 


bilitat ist intakt. Die elektrische Erregbarkeit der Nerven und Mus- 
keln ist normal. 

Nach der Besserung der Polyneuritis entstanden also Symptome, die 
entscbieden fur eine Erkrankung des Zentralnervensystems sprechen. 
Die Hypertonie der unteren Extremitaten, die gesteigerten Sehnen- 
reflexe, der Extensionstypus der Sohlenreflexe, der spastische Gang 
weisen auf die Erkrankung des zentralen motorischen Neurons bin. 
Wahrend dessen besserte sich die Funktion der peripheren Neurone, 
die Sensibilitatsstorungen verscbwanden und auch die Entartungs- 
reaktion bildete sich zuruck. Die fascikularen Zuckungen in den 
Muskeln deuten vielleicht auf die Beteiligung der motorischen Zellen 
des Buckenmarks. Nach 4 V 2 Jahren bestehen jedoch noch Blasen- 
storungen und die linke Pupille ist noch immer weiter. 

Die Symptome der zentralen Erkrankung verschlimmerten sich 
nur sehr wenig wahrend langer Zeit (3 Jahre). Zur selben Zeit faud 
aber auch eine Btickbildung der peripheren Symptome statt, so dass 
es unentschieden bleibt, ob die zentrale Veranderung Fortschritte 
machte, oder ob die scheinbare Verschlimmerung der zentralen Sym¬ 
ptome vielleicht nur darauf beruhte, dass durch Heilung des peripheren 
Prozesses die zentralen Symptome offenbar wurden. Wegen der sehr lang- 
samen Verschlimmerung halte ich es fur wahrscheinlich, dass auch das 
Zentralnervensystem in der ersten Periode der Krankheit, zur Zeit der 
Polyneuritis, erkrankt ist, und dass dies nur darum nicht nachgewiesen 
werden konnte, weil die peripheren Symptome die zentralen verdeckten. 
Dass das Zentralnervensystem zu dieser Zeit erkrankte, daftir spricht 
weiter, dass die Sehnenreflexe wahrend der Polyneuritis nur schwacber, 
aber nicht verschwunden waren, was auf die Erkrankung der Pyramiden- 
bahnen bezogen werden kann. Ebenso waren die Blasenstorungen, die 
wahrscheinlich zentralen Ursprungs waren, da sie nach der Btickbildung 
aller peripheren Symptome fortbestanden, schon im Beginn der Krank¬ 
heit’vorhanden, was auch auf die gleichzeitige Erkrankung des peri¬ 
pheren und zentralen Nervensystems hinweisen wiirde. Es ist also 
sehr wahrscheinlich, dass die Erkrankung des Zentralnervensystems 
wiihrend der Polyneuritis erfolgte, nach deren Heilung die zentralen 
Symptome sich kaum verschlimmerten. 

Schwer zu bestimmen ware die Art der zentralen Veranderungen. 
Das Krankheitsbild, welches sich nach der Heilung der Polyneuritis 
entwickelte, entspricht teilweise der luetischen Paralysis spinalis spa¬ 
stica Erbs 1 ). Das fur diese Krankheit charakteristische Verhalten, in 


1) Erb, liber die spastische und die svphilitische Spinalparalyse und ihre 
Existenzberechtigung. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 23. 1903. 


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Uber die Erkrankg. d. Zen train erven systems bei Polyneuritis degenerativa. 129 

dem bei verhaltnismassig geriDger Hypertonie das Gehen durch sehr 
starke Spasmen gestort wird, war auch in unserem Falle vorhanden. 
Widersprechende Symptome sind jedoch, dass der Kranke bei der 
letzten Untersuchung keine Sensibilitatsstorungen aufwies und dass er 
zeitweise Schmerzen hat. Letztere konnten peripheren Ursprungs sein, 
ebenso wie die Schwache der linken oberen Extremitat, die einige 
Jahren nach dem Beginn der Krankheit entstand und auch am Ende 
unserer Beobachtung noch nachweisbar war. Fiir sehr unwahrschein- 
lich halte ich es, dass eine transversale Lasion des Rtickenmarks die 
zentralen Symptome bedingt, da ein entsprechendes Krankheitsbild zu 
keiner Zeit bestanden hat. Transversale Erweichungen wurden bei 
Polyneuritis beschrieben (Eisenlohr 1 )). Ob kleine herdformige Er¬ 
weichungen oder ob systematische, sogenannte primare Degenerationen 
die zentralen Symptome verursachen, das kann nicht entschieden werden. 

In Folgendem werde ich noch offers den Ausdruck „primare 
Degeneration** gebrauchen. Damit will ich nur darauf hinweisen, dass 
die Anatomie dieser Degeneration sich von jener der sekundaren unter- 
scheidet. Erstere beginnt am Ende der Nervenfaser, letztere egreift 
gleichmassig die gauze von ihrer Zelle getrennte Faser. Mit dem 
Wort „priraar“ will ich nur auf diesen Unterschied hinweisen, ich 
will jedoch damit nicht eagen, dass die Degeneration der Nervenfaser 
wirklich primar entsteht. Es ist moglich, dass auch diese Degenera¬ 
tion sekundar der Erkrankung der Nervenzelle folgt und dass sie sich 
nur darum von der" sekundaren Degeneration anatomisch unterscheidet, 
weil der Einfluss der Zelle auf die Faser nicht plotzlich aufhbrt. 

Die Atiologie dieses Falles will ich nur kurz besprechen. Ausser 
der Syphilis war nicbts atiologisch Wichtiges vorhanden. Zwar be- 
gann die Polyneuritis erst 5 Jahre nach der Infektion, was nach den 
bisherigen Beobachtungen (Cestan 2 ), Remak 3 )) ein verhaltnismassig 
langer Zeitraum ist, doch ist andererseits bekannt, dass die syphilitiscke 
Spinalparalyse meistens im 2.—6. Jahre nach der Infektion beginnt 
(Erb 4 )). In Betracht kommen konnte noch die langdauernde Queck- 
silberbehandlung des Kranken. Der atiologische Einfluss des Queck- 
silbers kann nicht ausgeschlossen werden, und wenn ich diese 
Erkrankung doch eher fiir syphilitisch halte, weil eine intensive 

1) C. Eisenlohr, Uber Landrysehe Paralyse. Deutsche med. Wochen- 
sehrift. 1890. 

2) R. Cestan, La polyndvrite syphilitique. Nouv. Iconogrnpkie de la 8al- 
petrit-re. XIII. 1900. 

3) E. Remak, Neuritis und Polyneuritis. 1904. Nothnagels spez. Path, 
und Therapie. 

4) 1. c. 

Deutsche Zeltschrift f. Nervenhetlkniule. 37 . Bd. 9 


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Quecksilberbehandlung lange (5 Jahre) vor Beginn der Krankheit ge- 
macht wurde, so glaube ich doch, dass die Erkrankung des Nerven- 
systems nicht in syphilitiscben Veranderungen, sondern in toxischen 
Degenerationen besteht. 

Pall 2 . H. B., 49 Jahre alt, Maschinist, wurde am 15. VIII. 1907 
aufgenommen. Sein Vater starb an einer uubekannten Krankheit im 
56. Lebensjahre, seine Mutter 72 Jahre alt an Alterschwache. Fhnf Ge- 
schwister leben und sind gesund. Der Kranke erinnert sich nicht in 
seiner Kindheit krank gewesen zu sein. Als er 22 Jahre alt war, acqui- 
rierte er ein GesehwQr. Daraals machte er 10 Einreibungen mit grauer 
Salbe. Im 23. Jahre litt er angeblich an Bleikolik; sein Bauch war 
aufgebliiht und er hatte tagelang keinen Stuhl. Nacliher war er 3 Mouate 
kr&nklich. Er heiratete mit 25 Jahren. Eines seiner Kinder starb 21 Jahre 
alt an Lungentuberkulose, zwei leben und sind gesund. Einmal abortierte 
seine Frau. Im 39. Jahre hatte der Kranke angeblich wieder eine 
Bleivergiftung, er litt damals an Obstipation und er hatte ungefahr 
4 Monate lang Schmerzen in den Armen und Handen. Die Vergiftungen 
wurden angeblich durch Minium verursacht Seit 3 Jahren arbeitet er 
selten mit bleihaltigen Substanzen. Seit 4—5 Jahren trinkt er taglich 
0,8 Liter Wein, ausserdem nocli Bier und Kognak. 

Seine Krankheit begann Anfang August 1907 mit Kribbeln in den 
Fingern der rechten Hand und spater in den Beinen. Nach einigen Tagen 
versptlrte er plotzlich eine Schwache in den Beinen, das Kribbeln wurde 
starker und es entstanden Schmerzen in den Knieen und in den FOssen. 
Am 5. August konnte er nicht mehr gehen und die Schmerzen wurden 
sehr heftig. Seither kann er das rechte Auge nicht ganz offnen. Es ent- 
stand Meteorismus und die Lebergegend wurde empfindlich. Schon kurz 
vor Beginn seiner Krankheit bemerkte er, dass er beim Uriniren pressen 
und warten musste, und dass der Urin sich anfangs nur tropfenweise 
entleerte. Seit dem 8 . VIII. musste er taglich katheterisiert werden. Er 
hat oft heftige Kopfschmerzen und Parasthesien in der rechten Kiirper- 
lialfte. Seit Beginn der Krankheit leidet er an Obstipation. 

Das Knochensystera des ziemlich grossen, abgeinagerten Patienten ist 
normal. Die Hautfarbe des Kranken ist kachektisch, die Schleimhaute 
sind blass. Kein Bleisaum. Die Lymphdrftsen sind nicht vergrossert. 
Die Lungen und das Herz sind normal. Die Arteria brachialis pulsiert 
sichtbar. Geringer Meteorismus. Der Bauch ist etwas diuckempfindlich. 
Durch die diinnen Bauchdecken sieht man den Rand der Leber, der tiefer 
stcht und konsistenter ist. im Harn ist wenig Eiweiss vorhanden. Die 
Eiterprobc ist positiv. Im Sediment sind zalilreiche Plattenepithelzellen 
und Leukocyten; Zylinder wurden nicht gcfundeu. 

Der Kranke kann nicht stohon, er kann sich im Bette ohne Hilfe 
nicht aufsetzen. Die Muskulatur der unteren Extremitaten ist schlaff, der 
Tonus der oberen Extremitaten ist normal. Die passive Bewegliehkeit ist 
nicht behindert. Das rechte obere Augenlid hiingt hcrab, diese Augen- 
spalte ist schmaler. Reclits gelingt das Runzeln der Stirn weniger gut 
als links, das Schliessen des rechten Auges erfolgt mit geringerer Kraft 
als links und beim Zeigen der Zalme bleibt der rechte Mundwinkel zurhek. 
Die Augonbewegungen sind frei. Koine Diplopie. Die lvaumuskeln funk- 


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Uber die Erkrankg. d. Zentralnervensvstems bei Polyneuritis degenerativa. 131 

tionieren gut, der weiche Gaumen bewegt sich gut. Das Schlingen ist 
nieht behindert. Die Halsmuskeln sind intakt. Der Brustkorb erweitert sich 
beira Atmen normal, das Zwerchfell bewegt sich entsprechend. Die aktiven 
Bewegungen der oberen Extremitaten sind normal. Die Beine sind fast 
vollkommen gelahmt, der Kranke kann nur die Zehen bewegen. Bei Be- 
wegungsversuchen erfolgen zwar in den Muskeln Zusammenziehungen, es 
entstehen jedoch keine Bewegungen. Die FUsse befinden sich in Plantar- 
flexion. Die elektrische Erregbarkeit der Muskeln ist normal. 

Die Patellar- und Achillessehnenreflexe sind nicht auslosbar. Die 
Tricepsreflexe und Bauchreflcxe sind vorhanden. Die Sohlenreflexe haben 
Beugetypus. Kein Fussklonus. 

Auf den Zehen, den Fussrttcken und den Sohlen, am Bauch oberhalb 
des Nabels und an der vorderen Flache der rechten Brusthalfte bis zur 
H6he der Mamilla ist Analgesie vorhanden. Im Bereich der Analgesic 
auf der Brust ist die Haut hypasthetisch. Die Obrigen Scnsibilitatsarten 
sind intakt. 

Die Pupillen sind mittelweit, gleich und reagieren sowohl auf Licht 
wie bei Accomodation. Der Augenhintergrund ist normal. Das Geh5r ist gut. 

Den Kranken beobachtete ich bis zu seinem Tode, der nach 2 1 I 2 Mo- 
naten eintrat. In den ersten Wochen nach seiner Aufnahme verschlimmerten 
sich die Symptome. Die Schraerzen in den unteren Extremitaten wurden 
immer heftiger, so dass wir neben anderen schmerzstillenden Mitteln 
alsbald auch Morphium geben mussten. Die Schmerzen waren konstant, 
brennend-reissend und setzten auch ktlrzere Zeit nicht aus, im Gegensatz zu 
den tabischen Schmerzen. Die unteren Extremitaten waren bei passiver Be- 
wegung und auf Druck stark schmerzhaft. Die Druckschmerzhaftigkeit 
war in der Umgebung der Gelenke am grOssten, eine umsehriebene Schmerz- 
haftigkeit der Nervenstamme war jedoch nicht vorhanden. In den Gelenken 
konnte keine Veranderung nachgewiesen werden. Die Schmerzen erreichten 
in der dritten Woche nach der Aufnahme ihren Hohenpunkt, spater wurden 
sie geringer und in den zwei letzten Wochen seines Lebens hatte der 
Kranke keine Schmerzen. Kurze Zeit (wahrend den ersten 9 Tagen seines 
Aufenthalts in der Klinik) hatte der Kranke Kribbeln in der rechten 
Gesichtshalfte, ohne dass hier eine Sensibilitatsstorung naehweisbar ge- 
wesen ware. Eine Untersuchung am 6. IX. ergab, dass die Ausdehnung 
der Sensibilitatsstorung fast dieselbe wie bei der Aufnahme war, nur 
hatte sich auch am Bauch und an den Ftlssen eine Anasthesie entwickelt. 
Die Sensibilitat der tieferen Teile schien auch jetzt intakt zu sein. Die 
Prttfung der Bewegungsempfindung war jedoch nicht verlasslich wegen der 
Schmerzhaftigkeit der passiven Bewegungen. 

Mit dem Heftigerwerden der Schmerzen wurde auch die motorisehc 
Lahmung schwerer. Am 18. VIII. beklagte sich der Kranke Uber Doppelt- 
sehen. Es entstanden ungekreuzte Doppelbilder beirn Blick nach rechts. 
Diese Diplopie blieb fast vier Wochen unverandert, danu war sie zwei 
Wochen zeitweilig naehweisbar, urn spater zu verschwinden. Auch die 
Lahmung der unteren Extremitaten verschlimmerte sich in den ersten 
Wochen bis zur vdlligen Paralyse, danu begann aber eine langsame 
Besserung; zuerst konnten die Zehen, dann die Fflsse bewegt werden. 
Die Bewegungen waren nicht ataktisch. Die Facialisparese und die Ptosis 
bestanden anfangs unver&udert, dann besserten sich beide langsam und ver- 

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schwanden nach einem Monat vollstiindig. Einige Male bekam der Kranke 
dyspnoische Anfaile, die Bewegungen des Zwerchfells waren jedoch nicht 
beeintrachtigt. 

Die elektrische Untersuchung ergab acht Tage nach der Aufnahme 
verminderte faradische und galvanische Erregbarkeit der beiden Nn. peronei. 
Die faradische Erregbarkeit der entsprechenden Muskeln Avar auch berab- 
gesetzt, die Kathode war ein grbsserer Reiz als die Anode. Nach vier Wochen 
bestand totale Entartungsreaktion in diesen Nerv’en und Muskeln. Anode 
Kathode. Spater kehrte die Erregbarkeit zurfick, so dass einige Tage 
vor dera Tode des Kranken diese Muskeln soAVohl direkt als auch indirekt 
mit dem faradischen und galvanischen Strom erregbar waren. DieZuckungen 
waren aber auch damals noch tr&ge. 

Die Blasenstorungen blieben vier Wochen unverandert, der Kranke 
musste bestandig katheterisiert werden. Spater konnte der Kranke spontan, 
obwohl nur mit Mtthe urinieren. Wahrend der ganzen Dauer unserer 
Beobacktung litt er an Obstipation. Der Puls des Kranken Avar fast immer 
frequent (um 100). 

Der Kranke war bis 10 Tage vor seiuem Tode immer fieberfrei. 
Dann hatte er anfangs kleinere, spater grossere (bis 39,2°) und mit Schfittel- 
frost einsetzende unregelmassige Temperaturerkcihungen. Zugleich war fiber 
beiden Lungen hinten unten Rasseln horbar, perkutorisch war jedoch keine 
Verfinderung nachweisbar. Vollstandige Appetitlosigkeit erschwerte schon 
vom Beginn der Krankheit an die Ernahrung, so dass der Kraftezustand 
des Kranken immer schlechter wurde und mit dem Auftreten des Fiebers 
ganzlich verfiel. Am 29. X. 1907 trat der Tod ein. 

Schon bei der Aufnahme fiel uns das labile Gemfit des Kranken auf. 
Sehr leicht fing er zu weinen an, man konnte ihn jedoch schnell mit einigen 
Worten beruhigen. Im fibrigen benahm er sich aber ganz normal und 
war vollkommen orientiert. Er verstand die an ihn gerichteteten Fragen 
und beantAvortete sie richtig. Drei Wochen vor seinem Tode fing er an, 
des Nackts unruhig zu werden und sprach wachend vieles, Avas auf eine 
unrichtige Beurteilung seines Zustandes deutete. So Avollte er trotz seiner 
vollstandigen Unbeholfenheit aufstehen, um nach Hause zu gehen, und 
forderte seine Kleidung. 

In einer Nacht sprach er darUher, dass er einen Sack voll Gries 
irgemhvohin bringen miisse. Morgens erziihlte er, dass man ihm den Gries 
stehlen wollte, und er den Dieben nachgelaufen sei. Doch schien er nicht 
ganz sicker darin zu sein, ob dies alles auch Avirklich geschehen sei. 
Ein ander Mai beschaftigte er sich mit scinen Genitalien und brachte diese 
mit den Maschinen, die er zu versorgen hatte, in Zusammenkang. Einmal 
erzahlte er morgens, dass ilm sein Nachbar in ein Gasthaus ffihrte und 
ihn betrunken lnackte und dass die fibrigen Giiste ihm zugerufen haben, 
er solle sicli ruhig verkalten. Er hake dort gescklafen und sei erst 
morgens zurfiekgekomrnen. In Zusammenkang mit dieser Tiiusckung 
Avar Avahrscheinlich, dass er seines Rodens Avegen in jener Nacht von 
den Kranken otters zur Rulie ermahnt Avurde. Das vor kurzer Zeit Ge- 
scheliene vergass er sehr leicht. Es Avusste die Tageszeit nicht anzugeben, 
er Avusste nicht, Avas er zu Mittag gegessen hatte und wer ihn den 
vorigen Tag besucht hatte. Manchmal erkannte er seine Sclnvester nicht, 
dann liielt er die Warterin ffir seine Sclnvester und erkannte sie erst, als 


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tber die Erkrankg. d. Zentralnervensy stems bei Polyneuritis degenerativa. 133 


er auf seinen Irrtum wiederholt aufmerksara gemacht wurde. Yon seinen 
Tauschungen ausgehend kann man ihn zum Erzahlen anderer Tauschungen 
bringen. 

Die Sektion ergab keine makroskopischen Veranderungen im Zentral- 
nervensystem und in den peripheren Nerven. Nur Qber dem Brustmark 
waren die weichen Haute mit der Dura mater verwachsen und etvvas dicker 
und grauweisslich verfSrbt. Pathologisch-anatomische Diagnose (Dr. F u s z e k): 
Nephritis interstitialis chronica. Hepatitis interstitialis chron. Bronchitis 
diftusa. Pneumonia catarrhalis bilateralis. Emphysema minoris grad, 
pulm. Endo- et Mesoarteriitis chronica def. aortae ascendentis et arcus 
gravis, aortae thoracicae in vestigiis. Degeneratio parenchymatosa minoris 
gradus myocardii. Atrophia et anaemia univ. Oedema pulmonum. 

Durch die mikroskopische Untersuchung konnten ausgedehnte Ver¬ 



anderungen im peripheren und zentralen Nervensystem nachgewiesen werden. 
Ausser der Marchischen und Weigertschen Methode benutzte ich Far- 
bungen mit Hamatoxylin-van Gieson und mit Thionin. 

Auf diese Weise wurden Sttlckchen aus jedem zweiten Segment des 
Rtlckenmarks behandelt. Die Veranderungen waren auf Marchipra- 
paraten am starksten und am meisten ausgedehnt. In dem Sakral-, Lum- 
bal- und unteren Brustmark (Fig. 1 und 2: 4. Sakral- und 2. Lumbal- 
segment) sieht man in den Ilinterstrangen zahlreiche schwarze Kbrner, 
die entschieden einer bedeutenden Degeneration entsprechen. Die Seliollen 
sind fast gleichmassig auf den ganzen Querschnitt der Hinterstrange vcr- 
teilt, nur im ventralen Feld sind sie etwas sparlicher. In dem oberen 
Brustmark ist die Degeneration alinlieh, nur sind in dem iiusseren Ab- 
sclmitt der Burdachschen Strange weniger Seliollen. Vom 6. Dorsal- 
segment (Fig. 3) aufwarts kommt zu der bescliriebenen eine Degeneration 
der Seitenstrange hinzu, deren Ausdelinung den Kleinhirnseitenstrangbahnen 
entspricht und die in den hoheren Segmenten immer starker wild. In dem 


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Halsmark (Fig. 4 and 5: 5. and 1. Cervikalsegment) ist diese Degeneration 
noch bedeutender. Sie erreicht die grosste Ausdehnung in den obersten 
Cervikalsegmenten. Die Degeneration der Hinterstrilnge ist bier ahnlich 
vie ira oberen Brustmark. Auch die Lissauersche Zone enth&lt zahl- 
reiche Schollen. 

An den Marchi-Prtiparaten ist auch in den vorderen und hinteren 
Wurzeln eine Degeneration sichtbar. Diese ist in den hinteren Wurzeln 
des Lumbal- und Sakralmarks am st&rksten, wo man die degenerierten 
Fasern bis in das Hinterhorn verfolgen kaun. Sparlicher sind die Schollen 
in den hinteren Wurzeln des Dorsalmarks und noch weniger Schollen 
sind in den vorderen Wurzeln vorhanden. Im Sakralmark ist auch 
der intramedullare Teil dieser Wurzeln degeneriert. Ich will noch er- 
wahnen, dass die Marchi-Praparate tadellos gelungen sind, die nicht 
erkrankten BOndcln waren frei von Schollen. 

Die mit der Weigert- Palschen Markscheidenfarbung hergestellten 
Praparate bestarken diesen Befund, nur war die Degeneration bei dieser 
Farbung weniger ausgesprochen und in manchen Bttndeln Dberhaupt nicht 
nachweisbar. An Langsschnitten erscheinen die degenerierten Fasern ddnner, 
stellenweise verdickt. Zwischen den Fasern befinden sich zahlreiche kugel- 
fOrmige und langliche Schollen. Einzelne Fasern werden durch kaum 
gefiirbte Abschnitte in Segmente geteilt. Im caudalen Teil des RQckenmarks 
sind die Hinterstrange gleichmassig degeneriert, im Halsmark ist nur in 
den Gollschen Strangen eine ausgesprochene Lichtung der Fasern zu 
sehen, wahrend die Burdachschcn Strange nur etwas lichter erscheinen. 
Im Dorsalmark sind die' Fasern im Schultzeschen Komma und im ven- 
tralen Feld ziemlich gut erhalten. Die hinteren Wurzeln des Lum¬ 
bal- und Sakralmarks sind gelichtet, die vorderen Wurzeln zeigen keinen 
Faserausfall. Die Veranderung der hinteren Wurzeln nimmt nach oben 
stetig ab. 

In derselben Ausdehnung erscheint die Degeneration auf den mit 
Hiiinatoxylin-van Gieson gefarbten Praparaten. Die Markscheiden 
farben sich in den degenierten Biindeln schwach, sie besitzen keine scharfe 
Grenze, die Achsenzylinder sind stellenweise nicht erkennbar. In der 
Kleiuhirnseitenstrangbahn ist weder an diesen, noch an den Weigert- 
Praparaten eine Veranderung zu sehen. Die Pia is verdickt, das Binde- 
gewebe ist um die Gefasse vermehrt, die kleinen Gefasse scheinen zum 
Teil weiter zu sein, ihre Wand ist dicker. Blutungen land ich nicht. Am 
ganzen Querschnitt des RGckenmarks sind Amyloidkorperehen zerstreut, am 
zahlreichsten liegen sie jedoch in den Hinterstrangen und den Hinter- 
hornern. Hier sind aueii die Gliakerne vermehrt. Ausserdem sind die 
Hinterstrange gleichmassig durchloehert. Nirgeuds fand ich eine Er- 
weichung oder eine kleinzellige Infiltration. 

An den mit Thionin gefarbten Sehnitten (Alkoholfixation) zeigten 
die Zellen der Vorderhbruer eine Veranderung. die auch bei Hama- 
toxylinfiirbung teilweise erkennbar war. Diese Veranderung ist im Sacro- 
lumbalmark am starksten. An einzelnen Sehnitten fehlt die Granulation 
in alien Zellen und auch der Zell kern fehlt oder er liegt am Rand der 
Zelle. Viele Zellen enthalten Vakuolen, manehe Zelle wird davon fast 
ganz ausgefullt. Bei schwacher Vergrosserung erscheinen die Zellen 
homogen, bei starker sieht man in ihnen sehr feine unregelmassige KOrn- 


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Uber die Erkrankg. d. Zentraluervensystems bei Polyneuritis degenerativa. 135 

chen. Einige Zellen sind sehr pigmentreich. Im Dorsalmark werden diese 
Veranderungen geringer und im Cervikalmark findet man kaum mehr eine 
veranderte Zelle. Die Zellen der Spinalganglien und der Clarkeschen 
Saulen waren unverandert. 

Die Degenerationen im Rtlckenmark kdnnen an Marchi-Praparaten in 
das verlangerte Mark verfolgt werden: die der Hinterstrange bis zum 
Nucleus funiculi gracilis und cuneati, jene der Kleinhirnseitenstrangbalm iu 
in das Corpus restiformc, wo zahlreiche Schollen vorhanden sind (Fig. 6). 
An diesen Schnitten sieht man auch eine Degeneration in der sensiblen 
Wurzel dcs Trigeminus und im Fasciculns solitarius. In den Wurzcln der 
in der Gegend der Brllcke und der Vierhfigel entspringenden Gehirnnerven 



Fig. 7. 


ist eine Degeneration mit Bestimmtheit niclit erkennbar. In der Gross- 
hirnrinde (es wurden Sttlckc aus beiden Lobi frontales, Gyri praecentrales 
und Lobi occipitales untersucht) und im Kleinhirn ist der Befund negativ. 

An nach Weigert gefarbten Schnitten derselben Hirnteile ist keine 
Faserverminderung wahrnehmbar. Mit H&matoxylin-Picrofucksinfarbung 
faud ich nirgends eine Erweichung. Im Stirnlappen waren einige kleine 
Blutungen vorhanden, die aber nur die Gefasse umgaben und kein Gewebe 
zerstOrten. Manches Gefass enthalt kein Blut, sondern eine homogene braune 
Masse. An Thioninpraparaten erscheinen die Zellen der genannten Hirn¬ 
teile normal. 

Ausserdem untersuchte ich die Nn. ischiadici und peronei. Auch in diesen 
sind die Veranderungen an March i-Praparaten am starksten. Die Schollen 
sind aber auf dem Querschnitte der Nerven niclit gleichmassig verteilt, 
sondern die einzelnen kleinercn Faserbtiudelchen sind in sehr verschiedenem 


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136 


VIII. Hkrzog 


Grade degeneriert. Einige derselben enthalten Qberhaupt keine Schollen, 
andere nur wenige und nianche sind mit Schollen ganz angefOllt. 
Dasselbe kann man auch an Liingsschuitten beobacbten. Aknliche 
Bilder geben die nach Weigert und die mit Hamatoxylin-Picrofuchsin 
gefiirbten Schnitte. An ersteren ist der Faserausfall in den Btlndelchen 
sehr verschicden, einige derselben scheinen normal zu sein; an letzteren 
entsprecben die starker rot gefiirbten Stellen den degenierten Fasern. 
Bei Weigertscher Fiirbung erselieiuen auf Langsschnitten die Mark- 
scheiden der degenerierten Fasern als Reihen von Schollen, oder sie 
fiirbcn sich tlberhaupt niclit. Diese VerSnderung erstreckt sich aber oft 
nur auf einzelne Abschnitte der Nervenfasern, so dass degenerierte mit 



Fig. 8. 


normalen Strecken abwecliseln. Ausserdem sind die Markscheiden stellen- 
weise in Segmente zerfallen, wie das Strtimpell 1 ) besclirieben bat. Im 
Bindegewebe der Nerven ist nicbts Abnormes, namentlich konnte ich keine 
kleinzellige Infiltration linden. 

Aneli die heidcn Mm. tiliiales antici wurden untersucht. Bei Marchi- 
Beliandlung sielit man in manehen Muskelfasern, liiiutig innerhalb eines 
Bilndels. reilienformige schwarze Seliollen. Bei Hiimatoxylin-v. Gieson- 
Farbung Ft an Querselinitten (Fig. 7) die verschiedene Dicke der Fasern 
auffallig. I in allgemeitien sind die Fasern diinner (zirka 35 ft) und eine 
ziemlieli grosse Anzalil i>t selir dtinn /.. B. 12x20 fi). Einige Fasern 


1) A. Striimpell, Beitriige zur Patlndogie und pathologischen Auatomie 
tier multipleri Neuritis. Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 04. 


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Uber die Erkrankg. d. Zentralnervensystems bei Polyneuritis degenerativa. 137 

sind hingegen sehr dick (80—90 fi). Meistens sind in einem Bllndel nur 
1—2 solcke Fasern. In einigen dicken Fasern sieht man zahlreiche 
(10—15) scharf begrenzte Vakuolen (Fig. 7). Hier kann man im Innern 
dieser Fasern Zellkerne beobachten. Zwischen den Fasern ist das Binde- 
gewebe etwas vermehrt, doch konnte ich weder hier, noch in der Um- 
gebung der Gefasse klcinzellige Infiltration beobachten. 

Auch an Langsschnitten ist die verschiedene Faserdicke gut walir- 
nebmbar. An den dickeren Fasern ist die Querstreifung gut erhalten, an 
ilon dQnnen ist sie verschwommen oder verschwunden. An diesen sieht 
man oft eine Langsstreifung. Die Kerne der Fasern sind vermehrt. Sie 
sind zura Teil langlich, spindelfOrmig, zum Teil kugelig. Letztere farben 
sich oft nor sehr schwach. Die runden Kerne liegen manchmal in einer 
Heihe, manchmal sind die Kerne an einer umschriebenen Stelle vermehrt, 
abcr auch an solchen Stellen beschrankt sich die Yermehrung auf eine Muskel- 
faser. Diese sich stark farbenden Kerne bedecken die Faser teilweise 
odor ganz (Fig. 8.). Diese Bilder stimmen mit jenen Qberein, die z. B. 
bei Zenkerscher Degeneration der Muskeln als Muskelzellenschlauche be- 
scbrieben warden 1 2 ) Diese zellreichen Fasern sind ausserdem stark ver- 
arnlert, sie haben ihre Querstreifung verloren, sind homogen und farben 
sich gelblichrot. Oft sind die Fasern in meiirere fihnliche grosse Schollen 
zerfallen. Auch auf Fig. 8 ist zwischen den Zellkernhaufen die degenierte 
Muskelfaser sichtbar. Die Kernhaufcn befinden sich manchmal nicht im 
Verlauf der Faser, sondern an doren Ende. Auch an Querschnitten kann 
man diese Zellkernansammlungen beobachten, in denen kaum mehr kontrak- 
tile Substanz enthalten ist. Ahnliche Kernwucherungen beschreibt Thom a -) 
als Zeichen der Regeneration bei wachsartiger Degeneration der Muskeln. 

Die starke Vermehrung der Kerne kann nur als Regeneration der 
Muskelfasern aufgefasst werden. Es steht dies mit dem Yerlauf der 
Krankheit, mit dem Beginn der Besserung im Einklang. Diese Verftnde- 
rungen sind jenen ganz ahnlich, die bei Typhus und nach experimenteller 
Yerletzung in dem regenerierenden Muskelgewebe beobachtet wnrden. 

Die Beurteilung dieses Falles ist nicht schwer. Die unter Par- 
asthesien sich schnell entwickelnde Lahmung der unteren Extremitiiten, 
das Fehlen der Sehnenreflexe, die sich alsbald einstellende Entartungs- 
reaktion der gelahmten Muskeln, die Lahmung des rechten N. facialis, 
dann des N. abducens derselben Seite, die Anasthesien an den unteren 
Extremitaten und am Rumpf, die Parasthesien in der rechten Hand 
und im Gesicht und die sehr heftigen Schmerzen sprechen entschieden 
dafiir, dass der Kranke an Polyneuritis litt. Gestutzt wird diese Dia¬ 
gnose auch noch dadurch, dass ein grosser Teil der Symptome sich 
besserte, und dass spater die Zeichen einer Korsakoffschen Geistes- 
storung auftraten. Als selteneres Symptom erwiihne ich die bedeu- 
tenden Blasenstorungen. 

1) H. Lorenz, Die Muskelerkrankungen. Nothnagels spezielle Path, und 
Therapie. 1904. 

2) Thoma, Lebrbuch der allg. path. Anatomic. 1804. 


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13S 


VIII. Hebzog 


Vom atiologiselien Standpunkt kommt in diesem Falle in Betracht die 
Bleivergiftung, das in jtingeren Jahren acquirierte Ulcus, das mit Queck- 
silber behandelt wurde, der Potus, die Hepatitis und Nephritis inter- 
stitialis und die Arteriosklerose. Das klinische Bild schliesst eine Blei- 
lahmung aus und die luetische Infektion geschah vor zu langer Zeit, 
um als Ursache der Polyneuritis gelten zu konnen. Die chronischen 
Erkrankungen der Leber und der Nieren halte ich nur fur solche Ver¬ 
anderungen, die durch Schadigung des Stoffwechsels die Entstehung 
der Polyneuritis begtinstigt haben infolge schlechter Ernahrung der 
Gewebe, die jedoch nicht als die Ursachen der Erkrankung des Ner- 
vensystems betrachtet werden konnen. Ich glaube, dass in diesem 
Falle der Alkohol die Erkrankung verursachte, dem entsprechen die 
Symptome der Krankheit, und dass ausser der Polyneuritis auch die 
Hepatitis, Nephritis und Arteriosklerose auf den Alkoholismus zuruck- 
zufuhren sind. Besonders das Verhaltnis der Lebercirrhose zur Poly¬ 
neuritis wurde in letzter Zeit untersucht. Klippel und Lhermitte 1 ) 
sind der Ansicht, dass die Verminderung der giftbindenden Fahigkeit 
der Leber den schweren Verlauf der Polyneuritis bei an Lebercirrhose 
leidenden Alkoholisten verursache. 

AusfGhrlicher will ich mich mit dem Resultat der histologischen 
Untersuchung des Nervensystems beschaftigen. Die Veranderungen 
im Zentralnervensystem und in den peripheren Nerven haben den 
Charakter von Degenerationen. Die Markscheiden sind in den erkrankteu 
Gebieten zerfallen oder sie farben sich schlecht. Letzteres gilt auch 
von den Achsenzylindern, die ausserdem keine scharfen Konturen be- 
sitzen. Andererseits war keioe Veranderung nachweisbar, die flir Ent- 
zundung sprechen wiirde. Die Gefasse des Rtickenmarks sind zwar 
etwas weiter und in der Hirnrinde waren einige kleine Blutungen (die 
wahrscheinlich in der Agonie entstanden sind), auch waren die Glia- 
kerne der erkrankten Strange etwas vermehrt, doch ist dies alles so 
wenig ausgesprochen, dass man daraus nicht auf eine Entzuudung 
schliessen darf. Ganz iihnliche und sogar starkere Veranderungen findet 
man z. B. bei sekundiiren Degenerationen des Ruckenmarks. Ein ahn- 
licher Refund ist das durchlocherte Aussehen der degenerierten Gebiete, 
das auch in unserem Falle vorhanden war, das ich jedoch noch viel 
ausgesprochener sah in den sekundiir degenerierten Biindeln bei zwei 
Fallen von Kompressionsmyelitis. Die Erweiterung der Gefasse, die 
Blutfullung, die Vermehrung der Glia sind nur die Zeichen jener 
Reaktion, die von den Zerfallsprodukten der Nervenfasem hervorgerufen 


1) M. Klippel u. J. Lhermitte, Des nevrites au cours des cirrhoses du 
foie. La semaine medicale 1008. 


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Ober die Erkrankg. d. Zen trainer vensy stems bei Polyneuritis degenerativa. 139 

wird, und sie beweisen nicht das Vorhandensein einer wirklicben Ent- 
ziindung. Auch in den peripheren Nerven ist nirgends eine klein- 
zellige Infiltration oder junges Bindegewebe vorhanden, die Verande- 
rung beschrankt sich auch hier auf die regressiven Prozesse in den 
Nervenfasern. 

Der histologische Befund entspricbt also nicht einer Entziindung, 
sondern einer Degeneration. Der verhaltnismassig kurzen Dauer der 
Krankheit entsprecbend waren die Veranderungen an den Marchi- 
praparaten am deutlichsten, wahrend an nach Weigert gefarbten 
Schnitten die Degeneration weniger stark erschien und in manchen bei 
Marchifarbung entschieden erkrankten Bahnen iiberhaupt kein Faser- 
ausfall bemerkbar war. Von den Befunden mit der Marchischen 
Methode ausgebend kann man sagen, dass die langen zentripetal leiten- 
den exogenen Fasern und ein Teil der zentripetalen endogenen Fasem 
degeneriert sind. Der starken Degeneration der ersteren entspricht, 
dass die Hinterstrange im Lumbosakralmark gleichmassig ergriffen 
sind, wahrend im oberen Brustmark und noch mehr im Halsmark die 
Burdachschen Strange weniger Degenerationsschollen entbalten, und 
dass auch das ventrale Hinterstrangfeld nur sparliche Kornchen auf- 
weist. Entsprecbendes fand ich bei der Markscheidenfarbung. Im Ein- 
klang mit diesem Befund enthielten auch die hinteren Wurzeln intra- 
und extramedullar und die Lissauerscbe Zone schwarze Scbollen. 
Ausser diesen exogenen sind aber auch endogene Fasern degeneriert. 
Solche Fasern sind die der Kleinhirnseitenstrangbahn und yielleicht 
teilweise jene des Kommafeldes. Die ersteren sind in den unteren 
Abschnitten nicht degeneriert, in den oberen Brust- und den Halsseg- 
menten wird ihre Entartung immer starker und im Corpus restiforme 
sieht man auffallend viel Degenerationsschollen. Dies beweist, dass 
der von den Zellen entfernteste Abschnitt der Fasern degeneriert 
ist. Auch die Degeneration der Hinterstrange begann wahrschein- 
lich am Ende der Fasern, weil trotz starker Degeneration fast der 
ganzen Hinterstrange im Halsmark die hinteren Wurzeln nur wenig 
entartet sind. 

In den Zellen dieser Fasern, in den Zellen der Spinalganglien und 
der Clarkeschen Saulen war keine Veranderung wahrnehmbar. In 
den Vorderhornzellen hingegen beobachtete ich unbedingt pathologische 
Veranderungen. Diese waren im Sacrolumbalmark am starksten aus- 
gepragt und fehlten fast vollkommen im Brust- und Halsmark, was den 
klinischen Symptomen entspricht. Ob diese Veranderungen prim&r 
oder retrograd entstanden sind, dafiir gibt es keinen Beweis, jedoch 
glaube ich, dass es sekundiire Veranderungen sind, weil die Zellen der 
soeben beschriebenen Bahnen normal waren, was dafur spricht, das 


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140 


VIII. Herzog 


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der pathologische Prozess von dem Ende der Fasern gegen die Zellen 
sich yerbreitete. 

Die vorderen Wurzeln waren intra- und extramedullar erkrankt 
Ihre Degeneration ist aber um vieles schwacher als die der hinteren 
Wurzeln und der peripheren Nerven. 

Eine Besonderheit in der Entartung der peripheren Nerven will 
ich erwahnen, auf die ich noch spater zurttckkommen werde. Die 
Nerven sind nicht in ihrem ganzen Querschnitt gleichmassig degene- 
riert, sondern die Entartung ist in den einzelnen Btindelchen von ver- 
schiedener Starke und auch innerhalb dieser ungleichraassig. Man kann 
also nicht von der Entartung eines Nerven sprechen, sondern nur von 
der Degeneration bestimmter Neurone, die wahrscheinlich funktionell 
zusammengehoren, wie ich zu zeigen versuchen werde. 

Diese Befunde zusamenfassend halte ich die Veranderungen im 
peripheren und zentralen Nervensystem nicht fur eine Entztindung, 
sondern ffir eine Degeneration, die am Ende der Nervenfasern am 
starksten ist und gegen die Zelle hin abnimmt; letztere kann sogar 
unverandert sein. Diese Degeneration betrifft im zentralen und wahr¬ 
scheinlich auch im peripheren Nervensystem funktionell zusammenge- 
borende Fasern. Die Veranderungen in den Nerven entsprechen einer 
degenerativen Polyneuritis, jene im Ruckenmark einer Systemerkran- 
kung. Keines davon ist die Folge des anderen, dies beweist ausser 
der primaren Degeneration der Fasern auch die Entartung der Klein- 
hirnseitenstrangbahn. Sowohl die peripheren als auch die zentralen 
Degenerationen haben eine gemeinsame Ursache und sie stehen zu 
einander in keinem ursachlichem Verhaltnis. 

Ahnliche Erkrankungen des Zentralnervensystems bei Polyneuritis 
findet man in ziemlicher Anzahl in der Literatur beschrieben. Fruher 
wurde das Zentralnervensystem vielleicht darum oft unverandert ge- 
funden, weil nicht mit der ffir die Erkennung frischer Degenerationen 
geeignetsten Marchischen Methode untersucht wurde, oder weil man 
von der peripheren Natur des Leidens uberzeugt dem Zentralnerven¬ 
system nicht genugende Aufmerksamkeit zuwendete. 

Diese Degenerationen im Zentralnervensystem, die am haufigsten 
bei alkoholischer Polyneuritis vorkommen, sprechen flir die Ansicht 
Jendrassiks 1 ), dass bei den infolge Gift- oder Toxinwirkung ent- 
stehenden und bei den durch Kachexie verursachten peripheren Ner- 
venkrankheiten in den peripheren Nerven die Veranderungen nicht 
entziindliche, sondern degenerative sind. Eben deshalb nennt Jen- 
drassik diese Erkrankungen nicht Polyneuritis, sondern Degeneration 


1) A belgydgvaszat kezikonyve 1804—00. 


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Uber die Erkrankg. d. Zentralnervensystems bei Polyneuritis degenerativa. 141 

infolge Giftwirkung (Neuritis degenerativa toxica). Stintzing 1 ) gibt 
spater eine ahnliche Einteilung. Er unterscheidet ausser der echten 
entziindlichen Neuritis (Lepra, Beri-Beri, primare Neuritis) eine degene¬ 
rative Atrophie (Teleneurosis multiplex degenerativa) und als dritte 
Gruppe das gleichzeitige Vorkommen dieser Veranderungen. In die 
zweite Gruppe geboren nach ihm die Polyneuritiden infolge Gift- und 
Toxinwirkung und Konstitutionskrankheiten, in die dritte gehort die 
diphtheritische Lahmung und die Landrysche Paralyse. Diese Ein- 
teilungen sind darum von Bedeutung, weil die Symptome der toxischen 
Polyneuritis und ihre Verteilung im peripheren Nervensystem leicht 
verstandlich werden, wenn die Erkrankung nicht entzundlicher, sondem 
degenerativer Natur ist. In ersterem Falle ware es nicht erklarbar, 
warum die Entzundung in manchem Nerven gerade gewisse (einen 
Muskel versorgende) Nervenfasern verschont; in letzterem Falle ist dies 
verstandlich, da es sich um eine Degeneration handelt, die von den in 
einein Nerven liegenden funktionell verschiedenen Neuronen nur be- 
stimmte physiologisch zusammengehorige Neurone ergreift. 

Uberflussig ware es hier, die Verbreitung der Motilitats- und 
Sensibilitatslahmung bei den degenerativen Polyneuritiden eingehend 
zu beschreiben. Es ist dies aus zahlreichen Beobachtungen bekannt. 
Am scharfsten umschrieben erscheint die Bleiliihmung, dann gewisse 
Formen der diphtherititischen Lahmung, mehr diffus ist die alkoho- 
lische und die Arseniklahmung. Nur auf diese gut bekannten Lah- 
mungen will ich mich berufen, in denen je nach dem schadigenden 
Gift verschiedene, aber immer zusammengehorige Muskeln ergriffen 
werden. Je nach der Ursache ist auch das Verhaltnis der Lahmung 
der Motilitat und Sensibiltat verschieden. "Wir kennen die starke 
Hyperasthesie und die schweren Gefuhlsstorungen bei der Arsenik¬ 
lahmung, das Fehlen der Schmerzen und die Seltenheit von Sensibili- 
tatsstorungen bei der Bleilahmung, die Parasthesien und Schmerzen 
bei der Alkoholneuritis. Nicht weniger charakteristisch ist die Tetra- 
plegie fiir Arsenik, die Lahmung des Peroneusgebietes ftir die Alkohol- 
lahmung und das Befallensein gewisser Muskeln bei der Bleiliihmung. 
Schon Joffroy 2 ) betont, dass die systematische Lokalisation der Ver- 
anderung in den motorischen Nervenfasern fiir die parenchymatose 
Natur der Entzundung spricht. Nach Oppenheim 3 ) schiidigt die 

1) R. Stintzing, Uber Neuritis und Polyneuritis. Miinch. med. Wochen- 
schrift 1901. 

2) A. Joffroy, De la ntivrite parenchynaateuse spontan<5e, gdn^ralis^e ou 
partielle. Archives de phvsiologie 1S79. 

B) H.Oppenheim, Allgemeines und Spczielles uber die toxischen Erkrau- 
kungen des Nervensvsteins. Berl. klin. Wochenschr. 1891. 


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142 


VIII. Herzog 


Toxinwirkung die Zellen und Fasern gewisser physiologischer Dignitat, 
infolge dessen systematisierte Erkrankungen entstehen. Nach Jen- 
drassik 1 ) kann man sich leichter vorstellen, dass bei der toxischen 
Degeneration der Nerven die Gifte von den verschiedenen Funktionen 
dienenden Nervenzellen nur jene einer bestimmten Affinitat auswablen, 
als dass sie nur bestimmte Gruppen der wenigstens bisher in ihrem 
Bau gleichformigen peripheren Nerven schadigen wiirden. 

Die Bleilahmung wurde in dieser Hinsicht von Erb 2 ) und Remak 3 ) 
eingehend untersucht. Wegen des spinalen Typus und aus anderen 
Grunden sucbten sie die Ursache dieser Labmung im Rlickenmark 
und, als nachgewiesen wurde, dass oft nur die peripheren Nerven er- 
krankt sind und die Vorderhornzellen intakt scheinen, da versucbte 
Erb den spinalen Ursprung dadurch zu erklaren, dass er annahm, dass 
trotz des negativen Befundes die Funktion der Vorderhornzellen ge- 
litten habe. Diese Funktionsstorung verursache die degenerative 
Atrophie der Nervenfasern. Schultze 4 ) hingegen halt die Verande- 
rung der Nerven flir primar in Anbetracht der haufigen Intaktheit des 
Riickenmarks und des primaren C'harakters der Degeneration, und er 
sagt, dass man diese Degenerationen als Systemerkrankungen auffassen 
kann, die nur bestimmte Bahnen ergreifen. Abnlich ist die Auffassung 
von Mobius, der ausserdem auf die Uberanstrengung der gelahmten 
Muskeln hinweist, und auch jene Vierordts 5 ), der Schultzes Ansicht 
auch auf andere toxische periphere Nervenkrankheiten ausdehnt. Die Blei¬ 
lahmung sei eine primare elektive Parenchvmerkrankung der peripheren 
Nerven, die zugleich svstematisch sei, weil sie nur motorisch-trophi- 
sche Storungen verursache. Einen vermittelnden Standpunkt nimmt 
Strlimpell 6 ) ein, indem er zwischen Neuritis und Poliomyelitis keinen 
grundsatzlichen Unterschied sieht, da man einen Fall von Polyneuritis, 
bei dem die Nervenzellen besonders stark geschiidigt sind, als Polio¬ 
myelitis bezeichnen konnte. 

Bevor ich auf die Besprechung dieser Anschauungen eingehe, will 
ich einige Symptome meines ersten Falles erwahnen, die darauf hin- 
deuten, dass die Lahmung funktionell zusatnmengehorige Neurone be¬ 
fallen hat. Ein solches Symptom ist die Accomodationslahmung mit 


1) 1. c. 

2) W. Erb, Handbuch der Elektrotlierapie lSSd. v.Ziemssens Handbucb 
d. alls:. Therapie. 3. 

H) E. Remak, Zur Patboj:enese der Blciliilimungen. Arch. f. P«ych. Bd. 6. 

4) Schultze, Uber Bleiliilimung. Arch. f. Psych. Bd. 10. 

5) O. Vierordt, Zur Frage vom Wesen der Bleilahmung. Arch. f. Psych. 
Bd. IS. 

0) 1. c. 


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Cber die Erkrankg. d. Zentralnervensystems bei Polyneuritis degenerativa. 143 

Erweiterung und Starre der Pupille. Die Lahmung betraf nur diese 
in ihrer Funktion eng zusammengehorenden Fasern des N. oculomo¬ 
torius, wahrend die ubrigen Fasern dieses Nerven gut funktionierten. 
Dass man diese eigentiimliche und scharf begrenzte Lokalisation der 
Lahmung nicht mit der Annahrne eines Locus minoris resistentiae er- 
klaren kann, das beweisen die Beobachtungen von Fuchs 1 ), der bei 
peripheren Lasionen, die den ganzen Oculomotorius gleichmassig trafen, 
im Gegenteil oft Ophthalmoplegia externa beobachtete, ohne dass die 
inneren Muskeln des Auges gelahmt gewesen waren. Fuchs schliesst 
hieraus, dass die zu den inneren Augenmuskeln reichenden Fasern 
widerstandsfahiger sind, als die ubrigen Fasern des Oculomotorius. 
In meinem Fall betraf die Lahmung gerade die ersteren Fasern, sie 
kann also nicht mit der Annahme geringerer Widerstandsfahigkeit er- 
kliirt werden. 

Fur die diphtheritische Lahmung hingegen ist das Fehlen yon 
Pupillensymptomen bei der Accomodationsliihmung charakteristisch. 
Bei Alkohollahmung wurde Lichtstarre und vollkommene Starre der 
Pupillen beobachtet. Auch aus diesen Beobachtungen folgt, dass 
innerhalb eines Nerven bestimmte Fasern von abnlicher Funktion 
geschadigt werden konnen. Auf die funktionelle Zusammengehorigkeit 
der zu den inneren Augenmuskeln ziehenden Fasern des N. oculo¬ 
motorius deutet die Einteilung der Kerne dieses Nerven; die Nerven- 
fasern der genannten Muskeln entspringen in umschriebenen Kernen 
vor den Kernen der ausseren Augenmuskeln. 

Ein anderes ahnliches Symptom war in meinem ersten Fall die 
Lahmung des motorischen Teiles der Nervi trigemini ohne Schadigung 
der sensiblen Fasern. Auch in diesem Nerv ergriff die Lahmung 
Fasern von abnlicher Funktion, wahrend andere Fasern desselben 
Nerven frei blieben. 

Diese Beobachtungen sind damit in Ubereinstimmung, dass bei 
der degenerativen Polyneuritis funktionell verwandte Fasern gelahmt 
werden, und dass die Lahmung nicht eine Lahmung gewisser Nerven 
ist. Oft ist von einem Nerv nur ein Teil von bestimmter Funktion 
gelahmt, und wenn die Lahmnng einen ganzen Nerv betrifft, so steht 
das mit dieser Auffassung nicht im Widerspruch, wenn die Fasern des 
Nerven eine ahnliche Funktion haben. Ob man die Veranderung der 
Nervenfasern parenchymatose Entzundung oder primare Degeneration 
nennt, das ist von keiner grossen Bedeutung. Wichtig und gewiss 
ist jedoch, dass der histologische Befund nicht einer Entzundung der 


1) E. F uchs, Oculomotoriuslahnning olme Beteiligimg der Binnenmu.skeln 
bei peripheren Lasionen. Arb. a. d. neur. Inst. d. Wiener Univ. 13d. 15. 


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144 


VIII. Hebzog 


Nerven entspsicht, denn diese musste sich mehr oder weniger gleich- 
massig anf den ganzen Querschnitt des Nerven verbreiten. 

Die Entstehung der in ihrer Ausdehnuug nicht den peripheren 
Typus zeigenden peripheren Lahmung versuchen obige Auffassungen 
der Autoren zu erklaren. Ein Teil derselben sucht darum die TJrsache 
der Lahmung im Ruckenmark und ist zur Annahme von funktionellen, 
anatomisch nicht nachweisbaren Schadigungen genotigt, andere halten 
die Veranderungen fur systematisch, aber peripherisch. Meiner Er- 
achtung ist es iiberfliissig und unrichtig, den zentralen und den peripheren 
Ursprung der Veranderungen scharf einander gegentiber zu stellen, weil 
bei der Polyneuritis degenerativa nur von der peripheren Veranderung 
bestimmter zusammengehoriger Neurone die Rede sein kann und nicht 
von einer Erkrankung der peripheren Nerven oder einer Erkrankung 
des Ruckenmarks. Durch diese Auffassung der Polyneuritis degeuera- 
tiva wird es verstandlich, warum die Verbreitung der Symptome einer 
zentralen Lahmung entspricht: es degenerieren die peripheren Enden 
ahnlich funktionierender Neurone, und weil diese Neurone im Rucken¬ 
mark nahe bei einander entspringen, muss der Typus der Lahmung 
spinal sein. In diesem Sinne kann die Lahmung systematisch genannt 
werden. Zahlreiche Beobachtungen beweisen, dass die Degeneration 
eines Neurons an der Faser und an dieser an dem von der Zelle 
am entferntesten liegenden Abschnitt beginnen kann, und dass oft an 
der Zelle selbst keine Veranderung nachweisbar ist. Nach Striimpell 1 ) 
degenerieren bei der Tabes zuerst die zentralen und peripheren Fort- 
siitze der Spinalganglienzellen und diese Zellen selbst sind tiberhaupt 
nicht verandert, oder es tritt dies erst viel spater ein. Es bestehe also 
bei der Tabes das gleiche Verhalten wie bei den peripherischen Nerven- 
degenerationen nach Vergiftungen und postinfektiosen Intoxikationen. 
Bei der spastischen Spinalparalyse beginnt die Eutartung in dem 
distalsten Abschnitt der Pyramidenbahnen (E rb 2 )) und auch bei der 
aniyotrophischen Lateralsklerose kann die Degeneration nur selten bis 
in das Gehirn verfolgt werden, und manchmal sind die Pyramiden- 
zellen unverandert (Lugaro 3 )). Ein ahnliches Verhalten fand Kol- 
larits 4 ) in einem Falle von hereditarer Nervenkrankheit (hauptsach- 
liche Symptome: Nystagmus, Tremor des Kopfes und der oberen 
Extremitaten, verlaugsamtes Spree-hen, Muskelatrophien und Ver- 
kurzungen, gesteigerte Reflexe, Skoliose), indem er ausser der Entartung 

1) 1. c. 2) 1. c. 

?>) FI a tau, Jacob sohn, Minor, Hundbuch der patbol. Anatomie des 
Nervensystenis. 1'JU4. 

4j Kollarits, J., Adatok az Oniklott idegbajok ismeretrhez. Orvosi He- 
tilap. l'JOo. 


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C’ber die Erkrankg. d. Zentralnervensystems bei Polyneuritis degenerativa. 145 

des distalen Teiles der Pyramidenbahn auch eine primare Degeneration 
der Gollschen Strange beobachtete. 

Diese endogen und exogen entstandenen systematischen Degenera- 
tionen des Zentralnervensystems beginnen an den von der Zelle ent- 
femtesten Abschnitten der Nervenfasern. Darin und in der systema¬ 
tischen Verbreitung sind sie der Erkrankung der peripheren Neurone 
bei Polyneuritis degenerativa ahnlich. In beiden Fallen entarten ztt- 
sammengeborende Fasern primar. Die genannten zentralen Degenera- 
tionen schreiten jedoch sehr langsam vorwarts, wabrend bei Polyneu¬ 
ritis die Entartung viel schneller erfolgt. Nacb meiner Ansicht ist 
dies jedoch kein solcher Unterscbied, dass man diese Veranderungen 
nicht ffir ahnlich halten dtirfte. Diese Veranderungen sind um so mehr 
vergleichbar, da bei Polyneuritis ausser herdformigen Erkrankungen, 
die icb hier nur erwahnen will, auch systematische Degenerationen im 
Zentralnervensystem gefunden wurden. 

Die pathologisch-anatomischen Untersuchungen bei Polyneuritis 
bezogen sich aufangs besonders auf das periphere Nervensystem, es 
handelte sich ja um den Nachweis der peripheren Natur der Erkrankung. 
Die Veranderungen im Zentralnervensystem wurden teilweise (z. B. 
jene in den Vorderhomzellen), vielleicht mit Recht, als sekundare, von 
der peripheren Lasion bedingte Erscheinungen gedeutet Ich will mich 
daher nur auf jene systematischen Degenerationen des Zentralnerven¬ 
systems berufen, die nicht als Folge der peripheren Erkrankung be- 
trachtet werden konnen, die man also auf dieselbe Giftwirkung zuruck- 
fuhren muss wie die peripheren Veranderungen. 

In meinem zweiten Fall scheint die Degeneration des zentralen 
Fortsatzes der Spinalganglienzellen eher primar, als sekundar zu sein. 
Dafiir spricht, dass die hinteren Wurzeln verhaltnismassig wenig 
degeneriert sind (besonders im oberen Dorsal- und Halsmark), und dass 
in den Nervenzellen keine Veranderung wahmehmbar war. Entschieden 
primar ist die Degeneration der Kleinhirnseitenstrangbahn, weil die 
Degeneration in den von ihrem Ursprung entfernten Abschnitten der 
Bahn bedeutend starker ist und weil die Zellen unverandert sind. 
Dass man eine solche zentrale Degeneration nicht als die Folge der 
Entartung der betreftenden peripheren Neurone betrachten darf, das 
beweisen jene Falle, bei denen nach Einwirkung von Giften, die Poly¬ 
neuritis zu verursachen pflegen, nur systematische Degenerationen im 
Zentralnervensystem entstanden sind, wiihrend die peripheren Nerven 
unversehrt waren. Solche Degenerationen wurden bei Syphilis (akut. auf- 
tretende syphilitische Spinalparalyse, Erb J )) und bei Alkoholismus be- 


1) 1. c. 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. 37. Bd. 10 


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146 


VIII. Hebzoq 


schrieben (Vierordt 1 ), Nonne 2 )). Heilbronner 3 ) fand bei Tuber- 
kulose und Alkoholismus die Pyramidenbahnen degenerieri Der Kranke 
hatte eine subakut entstandene spastische Paraplegie. Die peripheren 
Nerven warden nicht untersucht. In einem anderen Falle war die 
Ursache der Erkrankung nicht nacbweisbar (Pal 4 )). Viel grosser ist 
die Anzahl derjenigen Falle, bei welchen sich zur Polyneuritis systema- 
tische Degenerationen im Ruckenmark gesellten. Sie kommen bei der 
alkoboliscben Polyneuritis ziemlich haufig vor (Degeneration der Hinter- 
strange, der Kleinbirnseitenstrangbabnen, der Pyramidenbahnen), sie 
wurden jedoch auch bei tuberkuloser Polyneuritis (Degeneration der 
ungekreuzten und gekreuzten Pyramidenbabnen, der Hinterstrange, 
Sands 5 ) Fall) und bei Bleilahmung gefunden (entartete Hinter¬ 
strange, Pyramidenseitenstrangbahnen und Kleinbirnseitenstrangbabnen, 
Pal 6 )). Diese Degenerationen werden nicht als die Folge der Poly¬ 
neuritis betrachtet, sondern fttr gleichwertige, nicht von ihr ver- 
ursachte Veranderungen gehalten (Tauber und Bernd 7 ), Pal). Wie 
haufig das Zentralnervensystem erkrankt, das sieht man aus Weh- 
rungs 8 ) Zusammenstellung, nach der in fast jedem Falle von 34 Kor¬ 
sakoff schen Psychosen ausser neuritischen Symptomen auch in dem 
Rfickenmark Veranderungen gefunden wurden. 

Diese primaren systematischen Degenerationen im Zentralnerven¬ 
system tragen bei zum Verstandnis der Entstehung der Polyneuritis 
degenerativa. Sie sind auf keinen Fall Resultate der peripheren Er¬ 
krankung, sondern mit ihr gleichwertig und von derselben Giftwirkung 
verursacht. Nichts ist wahrscheinlicher, als dass die Gifte, die im 
Zentralnervensystem systematische Degenerationen verursachen, auch 


1) O. Vierordt, Degeneration der Gollschen Strange bei einem Potator. 
Arch. f. Psych. XVII. 

2) Nonne, Anatomische Befunde im Ruckenmark bei Alcoholismus chron. 
gravis. Arztl. Verein in Hamburg. 2. X. 1906. Deutsche med. Wchnschr. 1907. 

3) K. Heilbronner, Ruckenmarksveranderungen bei der muitiplen Neu¬ 
ritis der Trinker. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neurologie. Bd. IV. 1898. 

4) J. Pal, Uber amvotrophisch-paretische Formen der kombinierten Er- 
krankungen von Nervenbahnen (sogen. prim, kombinierte Systemerkrankung). 
Wiener med. Wochenschr. 1898. 

5) R. Sand, Sclerose m<$dullaire polysvstematique d’origine tuberculeuse. 
Bruxelles 1903. 

6) J. Pal, fiber multiple Neuritis. Wien 1891. 

7) S. Tauber u. E. Bernd, Uber spinale Veranderungen bei Polyneuritis 
der Tuberkulosen. Zeitschr. f. Heilkde. 1905. 

8) G. Wehrung, Beitrag zur Lehre von der Korsakoffschen Psychose mit 
besonderer Beriicksichtigung der pathologischen Anatomie. Arch. f. Psych. 
Bd. 39. 1905. 


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Uber die Erkrankg. d. Zentralnervensystems bei Polyneuritis degenerativa. 147 

in dem peripheren Nervensystem ahnliche Degenerationen bewirken. 
Es wurden zwar nicht bei alien Arten der Polyneuritis degenerativa 
diese zentralen Veranderungen gefunden, jedocb auch die peripheren 
Symptome deuten darauf hin, dass die Erkrankung systematisch ist. 
Dies bebaupten einzelne Theorien der Pathogenese der Polyneuritis 
und bierauf ist anch jene Ansicht zur&ckzuftihren, nach welcber die 
Ursacbe der Krankbeit im Zentralnervensystem ware. Je nach dem 
scbadigenden Gifte ist der Typus der Degenerationen verschieden, 
bald ist die Sensibilitat, bald die Motilitat mehr gelahmt, bald 
ist die Lahmung scbarf begrenzt, bald ist sie mehr diffus, und 
aucb das Gebiet der Lahmung ist ftlr das betreffende Gift 
charakteristisch. Wenn man bei diffuseren Lahmungen einzelne Sym¬ 
ptome berGcksichtigt (z. B. im ersten Fall Lahmungen der Binnen- 
muskeln des Auges), so erkennt man oft den systematischen Cbarakter 
der Lahmung. Dieser besteht in der Degeneration physiologisch zu- 
sammengehorender Neurone und nicht in der Entartung bestimmter 
Nerven. Die Polyneuritis degenerativa als systematische Degeneration 
der peripheren Neurone auffassend, bleibt es aber noch immer fraglich, 
ob die krankheitserregenden Gifte zentral auf die Nervenzellen oder 
auf die peripheren Fasern oder auf beide zugleich einwirken. Strtl 111- 
pell 1 ), der diese drei Moglichkeit bespricht, halt die dritte fur wahr- 
scheinlich, da hierdurch der bald negative, bald positive Befund in den 
Zellen erklart wird. Die Losung dieser Frage fallt mit der Erkenntnis 
der Pathogenese aus aDderer Ursache (endogen) entstehender System- 
erkrankungen zusammen. 

In den neueren zusammenfassenden Arbeiten wird die Beteiligung 
des Zentralnervensystems bei Polyneuritis besonders berucksichtigt. 
Nach Babinski 2 ) bedeutet Polyneuritis nur so viel, dass die erkenn- 
baren Veranderungen nur in den Nerven nachweisbar sind, oder dass 
sie hier viel ausgesprochener vorhanden sind, und er fugt hinzu, dass 
nicht eine von den Ursachen des Polyneuritis auch das Zentralnerven¬ 
system direkt schadigt, indem hier manchmal nur dynamische, oft 
aber auch anatomiche Veranderungen entstehen. Nach Cassirer 3 ) 
ist die erste und wichtigste Stelle der Veranderungen das periphere 
Ende der Nerven, in zentraler Richtung werden die Veranderungen 
geringer, es scheint jedoch, dass einzelne Teile des Zentralnervensystems 
mit einer gewissen Bestandigkeit ergriffen werden. 


1) 1. c. 

2) J. Babinski, Des N6vrites. Charcot-Boucbard-Brissaud, Traitd 
de m^decine. T. X. 1905. 

3) R. Cassirer, Neuritis und Polyneuritis. Deutsche Klinik. VI, 1. 1900. 

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148 VIII. Herzog, Uber die Erkrankg. des Zen trainer vensy stems usw. 

Betrachtet man die Wirkung der Polyneuritiden verursachenden 
Gifte auf das Nervensystem, so kann man sagen, dass diese Gifte oder 
Toxine primare systematische DegeneratioDen verursachen in funktionell 
zusammengehorenden Neuronen. Die Degeneration betriffb manchmal 
nur die peripheren Fortsatze der peripheren Neurone und manchmal 
erfolgt sie nur in zentralen Neuronen. Die Verschiedenheit der Lo- 
kalisation bangt ab von der Art des Giftes und wahrscheinlich von 
der individuellen Disposition des N erven systems. Auf diese Weise 
entsteben periphere (Polyneuritis) oder zentrale Degenerationen (System- 
erkrankungen), oder beide zugleicli, in welchem Falle die zentrale Er- 
krankung von den peripheren Symptomen oft verdeckt wird. Je nacb 
dem schadigenden Gift ist die motorische und sensible Lahmung, ihre 
Ausdebnung, ihre diffuse oder scharfe Begrenzung verscbieden. 


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Aus dem Budapester St. Stefan-Krankenhaus (Abteilung E). 

fleredodegeneration und kongenitale Lnes. 1 2 ) 

Von 

Privatdozent Dr. G6za y. Dieballa, 

Primararzt. 

Ciicilie K., 18 Jahre alt, Dienstmadchen, aufgenommen den 28. April 
1008.-0 Ihr Vater, Dorfschuhmaeker, war niemals krank und befindet 
sich aueh gegcnw&rtig vollkommen gesund. Die Geschwister des Vaters 
sind ebenfalls gesund. Ihre Mutter litt vor ungefalir 19 Jahren 3 Monate 
hindurch an einer Geistesstorung und wurde wiihrend jener Zeit in einem 
Krankenhause der Provinz bebandelt, verriet seither ein nervdses Tempe¬ 
rament und soil an „geistiger Schwache" (Schwachsinn) leiden. Seit zwei 
Jahren lebt sie von ihrem Mamie getrennt — in Amerika. Von den Ge- 
sohwistern der Mutter ist eines taubstumni, doch lasst sich aucli von den 
tthrigen keineswegs sagen, dass sie vollkommen normale, gesunde Menschen 
seien. Die Kranke hat 11 rechte Geschwister, von welclien das alteste 
5 Jahre alt wurde und an „Schwindsucht.“ zugrunde ging, acht hingegen 
im 1.—2. Lebenjabre zumeist wegen „angeborener Schwache* gestorben 
sind. Zwei ihrer Geschwister leben, von welchen der eine, ein 13jiihriger 
Knabe (Zwilling), bestiindig kriinkelt, nicht gut lernt, immer traurig sowie 
gereizt ist und stottert. Das andere, ein 6 jahriges Miidchen, ist mager, 
zur Traurigkeit geneigt, isst wenig und stottert ebenfalls. Beider Seliver- 
mogen ist normal. 

Die Kranke ist zur regelrechten Zeit geboren, begann im 4.—5. 
Lebensjahre an zu gehen und zu reden, hat sich von da ab bis zu ihrem 
14. Lebensjahre regelmassig entwickelt, in der Schule ziemlieh gut gelernt 
und machte ihrem Alter entsprechend den Eindruck eines klugen Kindes. 
Zu dieser Zeit trat in ihrem Benehmen eine Veranderung ein. Sie wurde 
traurig und ktlmmerte sich uni nielits mehr. Wiihrend sie einmal auf 
einen Baum kletterte, flog etwas in ihr Auge, von welcltem Zeitpunkte an 
die Vermindcrung ihres Sehvermogens angeblich begonnen hat. 

1) Vorgestellt der Arztegesellschaft studtiseker allgemeiner Krankenhanser 
Sitzung vom 20. V. 1908. 

2) Die folgenden anainnestischen Angahen hat der Vater der Kranken brief- 
licli iibermittelt. Bedauerlicherweise vermochte er niclit auf jede meiner Fragen 
befriedigende Auskuuft gelien. Die Familie der Patientin wohnt in einem ent- 
fernt liegenden (polnischen) Grenzdiirfelien, wo kein Arzt ist, und mein Be- 
miilien, bezuglich Familie und Anamncse von iirztlieher Seite sachiiehe Aufklii- 
rung zu gewinnen, war erfolglos. 


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150 


IX. v. Diebaixa 


Die folgenden anaranestischen Daten sind von der Kranken selbst. 
Die Menstraation erschien zum ersten Male vor zwei Jahren und bat sicb 
inzwischen nor 3 mal eingestellt. Ende vorigen Jahres beabsichtigte sie, 
auf den Wansch ibrer Matter za ihr nach Amerika zu reisen, wurde aber 
aus Antwerpen wegen des Zustandes ihrer Angen nacb arztlicher Unter- 
suchung zurfickgeschickt. Diese Beise unternahm sie obne Begleitung — 
allein. Seitber lebt and dient sie in Budapest. 

Ihre haapts&chlichste Klage bildet die zanehmende Beeintr&chtigung 
ihres Sehens. Zeitweilig leidet sie an Kopfschmerzen, welche sich seit 
einigen Wochen aafs neue eingestellt haben und ihre Nachtruhe stOren. 
Eben dieserbalb ist sie in das Krankenhaus gekommen. 

Status praesens: Das kleine (151 cm hobe) Madchen mit etwas 
schwach entwickeltem Knochenbau ist ziemlich gut genahrt, hat normale 
Hautfarbe und zeigt eine ausgesprochene Dermographie. AchselhOhlen- 
und Schamhaare, sowie Brfiste sind gut entwickelt, Brust- und Baucborgane 
normal, Geschlecbtsorgane gut entwickelt; das Hymen zeigt einen bis zu 
seiner Basis reichenden Einriss. Urin frei. 

Die Gestaltung des Schadels kann als normal angesprochen werden. 
Der fronto-occipitale Durchmesser betragt 16 cm, der biparietale 15,5 cm, 
der bimastoid. 11,5 cm, Kopfumfang 54,5 cm, der von den beiden Meat, 
auditor, fiber das Schadeldach geftthrte Bogen misst 37 cm. 

Der Gesichtsausdruck ist zumeist traurig und etwas einf&ltig. Die 
oberen Augenlider hfingen ein wenig herab und zwar in ausgesprochenerer 
Weise das rechte. Der rechte Bulbus befindet sich in etwas nach oben 
rotierter Stellung. Beim Sehen nach aussen bleibt der fiussere Rand der 
rechten Cornea zwei, der der linken um einen mm zurflck. Das Gesicht 
erscheint im ganzen einigermassen nach links verschoben. Die Funktion 
der Gesichts- und Stirnmuskeln ist beiderseits tadellos. Der Oberkiefer 
und die obere Zahnreihe sind unregelmfissig entwickelt, insofern der erstere 
einen nach aufwfirts und stark nach vorne gerichteten Bogen bildet, wo- 
durch beim Mundschluss zwischen beiden Zahnreihen eine bogenfOrmige 
Spalte entsteht, welche in der Mittellinie in ihrer grOssten Ausdehnung 
1 cm betrftgt. Die obere Zahnreihe ist, im ganzen genommen, fehlerhaft 
entwickelt, die einzelnen Zahne betrachtlich kleiner als gesunde, besonders 
die Schneidezfihne, deren Durchmesser hOchstens die Halfte eines normalen 
ausmacht. Der rechte obere mittlere Schneidezahn ist ausgebrochen. 

Die Kranke halt ihren Kopf meistens nach links geneigt, sowie die 
linke Schulter niedriger, was hauptsachlich beim Gehen auffallt. Der 
dorsale Teil der Wirbelsaule ist etwas nach reclits gebogen, am auffallend- 
sten in sitzender Stellung der Kranken. Der innere Rand und Winkel 
des rechten Schulterblattes steht ab. Im Lendenteil der Wirbelsaule be- 
merkt man eine ausgesprochene Lordose und dieser entsprechend ist der 
Bauch auffallend vorgewOlht. 

Die Muskulatur des Oberkorpers erscheint etwas schwficher entwickelt 
als die des Unterkdrpcrs. Zufolge des eigentiimlichen psychischen Zu¬ 
standes der Patientin kann die Kraft der einzelnen Muskelgruppen nicht 
genau festgestellt werden, indessen ist ausser Zweifel, dass eine grOssere 
Ahweichung vom Normalen nicht vorhanden ist. 

Die faradische und galvanische Erregbarkeit der Muskeln ist normal. 

Ihre oberen und unteren Gliedmassen, sowie den Rumpf vermag die 


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Heredodegeneration und kongenitale Lues. 


151 


Kranke einwandfrei zu bewegen und verrftt bei den ihr aufgetragenen 
Bewegungen keinerlei Ungeschicklichkeit oder KoordinationsstOrungen. 
Ihr Gang ist sicher und kraftvoll und vermag sie bei Augen- und Fuss- 
schlnss ohne Schwanken zu stehen. 

Blasen- sowie Mastdarmfunktion sind unversehrt 

Die Bertthrungs- und Schmerzempfindlichkeit sowie Temperaturem- 
pfindung sind vollkommen normal. Die Ortsempfindung und die stereognos- 
tische Fahigkeit sind tadellos. Geschmackswahrnehmung, Riechsinn nor¬ 
mal. Die Taschenuhr hort sie 50 cm vom linken, 40 cm vom rechten 
Ohr entfernt. Rinne ist beiderseits positiv, Knochenleitung gut. 

Fingerzahlen mit dem rechten Auge auf V 2 m, mit dem linken auf 
1 1 ( 2 m. Mit dem linken Auge sieht sie das Rote grttn, das Violette blau, 
die helle Rosafarbe, die grQne, gelbe und blaue erkennt sie. Mit dem 
rechten Auge vermag sie Farben ttberhaupt nicht zu erkennen. Das Seh- 
feld ist nicht zu untersuchen, da die Aussagen der Patientin nach dieser 
Richtung hin nicht verl&sslich sind. 

Der Durchmesser der rechten Pupille betrhgt 5, der linken 7 mm. 
Die Pupillen reagieren weder auf Licht noch auf Accomodation, verengern 
sich jedoch nach Pilocarpineintr&ufelung. 

Die Untersuchung des Augenhintergrundes Obernahm liebenswQrdiger- 
weise Privatdozent v. Blaskovich, deren Ergebnis folgendes ist: Beide 
Papillen sind weiss, nicht vollstandig scharf umgrenzt, die Poren der La¬ 
mina cribrosa sind etwas sichtbar. Im Verlaufe der Gefasse findet sich 
keine berflcksichtigenswerte Veranderung. 

Atrophia nervi optici utriusque (mit etwas neuritischem Charakter). 

Sohlenreflex, oberer und unterer Bauch-, Lenden-, Lid- und Rachen- 
reflex sind auslOsbar. 

Vollstandig fehlt auf beiden Seiten der Reflex des Muse, triceps 
brachii, der Patellar- und der Achillessehne. 

Die Stimmung der Eranken ist sehr labil, im allgemeinen eher zum 
Traurigsein geneigt, darum aber auch zum Lachen leicht bestimmbar. 
Uber ihre Umgebung beklagt sie sich nicht wenig, gerat leicht in Zorn 
und bricht dann oft in Tranen aus. — Unruhigen Naturells, wie sie ist, 
liebt sie es, hin- und her-, aus- und einzugehen. Des Nachts steht sie oft 
auf, hauptsachlich um sich Wasser zu holen, und trinkt im grossen und 
ganzen mehr und dfters, als normal ist. Sie redet und tut keine irgend- 
wie anstOssigen Oder unschicklichen Dinge; ihr sittliches Empfinden ist 
tadellos. Sie besitzt sowohl Ihr jOngstErlebtes als auch fttr langst verflossene 
Ereignisse ein ausgezeichnetes Gedachtnis. Ihr Urteilsvermogen ist im 
Vergleiche zu ihrer gesellschaftlichen Stellung und Schulung tlberraschend 
gut. Auch zahlen kann sie gentlgend gut. Die Handschrift ist ungeschickt, 
sie hat aber angeblich bereits mehrere Jahre keine Gelegenheit zur tJbung 
gehabt. Ihre Sprache ist, abgesehen von dem infolge Unregelmassigkeit 
der oberen Zahnreihe bedingten Lispeln, einwandfrei. 

Indem wir die wesentlichsten Momente aus der Anamnese und 
dem gegenwartigen Zustand zusammenfassen, kommen wirzu Folgendem: 
Von den 12 Kindern der ohne Zweifel stark belasteten Mutter bleiben 
3 am Leben, ohne dass eines unter ihnen normal ist. Die Kranke 
selbst beginnt erst im 4.-5. Lebensjahre gehen und reden zu lernen, 


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152 


IX. v. Diebalt.a 


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darauf regelmassige Entwicklung. Nach den Kindeijahren, in der 
Pubertatszeit verandert sich ihre Stimmung, ihr Sehvermogen nimmt 
ab, scbliesslich gelangt sie in ibrem achtzehnten Lebensjahre ins 
Krankenhaus und zeigt folgenden Symptomenkomplex: Anisocorie, 
Robertsonphanomen, Atrophia nervi optici, Fehlen samt- 
licber Sehnenreflexe, unregelmassig entwickelter Oberkiefer 
und obere Zahnreihe, geringgradige Skoliose und Lordose, 
ferner bei vollstandig erhaltener Urteilsfahigkeit eine eigen- 
tQmliche Storung des Gemutslebens. 

Diese eigenartige Gruppierung der Erscheinungen an einem Indi- 
viduum, das die Sckwelle des Kindesalters kaum uberschritten hat, 
reifte in mir wahrend der ersten Beobachtungszeit jene tlberzeugung, 
dass ich es hier mit einem ungewohnlichen Symptomenkomplex des 
ererbten endogenen Nervenleidens zu tun babe. Diese Meinung er- 
wuchs mir einesteils aus positiven Zeichen hierfiir, anderenteils gelangte 
ich dazu auf dem Wege der Exklusion. 

Zu den ersteren gehoren: die Belastung von mutterlicher Seite, 
der Gesundheitszustand von den beiden lebenden Geschwistern der 
Kranken (nervbse Veranlagung, stotternde Spracbe), die im 4.—5. Lebens¬ 
jahre einsetzende Geh- und Sprechfahigkeit, der Entwicklungsfehler 
des Oberkiefers, die Verkrummung der Wirbelsdule und eine ganze 
Reihe von Abnormitaten im Nervensystem, unter welchen, wie wir 
spater sehen werden, keine einzige ist, die nicht schon auf rein endo- 
genem Boden beobacbtet worden ware. 

Vom Standpunkte der Differentialdiagnose kommenwegen Sympto- 
menahnlichkeit zwei exogene Erkrankungen in Erwagung: die kind- 
liche Tabes sowie die kongenitale Lues. 

Hauptsachlich die Pupillenstarre und das Fehlen der tiefen Reflexe 
konnen den Yerdacht auf kindliche Tabes erwecken. Im allge- 
meinen durfen wir behaupten, dass die kindliche Tabes eine sehr seltene 
Erkraukung ist und die sorgfaltige Kritik die Zahl der bisher ver- 
bffentlichten Falle ausserst verringert hat. 1 ) Die Moglichkeit der Ver- 
wechselung mit Lues cerebrospinalis ist namlich sehr gross. Da jene 
Symptome, welche berufen wiiren, die Tabes des Kindesalters speziell 
zu charakterisieren, auf einem sehr schwankenden Grunde ruhen (das 
friihzeitige Erscheinen der Sehnervenatrophie und der Blasensymptome, 
die Vielseitigkeit der Erscheinungen). so miissen wir uns hinsichtlich 
der Diagnose am zweckmassigsten auf ebendenselben Standpunkt 
stelleu, als wenn von der Tabes der Erwaehsenen die Rede sei (Brasch). 

1) M. Brasch, Beitrajre zur Atiologic der Tabes. Deutsche Zeitschrift f. 
Nerveiiheilkde. I!t01. 


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Heredodegeneration und kongeuitale Lucs. 


153 


Wenn wir von diesem Standpunkte aus den gegenwartigen Fall 
untersuchen, dtirfen wir Tabes ersterdings darum nicht annehmen, 
weil der ganze klinische Symptomenkomplex nicht dem Krankheits- 
bilde der Tabes entspricht, wenn auch einzelne Zeichen daran erinnern 
sollten. Die fur Tabes pathognostischen Schmerzen, Empfindungs- 
storungen, Blasen- und Mastdarmzeichen haben in dem bisherigen 
Verlauf der Erkrankung vollstandig gefehlt, und ohne diese — be- 
sonders aber ohne lanzinierende Schmerzen — ist ein mehrere Jahre 
dauernder tabischer Prozess kaum denkbar, und habe ich unter den 
bisber veroffentlichten Fallen, welche als kindliche Tabes anerkannt 
worden sind, auch keinen einzigen finden konnen, wo diese gefehlt 
hat ten. 

Wenn wir aber die fur Tabes verdachtigen Erscheinungen an der 
Kranken — das Fehlen der tiefen Reflexe und die Augensymptome — 
betrachten, und dass unter den letzteren der Sehnervenschwund nicht 
reine Atrophie, d. h. nicht tabischen Ursprungs ist, erhartet sich jene 
berechtigte Annahme, dass dann auch die iibrigen Augensymptome 
anderer Herkunft sind (Heredodegeneration, Lues congenita?). 

Noch schwieriger ist die Position der anderen Moglichkeit, der 
Lues congenita gegeniiber. 

Wenn man nach dieser Richtung hin die Erscheinungen des 
Nervensystems an der Kranken untersucht, lasst sich wohl sagen, 
dass die eigenttimliche Veranderung ihres Gemtttslebens, welches 
auf keinerlei Weise in ein gut umgrenztes Krankheitsbild passt, auf 
luetischer Grundlage befriedigend erklarbar sei. Abgesehen von den 
auf diesem Boden entwickelten und ausgepragten Geisteskranklieiten 
(Dementia, Idiotie), welche in iiberwiegendem MaCe die Folgen einer 
Meningitis oder Meningoencephalitis sind, kann die kongenitale Lues 
als ein die gesunde Entwicklung des Gehirns hemmendes Leiden 
bei dem davon betrotfenen Iudividuum in verschiedenen Lebensab- 
schnitten diesen Eiufluss geltend machen und sich in Gestalt 
kleinerer oder grosserer psychischer Storungen aussern. Freilich 
pflegen zumeist auch andere Begleiterscheinungen aufzutreten, z. B. 
Epilepsie, Krampfe, Lahmungen, Bewusstlosigkeitszustande — welche 
in unserem Falle vollstandig fehlen —, doch schliesst das Fehlen 
dieser die Moglichkeit einer Lues cerebri keineswegs aus, anderenfalls 
kann es geschehen, dass diese in eiuem spiiteren Stadium der Erkran¬ 
kung erscheinen. 

Der lahmungsartige Zustand der Augenmuskeln, die auf 
neuritischer Grundlage entwickelte Sehnervenatrophie ziihlt zu den 
haufigsten Erscheinungen der Lues cerebri congenita, und auch das 
Robertsonphanomen gehbrt nicht zu den Seltenheiten. Dieses 


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154 


IX. v. Dieballa 


letztere hat man ohnehin schon als die einzige Ausserung der Gehirn- 
lues beobachtet (Erb, Stolzenburg, Uhthoff.) 1 ) 

Das Ausbleiben der Sehnervenreflexe gehort zu den selteneren 
Erscbeinungen kongenital luetischer Atiologie, da im allgemeinen die 
Rttckenmarkssymptome gegenflber denen vom Gebim in den Hinter- 
grund treten. Trotz alledem kennen wir schon eine ganze Reihe 
solcher Falle, bei welchen Westphal vorbanden war und in Verbindung 
mit anderen Zeichen ein Bild darbot, das an Tabes erinnerte. So 
z. B. in Kalischers 2 ) Fall I: bei einem zweifelsohne von lnetischen 
Eltern stammenden 6 jahrigen Knaben entwickelte sich eine beginnende 
Intelligenzschwache, reflektorische Pupillenstarre, Blasensto run gen, 
Westphalzeichen, spezifische Chorioretinitis; gegen Tabes sprach das 
Fehlen von Ataxie, lanzinierenden Schmerzen, Empfindungsstorung, 
Romber gphanomen. In seinem Fall II, an einem ebenfalls von lueti- 
schen Eltern herrtlhrenden 7 jahrigen Madchen, zeigten sich angeborenes 
Hautleiden, Geistesschwache, Reste eines spez. Augenleidens, Seh- 
nervenatrophie, Pupillenstarre, auf einer Seite fehlender, auf der anderen 
abgeschwachter Patellarreflex, Blasenstorungen; gegen Tabes sprachen 
Abwesenheit von Ataxie, Romberg, lanzinierende Schmerzen. 

Nach Obigem ist offenbar, dass die an der Patientin beobachteten 
Erscheinungen vom Nervensystem als kongenitale Lues wohl zu er- 
klaren sind. Wenn wir jedoch jene in ibrer Gesamtheit nebmen und 
das Krankheitsbild mit den bisber veroffentlichten, auf dem Boden 
kongenitaler Lues entwickelten Fallen von Lues cerebrospinalis ver- 
gleichen, so ist dennocb auffallend, dass bei unserer Kranken (abge- 
sehen von der labilen Natur des Gemfitslebens), genau genommen, 
Intelligenzstorung iiberbaupt nicbt vorhanden ist, wo docb-nach den 
heutigen Erfahrungen in ahnlichen Fallen jene eines der bestandigsten 
sowie ausgesprochensten Zeichen zu sein pflegt; ferner fehlen die in 
solchen Fallen gewohnten allgemeinen Erscheinungen, wie Krampfe, 
epileptiforme Anfalle, Zustande vod Bewusstlosigkeit u. a. m. 

Was die ubrigen Symptome betrifft, passt jene anamnestische Angabe, 
dass die Patientin spat gehen und reden gelernt habe, wohl in das 
Krankheitsbild; indessen ist bier eines der charakteristiscben Merkmale 
flir Lues hereditaria tarda, der Infantilismus, gerade nicht entwickelt. 
Nach Neumann 3 ) machen solche Kranken im Alter von 20—24 Jahren 

1) Zit. Oppenheim, Die syphilitischen Erkrankimgen des Gehirns. Noth- 
nagels spez. Path. u. Therap. 1896. Bd. 9. S. 145. 

2) S. Kalischer, Uber infantile Tabes und hereditar syphilitische Erkran- 
kungen des Zeutraluervensystenis. Arcliiv f. Kinderhlkde. 1898. Bd. 24. 

3) J. Neumann, Syphilis. Nothnagels spez. Path, nnd Therapie. Bd. 23. 

1896. 


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HeredodegeDeration und kongenitale Lues. 


155 


den Eindrnck eines 10—12 jahrigen Kindes, ihr Rumpf, Knochen- und 
Muskelsystem ist wenig entwickelt, ihre Gesichtsfarbe ist fahl, die 
Geschlechtsorgane auffallend unentwickelt, Genitalbehaarung fehlt, ihre 
Behaarung ist sparlich und ihre Briiste sind in der Entwicklung auch 
sehr zurfickgeblieben. Die geistige Entwicklung solcher lasst eben- 
falls lange auf sich warten, die Pubertat erscbeint spat und ist weniger 
ausgebildet. 

Von allem diesen konnen wir nur so viel an der Kranken entdecken, 
dass ihr Knochensystem etwas schwacher entwickelt ist, die Muskulatur 
des Oberkorpers zwar etwas schwacher erscheint als die des Unter- 
korpers, aber dieser Unterscbied ist nicht auffallend und darf, genauer 
betrachtet, nicht als krankhaft bezeichnet werden. Ihre Behaarung, 
Briiste, aussere und innere Geschlechtsorgane warden auch fur eine 
kraftiger entwickelte Frau noch als normal gelten durfen. 

Ausserdem fehlen bei der Kranken die bekannten Stigmata der Lues 
hereditaria tarda: von der Hutchinsonschen Trias ist nur die auf¬ 
fallend zurtlckgebliebene Entwicklung der Schneidezahne sowie der 
oberen Zahnreihe vorhanden. Dies ist jedoch einesteils mit der 
Entwicklungsstorung des ganzen Oberkiefers in Zusammenhang zu 
bringen, andererseits fehlt diesen Zahnen der konkave Ausscbnitt am 
unteren Rande, sowie die charakteristische Rippung. 

Die 'Wirbelsaulenverkrtimmung der Kranken kann mit der an- 
geborenen Lues in causalen Zusammenhang kaum gebracht werden; 
dasselbe gilt auch fQr den Entwicklungsfehler des Oberkiefers, 
denn obgleich die luetische Erkrankung mit Vorliebe den Ober- 
kieferknocheu befiillt, pflegt diese sich als destruierende Periostitis 
oder Gumma zu ausseren, welchen keiner die vorliegende Veranderung 
entspricht. 

Die grosste Schwierigkeit bildete naturlich der Umstand, dass 
sich keine Gelegenheit fand, die Eltern und Geschwister der Patientin 
zu untersuchen, und die auf brieflichem Wege gewonnen anamnestischen 
Daten auch nicht erschopfend waren. Verdachtig war das frtihzeitige 
Hinsterben von 7 Geschwistern der Kranken, aber jener Umstand, 
dass ibre Mutter 12 lebende Kinder geboren hat, sprach nicht sehr 
fur Syphilis. 

Demzufolge kam ich in Erwagung aller Pro- und Contra-Argu- 
mente zu dem Schlusse, dass das ganze Krankheitsbild in das Gebiet 
der hereditareu Nervenleiden gehort. 

Die Hervorhebung der Vererbuug als einheitlicher, spezifischer 
krankheitsbedingender Faktor und einer auf diesem Grunde durch- 
gefuhrten Zusammenfassung der zu einer Klasse gehorigen Nervenleiden 


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IX. v. Dieballa 


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stammt von Jen dr as sik 1 ). Er sprach 1896 den Satz aus, das die ge- 
meinsame pathologische Grundlage der hereditaren Nervenleiden eine 
einfache Entartung der Nervenelemente darstelle, klinisch aber seien 
diese Leiden in derselben Familie durch den gleichen Ablauf, dagegen 
in verschiedenen Familien durch eine fast unerschopfliche Mannig- 
faltigkeit der Symptome gekennzeichnet. 1899 fasste er in einer im 
„Handbuch der inneren Medizin", Bd. VI erschienenen Arbeit 2 ) diese 
einer einheitlichen pathologischen Grundlage entspringenden Er- 
krankungen unter „hereditare Nervenleiden" in eins zusaromen. Im 
Sinne dieser Auffassung sehen wir solche Leiden zu einer Gruppe 
gehorend, deren endogener Ursprung schon bisher mehr oder weniger 
offenkundig gewesen ist, die aber in Mangel einer einheitlichen patho¬ 
logischen Auffassung und wegen ihrer Symptomenahnlichkeit bisher 
fur exogen angesprochen wurden, daher in Verbindung mit im Grunde 
vollstandig verschiedenen Erkrankungen Berucksichtigung fanden. So 
wurden z. B. die Friedreichsche Ataxie und die Huntingtonsche 
Chorea als zusammengehorig klassifiziert, von welchen man damals 
die erstere mit der Tabes, die letztere hingegen mit der gewohnlichen 
infektiosen Chorea in Zusammenhang brachte. Ein weiteres Entwiek- 
lungsmoment in der Lehre von den hereditaren Erkrankungen bedeutet 
die These Jendrassiks 3 ), dass die vererbten Krankheitsformen nicht 
in typischen, abgegrenzten Krankheitsbildern erscheinen, sondern die 
Variation der Phanomeue in endloser Weise und heterogenstem Um- 
fange vorkommt Die einzelnen Typen hat man zwar fur den prak- 
tischen Gebrauch aufrecht erhalten, aber man darf diese nicht als selbst- 
standige Leiden auffassen. 

Higier 4 ), welcher 1896 die wichtigsten Vertreter heredofamiliarer 
Nervenleiden zusammengestellt hat, bemerkt, dass durchaus nicht immer 
reine Typen vorkommen, sondern die Zahl der Misch- und Ubergangs- 
formen eher zunehme und bei der labilen Art der Grenzlinien eine 
strenge DiS’erenzierung der Typen in einzelnen Fallen nicht durchfflr- 
bar sei. Ob wir dann derartige Misch- und Ubergangsformen atak- 
tische cerebrale Diplegie, spastische Friedreichsche Krankheit oder 
cerebellare Heredoataxie nennen, das ist schliesslich auch gleichgiiltig. 

1) E. Jendrassik, Uber Paralysis spastica und fiber die vererbten Ner- 
venkrankheiten im allgemeinen. Deutsches Arch, fur kl. Med. Bd. 48. 

2j Derselbe, Az atoroklddo idegbajok. Belgyogyiiszat kczikonyve. 1899. VI. 

3) Derselbe, Beitn'ige zur Kenntnis der hereditaren Krankheiten. 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1902. Bd. 22. 

4) H. Higier, Uber die seltenen Formen der hereditaren und familiaren 
Him- und Rrtckeninarkskrankheiteu. Deutsche Zeitschr. t. Nervenheilkde. 1890. 
Bd. 9. 


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Heredodegeneration und kongenitale Lues. 


157 


Kollarits 1 ) beschreibt zahlreiche UDd lehrreiche Beispiele 
ruehrerer, ohne Grenze ineinander iibergehender hereditarer Nervenleiden, 
welche einesteils in die fruher aufgestellten Tjpen iiberhaupt nicht 
einzuordnen sind, anderenteils den bestehenden engen Zusammenhang 
dieser andeuten. 


Nach Durchsicht der zu meiner VerfGgung stehenden Literatur 
muss ich erwahnen, dass ich nirgends eine diesem vorliegenden Falle 
ahnliche eigentumliche Gruppierung der Symptome gefunden habe, 
andererseits mochte ich hervorheben, dass von den an der Patientin 
beobachteten Erscheinungen keine einzige ist, welche nicht schon als 
rein endogenen Ursprungs beschrieben worden ist. So z. B. veroffent- 
lichte Wilhelm Leitner 2 ), die Augensymptome betreffend, eine 
neuritische und dennoch auf rein familiarer Hereditat beruhende 
Atrophie des Sehnerven. Bei zwei Familien, in der einen an 6, in 
der anderen an 5 Familiengliedem, entwickelte sich die hereditare Neu¬ 
ritis und im Anschluss daran die Sehnervenatrophie. Privatdozent 
Blaskovich, der zu jener Zeit diese Falle ebenfalls beobachtet hatte, 
erwabnte mir gegenliber die grosse Ahnlichkeit hinsichtlich der 
Spiegelbilder dieses und der oben angefiihrten Falle. Ich hielt die 
Betonung dieses Umstandes aus dem Grunde notig, weil die auf 
familiarer Degeneration beruhenden Sehnervenatrophien in fiberwiegen- 
der Mehrheit das Bild der reinen, nicht neuritischen Atrophie zu 
bieten pflegen. 

Die in unserem Falle beobachtete Puppillenstarre kommt in 
der Literatur, der auf Hereditat beruhenden Nervenleiden, als verein- 
zeltes, aber keineswegs alleinstehendes Zeichen vor. Bei einem Falle 
der familiaren cerebellaren Ataxie beobachtete Sanger-Brown Robert- 
sonzeichen, bei einem anderen Klippel und Durante 3 ) die Ent- 
wicklung vollstandiger Pupillenstarre. 

Halblahmungsartiger Zustand einzelner Augenmuskeln, 
welcher bei unserer Kranken besteht, ist ein in der Erscheinungsreihe 
familiarer Degenerationen so gewohnlicher Befund, dass deren Ana¬ 
logic zu erwahnen uberfliissig erscheint. 

Dasselbe besteht zu Recht auch beziiglich des Fehlens der tiefen 
Reflexe, und in dieser Hinsicht geniigt es, wenn ich auf die Fried- 

1) J. Kollarits, Beitriige zur Kenntnis der vererbten Nervenkrankhciten. 
Deutsches Arch. f. klin. Med. 1906. Bd. 30. 

2) Leitner, Vilmos, Az oroklutt latuidegsorvadasrol. — Orvosi hetilap — 
Szem^szet 1897. 

3) Zit. J. Baunilin, Uber familitire Erkrankungen des Nervensystems. 
Deutsche Zeitschr. f. Kervenheilkde. 1901. Bd. 20. S. 305. 


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158 


IX. T. Dieballa 


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reichsche Ataxie und die in der Literatur vorkommenden, zahl- 
reichen Falle hinweise, welche einem bestimmten Typus nicht ein- 
zuordnen sind. 

Ftir ein beachtenswertes Zeicben halte ich die Wirbelsaulen- 
verkrummung der Kranken. Schon gelegentlich der ersten Exami- 
nierung klagte die Kranke, dass seit letzterem ihr Bauch zunehme, 
und erklarte mit voller Bestimmtheit, dass dieser Zustand vorher nicht 
bestanden babe. Das Abdomen ist tatsachlich nicht unbetrachtlich 
hervorgewolbt, was auf die Lordose der Lendenwirbelsaule zuruck- 
geffihrt werden kann. Wenn die oben angefQhrte Behauptung der 
Patientin verlasslich ist, so folgt daraus, dass auch die Verkrummung 
der Wirbelsaule jungeren Datums ist, d. h. wir haben es mit einem 
progressiven Prozesse zu tun. Da jedoch die Rumpfmuskulatur eine 
anormale Abweichung weder in ihrer Ruhelage, noch wahrend ihrer 
Funktion erkennen lasst, mussen wir diese Veranderung des Knochen- 
systems als einen unabhangigen, primaren Yorgang deuten. 

Die Dystrophie des Knochensystems bei hereditar Degenerierten 
ist hinlanglich erwiesen. Ausserordentlich lehrreich ist eine Beobach- 
tung Schultzes 1 ), welcher bei einem von Muskeldystrophie be- 
fallenen Geschwisterpaar, neben starker VerkrQmmung der Wirbel¬ 
saule, einen hochgradigen Schwund der Rippen, Beckenknochen und 
Rohrenknochen der Extremitaten beobachtete. Bei einem dieser Falle, 
welcher zur Autopsie kam, erwies sich, dass die Ganglienzellen des 
RQckenmarks und vorderen Wurzeln unversehrt waren, kurz, esbandelte 
sich nicht um eine neurogene, sondern ganz idiopathische Atrophie. 

Jendrassik nahm unter die Grundbedingungen der hereditaren 
Leiden auf, dass diese jedes Gewebe des Organismus befallen konnen, 
das Nervensystem ebenso gut wie die Muskulatur, das Bindegewebe, 
die Knochen (Achondroplasie, Osteodystrophie usw.) oder einzelne 
Organe. 

Unter den von Kollarits veroffentlichten Fallen ist bei dem 
einen (Fall Nr. VIII) der Unterkiefer verandert, wodurch zwischen 
Schneide- und Augenzahnen ein erheblicher Spalt blieb, dergestalt, 
wie im vorliegenden Falle, mit jenem Unterschiede jedoch, dass sich 
die Veranderung hier auf den Oberkiefer bezieht. 


Nach dem Obigen ist nun offenbar, dass die Einordnung unseres 
Falles in die Reihe der endogenen Krankheiten keine besonderen 

1) Uber Kombination von fam. progr. Pseudohypertrophie der Moskeln mit 
Knochenatrophie und von Knochenatrophie mit der „Spondylose rhizom£lique“ 
bei zwei Geseliwistern. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1899. Bd. 14. 


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Heredodegeneration and kongenitale Lues. 


159 


Schwierigkeiten macht. Deanoch bleibt jener ungewohnliche Umstand, 
dass an der Muskulatur der Kranken und in ihrer Bewegungssphare, 
eine nennenswerte Veranderung nicbt nachzuweisen war, ubrig, wo- 
nach nach den bisberigen Erfabrungen in der Gberwiegenden Mehrzahl 
der Falle amyotrophische, spastische Oder ataktische Typen beschrieben 
worden sind. Darum wird man sich bier zu weiterer Beobachtung 
sowie Untersuchung veranlasst seben, um so mehr, da es nicbt in 
meiner Macht stand, die Familie der Erkrankten zu untersucben und 
somit der fur die Erkenntnis der Natur des Leidens gewichtigste Be- 
weis — das atiologisch objektive Moment — nicbt zu meiner Ver- 
ftigung stand. 

Aus diesem Grunde bielt ich es fur angebracbt, die LJntersucbuiig 
mit der Wassermannschen Sypbilisreaktion zu vervollstandigen, 
welche von einander unabhangig Dr. Bresowski, Unterarzt an der 
Abteilnng des Prof. Ron a, spater aber Privatdozent bei B. Yas aus- 
zufUhren die Freundlicbkeit batten. 

Das Resultat war in beiden Fallen obne alien Zweifel positiv. 

Es geh3rt nicht in den Rahmen dieser Veroffentlichung, auf die 
Wassermannsche Reaktion naher einzugeben — Gbrigens ist ja die 
Frage an der Tagesordnung —, indessen dttrfen wir aus den bis¬ 
berigen Erfahren auf jeden Fall so viel folgern, dass die positive 
Wassermannprobe mit grosster Wahrscheinlichkeit (nach einigen mit 
Gewissheit) luetiscbe Infektion beweist. 

Daher darf man sich auch in diesem Falle der beweiskraftigen 
Bedeutung der Wassermannprobe keineswegs verschliessen, und somit 
tritt die eventuelle Mitbeteiligung kongenitaler Lues in der Pathogenie 
dieses eigentumlicben Krankbeitsbildes nochmals in die Yordergrund, 
um so mehr, wenn wir die erfolgreicbe therapeutische Beeinflussung 
der bei der Kranken beobachteten Kopfschmerzen berncksichtigen. Von 
dem der dritten positiven Wassermannprobe nachstfolgenden Tage 
an erhielt namlich die Patientin 1,5 g Jodkali pro die, worauf [der Kopf- 
schmerz bald aufhorte und sich seither nicht wieder gezeigt hat. 


Bereits oben haben wir ausgefuhrt, dass fast samtliche an der 
Kranken beobachteten Symptome auf dem Boden kongenitaler Lues er- 
klarbar sind, nur die Yerbiegung der Wirbelsaule und die Difformitat 
des Kiefers erscheinen in diesem Krankheitsbild ungewohnlicb und 
erinnem eher an Heredodegeneration. Andererseits suchten wir auch 
darzutun, dass diese Erscheinungen samtlich gut verstandlich sind als 
Heredodegeneration, und dass deren eigenartige Gruppierung dafur zu 
sprechen scheint. Dass es sich um hereditare, endogene Belastung 


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160 IX. v. Dieraixla, Heredodegeneration und kougenitale Lues. 


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handelt, beweisen vollauf die Geisteskrankheit der Mutter, Taubstumm- 
heit der Tante und das Stottern der Geschwister. 

Diesem allem zufolge ergibt sich mit Wahrscheirdicbkeit, dass 
unsere Kranke zu den Heredodegenerierten gehbrt, und dass 
bei dem Zustandekommen des Krankheitsbildes auch der 
angeborenen Lues eine wichtige Rolle zukommt. 

Da in diesem Falle die Erkenntnis dieses letzteren Faktors durch 
die Wassermannprobe ermoglicht wurde, halte ich es fur ge- 
raten, bei an Heredodegeneration erinnernden, jedoch nicht 
ganz reinen S ymptomkomplexen die Durchffihrung der 
Wassermannprobe nicht zu versaumen. 


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X. 


Aus der medizinischen Elinik zu Frankfurt a|M. (Direktor: Prof. Dr. 

Luthje). 

Uber Messungen der Hauttemperatnr bei Gesunden und 

Nervenkranken. 

Von 

Dr. R. Claus-Bad Elster und Dr. A. Bingel, 

Oberarzt der Klinik. 

Messungen der Qauttemperatur sind zu verschiedenen Zeiten und 
zu verschiedenen Zwecken unternommen worden. In Deutschland ge- 
schah es zunachst aus mehrfachen Grunden: erstens um das Verhaltnis 
der Edrperwarme zur Temperatur lokaler Entzundungsherde zu stu- 
dieren (Wunderlich, Billroth, Weber usw. 1 )), femer um die schon 
im normalen Zustande beobachteten Schwankungen der Hauttemperatur 
im Gegensatz zu der Temperatur der Achselhohle (Henkel 2 ), Jacob¬ 
son 3 )) eventuell fur diagnostische Zwecke zu benutzen (Schulein 4 ), 
Wegscheider 5 )), und endlich gelegentlich derErforschungdes Warme- 
haushaltes, besonders im Fieber (Senator 6 ), Cohnheim 7 ), Geigel 8 ), 
Strauss 9 )). In alien diesen Arbeiten handelt es sich um vergleichende 
Messungen zwischen der Korperwarme und der Temperatur 
der Haut. Zwischen korrespondierenden Korperteilen bei ein- 
seitigen Erkrankungen, hauptsachlich der Brustorgane, vergleichende 
Messungen anzustellen, war man indessen in Frankreich bemuht 
gewesen (Peter, Inblee-Duval und Landcienne, Vidal) und man 
war dabei zu dem Eesultat gekommen, dass die Haut der erkrankten 
Seite warmer sei als die der gesunden (z. B. bei Pleuritis, Pneumonie). 
Diese Lehre wurde aber durch Lereboullet 10 ) als nicht immer zu- 
treffend umgestossen; dieser Autor brachte den Nachweis, dass auch 
schon beim gesunden Menschen Differenzen in der Hauttemperatur 
symmetrischer Korperstellen vorkommen und dass bei Kranken (z. B. 
Lungenspitzenkatarrh) selbst die gesunde Seite warmer sein konne als 
die kranke. In Deutschland hat man sich erst in neuerer Zeit, ver- 
anlasst durch Bier 11 ), mit der vergleichenden Messung der Hauttempe¬ 
ratur entsprechender Korperteile, hauptsachlich gesunder underkrankter 
Gelenke befasst (Herz 12 ), Sommer 13 ), Rothe 14 )). Ausgiebigere Mes- 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilknnde. 37. Bd. 11 


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162 


X. Claus u. Bingel 


sungen der Hauttemperatur symmetriscber Korperstellen gesunder 
Personen scbeinen uberhaupt bei uns noch nicbt vorgenommen worden 
zu sein, wenigstens war es uns nicbt moglicb, in der Literatur Auf- 
schluss hieriiber zu gewinnen. Nur bei Rubner 15 ) fanden wir einige 
Zahlenreihen, welcbe bei Hauttemperaturbestimmungen entsprechender 
Gesichtsstellen gewonnen waren; ebenso bei Oehler ,6 ), welcher innige 
Beziehungen der Hauttemperatur zu den Scbwankungen der Korper- 
temperatur feststellte und dabei gezwungen war, an entsprechenden 
Korperstellen zu messen. Dabei fanden sich relativ geringe Unter- 
schiede in der Temperatur der gemessenen symraetrisch gelegenen 
Partien. — Man gewinnt uberhaupt den Eindruck, als ob von jeher 
eine genaue Ubereinstimmung der Hauttemperatur gleichsinniger Korper¬ 
stellen angenommen worden sei, anders lassen sich die immer wieder- 
kehrenden Worte „hoher oder niedriger als die andere Seite“ nicht 
deuten. Und doch ist solchen Angaben erst dann Bedeutung beizu- 
messen, wenn grundsatzlich feststeht, dass gleichsinnigen Hautpartien 
die gleiche Temperatur zukommt. Auch Kunkel 17 ) geht in seiner 
ausfuhrlichen, auf zahlreicben exakten Messungen basierenden Arbeit 
auf diesen Punkt nicht ein, doch mochte man aus seinen sonstigen 
Darlegungen und Tabellen annebmen, dass er zu gleichen Resultaten 
— d. h. gleiche Temperatur an gleichen Hautstellen — gekommen ist. 
Bei Wegscheider 5 ), welcher die Achsenhohlentemperatur mit den 
Temperaturen beider FOsse verglicb, fanden wir Differenzen in der 
Hautwarme' der letzteren von ziemlich betrachtlicher Grosse (bis 1,5° C.), 
doch konnen diese Messungen wegen der angewendeten Methode (Ein- 
kleihmen von Thermometern zwischen den Zehen) Dicht als einwandsfrei 
angesehen werden. Zu den oben von uns erwabnten Bedenken, dassschon 
normalerweise die Temperaturen gleicher Hautstellen von einander 
abweichen konnen, ist aucb Rothe 14 ) gekommen, denn er konnte die 
von Rubner 15 ), Anrep und Melcop 18 ) gemachten Angaben fiber 
kleine Warmeunterschiede an korrespondierenden Korperstellen Ge¬ 
sunder wenigstens fur Gelenke bestatigen. „Allerdings handelt es sich 
dabei nur um geringfugige Differenzen (unter 0,5° C.). Immerhin 
nimmt er daraus die Lehre, dass man bei Erkrankungen Temperatur- 
untersckieden unter 1 0 C. im allgemeiuen keine Bedeutung zuschreiben 
darf.“ Dass auch im Fieber der Korper bestrebt ist, an symmetrischen 
Hautstellen moglichst die gleiche Temperatur zu erhalten, lehren uns 
die ausfuhrlichen Zahlenreihen Grunenwalds 19 ), welche allerdings zu 
einem anderen Zwecke gewonnen sind. Bei annahernd 1000 Einzel- 
messungen erhoben sich die Differenzen zwischen beiden Seiten selten 
fiber 0,5 u C., und nur 3 mal begegnen wir Unterschieden von 1°, 1 mal 
von 1,1°, 2 mal von 1,2° und 1 mal von 1,4° C. 


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Uber Messungen der Hauttemperatur bei Gesunden n. Nervenkranken. 163 

Wir sehen also, die Frage, bis zu welcher Grenze bei gesunden 
Menschen Differenzen in der Hauttemperatur genau symmetrischer 
Stellen vorkommen und wann etwaige Unterscbiede als abnorm be- 
zeicbnet werden miissen, ist noch nicht genau festgestellt. Dies zu 
ergrunden erschien uns nicht unwichtig, ehe wir, dem Plan unserer 
Arbeit entsprechend, daran gehen konnten, vergleichende Messungen 
bei Nervenkranken vorzunehmen und aus den gewonnenen Resultaten 
etwaige Scblusse zu ziehen. 

Wir haben zu diesem Zweck zunachst bei einer Reihe Gesunder 
bez. fieberloser Kranker Messungen der Hauttemperaturen vorgenommen. 
Ehe wir aber auf die hierbei gewonnenen Resultate eingehen, halten 
wir noch einige Bemerkungen fiber die Methodik fur angezeigt. 

Methodik: Dass die thermoelektrische Messung, wie sie mit 
einigen Abweichungen in der Konstruktion des Instrumentes von Kunkel, 
Rubner, Kothe etc. angewendet worden ist, die genauesten, d. h. der 
wirklichen Hauttemperatur am nachsten kommenden Resultate liefert, 
durfte keinem Zweifel unterliegen. Aber sie kommt als zu teuer und 
zu umstandlich ffir die rasche Orientierung, besonders in der Praxis, 
nicht in Frage. Wir haben deshalb ffir unsere Zwecke (gleichzeitige, 
z. T. langer dauernde Temperaturbestimmungen) das von Haak in 
Jena konstruierte und auch vonOehler 16 ) benutzte Thermometer an¬ 
gewendet. Dasselbe stellt ein Kontaktquecksilberthermometer dar, dessen 
Gefass in horizontaler Ebene mit einem Durchmesser von ca. 3 cm 
schneckenformig aufgerollt uud zum Schutze gegen Luftstromungen, 
Feuchtigkeit etc. durch eine kleine Glasglocke geschfitzt ist. Nur in 
der Methodik sind wir von derjenigen Oehlers abgewicben. Oehler 
erwarmte das Gefass an der eigenen Handflache bis zu einer Tempera- 
tur, die nur um einige Grad niedriger war als die zu messende Haut- 
stelle (meist ca. 30°), „setzte dann das Instrument auf die zu messende 
Hautpartie auf und ffibrte es hier, ohne die Zirkulationsverhaltnisse 
zu andern, unter langsamem leichten Gleiten, ungefahr in der Aus- 
dehnung eines kleinen Handtellers, so lange umher, bis der Queck- 
silberfaden, der im Anfang gewohnlich sehr rasch anstieg und sich 
von da ab nur noch um Zehntelgrade erhob, einen fixen Punkt er- 
reicht hatte. Die Messung einer Hautstelle nahm auf diese Weise 
nur ca. 1 Minute in Anspruch, konnte deshalb in beliebiger Haufig- 
keit wiederholt werden. Wurde das Thermometer einmal langer auf- 
gesetzt, so kamen hochstens Schwankungen des Quecksilberfadens bis 
zu 3 Zehntelgraden zur Beobachtung“. 

Mit dieser „abgekfirzten Methode mit gleitendem Thermometer 14 
sucht Oehler den Einwiinden, die man gegen die langer dauernde 
thermometrische Messungsweise erhoben hat (eventuelle Abkfihlung 

11 * 

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164 


X. Clatjs u. Bingel 


der Haut und Beeintrachtigun g der Warmeabgabe derselben) zu be- 
gegnen. Dem gegenQber mochte man aber umgekehrt einwenden, 
dass das Anwarmen des Instrumentes an der eigenen, nicht immer 
absolut trockenen Hohlhand, das Gleitenlassen des relativ nocb klihlen 
Gefasses auf einer ca. bandtellergrossen, zn messenden Hautflacbe 
seinerseits abnorme Bedingungen scbafft, und dass man somit auch 
der Oeblerscben Methode gegenuber gewisse Bedenken haben kann. 

Wie schon oben erwahnt, sind wir uns der Nachteile des Queck- 
silbertbermometers und der Unmoglichkeit, sie auszuscbalten, wobl be- 
wusst, halten aber docb das Haaksche Thermometer insofern fdr 
brauchbar, als es sicb mit einer breiten Flache auflegt und sehr rasch 
ansteigend einen fixen Punkt erreicht. Wir mochten dies besouders 
Gartner gegentiber betonen, dessen Thermometer, wie Versuche zeigten, 
nicht schneller ansteigt, dafftr aber mit seinem schmalen, einschliess- 
lich des schiitzenden Hartgummischuhes 5 V 2 cm langen Gefasses als Basis 
und seiner langen Saule sicher unhandlicher ist. Vergleichende Ver¬ 
suche ergaben, dass, wenn das Haaksche und Gartnersche Ther¬ 
mometer gleichmassig auf 26° C. erwarmt und auf eine Unterlage 
(Haut) yon ca. 34,5° aufgesetzt wurden, die Quecksilbersaulen gleich¬ 
massig anstiegen und nach 1—1 */ 4 Minuten den gleichen Punkt er¬ 
reicht hatten. 

Unsere Messung geschah nun folgenderweise: Zunachst wurde 
die das Quecksilber schiitzende Glasglocke mit einem schmalen Heft- 
pflasterstreifen, durch dessen Mitte die Saule des Thermometers hin- 
durchgestreckt war, armiert. Dann wurde das Thermometer, nach- 
dem oberflachlich die Hauttemperatur einer der zu prufenden nahe 
gelegenen Stellen mit dem aufgelegten Handriicken geschatzt war, in 
der Nahe der Heizkbrper gleichmassig (d. h. auch die Glasglocke) 
erwarmt, und zwar annahemd auf die zu erwartende und normaler- 
weise fur bestiramte Stellen nur innerhalb geringer Grenzen schwan- 
kende Temperatur gebracht (30—33° C). Hierauf wurde das In¬ 
strument dicht neben der vorher genau bezeichneten, zu messenden Stelle 
vorubergehend aufgesetzt und vorlaufig nur mit der Hand (an der 
Saule) so lange festgehalten, bis nach einigen Sekunden der Ruhepunkt 
erreicht war. 

Nunmehr wurde es sofort an der wirklich zu messenden Haut- 
partie durch den Heftpflasterstreifen in der Weise fixiert, dass das 
Gefiiss zwar Gberall gleichmassig auf der Haut aufsass, ein Druck auf 
dieselbe aber nicht ausgeubt wurde. Die nur einige Sekunden wah- 
rende Einstellung des vorher augevvarmten Thermometers an einer 
der zu prufenden benachbarten Stelle hielten wir fur erforderlich, urn 
Reize von ersterer fern zu halten, und fur berechtigt, da Temperatur- 


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Uber Messungen der Hauttemperatur bei Gesunden a. Nervenkranken. J65 

unterschiede an nahe gelegenen Hautabschnitten nur sehr gering sind 
undnach Kunkel nur ausserst selten 0,6° C. betragen, eine Beobachtung, 
die auch wir bei unseren Messungen immer wieder bestatigen konnten. 
Der Warmeaustausch, der nach diesen Vorbereitungen und nach 
Fixierung des Thermometers zwischen Haut und Instrument bis zur 
Erreichung des fixen Punktes und bis zur Notierung desselben statt- 
fand, muss sich somit auf ein Minimum beschranken. Wir sind des- 
halb wohl berechtigt, fur den Zweck unserer Arbeit die Temperatur- 
bestimmung der Haut mit Hilfe des Quecksilberthermometers als 
vollkommen geniigend und die dabei erhaltenen Werte als genaue 
anzuseben. 

Erwahnt sei nocb, dass wir in den meisten Fallen die zu messenden 
Hautpartien einige Zeit (10—15 Min.) vorher gleicbmassig entblossten, 
um der Haut Zeit zu lassen, sich an die etwas ktlblere Temperatur 
der Zimmerluft zu gewohnen und den durch das Abzieben der Klei- 
dung und die Entblbssung gesetzten Reiz wieder auszugleichen. Die 
Zimmertemperatur schwankte zwischen 18—20° C., nur einige Male be- 
trug sie versuchsweise 20—24° C. 

Um endlich etwaige rasch oder nicht gleichsinnig erfolgende 
Schwankungen der Hauttemperatur feststellen zu konnen, baben wir 
die Thermometer meist langere Zeit liegen lassen, mochten aber bierbei 
bemerken, dass wir denselben nur dann besondere Aufraerksamkeit 
schenken konnten, wenn sie auffallig zutage traten, da selbstredend 
durcb das langere Liegen der Thermometer gewisse abnorme Be- 
dingungen (veranderte Zirkulation, Behandlung der Warmeabgabe) ge- 
schaffen werden konnen. 

Versuche. Bestimmungen von Hauttemperaturen wurden bei 11 
(1—11) fieberlosen Kranken und 3 gesunden (11—14) Personen vor- 
genommen, und zwar bei den meisten an den Extremitaten, da schein- 
bar an den peripheren Teilen des Korpers eher Differenzen zwischen 
symmetrischen Stellen vorkommen wie am Stamm, und da wir ja be- 
sonders den bei Nervenkranken (Apoplektikern usw.) etwa bestehenden 
Differenzen nachgehen wollten. Zum Vergleich wurde gelegentlich 
noch bei 6 Fieberkranken die Hauttemperatur an korrespondierenden 
Stellen bestimmt. — Notiert wurde die Hohe des Queeksilberfadens, 
sobald der Ruhepunkt erreicht war, und wenn das Thermometer langere 
Zeit liegen blieb, in Abstanden von 5 zu 5 Minuten. Gleichzeitig 
wurde meist vor Beginn und nach Schluss einer langer dauemden Mes- 
sung die Achselhohlentemperatur festgestellt. 

Unsere Resultate geben wir in Tabellen*) wieder. Dabei zeigen 

*) Auf Veranlassung des Herm Herausgebers dieser Zeitschrift geben wir 


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166 


X. Claus u. Binoel 


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die oberen, wagrechten Zahlenreihen die Temperatur der rechten, die 
unteren die der linken entsprecbenden Stelle an. 

Gr. D. bedeutet die grosste Temperaturdifferenz, welche zwiscken 
beiden gleichsinnigen Partien gefunden wurde. 

Z.-T. = Zimmertemperatur. 

K.-T. = Korpertemperatur. 

U. = Unterschiede zwischen Haut- und Axillartempe ratur. 

Die Hauttemperatur eines Gliedes hangt hauptsachlich ab von 
2 Faktoren, namlich von der im Muskel, besonders im tatigen Muskel, 
gebildeten Warme und ferner von einer durch vasomotorischen Einfliisse 
bewirkten Veranderung der Durchblutung. Solche vasomotorische Ein- 
flfisse konnen die Gefasse der Haut -direkt treffen, oder die Durchblu¬ 
tung des Gliedes kann durch Muskeltatigkeit angeregt sein, ist also 
eine indirekte Folge der Muskeltatigkeit. 

Wir werden bei Anderungen der Hauttemperatur auf diese Dinge 
noch naher zu sprechen kommen. 

Uberblicken wir unsere an den 11 fieberlosen Leichtkranken und 
an den 3 Gesunden durch 364 Einzelmessungen an symmetrischen 
Stellen gewonnenen Resultate, so finden wir die geringsten Differenzen 
am Stamme (0,0—0,4 °), die grossten Unterschiede dagegen an den 
Extremitaten (je 1 mal 0,5 [Unterscbenkel], 0,6 [HandrQcken], 0,8 [Unter- 
arm], 0,9 [Oberarm], 1,0 [Unterschenkel]). Aber im allgemeinen sind 
doch auch hier die Grenzen eng gesteckt, denn, abgesehen von den 
wenigen extremen Zahlen, finden wir nur Differenzen von 0,1—0,4 0 C. 

Wir konnen deshalb sagen: Die Temperaturen genau symmetrischer 
Hautstellen weichen im allgemeinen nur sehr wenig von einander ab; 
es kommen aber doch schon normalerweise, wenn auch selten, Diffe¬ 
renzen am Rumpfe bis zu V 2 0 C., an den Extremitaten bis 1 0 C. vor. 
Infolge dessen kann man erst dann von einem abnormen Zustand sprechen, 
wenn der Unterschied am Rumpf mehr als i j 2 0 C., an Armen und 
Beinen mehr als 1 0 C. betragt. Scheinbar hat dieser Satz auch fiir 
fieberhafte Erkraukungen Geltung; dafiir sprechen sowohl die Zahlen 
Grunenwalds ,9 ) wie die von uns gefundenen Werte. 

Des weiteren lehren uns die liinger dauernden Messungen, dass 
ein fortwiihrender Wechsel der Hautlemperatur — Wegfallen ausserer 


unsere Versuchsprotokolle nielit alle wieder, sondcrn wahlen aus der grossen Za'.il 
von Protokollen nur einitre wenige Beispicle aus. Wir sind gern bereit, dem- 
jenigen, der sieh niilier fiir unsere Messungen interessiert, unsere Originalpro- 
tokolle zur Verfiigung zu stellen. Die Patienten, an denen wir unsere Unter- 
suelmngen inaehten, entstainmten zuni Teil deni stiidt. Hieehenhaus zu Frank¬ 
furt a M. Dem Loiter dieser Anstalt, Herrn Prof. Knoblauch, sprechen wir 
unseren ergebenen Dank aus. 


Go^ 'gle 


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Uber Messungen der Hauttemperatur bei Gesunden u. Nervenkranken. 167 


Reize vorausgesetzt — nicht stattfindet, sondern dass dieselbe sich 
relativ konstant erhalt Verandert wird die Hautwarme nur durch 
deo Wechsel der Korperwarme, und zwar so, dass sie letzterer parallel 
geht (Fall 1, 6) oder durch aussere, die Temperatur der Haut beein- 
flussende Umstande, z. B. kuhle oder warme Zimmertemperatnr 
(Fall 4, 10), oder langeres Blossliegen des zu messenden Korperteils 
(S, 20). Es linden somit die nacb dieser Richtung hin gemachten 
Beobachtungen Oehlers 10 ) und GrQnenwalds ihre Bestatigung. 

Endlich ergaben unsere kontinuierlichen Messungen, dass Steigen 
oder Fallen der Hauttemperatur auf beiden Seiten vollkommen gleich- 
raassig erfolgt. 

Bei einseitiger Arbeit jedoch steigt die Temperatur des arbeitenden 
Gliedes (Fall 21). 

Fall 21. Paul Schmalz, 16 Jahre, geheilte Angina. Z.-T. 22 0 C. 


5 jo 

5 55 

6oo 

6 5 

32,8 

33,1 

33,2 

33,4 

33,0 

33,2 

33,3 

33,2 


Das rechte Bein wird im Knie rechtwinklig gebeugt, dann der Unter- 
sckenkel gestreckt, dann wieder in Rubelage gebracht. Diese Ubung wird 
56 mal wiederholt bis zu starker MQdigkeit innerbalb von 7 Minuten. 


6 20 

6 25 

030 

635 

34,2 

34,4 

34,5 

34,5 

32,8 

32,8 

32,8 

32,9 


Durch einseitige Arbeit steigt in diesem Fallc also der Temperatur- 
unterschied des arbeitenden Beins gegenOber dem ruhenden auf 1,4°. 


Ia u. b. Betrachten wir jetzt zunachst die Resultate unserer Mes¬ 
sungen in 6 frischen, d. h. nicht langer als 8 Tage bestehenden Fallen 
von Apoplexie mit halbseitiger Lahmung, so finden wir in alien Fallen 
die Temperatur der Haut der gelahmten Glieder erhoht, und zwar dort, 
wo es sich um eine vollkommene Aufhebung der Motilitat handelt, 
urn 1 0 C. oder mehr — eine nach unseren fruheren Ausfuhrungen Uber 
das gewohnliche MaB hinausgehende, also abnorme Differenz. Wie 
lange die Erhohung anhielt, richtet sich wohl nach der Eigenart des 
Falles. Oppenheim 2I ), welcher auf vasomotorische Storungen bei 
Apoplexie aufmerksam macht, sagt, dass die Temperatur des gelahmten 
Gliedes „im Beginn oft erhoht sei, wahrend sich in den spateren 
Stadien die Haut an den der Lahmung unterworfenen Extremitaten 
kuhl anfQhle und oft cyanotisch verfarbt sei“. So viel geht jedenfalls 
aus unseren Beobachtungen hervor, dass dort, wo die Lahmung nor- 
maler Motilitat weicht, auch die Teraperaturwerte der Haut sich all- 
mahlich auf die normalen Werte einstellen, wahrend da, wo sich keine 
Besserung oder nur eine geriuge aktive Beweglichkeit weiter zeigt, 


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168 


X. Claus u. Bingel 


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die Hauttemperatur der betreffenden Gliedmassen aus der ehemals er- 
hohten in eine eventuell dauerad abnorm niedrige iibergeht (Fall 4). 


4. Fall. W., Privatus, 64 Jahre, Apopl. cer. Hemipl. dextra. 

5. Krankheitstag: Motilitat des rechten Arms nnd rechten Beins voll- 
standig aufgehoben. 



Z.-T. K.-T. 5 17 

520 

525 

5 30 

5 35 

540 545 

550 

5 55 Gr. 

Unterarm 

(Mifcte) 

210 C. 37,0 | 2,2 

32.2 

31.2 

32.2 

31.2 

32,2 

31,1 

32,2 

31,0 

32,2 32,2 
31,0 31,1 

32.2 

31.2 

32.2 , D „ 

31.2 

Unter- 

schenkel 

(Mitte) 

6°3 

6 10 

018 

6» 

6» 




2100 . 37,1 33,2 

33,2 

31,8 

33,1 

31,8 

33,1 

31,7 

33,1 

31,7 

Gr. D. 

1,4 




Die kranke Seite ist warmer. 

Derselbe 4 Wochen spater: Bewegung im rechten Bein fast ganz un 
mOglich, im rechten Arm unmOglich. 



Z.-T. 

K.-T. 

50 s 

510 

515 

520 

Gr. D. 

Unterarm 



30,9 

31,0 

31,0 

31,0 


(Mitte) 

19,5° 

36,9 

32,3 

32,3 

32,2 

32,2 

1,4 

Unterscbenkel 



30,4 

30,4 

30,3 

30,3 


(Mitte) 



31,9 

31,8 

31,8 

31,8 

1,5 


Die kranke Seite ist ktthler. 


"Oberlegen wir uns nun, wie die Erhohung der Hauttemperatur 
bei frischen Apoplexien zustande kommt, so mflssen wir wohl an- 
nehmen, das vasomotorische Vorgange in den Hautgefassen die Haupt- 
rolle spielen. Denn eine erhohte Warmebildung im Muskel kann nicht 
in Frage kommen, da ja die Extremitat gelahmt und untatig ist. 

Wenden wir uns zu den schon einige Wochen lang bestehenden 
Hemiplegien, so linden wir darunter im allgemeinen zwischen beiden 
Seiten Temperaturdifferenzen von 1—3° C., doch sind auch Unterschiede 
von 4° C. nicht seiten, ja in einem Fall (lb 12) betragt derselbe so- 
gar 6,8° C. 

Fall lb 12. Frau H., 33 Jahre, Apopl. cerebri + Hemipl. sin. vor 
2 Jahren. Linker Arm: Motilitat = 0; Sensibiliat erhalten. 


Z.-T. 

K.-T. 

1()37 1Q4.) 

10^ « s 

1050 

10 55 

10«° 

Gr. D. 



33,0 32,9 

32,6 

32,4 

32,1 

32,0 


Unterarm 21,0 

36,9 

26,2 26,2 

26,2 

26,2 

20,2 

26,2 

6 ,8—5,8 

Die kranke 

Seite 

ist kabler. 






Dabei sieht man ge 

wohnlich die 

grbssten Differenzen dort, 

wo die 


Liihmung am ausgesprochensten ist, wiihrend diejenigen Falle, in denen 
die Motilitat nur in gewissem Grade gestort ist, meist geringe Unter- 
schiede aufweisen. Viele Patienten empfinden ein subjektives Kalte- 
get’iihl, manche werden sogar dadurch belastigt. 


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Ober Messungen der Hauttemperatur bei Gesunden u. Nervenkranken. 169 

Die Herabsetzung der Hauttemperatur bei alteren Hemiplegien 
mag wohl zum Teil auf eine Yerminderung der Warmebildung in den 
gelahmten oder paretischen Extremitaten zu beziehen sein. Aber diese 
Erklarung kann nicht fur alle Falle ausreicben, denn trotz ziemlich 
gut erhaltener Funktion kann die Temperatur des betreffenden Gliedes 
sebr niedrig sein. 

Yor allem aber gescheben bei langer dauernden Messungen die 
Schwankungen der Hauttemperatur nicht wie bei den Gesunden immer 
gleichsinnig, sondera ziemlich oft stellt sich die gelahmte Extremitat 
entweder gar nicht oder nur langsam und zogernd auf einen niederen 
oder hoheren Warmegrad ein. Mag also bei alten Hemiplegien die 
Yerminderung der 'Warmebildung in der gelahmten Extremitat einen 
gewissen Anteil haben, an der Abkiihlung der Haut sicher spielen auch 
die vasomotorischen Einflusse eine grosse Eolle. 

Wir sind deshalb gezwungen, eine direkte Hemmung der vaso- 
motorischen Tatigkeit, eine Storung eines die Funktionen der Haut- 
gefasse regulierenden Zentrums im Gehirn, resp. von ihm ausgehender 
Babnen anzunebmen. Die Lage dieses Zentrums, resp. der von ihm 
ausgehenden Bahnen vermuten wir in der Nabe der von der Apoplexie 
gewohnlich getroffenen Stellen der Hirnrinde (Zentralwindungen, bezw. 
innere Kapsel). So kommen wir auf anderem Wege zur Bestatigung 
der schon durcb Experimente oder durch Zufalligkeiten (bei Opera- 
tionen) gewonnenen Annahme vasomotoriscber Zentren und Bahnen 
in der Nahe der motorischen Zentren oder der von ihnen ausgehenden 
Bahnen. 

Wir stellen uns vor, dass durch den cerebralen Herd zunachst 
eine Reizung der Vasodilatatoren eintritt, daher Erhohung der Haut- 
warme infolge vermehrter Durchblutung. Der Reizung folgt eine 
dauemde Lahmung, daher die Abkiihlung infolge verminderter Durch¬ 
blutung. 

Dieser Lahmung folgt dann die Atrophie der Gefasse in den ge¬ 
lahmten Gliedern, die ja eine bekannte anatomische Tatsache ist. Es 
ware gezwungen, wollte man annehmen, es handle sich zunachst um 
eine Lahmung der Vasokonstriktoren, die dann von einer dauernden 
Reizung gefolgt ware. 

Die genaue Abgrenzung der vasomotorischen Leitungsbahn im 
Gehirn ist bis jetzt noch nicht moglich gewesen. Nothnagel nimmt 
an, dass sie durch den hinteren Teil der inneren Kapsel geht, wahrend 
Parhon und Goldstein sie in den vorderen Teil verlegen. 

Dass enge Beziehungen einer vasomotorischen zu den motorischen 
und wahrscheinlich auch sensibleu Bahnen bestehen, dafiir sprechen 


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170 


X. Claus u. Binoel 


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jedenfalls die haufigen, mit der Beschrankung der Motilitat zusammen- 
gehenden Anderungen der Hauttemperatur und Sensibilitat. 

II. Die 4 Krankheitsfalle von Tumor cerebri schliessen sich in 
ihren die Hauttemperatur betreffenden Symptomen teils den frischen, 
teils den alteren Fallen von Apoplexie an. 2 Falle zeigen eine Tem- 
peraturerhohung der kranken Seite, verhalten sich also wie eine frische 
Hemiplegie; 2 Falle zeigen eine Herabsetzung der Temperatur der 
.kranken Gliedmassen. Interessant ist in einem Falle das Zuruckbleiben 
der in der Zeit von 50 Minuten um 5 0 C. steigenden Temperatur des 
Handrtlckens um 1 0 C. auf der ehemals gelahmten, jetzt nur noch 
geringe Parasthesien aufweisenden linken Seite im Gegensatz zu der 
vollkommenen Cbereinstimmung der Warmegrade an beiden hinsicht- 
lich Motilitat und Sensibilitat wieder ganz normalen FQssen. 

III. Bei einem Patienten mit ehemaliger Commotio cerebri, welcher 
z. Z. nur noch tiber leichte Parasthesien im rechten Arm klagt, findet 
sich eine vollstandige Ubereinstimmung der Hauttemperatur beider 
Unterarme. 

IV. In 2 Fallen von cerebraler Kinderlahmung mit relativ geringen 
Resten der ehemaligen Erkrankung finden sich einmal ganz normale 
Verhaltnisse der Hautwarme sowohl an der oberen wie unteren Extre¬ 
mist, wahrend das andere Mai die Temperaturdifferenzen nur wenig 
das normale MaB Gberschreiten. "Wir mochten dabei annehmen, dass 
entweder das supponierte vasomotorische Zentrum gar nicht oder nur 
wenig von der Erkrankung in Mitleidenschaft gezogen worden ist, oder 
dass die immerhin ziemlich gute Gebraucbsfahigkeit der in Frage kom- 
menden Extremitiiten und hierdurch bedingte Warmeentwicklung etwaige 
Differenzen in der Hauttemperatur auszugleichen imstande ist. 

V. Die Bestimmungen der Hautwarme bei 4 Erkrankungen an 
multipier Sklerose ergaben entweder gar keine TJnterscbiede zwischen 
beiden Seiten oder solche von geringeren Werten (nur 2 mal 2°C.). 
Dabei fanden sich die niedrigeren Zahlen auf der motorisch schwacheren 
Seite. Ausseren Einfliissen (Abkiihlung) gegeniiber andert sich die 
Temperatur der Haut auf beiden Seiten gleichmassig. 

VI. In 3 Fallen von Brown-Sequardscher Lahmung ist die 
Hautwarme auf der gelahmten Seite herabgesetzt, und zwar wird die 
Differenz um so grosser, je weiter das Thermometer nach der Peri¬ 
pherie zu aufgesetzt wird. Wir finden deslialb die geringsten Unter- 
schiede an der Schulter, bezw. an Oberarmen und Oberschenkeln, die 
grossten. und zwar ziemlich betrachtliche (3—-1" C.), am Unterarm und 
Hand, bezw. am Unterschenkel und Fussriicken. 

VII. Von den beiden Erkrankungen an Poliomyelitis anterior ist 
nur in einem ehemals akuteu Fall ein Unterschied in der Temperatur 


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Uber Messungen der Hauttemperatur bei Gesunden u. Nervenkranken. 171 

der Haut von 1 0 C. an den Beinen nachweisbar, wahrend bei einem 
chronisch verlaufenden Fall beide Seiten annahernd gleiche Warme- 
grade aufweisen. Dass aber auch bei Poliomyelitis anterior, besonders 
bei den akuten Formen des Kindesalters, recht niedrige Hauttempera- 
turen vorkommen, dafur sprechen die sich bisweilen sehr kalt anfiih- 
lenden und manchmal blaurot verfarbten, von der Lahmung getroffenen 
Gliedmassen. Darauf macht auch Oppenheim aufmerksam, welcher 
angibt, dass sogar Unterschiede in der Hautwarme von 10—12° C. 
gemessen worden seien. 

VIII. und IX Die progressive Muskelatrophie und Tabes dor¬ 
salis weichen, wie unsere beideu Beispiele zeigen, von dem normalen 
Verhalten hinsichtlich der Hauttemperatur nicht ab. 

X Bei einer Kranken mit alkoholischer Neuritis mit doppelseitiger 
Lahmung beider Beine ist die Hauttemperatur ungewohnlich kiihl, 
eine Erscheinung, die z. T. hier wohl in erster Linie auf die vollkom- 
meue Aufhebung der Motilitat und die daber verminderte Warmebil- 
dnng in der gleichzeitig atrophischen Muskulatur zuruckgefiibrt 
werden muss. 

XI. Auch bei den an Syringomyelie leidenden Kranken fanden 
sich recht erhebliche Abweichungen der Hauttemperatur von den ge- 
wohnlich festzustellenden Werten und zwar starke Abktiblungen der 
Haut entsprechend den trophischen Stbrungen. Sehr eigentllmliche 
Werte ergaben die Messungen bei dem Fall 11. Wahrend normaler- 
weise dicht bei einander liegende Zonen der Haut nur wenig in ihrer 
Temperatur von einander abweichen, fanden sich hier auf kurze Ent- 
fernungen hin relativ grosse Unterschiede. und zwar so, dass an korre- 
spondierenden Stellen bald die rechte, bald die linke Seite als die 
warmere oder kChlere angetroffen wird. Es wechselten — bisweilen 
schon mit der aufgelegten Hand fQhlbar — warmere mit kiihleren 
Partien ab, aber durchaus nicht an symmetrischen Stellen in gleichem 
Sinne. Auch kamen sonst nie von uns bei Fieberlosen unter gleichen 
ausseren Bedingungen konstatierte, relativ hohe Warmegrade der Haut 
vor (35,7 und 35,8° C. bei einer Achselhohlentemperatur von 36,4), 
wiihrend gleichzeitig auch sehr niedrige Zahlcn (27,6, 27,9° C.) nicht 
fehlten. Es war also in diesem Fall die beim Gesunden beobachtete 
genaue Abstimmung der Hautwiirme einer scheinbar vollkonnuenen Kege- 
losigkeit gewichen, wie wir sie bei kcinem unserer Kranken wieder 
gefunden haben. 

XI. Syringomyelic. 

1. M., Tagelohner, 40 Jalire. 

Starke Kvphoskoliosc, Ilornerseher Symjitomenkomplex, tropliisehe 


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172 


X. Ct.al's u. B ingel 


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StOrungen an den Handen, dissoziierte Empfindnngslahmung an den Vorder- 
armen. 


1. Messung. 

Z.-T. K.-T. 

Schulter 

Oberarm 

Unterarm 

Handrucken 

21,0 36,4 

35,0 

33,0 

32,3 

28,4 


3«j,o 

3o,o 

32,9 

29,4 


1. > r. 0,5 

l.>r. 2,5 

1. > r. 0,6 

L> r. 1,0 

Oberschenkel 

Unterschenkel 

Mitte unterea Drittel 

Knie 

Fussrueken 

33,6 

32,9 

29,2 

29,6 

27,9 

32,2 

30,4 

28,2 

27,6 

31,0 

1. <r. 1,4 

2. Messung (8 

1. < r. 2,5 

Tage spftter). 

1. < r. 1,0 

1. < r. 1,0 

1. > r. 2.9 

Z.-T. K.-T. 

Schulter 

Oberarm 

Unterarm 

Handrucken 

20,6 36,6 

35,0 

34,4 

35,8 

34,9 


35,7 

33,6 

34,3 

34,6 


1. > r. 0,2 

1. < r. 0,8 

1. <r. 1,5 

1. < r. 0,3 

Oberschenkel Knie 

Unter8cheDkel 

Fussrueken 

unt. Drittel 

31,0 

29,8 

32,5 


31,5 

32,4 

28,0 

29,4 


30,5 

1. > r. 1,4 

1. > r. 1,8 

1. < r. 

3,1 

1. < r. 1,0 


Bei dieser Gelegenheit mochten wir noch auf einen Punkt aufmerk- 
sam machen: Bei den meisten der von uns erwahnten Erkrankungen, 
bei denen die Hauttemperatur der Extremitaten keine normalen Ver- 
haltnisse zeigt, machte sich auch die Prtlfang des Tastsinns und des 
Temperatursinns notig; auch ist auf die Angaben fiber subjektive 
schmerzhafte oder andersartige Empfindungen zu achten. Nun kommt 
aber in Betracht, dass —worauf Goldscheider 21 ) beaonders aufmerk- 
sam macht — bei abgekfihlter Hautwarme Gegenstande relativ warmer, 
kalte dagegen weniger* kalt empfunden werden, dass aber von einer 
stark abgekfihlten Haut (17—20° C.) Kalte gar nicht oder fast gar 
nicht und selbst Warme schwacher empfunden wird; umgekehrt wird 
eine zu warme Hautstelle die Warme weniger, die Kalte aber starker 
wahrnehmen. Aber auch die Berfihrungs- und Schmerzempfindung 
kbnnen durch abnorme Abkuhlung der Haut beeintrachtigt werden. 
Endlich vermag eine unter ein gewisses MaB abgekfihlte Haut — 
vielleicht auch wie in unserem Falle von Syringomyelie eine relativ 
warme Haut — sehr wohl krankhafte Sensibilitatsstorungen vorzu- 
tiiuschen oder schon bestehende zu verstarken, bezw. zu verwischen, 
so dass es reclit schwierig sein kann, zu entscheiden, ob und wie weit 
die Parasthesien auf abnorm veriinderte Hautwarme oder auf patho- 


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Uber Messungen der Hauttemperatur bei Gesunden u. Nervenkranken. 173 

gische Zustande der betreffenden Sinnesnerven zuriickzufflhren sind. 
Es erscheint deshalb nicbt unwichtig, sich bei Aufnahme eines Ner- 
venstatus diese Moglichkeiten vor Augen zu halten. Vor allem durfte 
es sicb empfehlen, in solchen Fallen mehr als bisher auf die Tempe- 
ratur der Haut Riicksicht zu nehmen und durch Messungen derselben 
etwaigen falschen Schlussen vorzubeugen. 

Fassen wir jetzt die durch unsere Messungen gewonnenen Resul- 
tate nocb einmal zusammen, so sind besonders folgende Punkte her* 
vorzuheben: 

1. Beim gesunden Menschen sind die Temperaturen symmetrischer 
Qautstellen nicht absolut gleicb, sondern variieren innerhalb gewisser 
Grenzen, und zwar am Rumpfe innerhalb 0,5 0 und an den Extremi- 
taten innerhalb 1 0 C. Man darf deshalb von abnormen Unterschieden 
nur dann sprechen, wenn die Differenz am Rumpfe mehr als 0,5°, 
an den Armen oder Beinen mehr als 1° C. betragt 

2. Innerhalb knrzerer Zeiten schwankende Temperaturveranderungen 
kommen ohne aussere Reize kaum vor. Werden gleichsinnige Korper- 
stellen von solchen (Kalte, Warme) getroffen, so sinkt oder steigt die 
Temperatur der Haut beiderseits gleichmassig. Im Obrigen andert sich 
die Temperatur der Haut parallel dem Steigen oder Fallen der Korper- 
temperatur. 

3. Bei frischen Fallen von Apoplexia cerebri mit konsekutiven 
Lahmungserscheinungen ist in den ersten Tagen die Hautwarme der 
getroffenen Gliedmassen erhoht im Verhaltnis zu der gesunden Seite. 
Geht die Lahmung zuriick, so stellen sich auch an der Haut normale 
Temperaturverhaltnisse wieder her, anderenfalls geht die Temperatur 
der paretischen oder paralytischen Seite unter, oft sogar weit unter 
die der gesunden Seite. Allem Anschein nach gilt dieser Satz auch 
in vollem MaCe for sonstige die motorischen Zentren der Hirnrinde 
oder die Leitungsbahnen im Gehirn oder Rtickenmark treffende Ver- 
letzungen oder Erkrankungen. 

4. Die Temperatur der Haut bei alten Mono- und Hemiplegien ist 
oft so niedrig — auch in Fallen, wo die noch bestehende Lahmung 
nur noch eine teilweise ist —, dass man die schwiichere Muskeltatig- 
keit und hierdurch bedingte geringere Warmebildung allein nicht be- 
schuldigen kann. Da auch ziemlich haufig die Hauttemperatur der 
gelahmten Seite fast gar nicht oder nur trage auf andere Einfliisse 
(Kalte, Warme) reagiert im Gegensatz zur gesunden Seite, so dlirfen 
wir auch in diesen Fallen eine Schadigung vasomotorischer Zentren 
oder Bahnen annehmen. 

5. Bei der Svringomyelie finden sich mitunter nicbt nur betracht- 
liche Differenzen in der Hautwarme symmetrischer Kbrperstellen, son- 


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174 X. Claus u. Binuel, Uber Messungen der Haattemperatur usw. 


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dern auch an nahe bei einander liegenden Partien; auch sonst kommen 
zuweilen bei dieser Erkrankung Abweichungen von der gewohnlieh 
beobachteten Hauttemperatur vor, indem neben sehr niedrigen auch 
relativ hohe, im Verhaltnis znr Korperwarme sonst kaum beobacbtete 
Temperaturen an gewissen Hautstellen gewonnen werden. 

6. Da eine in ihren Warmeverhaltnissen veranderte, besondera aber 
abgekfihlte Haut, aussere Reize nur unsicber oder gar nicbt empfindet 
und umgekehrt durch eine abnorme Hautwarme Parasthesien vorge- 
tauscht werden konnen, so ist Vorsicht nach dieser Richtung hin bei 
Untersuchung Nervenkranker geboten und eine genaue vergleichende 
Prufung der Hauttemperatur zu empfehlen. 


Literatur. 

1) Zitiert nach Hell nor: Archiv f. klin. Med. 48. 1891. 

2) Henke, Wagners Archiv f. Heilkde. 18GS. 

3) Jacobsohn, Virchows Archiv. Bd. 65. S. 520. 

4) Schulein, Virchows Archiv. Bd. 66. S. 109. 

5) Wegscheider, Virchows Archiv. Bd. 69. S. 172. 

6) Senator, Untersuchung uber den fiebernden Prozess und seine Behand- 
lung. 1873. 

7) Cob nheim, Vorlesungen uber allgemeine Pathologie. 2. Aufl. 2. S. 549f. 

8) Geigel. Verhandlungen der phys.-nied. Gesellsch. in Wurzburg. Neuo 

Folge. 22. 1888. 

9) Krauss, Wiener klin. Wochenschr. 1894. Nr. 13/15. 

in) Lereboullet, Gaz. de nied. et chir. Vol. 37. 38. 40. 42. 1S7S. 

11) Bier, Hypenimie als Heilmittel. 5. Aufl. 1907. S. 50. 63. 65. 1 IS. 

12) Herz, Uber die Temperaturverhaltnisse chronisch erkrankter Gelenke. 
Berl. klin. Wochenschr. 1903. Nr. 20. 

13) Sommer, Cher die unmittelbare und Dauerwirkung der Licht- und 
Warmestrahlung auf die Hauttemperatur. Berl. klin. Wochenschr. 1903. Nr. 40. 

14) Kothe, Studien iiber die Temperatur erkrankter und hyperamischer 
Gelenke. Munch, nied. Wochenschr. 1904. Nr. 31. 

15) Kubner, Archiv f. Hygiene. Bd. 23. S. 13. 

16) Oeliter, Deutsches Archiv f. klin. Medizin. Bd. 80. S. 245. 

17) Kunkel, Zeitschrift f. Biologic. Bd. 25. 1S89. 

18) Anrep und Melcop, zitiert nach Hellner, Archiv f. klin. Medizin 
1S91. Bd. 48. 

19) (irunenwald, Uber Hautteniperaturen bei fiebernden Kranken. Deut¬ 
sches Archiv f. klin. Medizin 19o3. Bd. 78. S. 333. 

20) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 4. Afl. Bd. 2. S. S03. 

21) Goldscheider, Archiv f. Psychologic und Nervenkrankheiten. IS. H. 3. 


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XI. 


Aus der II. medizinischen Klinik der konigl. Universitat Budapest 
(Direktor: Prof. E. Jendrassik). 

Uber einen Fall yon Myasthenia gravis pseudoparalytica 
mit positivem Muskelbefnnd. 

Yon 

Dr. Josef Csfky. 

(Mit 5 Abbildungen.) 

Obwohl S. Wilks 1 ) im Jahre 1877 der erste war, der sympto- 
matologisch einen zur Myastbenie gehorigen, todlich verlaufenden Fall 
mit negativem Sektionsbefund veroffentlichte, so kntipft sicb die Er- 
kennang dieser Krankheit als eines selbstandigen Krankbeitsbildes an 
die im Jahre 1878 erfolgte Veroffentlichung von 3 Fallen durch 
W. Erb. 2 ) Auf rein klinischer Grundlage wies er auf den „neuen, 
wahrscheinlich bulbaren Symptomenkomplex" hin, der sich besonders 
durcb seinen eigenartigen Verlauf und seine Tendenz zur Heilung 
von der gewohnlichen progressiven Bulbarparalyse unterscbied. 

Erst im Jabre 1887 erfolgte die nachste Veroffentlichung eines 
Falles mit Autopsie durch Oppenheim 3 ) mit ganzlich Degativem Sek¬ 
tionsbefund, so dass er das Krankheitsbild mit dem Namen „Bulbar- 
paralyse ohne anatomiscben Befund“ bezeichnete. Unter den in den 
nachsten Jahren in grosserer Zabl veroffentlichten Arbeiten verdient 
die von Goldflam 4 ) besonderer Erwahnung, der zuerst auf die eigen- 
artige Ermiidbarkeit der Muskeln als etwas von der Lahmung Ver- 
scbiedenes hinwies und zeigte, dass in mancben Fallen sogar Heilung 
eintreten kann; auch wies er als erster darauf hin, dass ausser den 
bulbaren Symptomen dieselben Erscheinungen der Ermudbarkeit auch 
an den Extremitaten ohne jede Muskelatrophie und Degeneration auf- 
treten konnen. Eine andere wichtige Veroffentlichung ist die von 
Jolly 5 ), in der er das unter dem Namen „myasthenische Reaktion“ 
bekannte Verhalten der Muskulatur gegenuber dem elektrischen Strom 
beschreibt. 

Die in den Arbeiten von Strtimpell 0 ), Hoppe 7 ), Eisenlohr s ). 
Senator 9 ), Shaw 10 ), Dreschfeld n ), Somdorf 12 ), Schtile 13 ), Ray- 

Deutsche Zeitscbrift f. Xervenheilkuude. 37. ltd. 12 


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XI. CSIKY 


mond 14 ) u. a. veroffentlichten Falle ergaben alle bei der Sektion einen 
negativen Befund. Diese und viele ohne Sektion beschriebenen Falle 
trugen aber dazu bei, dass sich ein strong nmgrenztes und charakte- 
ristisches Krankheitsbild aufstellen liess, das kliniscb leicbt zu erkennen 
war, in atiologischer und patbologisch-anatomischer Hinsicht aber ganz 
im Dunklen blieb. So konnte dann im Jahre 1901 Oppenheim 15 ) in 
seiner ausgezeichneten Monographic ein klares Krankheitsbild entwerfen, 
ohne aber die der Krankheit zugrunde liegende pathologische Veran- 
derung angeben zu konnen. 

Die veroffentlichten Falle erwiesen es klar, dass das Leiden kein 
speziell bulbares ist, sondem dass es auch die nbrigen Korperteile, 
resp. Muskeln ergreifen kann, wobei bei den einzelnen Fallen an ver- 
schiedenen Muskeln die ersten Symptome der Erkrankung auftreten 
konnen, aber wohl am haufigsten in den bulbaren Gebieten. Schon 
minimale Schwache einzelner Augenmuskeln, des M. levator palpebrae 
sup., der Gaumenmuskulatur verursachen Symptome wie Doppelsehen, 
Senkung der Augenlider, Schluckbeschwerden, die dem Kranken natur- 
lich auffallen und ihn zunachst ohne andere Erscheinungen und Be- 
schwerden zum Arzte fuhren. Die in den Extremitaten eventuell eben- 
falls schon vorhandene Schwache ist um diese Zeit noch so gering, 
dass sie vom Kranken gar nicht beachtet wird oder hochstens in einer 
allgemeinen Mattigkeit ihren Ausdruck findet 

Es ist daher nichts Auffallendes, dass die meisten Autoren zuerst 
in einer Erkrankung des zentralen und auch des peripheren Nerven- 
systems die anatomische Grundlage dieser Erkrankung suchten. Be- 
sonders das verlangerte Mark wurde immer und immer wieder unter- 
sucht. Die dabei gewonnenen Resultate waren entweder absolut nega- 
tiv, oder es fanden sich im Zentralnervensystem an manchen Stellen 
frische, mikroskopische Blutungen, Chromatolyse in den Ganglien- 
zellen der Kerne der Kopfnerven, minimale Degenerationen in ver- 
schiedenen Wurzelgebieten nach Marchi, auffallende Dttnnheit ein- 
zelner Wurzeln und Wurzelfasern, mit einem Wort lauter Verftnde- 
rungen, die wegen ihrer Geringfiigigkeit nicht als Krankheitsursache 
angenommen werden konnten. 

Bei diesen negativen Befunden gewann langsam jene Anschauung 
an Bedeutung, die das ganze Krankheitsbild als eine Autointoxikation 
ault'assen wollte, welche durch pathologische Stoffwechselprodukte, 
sog. Ermudungsstoffe, oder durch die Wirkung anderer Toxine, beson- 
ders aber durch die Produkte der in vielen Fallen persistierenden 
Thymus und verschiedeuer Tumoren verursac-ht wird. Auffallend haufig 
war auch eine kongenitale Missbildung an verschiedenen Teilen des 
Korpers nachweisbar, die auf eine angeborene Minderwertigkeit des_ 


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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 177 


Organismus hinzuweisen schien und die geeignefc war, die letztere Auf- 
fassung von der Toxinwirkung dadurch zu unterstutzen, dass ein von Ge- 
burt aus minderwertiger Organismus viel leichter durch toxische Stoffe 
geschadigt wird, ohne Unterschied in Bezug darauf, ob diese Stoffe 
im Korper selbst erzeugt werden (Autointoxikation), oder ob durch 
auswartige Gifte die Intoxikation verursacht wird. 

Im Jahre 1901 publizierte Weigert 16 ) als erster einen von 
Laqueur 16 ) beobachteten typischen Fall von Myasthenie, bei dem die 
Sektion ein positives Resultat ergab, indem neben einer Thymusge- 
scbwulst mikroskopische Veranderungen in den Muskeln nachweisbar 
waren. Bei normalem Nervensystem fand er eine stark vergrosserte 
und geschwulstartig veranderte Thymus, bestebend aus lymphoiden 
und wenig epitheloiden Zellen mit typischen Hassalschen Korperchen. 
Dieselben Zellen fand er auch mikroskopisch in den makroskopisch 
ganz normal aussebenden Skelettmuskeln sowie auch im Herzmuskel. 
Es waren das zerstreut und gruppenweise angeofdnete lymphoide Zellen 
zwischen den einzelnen Muskelfasern im Perimysium int., ohne jegliche 
Entzhndungserscheinungen, ohne polynukleare Leukocyten und ohne 
Fibroblasten mit neugebildetem Bindegewebe. Da die Zellen in jeder 
Beziehung den in der Thymus gefundenen Tumorzellen glicben, erklarte 
er sie als mikroskopisch kleineMetastasenderThymusgeschwulst. Trotz- 
dem brachte er das ganze Bild in keinen ursachlichen Zusammenhang 
mit der Krankheit, da er es nicht fur wahrscheinlich hielt, dass so 
geringe Muskelveranderungen ein so schweres Krankheitsbild verur- 
sachen konnten. Darum glaubt er eher als Ursache intermediare Stoff- 
wechselprodukte annehtnen zu konnen, die von der persistierenden und 
krankhaft veranderten Thymus secerniert wfirden. Seit dieser Ver- 
bffentlichung von Weigert erschienen weitere Befunde, gestiitzt teils 
auf Sektionen, teils auf Untersuchungen von den Lebenden exzidierten 
Muskelsttickchen. 

Im allgemeinen lassen sich diese Befunde in 2 Gruppen einteilen: 
1. in solche, bei denen eine primare Geschwulst irgendvvo im Korper 
vorhanden war und wo der im Muskel erhobene Befund als Metastase 
der Geschwulst gedeutet wird; 2. in Falle, bei denen ausser dem 
charakteristischen Muskelbefund nichts anderes nachweisbar war. In 
den Fallen beider Gruppen aber war ein auffallend hiiufiger Befund 
eine Persistenz der Thymusdriise. Zu der ersten Gruppe gehoren ausser 
dem oben erwahnten Fall von Weigert noch die Falle von Gold- 
flara 17 ) und Hun 18 ), wahrend zu der zweiten Gruppe die Falle von 
Steinert 19 ), Link 20 ), Boldt 21 ), Burr- 2 ), Buzzard 23 ) (5 Falle), 
Knoblauch 24 ) Frugoni 23 ), Marburg 20 ), Osann 27 ) und Mandel- 
baum u. Celler 28 ) zu rechnen sind. 

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Alle durch diese Autoren erhobenen Befunde stimmen im allge- 
meinen miteinander fiberein, so dass ich auf sie im einzelnen nicht 
naher eingehen will. Es fanden sicb immer im Perimysium ini und 
zwischen den einzelnen Muskelfasern Anhaufungen von „lymphoiden u 
Zellen, die man auch wegen ihrer regelmassig um kleine Gefasse sich 
gruppierende Anordnung perivaskulare kleinzellige Infiltration nannte. 

Da jeder neue mit Muskelbefund einhergehende Fall einen posi- 
. tiven Beweis bildet fur eine Mitbeteiligung der Muskeln an der Krank- 
heit, so mocbte ich hier einen typisch verlaufenen Fall mitteilen, bei 
dem die mikroskopische Untersuchung einzelner Muskeln einen ahn- 
lichen positiven Befund ergab, 

E. Sziderits, 21j&hr. Feldarbeiterin, aufgenommen in die Nerven- 
klinik am 26. Juli 1904, gestorben am 25. Juli 1907. 

Familienanamnese bietet nichts Bemerkenswertes. Eltern waren 
nicht verwandi Von 11 Geschwistern leben drei, eine Schwester starb 
an Lungentuberkalose, die Obrigen Geschwister sind im Kindesalter gestorben. 

Nach Angabe der Patientin war sie immer gesund und kr&ftig, hatte 
keine Einderkrankheiten, keine Diphtherie oder andere Infektionskrank- 
heiten durchgemacht. Menstruation mit 12 Jahren, bis zur jetzigen Krank- 
heit immer regelmassig. Nur seit Beginn der Krankheit blieb sie Ofters 
2—8 Monate aus, dann stellte sie sich mit starken Schmerzen ein. 

Ihrera jetzigen Leiden ging weder eine akute Erkrankung noch Er- 
kaltung voraus. Zu Beginn des Jahres 1902 bemerkte sie, dass ihre Arme 
bei der Arbeit auffallend schnell made wurden; nach einem halben Jahr 
fQhlte sie ein ahnliches Schwachegefahl bei langerem Gehen in den 
Beinen, wozu sich allmahlich eine Ermtldung bei langerem Sprechen, 
zeitweises Herabsinken beider Augenlider und Doppelsehen gesellten. 
Auch das Schlucken wurde ihr manchmal beschwerlich und es geschah 
ofters, dass ihr FlQssigkeit beim Schluckversuch durch die Nase regurgi- 
tierte. Besonders auffallende Schmerzen soli sie niemals gehabt haben. 
Schon bei leichter Arbeit ftthlte sie sich matt; diese schnelle ErmQdbar- 
keit nahm mit der Zeit immer mehr zu, so dass Patientin zuletzt gar nicht 
mehr arbeiten konnte; sie wurde bettlagerig und konnte sich auch im Bette 
kaum bewegen. Dieser Zustand dauerte 6—8 Wochen, wonach es ihr 
wieder besser ging; sie begann von neuem zu gehen, die ErmUdbarkeit 
stellte sich aber nach der kleinsten Anstrengung immer wieder ein, so 
dass sie arbeitsunfahig war. In diesem Zustand suchte sie unsere Klinik auf. 

Von anderen Beschwerden muss noch besonders hervorgehoben werden 
die hartnftckige Schlaflosigkeit, gedrttckte Stimmung, die schnelle Erreg- 
barkeit des Gemllts und manchmal Herzklopfen. Appetit, Stuhl normal, 
keine Urinbeschwerden. Angeblich Amor lesbicus gegenllber einer Ge- 
falirtin, spater auch gegen andere. 

Status praesens. Mittelgrosse, kraftig gebaute Patientin in gutem 
Erniihrungszustnnd. Knochensystem, Gelenke normal. Haut blass, so auch 
die sichtbaren Schleimhaute. Keine DrOsenschwellung. Lunge normal. 
Herz innerhalb norraaler Grenzen, Herztone rein. Puls ebenfalls normal, 
in der Rube 82, stieg aber nach psychischen Reizen und kOrperlichen An- 


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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 179 

drengungen sehr rasch bis aaf 120 in der Minnte. Bauchorgane ohne 
Befund. Urin enth&lt kein Eiweiss Oder andere pathologische Bestandteile. 

Das Gesicht der Eranken macht den Eindruck starker Mfldigkeit; die 
Falten des Gesichts, besonders die Nasolabialfalten, sind beiderseits fast 
ganz verstrichen. Die Augenspalte ist verengt, indem das obere Augenlid 
tiefer steht als normal. Nach mehrmaligem Offnen und Schliessen der 
Augen, so anch nach 10—15 Seitw&rtsblicken schliessen sie sich fast 
vollstAndig, trotzdem Patientin sich die grOsste Mtthe gibt, sie oifen zu 
balten. Nach einer kurzen Pause von 1—2 Minuten kann Patientin die 
Augen wieder Offnen. Fast immer aber bleibt beim Schliessen der Augen 
zwischen den Lidern ein kleiner offener Spalt. Pupillen sind gleichweit, 
rund, reagieren auf Licht und Konvergenz gut und zeigen gar keine Er- 
mOdungserscheinungen. Augenbewegungen sind nach alien Richtungen frei. 
Konvergenz normal. Nach langerem Sehen nach rechts gibt sie an, manch- 
raal doppelt zu sehen. Geringer Exophthalmus. Kein Nystagmus. Cor- 
nealreflex vorhanden. Die Beweglichkeit der Stirnmuskulatur ist sehr 
beschrankt; Patientin kann ihre Stirn nur in sehr geringem MaBe runzeln. 

Sie halt den Mund fast immer etwas offen, trotzdem die Nasenatmung 
ganz frei ist. Der rechte Mundwinkel bleibt etwas zurflck, dabei kann sie 
weder pfeifen, noch die Backen aufblasen; die Seitw&rtsbewegung kann bei 
den ersten Versuchen ganz gut ausgefflhrt werden, wird aber nach mehr- 
maligem Wiederholen immer schwflcher, bis es ihr schliesslich ganz un- 
raoglich wird. Beim Yersuch, zu lachen, bleiben die Mundwinkel fast ganz 
unbeweglicb, nur die Nase wird starker nach oben verzogen, so dass ihr 
Gesicht mehr einen wehmfltigen Ausdruck bekommt. Zunge normal, kann 
nach alien Richtungen ziemlich gut ausgestreckt werden; zeigt keine Atro- 
phie noch fibrill&re Zuckungen. Auch die Zunge zeigt nach Ofterem Aus- 
strecken und Einziehen deutliche ErmQdungserscbeinungen. — Ebenso ist 
es mit der Kaumuskulatur. Die anfangs ziemlich starke Kontraktion 
des M. masseter und temporalis wird schon nach einigen nach einander ge- / 
machten Eaubewegungen sehr schwach, es befallt sie ein MttdigkeitsgefQhl, 
der Mund bleibt kurze Zeit offen, und erst nach einer kflrzeren Pause kann 
sie mit dem Essen fortfahren. Deswegen kann sie auch festere Speisen 
gar nicht essen. Das Verhalten des weichen Gaumens ist Ahnlich: Nach 
einigen ausreichenden Bewegungen hOrt die Beweglichkeit beim Intonieren 
ganz auf, um nach einigen Sekunden Ruhe wieder zurflckzukehren. Rachen- 
reflex schwach auslOsbar. 

Die Nackenmuskulatur von normaler Entwicklung, die Kopfhaltung 
auch normal. Sowie sie aber lAngere Zeit aufrecht sitzt, sinkt ihr Kopf 
nach vorn oder zurflck. Dieselbe schnelle Ermfldung auch bei der Seit- 
wartsbewegung des Kopfes. Die Schilddrflse ist mAssig vergrossert. 

Die Muskulatur der Schulter, Brust, oberen und uuteren Ex- 
tremitaten ist gut entwickelt, zeigt nirgends eine Spur von Atropkie, ist 
aber von auffallend schlaffer Konsistenz, auch bei Kontraktion der Muskeln. 
Passive Bewegungen flberall ausfflhrbar. 

Sehnenreflexe ausser dem Tricepsreflex gut auslosbar, so auch die 
Bauchdeckenreflexe und der Fusssohlenreflex. Kein Clonus. Keine Ataxie. 

In den Muskeln keine fibrillAren Zuckungen. Nervenstamme, Muskeln auf 
Drnck nicht schmerzhaft. 

In beiden oberen Extremitaten ist zunachst eine allgenieiue 


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Schwache auffallend. Bei aktiver Bewegung kann Patientin ihre Arme nur 
ungefahr bis zur Horizontalen heben. Bei Ofterem Wiederholen dieser 
Bewegung werden die Exkursionen immer geringer, bis die Arme wie ge- 
labmt herunterhangen und die Eranke die Arme auch beim besten Willen 
nicht mehr bewegen kann. Leichte Gegenstande kann sie langere Zeit in 
der Hand halten, schwere aber muss sie bald wieder niederlegen, da sie 
ihr sonst nach kurzer Zeit aus der Hand fallen. Grosse Schwierigkeiten 
bereitet ihr auch das Essen. Den LOffel kann sie nur ein paar Mai nach 
einandcr zum Munde ftthren, wahrend das Schneiden von Fleisch oder Brot 
nur sehr selten gelingt. Nach einigen schwachlichen Handedruckversuchen 
werden die nachsten immer schwacher, so dass nach 8—10 maligem Wieder¬ 
holen die Hand wie gelahmt niedersinkt. 

Die sonst gut entwickelte Bauchmuskulatur zeigt dieselbe rasche 
Ermtldbarkeit. Aus der EQckenlage kann sich Patientin ohne Hilfe ihrer 
Arme nicht erheben; wiederholt sie aber diese Bewegung, so sinkt sie bald 
ganz erschdpft zurtick, ohne nachher auch die geringste Bewegung machen 
zu kflnnen. 

Dasselbe Verhalten zeigen auch die Muskeln der unteren Extremi- 
taten. Nach einigen scheinbar mOhelosen Schritten wird der Gang lang- 
samer, das Heben der Beine im Eniegelenk geringer, der Fuss wird auf 
dem Fussboden geschleift, und Patientin wird von einem grossen Mfldig- 
keitsgef&hl befallen und sinkt nach ca. 5—6 Minuten total erschOpft auf 
den Stuhl. 

Was die elektrisehe Untersuchung betrifft, war eine Entartungs- 
reaktion an keinem Muskel nachzuweisen, dagegen war die mya6theni- 
sche Reaktion Jollys besonders im Facialisgebiet, in der Eaumusku- 
latur, an Biceps, Unterarmmuskeln, Quadriceps, Pectoralis deutlich vor- 
handen. An den kurzen Muskeln der Hand konnte sie nur manchmal 
nachgewiesen werden. Oberhaupt war diese Reaktion nicht konstant, sie 
wechselte nach Tag nnd Muskeln ziemlich unregelm&ssig, anscheinend ohne 
in eigentlichem Zusammenhang mit der grdsseren oder geringeren ErmOd- 
barkeit der Muskeln. 

Seine Sensibilit&tsstorungen. 

Die Sprache ist immer etwas naselnd. Nach einigen deutlich und lant 
ausgesprochenen Worten wird die Stimme immer leiser und undeutlicher, 
bis sie schliesslich in ein undeutliches Flftstern Obergeht. 

FQr alle diese Bewegungen war die schnelle Ermtldbarkeit der Mus- 
kulatur mit subjcktivem MattigkeitsgefOhl charakteristisch. Ruhte aber 
Patientin eine kurze Zeit aus, so stellte sich wieder die frtthere Kraft ein, 
urn bei Wiederholung der BeWegung ebenso rasch, vielleicht etwas schneller 
wieder zu verschwinden. 

Patientin verblieb bis zu ihrem im Jahre '1907 erfolgten Tod auf der 
Klinik. Uber den weiteren Verlauf mbchte ich — da er keine wesentliche 
Abweichung von dem bekannten Verlauf der Myasthenie bot — zusammen- 
fassend bcricliten. 

Besonders drei Momente sind es, die im weiteren Verlauf hervortraten. 
Erstens die auffallend schnelle zeitliche Schwankung der Erankheit, die sich 
nicht nur auf langere Perioden — Wochen, Monate — ausstreckte, sondern 
auch wahrend des Verlaufcs eines Tagos sehr charakteristisch war. Nach 
einer gut verbrachten Nacht ftihlte sich Patientin morgens viel krftftiger 


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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. igl 

als tags vorher, konnte die Augenlider besser heben, die Sprache war 
deatlich and such das Gehen fiel ihr viel leichter. Schon nach wenigen 
Stunden aber senkten sich ihre Augenlider, eine allgemeine Mattigkeit be- 
machtigte sich ihrer, so dass sie meistens den ganzen Tag im Bett ver- 
blieb. Am ausgepr&gtesten waren die Symptome abends. 

Neben dieser t&glichen Schwankung des Krankheitsbildes war das 
Anftreten von Perioden, wo Patientin ohne nachweisbare Ursache mekrere 
Wocben, ja monatelang sich viel starker fllhlte und w&hrend welcher Zeit 
sich fast alle Symptome wesentlich besserten, bemerkenswert 

Ohne jede Sussere Ursache traten dann, meistens ziemlich plOtzlich, 
Remissionen ein, wobei die oben geschilderten Symptome besonders aus- 
geprigt warden. Solche Remissionen kamen im Verlauf ihrer Erankheit 
Ofters wieder, ohne aber einen progredienten Charakter zu zeigen. Auf- 
fallend war eine regelm&ssige Verschlechterung ihres Zustandes wahrend 
der Zeit der Menstruation. 

Eine weitere bemerkenswerte Erscheinung bildeten die bei Myasthe- 
nikern so haufig beschriebenen eigenartigen Erstickungsanfalle. Schon 
in der ersten Zeit ihres klinischen Aufenthaltes bekam Patientin pldtzlicli 
Anfalle von starker Atemnot. Sowohl ansserhalb des Bettes als anch beim 
rnhigen Liegen — im fersteren Falle fiel sie pldtzlich zusammen — wurde 
sie cyanotisch, bekam Starke Atemnot, das ganze Gesicht and der Ober- 
kdrper warden mit Schweiss bedeckt, dabei waren die Extremitaten ganz 
kohl anzufdhlen. Der Mnnd fhllte sich rasch mit Speichel and zahfltlssigem 
Schleim and anch mit der grdssten Anstrengung konnte sie ihn nicht aus- 
spncken. Dabei war die Zunge nach hinten gesunken and die Atmang 
ganz oberflachlich, frequent. Der Pals war beschleanigt and filiform, stieg 
bis liber 120. Nach 10—15 Minuten besserte sich der Zustand wieder, 
besonders wenn man den Schleim aas dem Mande entfernte and die Zange 
nach vorn zog. Nach dem Anfall fllhlte sie sich immer noch 1—2 Tage 
sehr matt. 

Diese Anfalle wiederholten sich anfangs in Zwischenraamen von mehreren 
Monaten, spater aber warden sie immer haufiger and nahmen anch an In- 
tensitat zu, indem Patientin aach das Bewnsstsein verlor and es manchmal 
eine halbe Stunde danerte, bis sie nnter oftmaliger Anwendung von khnst- 
licher Atmang and Oxygeninhalation zn sich kam. Anch der Exitns trat 
wahrend eines solchen Anfalles ein, in einem Stadium, wo Patientin sich 
leidlich fllhlte and in jeder Hinsicht eher eine Besserung des Zustandes 
zu verzeichnen war; auch waren seit dem letzten Anfall mehr als 2 Monate 
verstrichen. Unter dem oben beschriebenen Bilde bei Bewusstlosigkeit, 
starker, zunehmender Cyanose, Schweissausbruch nnd Sekretansammlung 
im Monde erlag sie dem Anfall trotz ktlnstlicher Atnmng und Oxygen in 
1 Stunde. 

Die Sektion, die 18 Stunden nach dem Exitus gemacht wurde, ergab weder 
am Gehirn noch an den tlbrigen Organen etwas Besonderes, weshalb ich es 
unterlasse,dasSektionsprotokoll ausflihrlich mitzuteilen. Hervorheben mdclite 
ich nur Folgendes: In der Gegend des linken Frontal- und Parietallappens 
war eine submeningeale Blutung nackzuweisen, dir ihrem Aussehen nach 
ganz frisch und so wahrscheinlich eine Folge des so lang andauernden 
Erstickangstodes war. Am Gehirn und RQckenmark war nichts Patholo- 
gisches nachweisbar. Thymus war nicht persistent. Weder in den Lungen 


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nocli in ilen Drtlsen oder in andercn Organen war eine Tuberkulose nacb- 
weisbar. Die Muskulatur schien gut entwickelt, nicht atrophisch, etwas 
blasser, besonders an den Extremitaten; sonst zeigte sie makroskopisch 
keine Yeriindcrung. 

In den Gefiissen Qberall fliissiges Blut. 

Histologisch wurden das zentrale Nervensystem, periphere Nerven. 
und einige Muskeln untersucht. Vom ersteren untersuchte ich Teile 
aus den Zentralwindungen, Capsula interna, Briicke, Medulla oblon- 



Fig. 1. 

Liingsschnitt dureh don M. vastus med. Spindelforniig angeordnete Zellanhiiu- 
t'ung zwisolien den Muskelfasern, diesclbe auseinanderdn'ingend. (Schwaohe 

Vergrdsserung.) 


gata — letztere in iher ganzen Liinge — Riickenraark. Die ange- 
wandten Methodon waren Weigert-Pal, Marchi, Nissl und van 
liieson. Dor Bef'und war in alien Teilen ein negatives Positiv war 
nur eine an manchen Stelleu ziemlich deutliche Chromatolyse in den 
< ianglienzellen dor Medulla oblongata, die sich aber weder auf gewisse 
Kerngebiete lokalisierte, noch durcli besondere Ausdehnung auszeichnete, 
dauu mikroskopisehe Blutuugen, die sicdi ebon falls in der Medulla ob¬ 
longata vorfanden. Auf diosen let/.teren Befuud von kleinen Kapillar- 
blutungen mbclite ioh wegen des Erstiekungstodes keinen grbsseren 


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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 183 

Wert legen, wobei solche mikroskopisch kleine Blutungen bekanntlich 
ein haufiger Befund sind; ausserdem machten sie den Eindruck ganz 
frischer Blutungen, da die roten Blutkorperchen ganz gut erhalten 
schienen und die Zeichen einer alteren Blutung, wie Hamatoidinkry- 
stalle, Schollen'oder mit Pigment beladene Wanderzellen, nirgends nach- 
gewiesen werden konnten. Starkere Anhaufung von Lymphzellen oder 
eine Wucherung des Gliagewebes konnte ich nirgends finden. 

Ebenso negativ war auch der Befund an den zur Untersuchung 



Fig 2. 

Dasselbe. Starke Vergrosserung. Deutliches Erhaltensein der Querstreifung 

aer Muskulatur. 

gelangten Nerven: Nn. brachialis, tibialis ant., ischiadicus. Auch die 
Marchimethode zeigte keinen fettigen Zerfall der Markscheiden. 

Zu positivem Resultate fiihrte jedoch die Untersuchung einzelner 
Muskeln. Es wurden folgende Muskeln einer naheren histologischen 
Analyse unterzogen: Mm. biceps von beiden Seiten, masseter, serratus 
ant., pectoralis, latissimus dorsi, vastus med., sartorius und gastrocne¬ 
mius. Die Uutersuchung der Herzmuskulatur, des Diaphragma und 
der Augenmuskein unterblieb leider. Der Befund war in samtlichen 
Muskeln der gleiche, wechselte nur nach Intensitat und Anzahl der 
Veranderungen; eine Ausnahme bildete der M. latissimus dorsi, bei dem 


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ausser einer starkeren Kernwucherung nicbts nachgewiesen werden 
konnte. 

Die Muskelbiindel zeigen weder in ihrer Dicke noch in ihrer 
Anordnung eine auffallende Veranderung, wahrend die einzelnen Mus- 
kelfasem sich schon wesentlich verschieden verhalten. Obwohl die 
Querstreifung in den einzelnen Fasern (iberall gut erbalten ist, ja an 
manchen Fasern auffallend scharf und deutlich zu sehen ist, farben 
sich einzelne Muskelfasern, ja sogar nur einzelne Teile derselben ver- 



Fig. 3. 

Querschnitt durch den M. pectoralis. Zellanhaufung mit quergeschnittenen 
kapillaren Gefassen. Die perivaskularen Lymphraume sind ebenfalls dicht ge- 
fullt mit Zellen. Zwischen den Fasern zerstreute Zellen. (Starke Vergrosserung.) 

schieden intensiv, das besonders an Langsschnitten, aber oft auch an 
Querschnitten sebr deutlich nachweisbar ist. Die normal gefarbte 
Faser geht teils langsam, teils aber plotzlich in die dunkler gefarbte 
Partie fiber, die zuweilen — besonders an Langsschnitten — auch etwas 
verdickt erscheinen, ohne aber an der Querstreifung eine sichtbare 
Anderung zu erfahren. Unter den verhaltnismassig gleich dicken 
Muskelfasern finden wir in auffallend grosser Zahl ganz dfinne Fasern, 
die bloss V 2 bis \ der normalen Dicke messen. Die Querstreifung ist 
aber auch an noch so diinnen Fasern immer noch deutlich zu sehen. 


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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 185 


Die Kerne der Muskelfasern haben iiberall eine normale Lagerung, 
d. h. sie liegen immer an der Peripherie der Fasern dicht unter dem 
Sarkolemm; auffallend ist aber an manchen Stellen eine starke Ver- 
mehrung der Kerne; diese Vermehrung muss scbon deshalb als patho- 
logisch betrachtet werden, da bekanntlicb eine Kernvermehrung normal 
nur bei alteren Leuten vorkommt, in diesem Falle aber es sich um ein 
junges Individuum von 23 Jahren handelt. 

Die einzelnen Muskelbiindel werden durch kleinere und grossere 



Fig. 4. 

Querschnitt durch den M. gastrocnemius. Zellherd mit zwischen die Fasern 
hineinwuchernden Zellen. Einige Fettzellen an Stelle zugrunde gegangener 
Muskelfasern. (Sehwache Vergrosserung.) 

Fettablagerung von einander getrennt; ausserdem findet man aber in 
einzelnen Biindeln an ganz ungewohnter Stelle zwischen den Fasern 
einzelne Fettzellen, die ihrer Lage nach wahrscheinlicb zugrunde ge- 
gangene Muskelfasern ersetzen. 

Viel auffallender sind aber die Veranderungen des Bindegewebes. 
Sowohl an Quer- als aucb an Langsschnitten findet man im Verlaufe 
des Perimysium int. kleine runde Zellen von der Grosse der Lymph- 
zellen, die einen sehr schmalen Protoplasmasaum und einen chromatin- 
reichen Kern besitzen, welcher fast die ganze Zelle ausftillt. Sie liegen 


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XL CsiKY 


teilweise zerstreut in Reihen dem Perimysium int. entlang, teilweise 
aber bilden sie kleinere und grossere Zellanhaufungen, wobei die ein- 
zelnen Muskelfasern auseinandergedrangt werden, manchmal bei grosseren 
Anhaufungen auch eine Strecke weit degenerieren, zerreissen und 
Scbollen bilden. Eine solche Zellanhaufung nimmt dann haufig an 
Langsschnitten eine spindelformige Gestalt an. Von diesen Anhaufungen 
aus sieht man nun einzelne Zellen sich zwischen die Muskelfasern dem 
Bindegewebe entlang hineinwuchern. In der Mitte der meisten dieser 



Fig. 5 , 

Querschuitt durch den M. pectoralis. Versckiedene Farbbarkeit der einzelnen 

Muskelfasern und Fettzellen. 

Zellnester findet man am Querschnitt ein, manchmal auch mehrere 
kleine kapillare Gefasse, deren Lumen mit Blut stark gefullt ist and 
deren perivaskularen Lymphriiume mit den gleichen Zellen ebenfalls 
vollgestopft sind. Autfallend ist manchmal eine Verdickung der Ad¬ 
ventitia der Gefasse. Auch an Langsschnitten konnen diese kleinen Ge¬ 
fasse in den Zellanhaufungen nachgewiesen werden, jedoch viel seltener, 
da sie doch nicht immer in der Schnittebene liegen. Auch um grossere 
Gefasse herum findet man diese Zellen, die sie dann manchmal nur au 
einer Seite, manchmal aber auch ganz umgeben und bei denen die 
adventitiellen Lymphraume ebenfalls erweitert und vollgepfropft sind. 


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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. Ig7 

Neben diesen einkernigen Zellen konnte ich polynukleiire Leuko- 
cyten in keinem der durcbsuchten Praparate finden. Einzelne Zellen 
erreichen mancbmal doppelte oder dreifache Grosse der Lymphocyten. 
Sie haben einen breiteren Protoplasmasaum, haben eine unregelmassige 
Form oder sind spindelformig, so dass sie an epitheloide Zellen and 
an Fibroblasten erinnern. Trotz sorgfaltiger Untersuchung konnte ich 
nirgends Riesenzellen finden. 

Wie schon oben erwahnt, findet man um die grosseren Herde un¬ 
regelmassige, homogene, keine Kemfarbung zeigende Schollen, die 
wahrscheinlich von zerfallenen Muskelfasern herstammen. An den 
meisten Stellen verdecken aber diese Zellen diese Schollen ganz, so 
dass man nirgends grossere Herde von Coagulationsnekrose sehen kann. 

Von den Herden aus wuchem diese Zellen sehr weit zwischen die 
Muskelfasern hinein und bilden um die einzelnen Fasern herum ein 
uuregelmassiges, zusammenhangendes Netzwerkvon verschiedener Dicke. 
Neben dieser zelligen Infiltration, als deren Resultat sieht man an man- 
chen Stellen die zu Fibroblasten umgewandelten Zellen und ein ziem- 
lich dickes Bindegewebe, das an einzelnen Stellen in grosser Aus- 
dehnung manche Fasern in der Form eines sich intensiv farbenden 
Bindegewebsringes umgibt. Manche dieser Stellen zeigen ausser diesem 
stark vermehrten und gewucherten Bindegewebe gar keine zellige In¬ 
filtration mehr. Auch scheint es mir, dass an diesen Stellen die ein¬ 
zelnen Fasern schmaler sind wie an anderen von Bindegewebe freien 
Stellen; doch kann ich das nicht bestimmt behaupten, da die Dicke 
der einzelnen Fasern scbon in gesunden Muskeln sebr verschieden ish 

Es sei noch erwahnt, dass in einigen Muskeln, so im M. biceps, 
serratus die als Muskelspindeln beschriebenen Gebilde auffallend haufig 
zu sehen sind. Sie bestehen aus 6—8 dtinneren, sich intensiver far¬ 
benden, mit deutlichen Kernen versebenen Muskelfasern, die von einem 
festen bindegewebigen Ring umgeben sind. In den meisten sieht man 
noch neben Gefassen auch einzelne Nervenfasern. 

Diesem negativen Befund am Nervensystem gegeniiber steht nun 
seit der Veroffentlichung Weigerts der positive Befund an den Mus¬ 
keln. Erst seit dieser Weigertschen Veroffentlichung begannen die 
Autoren auch dem Muskelapparat mehr Aufmerksamkeit zu schenken, 
und so ist es erklarlich, dass solche Falle erst in der neuesten Zeit 
und zwar immer haufiger veroffentlicht werden. Ausserdem kommt es 
manchmal vor, dass man viele Schnitte, ja sogar manchmal ganze 
Muskelstnckchen umsonst durchsehen muss, bis man darin sicher patho- 
logisch zu deutende Veranderungen findet. 

In auffallend vielen Fallen fand man daneben eine teils persistente, 
teils den Ausgang einer geschwulst-meist Sarkom-bildenden Thymus. 


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188 


XI. CsIky 


Schonbeim Weigertschen Fall war eine Thymusgeschwulst vorhanden. 
Einen ahnlichen, mit Lymphosarkom verbundenen Fall publizierte dann 
im Jahre 1904 Hun 18 ), der aber in seiner Arbeit darauf hinwies, dass 
es sich wahrscheinlich um ein Lympbosarkom des Mediastinum han- 
delte. Falle, bei denen zwar persistente Thymus nachweisbar war, 
aber ohne Anzeichen einer Geschwulstbildung, veroffentlichten Link, 
Burr — letzterer mit Abszessbildung in der Thymus — Steinert 
und Buzzard in 2 Fallen. 

Goldflam 17 ) fand in einem dem Lebenden exzidierten Muskel- 
stlickchen zellige Infiltration der Muskulatur. Bei der nach 2 Jahren 
erfolgten Autopsie fand sicb ein Lymphosarkom der Lunge vor, so dass 
er den Muskelbefund als eine Metastase des Tumors auffasste, obwohl 
eine mikroskopische Untersuchung des letzteren unterblieb. 

Hier mochte ich auch einen von Oppenheim 15 ) im Jahre 1899 
veroffentlichten Fall erwahnen, den er selbst zu den zweifelhaften 
Fallen rechnet, Lei dem die Sektion ein Lymphosarkom der Thymus 
aufwies. Die Muskulatur wurde nicht untersucht. Einen bemerkens- 
werten Befund bildet aber ein „ubermassiger Zellreichtum in der den 
Aquaeductus Sylvii umgebenden grauen Substanz, die von grosstenteils 
einkernigen Zellen gebildet, in dichten Haufen liegenden Massen auf- 
treten, und zwar sowohl in mehr diffusen als auch in einer herdfor- 
fbrmigen Anordnung, kleine Haufen und Gruppen bildend. Im hin- 
teren Vierhugel sind solcbe Zellgruppen auch in der Raphe unterhalb 
des hinteren Langsbundels in der grauen Substanz vorhanden“. Auf 
diesen Befund mochte ich spater noch einmal zuriickkommen. Falle, 
bei denen nur eine persistente Thymus nachweisbar war, publizierten 
z. B. Hodelmoser‘ J9 ), Gruner 30 ), Duprez-Pagniez 31 ) u. a., so dass 
der Gedanke sehr nahestehend schien, zwischen Myasthenie und Thy- 
muspersistenz einen ursachlichen Zusammenhang zu vermuten. Ja man 
ging so weit, die Frage aufzuwerfen, ob das ganze Krankheitsbild 
nicht die Folge einer Intoxikation ware, die durch Stoffe verursacht 
wiirde, die von der persistenteu, bezw. pathologisch veranderten Thy¬ 
mus ausgeschieden werden. Obwohl diese Annahme auf keine experi- 
mentelle Weise erwiesen werden konute, so hatte sie, wenn man nur 
die obigen Befnnde in Betraeht zog, viel Plausibles. Wenn sie aber 
richtig ware, so miisste man wohl in jedem Falle eine persistente oder 
krankhaft verilnderte Thymus antreffen. Dies wurde aber in sehr viel 
Fallen nicht nachgewiesen. Denn ausser den oben angefuhrten Fallen 
gibt es noch eiuige in der neueren Literatur, bei denen wohl dieselbe 
zellige Infiltration der Muskeln zugegen war, wo aber weder eine per¬ 
sistente Thymus, noch irgend welche andere Organveranderungen — so- 
weit es niimlich auch mikroskopisch untersucht wurde — nachweisbar 


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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 189 

waren. Dies sind die Falle von Boldt, Osann, Buzzard (3 Falle), 
Knoblauch, Marburg, Frugoni, Mandelbaum und Celler, zu 
denen ich auch den von mir mitgeteilten recbnen mochte. 

Alle diese Falle, die nach ihrem klinischen Verlauf sicber zur 
Myasthenie zu recbnen sind, scheinen aber deutlich darauf hinzuweisen, 
dass eine Persistenz der Thymus Oder eiue pathologische Yeranderung 
derselben wohl nicht als ein bestandiger Befund bei dieser Krankheit 
anzutreffen ist, und dass alle Yersucbe, die Krankheit als eine durcb 
die persistente oder pathologisch veranderte Thymus verursacbte In- 
toxikation aufzufassen, wohl nicht gen&gend begrflndet werden konnen. 

Hier mochte ich eine andere in neuester Zeit von Chvostek 35 ) 
aufgestellte Hypothese erwahnen, die zwar auf rein theoretischer Grund- 
lage aufgebaut ist, welche aber besonders darum Beachtung verdient, 
da er die Krankheit zum ersten Mai mit anderen Krankheiten in eine 
Familie vereinigt und den weiteren Forschungen dadurch eine neue 
Riebtung gibt. Er reiht die Myasthenie in die Gruppe der Blutdrfisen- 
erkrankungen ein und will sie durch eine pathologische Funktion der 
Epithelkorper hervorgerufen wissen. In jeder Beziehung bildet die 
Tetanie das diametral entgegengesetzte Krankheitsbild der Myasthenie, 
und so meint er denn, dass, wahrend die Tetanie durch eine Hypo- 
funktion der Epithelkorper verursacht wird, bei der Myasthenie eine 
Hyper- oder Dysfunktion dieser Druse vorhanden sein muss. 

Auch Lundborg steht schon vor Chvostek auf dem Standpunkt, 
dass Tetanus, Myoklonie, Myotonie, Paralysis agitans und Myasthenie 
eine Gruppe von Erkrankungen bilden, denen je eine Funktionsstorung 
der EpithelkSrper zugrunde liegen konnte. Jedenfalls ist es eine auf- 
fallende und schon lange bekannte Tatsache, dass sich zur Myasthenie 
ofter Basedowsche Krankheit hinzugesellt oder wenig9tens einzelne 
Symptome derselben deutlich nachweisbar sind. Auch bei unserem 
Falle waren einige Symptome vorhanden, so eine massige Struma, Exoph- 
thalmus, Schlaflosigkeit und manchmal Herzklopfen mit erhohter 
Herzaktion. Ich mochte hier nur die Falle noch von Oppenheim, 
Jendrassik 36 ), Loser 37 ) u. a. erwahnen. Jedenfalls ware es nicht 
undenkbar, dass bei einer Erkrankung der Epithelkorper auch die 
Thyreoidea miterkrankt, besonders wenn man bedenkt, in wie topo- 
graphisch nahen Beziehungen die zwei Driisen gerade beim Menschen 
stehen. 

So interessant und verlockend auch die Hypothese Lundborgs- 
und Chvosteks ist, so entbehrt sie bis jetzt jeder anatomischen und 
experimentellen Grundlage, so dass erst weitere Untersuchungen zeigen 
mussen, in wie weit sie stichhaltig ist. — 

Aus der bis jetzt erschienenen und mir‘”zugiinglichen Literatur 


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190 


XI. CSIKY 


konnte ich somit, inklusive den hier veroffentlichten Fall, 18 Falle zu- 
sammenstellen, bei denen im Muskelapparat eine mehr oder weniger 
ausgepragte. aber wohl sicher vorhandene kleinzellige Infiltration der 
Muskulatur nachweisbar war. Hocbstens in den Fallen von Weigert', 
Gold flam and Hun kann der Muskelbefund als fraglich angesehen 
werden, da in alien 3 Fallen ein Tumor und zwar ein Sarkom der 
Thymus vorhanden war und so die Zellanhaufungen — wie es auch 
von den Autoren angenommen wurde — als Metastasen des Tumors 
angesehen werden konnen. Sehr wahrscheinlich scheint mir aber die 
Annahme, dass man es hier mit vom Tumor ganz unabhangigen Yer- 
anderungen zu tun, hatte und dass sie mit den in den anderen Fallen 
gefundenen Befunden als identisch angesehen werden konnen. 

Es scheint mir namlich unwahrscheinlich, dass ein Lymphosarkom, 
welches zur Metastasenbildung fuhrt, sich gerade nur auf das Muskel- 
system beschranken wtirde, wahrend alle anderen Organe frei blieben. 
Ausserdem konnten im Falle Gold flams diesel ben Zellen 2 Jahre vor 
dem Exitus nachgewiesen werden. Im Falle Weigerts dauerte die 
ganze Krankheit jahrelang, im Falle Goldflams sogar 9 Jahre! Wenn 
diese Zellen nun wirklich Metastasen des Tumors gewesen waren und 
wir diesen Befund mit der Myasthenic in ursachlichen Zusammenhang 
bringen, so mussten wir annehmen, dass schon im Anfang der Erkran- 
kung — also vor 2, resp. 9 Jahren — die ersten Metastasen im Muskel 
auftraten, und dass Qberhaupt schon damals ein Sarkom der Thymus 
oder Lunge vorhanden war. Bei dem bekannt rasch zum Exitus ftth- 
renden Yerlauf der Lymphosarkome ist diese Annahme hochst unwahr¬ 
scheinlich. 

Bei naherem Vergleich der mikroskopischen Befunde in den 
einzelnen Fallen findet man nun, dass sie fast in jeder Hinsicht ein- 
ander gkich sind: Anhaufung von kleinen einkernigen Zellen in 
kleineren und grosseren Gruppen, von wo sie dann einzeln und in 
Reihen zwischen die Muskelfasern hineindringen. Ihre fast regel mass ig 
um kleine Gefasse gruppierende Anordnung mit FGllung der perivas- 
kularen Lymphraume veranlasste auch viele Autoren zur Benennung 
„perivaskulare Infiltration". Nur sehr selten findet man einige endo- 
theloide Zellen, die meiner Meinung nach wohl den manchmal in die 
Schnittebene fallenden Gefiissendothelien entsprechen. 

Wohl die meisten Autoren weisen besonders darauf hin, dass 
ausser dieser Zellinfiltration die Muskulatur im iibrigen normal erscheint, 
ja sogar die Querstreifung noch viel deutlicher zu sehen ist als wie 
soust. Schon aus dem oben mitgeteilten mikroskopischen Befund ist 
es ersichtlich, dass dem nicht ganz so ist. Auffallend war an manchen 
Stellen ein gewiss nicht physiologischer Dickenunterschied einzelner 


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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 19] 

Fasern, Kemvermehrung des Sarkoplasma, bindegewebigeWucherungen 
und eine Zunahme des Fettgewebes und Auftreten desselben an Stelle 
zugrunde gegangener Muskelfasern. Wohl waren besonders diese 
letzteren Veranderungen sehr sparlich, konnten aber mit Sicherheit 
nachgewiesen werden. 

Bei der Durchsicht der in der Literatur beschriebenen Falle fanden 
sich in einigen Fallen Bemerkungen, die auf Veranderungen der Mus¬ 
kelfasern selbst hindeuten. So fanden Goldflam und Link neben den 
Lymphorrhagien „geschrumpfte“ atrophische Fasern. Liefmann 32 ) 
beschreibt bei seinem Fall eine Atrophie der rechten Zungenhalfte. 
Mikroskopisch zeigte sich eine bedeutende Vermehrungdesinterstitiellen 
Fett- und Bindegewebes und starke Kemvermehrung in den Muskel- 
fasem. Dejerine u. Thomas 33 ) fanden eine kornige Degeneration in 
einzelnen Muskelfasern der Zunge und des Larynx. Frugoni und 
Marburg fanden fettige Degeneration, ersterer auch Verschmalerung 
einzelner Fasern. Steinert beschrieb leichte Granulierung des Paren¬ 
chyma, die nach Formolhartung wieder verschwand. Tilney 34 ) fand 
Dickenzunahme einzelner Muskelfasern mit Vermehrungder Sarkolemm- 
kerae. Buzzard fand zwar in 4 Fallen die Fasern, ausser einer geringeren 
Farbbarkeit einzelner, normal; in einem Falle aber, der sich durch 
einen aussergewohnlich raschen Verlauf auszeichnete, war eine deut- 
liche Degeneration einzelner Fasern nachweisbar, die an manchen Stellen 
hyalinen, an anderen kornigen Charakter hatte. Auch sah er Vakuolen- 
bildung und Vermehrung der Sarkolemmkerne. Bei einem Falle von 
Sossedorf war mikroskopisch eine Vermehrung des Fettgewebes der 
Zunge nachweisbar mit Zeichen der Entzundung und Atrophie, Ver¬ 
schmalerung einzelner Fasern mit Andeutung von Langsstreifung, Kern- 
vermehrung und einzelne leere Sarkolemmaschlauche. 

Ausser diesen mikroskopisch nachgewiesenen, zwar geringfugigen 
Veranderungen finden wir besonders in der alteren Literatur auffallend 
haufig Falle, bei denen eine Atrophie einzelner Muskeln oder Muskel- 
gruppen nachweisbar war. Ich will nicht alle diese Falle einzeln vor- 
fuhren, mochte nur darauf hinweisen, dass dabei die verschiedensteu 
Muskeln.ohne jede Anordnung beteiligt waren, auffallend haufig aber 
die Zunge, bei der auch sehr oft fibrillare Zuckungen beobachtet wurden. 
Wohl sind unter diesen Fallen einige, die Oppenheim in seiner Mono¬ 
graphic unter den zweifelhaften Fallen angefiihrt hat; doch selbst in 
den von ihm zu den sicheren Fallen gerechnetcn waren Muskel- 
atrophien vorhanden. Trotzdem kommt er daselbst zur der Konklusion, 
dass „die Muskelatrophie nicht zu den Symptomen dieser Krankheit 
gehort\ 

Diese in letzter Zeit immer zahlreicheren Untersuchungen zeigen 

Deutsche Zeitschrift f. Nerveiihoilkiinde. 37.13d. 13 


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192 


XI. CsiKY 


nun, dass manchmal zwar ein sehr geringer Degenerationsprozess in 
einzelnen Muskeln doch nachweisbar ist, der in Verschmalerung der 
Fasern, in hyaliner, komiger Entartung, Fettablagerung usw. besteht. 
Wenn wir uns nun auf den Standpunkt stellen, dass es sicb bei dieser 
Krankheit um irgend eine Intoxikation, sei es von seiten einer patho- 
logisch veranderten Thymus oder Paratbyroidea oder einer anderen 
Ernahrungsstorung im Muskel handelt, so scheint es mir ganz selbst- 
verstandlich, dass gegen solche schadlicbe Einwirkung einzelne Muskeln 
und Muskelfasern nicht immer standhalten konnen, und dass die weniger 
widerstandsfahigen an dieser schadlichen Wirkung langsam zugrunde 
gehen. Da aber die Wirkung manchmal sehr chronisch ist und, wie 
es aus dem klinischen Yerlauf ersichtlich, sehr an Intensitat wechseln 
kann, so ist es klar, dass es nur seiten und auch dann erst im spateren 
Stadium und in den yerschiedensten Muskeln zur sicbtbaren Atrophie 
und za mikroskopisch nachweisbaren Faserveranderungen kommt. 
Eine leichte Zunabme des Bindegewebes, auffallend starker Unter- 
schied in derDicke einzelner Fasern, Ausfall und Degeneration einzelner 
Fasern, Kernwucherung zeigen darauf bin, dass der Muskel langsam 
geschadigt wird. 

Es ist wohl merkwurdig, dass solche Veranderungen bis jetzt nicht 
in alien Fallen nachgewiesen werden konnten. Dies konnte man meiner 
Ansicht nach besonders durch zwei Momente erklaren. Erstens sind 
die oben beschriebenen Muskelbefunde im allgemeinen ziemlich gering- 
fugig und konnen erst manchmal nur nach langerem Suchen gefunden 
werden, da man sie ausserdem nicht in jedem Muskelstfickchen finden 
kann. Zweitens glaube ich, dass die meisten dieser Veranderungen, 
besonders aber die zellige Infiltration — mit Ausnahme z. B. der Binde- 
gewebswucherung — in direktem Zusammenhang stehen mit dem 
Verlauf der Krankheit; in Zeiten der Besserung gehen die zelligen 
Anhaufungen zuriick, die geschadigten Muskelfasern regenerieren wieder, 
so dass bei der mikroskopischen Untersuchung nichts nachweisbar ist. 
Bei Verschlimmerung des Zustandes treten sie wieder auf und, wenn 
der Verlauf chronisch ist und die fortwahrende Schadigung der Muskel¬ 
fasern schliesslich zu deren Zerfall fiihrt, so tritt dann die .oben ge- 
schilderte bindegewebige Wucherung zwischen den Fasern auf. Ein 
diese Anschauung sttitzender Fall ist der von Buzzard, der sich durch 
seinen akuten Verlauf auszeichnete und bei dem eine auffallend deut- 
liche Veranderung an den Muskelfasern zu sehen war. 

Gerade fur die Wahrscheinlichkeit einer Ernahrungsstorung, resp. 
einer Erkrankung des lymphatischen Systems sprechen auch die mikro¬ 
skopischen Befunde von Buzzard, der ausser den Muskeln nicht nur 
im Zentralnervensystem, soudern auch in anderen Organen, wie in 


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Myasthenia gravis pseudoparalytica mit positivem Muskelbefund. 193 

den Nieren, Nebennieren, in der Leber, Tbyreoidea, dieselbe lymphocy- 
tare Infiltration nachweisen konnte. Ahnlichen Befund ergab auch der 
oben zitierte Fall von Marburg; — auch der Fall von Oppenheim 
— Zellige Infiltration in der grauen Substanz um den Aquaeductus 
Sylvii konnte als hierher gehoriger Befund betrachtet werden. 

Ich mbchte noch einzelne, vielleicht gerade in dieser Richtung 
bemerkenswerte Beobachtungen einiger Autoren erwahnen. So fand 
Sitsen eine Leukocytose des Blutes, zwar mit Uberwiegen der poly- 
nnklearen Zellen, sowie Zellanhaufungen in der Leber und der ver- 
grosserten Milz. Leider war mir die Arbeit nur im Referat zuganglich, 
so dass ich fiber nabere Angaben betreffs der fibrigen Befunde nicbt 
berichten kann. Auch in einem Falle von Raymond-Lejonne waren 
die Lymphocyten im Blute vermehrt. Ob nun dies durch ein chemo- 
taktisch wirkendes Gift verursacht wird, welches durch irgend eine 
pathologisch veranderte Druse sezerniert wird (Sitsen, Chvostek), 
oder dass an eine allgemeine Storung in der Lymphzirkulation zu 
denken ist, kann nacb unserem bisberigen Wissen nicbt entschieden 
werden. Jedenfalls scbeint es mir sehr wichtig, bei Autopsien und 
mikroskopischen Untersuchungen auch auf diese Gesicbtspunkte zu 
achten und ausser den Muskeln auch die anderen Organe, besonders 
aber das Lymphgefasssystem genauer zu untersuchen. 

Die zum Teil positiven Befunde in anderen Organen ausserbalb 
des Muskelsystems wfirden darauf hinweisen, dass es sich um eine 
Veranderung handelt, die den ganzen Organismus mebr oder weniger 
gleichmassig befallt. Die Muskelveranderung ware also keine Meta- 
stasenbildung einer pathologisch veranderten Thymus, ebensowenig, 
wie die Erkrankung dieser Drfise, die in einigen Fallen von Myasthenie 
gefunden wurde, nicht als Ursache dieser Krankheit aufzufassen ware. 

Alle diese aufgezahlten Befunde aber sind Tatsachen, die, wie 
wir sahen, zur Aufstellung mancher Hypotbesen ermuntern. Wenn 
wir uns aber fiber die wahre Ursache dieser merkwurdigen Krankheit 
fragen, so mfissen wir sagen, dass wir noch immer in vielen Hinsichten 
im Unklaren sind. Der einzige Fortschritt der letzten Jabre ist, dass 
wir eine zwar meiner Meinung nach auch nur sekundare Veranderung 
im Muskelsystem kennen gelernt haben, die uns aber von dem bisher 
verfolgten Wege in so weit ablenkt, dass wir die Ursache der Krankheit 
nicbt, wie bisher, im Zentralnervensystem suehen, sondern entweder 
im Muskel selbst oder in deD die Funktion der Muskeln im allgemeinen 
zu beeinflussen scheinenden Sekretionsprodukten verscbiedener Organe, 
besonders aber in einer Veranderung des Stotfwechsels. Ob da auch 
andere Faktoren, wie z. B. eine gewisse Minderwertigkeit des Organismus, 
eine Rolle spielen, dariiber kann niolits Sicheres gesagt werden. Jeden- 

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XI. C*iky, Myasthenia gravis pseudoparalytica usw. 


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falls sind die bei vielen Fallen nachgewiesenen Entwicklungsanorualien 
auffallend. Diese Gesichtspunkle sind es, die nach den neueren Uuter- 
suchungen bei der Aufklarung der Atiologie dieser Krankheit bei den 
weiteren Untersuchungen zu neuen Resultaten fiihren werden. 


Literatur. 

1) Wilks, Guys Hosp. Reports 1877. Vol. XXII. (Zitiert nach Oppenheim.) 
2 1 Erb, Arch. f. Psych. 1879. Rd. 9. 

3) Oppenheim, Vireh. Arch. 1887. Rd. 108. 

1) Goldflam, Neur. Zentralbl. 1891 u. Deutsche Zeitschr. f. Nervenhcil- 
kunde. Rd. 4. 

5) Jolly, fieri, klin. Wochenschr. 1895. 

0) Striimpell, Deutsche Zeitschr. I*. Nervenheilkde. 1890. Rd. s. 

7) Hoppe, fieri, klin. Wochenschr. 1892. 

8) Eisenlohr, Deutsche raed. Wochenschr. 1893. 

9) Senator, Neurol. Zentralbl. 1892. 

1<|) Shaw, Rrain 1890. 

11) Dreschfeld, Rrit. med. Journal 1893. 

12) Sossedorf, Geneve 189G (zitiert nach Oppenheim). 

13i Schiile, Miinch. med. Wochenschr. ls99. 

Ill Raymond, Leyons sur les maladies du syst. nerv. 1900. VI. 

15) Oppenheim, Die myasthenische Paralyse, fierlin 1901. 

10) Laqueur-Weigert, Neur. Ztrbl. 1901. 

17) Goldflam, Neur. Ztrbl. 1902. 

18) Hun, Albany med. Annal. 1904. Ref.) 

19) Steinert, Deutsche med. Wochenschr., Vereinsbeil. 1900. 

20) Link, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1903. Rd. 23. 

21) Roldt, Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 1900. Rd. 19. 

22) Burr, The Journ. of nerv. and ment. Diss. 1905. (Ref.) 

23) Buzzard, Rrain 1905. 

241 Knoblauch, Arch. f. Psych. 19<>7. 

25) Fruironi, Riv. critic, di 4*1 in. med. 1907. (Ref.) 

20) Marburg, Zeitschr. f. Heilkde. 1907. 

27) Osann, Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 19m). 

28) Mandlebaum u. (teller, The Journ. of exper. Medicine 19uS. 

29i 11 5dl looser, Zeitschr. f. Heilkde. 1902. 55. 

30) G rimer, Inaujr.-Diss. KOniirsbcn: (Kef). 

31 Duprez-Pairn i ez, Nouv. iconoirr. de la Salp. 1905. (Ref.) 

52 Licfmann, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Rd. 21. 

30’ L) ej e r i n c - T h o m a s, Revue iieiirol<)L r h|iie 19ol. 

31: Tilney, Neurnirraph* 1. 1007. Kef.t 

35) ('hvostek, Wiener klin. Wochenschr. 190>>. 

10; Jendrassik, Areh. f. Psych. 1 ^SO. IM. 17. 

3)7 i Loeser, Zeit'Hir. f. A litre n lie i I k de. 10(0. 12. 


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XII. 


A us der III. med. Abteilung des Neuen allgemeinen Krankenhauses 
Hamburg-Eppendorf (Oberarzt: Dr. Nonne). 

Weitere Erfahrungen fiber den Wert der neueren cytolo- 
logischen, chemischen und biologischen*) Untersuchungs- 
methoden fftr die Differentialdiagnose der syphilogenen Er- 
krankungen des Zentralnervensystems, gesammelt an 295 
neuen Fallen von organischen Erkranknngen des Hims 
nnd des Bfickenmarks. 

Von 

Dr. M. Nonne, und Dr. W. Holzmann, 

Oberarzt. Asaistenz&rzt. 

lm Oktober 1908 habe ich auf der Jahresversammlung der „Ge- 
sellschaft Deutscher Nervenarzte" in Heidelberg das Facit daruber 
gezogen, worm uns die Forschung der letzten Jahre in der klini- 
schen Diagnose der syphilogenen Erkrankungen des Zentralnerven¬ 
systems gefordert hat Wir wollen im Folgenden an der Hand yon 
seither untersuchten weiteren 295 Fallen organischer Erkrankungen — 
in der Mehrzahl syphilogener Erkrankungen — darzulegen versuchen, 
ob und wie sich die Anschauungen seither verschoben haben. 

In Hamburg findet sich ein grosses Material von syphilogenen 
Nervenerkrankungen zusammen. Wir konnten in den letzten 6 Monaten 
49 Falle von Tabes dorsalis auf die 4 Reaktionen, d. h. auf Pleo- 
cytose, auf Globulinvermehrung (Phasel), auf die Komplement- 
ablenkung nach Wassermann im Blut und im Liquor spinalis 
untereuchen. Wie haufig die Falle von Tabes dorsalis imperfecta sind, 
gebt daraus hervor, dass unter diesen 49 Fallen es sich 21mal handelte 
um imperfekte oder rudimentare Tabes. Es sind das Falle, bei denen 
bei positiver Syphilisanamnese entweder nur Pupillenanomalien mit 
Fehlen der Achillessehnenreflexe, oder Pupillenanomalien und lanzi- 


*) Die biologischen Untcrsuchungeu wurden von Holzmann im Institut 
fur experimentelle Therapie (Oberarzt: Dr. Much) des Allgemeinen Kranken¬ 
hauses Hamburg-Eppendorf ansgefuhrt. 


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XII. Noxxe u. Holzmann 


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nierende Schmerzen, oder solche mit gastrischen Krisen kombiniert 
waren; ferner waren es Kombinationen von gastrischen Krisen und 
Fehlen der Achillessehnenreflexe, oder von lanzinierenden Schmerzen 
mit Gurtelzonenanasthesien, oder Gnrtelschmerzen mit Fehlen der Sehnen- 
reflexe, oder Kombinationen von Opticusatrophie mit Krisenschmerzen, 
oder mit Fehlen der Achillessehnenreflexe allein, oder was dergleichen 
Kombinationen einzelner Tabessymptome mehr sind. In keinem der 
Falle war Ataxie vorhanden, in keinem Rombergsches Symptom und 
in keinem ausgesprochene Sensibilitatsstorungen in nennenswerter Aus- 
breitung an den Extremitaten. In alien diesen Fallen bestanden diese 
wenigen Symptome schon lange, und in alien Fallen fehlte eine Ten- 
denz zur Progression. Es hat sich ergeben, dass unter diesen 49 Fallen 
von Tabes dorsalis eine deutliche Lymphocytose nur 7 mal fehlte. Da- 
von waren 4 Falle solche von Tabes imperfecta, 2 Falle solche von aus- 
gesprochener Tabes, und 1 mal handelte es sich um einen imperfekten 
Fall auf hereditar-syphilitischer Basis: Der Vater war an Dementia 
paralytica auf syphilitischer Basis gestorben, und der Kranke selbst 
zeigte die hereditar-luetische Form der Keratitis interstitialis. 

Dieses Tabesmaterial zeigt, in Ubereinstimmung mit meinen (N.) 
fruheren eigenen 101 Fallen und mit den bei einer fruheren Gelegenheit 
von mir zusammengestellten Fallen aus der Literatur, dass die Pleo- 
cytose eines der regelmassigsten Symptome der Tabes ist. Es bleibt 
ferner bei der Feststellung, dass die Pleocytose bei den imperfekten 
Fallen von Tabes ebenso regelmassig vorkommt wie bei den Vollfallen 
von Tabes, sowie ferner, dass sie hier und da fehlen kann, bei Voll¬ 
fallen sowohl wie bei imperfekten Fallen. 

Die Phase I-Reaktion verhielt sich in diesem Material der letzten 
6 Monate ganz ebenso. Auch sie fehlte nur 7 mal, und zwar in alien 
jenen 7 Fallen, in denen die Pleocytose fehlte, also auch bei 2 Voll¬ 
fallen, bei 4 imperfekten Fallen und bei dem hereditaren Fall. Es 
hat sich somit auch jetzt bestatigt in t)bereinstimmung mit den Er- 
fahrungen bei meinem (N.) bis Oktober 1908 untersuchten Material, 
dass die Phase I-Reaktion der Pleocytosereaktion gleichwertig ist. 

Bei der Dementia paralytica haben wir in den letzten 6 Mo- 
naten auf Pleocytose und Phase I 20 mal untersucht, nur in einem 
einzigen Falle haben wir beide Reaktionen nicht gefunden; es war 
dies ein Fall von juveniler hereditiirer Paralyse mit hereditar-luetisch 
doppelseitiger Chorioiditis disseminata. Auch Plaut sowie Sachs 
und Noguchi in New York erhoben diesen negativen Befund in je 
1 Fall von Paralyse. Mit anderen "Worten: Bei der Paralyse sind 
beide Reaktionen fast ausnahmslos vorhanden; auch bei dieser Er- 
krankung sind beide Reaktionen gleichwertig, auch hier finden sich 


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Weitere Erfahrgn. fiber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 197 

beide Reaktionen gleichmassig bei den Vollfallen und den imperfekten 
resp. rudimentaren. Unsere neueren Erfahrungen decken sich mit 
meinen (N.) frfiheren durchaus. 

Etwas anders ist das Zahlenverhaltnis bei den vielen zweifel- 
haften Fallen von Tabes und Paralyse, die dem Praktiker so 
haufig zu Gesicht kommen. Es sind dies einerseits Falle, bei denen 
sich leichtere und nicht charakteristische Storungen der Intelligenz 
mit Pupillenanomalien Oder Reflexanomalien verbinden, Falle von leicht 
apoplektiformen Attacken mit Pupillenanomalien, Falle von Ophthalmo¬ 
plegia interior bei positiver Syphilisanamnese, andererseits Falle mit 
den subjektiven Symptomen „spinaler Neurasthenie" und einem oder 
2 anderen nicht voll ausgebildeten organischen spinalen Symptomen: 
nicht vollwertige Pupillenreaktion, Herabsetzung der Sehnenreflexe, 
Erschwerung der Miktion usw. Von diesen Fallen sahen wir seit 
Oktober 1908 16 Falle, und 5 mal fehlte hier die Pleocytose, wahrend 
die Phase 1 3 mal fehlte und 1 mal zweifelhaft war. 

Ich (N.) kann nur wiederholen, was ich schon frilher sagte, dass 
gerade diese Falle weiter beobachtet werden mttssen, weil sie die Probe 
aufs Exempel geben sollen fur den Wert der beiden Methoden. Ich habe 
bis jetzt ca. 70 derartige zweifelhafte Falle bereits unter weitere Be- 
obachtung gestellt und werde nicht verfehlen, entweder selbst oder 
dnrch meine Schiiler daruber seinerzeit Rechenschaft zu geben. 

Es folgt dann die Lues cerebralis, spinalis und cerebro- 
spinalis, deren reine Formen offenbar selten sind, seltener, als man 
bei dem Vielen, was in der Literatur iiber sie niedergelegt ist, glauben 
sollte. Wir haben seit Oktober 1908 nur 22 Falle untersucben konnen; 
unter diesen 22 Fallen feblten beide Reaktionen, Pleocytose und Phase I, 
nur 4 mal, und zwar wieder in denselben Fallen; einer dieser 4 Falle 
stellte eine restlose klinische Heilung eines seinerzeit ausserst scbweren 
Falles von Meningitis gummosa convexitatis et basalis dar; auch diese 
Erfahrungen bestatigen meine (N.) frfiheren Feststellungen und die- 
jenigen aus der Literatur. 

Wie steht es nun nach unseren neuesten Erfahrungen um das 
Vorkommen der Pleocytose und der Phase I bei denjenigen Krank- 
heiten, die praktisch die grossten differentialdiagnostischen Schwierig- 
keiten bieten gegenuber der Diagnose „syphilogene Erkrankung des 
Zentralnervensystems“? Ich meine die multiple Sklerose, die Epi¬ 
lepsia idiopathica, die Neurasthenie bei luetisch Gewesenen, 
die Pseudotabes alcoholica, den Tumor cerebri. 

Bei der multiplen Sklerose hat sich an 12 weiteren Fallen 
wiederum ergeben, dass die Pleocytose, wenngleich selten, vorkommt. 
Frnher hatte ich (N.) sie in 23 Proz. der Falle gefunden und aus der 


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198 


XII. Nonxe u. Holzmaxn 


Literatur 24 Proz. zusammengestellt. Jetzt fanden wir 1 mal starke 
und 2 mal schwache Pleocytose; das macht 25 Proz. Die Phase 1 fand 
ich frttber in 45 Proz.; jetzt fanden wir sie unter 12 Fallen 2 mal, 
also in 17 Proz. Bei der multiplen Sklerose ging das Yorkommen der 
2 Reaktionen bei 2 Fallen Hand in Hand, wahrend in dem 3. Falle 
nur Pleocytose ohne Phase I sich zeigte. Es bestatigt sich, dass die 

2 Reaktionen fur die Differentialdiagnose zwischen multipier Skle¬ 
rose und Syphilis cerebrospinalis nicht den Aussohlag geben 
konnen, denn wenngleich in hberwiegender Haufigkeit die Pleocytose 
bei der Syphilis cerebrospinalis stark und bei der multiplen Sklerose 
schwach ist, so sieht man doch nicht allzu selten auch das Umgekehrte. 

Epilepsia idiopathica haben wir seit Oktober 1908 33mal auf 
beide Reaktionen untersucht. Pleocytose fanden wir nur 1 mal, Phase I 

3 mal, ganz schwach. Ich (N.) kann damach die Behauptung, dass 
Phase I bei idiopathischer Epilepsie nicht vorkommt, faicht mehr 
aufrecht erhalten. Meine frtiheren 20 Falle, die alle negative Globulin- 
reaktion zeigten, konnen also nicht mehr als beweisend angesehen 
werden. Immerhin bleibt zu Recht bestehen, dass beide Reaktionen 
bei der idiopathischen Epilepsie eine seltene Ausnahme von der 
Regel ihres Fehlens bilden. 

Cerebrale Neurasthenie ohne Syphilis in der Anamnese haben 
wir 3 mal und solche mit Syphilis in der Anamnese auch 3 mal unter¬ 
sucht: Ntlr in einem Falle mit positiver Syphilisanamnese fanden 
wir beide Reaktionen positiv, und dieser Fall war auf beginnende 
Hirnsypbilis nicht unverdachtig. Es bestatigt sich somit, dass beide 
Reaktionen sehr wertvoll sind fftr die Differentialdiagnose zwischen 
Neurasthenia cerebralis et spinalis einerseits, Dementia paralytica und 
Tabes dorsalis andererseits. 

Eine voile Bestatigung meiner (N.) friiheren Feststellung erfahrt 
auch unsere neuere Erfahrung an 10 weiteren Fallen von Pseudo- 
tabes alcoholics, also Fallen von Alkoholismus mit Pupillen- und 
Sehnenreflexanomalien, Ataxie, neuralgiformen Schmerzen usw. Zwei 
von diesen Fallen batten Lues in der Anamnese. In alien 10 Fallen 
fehlte sowohl Pleocytose als auch Phase I: ein schneidender Gegen- 
satz zu dem sonst fast ausnahmslosen positiven Befund bei Tabes und 
Paralyse! 

Endlich die differentialdiagnostisch so wichtigen Falle von Tumor 
cerebri! Da haben wir in den letzten 6 Monaten nicht weniger als 
17 Falle untersucht. Davon sind 11 zur Sektion gekommen, waren also 
diagnostisch einwaudfrei. 3 mal war unter diesen 11 Fallen die Pleocytose 
und 4 mal die Phase 1 positiv. In 3 Fallen waren beide Reaktionen 
zusammen positiv, in 1 Fall nur die Phase I positiv. In den 6 nicht 


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Weitere Erfahrgn. fiber die Diflerentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 199 

zur Sektion gekommenen Fallen fehlte die Lymphocytose stets, wahrend 
die Phase I 2mal positiv war. Also hier im wesentlichen eine Be- 
statigung meiner (N.) friiheren Befunde, dass Pleocytose und Phase I 
bei Tumor cerebri in der kleinen Minderzahl der Falle vorkommen. 

Interessant sind ja die Falle von isolierter Pupillenstarre ohne 
sonstige subjektive und objektive, den Verdacht auf Tabes oder Paralyse 
erweckende Symptome, die bekanntlich keineswegs immer der Aus- 
druck von Syphilis sind. Wie frBher fanden wir auch bei 4 neuen 
Beobachtungen, dass bei den Fallen ohne nachweisliche Syphilis 
(3 Falle) die 2 Reaktionen fehlten und in dem mit nachgewiesener 
Lues (1 Fall) vorhanden waren. 

Auf alle anderen Gehirn- und Rnckenmarkskrankheiten, soweit sie 
differential-diagnostisch gegen die syphilitischen und metasyphilitischen 
Nervenkrankheiten nicht in Frage kommen, soli nicht eingegangen 
werden. Es ist oft bestatigt worden und kann als definitiv ausgemacht 
gelten, dass Pleocytose und Phase I nicht oder ausserst selten, 
und wenn vorkommend, in geringem Grade dabei vorkommen. Aus- 
zunehmen ist nach 2 eigenenErfahrungen der idiopathische] Hydro¬ 
cephalus; und noch auf eine Krankheit ist hinzuweisen, fttr deren 
Diagnose die Phase I-Reaktion Wichtigkeit haben wiirde, wenn sicb 
meine (N.) an 3 Fallen gewonnene Erfahrung bei weiteren Beobach¬ 
tungen bestatigen sollte: Komprimierende extram edullare Tumoren 
geben starke Phase I-Reaktion bei Fehlen der Lymphocytose. 

Es diirfte heute feststehen, dass die Komplementablenkungs- 
reaktion nach Wassermann, Neisser und Bruck fur Syphilis nicht 
spezifisch ist in dem Sinne, in dem die ersten klassischen Untersucher 
sie angesehen haben*), da einerseits das syphilitische Antigen durch 
Extrakte nichtsyphilitischer Organe und durch gewisse chemische 
Korper ersetzt werden kann, und da andererseits die Hemmung der 
Hamolyse durch Bindung des Komplements auch bei anderen Er- 
krankungen vorkommt, die nicht syphilogen sind. Fur Framboesia, 
Lepra, Malaria ist dies jetzt allgemein zugegeben; fur Scharlach steht 
die Tatsache, die zuerst von Much und Eichelberg in Hamburg be- 
kannt gegeben wurde, gleichfalls fest. Nur die Erklarung dieser Tat¬ 
sache ist bei den Autoren eine verschiedenartige (Bruck und Cohn, 
Klopstock und Seligmann u. a.). In einem Falle meiner Abteilung 
wurde sogar die Tatsache eines abgelaufenen Scharlachs durch die 
Wassermann-Reaktion des Blutes erst entdeckt und retrospektiv 
bestatigt. Ich will speziell hervorheben, dass in diesem Falle samt- 


*) Anmerkung bei der Korrektur: Das betonten auch in ihren so- 
eben erschienenen Arbeiten Zaloziecki und Eichelberg. 


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XII. Nonne u. Holzmann 


licheKontrollen bei der Anstellung derReaktion auf das genaueste aus- 
gefuhrt wurden. Der Fall ist von Holzmann (Munch, mediz. Wochen- 
schrift 1909, Nr. 14) veroffentlicht worden. 

Auch in den Qbrigen, seit den Heidelberger Mitteilungen Muchs 
und Eichelbergs als positiv publizierten Scharlachfallen waren die- 
selben Vorsichtsraassregeln getxoffen, so dass auf diese die Einwande, 
die Plaut in seinem neuerdings erschienenen vortrefflichen, erschopfen- 
den Buche iiber die Bedeutung der Wassermann-Reaktion in der 
Psychiatric macht, nicht zutreffen. Seitdem Halberstadter, Muller 
und Reiche, Handel und Schultz nnd endlich Bruck selbst, der 
Mitarbeiter Neissers und Wassermanns, sowie der das Neissersche 
grosse Material bearbeiteode Purckhauer die Tatsache zugegeben 
haben, d&rfte die Kontroverse liber das Vorkommen der Wassermann- 
Reaktion bei Scharlach geschlossen sein, trotzdem Wassermann und 
G. Meier sowie auch Galewski, Schild und C. Fr&nkel-Halle erst 
vor kurzem wieder gesagt haben, ausser bei Lepra kame die Reaktion 
nur bei Syphilis vor, und trotzdem Wassermann selbst noch die 
Spezifitat der Reaktion aufrecht halt. Bei Kontrolluntersuchungen, 
die in Hamburg und in Breslau, d. b. in dem serologischen Labora- 
torium des Eppendorfer Krankenhauses und im Laboratorium der 
dermatologischen Klinik in Breslau, vorgenommen wurden, fand sich, 
dass von 8 Scharlachseren 3 sowohl in Hamburg wie in Breslau 
positiv reagierten. Die Zuverlassigkeit der Hamburger Untersuchungen 
gingauch daraus hervor, dass alle Sera sowohl in Hamburg wie in 
Breslau gleichmassig reagierten. Damit diirfte die Bemerkung, 
die Wassermann in Heidelberg im Anschluss an Eichelbergs und 
Muchs Mitteilung iiber die positiven Befunde bei Scharlach machte, 
namlich, dass die Befunde sich nur durch eine „Fehlerhaftigkeit der 
Methode" erklaren konnten, ftir den objektiven Kritiker widerlegt sein. 
Der langjahrige Mitarbeiter Wassermanns, Kolle selbst, hat vor 
kurzem auf Grund theoretischer Erwagungen, den Ausspruch getan: 
„Die Komplementablenkungsreaktion ist nicht spezifisch fur 
Lues, wohl aber ist sie charakteristisch fur Lues"; dasselbe hat, 
aus der Praxis schbpfend, Hecht in Prag ausgesprochen, und diesem 
kbnnen wir uns, wie unsere nachfolgenden Ausfuhrungen ergeben 
werden, nur anschliessen. Wie Lapowsky in New York sagen auch 
wir: Die Reaktion ist nicht spezifisch im bakteriologischen Sinne, wohl 
aber kliniseh charakteristisch fur Syphilis. 

Es muss aber eine grosze Reihevon Iiegeln beobachtet werden, 
wenn man nicht zu fehlerhaften Resultaten kommen will. Diese Regeln, 
die Wassermann von vorn herein alle als nbtig erklart hatte, haben 
die spiiteren Untersucher als unbedingt erforderlich auf Grund eigener 


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Weitere Erfahrgn. uber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 201 

Erfabrungen auch anerkannt. Es ist deshalb eine Kontrolle der eigenen 
frtiherer Untersuchungsresultate an der Hand der noch mehr gesicherten 
Methodik und gesteigerten Erfahrung fur jeden, der sich mit diesem 
schwierigen Kapitel befasst, eine zwingende Notwendigkeit. Alle Kon- 
trollen sind notig, und nur der Unerfahrene kann nicht alle Kon- 
trollen flir jede Untersuchung fiir notig halten. 

1. Das ausgewertete Extrakt und das hamolytische System muss 
mit mehreren sicher syphilitischen und sicher nichtsyphilitischen Seren 
ausprobiert werden. 

2. Zum hamolytischen System muss als Kontrolle die doppelte 
Serummenge zugesetzt werden, d. b. zur Anstellung der Reaktion muss 
0,2 ccm, zur Anstellung der Kontrolle 0,4 ccm des zu untersuchenden 
Serums gegeben werden, um sicher zu sein, dass das Serum nicht 
scbon selbst bemmt. 

3. Es diente uns als Extrakt das alkoholiscbe Extrakt aus der 
Leber eines syphilitischen Fotus sowie auch wasserige und alkoholiscbe 
Extrakte aus luetischen und normalen Herzen und Lebern. Wir ver- 
dfinnten es schnell, nicht fraktioniert, wie Sachs in Frankfurt es tut. 
Wahrend Wassermann wasserige Luesextrakte als Antigen benutzt 
hatte, hielt man, nachdem man entdeckt hatte, dass lipoide Korper 
das spezifische Antigen ersetzen konnen, das alkoholische Extrakt fttr 
geeigneter. Plant bat wieder mit was3erigem Extrakt gearbeitet, wahrend 
Neisser jetzt wieder alkoholisches Extrakt benutzt. Ledermann hat 
mit alkoholischen Extrakten dieselben Resultate wie mit wasserigen be- 
kommen. Wir haben im allgemeinen mit wasserigem und alkoholischem 
Extrakt von normalen Herzen und luetischen Lebern, in der letzten 
Zeit hauptsachlich mit alkoholischem Extrakt untersucht und nur 
zur Kontrolle des Liquor spinalis bei Tabes dorsalis auch wasseriges 
Extrakt genommen. 

4. Es muss das zu untersuchende Blut morgens entnommen werden, 
da die Erfahrung ergeben hat, dass nach einer reichlichen Mahlzeit 
das Blutserum milchig getrubt sein kann, wodurch das Ablesen des 
Resultats erschwert wird, nach anderen sogar sich bisweilen ein falsch- 
lich positives Resultat ergibt. 

5. Praktischist die Reaktion mit aktivem Serum nicht brauchbar, 
weil es hier zu hauiig eine positive Reaktion gibt. Deshalb muss das 
zu untersuchende Serum vor dem Gebrauch inaktiviert, d. h. eine 
halbe Stunde bei 58 0 R. gehalten werden. Es hat sich ergeben, dass 
der Liquor spinalis nicht inaktiviert zu werden braucht. 

6. Nicht inaktiviertes Serum und Liquor hielten sich brauchbar 
nach mehrfachen Kontrolluntersuchungen, die wir angestellt haben, 
fur ca. 4—5 Tage, sowohl in Zimmertemperatur wie auf Eis (auf Eis 


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XII. Nonne u. Holzmann 


bis zu 10 Tagen), wenn sie nicht zu stark geschfittelt warden. Auch die 
probeweise Hin- und Hersendung auf Bahnfahrten von 10 Standen und 
langerer Dauer batten die Brauchbarkeit der zu untersuchenden Flussig- 
keit oft nicht geschadigt, wabrend die Flassigkeiten nach starkerem 
Schutteln stets positive Reaktion gaben. Nach langerem Stehen 
als fttr 4—5 Tage werden die Resultate unzuverlassig, da, wie nach 
starkem Schtitteln, Serum und Liquor dann selbst hemmen oder sogar 
falschlich positive Reaktion geben konnen. Inaktivierte Flassigkeiten, 
auf Eis aufbewahrt, halten sich, nach Plaut, fast unbegrenzte Zeit. 
Amboceptor (Serum von mit Hammelblutkorpem vorbehandelten Ka- 
ninchen) und Extrakt halten sich auf Eis langere Zeit, und zwar der 
Amboceptor noch longer als das Extrakt (alkoholisches langer als 
wasseriges); doch muss auch dieses vor jedem Gebrauch immer wieder 
auf seine Wertigkeit kontrolliert werden. 

7. Die Hammelblutkorperchen mflssen frisch sein und gut aus- 
gewaschen werden, d. h. mehrere Male mit Kochsalzlbsung zentrifugiert 
werden. 

S. Es muss kontrolliert werden, ob Extrakt -)- hamolytisches System 
selbst hemmt, und zwar muss man zu dieser Kontrolle nicht nurdie einfache, 
sondem auch die doppelte Menge wie zur Reaktion selbst gebrauchen. 

Wir glauben, an der Hand der vielfachen XJntersuchungen, die bis 
zum Herbst 1908 sowie seither u. a. wieder von F. Lesser, Leder- 
mann, Kafka, Plaut, Hecht, Behring, Bruck, Kohn, Bauer 
und G. Meier, L. Meier, Galewsky, Rostoski, Schild, Blaschko 
und Kolle, Eichelberg, Zaloziecki, Sachs u. Castelli vorge- 
nommen worden sind, sowie auf Grund unserer eigenen neuen Unter- 
suchungen behaupten zu konnen, dass die Reaktion jetzt reif fur die 
Praxis ist, wenngleich dies auch heute noch von Seligmann, Hal- 
berstadter, Fischer-Dresden bestritten wird. 

Die Methode ist aber einstweilen noch so kompliziert in ihrer 
Ausflihrung und, wie schon die Aufzahlung der unbedingt notigen 
Vorsichtsmassregeln ergibt, so von Fehlerquellen umgeben, dass sie 
nur im Laboratorium und nur von exakt geschulten Untersuchem 
ausgefiihrt werden kann. 

Bei den seit Oktbr. 08 vorgenommenen weiteren Untersuchungen mit 
der Komplementablenkungsmethode ergaben sich einige neue interessante 
Momente. Zunachst bei der Tabes dorsalis: Ich (N.) hatte frfiher 
gefunden, dass im Blut die Komplementablenkungsreaktion in 90 Proz. 
der Fiille, im Liquor spinalis in ca. 50 Proz. der Falle vorkommt. Ich 
befand mich damit in Ubereinstimmung mit den fruheren Untersuchem. 
Wir miissen das heute in dem ersten Punkte etwas korrigieren: 
Wir fanden unter 26 Vollfallen von Tabes 4 mal die Wassermann- 


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Weitere Erfahrgn. fiber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 203 

Reaktion, also in 16 Proz., fehlend und bei 23 Fallen von Tabes imperfecta 
die Reaktion lOmal, also in 43 Proz. fehlend. Es ergibt sicb aus diesem 
Material, dass der Prozentsatz der positiven Wassermann-Reaktion 
nicht immer so gross ist, wie es nach anderen Statistiken erscheint, 
und es ergibt sich ferner, dass bei den Fallen von Tabes imperfecta 
die Wassermann-Reaktion ofter feblt als bei den Vollfallen. Immerhin 
fehlte gerade auch bei 2 ganz alten Vollfallen die Wassermann- 
Reaktion im Blutserum. Wichtig ist es, hervorzuheben, dass die Re¬ 
aktion im Blut fehlen kann sowobl bei Fallen mit positiver als mit nega- 
tiver Syphilisanamnese, wie auch das Umgekehrte sich bei unseren neuen 
Untersuchungen wiederum ergeben hat. Auf eine vorhergegangene ener- 
gische spezifische Behandlung konnte das Fehlen der Komplement- 
ahlenkungsreaktion nur in wenigen Fallen bezogen werden. Sehr be- 
merkenswert war ein Fall von „Erkaltungs“-Tabes ohne Syphilis in 
der Vorgeschichte, der sich nach einem Fall in kaltes Wasser ent- 
wickelt hatte. Auch hier fand sich die Wassermann-Reaktion im 
Blut neben Pleocytose und Phase I, bei Fehlen der Liquorreaktion. 

Jedenfalls sind nach unseren Erfahrungen die Pleocytose und 
die Phase I bei Tabes dorsalis haufiger vorhanden als die 
Blutreaktion nach Wassermann, und die tjbereinstimmung dieser 
Reaktionen ist nicht in dem Grade vorhanden, wie im Oktober 1908 
angenommen werden musste. 

Aber etwas Anderes hat sich herausgestellt: Unter den 
49 neuerlich untersuchten Fallen fanden wir nur zweimal die 
Wassermann-Reaktion im Liquor spinalis positiv. Der eine 
dieser Falle, ein Fall von imperfekter, seit 10 Jahren stationarer Tabes, 
war mit schwerstem Morphinismus kompliziert. Das ist ausserst auf- 
fallend. In meinen (N.) friiher untersuchten Fallen hatte ich, wie 
schon gesagt, in ca. 50 Proz. der Falle eine Ablenkung in der 
Spinalflussigkeit gefunden.*) 

*) Die damals von mir als positiv registrierten Falle bin ich uocli eiumal 
dnrcbgegangen; eB bandelt sich um 9 Falle, bei ganz strenger und „wenig wohl- 
wollender" Kritik bleibt nur 1 Fall, in dem man sagen kann, dass jeder Anhalt 
fur die Anamnese einer beginnenden Paralyse feblt; ein wirklieher klassischer 
Vollfall von Tabes findet sich fiberhaupt nicht unter diesen 9 Fallen; 4raal war 
eine reflektorische Pupillenstarre nur einseitig, in 4 Fallen waren die Sehnen- 
reflexe an den unteren Extremitaten vorhanden, in 3 Fallen sugar lebhaft; in 
1 Fall lag eine Kombination tabischer Svinptome mit einer Poliomyelitis ant. 
chronica vor; in 2 Fallen handelte es sich um Fehlen der Sehnenrellexe der 
unteren Extremitaten bei syphilitiseher Anamnese. In der Litcrutur tiudet man 
sehr wenig darfiber. Fast in alien Publikationen ist entweder nur von der 
Reaktion im Blutserum die Rede, oder es bleibt uuklar, ob Blutserum oder 
Liquor gemeint ist. Es ist dringend zu fordern, dass in den weiteren Publi- 


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XII. Nonxe u. Hor.zMAXX 


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Andererseits ist von alien anderen Autoren, soweit sie nberhaupt 
darauf eingehen, betont worden, dass der Liquor viel seltener die 
Wassermann-Reaktion gibt als das Blutserum. Unsere jetzigen 
Resultute mflssen wir als dnrchaus einwandfrei bezeichnen, denn 
unsere Erfahrung hat seither sich wesentlich vergrossert und alle vor- 
scbriftsmassigen Kontrollen (s. o.) wurden bei der Anstellung der 
Reaktion angewendet. Auch geben wir zu bedenken, dass die Resultate 
bei den fibrigen organischen Nervenkrankheiten, wie wir noch sehen 
werden, durchaus flbereinstimmen mit denen anderer Autoren. Wir 
mochten hiermit ganz energisch zu Nacbuntersuchungen auffordern. 
Wir sind fest uberzeugt, dass der, welcher mit einwandfreier Methode 
untersucht, zu demselben Resultat kommen wird. Dass die Ab- 
lenkungsreaktion im Liquor bei Tabes erheblich seltener ist als im 
Blutserum, war ja von Anfang an bekannt (von jenen oben zitierten 
Autoren abgesehen); dass ihr .Vorkommen im Liquor aber eine so 
seltene Ausnahme ist, dass ihr Fehlen oderihr, wie unten weiter 
ausgeffihrt werden wird, schwacheres Auftreten geradezu 
als charakteristisch fur Tabes dorsalis angesehen werden kann, 
dQrfte neu sein und hat erhebliche praktische Konsequenzen. 

Unsere Kontrolluntersuchungen haben ergeben, dass die Benutzung 
von wasserigem oder alkoholischem Extrakt von Lebem luischer Foten 
keine wesentliche Differenz gibt, dass auch eine grossere Menge als 
0,2 ccm Liquor keine Hemmung der Hamolyse verursacht. 

Ganzanders liegt die Sache bei der Dementia paralytica. Friiher 
hatte ich (N.) in 90 Proz. der Falle die Komplementablenkungsreaktion 
im Blut und im Liquor spinalis gefunden. In 23 neuen Fallen haben 
wir in den letzten 5Monaten das Blut ohne eine einzige Ausnahme 
positiv reagierend gefunden, und im Liquor spinalis fanden wir die 
Reaktion nur ein einziges Malnegativ. Diese Resultate stimmen 
aufs beste liberein mit den Erfahrungen, die Plaut und auch Eichel- 
berg gemacht haben. Untersuchungen von anderer Seite sollten diesem 

kationen Serum und Liquor streng auseinander gehalten werden, denn es ergab 
sich schon im Herbst 1908, dass i'iir einzelne organische Nervenkrankheiten die 
Reaktion beider FUissigkeiten durchaus verschieden ausfiel. Nur 
Rostoski sowie Marie, Levaditiu. Yamanouchi sagen auf Grand ihrer 
Erfahrungen, dass der Liquor eerebrospiualis noch dort positive Wassermann- 
Reaktion gibt bei Tabes, Paralyse uud Lues cerebrospinalis, wo die Reaktion 
im Blutserum undeutlich oder negativ ist. Schiitze hatte den Liquor spinalis 
bei Tabes unter 29 Fallen in SO Proz. positiv nach Wassermann reagierend ge¬ 
funden, aber schon Citron nur 2mal unter 9 Fallen. Plaut berichtet in seinem 
neuen Werk, dass er in 11 Fallen von Tabes Was ermann -Reaktion im Liquor 
spinalis 7 mal land. Es muss aber betont werden, dass er selbst diese Tabes- 
fiille nielit oder jedenfalls zum grossen Teil nicht untersucht hat. 


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Weitere Erfahrgn. fiber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 205 

auffallenden Missverhaltnis zwischen dem Verhalten des Liquor spinalis 
bei der Paralyse einerseits, bei der Tabes andererseits nachgehen. 
Dass unsere Feststellungen bestatigt werden, daran konnen wir nach 
der absoluten Stetigkeit unserer Resultate nicht zweifeln. Bei 
weiteren Kontrollversuchen hat sich herausgestellt, dass zuweilen bei 
Tabes dorsalis im Liquor die Reaktion positiv ausfallt, wenn der Ex- 
trakt so stark genommen wird, dass die doppelte Extraktmenge schon 
ohne Liquor- Oder Serumzusatz teilweise oder vollstandige Hemmung 
der Hamolyse bewirkt. Da wir bei der Paralyse, auch unter der 
Beachtung der Kontrollvorschrift (vergl. Plaut, Taege), dass das 
Doppelte der yerwendeten Extraktmenge allein keine Hemmung be- 
wirken darf, fast in alien Fallen positive Wassermann-Reaktion im 
Liquor bekamen, so scheinen die die Hemmung der Hamolyse bewirken- 
den Stoffe im Liquor der Tabiker, wenn im einzelnen Fall tiber- 
baupt, dann grosstenteils in weit geringerer Menge als bei der 
Paralyse vorhanden zu sein. Plaut und andere Untersucher haben 
in weit hoberem Prozentsatz als wir bei Tabes im Liquor positive 
Wassermann-Reaktion gefunden, trotzdem z. B. Plaut ebenfalls die 
Forderung stellt, dass aucb die doppelte Extraktmenge nicht selbst 
hemmen darf. Vielleicht erklSrt sich diese Differenz in den Unter- 
suchungsergebnissen —Plaut deutet in seinem Buche darauf hin — so, 
dass Plaut hochwertigere Extrakte als wir verwendete. Wir sind 
nicht an dieausserste Grenze gegangen, um auf keinen Fall un- 
spezifische positive Resultate zu erhalten. Der Prozentsatz unserer 
positiven Resultate bei Paralyse im Serum (100 Proz.) und im Liquor 
(95 Proz.) wie bei der Tabes im Serum (70 Proz.) zeigt uns aber, dass 
unsere Extrakte nicht allzu geringwertig gewesen sein konnen. Wenn 
sich unsere Erfahrungen weiter bestatigen, kann die Starke oder das 
Vorhandensein resp. Fehlen der Wassermann-Reaktion in der 
Spinalflussigkeit ein uberaus wichtiges diagnostisches Hilfs- 
mornent werden fur die Differentialdiagnose der Paralyse 
gegeniiber der Tabes, zumal, da die anderen 3 Reaktionen ja beiden 
Krankheiten gemeinsam sind. 

Nur bei der hereditaren Paralyse, d. h. bei der Dementia para¬ 
lytica auf hereditar-syphilitischer Basis, seheint die Wassermann- 
Reaktion im Liquor fehlen zu konnen. Wenigstens habe ich (N.) sie 
in 3 von 4 Fallen, die ich, seitdem ich auf Wassermann-Reaktion 
flberhaupt untersuche, gesehen habe, vermisst. Schon in Heidelberg 
wies ich darauf hin, dass auch Stertz und Plaut dasselbe konstatiert 
batten. Zu den 2 Fallen von hereditar-syphilitischer Erkrankung des 
Zentralnervensystems, bei denen die Liquorreaktion nach Wasser- 
mann negativ war, konnen wir jetzt einen weiteren hinzufugc-n: Es 


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XII. Nonxe u. Holzmann 


handelt sich um eine Paralyse bei einem Kind mit bereditar-syphi- 
litischer interstitieller Keratitis: Der Vater war an Paralyse aaf syphi- 
litiscber Basis gestorben. Allerdings bleibt far diese Falle der Kin- 
wand moglicb, dass es sich eben nicht um Paralyse, sondern um 
kongenitale Lues cerebri handelt; das konnen nur Sektionen resp. 
eine eingebende mikroskopische Untersuchung entscheiden. 

Bei einem Falle von Schwachsinn mit Mydriasis und to taler re- 
flektoriscber Pupillenstarre bei einem von der Mutter her hereditar- 
syphilitischen Kinde (Paralyse?) waren wieder alle 4 Reaktionen positiv. 

Plaut sagt in seinem Werke, dass das Fehlen von Wassermann - 
Reaktion im Blut die Diagnose Paralyse so gut wie sicher und Fehlen 
der Wassermann-Reaktion im Liquor spinalis die Paralyse fast sicher 
ausschliessen liessen. Dasselbe behauptet Wassermann. Wir konnen 
uns auf Grund unserer Erfahrungen dem nur anschliessen. 

Eine Beobachtung zeigte die differentialdiagnostische Wichtigkeit 
des gleichzeitigen Vorhandenseins aller 4 Reaktionen fur die Annabme 
der Paralyse: Es handelte sich um einen 66jahrigen Schauspieler, der 
vor ca. 30 Jahren Syphilis gehabt hatte. Er bot das klinisch reine 
Bild des senilen Schwachsinns und hatte kein einziges somatisches 
Symptom von Paralyse, aber alle 4 Reaktionen waren bei wie- 
derbolten Untersuchungen exquisit positiv. Bei der Sektion 
zeigte sich cbronische Leptomeningitis, Granulierung des Ependyms 
der Seitenventrikel, also Verdacht auf Paralyse. Herr Dr. Ranke, 
Privatdozent der psychiatriscben Klinik von Nissl in Heidelberg, 
hatte die Freundlichkeit, das Him mikroskopisch zu untersuchen, 
und stellte die Diagnose auf eine typische Paralyse. Die charakte- 
ristischen Veranderungen waren sehr ausgesprochen und sehr diffus. 
Herr Dr. Ranke betonte besonders, dass Zeichen von Hirnsyphilis 
nicht vorlagen, sondern, dass es sich ausschliesslich um eine 
Paralyse handelte. 

Andererseits zeigten 2 Falle auch den Wert des Fehlens der 
Wassermann-Reaktion im Blut und Liquor fur das Ausschliessen 
der Diagnose Paralyse: In dem 1. Fall kam ein Mann auf die Ab- 
teilung mit Vervvirrtheit, leichtem Delirium und Andeutung von 
GrOssenwahn. Die Pupillen waren different und starr bei Lichteinfall, 
die SehnenroHexe gesteigert, und ausserdem fanden sich bei positiver 
Syphilisanamne.se noch spezifische Hautnarben. Von den 4 Reaktionen 
waren nur Lymphocytose und Phase 1 positiv, wahrend Blut und 
Liquor spinalis nach Wassermann negativ reagierten. Eine genauere 
Anamuese fehlte. In dieseiu Zustand lag der Patient ca. 1 Woche. 
Die Sektion ergab Meningitis tuberculosa. — In dem 2. Falle war die 
Anamnese auf Syphilis zweifelhaft. Patient bot das Bild einfacher 


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Weitere Erfahrgn. iiber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 207 

Demenz mit Andeutung von Grossenideen. Er hatte Steigerung der 
Sehnenreflexe, licht- und konvergenzstarre Pupillen, Innervations- 
schwache des rechten Facialis und verwaschene Sprache. Dabei waren 
alle 4 Reaktionen negativ. Die Sektion ergab einen grossen Tumor 
im linken Frontalhirn. 

Bei einem Manne, der auf beginnende Paralyse sebr verdachtig 
war, jedoch keine Liquorreaktion nach Wassermann zeigte, ent¬ 
wickelte sich spater eine linksseitige Ophthalmoplegia interior, wodurch 
die Wagschale zu gunsten der Annahme einer Lues cerebri sank. 

Auch Plaut berichtet iiber einen Fall, den er nach dem klinischeu 
Bilde fur eine Alkoholdemenz hielt, der jedoch Wasserraann-Reak- 
tion in Blute und Liquor positiv zeigte. Der Fall entwickelte sich dann 
zu einer zweifellosen Paralyse. 

Ebenso erwiesen die 4 Reaktionen 2 Falle, die bisher als manisch- 
depressives Irresein gegolten hatten, als Paralyse. In einem weiteren 
Fall — Frau mit syphilitischer Anamnese, manischer Erregung, Ver- 
wirrtheit, Pupillenstarre — waren Wassermann-Reaktion im Blut 
und Liquor negativ bei positiver Pleocytose und Phase I, und der Fall 
entwickelte sich weiter nicht als Paralyse, sondern die Manie klang ah. 
Die Erscheinungen am Nervensystem waren auf eine Tabes znrfick- 
zufuhren. In einem anderen Falle handelte es sich um einen manischen 
Erregungszustand bei einer syphilitisch gewesenen friiheren P. P. ohne 
somatische Symptome seitens des N erven systems. Alle 4 Reaktionen 
waren negativ, die Manie ging zuriick, und die Patientin wurde gesund 
entlassen. 

Bei den 16 Fallen von Verdacht auf Tabes und Paralyse war 
lOmal die Wassermann-Reaktion im Blut und 3mal im Liquor 
positiv. Diese Falle haben wir zu den iiber 70 friiheren Fallen gestellt, 
die weiter beobachtet werden miissen. Der weitere Verlauf dieser 
Falle wird uns, wie fur den diagnostischen Wert der Lymphocytose 
und der Phase I, so auch flir den Wert der Wassermann-Reaktion 
retrospektiv wertvolle Erfahrnngen liefern. Es soli spater auch iiber 
diese besonders wichtigen Falle berichtet werden. 

Unter dem gesamten Tabesmaterial haben wir nur 3 Falle ge- 
sehen, in denen alle 4 Reaktionen negativ waren; alle 3 Falle boten 
das Bild der Tabes imperfecta; die Diagnose konnte in 2 Fallen 
immerhin angefochten werden, so dass auch diese 3 Falle nicht mit 
Sicherheit den Satz widerlegen kbnnen, dass Fehlen aller 4 Reaktionen 
nur in ganz seltenen Ausnahmefallen bei Tabes dorsalis vorkommt. 

Bei imperfekten Paralysefallen sahen w r ir negative Befunde aller 
•1 Reaktionen iiberhaupt nicht: das Einzige, was bei solchen Fallen 
2 mal vorkam, war Fehlen der Wassermann-Reaktion im Liquor. 

Deutsche Zeitscbrift f. Nervenbeilkunde. 37. Bd. 14 


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XII. Non.ne u. Holzmann 


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Es lasst sich dahin zusammenfassen: Die Wassermann-Reaktion 
in Blut und Liquor ist fiir die acquirierte Paralyse ein 
ebenso feines Reagens wie die Pleocytose und Phase I*); und 
ebenso charakteristisch fiir die Tabes ist bei positiver Pleo¬ 
cytose, Phase I und haufigem (60—70 Proz.) Vorkommen von 
Wassermann-Reaktion im Blutserum die fehlende resp. ge- 
ringgradige Komplementablenkung des Liquor spinalis. 

4 Falle wurden untersucht, in denen es sich um Kinder sy- 
philitisch gewesener Eltern handelte. Diese Kinder zeigten nur 
die Zeichen allgemeiner konstitutioneller hochgradiger Ner- 
vositat, ohne objektive somatische Anomalien am Nervensystem. In 
einem Falle hatte die Mutter ein Aortenaneurysma, in einem Falle 
war der Vater an Paralyse gestorben, in einem Falle hatte die Mutter 
imperfekte Tabes, in dem 4. Falle endlich hatten Vater und Mutter 
imperfekte Tabes. Nur in einem Falle — dem 2. dieser 4 Falle — 
hatte das Kind im Blut positive Wassermann-Reaktion. Die anderen 
3 Reaktionen wurden nicht angestellt. 

Es wurde dieselbe Erfahrung mit der Wassermann-Reaktion 
bei Tabes und Paralyse gemacht wie mit der Pleocytose und Phase I: 
Die Reaktion war ebenso bei Vollfallen wie bei incipienten Fallen, 
ebenso bei schnellen wie bei langsam verlaufenden und stationaren 
Fallen vorhanden. Differentialdiagnostisch in diesem Sinne und pro- 
gnostisch konnen die Reaktionen — wir stimmen darin mit Plaut 
vollig tiberein — nicht verwertet werden. Vergleichende Unter- 
suchungen zwischen der Starke der Wassermann-Reaktion im Blut 
und im Liquor haben uns gezeigt, dass hier irgend ein konstantes 
Verhaltnis nicht vorliegt. Wir glauben, dass auch weitere Unter- 
suchungen dasselbe negative Resultat ergeben werden. Die Hoffhung, 
die Plaut in seiuem Buche ausspricht, dass ein Missverhaltnis zwischen 
Wassermann-Reaktion im Blut und im Liquor sich vielleicht pro- 
gnostisch werde verwerten lassen, konnen wir auf Grund unserer 
bisherigen Erfahrungen nicht teilen. 

Niemals salien wir Umkehrung der positiven Wassermann- 
Reaktion im Blut und im Liquor bei Paralyse durch antisyphilitisclie 
Ivuren. Ein Fall, der diese Umkehrung zeigte und der zunachst fiir 
eine Paralyse gehalten wurde, erwies sich spater als ^Alkohol- 
paralyse" (Korsakowsche Psychose mit Polyneuritis chronica) bei 
einem Luetiker. 


*) Anmerkung bei der Korrektur: Zaloeiecky sail nach seinen so- 
eben mitgetcilten Erfalmingen 2 inal unter 44 Paralysefallan die Wassermann- 
Reaktion im Blut und 1 mal im Liquor negativ. 


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Weitere Erfahrgn. fiber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 209 

Unter unseren 22 seit Oktober 1908 beobachteten Fallen von 
Lues cerebrospinalis reagierte der Liquor spinalis nur ein einziges 
Mai positiv, und in dieseru Falle kehrte sich die Reaktion nach einer 
Schmierkur ins Negative urn. Das Blutserum reagierte nur 2mal 
negativ, und diese beiden Falle waren immerhin nicht ganz eindeutig. 
Ich will nicht unterlassen, hervorzuheben, dass in 2 der obigen 22 Falle 
die Sektion und in einem Falle die Trepanation die Diagnose einer 
gummosen Hirnlues bestatigte. Wir miissen deshalb noch scharfer, 
als ich (N.) es fruher ausgesprochen habe und als Stertz und Wasser- 
nvann und Plaut*) — er fand unter 20 Fallen Wassermann- 
Reaktion 19mal ira Blut und 3mal im Liquor positiv — es gesagt 
haben, feststeUen, dass bei Lues des Nervensystems das Blut zu- 
weilen negativ, der Liquor selten einmal positiv reagieren kann —; 
wir miissen sagen: Der typische Befund der 4 Reaktionen bei den 
verschiedenen Formen der Lues cerebrospinalis (meningitische, arteriiti- 
sche und gummose Form) ist der, dass neben Pleocytose und Phase I 
die Wassermann-Reaktion im Blut positiv und im Liquor negativ ist. 

Es ergibt sich also, dass es derselbe Befund ist wie bei der 
Tabes und sich durch das Fehlen der Wassermann-Reaktion 
im Liquor unterscheidet von dem Befund bei der Paralyse. 
Die Hoffnung, die ich (N.) fruher ausgesprochen habe, dass das Fehlen 
der Wassermann-Reaktion im Liquor uns in manchen Fallen eine 
Handhabe geben wurde ffir die Differentialdiagnose zwischen Tabes 
und Lues spinalis resp. cerebrospinalis, bestatigt sich nach unseren 
neueren Erfahrungen somit nicht. Wir stehen damit im Gegensatz 
zu Plaut, der an dem differentialdiagnostischen Wert der Liquor- 
reaktion bei Tabes einerseits, bei Lues cerebrospinalis andererseits 
noch festhalt 

Weitere Untersuchungen miissen hier Kliirung bringen; aber es 
ist zu verlangen, dass bei den untersuchten Fallen Neurologe und 
Serologe gleich zuverlassig sind. 

Kurz erwahnen wollen wir, dass alle 7 untersuchten Falle von 
Pseudotabes alcoholica ohne Syphilis in der Anamnese Wasser¬ 
mann-Reaktion im Blut und Liquor negativ ergaben. Es muss des¬ 
halb jetzt anerkannt werden, dass wir in der Wassermann-Reaktion, 
wenn auch nicht eine ebenso wertvolle Bereicherung der Differential- 
diagnose gegenuber der Tabes wie in der Pleocytose und Phase I, so 
doch immerhin eine Bereicherung haben. 

Ebenso reagierten alle 9 untersuchten Falle von einfacher Hirn- 


*) Plaut sagt jetzt, dass die W.-Reaktiou im Liquor bei Lues des Ner¬ 
vensystems ebenso selten sei, wie sie haufig sei bei Paralyse. 

* 14 * 


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XII. Nonne u. Hoj.zmann 


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arterioskerose auf seniler oder praseniler Basis im Blut uud Liquor 
negativ. 

3 Krankheiten mussen uns besonders interessieren, weil sie be- 
sondere differentialdiagnostische Schwierigkeiten gegenliber der Lues 
cerebrospinalis machen und weil gerade bei ihnen noch eine Divergenz 
der Resultate herrschte. Es sind dies: 

1. die multiple Sklerose, 

2. Epilepsia idiopathica, 

3. Tumor cerebri. 

Weil ich (N.) bei alien 3 Krankheiten frfiher Resultate gefunden 
hatte, die der Wassermann-Methode keine zwingende Bedeutung fur 
die Differentialdiagnose zuerkennen konnten, fuhlte ich mich besonders 
verpflichtet zu weiteren Untersuchungen. Diese haben das folgende 
Resultat ergeben: Bei 12 Fallen von multipler Sklerose fanden wir 
nur 1 mal die Wassermann-Reaktion positiv, und auch hier nur im 
Blut. Da Pleocytose und Phase I in diesem Fall auch vorhanden 
waren, so ergaben die 4 Reaktionen das fur Lues cerebrospinalis resp. 
spinalis typische Bild. Es ist dieser Fall eine Bestatigung einer frfiheren 
Beobachtung von mir (N.), die auch Wassermann-Reaktion im Blut 
ergeben hatte, wahrend an meinem neuen Material die friiher auch 
eimnal gemachte Erfahrung des Vorkommens der Wassermann- 
Reaktion im Liquor sich nicht wiederholte. Auch Plaut fand in 
einem Fall von multipler Sklerose das Blutserum positiv reagierend. 
Sachs fand in 2 Fallen, die er als multiple Sklerose diagnostiziert 
hatte, trotzdem er Wassermann-Reaktion gefunden hatte, bei der 
Sektion Lues cerebri. Jedenfalls konnen wir heute so viel sagen, 
dass bei differeutialdiagnostischen Zweifeln positive Wassermann- 
Reaktion im Blut die ernstesten Bedenken gegen die An- 
nahme einer multiplen Sklerose erzeugen und dass Wasser¬ 
mann-Reaktion im Liquor diese Diagnose ausscheiden muss. 

Noch giinstiger fur die praktische Verwertung der Wassermann- 
Reaktion stellt sich nach unseren weiteren Erfahrungen die Epilepsia 
idiopathica: 33 Fiille von Epilepsia idiopathica ohne nachweisbare 
Syphilis haben wir auf Wassermann-Reaktion untersucht. Die 
Wassermann-Reaktion war unter diesen 33 Fallen im Liquor 
kein einziges Mal positiv. Im Blutserum fanden wir sie 5mal 
positiv. In meinen (N.) friiher untersucliten 9 Fallen hatte ich die 
Reaktion im Liquor auch niemals gefunden, aber im Blut 5 mal. Aber 
die jetzige Untersuchungsreihe ist sehr lehrreich. Es sei deshalb auf 
die 5 Fiille mit positiver Blutserum-Reaktion kurz eingegangen: 

Eimnal handelte es sich um ein junges, korperlich und geistig 
gesundes Madchen, das im 19. Lebensjahre ohne nachweisliche Ursache 


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Weitere Erfalirgn. fiber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 211 

schwere epileptische Anfalle bekam. Es war mir (N.) aber bekannt, 
dass der Vater einige Jahre vor seiner Verheiratung sich syphilitisch 
iDfiziert hatte. Jetzt untersuchten wir sein Blut — er war subjektiv 
und objektiv ganz gesund — und fanden es positiv reagierend. 

In dem 2. Falle entwickelte sich spater eine schwere Ataxie der 
unteren Extremitaten mit Hypotonie; dazu gesellte sich doppelseitige 
Anosmie und unter Schmierkur vcrschwanden diese cerebrospinalen 
Symptome; also war die Diagnose, um so mehr da auch Pleocytose 
und Phase I sich fanden, auf Lues cerebrospinalis wohl sicher. — 

Im 3. Falle hatte sich, ebenfalls bei einem bis dahin ganz gesun- 
den jungen Menschen von 17 Jahren, schwere Epilepsie entwickelt. 
Brom half nicht; energisches Traitement mixte brachte Heilung, und es 
ergab sich nachtraglich, dass der Vater eine auf Syphilis sehr verdach- 
tige Anamnese hatte. 

Im 4. Fall, in dem von den 4 Reaktionen nur Wassermanu- 
Reaktion im Liquor negativ war, war wegen hartnackiger Kopf- 
sehmerzen und weil die Epilepsie erst im 38. Lebensjahr eingesetzt 
hatte, trotz Fehlens aller somatischen Symptome der Verdacht auf die 
Entwicklung eines organischen syphilogenen Leidens nicht von der 
Hand zu weisen. 

Nur im 5. Fall liess sich nichts Besonderes eruieren. 

Diese Erfahrungen haben uns jetzt zu der Uber2eugung gebracht, 
dass bei der Epilepsia idiopathica ohne Syphilis die Komplement- 
reaktion im Blut fehlt, und dass da, wo sie vorhanden ist, sie hinweist auf 
die syphilogene Natur der epileptischen Anfalle, oder dass sie darauf 
hinweist, dass die epileptischen Anfalle der Ausdruck einer in Entwick¬ 
lung begriffenen Him- oder Hirn-Riickenmarkssyphilis sind. Wir treten 
somit der von Plaut in seinem Buche ausgesprochenen Ansicht bei.*) 

Auch gegeniiber dem Nichtvorkommen der Wassermann-Reak- 
tion im Blut bei Tumor cerebri ohne Syphilisanamnese habe ich (N.) 
mich — entgegen Stertz u. a. — vor 6 Monaten auf Grund der Er¬ 
fahrungen an 8 Fallen noch skeptisch verhalten; wir haben auch hierin 
weiter untersucht. Es soil jetzt nur iiber solche Falle von Tumor 
cerebri berichtet werden, bei denen die Sektion die Diagnose sicher 
gestellt hatte. Es eriibrigt sich zu erwiihnen, warum die Diagnose 
auf Tumor cerebri intra vitam nicht immer sicher ist, uud dass man 
bei der Sektion von fur sicher gehaltenen Fallen nicht selten Uber- 
raschungen erlebt. Wir verfiigen seit Oktober 1908 iiber 10 sezierte 

*) Anmerkung bei der Korrektur: Meinc Erfahrungen sind in diesem 
Punkte also andere als die von Eiclielbcrg am Gbttingor (Cramer) Material 
g -machten, wonach sich unter 17 Fallen von epileptischem Irresoiu (1 mal Lues 
in der Anamnese) a mal im Blut Wassermarm-Keaktion zeigte. 


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212 


XII. Noxne u. Holzmaxx 


Falle von Tumor cerebri. In alien 10 Fallen war die Reaktion 
im Liquor negativ, im Blutserum war sie nur lmal positiv ge- 
wesen, und dieser Fall ist deshalb lehrreicb, weil wir ibn intra vitam 
ftir einen Fall von Lues cerebri gehalten hatten, da die betreffende 
Kranke einen Tophus auf der Stirn gehabt hatte, der unter Schmier- 
kur prompt zuruckgegangen war. Sehr lehrreich sind noch folgende 
3 F&lle: 

1. Eine 40jahrige Frau war seit 22 Jahren infolge von allmahlich 
entstandener Opticusatrophie erblindet. Die Pupillen zeigten keine 
Lichtreaktion, die Achillessehnenreflexe fehlten. Die Anamnese war 
auf Syphilis suspekt. Wir waren fest iiberzeugt, dass es sich um eine 
stationare Tabes handelte. Alle 4 Reaktionen waren aber negativ. 
Die Sektion ergab einen anatomisch gutartigen Tumor der Hypo¬ 
physis! 

2. Bei einem Mann in mittleren Jahren, dessen Anamnese auf 
Lues sehr verdiichtig war, war die Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf 
Paralyse gestellt, weil Patient dement und chronisch verwirrt war, 
eine verwaschene Sprache hatte, bei Licht- und Konvergenzstarre der 
Pupillen und Feblen von cerebralen Drucksymptomen. Alle 4 Reak¬ 
tionen waren negativ. Die Sektion zeigte einen grossen in- 
filtrierenden Tumor im linken Stirnhirn. 

3. Bei einem 30jahrigen Mann war die Diagnose auf Tumor in 
den rechtsseitigen raotorischen Rindenzeutren gestellt wordeu. Lues 
liess sich nieht nachweisen. Hier war Pleocytose, Phase I und 
Wassermann-Reaktion im Blutserum positiv. Bei der Trepa¬ 
nation fand sich der angenommene Tumor, aber es zeigte sich bei 
makroskopiscber und mikroskopischer Untersuchung, dass es ein 
(iumma war! 

Der Schluss wird fur uns nach alledem heute lauten: Bei Tumor 
cerebri ohne komplizierende Syphilis reagieren Blut und Liquor 
spinalis nach Wassermann negativ. 

Xur anhangsweise soil erwahnt werden, dass ein Fall von 
Hydrocephalus auf hereditiir - syphilitiseher Basis positive Blutreak- 
tion gab. 

Alle die Falle von Neurasthenic, die wir untersucht haben, bei 
deuen Lues nieht vorgelegen hatte, Hessen alle 4 Reaktionen ver- 
missen. Wir haben in dieser Beziehung in den letzten 6 Monaten die 
friiheren auf meiner Abteilung gesammelten Erfahrungen nur bestatigen 
kbnnen. Die Falle mit Lues in der Anamnese zeigten schwache Pleo¬ 
cytose und in der Hiilfte der Falle W r assermann-Reaktion im Blut, 
menials Wassermann-Reaktion im Liquor und niemals Phase I. Mit 
fast absoluter Sicherheit konnen wir da, wo wir bei einem Luetiker 


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Weitere Erfahrgn. fiber die Differentialdiaguose bei syphilog. Erkrankgu. 213 

iuit neurasthenischen Beschwerden Verdacht auf Paralyse haben, diese 
sehon ausschliessen, wenn Wassermann-Reaktion im Blut fehlt. 

Nocb einige interessante und wichtige Einzelerfahrungen sollen 
hier mitgeteilt werden; wir werden ja auf diesem noch jungen For- 
schungsfelde noch viel zu lernen haben. Bei konjugalen Tabesfallen 
fanden wir 2mal, dass die Blutreaktion nur bei der einen Halfte des 
Ehepaares — einmal beim Mann, einmal bei der Frau — positiv war. 

Zweimal erlebten wir es, dass Pleocytose und Phase I bei einem 
Fall von Dementia paralytica negativ und eine Woche spiiter bei einer 
zweiten Untersuchung stark positiv waren. Dasselbe konstatierten wir 
2 mal mit der Wassermann-Reaktion im Liquor bei Paralyse. Plant 
erwahnt dieselbe Erfahrung. Wir batten daraus die praktische Kon- 
sequenz zu ziehen, bei Fallen, deren Punktionsresultat widerspruchs- 
voll erscheint, die Punktion noch einmal zu wiederholen — aller- 
dings eine Forderung, die oft genug auf praktische Schwierigkeiten 
stossen wird. 

In einem Fall von ganz schwerer Hirn-Riickenmarkssyphilis, der 
deu „typischen“ Befund — also Pleocytose, Phase 1, Blutreaktion nacli 
Wassermann — gezeigt hatte und der kliuisch restlos ausgeheilt war, 
fand sicb, als sich die Kranke nach einem Jahre vollkommen gesund 
und objektiv normal vorstellte, dass aucb alle 4 Reaktionen jetzt 
negativ waren. Dieser Fall durfte sich als ein idealer Fall von Aus- 
heilung einer scbweren Lues cerebrospinalis darstellen. 

Die Aufgabe der nachsten Zeit durfte es sein, an einem 
grossen Material niiher festzustellen, wie das Verhaltnis zwischen Pleo- 
eytose und Phase I zur Wassermann-Reaktion im Liquor ist. Einst- 
weilen miissen wir annehmen, dasskein Abhiingigkeitsverhaltnis besteht; 
/.war kommen die Reaktionen bei Dementia paralytica gemeinsam vor; 
doch beweisen die, allerdings sekr sparlicheu Fiille von Paralyse, in 
ilenen Lymphocytose und Phase I oder eine der beiden Reaktionen feht, 
vor allem aber das Fehlen der Liquorreaktion bei Tabes und bei 
Syphilis cerebrospinalis, dass das Vorkoiumen von Pleocytose und 
Phase I nicht die Liquorreaktion und umgekehrt bedingt. 

Es ist eine weitere Aufgabe, die familiiiren Gruppen, deren Hiiuiig- 
keit bei darauf gerichteter Untersuchung ja eine iinmer grbssere wird, 
auf die 4 Reaktionen durchzuarbeiten. Plant, und ich (N.) haben den 
Aufang dazu gemacht und ich (N.) sammle weitere Fiille in Krankeu- 
liaus und Privatpraxis. Es muss ferner an einem grbsseren Material 
festgestellt werden, ob sich die Fiille syphilogener Nervenerkrankung 
auf hereditar-syphilitischer Basis in Bezug auf die 4 Reaktionen 
auders verhalten als die Fiille von acquirierter Syphilis. Eine Reihe 


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214 


XII. XONNE U. HOLZMAXX 


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von Beobachtungen von Stertz. Plaut und von uns lassen dies als 
mdglich erscheinen. 

Es muss vor allem der Grund fQr die Tatsache gesucht werden, 
dass sich der Liquor spinalis bei der Tabes so anders verhalt als 
bei der Paralyse. Einstweilen wollen wir nur hinweisen auf die viel 
grbssere Gesamtmenge des Hirns gegeniiber dem R&ckenmark, auf den 
schnelleren Ablauf der Paralyse, auf die anderen anatomischen Ver- 
anderungen der weichen Haute bei der Paralyse. 

Welchen praktischen Nutzen fiir die Diagnose die Neurologie bis 
heute aus der Verwendung der 4 Reaktionen gezogen hat, glauben wir 
an unserem Material gezeigt zu haben: 

Die Paralyse zeigt mit sebr sparlicben Ausnahmen alle 4 Re¬ 
aktionen positiv. 

Die Tabes zeigt fast ausnabmslos Pleocytose und Phase I, lange 
nicht so konstant, aber docb in ca. 2 / 3 der Falle, die Wassermann- 
Reaktion im Blut, wahrend sie im Liquor mit seltenen Ausnahmen fehlt 
(s. unsere obigen Einscbrankungen). 

Bei den verschiedenen Formen der Lues cerebralis und cerebro- 
spinalis ist das Verhalten der Ly und Phase I sowie der Wassermann- 
Reaktion im Liquor dasselbe; die Wassermann-Reaktion im Blut 
ist haufiger als bei der Tabes. 

In diesen Feststellungen ist der Wert der 4 Reaktionen aus- 
gesprochen fiir die Differentialdiagnose gegeniiber den Fallen von 
Neurasthenic ohne und mit Syphilis in der Anamnese. 

Fur die Differentialdiagnose der Lues cerebri gegen den Tumor 
cerebri ohne syphilitische Anamnese ist die Wassermann-Reaktion 
ausserst wertvoll, ja ausschlaggebend, indem sie hier im Blut und im 
Liquor fehlt. 1st der Fall von Tumor cerebri mit syphilitischer 
Anamnese kompliziert, so hat die Wassermann-Reaktion keinen 
Wert. Pleocytose und Phase I konnen bei der Differentialdiagnose 
zwischen Lues cerebrospinalis und Tumor cerebri nicht ausschlaggebend 
mitsprechen. 

Bei der multiplen Sklerose kommt Wassermann-Reaktion 
im Liquor nicht vor (ich [N.] muss meine frlihere eine Beobachtung, 
weil sie ganz vereinzelt blieb, wohl zuriicknehmen), im Blutserum so 
selten, dass diese Tatsache der praktischen Verwertung der Seroreaktion 
nur geringen Abbruch tut. Andererseits ist das Auftreten von Pleo¬ 
cytose und Phase 1 bei der multiplen Sklerose nicht so selten, dass 
diese 2 Reaktionen differentialdiagnostisch gegen Lues cerebrospinalis 
vervvnndet werden konnen. 

Das Vorkommen von Wassermann-Reaktion im Blut bei an- 
scheinend idiopathischer Epilepsie muss schwere Bedenken gegen diese 


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Weitere Erfahrgn. liber die Diflerentialdiagnose bei sy phi log. Erk ran kirn. 215 

Diagnose erwecken und es ausserst wahrscheinlich machen, dass ein 
svphilogenes Leiden (Paralyse oder Lues cerebrospinalis) vorliegt. Das- 
selbe gilt fiir Pleocytose und Phase I. 

Bei Pseudotabes alcoholica ohne sypbilitische Vorgeschichte kom- 
men die 4 Reaktionen so gut wie niemals vor; ihr Fehlen ist daher ent- 
seheidend zu verwerten bei der Differentialdiagnose gegeniiber der Tabes. 

Alle tibrigen organischen Him- und Riickenmarkskrankheiten 
kbnnen fiiglich libergangen werden, da sie praktisch bei der Differential¬ 
diagnose gegeniiber den syphilogenen Erkrankungen des Nervensystems 
nicht in Frage kommen. 

Ich (N.) sagte im vorigen Herbst in Heidelberg* dass ich nur ein 
Momentbild geben konne, dass weitere Erfahrungenmeine Anschauungen 
entweder bestatigen oder modifizieren wlirden. Die Zeit hat mir schon 
jetzt Recht gegeben. Das Meiste hat sich bestatigt; manches und 
einzelnes sehr Wichtiges hat sich modifiziert Wir glauben aber heute 
aussprechen zu konnen, dass die Grundlinien sich jetzt nicht mehr 
verwischen werden, und dass wir heute bereits sagen kbnnen, dass wir 
wissen, was die 4 Reaktionen leisten und was sie nicht leisten. Wer 
Erfahrungen iiber den Ausfall der 4 Reaktionen hat, wird heute von 
ihnen nicht mehr verlangen, dass sie ihn unter alien Umstanden dar- 
fiber aufklaren, ob der dubiose Symptomenkomplex bei einem Kranken, 
der syphilitisch infiziert war, auf eine Lues cerebrospinalis oder eine 
multiple Sklerose zu beziehen ist, oder ob bei einem syphilitisch ge- 
wesenen Kranken die fraglichen Symptome von einer spezifischen Hirn- 
syphilis oder einem Himtumor herriibren. Sie kbnnen es allerdings, 
wenn alle 4 Reaktionen negativ sind. In beiden Fallen aber wiirde 
das Ensemble Pleocytose, Phase I und positive Blutreaktion nach 
Wassermann die diagnostischen Zweifel nicht losen. Ebensowenig 
wird der erfahrene Untersucher von den 4 Reaktionen verlangen, 
dass sie ihm sagen, ob es sich bei einem Fall nur um Tabes oder 
um eine Kombination von Tabes und Lues spinalis handelt. Mehr 
verlangen kann man von der Differentialdiagnose zwischen Paralyse 
und Tabes gegeniiber der Neurasthenic mit und ohne friihere Syphilis, 
ferner gegeniiber der idiopathischen Epilepsie mit syphilitischer Anam- 
nese, weiter gegeniiber der pseudotabischen Form des chronischen 
Alkoholismus bei Luetikern und Nichtluetikern. 

Wenn die Akten uns geschlossen zu sein scheinen iiber das Ver- 
halten der 4 Reaktionen im Verlaufe der klinisch diagnostizierbaren or¬ 
ganischen Him- und Riickenmarkskrankheiten, so muss die weitere 
Forschung sich jetzt erstrecken auf die Untersuchung der zweifel- 
haften Falle, resp. auf deren Verfolgung so lange, bis sie diagnostisch 
zweifellos werden oder bis die Sektion Klarung gebracht hat. 


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XII. Nonne u. Holzmann 


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Als Beispiel fur eine grosse Reihe von von uns unter Kontrolle 
gestellter Falle mogen folgende dienen: 

1. Syphilis vor 8 Jahren, seit 6 Monaten heftige Kopfschmerzen 
ohne sonst nachweisbare Ursachen: neuropathischer Gesamteindruck, 
somatisch keine Anomalien. Alle 4 Reaktionen negativ. Die Wag- 
schale sinkt somit zu gunsten der Diagnose „funktioneller Kopf- 
schmerz bei einem Luetiker". 

2. Der spastiscbe Symptomenkomplex ohne Anhalt fiir multiple 
Sklerose entwickelt sich bei einem alteren Mann, bei dem Syphilis 
nicht nachweisbar ist, an alien 4 Extremitaten. Alle 4 Reaktionen sind 
negativ. Hier ist zu erwarten, dass sich auch ferner keine Zeichen 
dafiir entwickeln, dass der spastische Symptomenkomplex derAusdruck 
einer Hirn-Rtickenmarkssyphilis ist. 

3. Ein sonst gesunder Mann ohne nachweisliche syphilitische Vor- 
geschichte leidet an scliwerem, gegen jede Behandlung refraktarem 
Kopfschmerz. Der somatische Nervenstatus ist negativ. Es ergibt 
sich Lymphocytose und Phase 1 negativ, Wassermann im Liquor 
negativ, aber im Blut positiv. Der Fall wird dadurch verdachtig auf 
syphilitisch bedingte Kopfschmerzen. 

4. Syphilis vor 10 Jahren. Kommt wegen depressiver Zustande 
mit Schlaflosigkeit, objektiv nur Miosis und reflektorische Pupillen- 
starre. Lymphocytose und Phase 1 stark positiv. Wassermann- 
Reaktion im Blut und Liquor negativ. Was wird das? Konnen wir 
hier Paralyse und Tabes ausschliessen? Nach den bisherigen Er- 
fahrungen Paralyse mit grosster Wabrscheinlichkeit, Tabes nicht. 

5. Syphilis vor 10 Jahren. Symptome von basalen Hirnnerven- 
liihmungen, Demenz. Von den 4 Reaktionen nur Phase 1 schwach 
positiv. Besserung der Demenz und der basalen Liihmungen unter 
spezifischer Behandlung. Ist das ein spezifischer oder nichtspezifischer 
basaler Hirnprozess? 

Derartige Testfalle haben wir eine grossere Reihe, wie schon 
gesagt, bis jetzt fiber 70, unter Kontrolle gestellt. Die geduldige 
Registrierung und Beobachtung gerade solcher Falle wird uns in der 
diagnostisehen Verwertung der 4 Reaktionen fordern. Bis die notige 
Ertahrung sich gerade hier ergeben haben wird, werden selbstverstandlich 
noeh Jahre vergehen. Dasselbe betont auch Plaut wiederholt in seinem 
mit grosser Ertahrung und vorbildlich objektiver niichterner Kritik g e - 
schriebenen Bnc-he; auch er sagt, dass die diagnostische Wertigkeit der 
Serodiagnose ja erst auf diesem langen und muhevollen Wege wirklich 
bewiesen werden kbnne, ist also von vorschnellem Optimismus durch- 
aus entfernt. 

In der Praxis zeigt sich, dass alle 4 Reaktionen ihren Wert. 


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Weitere Erfahrgn. uber die Differentialdiagnose bei syphilog. Erkrankgn. 217 

haben, aber nur in dera Sinne, dass keine von ihnen ftir sich allein 
ausschlaggebend ist, sondern dass ihre kombinierte Anwendung, 
und auch dann nur unter Berucksichtigung aller in Frage kommenden 
Momente, unsere Diaguose im Einzelfalle fbrdern kann. Wir halten 
es nicbt fur richtig, dass Plaut bei der sonst so vorznglichen Durch- 
arbeitung seines Materials auf die Heranziehung der Globulinvermehrung 
zur Differentialdiagnose giinzlich verzichtet hat. In ihrer kom- 
binierten Anordnung stellen die 4 Reaktionen ein iiberaus wert- 
volles diagnostisches Riistzeug dar, auf das wir heute nicht mebr werden 
verzichten wollen, und um so weniger, weil gerade die praktisch so 
wichtigen syphilogenen Erkrankungen des Nervensystems in vielen 
Fallen durch sie frtiher als bisher der Diagnose zugangig werden. 
Hamburg, Mai 1909. 


Schlusssatze. 

1. Bei Tabes und bei Paralyse sind Lymphocytose und Globuliu- 
reaktion (Phase I) fast ausnahmslos vorhanden. Die Reaktionen geheu 
Hand in Hand und sind in gleichem Grade vorhanden bei imperfekten 
und bei incipienten wie bei Vollf alien. 

2. Beide Reaktionen fehlen nur selten bei Lues cerebrospinalis. 
Bei Sclerosis multiplex kommen beide Reaktionen in der geringen 
Minderzahl der Falle und schwach vor; bei Epilepsia idiopathica, bei 
Neurasthenic, bei Pseudotabes alcoholica und bei Tumor cerebri fehlen 
beide Reaktionen, wenn Lues feblt. Bei syphilitischer Anamnese kommt 
bei diesen Erkrankungen Lymphocytose vor, aber schwach ausgebildet. 
Phase I fehlt auch dann fast ausnahmslos. 

3. Die Wassermann-Reaktion kommt bei Tabes dorsalis im 
Blutserum in ca. 60—70 Proz. vor, im Liquor spinalis fehlt sie 
fastimmer oder die die Reaktion gebenden Stoffe sind in geringerer 
Menge vorhanden. Bei Dementia paralytica ist die Wassermann- 
Reaktion im Blut so gut wie immer und im Liquor spinalis auch fast 
immer vorhanden. Deshalb scheint die Wassermann-Reaktion im 
Liquor spinalis ein wichtiges Hilfsmittel zu sein fiir die Differential¬ 
diagnose zwischen Tabes und Paralyse. Bei der hereditareu Paralyse 
kann die Wassermann-Reaktion im Liquor fehlen. 

4. Bei Epilepsia idiopathica ohne sypkilitische Vorgeschichte 
fehlt die Wassermann-Reaktion im Blut und im Liquor. Falle 
mit Wassermann-Reaktion im Blut sind entweder Falle funktioneller 
Epilepsie mit vorausgegangeuer Syphilis oder der Ausdruck eines 
syphilogenen Hirnleidens. 

5. Beim Tumor cerebri fehlt die Wassermann-Reaktion im Blut 
und im Liquor. Bei Fallen mit Wassermann-Reaktion im Blut ist 


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218 


XII. Noxne u. Holzmann 


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entweder der Tumor ein syphilitischer Oder es handelt sich um Kom- 
bination von Tumor cerebri mit Organsyphilis, reap, um Tumor cerebri 
bei einem Luetiker. 

6. Die Lymphocytose und die Phase I-Reaktion stehen nicht im 
kausalen Zusammenhang mit der Wassermann-Reaktion im Liquor. 
Alle 4 Reaktionen sind bei den syphilogenen Erkrankungen des Nerven- 
systems in ihrer Starke und in ihrem Verhaltnis zu einander unabhangig 
von dem Stadium und von der Verlaufsform der syphilogenen Er- 
krankung. 

7. Es muss durch weitere Untersuchungen festgestellt werden, 
ob die Falle von h ereditar-syphilogener Erkrankung des Nerven- 
systems sich serologisch anders verhalten als die Falle mit acqui- 
rierter Syphilis. 


Literatnr. 

1) Blaschko, Die klinische Verwertung der Wassermaunschen Reaktion. 
Verein f. innere Medizin zu Berlin. Ref. Munchener mediz. Wochenschritt. 
Nr. 4. 1009. 

2) Bolim, Malaria und Wassermannsehe Reaktion. Deutsche tropenmed. 
Gesellsch. Ref. Munch, med. Wochenscht. Nr. 16. 1909. 

3) Bruck-Breslau u. E. Gessner-Memel: Uber Serumuntersuchungen bei 
Lepra. Berl. klin. Wochenschr. 1909. Nr. 12. 

4) Bruck, C., Uber die Serodiagnostik der Syphilis nach Wassermann, 
Neisser u. Bruck. Kongress der deutschen dermatol. Gcsellschaft. Ref Munch, 
med. Wochenschr. 190S. Nr. 42. 

5) Bruck, C., u. L. Cohn, Scharlach und Serumreaktion auf Syphilis. 
Berliner klin. Wochenschr. 1908. Nr. 51. 

6) Bruhns, C. u. L. Halberstadter, Zur praktischen Bedeutung der 
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7) Citron, Deutsche med. Wochenschr. 1907. Nr. 29. 

8) Donat h, Der heutige Stand der Serodiagnostik bei Syphilis. Verein 
der Arzte in Halle a. S. Ref Munch, med. Wochenschr. 1909. Nr. 18. 

9) Eichelberg, F., u. Pfortuer, O., Die praktische Verwertbarkeit der 
verschiedenen Untersuchungsniethoden des Liquor cerebrospinalis fur die Dia- 
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Neurologic. Bd. 25. 1909. 

10) Fraenkcl, E., u. H. Much, Die Wassermannsche Reaktion an der 
Leiche. Mfinch, med. Wochenschr. 1909. Nr. 48. 

11) Galewsky, Uber die Bedeutung der serologischen Untersuchuugs- 
methode fur die Pathologic und Therapie der Syphilis. Gesellsch. f. Natur- u. 
Heilkde. zu Dresden. Ref Munch, med. Wochenschr. 1909. Nr. 1. 

12) Halberstadter, Mfiller und Reiche, Uber Komplementbindung bei 
Syphilis hereditaria, Scharlach und andcren Infektionskrankheiten. Berl. klin. 
Wochenschr. 1908. Nr. 43. 


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Wcitere Erfahrgn. uber die Differentialdiaguose bei svphilog. Erkrankgn. 219 


13) Hauck, L., Die praktisehe Bedeutung der \V r assermaim-Neisser-Bruek- 
srlien Sypliilisreaktion. Arztlicher Bezirksverein Erlangen. Kef. Munch. mcd. 
Woehensehr. 1909. Nr. 4. 

14) Hecht, Landsteiner, Wilenko, Uber Komplementbiudungsreaktion 
bei Seharlach. Wien. klin. Wochensclir. 1909. Nr. 15. 

15) Hoehne, Der Wert der Wassermauuschen lleaktion fiir die Praxis. 
Arztlicher Verein Frankfurt. Kef. Miinehener medizin. Wochensehrift. 1908. 
Nr. 48. 

16) Holzinann, W., Seharlach und Wassermannsehe Sypliilisreaktion. 
Miineli. med. Wochensclir. 1909. Nr. 14. 

17; Joch maun u. Topfer, Zur Frage der Spezilitiit der Komplementbin* 
(luugsniethode bei der Syphilis. Miinehener niedizinisehe Woehensehrift 190S. 
Nr. 32. 

ISi Kafka, Monatssehrift f. Psychiatrie u. Neurologic. 24. 1909. 

19) Kolle, W., Die Ergebnisse der neueren Forsehungen fiber die Syphi- 
lisatiologie und Syphilisdiagnostik, im besonderen der Serodiagnostik. Korre- 
spondenzblatt f. Sehweizer Arzte. 39. Jahrgang, 1909. Nr. 2. 

20) Kopp, C., Uber die Bedeutung der Wassennannschen Serodiagno.se tier 
Syphilis fiir die Praxis. Miineli. med. Wochensclir. 19o9. Nr. 19 

21 j Lesser, F., Tabes und Paralyse im Liehte der neuen Syphilisforschung. 
berl. klin. Woelienschr. 1908. Nr. 39. 

22) Dersclbe, Weitere Erfahrung mit der Serodiagnostik der Syphilis. 
Verein f. innere Medizin in Berlin. Kef. Miinehener medizin. Woehensehr. 1908. 
Nr. 51. 

23) Lohlein u. Rieeke, Die Wassermannsche Keaktion. Med. Gesellschaft 
zu Leipzig. Kef. Munch, med. Woehensehr. 1909. Nr. 3. 

24) Meyer. L., (Berlin), Ein Beit rag zur Theorie u. Technik der Wasscr- 
mannschen Keaktion und zur Wertbemessung der gepn'iften Seren. Berl. klin. 
Woehensehr. 1909. Nr. IS. 

25) Muller, Christian, Kongenitale Lues und progressive Paralyse. Miineli. 
med. Woehensehr. 1908. Nr. 38. 

20i Noguchi Hidoyo, The Serum Diagnosis of Syphilis from the Rocke¬ 
feller Institute for Medical Research. New-York. 

27) Derselbe, The Relations of Protein, Lipoids and Salt t<> the Wasser- 
mannreaktion. Journal of Experimental Medicine. 19o9. Vol. XI. No. 1. 

28) Nonne M.. Syphilis und Nervensystem. 2. Anti. Berlin 1909. S Larger. 
29 1 Derselbe. Verhandlungen der Gesellschaft deutschcr Ncrvcnarzte in 

Heidelberg. 

30 Plant, F., Die Wasserma nnselie Serodiagnostik der Syphilis in ilirer 
Amvendung auf die Psychiatric. Jena ISOp. Gustav Fischer. 

31) Piirckliauer, Rudolf, Wit* wirkt die spezitischc Iherapie aid tlie 
Washerman!!-, A. Neisser-Brucksche Keaktion ein? Miineli. med. Woehensehr. 
19' >9. Nr. 14. 

32) Sachs, H., Ober den Einlluss der Yerdiinming der Organextrakte aid 
die Wassermannsche Sypliilisreaktion. Wissensehaltl. \ ertdnigg. am stadtischen 
Krankenhaus zu Frankfurt a M. Ref. Miinehener medizin. Wochensclir. 1909. 
Nr. 8. 

33) Sachs, H., u. Bomhmi, Beitriiee zur Theorie und Praxis der \\ as-er- 
inanrischen Sypliilisreaktion. Berl. klin. Wochensclir. l9os. Nr. 43. 


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320 Xoxnk u. Holzmann, Weitere Erfahrgn. ub. d. Difterentialdiaguose tisw. 


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34) Schiitze, A., Tubes u. Lues. Zcitsehrift f. klin. Medizin. 65. B<1. 
5. u. 6. Heft. 

35) Selenew, J., Die Schattenseiten der Wassermannschen Reaktion. Rus«. 
Zeitschr. f. Haut- und Geschleehtskrankheiten. November 190S. Ref. Miineh. 
ined. Woehenschr. 1909. Xr. 17. 

30) Seiigmann, E., u. F. Klopstoek, Uber Serum reaktion bei Scharlach- 
kranken. Berl. kiiu. Woehenschr. 190S. Xr. 38. 

37) Stern, M., Zur Technik der Serodiagnostik der Syphilis. Berl. klin. 
Woehenschr. 1908. Nr. 32. 

38) Stertz, Serodiagnostik in der Psychiatrie und Xeurologie. Allgem. 
Zeitschr. f. Psychiatrie und psychisch-geriehtl. Medizin. 1908. 65. Bd. Heft 1. 

39) Taege, Die Technik der Wassermann-Xeisser-Bruckschen Serodiagno¬ 
stik der Syphilis. Miinch. med. Woehenschr. 1908. Xr. 33. 

10) Wirth, Karl, Untersuchuugen der Cerebrospinalfliissigkeit naeli Xonne- 
Apelt. Gesellschaft f. innerc Medizin und Kinderheilkunde zu Wien. Kef. 
Munch, med. Woehenschr. 1909. N>. 7. 

41) Zaloziecki, A., Zur klinischen Bewertung der serodiagnostischen 
Luesreaktion naeh Wassermann in der Psychiatric, nebst Bemerkungen zu 
den Untersuchungsmethoden des Liquor cerebrospinalis. Monatsschr. f. Psychia¬ 
trie und Xeurologie. Bd. 26. 1909. 

42) Zeissler, J., Die Wassermannsche Reaktion bei Scharlach. Berl. klin. 
Woehenschr. 190s. Xr. 42. 


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XIII. 


Aus dem stadtischen Krankenhaus in Mainz, innere Abteilung (Direk- 
tor: Dr. H. Curschmann) und dem neurologischen Institut in Frank¬ 
furt a. M. (Direktor: Prof. L. Edinger), Abteilung f. Hirnpathologie 
(Prof. Dr. H. Vogt, Abt.-Vorstand). 

Zur Kenntnis der Mckenmarkserkrankungen nach Trauma. 

Von 

Dr. H. Hellbach-Jena 

(Mit 2 Abbildungen.) 

Als Erb im Jahre 1897 fiber Poliomyelitis auterior chronica nach 
Trauma und den Zusammenhang zwischen Trauma und organischen 
Xervenkrankheiten schrieb, erkliirte er es ffir wfinschenswert, noch 
weiteres Material zur Ergrfindung jenes Zusammenhanges zu sammeln. 
Insbesondere verdienen jene Falle Interesse, bei denen eine Zeit lang 
nach einem peripheren Trauma zentrale Veriinderungen des Nerven- 
systems eintreten, die einen progressiven Verlauf nehmen. 

Ich mochte im folgenden fiber einen Krankheitsfall dieser Art be- 
richten, der im stadtischen Krankenhaus in Mainz beobachtet. wurde 
und bei dem ich Gelegenheit hatte, die erkrankten Teile des zentralen 
Nervensystems zu untersuchen. Die Krankengeschichte sowie mfind- 
liche Mitteilungen fiber den Krankheitsverlauf und das anatomische 
Material verdanke ich der Liebenswfirdigkeit des Herrn Dr. H.Cursch¬ 
mann in Mainz. 

Krankengeschichte.*) 

1. Aufnahme. Dor 60 Jahre alte Tagldhner Karl K. suclit am 60. 
September 1907 das Krankenhaus auf. Er stammt aus gesunder Familie. 
"ar nie geschlechtskrank odor sonstwie loidond, hat nicht mit Blei zu tun 
ffehabt. Alkoholmissbrauch in Abrede gestellt; Pat. hat tiiglich 6 — 7 Cigarren 
geraucht. Frtlher war er herrschaf tlicher Kutscher, jet/.t ist er seit 13 Jaliren 
Iteini Reinigungsamt tiitig. Seine Arbeit (ti'ihrt den Besen wesentlieh mit 
der Littken) strengt ihn nicht besonders an. 

Unfall im Jahre 1905. Bat. rutschtc bei der Arbeit aus, fiel auf 

*) Pat. ist zweimal, im November 1907 und Juli lt»08 im arztl. Kreisverein 
in Mainz vorgestellt worden. 


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222 


XIII. Heli.bach 


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den Rticken, Nacken und Hinterkopf, bebielt dabei die Sckere des Wagens 
noch in der Hand, so dass an den Armen plotzlich stark gerissen wurde. 
Ohnmaclit Oder Labmung trat nach dem Sturz nicht ein. 

4 Woclien danach trat eine Anschwellung der recbten Hand auf, diese 
wurde so „dick wie ein Kissen“, die Haut platzte auf. Auf Anwendung 
von Seifenwasserbadern gingen diese Erscbeinungen zurttck. Dagegen 
traten um diese Zeit allmabliche Liihmung und Abmageruug der 
Muskeln der rechten Hand ein, die auf den Yorderarm fortscbritten. 
Dabei keine Schmerzen, aber Kitzeln und pelziges GefOhl in der Hand. 
Dagegen konnte Pat. warme und kalte sowie spitzige Gegenstande gut fGlilen. 

Im August 1907, 2 Jahre nach dem Unfall, begann das recbte Bein 
sclilaff und schwaek zu werden. Der Tritt wurde sehr unsicher, das 
Gehen wurde, da aucb bald Sekwache im linken Bein auftrat, fast unmdg- 
lich. Dabei kein pelziges GefOhl. Urin- und Stuhlentleerung ohne 
Stdrung. Sexuell war Pat. nicht mebr aktiv. 

Gesicht und Gebor stets gut. Sprechen und Scblucken soil 
1 2 Jahr angeblich etwas schwieriger. 

Befund: Sehr starke dorsale Skoliose nach rechts. Atrophic 
dor rechtsseitigen langen ROckenmuskeln. Leichte FlOgelstcl- 
lung des rechten Schulterblattes. 

Atropliie samtlicher kleiner Handmuskeln rechts. Atrophic 
aller langen Strecker, Atropliie und Parese aller langen Beuger 
rechts. 

Supinator longus, Biceps, Deltoideus, Triceps o. B. 

Deutlicher Defekt im sternocostalen Teil des Pectoralis major. 
In beiden Pectorales fibri 11are Zuckungen. 

Atropliie dor Beuger des rechten Oberschenkels (besonders 
Semimembran. und Semitendinosus). 

Waden- und Peroneusmuskulatur frei. Fibrill&re und faseiku- 
liire Zuckungen der Beuger des rechten Oberschenkels. 

Reflexe an den untcren Gliedmassen beiderseits gleicli gesteigert. 
Bah inski = 0. 

An den Vorderarmen Periostroflexe lebhaft, links starker als rechts. 

Mandibular reflex besonders stark. 

Hautreflexe normal. 

Die elcktrische Untersuchung ergibt bei direkter faradischer 
Reizung: 

Erloschensein der Erregbarkeit der Muskeln von Daumen- und 
Kleinfingerballen und der Interossei, ferner des Flexor carpi ul- 
naris und Flexor digitoruni und des atrophischen Teils des Pecto¬ 
ralis major rechts. 

In alien andercn ist sie orhalten. 

Indirekte faradische Reizung: 

Vom rechten Erbschen Punkt aus reagieren die Oberarmmuskeln. 
Brachioradialis nicht. 

Ga 1 va ni sche Reizun g: 

An den kleinen Handmuskeln rechts wurmformige Zuekung, 
AnSZ > KaSZ. 

Dasselbe im Flexor carpi ulnaris und im atrophischen Teil 
der Pectoralis major rechts. 


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Zur Kenntnis der Ruckenmarkserkraukungen nacli Trauma. 


223 


Die Extensoren rechts zeigen auffallende Erhohung der galva- 
nischen Erregbarkeit. 

Sonst Oberall normale Erregbarkeit. 

Hirnnerven: Geringe Schwache im Hypoglossusgebiet. Zunge 
atmphisch, Bewegungen, besonders nach vorn, wenig krfiftig. Sub- 
jektiv Klagen fiber Erscbwerung dieser Bewegungen. 

Geringe Schwache im Glossopharyngeus-Vagusgebiet. Gau- 
mensegel scblaff. 

Spracbe etwas verwaschen, nasal. 

Scblucken gut. Mimik o. B. 

Pupilien gleichweit, rund, eng, verengen sicli sofort und ausgiebig 
bei Lichteinfall und Accommodation. 

Augenbewegungen frci, kein Nystagmus. Augenhintergrundo. B. 

Die Sensibilitat ist in alien Qualitfiten Oberall ungestdrt. Es 
bcsteht keine Spur einer dissoziierten Empfindungslahmung. 

Blase und Mastdarm o. B. 

Recbte Hand meist blaurot, gedunsen, kfibl. 

Die inueren Organe ohne nachweisbare Veranderungen, abgcsehen 
von etwas Empbysem und leichter Bronchitis. 

Arterien hart. 

Verlauf: Durch Bettrube bessert sieh die Schwacbe in den Beinen, 
das Gehen wird subjektiv leichter. Die Erscheinungen am Arm bleiben 
unverandert. Im Laufe des Oktober wird die Sprache verwaschener, 
undeutlicher, das Scblucken ist nicht wesentlicb erscbwert. 

Pat. wird als arbeitsunffihig am 3. Nov. 1907 in das Invalidenbaus 
entlassen. 

2. Aufnahme. Pat. sucht am 10. Juni 1908 wiedcr das Kranken- 
haus auf. Er gibt an, dass die rechte Hand in letzter Zeit sc h lech ter 
geworden sei. Auch die Oberarmmuskeln seien ganz schwach, ferner 
sei die linke Hand dQnner und ungeschickter geworden; cr kdnne 
damit schlecht greifen. Der linke Arm sei sonst gut. Die Hande, beson¬ 
ders die rechte, seien in der Kalte blau und dick, aber nicht schmerzhaft. 
Sein ROcken sei noch krummer geworden. Besonders beunruhige ihn 
das Nachlassen der Fahigkeit, zu scblucken und zu sprechen. Feste Speisen 
konne er nur mit Anstrengung scblucken, breiige besser. Flfissige kfimen 
zuweilen durch die Nase wieder heraus. Der Speichel flossc stark, er konne 
ihn schwer scblucken, darum flOsse er aus dem Mnnd. 

Seine Bekannten verstanden ihn oft nicht, das Sprechen fiele ihm schwer. 

Gehen kdnne er auch viel schlechter, daran sei die allgemeine Schwacbe 
schuld, er kbnne ja nichts Recbtes essen. Urin- und Stublentleerung ge- 
schehe ohne Schwierigkeit. Er babe Husten und brfichte wenig Auswurf 
lieraus. 

Befund: Pat. ist abgemagert, etwas cyanotisch, die Haut ist welk. 
Innere Organe ohne nachweisbare Veranderung, ausser Empbysem und 
Bronchitis. Thorax durch die starker gewordcne Skoliose etwas deformicrt. 

Nervensystem: Geruchs- und Gesichtssinn ohne Veranderung. 
Augenmuskeln desgleicben. 

N. facialis: Mimik nuflallend sparlich. Stirn stark gerunzelt, Wangen 
schlatf. Nasen-Lippenfurchen verstricben. Ausdruck starr, maskenartig. 
Spitzen der Lippen, Blasen, Pfeifen kaum moglich. Augcnschluss beider- 
Deutsche Zeitachrift f. Nervenheilkunde. 37. Bd. 15 

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224 


XIII. Hem.uach 


seits sohr mangelhaft. Stirnmuskeln, Heber tier Xasenflttgel uiul Mund- 
winkel besser. 

N. hypoglossus und vagus: Zunge deutlich atrophisch. Oberflacho 
welk, gerunzelt. Bewcgungen, besonders nacli vorn und oben, bchindert. 

Sprachc sehr undeutlicb, verwaschen, nasal. Lippen-, Gaumen- und 
Zungenlaute undeutlich, schwacb. 

Gaumensegel beim Scblucken niclit vollig sclilussfixhig. Gauinen- 
reflex stark hcrabgesetzt. 

Zunge faradiscb direkt nnr minimal erregbar, galvaniscb deutlielie 
trage Zuckung. Desgleicben am Gaumensegel. 

Pupillen zeigen normale Reaktion. Augenbintergrund o. B. 

Extremitiiten: Rechte Hand wie frtther, totale Atropbie aller kleincn 
Handmuskeln. Die Atrophie der langcn Beuger und Strecker des Vordor- 
arms bat zugenommen. M. supinator longus ist jetzt atrophisch. 

Oberarm: Tricepsjetzt paretisch, die Ubrigen Muskeln in geringerem 
Grade. M. trapezius rechts in alien Teilen etwas atrophisch und paretisch, 
desgleicben M. serratus ant. Die Ubrigen normal. 

Links deutliche beginnende Atropbie der kleinen Handmuskeln, sonst 
am Arm keiue Atropbie. 

Bauchmuskeln o. B. Skoliose starker geworden. Untere Extremi¬ 
tiiten: Atropbie am rechtcn Bein niclit fortgesehritten. 

Die Retlexe am rechten Arm scbwadier als am linken. 

Patellarreflexe lebhaft. AchillesreHex desgleicben. 

Die Sensibilitat ist vollstandig ungestort. 

Verlauf: Pat. erbolt sicli bei Darreichung von flUssiger und lueiiger 
Ivost. Wild ins Invalidenbaus entlassen am 21. Juni 1908. 

3. Aufnahme am 28. September 1908. 

t’ber den Patienten wild berichtet, dass in den letzten drei Monaten 
bei ihm das Scblucken iminer schwieriger geworden sei, er babe sicb liiiutig 
verschluckt, babe aucli baufig erbroeben. Infolge der scblecbten Ernahrung 
sei er sehr schwacb. Seit vorgestern babe er selbst Flttssigkeit niclit melir 
scblucken komien. Er babe viol Huston, aber wenig Auswurf. 

Befund: Pat. ist iiusserst abgeinagert. Gesicbt sehr dtiun und klein. 
vollig maskenhaft unbeweglich. Ausdruck kummervoll. Stirn gerunzelt. 
untere Gesichtshiilfte vollig sell lad. 

Scblucken von Flttssigkeit gescliieht sehr langsam: ist zuweilen un- 
moglicb. Oft wird alles ausgeliustet oiler tliesst. zur Nase wieder heraus. 

Spraclie: Unverstandlicbes Fallen, keine deutlicbcn Konsonanten. 
Vokale unrein, verwaschen. Bestandiger SpeicbelHuss aus dem balboftenen 
Minnie. 

Facialis: Nnr die vom Stirnast versorgten Muskeln nocb beweglicb. 
Lii'i>enniuskulatur geliibmt. schlaff. welk. 

Hypoglossus: Zunge boebgradig atrophisch, verkleinert, welk. kann 
nnr nocli seitlich etwas bewegt werden. 

Vagus: Gaumensegel bei starker Pbonation und beim Scbluckversueli 
nocb ein wenig geboben. 

Gaumenrellex erloscben. 

Extremitiiten: Rechts dieselbe Muskelatrophie. Vorderarmatropbie 
nocb starker. Deltoideus und clavikubirer Teil des Pectoralis major eben- 
falls atrophisch. Desgleicben die langen Rttckennmskeln. 


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Zur Kemitnis der Riickenmarkserkrankungen nach Trauma. 


225 


Die Atropkie der Beuger am rechteu Obersclienkel noeli starker go- 
wonlell. 

Die Sensibilitat ist vdllig ungestdrt. 

Blase und Darm o. B. Reflexe niciit gesteigert. 

Verlauf: 30. Sept Da das Schlucken unmoglich ist,Somleiierniilirung. 
Die Sonde fallt gleiclisam nach Passieren des Rachens olnie Widerstand in 
den Magen. 

5. X. Trotz Sondenernahrung zunelnneuder Krafteverfall. 

10. X. Pat. verscliluckt sich beim Versuch. selber Nahrung zu nelimon, 
hekommt einen Erstickungsanfall. Viel Huston, erscbwcrte Expektoration. 
Zunehmender Verfall. 

15. X. Nacli vorherigem relativou Woblsein kollabiert Patient plntz- 
lieb. Exitus. 

Zusammenfassung. Wir sehen. wie bei dem Patienten weuige 
Wochen nach dem bei der Arbeit erlittenen Unfall sich ein Nerven- 
leiden entwickelt, das langsam progressiv verlauft. Es beginnt niit. 
einer vorQbergehenden, wie wir nach der Beschreibung des Patienten 
annehmen mtissen, trophischen Storting der Haut der rechten Hand 
sowie leichten Parasthesien bei Erhaltenbleiben des Tastsinnes. Es 
entwickelt sich langsam eine Lahmung und Atrophie (welches von 
beiden zuerst, weiss Patient nicht anzugeben) einesTeilesderMuskulatur 
der rechten Hand und des Armes und Entartungsreaktion tritt auf. 
Etwa 1 1 / 2 Jahre danach tritt eine Parese erst des rechten, dann auch 
des linken Beines ein, ferner erseheinen Zeichen einer Erkrankung des 
Facialis, Vagus und Hypoglossus, die immer deutlicher werden. I in 
3. Jahre nach dem Unfall greift der Krankheitsprozess auch auf den 
linken Arm iiber, die bulbare Erkrankung maeht Fortschrit.te, so dass 
Patient ihr sehliesslich erliegt. Blasen- oder Mastdarnistorungen fehlen, 
die Sensibilitiit zeigt keine abnorme Verauderung, die Reflexe sind 
nach einer vorubergehenden Steigerung normal. 

Wir haben es, wenn wir von den anfiinglichen leichten Par¬ 
asthesien absehen, niit einer Erkrankung auf motorischem Gebiete zu 
tun. Es fehlen Sensibilitatsstorungen sowie eine dauernde Erholmug 
der Reflexe, Spasmen, teilweise Hypertrophien, sowie das Babinskische 
Phanomeu. Dagegen spricht der schleichende Verlauf, die Reihenfolge 
der erkrankten Muskeln, die fibrillaren Zuckungen, das Ubergreifen 
auf die bulbaren motorischen Kerne fur progressive spinale Muskel- 
atrophie. Es kame allerdings noch eine Erkrankung in Betracht: die 
Poliomyelitis aDt. chronica. Man halt fiir klinische Kennzeichen der- 
selben den etwas rascheren, mehr schubweisen Verlauf, dis Eintreton 
der Lahmung vor der Atrophie und die atypische Lokalisation. In- 
dessen sind fliessende Ubergange zwischen beiden Erkrankungen be- 
sclirieben, und verschiedene Autoren siud der Meinung, dass beide nicht 

15 * 


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226 


XIII. Hellbach 


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scharf von einander zu trennen sind. Diese Trennung sollte aber auf 
anatomischem Wege doch moglich sein. Der Name Poliomyelitis weist 
auf entzundliche Vorgange hin, die der Krankheit zugrunde liegeD, 
wahrend man bei der spinalen Muskelatrophie reine Degenerationsvor- 
gange im Gebiet des motorischen Neurons findet Beide pathologischeu 
Vorgange konnen ein und dasselbe, eine vom Ruckenmark ausgehende 
Muskelatrophie bewirken, aber die Natur des Prozesses ist doch eine 
verschiedene.*) 

Die klinische Diagnose ist in diesem Falle auf progressive spinale 
Muskelatrophie und Bulbarparalyse gestellt worden. 

Von den Angehorigen wurde leider nur die Sektion des Gehirns 
und Rlickenmarks gestattet. Das Material wurde in lOproz. Formol 
aufbewahrt Leider zeigte sich, dass das RQckenmark nicht unverletzt 
war, insofern, als Stticke des Dorsalmarks gequetscht waren und zum 
Teil Risse erhalten hatten. Immerhin konnten die fibrigen Riicken- 
markstiicke sowie das verlangerte Mark und Teile aus dem Stirn- 
lappen, den Zentralwindungen und dem Hinterhauptslappen ver- 
schiedenen Techniken unterworfen werden. Es wurden Zellfarbungen 
mit Kresylviolett und Thionin, ferner die van Giesonsche Methode 
und die Rankesche Gliafarbung sowie die Weigertsche Mark- 
scheidenfarbung und die Marchimethode angewendet. 

Die Untersuchung auf Plasmazellen wurde nach Unna-Pappen- 
heim sowie mit polychromem Methylenblau angestellt 

Herrn Dr. Bethke, 1. Assistant am pathologischen Institut, der 
mir mehrfach seinen freundlichen Rat lieh, bin ich hierfiir zu Dank 
verpflichtet. 

Es ergab sich folgender bistologischer Befund: 

Makroskopisch liisst sich weder an den Meningen noch an den Ge- 
fiissen ein pathologischer Befund erheben. 

Sakralmark. Hier finden sich im wesentlichen normale Verhaltnisse. 
Dock zeigen die Ganglienzellen grossen Pigmentreichtum nnd bei ganz 
vereinzelten Vorderhornzellen macht sich ein korniger Zerfall der Nissl- 
schen Schollen bemcrkbar. Die Glia zcigt keine Vermehrung ihrer Fasern. 

Lum balm ark. Die graue Substanz der VorderhOrner ist zellftrmer 
•als lieim normalen Londenmark. Besonders an der Medialseite des Vorder- 
borns sind nur wenige Ganglienzellen zu sehen, und diese zeigen eine ab- 
norme Beschaffenheit. Fast alle sind mit gelben bis dunkelbraunen Pig- 
mentkurnchen (i berth lit, teilweise so stark, dass man einen KOrnchenhaufen 
vor sich sielit, der nur durcli seine Form und den durchscheinenden Kern 
als Ganglienzelle kenntlich ist. Einige Zellen sind geschrumpft, zeigen 


*) Vgl. Leyden und Goldscheider, Ilandbuch der Erkrankungen des 
Uiickenmarks; ferner Bielschowsky, Zur Ilistologie der Poliomyelitis anterior 
citron. Fortschr. f. klin. Medizin. 37. Bd. Heft 1 u. 2. 


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Zur Kenutnis der Riickenmarkserkrankungen naeh Trauma. 


227 


vereinzelte plumpe, regellos zerstreute Nisslschollen, lassen auch bei star- 
kerer Differenzierung keine weitere Aufhellung des Zelleibes erkennen. 
Zahlreiche Zellen bieten das Bild eines feinkdrnigen Zerfalls mit exzentriscber 
Lagerung des Kerns dar. Auch in der lateralen hinteren Gruppe finden 
sich zahlreiche, in Degeneration begriffene Zellen, vereinzelte auch in der 
vorderen lateralen Gruppe. Die Zellen der Clarkeschen Shule sind an- 
scheinend nicht verhndert. Die Neuroglia zeigt keine wesentlichen Ver- 
anderungen. Die Gefasse sind zahlreich, ihre Intima ist zart, die Kerne 
sind nicht vermehrt. Das adventitielle Gewebe ist stellenweise etwas hyalin 
verdickt, doch nur unerheblich. Die Venen sind stark mit Blut gefttllt. 
An einigen Stellen der grauen Substanz finden sich Ansammlungen roter 
Blutkorperchen in kleinen GewebslOcken, teils in der Umgebung eines Ge- 
fasses, teils etwas weiter davon entfernt. Spuren alterer Blutungen, Pig¬ 
ment, KOrnchenzellen finden sich nirgends. Ebenso sind keine Infiltrate, 
keine Plasmazellen aufzufinden. Das Pigment der Ganglienzellen gibt keine 
Berlinerblaureaktion, ebenso lasst sich mit derselben Blutpigment nirgends 
im Gewebe nachweisen. Weigertprhparate zeigen cine Lichtung der mark- 
lialtigen Fasern in der grauen Substanz, auch eine solche in den angren- 
zenden Partien der weissen. 

Dorsalmark. Im unteren Dorsalmark finden sich dieselben Veriin- 
derungen. Die Vorderhbrner auf beiden Seiten zeigen fast keine Ganglien¬ 
zellen rnehr, die vorhandenen sind atrophisch, teilweise in kornigem Zer- 
fall begriffen. Die Zellen der SeitenhOrner sind zwar von normaler Grosse, 
zeigen aber auch z. T. Chromatolyse und starke Pigmentierung. Die kleinen 
Blutungen sind auch hier deutlich, aber in sparlicherer Menge vorhanden, 
sie finden sich an den verschiedensten Stellen der grauen Substanz. Nach 
dem oberen Dorsalmark nehmen sie an Zahl und Ausdehnung zu. Sie 
fiillen kleine Risse im Gewebe ganz Oder teilweise aus. Ilier zeigt sich 
auch die Glia der grauen Substanz leicht verdichtet. Es findet sich im 
Umkreis der veranderten Ganglienzellen ein etwas dichteres Gefiecht der 
Gliafasern. Dagegen kann man von einer allgcmeinen Vermehrung der 
Gliakerne nicht reden. Die Gefiisse verhalten sich hier ebenso wie im 
Lendenmark. 

In der weissen Substanz erweisen sich bei Anwendung der Marchi- 
methode eine Anzahl Fasern in den Pyramidenseitenstriingen als degene- 
riert, ebenso finden sich stiirkere Schwitrzungen von Faserquerschnitten in 
der nhchsten Umgebung der grauen Substanz, besonders im ventralen 
Hinterstrangfeld. Doch sind diese geschwarzten Fasern nur zerstreut auf¬ 
zufinden. 

Die Vorderhorner sind im Dorsalmark besonders schmal, zuweilen hat 
man den Eindruck, als oh dies auf der rechten, zuerst erkrankten Korper- 
hiilfte in starkerem MaBe der Fall wiire. Doch sind die Zellveranderungen 
wohl beiderseits gleich. 

Cervikalmark. Hier finden sich die starksten Veriinderungen. Die 
Ganglienzellen der medialen Gruppen sind fast geschwunden, die der late¬ 
ralen hinteren Gruppe ebenso, die fibrigen alle, an Zahl stark vermindert. 
Es finden sich alle Ubergiinge von Randstellung lies Zellkerns und bt*- 
ginnender Chromatolyse bis zum kOrnigen Zerfall des Protoplasmas und 
Unkenntlichwerden des Kerns oder Zusaminensehrnmpfen der Zelle zu einem 
dunkel sich farbenden spindelformigen Gebilde. Alle siiul stark mit Pig- 


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XIII. Hellbacii 


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Fig. 1. 

Samtliche Zellen wurden niit Kresylviolett gefarbt und die Umrisse mittelst 
ties Leitzschen Zeichenoculars in gleichem Matistab wiedergegeben. 

1. Ganglienzelle aus deni (3. Cervikalsegment, mediale hintere Gruppe. 
andstellung des Kerns, Keste von N issl schollen. 

2. 4ndere Zelle dcrselben Gegend. Atrophie, feinkorniges Pigment ini 
Innern. 


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Zur Kenntnis der Ruekennmrkserkrankuugen nach Trauma. 


229 


;{. Ganglienzelle des 6. Cervikalsegments, laterale vordere Gruppe. Zell- 
leib erl'tillt von gelbbraunem Pigment. 

4. Ganglienzelle des 5. Cervikalsegments, mediate vordere Gruppe. 
Feinkbrniges Pigment, einzelne blaue kbrnige Reste von Nisslsehollen. 

j. Zu feinem Pigment kornig zerfallene Zelle des oberen Dorsalmarks, 
mediale Gruppe. 

6—8. Ganglienzellen des 4.Lumbalsegments, 6aus der medialen Gruppe 
mit Resten von Nisslsehollen, sonst wie 5. 7 dunkel sieh farbende Zelle der 
lateralen vorderen Gruppe mit Resten von Nisslsehollen. 8 benachbarte Zelle, 
aus einem Pigmenthauten bestehend. Kern undeutlich durchschimmernd. 

9. Kernlose, zu feinen Pigmentstaub zerfallene Zelle des Hypoglossus- 
kerns. 

10. Zelle aus dem Vaguskern, Reste von Nisslsehollen, viel Pigment. 

11. Zelle aus dem Faeialiskern, Kern am Rand, periphere Reste von Nissl- 
sehollen, im Zentrum Pigment. 

ment gefullt und es Ulsst sicli zeigen, dass die Zellen am so mehr davon 
entlialten, je weiter sie sich von dem Bilde der normalen Zelle entfernen. 
Leidlich der Form nach erhalten sind die Zellen des Seitenhorns. Dieses 
Verhalten ist hier auf der zuerst erkrankten Kbrperseite wohl stiirker aus- 
gepriigt als auf der anderen. Hier ist auch die Form des Vorderhorns 
cine etwas schm&lere, spitzigere. 

Im Halsmark finden sich die crwShnten BlutergOsse sehr zahlreich. 
Fig. 2 zeigt ein Stock des inittleren Halsmarks. Die vOllig unver- 
selirten roten Blutkbrperchen liegen in kleinen und grbsscren Gewebs- 
lucken, deren Riinder zerrissen und faserig orscheinen. Die Glia ist an 
den Randern nicht verdichtet. An einigen Stellen sind Gefasse sichtbar, 
die quer Oder schrag durchgerissen sind. Die Gefasswande zeigen ausser 
der genannten, hier und da aufzufindenden kyalinen Beschaft'euheit der Ad¬ 
ventitia keine pathologische Veranderung. Die Venen sind stark mit Blut 
gefollt, es zeigen sich nur wenige Leukocyten in den Gefassen und die- 
selben haben keine Randstellung inne. Zellige Infiltrate zeigen sich auch 
hier nirgends. Die Blutungen finden sich in den verschiedenen Hohen 
regellos zerstreut. Die LOcken im Gewebe der grauen Substanz lassen 
sich auf Nachbarschnitten weiter verfolgen, sie zeigen im weseutlichen 
einen der Langsachse des Marks parallelen Verlauf. Das Gewebe im 
Innern der grauen Substanz erscheint spongibs, die Fasern sind auseinander- 
gedrangt und an zahlreichen Orten finden sich, abgesehen von den erwahnten 
grbsseren Blutherdcn vereinzelte rote Blutkbrperchen im Gewebe. Sehr 
vereinzelte, aber nur kleine Blutungen finden sich auch in der umgebenden 
weissen Substanz des Cervikalmarks. 

Die Glia verhalt sich wie in den caudalen Teilen des ROckenmarks. 
Eine leichte Vermehrung ihrer Fasern tindet sich auch in der (legend der 
Pyramidenseitenstrange, die auf Marchipriiparaten dasselbe Bild darbieten 
wie im oberen Dorsalmark. 

Nach dem oberen Cervikalmark nehmen die Blntungen rasch ab 
und sind in der Hblie der Pyramidenkreuzung verschwunden. Die zer- 
streuten Faserdegenerationen lassen sich bis zur BrOcke hiuauf verfolgen. 

Leider war gerade in dem verliingerten Mark die Marchifltissigkeit, 
nur unvollkommen in das lange in Formol aufbewahrte Gewebe einge- 
drungen. Doch lilsst sich feststellen, dass in den austretendeu Wurzeln 
der Nn. hypoglossus, vagus und facialis deutliche Degenerationen vor- 


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230 


XIII. Hf.li.bach 


hamlen sin<I. Bern entspricht der Befund an den Zellen der dazu gehorigen 
Kerne: Zerfall der Nisslschollen his zur AuflOsung in Staub, AnfQllung 
mit Pigment, Randstellung des Kerns, Kernlosigkeit der Zelle. Diese Ver- 
iinderung ist im Hypoglossuskern hochgradig, in den beiden anderen Kernen 
in geringerem MaBe zu finden. Die Augenmuskelkerne zeigen. abgesehen 
von sehr starker Pigmentierung der Oeulomotoriuskernzellen. keine Ver- 
anderungen, ebensowenig die Wurzelfasern. 

Ventral von der cauilalen Hftlfte der Oeulomotoriuskerne taucht cine 



Fig. 2. 

Partie aus dcm mittleren Halsmark. Bei a Liicken im Gewebe der graueu Sub- 
stanz. b 2 kleine Gefasse mit Bluterguss. Bei c degenerierte, atrophiseke 
Ganglienzellen des medialen Vorderhorns. 

oval gestaltete Gruppe von kleinen Zellen auf, die dencn des Zentralkanals 
gleichen. Sie niihert sicli auf weiter frontal gelegenen Schnitten dorsal 
dem Aquaedukt, wahrend dieser, der sehr flach und buchtig gestaltet ist, 
ihr eine ventrale Auszackung entgegen sendet. Schliesslich vereinigen sicli 
die Zellen beider Gebilde, die ventrale Gruppe geht in den weiterhin wieder 
plattgedrftckt erscheincnden Aquaedukt liber. Wir haben liier also eine 
Art von Kecessus des Aquaedukts vor uns. 

Es wurden noch .Stilcke der Frontal-, Zentral- und Occipitalregiou 
untersucht; es findet sicli bier nichts Krankbaftes, abgesehen von einer 
leichten Pigmentierung der Zellen in der Zentralregion. 


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Zur Kenntnis der Riickenmarkserkrankungen nach Trauma. 231 

Fassen wir die histologischen Befunde zusammen, so finden wir 
zunachst die von der klinischen Untersuchung geforderte Erkrankung 
der Vorderhornganglienzellen. Die Erkrankung der Wirbelsaulen- 
muskulatur entspricht der Entartung der medialen Zellgruppen der 
Vorderhomsaule, die Beteiligung der Armmuskulatur, besonders der 
Hande, findet ibre Erklarung in der Erkrankung der Zellen der late- 
ralen Gruppen im Halsmark. Ebenso finden die bulbaren Symptome 
ibre Erklarung in den Erkrankungen der oben genannten Hirnnerven- 
keme. Was es mit der vom Patienten angegebenen Affektion der 
recbten Hand kurze Zeit nach dem Unfall far eine Bewandtnis 
hat, muss ich dabingestellt sein lassen. Ahnliche vasomotorische Er- 
scheinungen nach Trauma beschreibt Etienne als Tropho^deme chro- 
niqoe d’origine traumatique. Da dieser Zustand damals von keinem 
Arzt gesehen worden ist, kann man nichts Bestimmtes daruber aus- 
sagen. Die Veranderungen in den Pyramidenseitenstrangen kbunten 
ein "Obergehen des Krankheitsprozesses auf die Seitenstrange des 
Marks vermuten lassen. Doch geht es deshalb nicht an, von einer 
amyotrophischen Lateralsklerose zu sprechen, es fehlen klinisch die 
Spasmen und dauemde Erhohung der Patellarreflexe. Auch hatte das 
Babinskische Phanomen zu irgend einer Zeit auftreten mtissen. Die 
Degenerationen in der nachsten Umgebung der grauen Substanz sind 
uns als Ausdruck des Zugrundegehens von Eigenfasern des Rticken- 
marks verstandlicb. 

Was ist nun von den Blutungen zu halten? Ausnabmslos sind sie 
frisch, Reste frfiherer Blutungen, Blutpigment, Infiltrate, sind nirgends 
zu finden. Da das Riickenmark beim Herausnebmen leider nicht 
unversehrt geblieben ist, mogen die Blutungen wohl zum Teil arte- 
fizieller Natur sein. Doch ist anzunehmen, dass der Patient einer 
Atmungslahmung erlegen ist; es ist moglich, dass die Blutungen zum 
Teil agonale sind, ahnlich wie in einem Falle von Bielschowsky. 
Dass sie fur den Krankheitsprozess keine Bedeutung gehabt haben, ist 
wohl sicher, da sie fruhstens kurz vor dem Tode entstanden sein konuen. 

Es fehlen bei unserem Falle alle Zeichen von Entziindung, viel- 
mebr haben wir nur den Eindruck einer langsam fortschreiteudeu Ent¬ 
artung der motorischen Kerne. Wir konnen die Veranderungen in 
den Vorderhornern darum auch nicht als poliomyelitische auffassen. 
Eher ware ein Ausdruck Kienbocks, Poliomyelatrophia am Platze. 

Uns interessiert hier das Vorangehen des Traumas vor der Er- 
krankung. Stehen beide in einem Zusammenhang? Nehmen wir das 
an — und Unfall und Erkrankung liegen zeitlich so nahe zusammen, 
dass der Zusammenhang sehr wahrscbeinlich ist —, so hat das Trauma 
eutweder die Krankheit bei einem vorher gesundeu Menschen erzeugt. 


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232 


XIII. Hei.luacii 


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oder es hat sie nur ausgelost, ihren Ausbruch begtlnstigt bei einem 
schon dazu disponierten Individuum. Kienbock hat die alteren Falle 
gepriift und kommt zu dem Resultat, dass es sich dabei entweder um 
stationar werdende Folgezustande von traumatischen Ruckenmarks- 
lasionen handelt, die mit der progressiven spinalen Muskelatrophie eben 
nicht das Fortschreiten gemeinsam haben, oder um Falle, in denen das 
Trauma nur ein auslosendes Moment flir die schon gewissermassen 
latente Erkrankung bildete. Er verlangt Falle, bei denen sofort nach 
dem Uufall bei vorher gesunden Meuschen krankhafte Veranderungen 
einsetzen, die den progressiven Verlauf jener Rtickenmarkserkrankung 
nebmen. Es mochte wohl schwer sein, nacbzuweisen, ob im einem 
in Frage kommenden Falle der Betreffende zu der ausgebrochenen 
Krankheit disponiert war, oder nicht. Vielleicht lassen sich Falle von 
progressiver spinaler Amyotrophie, die durch Trauma allein verursacht 
sind, Qberhaupt nicht beobachten. 

Auch die neueren Beobachter nehmen meist eine vorhandene 
Disposition an. Ich nenne die Beobachtungen von Pagenstecher, 
von Tetzner, sowie die Arbeit von Mendel. Ob in unserem Falle 
eine Disposition bestanden hat, konnen wir nicht sagen. Dass das 
Nervensystem des Patienten in gewissem Sinne mangelhaft ausgebildet 
ist, dafGr spricht vielleicht das Vorhandensein der kleinen kongenitalen 
Missbildung am Aquaedukt. Curschmann erwahnt in seiner Arbeit 
iiber die Atiologie der SyriDgomyelie die Beobachtung Schlesingers, 
der in einem Drittel seiner Syringomyeliefalle Missbildungen des 
Zentralkanals findet. Wir sind auf das Yorkommen solcher an- 
geborenen Veriinderungen im Nervensystem aufmerksamer geworden, 
seit sie uns als ein Hinweis auf eine mangelhafte Anlage des Systems 
erscheinen und dieser hat ja Edinger eine grosse Bedeutung bei der 
Entstehung progressiver Spinalleiden zugewiesen. 

Dass in unserem Falle das Trauma Gegenden des Nervensystems 
betroften hat, deren Zellen zur Zeit gerade in anstrengender Tatigkeit 
begritfen waren und liberhaupt wohl infolge des Berufes des Patienten 
angestrengt waren, kbnute wohl ebenfalls in Edingers Sinne auf- 
gefasst und verstanden werden, dass schon normale, besonders aber 
kongenital minderwertige Teile des Nervensystems durch anstrengen- 
den Gebrauch „aufgebraucht“ werden konnen. Ein Trauma, das auf 
einen dergestalt vorbereiteten Boden trifft — vollends bei einem alteren 
Individuum — kann also wohl imstande sein, auf die Vorderhornzellen 
so einzuwirken, dass sie einem progressiven Untergange verfallen. 
Dass zu nachweisbaren, wenn auch feiuen Veriinderungen an Ganglien- 
zellen durcbaus nicht so starke Erschiitterungen des Ruckenmarks nbtig 
sind, wissen wir ja seit den Versuchen von Schmaus. 


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Zur Kenntnis der Kuckenmarkserkniukun^ren uadi Trauma. 


2:;3 


Literatur. 

li Bielschowskv, Zur Histologic der Poliomyelitis ant. cliron. Zeitschr. 
f. klin. Medizin. Bd. 37. Heft 1/2. 

2j Curschmann, H., Beitr. zur Atiologie und Symptomatologie der Sy¬ 
ringomyelic. Deutsche Zeitschr. f. Nerveuheilkde. Bd. 29. 

3) Edinger, Die Aufbrauehkrankheiten des Nervensystems. Deutsche 
med. Wochensehr. 19* >4. 45. 49. 52; 1905. 1. 4. 

4) Erb, Zur Lehre von der Unfallerkrankung naeli Trauma. Deutsche 
Zeitschr. f. Nerveuheilkde. Bd. 11. 

5> Etienne, Des trophoedcmes chronitpies d’origine traumatique. Nouv. 
Iconogr. de la Salpctriere. 19<>7. No. 2. (Kef. im Neurol. Zentralhlatt 190s. 
Nr. 19.) 

0) Kienbock, Progr. spin. Muskelatrophie u. Trauma. Monatsschr. f. Un- 
fallheilkde. 1901. Nr. 11. 

7) Mendel, K., Der Unfall in der Atiologie der Nervenkrankhciten. Berlin 
1908. Karger. 

Sj Pagenstec h e r, 3 Falle von posttraumat. chron. spin. Amyotrophic 
usw. Monatsschr. f. Unfallhcilkunde 19*i.5. Nr. 1. 

9) Schmaus, Beitr.z. path. Anatomic der Kuckenmarksersc hutterung. Vircli. 
Arehiv 1890. 122. S. 320. 

10) Tetzner, Spinale progressive Muskelatrophie naeli Trauin. Arztl. Sacli- 
verstand.-Zeitung 19* *7. Nr. 1. 


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XIV. 

Znr Kasnistik der Bleil&hmung. 

Ein Beitrag zur Edingerschen Aufbrauchtheorie. 

Von 

Dr. Ludwig Teleky-Wien. 

Privatdozent fur soziale Medizin. 

(Mit 11 Abbildungen.) 

Edinger hat im Jahre 1894 (Volkmanns Sammlung klinischer 
Vortrage Nr. 106) „eine neue Theorie fiber die Ursacben einiger Nerven- 
krankheiten, insbesondere der Neuritis und Tabes" entwickelt, die das 
Entstehen bestimmter Nervenkrankheiten, vor allem aber ihre Lokali- 
sation dadurch erklaren wollte, „dass unter bestimmten Umstanden 
den normalen Anforderungen, welche die Funktion stellt, nicht ein 
entsprechender Ersatz innerhalb der Gewebe gegenfiberstehe". In 
einem weiteren Aut'satze (Deutsche mediziuische Wochenschrift 19<>4) 
und in einer vor kurzem erschienenen Schrift: „Der Anteil der Funktion 
an der Entstehung der Nervenkrankheiten" (Wiesbaden 1908) hat er 
diese Theorie weiter ausgebaut, reichhaltiges Material zu ihrer Be- 
grfindung beigebracht, ihre Anwendbarkeit auf die verschiedensten 
Arten nervoser Erkrankungen dargelegt und sich so bemfibt, eine 
Theorie zu schaffen, die manche scheinbar ganzlich von einander ver- 
schiedene Krankheitsforraen von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus 
zu betrachten gestattet. Er kann daher wohl mit Recht als der Be- 
grunder dieser Theorie angesehen und diese Theorie nach ihm benannt 
werden, wenn auch — wie er selbst in den beiden letzterwahnteu 
Aufsatzen erwahnt — andere vor ihm iihnliche Anschauungen, sei es 
mit Hinweis auf einzelne bestimmte Falle, sei es fiir einzelne Gruppen 
von Erkrankungen, geaussert haben. 

Speziell ffir die Erkliirung der Lokalisation der haufigsten toxieo- 
professionellen Neuritis, der Bleilahraung, ist schon von mannigfacheu 
fruheren Autoren auf die Bedeutuug hingewiesen worden, die der 
Funktion, der Anstrengung (dem, was Edinger als den durch die 
Funktion bedingten Aufbrauch nennt), fiir die Entstehung und Lo¬ 
kalisation der Bleilahraung zukommt. 

Mor. Meyer snete in der Sitzung der Berliner niedizinisch-psycho- 
logisclien Gesellschaft vom 5. 1. 1S74. dass man. was die Blcilahmung an- 


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Zur Kasuistik tier Bleilahmung. 


235 


lange, doch darauf zurttckkommen mttsse, „dass die angestrengtesten Mus¬ 
keln doch diejenigen sind, die zuerst and am meisten gelahmt werden". 

Erwahnt sei hier noch, dass Remak 1875 darauf hingewiesen, „dass 
von der Bleilahmung nacheinander funktionell zusammengehorige Muskel- 
gruppen ohne Rttcksicht darauf befallen werden, in welchen peripherischen 
Nervenstammen ihre motorischen Nerven verlaufen“. 

Mobius (Uber einige ungewbhnliche Falle von Bleilahmung. Zentral- 
blatt fQr Nervenheilkde., 9. Jahrg. 1886, Nr. 1, S. 11 und 12) schreibt: 
..Es drhngt sich die Erwagung auf, ob etwa der gewOhnliche Typus der 
Bleilahmung sich dadurch erklaren lasse, dass im Durchschnitt die Strecker 
der Finger und der Hand die am meisten angestrengten Muskeln sind, ob 
es als allgemeines Prinzip gelten kttnne, dass bei Bleilahmungen Oder bei 
Lahmungen infolge chronischer Vergiftungen Qberhaupt die am meisten 
angestrengten Muskeln zuerst erkranken. Eine sichere Beantwortung dieser 
Frage wttrde nur moglich sein, wenn wir wttssten, welche Muskeln im ge- 
wohnliehen Leben, d. h. bei der Mehrzahl der Hantierungen, am meisten 
angestrengt werden. Die Anstrengung eines Muskels ist olfenbar aus- 
gedrftckt durch das Verhaltnis der Leistung zur Kraft. Wenn 
auch eiu MaB der Leistung schwer zu finden sein dttrfte, so wttrde sich 
doch vielleicht eine Schatzung derselben fttr eine Reihe von Tatigkeiten 
durchflihren lassen. Zunachst aber mttsste die Kraft der einzelnen 
Muskeln bestimrat werden. Diese Aufgabe ist, soviel mir bekannt, fttr 
die Muskeln des menschlichen Yorderarms noch nicht durchgeftthrt.“ 

.„Aber auch dann, wenn angenommen wird, dass noch Um- 

stande, die uns bis jetzt entgehen, zu berttcksichtigen sind, dttrfte die 
Hypothese, dass in der Hauptsache die Lokalisation toxischer Lahmungen 
von der Funktion der Muskeln abhangt, bis auf weiteres nicht zu wider- 
legen sein.“ 

Vierordt sagt (Zur Frage vom Wesen der Bleivergiftung. Archiv f. 
Psychiatrie und Nervenkrankheiten. 1887, 18. Bd., S. 57): „ Vielleicht dass 
in Zukunft der bisher vergeblich gesuchte exakte Nachweis geftthrt werden 
wird, dass die bei der Bleilahmung erkrankenden Muskeln jedesmal die 
verhaltnismassig am meisten arbeitenden sind." 

Einzelne Autoren (Jaksch, Nothnagels Handbuch, 1. Bd.; Rambou- 
sek, tJber die Verhtttung der Bleigefahr, Wien 1908) gehen so weit, diese 
nur fttr das Nervensystem ausgesprochenen und wohl nur fttr dieses gel- 
tenden Anschauungen zu verallgemeinern, dahin, „dass immer jene Teile des 
Organismus in erster Liuie befallen werden, welche durch vorausgegangene 
Erkrankungen, starke Inauspruchnahme durch die Beschaftigung bereits 
geschadigt oder geschwacht erscheinen“. Ein Satz, der schon deshalb, 
weil in der weitaus ttberwiegenden Mehrzahl der Falle Erscheinungen von 
seite des Verdauungstraktes alien Qbrigen vorangehen, wohl kaum An- 
spruch auf ernste Uberprttfung machen kann. 

Im Folgenden aber soil der Versuch gemacht werden, den von 
Vierordt und Mobius gewOnschten Beweis, den verschiedene Autoren 
(Remak) fQr einzelne Falle durchgefubrt, den Edinger fttr die An- 
streicher begonnen, und zu dessen Durchfiihrung bei anderen zu Blei¬ 
lahmung disponierenden Gewerben er aufgefordert hat, an einem 
grosseren Material tatsiichlich zu fiihren. 


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XIV. Tkeeky 


Es ware vielleicht verlockend erschienen, aus der so reickhaltigen 
Literatur liber Bleilahmung diese Beweisflihrung zu versuchen, und 
gewiss liessen sich hier manche Falle finden, die mit aller Klarheit 
den Zusammenhang zwischen Funktiou und Lahmung darlegen. Fur 
die grosse Menge der Falle aber ware eine solche Beweisflihrung nicbt 
moglich gewesen, weil raanchmal die Bescbreibung der Lahmung 
mangelhaffc ist, fast stets aber nahere Angaben iiber die Art der Tatig- 
keit fehlen, da ja die einfache Bezeichnung „Maler“, „Topfer“ usw. 
haufig zu wenig sagt, um daraus exakte Schltisse auf die Handhaltung 
usw. ziehen zu konnem 

Aus dem grossen Material aber die wenigen wirklich brauchbareu 
Falle herauszuheben und an ihnen den Beweis zu fuhren, das erscheint 
deshalb niclit am Platze, weil ja dann immer die Vermutung nicht 
von der Hand zu weisen ware, dass es eben nur wenige von den so 
zahlreicben publizierten Fallen sind, bei denen die Beweisflihrung im 
Sinne der Edingerschen Theorie gllickt. Ich habe es deshalb fur 
den besseren Weg gehalten, mich im Folgenden auf mein eigenes, ja 
ziemlich reichhaltiges Material (iiber 40 Falle von Bleilahmung) zu 
beschranken. 

Als Spezialarzt fiir Gewerbekraukheiten beim Verband der Ge- 
nossenschaftskrankenkassen und der allgemeinen Arbeiterkranken- und 
Unterstiitzungskasse in Wien, die zusammen ca. 300000 Mitglieder 
ziihlen, werden mir von den Bayonsarzten zahlreiehe Falle von ge- 
werblichen Vergiftungen zugewiesen, und auch der Spezialarzt fur 
Nervenkraukheiten dieser Kassen, Doz. Erben, hatte die Liebenswtirdig- 
keit, Fiille von Bleiliilimungen an mich zu weisen; so stromt ein recht 
grosses Material von Bleivergiftungen und auch von Bleilahmungen bei 
mir zusammen, und ich will nun versuchen, die vom 1. November 19<»5 
(dem Tage, an dem ich die envahnte Stelle antrat) bis 1. Januar I9u9 
in meine Beobachtung gelangten Fiille im Sinne der Edingerschen 
Theorie zu prtifen; die Literatur werde ich nur insoweit heranziehen, 
als es eben im Rahmen der Betrachtung meines Materials angezeigt 
erscheint. 

Ehe wir aber auf die Einzelfalle eingehen, wollen wir versuchen, 
eiue Erklarung fiir jeue Liihmungserscheinungen zu geben, 
die sich fast bei alien Bleilahmungen immer von neuem 
wiederholen und der Bleilahmung ja ihr charakteristisches Bild 
geben: die Lahmung der Strecker der Hand und der Finger, also der 
vom Radialis versorgten Muskeln des IJnterarmes, bei Freibleiben des 
Muse, brachioradialis. 

Wollen wir dem bereits von Mobius so klar vorgezeichneten 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


237 


Wege bei unsereu Untersuchungen folgen, so mtissen wir zunachst 
versuchen, einen wenigstens annahernd richtigen MaBstab, weuig- 
stens annahernd richtige Angaben fiber die jedem Muskel oder jeder 
Muskelgruppe innewohnende Kraft, fiber die Leistungsfahigkeit der 
uns interessierenden Muskeln und Muskelgruppen zu erhalten. 

Wir werden hierbei zunachst auf die Anatoraie und Physiologie 
der Vorderarm- und Handmuskulatur eingehen mfissen und werden 
dann Hand und Finger in der Ruhelage sowie bei der Arbeit be- 
obachten mfissen. 

Da nach einem physiologischen Gesetz die Kraft eines jeden Mus¬ 
kets — und mit ihr auch die einem jeden Muskel innewohnende 
Leistungsfahigkeit — proportional ist dem Volumen seiner Mus- 
kelsubstanz, so erhalten wir einen annahernd richtigen MaBstab ffir 
den Vergleich zweier oder mehrerer Muskeln, wenn uns das Volumen 
der Muskelsubstanz dieser Muskeln bekannt ist, oder uns wenigstens 
bekannt ist, in welchem Verhaltnis die Volumina dieser Muskeln (bei 
Berficksichtigung nur der eigentlichen Muskelsubstanz unter Ausschluss 
von Sehne, Fett usw.) zu einander stehen. Da wir das spezifische Ge- 
wicht der Muskeln als annahernd gleich aDsehen konnen, so konnen 
wir an Stelle des Volumens der Muskelsubstanz auch ihr Gewicht 
setzen. Da fibrigens sich das spezifische Gewicht des Muskelgewebes 
von dem des Wassers nicht erheblich unterseheidet, kann man das Ge¬ 
wicht der Muskelsubstanz in Grammen annahernd gleichsetzen ihrem 
Volumen in Kubik/.entimetern. 

Wir werden also einen vergleichsweisen MaBstab ffir die Leistungs¬ 
fahigkeit verschiedener Muskeln dann haben, wenn uns bekannt ist, 
wie sich die Gewichte ihrer Muskelsubstanz zu einander verhalten. 
Derartige Angaben aber fiber die Arm- und Handmuskulatur finden 
sich — soweit wir ermitteln konnten — in der anatomischen Litera- 
tur nur bei Aeby: „Die Muskeln des Vorderarms und der Hand bei 
Saugetieren und beim Meuschen “ (Zeitschrift ffir wissenschaftliche 
Zoologie. Bd. 10. 1860) und bei F. Frohse und M. Fraenkel: „Die 
Muskeln des menschlichen Arms u (Bardelebens Handbuch der Ana- 
tomie. Fischer, Jena 1908). 

Aeby hat bei einer grossen Anzahl von tierischen Vorderextremi- 
taten, bei 2 Kinderarmen und 2 Armen von erwachsenen Meuschen 
das Gewicht der Muskelsubstanz der einzelnen Muskeln bestimmt und 
hat — indem er die Gesamtmuskulatur der oberen Extremitat (ohne 
Schultermuskeln) = 100 setzte, festgestellt, welclier Anteil an der Gesarnt- 
masse der Muskulatur bei jeder Tierspezies dem einzelnen Muskel 
zukommt, wobei er beim Kind und beim erwachsenen Menschen aus 
den beiden von ihm untersucliten Fiillen den Durchschnitt berechuete. 


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238 


XIV. Tki.eky 


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Frohse u. Fraenkel haben zu ihren Untersuchungen die beiden 
Arme eines muskelschwachen Weibes und die eines kraftigen Mannes 
gewahlt und auch den Durcbschnitt aus den erbaltenen Zahlen be- 
recbnet. Die Differenzen, wenigstens in den absoluten Zahlen zwischen 
diesen Armen, sind sehr grosse und auch zwischen den Relativzahlen 
finden sich nicht unbedeutende Unterschiede. Wir haben desbalb und 
weil flir unsere weiteren Betracbtungen fast ausschliesslich mehr oder 
weniger kraftige Mannerarme in Betracht kommen, und zwar vor- 
wiegend der rechte Arm, uns darauf beschrankt, nur die auf den 
rechten kraftigen MannerarmbezUglichen Angaben Frohse-Fraenkels 
hier zu verwerten und im Texte wiederzugeben. Wir haben, um ein 
iibersichtliches Bild der Machtigkeit der einzelnen Muskelgruppen zu 
geben, auch hier — nach dem Beispiele Aebys — berechnet, welcher 
prozentuale Anteil den einzelnen Muskeln an der Oesamtmuskulatur 
des Arms zukommt, und sehen dabei, dass sich zwar einzelne Diffe- 
renzen zwischen den von Aeby und Fiohse-Fraenkel ermittelten 
Zahlen finden, dass sie aber im wesentlichen doch dieselbeu Verhalt- 
niszahlen ergeben. Wenn auch die Verhaltniszahlen ffir unsere Be- 
trachtungen besonders wichtig sind, lassen wir auf sie doch in Tabelle I 
auch die absoluten Zahlen Frohse-Fraenkels folgen. Auf diese 
folgen dann die von Aeby gefundenen prozentualen Durchschnitts- 
werte fur die Muskulatur des kindlichen Arms. Dabei haben wir es 
ftir unsere Zwecke fur praktischer gehalten, nicht stets den Wert fur 
die einzelnen Muskeln in unsere Tabelle aufzunehmen, sondern die durch 
Addition ermittelten Werte fur die funktionell zusammengehorenden 
Muskelgruppen. 

Bei der Zusammenfassung der einzelnen Muskeln zu solchen funk¬ 
tionell zusammengehorigen Muskelgruppen, ebenso wie im weiteren 
bei den Angaben fiber die Funktion der einzelnen Muskeln und Mus¬ 
kelgruppen sind wir in erster Linie dem grundlegenden Werke G. B. 
Duchennes, Pbysiologie der Bewegungen nach elektrischen Versuchen 
und klinischen Beobachtungen mit Anwendung auf das Studium der 
Lahmungen und Entstellungen, Obersetzt von C. Wernicke, Cassel 
u. Berlin 1885, gefolgt und haben dabei die Korrekturen der Angaben 
dieses Autors (die Frohse und Fraenkel teils nach anderen Autoren 
briugen) berficksichtigt. Auch die von R. du Bois-Reymond in 
seiner „Speziellen Muskelphysiologie oder Bewegungslehre“, Berlin 1903, 
geinachten Angaben fanden, soweit sie auf von den anderen Autoren 
nicht heachtete Momente aufmerksam machen, Berficksichtigung. Hin- 
gegen haben wir von einer Berficksichtigung der nach Braune und 
Fischers Angaben auch von du Bois-Revmonds vertretenen An- 
sicht, dass manche der die Hand und Finger bew r egenden langen Mus- 


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Zur Kasuistik der Bleilahmuug. 


239 


keln auch auf das Ellbogengelenk wirken, abgesehen, da dadurch 
manche unserer Fragen noch komplizierter geworden waren, ohne 
dass — da wir nicht wissen, vvie weit diese Wirknng auch unter phy- 
siologiscken Verhaltnissen in Erscheinung tritt — eine grossere Ge- 
nauigkeit fur unsere Darlegungen gewonnen worden ware. 

Aus den in der Tabelle (S. 239) enthaltenen Zahlen ergibt sich: 

Die Masse der Beuger (25,3) und Strecker (26,2) des Unterarms ist 
sehr gross. 1 ) Ebenso ist — da einer der kraftigen Beuger des Unter¬ 
arms (Biceps) auch als Supinator fungiert — die der Supination 
dienende Muskelmasse sehr gross (42,2). Sehr klein, kleiner oder 
ebenso gross wie die Masse der Fingerstrecker ist die der Prona- 
toren (3,4). Die Strecker der Hand selbst (6,1) sind um nicht Unbe- 
deutendes kraftiger als die Beuger (4,4). 

An Masse relativ sehr gross ist der M. brachioradialis (4,9), 
der nur um ca. 20 Proz. weniger Masse hat als samtliche Hand- 
strecker zusammen. Dieser Muskel, der frUher als Supinator an- 
gesehen wurde (M. supinator longus), dann bei Duchenne als Pronator 
gilt, wird heute von vielen Autoren, darunter Frohse-Fraenkel, als 
reiner Beuger angesehen. 

Auffallend ist die geringe Leistungsfahigkeit der langen 
Extensoren der Finger (3,1), besonders wenn wir sie mit der ge- 
waltigen Masse der langen Beuger (11,1) vergleichen. Doch sei gleich 
hinzugefogt, dass diese Gruppen nur in geringem MaUe Antagonisten 
sind, da die langen Strecker vorwiegend auf die ersten, die langen 
Beuger auf die zwei letzten Phalangen der Finger einwirken (nur unter 
bestimmten Umstanden auch auf die ersten Phalangen). Zwischen 
diese beiden Muskelgruppen schieben sich — als Antagonisten jeder 
von beiden — die Mm. interossei und lumbricales mit den Muskelu 
des Antithenar (3,1) ein. Diese Muskeln beugen die ersten, streeken 
die beiden letzten Phalangen und vollfiihren die Spreizung und Wieder- 
vereinigung der Finger. 

Am Danmen kommt eine ganz eigenartige Stellung dem Ab¬ 
ductor pollic. longus zu, er ist der stiirkste siimtlicher Dauuien- 
muskeln (1,34), er steht in seinen Funktionen einerseits dem Extensor 
poll, brevis, andererseits den Oppositionsmuskeln des Thenar nahe. 
Die laugen Strecker des Daumens (Extensor pollic. longus und brevis) 
sind vereint nur etwas mehr als halb so stark (0,77) wie der Abductor 
longus, der sie bis zu eiuera gewissen Grade in ihrer Wirkung unter- 
stiitzt, wahrend der Flexor longus starker als dieser ist (1,53). Zwischen 

1) Wir fiihren bier die aus Frollse - Fraenkels absoluten Zahlen von uns 
berechneten Relativzahlen an. 

Deutsche Zeitsehrift f. N'erveuhcilkuude. 37. 1M. Id 


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240 


XIV. Tei.eky 


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Tabelle 1. 



Erwachsener 
Relativ- Gesamt* 

zahlen muskulatur 

des Arms = 100 
nach nachFrohse- 

Aeby Fraenkel 

absolute 
Zahlen nach 
Frohse- 
Fraenkel ! 

Kind 

Relativ- 

zahlen 

nach 

Aeby 

8trecker des Unterarms: 

! 


i 


(M. triceps u. anconeus) 

27,3s 

1 

20,2 

405,7 

25,87 

Beuger des Unterarms: 





M. biceps 

11,50 

10,7 

105,5 

7,76 

M. brachialis 

12,3 

9,7 

150 

8,82 

M. brachioradialis 

5,80 | 

4,9 

77 

2.S0 


29,33 

25,3 : 

392,5 

19,47 

Bewegcr des Unterarms 

5(5,71 

i 

51,5 

798,2 


Supinatoren: 





M. biceps 

11,50 

10,7 

165,5 

7,76 

M. supinator 

1,73 

1,5 

24 , 

3,01 


13,23 

12,2 

189,5 

10,77 

Pronatoren: 

! 




(M. pronat. teres et qua- 





drat.) 

2,98 

| 3,4 

53 

4.31 

Streeker der Hand 

(5,89 

0,1 

95 

7,75 

Beuger der Hand 

5,21 

4,4 

(58,5 

J 4,91 

Lange Strecker der 





Finger 

3,52 

3,3 

: 51,5 

5.48 

Lange Beuger der 





Finger 

13,10 

! 11,1 

171,5 

16,31 

Mm.intero.ssei et lumbric. 

2,05 

| 2,4 

i 3(5,75 

4,21 , 

et antithenar 

0.88 

! 0,7 

11,30 

1,71 1 


3,53 

3,1 

48,05 

5,92 

Extensor poll, longus et 





brevis 

0,77 

1," 

15,5 

1,15 

Abductor poll, longus 

1,34 

1.2 

1 18,5 

1.53 


2,11 

2 2 

34.0 

1 2.08 

Flexor poll, longus 

1,53 

1,10 

22,5 

^ 1,75 

Abductor poll, brevis 


0,5 

8,5 


Flexor poll, brevis 


0,4 

6,0 


< )pponens pol lie. 


0,0 

9,5 ! 

2,SO 



1,5 

; 24 >° i 


Adductor poll, brevis 


l.o 

16 


Thenar 

V) O • 

2,5 

40,0 i 



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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


241 


Strecker und Beuger schieben sich — als teilweise Antagonisten bei- 
der — die Thenarmuskeln ein (2,23), deren einzelnen Abschnitten ganz 
verschiedene und in manchem Sinne entgegengesetzte Funktionen zufallen 
(Abduktion und Opposition 1,5, Adduktion 1,0). 

Als Muskeln von besonderer Leistungsfahigkeit erscheinen 
uns also die Beuger und Strecker des Unterarmes, die Beuger 
der Finger, schliesslich auch die Suppinationsmuskeln. Sebr 
wenig leistungsfahig erscheinen die langen Fingerstrecker, 
denen an Masse die kleinen Handmuskeln gleicb kommen und die 
Pronationsmuskeln. Am Daumen erscheint neben dem langen 
Beuger der Abductor poll, longus am leistungsfahigsten. Die an sich 
kraftige Thenarmuskulatur zerfallt funktionell in verschiedene Gruppen, 
so dass die schliesslich sich ergebenden Differenzen zwischen den 
einzelnen die gleiche Funktion zusammenfassenden Muskelgruppen 
geringer sind, als wir sie bei den Ubrigen Fingern gefunden haben. 

Bemerkt sei hier noch ausdrucklich, dass wir bei dieser Betrach- 
tung der Muskeln nur ein Bild ihrer ideellen Leistungsfahigkeit er- 
halten, dass wir aber — und darauf hat bereits Aeby hingewiesen — 
nicht wissen, in welchem Verhaltnis sich dieselbe auf Hubhohe und Hub- 
kraft verteilt; auch geht bei dem mangelnden Parallelismus der Muskel- 
fasem nicht selten ein betrachtlicher Teil der Zugkraft verloren, und 
schliesslich wird die Kraft, mit der ein Muskel zu wirken imstande ist, 
auch im starksten MaBe von den physikalischen Verhaltnissen, unter 
denen er wirkt, z. B. von der Lange des Hebelarmes, an dem er an- 
greift, beeinflusst. 

Nun kommt es aber in unserem Falle nicht auf die Leistungs¬ 
fahigkeit an sich an, sondern darauf, wie sich die Leistungsfahig- 
keitzu der tatsachlich beanspruchten Leistung verhalt, bis zu welchem 
MaBe die Leistungsfahigkeit eines jeden Muskels bei bestimmten, haufig 
gelibten Verrichtungen in Anspruch genommen wird. 

Wir mussen demnach zuerst versuchen festzustellen, inwieweit 
bei verschiedenen Arbeitsverrichtungen die Muskeln in Anspruch ge¬ 
nommen werden, welche Leistungen von den einzelnen Gruppen von 
Muskeln bei der Arbeit oder bei verschiedenen Arten von Arbeit ver- 
langt werden. 

Ebensowenig, wie wir imstande waren, ein absolutes MaB ftlr die 
Leistungsfahigkeit der einzelnen Muskeln zu gewinnen, ebensowenig 
sind wir imstande, ein absolutes und zuverlassiges MaB ftir die Arbeits- 
leistung der einzelnen Muskeln bei bestimmten Verrichtungen anzu- 
geben; wir sind nur imstande, die Arbeit, die bei einzelnen Verrich¬ 
tungen (oder Gruppen von Verrichtungen) von bestimmten Muskel¬ 
gruppen geleistet wird. dadurch ungefahr zu schatzen, dass wir sie mit 

10 * 

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242 


XIV. Tet.eky 


der von anderen Muskelgruppen zu leistenden Arbeit oder mit der von 
denselben Muskelgruppen bei anderen Verrichtungen zu leistenden 
Arbeit vergleichen. 

Um fiber die den einzelnen Muskelgruppen zugemutete Leistung 
auch nur ein ungefabres Bild zu erhalten, mfissen wir Arm und Hand 
in der Ruhe und bei der Arbeit beobachten und die Rolle. die Arbeits- 
leistung, die den einzelnen Muskelgruppen zufallt, zu schatzen suchen. 

Was die Muskeln anbelangt, die den Hnterarm im Ellbogen- 
gelenk strecken und beugen, so sei hier nur darauf hingewiesen, 
dass bei jeder schweren Arbeit sie eine besonders grosse Rolle 
zu spielen haben, dass aber bei alien feinen manuellen Al¬ 
beit en, bei alien Arbeiten, die eine differenzierte Tatigkeit der 
einzelnen Finger verlangen, die ihnen zugemuteten Leistungen nur 
geringe sind. 

Der Vorderarm befindet sich in derRuhelage stets in starker 
Pronationsstellung. Nur bei wenigen Verrichtungen muss die Pro¬ 
nation noch verstarkt werden, hingegen verlangen gerade eine ganze 
Reihe gerade grobster Arbeiten, z. B. Heben von Lasten, Schaufeln, 
ein Aufgeben dieser Pronationsstellung und ein Feststellen der Hand 
in der Supination. An die Supinationsmuskeln werden also bei 
grober Arbeit die grossten Anforderungen gestellt werden — sie sind 
auch entsprechend kraftig entwickelt. Die PronatioDsmuskeln hingegen, 
die schon vermoge ihres normalen Tonus die Hand in Pronation ffihren, 
werden nur bei wenigen Arbeiten zur Verstarkung der Pronation, zum 
kraftigeu Zurfickfuhren der supinierten Hand in die Pronotion benotigt. 
Solche relativ seltene Arbeiten, bei denen die Pronationsmuskeln starker 
angestrengt werden, sind: das Einschrauben einer Schraube mittelst 
Schraubenziehers, das Giessen aus einem Gussloffel u. dgl. Die meisten 
irgendwie feineren Arbeiten werden mit dem zu bearbeitenden 
Gegenstande von oben uud seitlich genaherter Handtlache ausgefQhrt, 
also in einer Stellung, die der Ruhelage der Pro- und Supi- 
natoren y.iernlich nahe kommt. Pro-und Supinatoren werden hier 
nieht wie bei den oben erwiihnten Verrichtungen die Hauptarbeit zu 
leisten haben, sondern ihre Aufgabe ist nur, kleine Bewegungen um 
die Ruhelage auszutuhren, vor alien) aber die Vorderarmknochen in 
der fur die Arbeitsleistuug der Hand vorteilhaftesten Stellung zu fixieren. 
Aus diesen Ausfiihrungen ergibt sich also, dass so wie die Muskel- 
masse der Prouatoren verglicheu mit der der Supinatoren uud der 
iibrigeu llandmuskeln auch relativ geriug, so auch die ihnen zuge- 
inutete Anstrengung eine relativ geringe ist; der grossen Mus- 
kelmasse der Supinatoren wild eine allerdings grosse Arbeit aber uur 
bei grobster und sckwerster Arbeitsverrichtung zugemutet. 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


243 


Was nun die Handstrecker und Handbeuger anbelangt^ so 
seben wir sowohl beim Kinde als auch beim Erwachsenen — wenn 
wir durch Auflegen der ulnaren Seite des Arms und der ulnaren Kante 
der Hand die Wirkung der Schwerkraffc mOglichst ausschalten — die 
Hand in der Ruhelage eine massige Dorsalflexion einnehmen, die 
WirkuDg der Extensoren die der Flexoren tiberwiegen. Doch ist dies 
t’berwiegen der Extensoren infolge ihres Tonus nur ein so geringes, 
dass es bei wagrecht vorgestrecktem Arme keineswegs die Wirkung 
der Schwerkraft auf die Hand auszugleichen vermag. Bei der haufigen, 
bei alien irgendwie feineren Arbeiten ausschliesslich in Betracht. 
kommenden Handstellung in Pronation ist, soweit diese Arbeiten nicht. 
bei gebeugtem Handgelenk ausgefiihrt werden konnen, eine An- 
strengung der Strecker schon allein zur Dberwindung der 
Schwerkraft notwendig. Bei gebeugtem Handgelenk aber konnen 
schon deshalb nur wenige Arbeiten ausgefiihrt werden, weil kraftige 
und voile Wirkung der Fingerbeuger nur moglich ist bei dorsalflek- 
tierter Hand, weil die Handstrecker die Synergisten der bei 
weitem kraftigsten und bei weitem am haufigsten in Aktion 
gesetzten Fingermuskeln, der langen Fingerbeuger, sind. Hingegen 
ist die Arbeit, die die Flexoren der Hand zu verrichten haben, eine 
verhaltnismassig geringe: Der Schwere der Hand haben sie nur bei 
den oben erwahnten in voller Supination der Hand ausgefiihrten 
schweren und- groben Arbeit entgegenzutreten; bei gebeugtem Hand¬ 
gelenk werden aus dem oben angegebenen Grunde nur verhaltnismassig 
wenig Arbeiten verrichtet; die Handbeuger sind ausserdem Synergisten 
der Fingerstrecker, die an Kraft ja so weit hinter den Fingerbeugern 
zuriickbleiben. Ihre Hauptfunktion ist es demnach wohl, als Syner¬ 
gisten der Handstrecker zu fungieren, denen bei Bewegungen des Hand- 
gelenks die Hauptrolle zufallt. 

1st so schon die Tatigkeit der Handstrecker eine bei weitem hiiu- 
figere und anstrengendere als die der Handbeuger, so kommt noch 
hiuzu, dass, wenn die Finger bereits maximal gebeugt sind, aber auch 
wenn die weitere Beugung der Finger durch einen ausseren Wider- 
stand gehemmt ist, auch die Fingerbeuger auf das Handgelenk beugeud 
wirken und so die Tatigkeit der Handbeuger verstiirken oder sub- 
stituieren. 

Die langen Fingerstrecker fungieren zwar auch als Handstrecker, 
aber nur dadurch, dass sie bei im Metacarpophalangealgelenk gestreckten 
Fingern die Hand selbst dorsalflektieren. Doch kommt bei Arbeits- 
verrichtungen die erwahnte Finger- und Handstreekung kaum je vor. 

Es wird also nach dem Gesagten das Plus an Leistungsfahig- 
keit, das den Extensoren der Hand zukommt, bei weitem 


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244 XIV. Teleky 

nicht ausreichen, um das grosse Plus an Inanspruchnahme 
zu decken. Es wird uns also nicht wundern, dass bei ihnen sich die 
Folgeerscheinungen der Anstrengung geltend machen, und dass diese 
gerade dann in Erscheinung treten, wenn es sich um Verrichtung 
feinerer manueller Arbeit gehandelt hat. 

Wenn wir die Haltnilg der Finger in der oben beschriebenen 
Ruhelage (mit moglichster Ausschaltung der Wirkung der Schwerkraft 
auf die Stellung der Finger) betrachten, so sehen wir alle Phalangen 
eine Mittelstellung zwischen voller Beugung und voller Streckung ein- 
nehmen, die sich bei der 2. Phalange am meisten der Beugung, bei 
der Endphalange der Streckung nahert, wahrend die Grundphalange 
in ihrer Stellung nur eine leichte Beugung zeigt. 

Es uberwiegen also in Ruhelage die Interossei und Lumbricales 
als Beuger der 1. Phalange ein wenig die langen Strecker, wahrend die- 
selben Muskeln als Strecker der zweiten Phalange durch die langen 
Flexoren (speziell den M. flexor sublimis) flberwunden werden. 

Hierbei wollen wir nur darauf hinweiseu, dass also eine leichte 
Beugung dem nattirlichen Muskeltonus entspricht und zu 
ihrer Herstellung keine Anstrengung, eventuell aber zu ihrer Festhal- 
tung Muskelarbeit erforderlich ist, dass das Verbringen der Finger in 
Streckung aber bereits Muskelarbeit erfordert. 

Doch haben die Strecker verhaltnismassig nur sehr wenig 
selbstandig zu wirken, vielmehr fallt ihnen im wesentlichen die 
Aufgabe zu, die durch die Beuger hervorgerufene Wirkung 
wieder auszugleichen, als Antagonisten und Moderatoren 
sowie als Synergisten derselben zu wirken. 

Nun wird aber die Rolle, die sie spielen, im wesentlichen von der 
Art der Arbeit abhangeu, welche die die Hauptleistung vollftibrenden 
Muskeln zu verrichten haben; anders werden hier die Verhaltnisse bei 
grober, anders bei feiner Arbeit sein. 

Grobe Arbeit, die in einem derben Zufassen, Heben usw. besteht, 
beansprucht in erster Linie dieTatigkeit der Flexoren; von diesen 
siud es vor allem die langen Fingerbeuger, die besonders in Anspruch 
geuommen werden, und die schon vermoge ihrer grossen Masse solcher 
Arbeit gewaclisen erscheinen. Als Antagonisten haben die Finger- 
strecker dort, wo es sich nicht um fein abgestufte, ganz genau zu 
regulierende Tiitigkeit handelt, nur wenig zu wirken. Aber die langen 
Fingerstrecker sind. worauf auch bereits Duchenne hingewiesen und 
was uns auch ein Bliek auf die den Hammer schwingende Hand auf 
Fig. 5 zeigt, Synergisten der langen Fingerbeuger, wenn diese auf das 
kriiftigste augespannt, wenn exakter Faustschluss ausgefUhrt wird. 


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Zur Xasuistik der Bleilahmung. 


245 


Ganz anders als bei grober verhalt es sich bei feiner manueller 
Arbeit Hier mussen neben den Fingerbeugern auch die Antagonisten 
(die Fingerstrecker) stets in Tatigkeit sein, sei es eine Bewegungnur 
massigend, sei e^ im geeigneten Zeitpunkt mit starkerer Gegenwirkung 
einsetzend, eine Fingerhaltung rasch in eine andere ttberftihrend usw. 
Gerade bei feinerer Arbeit werden also die Fingerstrecker in beson- 
ders lebhafter Tatigkeit sein. Die langen Fingerstrecker die auf die 
Grundphalangen allein wirken, sind dabei die Antagonisten sowohl der 
Interossei, die auf die Grundphalangen allein beugend einwirken, als auch 
der langen Beuger, die zwar vor allem auf die zweite und dritte Pha¬ 
lange, nach deren Beugung aber (nach du Boi-Reymonds Angabe, 
von deren Richtigkeit man sich leicht uberzeugen kann) auch auf die 
erste Phalange wirken. So kommen also bei jeder feineren 
manuellen Arbeit die Fingerstrecker in angestrengteste 
Tatigkeit, aber auch — wie dargelegt — bei kraftigster An- 
spannung der Fingerbeuger fallt den Streckern eine wich- 
tige Rolle zu. Es ist hingegen die gewohnliche grobe und schwere 
Arbeit, bei der weder exakter kraftigster Faustschluss noch feinere 
Fingerbewegungen ausgeffihrt werden, diejenige, die die Extensoren 
der Finger verhaltnismassig am wenigsten in Anspruch nimmi — 
Gerade die langen Fingerstrecker aber sind diejenigen Muskeln, denen 
— neben den Interossei und Lumbricales — die kleinste Leistungs- 
fahigkeit zukommt, deren Volumen kaum ein Viertel des Volumens 
der langen Fingerbeuger betragt, die auch um sehr vieles schwacher 
sind als die Handbeuger und selbst die Pronatoren. Wie gerade die 
gewohnliche grobe Arbeit die Fingerbeuger vor allem anstrengt, feinere 
Arbeit beide Muskelgruppen gleichmassiger in Anspruch nimmt, moge 
folgende Beobachtung zeigen: 

Bei alten Leuten, wenn diese den schwer arbeitenden Standeu an- 
gehoren (Bauern, Landarbeiter usw.) tritt das ja stets bestehende Uber- 
wiegen der Flexoren aufs starkste hervor; die Fiuger werden stets ge- 
kriimmt gehalten, eine voile Extension der Finger ist kaum moglich. 
Es scheint also hier im Verhaltnis zu einer starken Arbeitshypertrophie 
der Flexoren, vor allem der langen Beuger, ein ZurOckbleiben der 
Extensoren eingetreten zu sein, als ob durch die schwere Arbeit nur 
jeoe sich einseitig starker entwickelt hatten. 

Ganz anders als die eben beschriebenen Hiinde der schwer arbei¬ 
tenden alten Leute sehen die Hande jener Greise aus, die keine manuelle 
Arbeit, aber auch jener, die feinere manuelle Arbeit verrichtet haben; 
bei ibnen sehen wir nichts von einer starken Krlimmung der Finger. 
Das tfberwiegen der Flexoren iiber die Extensoren tritt hier auch im 
spateren Alter nicht starker hervor. 


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246 


XIV. Tkleky 


Bei alien feineren Bewegungen der Finger spielen die kleineii 
Handmnskeln eine grosse Rolle; vor allem sei betont, welche Bedeu- 
tung gerade der den Interossei eigentumlichen Bewegung — Beugung 
der ersten bei gleichzeifciger Streckung der zweiten und dritten Pha¬ 
lange — zukommt. 

Doch sei darauf hingewiesen, dass diese Muskeln, die an Masse 
den langen Fingerstreckern fast gleichkommen, unter viel 
giinstigeren physikalischen Verhaltnissen wirken als jene, 
also bei gleicher Kraft viel mehr Arbeit zu leisten imstande sind. 
Dieser letztere Umstand schon kann es uns begreiflich machen, dass 
Uberanstrengung leichter bei den unter ungunstigen Verhaltnissen 
arbeitenden langen Streckern als bei den unter so gGnstigen Verhalt¬ 
nissen wirkenden kleinen Fingermuskeln sich geltend macht. 

Unter wieviel giinstigeren physikalischen Verhaltnissen die Interossei 
und Lumbricales arbeiten als die langen Fingerstrecker, mag folgender 
Umstand zeigen: 

Frohse-Fraenkel berechnen fiir die Grundphalange eines jeden 
Fingers das Gewicht der Muskelsubstanz von Beugem (Interossei und 
Lumbricales) und Streckern (Extensores longi), dabei finden sie, dass 
die Strecker beim Zeigefinger die Beuger um ein weniges, beim 5. 
Finger um relativ mehr, beim 4. Finger um mehr als das Doppelte 
tiberragen. Aber man kann sich jederzeit leicht uberzeugen, mit wie¬ 
viel geringerer Kraft die Streckung der Grundphalaugen ausgefnhrt 
werden kann als ihre Beugung. Ferner ist zu berttcksichtigen, dass, 
soweit es sich um die Beugung der Grundphalange handelt, eine 
leichte Beugung derselben schon in der Rubelage durch den Muskel- 
tonus der kleinen Fingermuskeln herbeigefiihrt wird, dass weiter bei 
fixierter Mittel- und Endphalange — wie dies ja beim Ergreifen eines 
Gegenstandes stets der Fall ist — die langen Fingerbeuger auch auf 
die Grundphalange beugeud wirken. 

Wenden wir uns nun den einzelnen Fingern zu, so ist es ja zweifel- 
los der Daumen, der mehr angestrengt wird als jeder der ubrigen 
Finger; seine besonders kraftige Versorgung mit Muskeln — ist doch 
die Muskelmasso des Thenars nur um weniges kleiner als die s&mt- 
licher Interossei und Lumbricales. mit Ausnahme des Antithenar, 
zusammen — befiihigt ihn auch zu besonderer Leistung. Am Daumen 
liegen die Verhaltnisse auch darum anders als bei den ubrigen Fingern, 
da dem an Masse starksten Muskel, dem langen Beuger, der Abductor 
longus an Masse nahe kommt; die langen Strecker sind zwar die 
schwiichste Muskolgruppe, aber nur dann, wenn w r ir deu ihre Wirkung 
unterstiitzendm Abductor longus denselben nicht zuzahlen. Die Gruppe 
des Thenar zerfiillt in funktionell verschiedene Teile (Opposition ein- 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


247 


schliesslich Abduktion und Adduktion). Die Differenzen, die sich bier 
zwischen den einzelnen Gruppen ergeben, sind keineswegs so grosse 
wie bei den iibrigen Fingern. Demnach muss man erwarten, dass bier 
nicht die Strecker allein oder ausschliesslich iiberanstrengt werden, 
sondern dass auf Erscbeinungen der Uberanstrengung bei diesen bald 
auch ebensolche Erscheinungen bei andereu Muskelgruppen des Dau- 
mens folgen. 

Was die Gbrigen Fiuger anbelangt, so wolleii wir zunachst nur 
noch eineu kurzen Blick auf ihre Versorgung mit Muskeln werfen. 
Der 3. und 4. Finger werden nur vom Extensor digit, communis mit 
Streckeru der Grundphalangen 
versorgt, wahrend der 2. und 5. 

Fiuger nebeu dem gemein- 
samen Fingerstrecker uoch 
eigene lange Strecker besitzen. 

Der Zeigefingerstrecker scheint 
den Klein fingerstrecker meist 
nur um recht wenig zu iiber- 
ragen. Doch scheinen gerade, 
was die Versorgung des 2. und 
5. Fingers durch den Extensor 
digitor. com. anbelangt, recht 
betrachtliche Unterschiede 
zwischen diesen beiden Fingern 
zu bestehen, aber besonders 
haufig auch individuelle Varie- 
taten vorzukommen. „Der 
Muskelbauch fiir den Zeigefinger gewinut oft eine grosse Selbstandig- 
keit, die accessorische Sehne fur den 5. Finger kann fehlen", sagen 
Frohse-Fraenkel. 

Stiitzen wir den Ellenbogen auf eine horizontale Unterlage bei 
vertikal von dieser aufragenderu Unterarm und lassen die Hand der 
Schwerkraft folgend im Handgelenk uach vorne sinken, so werden 
die Fingerbeuger entspannt, kommen in die fiir ihre Leistung uu- 
giinstigste Position. Die Stellung, die die einzelnen Finger einnehmen, 
wird dann teils von der Schwerkraft und von Tonus der Interossei 
und Lumbricales, teils von dem Tonus der Extensoren bestimmt. 

Wir sehen nun, dass (ahnlich wie in Fig. 1) der Zeigefinger nur 
gaDz wenig von der Streckstellung abweicht, etwas mehr der 3., mehr 
der 4. und am meisten der 5. Finger. Diese ganz charakteristische 
Stellung der Hand werden wir uns vor Augen lialten mlissen, weun 
wir spater die Lahmung der einzelnen Finger beurteilen wollen. Fig. 1 



Fig, 1. 


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XIV. Telkky 


zeigt diese Handstellung bei einer Bleilahmung, die durch gleich- 
massige Parese aller Strecker ganz dasselbe Bild zeigt, das eine 
normale Hand in dieser Stellung darbietet; doch ist eine weitere Streck- 
ung hier (bei der Bleilahmung) unmoglicb. 

Fassen wir nun das fiber die Leistungsfabigkeit der einzelnen 
Muskelgruppen und das fiber die ibnen zugemutete Arbeit Gesagte 
zusammen, so konnen wir zu folgenden Scblussfolgerungen kommen. 

Beuger und' Strecker des Unterarms besitzen eine grosse 
Leistungsfahigkeit, die gerade bei feinerer manueller Arbeit nicht 
stark in Anspruch genommen wird. Zu den Beugern gehort auch 
der fttr sicb allein schon recbt kraftige M. bracbioradialis. 

Die Supinationsmuskeln sind ebenfalls durch grosse Masse 
ausgezeichnet. Ihre Inanspruchnabme erfolgt hauptsachlich bei grober 
Arbeit, bei feinerer manueller Arbeit ist sie eine geringe. 

Die Pronationsmuskeln sind nur von geringer Leistungs¬ 
fahigkeit, aber auch ihre Inanspruchnahme ist nur eine geringe. 

Die Strecker der Hand sind kraftig, fiberragen an Leistungs¬ 
fahigkeit etwas die Beuger; aber den Handstreckem wird bei alien 
feinen manuellen Arbeiten sowie bei alien jenen, die kraftigen Faust- 
schluss erfordem (hier als Synergisten der sehr kraftigen Fingerbeuger), 
eine ganz besonders grosse Arbeitsleistung zugemutet, wah- 
rend die Beuger meist nur als Synergisten der Strecker in Wirksam- 
keit treten. 

Die langen Fingerstrecker sind die schwachsten samtlicher 
langen Fingermuskeln. Sie werden bei alien feineren manuellen Ar¬ 
beiten im hohemMaBe als Antagonisten der Fingerbeuger (vor allem 
der Interossei und Lumbricales, aber auch der langen Beuger) in 
Anspruch genommen, aber auch als Synergisten der langen 
Fingerbeuger bei alien Arbeiten, die besonders kraftigen Faustschluss 
erfordern. 

Die kleinen Fiugermuskeln sind an Masse den langen Finger- 
streckern annahernd gleich, werden bei feinerer manueller Arbeit 
sowie auch bei alien kraftigen Faustschluss erfordenden Arbeiten stark 
in Anspruch genommen,arbeiten aber unter bedeutend gfinstigeren 
physikalischen Verhaltnissen als die langen Fingerstrecker und 
linden unter Umstandeu Unterstutzung an den langen Fingerbeugem. 

Am Daurnen nimmt der Abductor longus durch seine Kraftigkeit 
eine besondere Stellung ein. Die langen Strecker sind die 
schwachste und unter den physikalisch ungiinstigsten Bedingungen 
arbeitende Muskelgruppe, die aber durch den Abductor longus 
untersttitzt wird. Die Differenzen an Leistungen zwischen 
<len einzelnen Muskelgruppen sind nicht so gross wie bei den 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


249 


abrigen Fingern. Bei den komplizierten Verhaltnissen des Daumens 
ist fast jede Muskelgruppe unter bestimrnten Verhaltnissen bald Syner¬ 
gist, bald Antagonist der anderen, und da gerade die Daumenballen- 
muskeln sehr Tiel angestrengt werden, erklart es sicb, dass unter Um- 
standen gerade diese zuerst die Folgen von Uberanstrengung zeigen. 

Bei jeder feineren Arbeit sowie bei jeder Arbeit, die kraftige und 
exakte Tatigkeit der Finger erfordert, erfahren also eine im Verhaltnis zu 
ihrer Leistungsfabigkeit besonders hohe funktionelle Inanspruch- 
nahme: die langen Fingerstrecker, die Handstrecker, diekleinen 
Fingermuskeln, weiter die Daumenmuskeln (liber die noch spater 
gesprochen wird). Die Muskeln, die bei grober Arbeit besonders in 
Betracht kommen, die Beuge- und Streckmuskeln des Unterarms (ein- 
schliesslich des Musculus brachioradialis) sowie die Supinatoren sind so 
leistungsfahig angelegt, dass sie dadurch schon gegen Schadigung durcb 
die Funktion starker gesichert erscheinen. 

Vielleicht ware esnach dem bisher Ausgeftlhrten gestattetzu sagen: 
Der men8chlicbe Arm mit seiner kraftigen Muskulatur fiir 
Bewegung im Ellbogengelenk, mit seinen kraftigen Supi¬ 
natoren ist vorwiegeng gebaut fHr grobe schwere Arbeit. 
Die Hand- und Fingerstrecker sind nur in der Starke und 
Leistungsfahigkeit angelegt, die der geringeu Anstrengung, 
dieihnen bei gewohnlicher grober Arbeit zufallt, entspricht. 
Bei alien feinen Arbeiten aber wird gerade diesen Muskeln 
ein bei weitem grosseres MaB von Arbeitsleistung zuge- 
mutet als bei grober Arbeit. Bei den Handwerkem und vielen 
industriellcn Arbeitern, die nicht gewohnliche grobe Arbeit zu ver- 
richten haben, werden verhaltnismassig am starksten in Anspruch ge- 
nommen und ermtidet jene eben genannten Muskeln, denen nur bei 
feinerer, genauerer Abstufung der einzelnen Bewegungen, bei einer 
pronierten Handhaltung oder besonders kraftigen Faustschluss erfor- 
dernden Verrichtung eine bei grober Arbeit von ihnen nicht oder 
nur im geringen Umfange verlangte Leistung zufallt. 

Unter den an Bleivergiftung und Bleilahmung Erkrankten iinden 
sich auch Arbeiter aus Betriebeu: Bleiweissfabriken, Miniumfabriken 
und Giessereien, in denen viel oder vorwiegend grobe Arbeit verrichtet 
wird, in denen aber doch auch feinere Arbeit ausgefiihrt wird, 
und es fehlen leider in alien Krankengeschichten Angaben darUber, in 
welcher Art die an Lahmung Erkrankten beschiiftigt gewesen waren. 

Die allermeisten Fiille von Bleivergiftung und Bleilahmung aber 
betreffen Handwerker, die alle (eventuell neben grober) auch feinere 
Arbeit zu verrichten haben (Anstreicher, Lackierer, Buclidrucker, Schrift- 


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XIV. Tki.eky 


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setzer, Schriftgiesser, Spengler, Installateure, Vergolder, Giirtler, Topfer. 
Diamantschleifer), oder Arbeit, die, wenn auch schwere, so doch exakte 
Arbeit und kraftigsten Faustschluss erfordert (Feilenhauer), oder schliess- 
lich Fabriksarbeiter, die feinere Arbeit zu verrichten baben (Porzellan- 
maler, Emailleure). 

Bei alien diesen Berufen — also in der weitaus Oberwiegenden 
Zalil der Falle von Bleilahmung — gilt in Bezug auf die Anstrengung 
und TJberanstrengung der einzelnen Muskeln und Muskelgruppen das, 
was wir bisher liber die Anstrengung der einzelnen Muskeln bei 
feinerer manueller Arbeit gesagt haben. 

Der Typus der Bleilahmung ist das Ergrift’ensein der langen 
Finger- und Handstrecker mit Freibleiben des M. brachioradialis, mit 
eventueller Beteiligung der langen Strecker des Daumens, eventuell 
unter Freibleiben des Abductor poll, longus und — eyentuell weiterem 
Ergriffensein der Daumenballen und schliesslich der kleinen Finger- 
muskulatur (Vorderarmtypus Remaks). Wir glauben dargelegtzu haben, 
dass dieser Typus, dessen ersten Teil Dejerine-Klumpke als „Type 
antibrachial" bezeichnet und charakterisirt als die Lahmung der voin 
Radialis versorgten Muskeln des Vorderarmes mit Ausnahme des 
Brachioradmlis (des Anconeus IV) und ofters auch des Abductor poll, 
longus — sich vollkommen erklaren lasst aus der Funktion, aus der 
ihre Leistungsfahigkeit libersteigenden Anstrengung, die der Hand- 
werker und viele Gruppen von industriellen Arbeitern bestimmten 
Muskelgruppen zumuten. 

Das regelmassige Ergriffensein der langen Hand- und 
Fingerstreckmuskeln erklart sich — um es hier nochmals kurz 
zusammenzufassen — aus ihrer relativen Uberanstrengung, das 
Freibleiben des M. brachioradialis aus seiner eigenen Mach- 
tigkeit und der funktionellen Zugehorigkeit zu der Gruppe des 
Beugers des Unterannes. Dass die kleinen Fingermuskeln (abgesehen 
von der Dauruenmuskulatur) so selten und stets sehr spat erkranken, 
erkliirt sich wohl aus ihrem Zusammenarbeiten mit den machtigen 
laugen Beugern und aus den gunstigeu physikalischen Verhaltnissen, 
unter deneu sie wirken. 

Was den Daumen anbelangt, so erkliirt die Machtigkeit 
des Abductor longus wohl sein liaufiges Freibleiben von 
der Bleilahmung; seine Mitwirkuug fuhrt wohl dazu, dass 
die Strecker meist nur paretisch werden, eine voile Lahmung 
derselhen aber nur selten ist. Die geringen Unterschiede 
an Leistungsfahigkeit, die zwischen den einzelnen Muskelgruppen 
bestehen. der Umstand, dass sie in den verschiedensten Kombi- 
nationen als Synergisteu und Antagouisten auftreten, endlich 


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Zur Kaauistik der Bleilahmuiig. 


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noch, dass bei den raeisten Verrichtungen die Oppositiousmuskeln des 
Thenar (Abductor poll, brevis, Opponens, Flexor poll, brevis) eine 
besonders grosse Arbeit zu verrichten baben, alle diese Momente 
erklaren es wohl, dass am Daumen so haufig neben den 
Streckern — manchmal sogar mehr als diese und vor ihnen 
— die Thenarmuskeln erkranken. 

Wir sind uns dessen wohl bewusst, dass zwar die Bestimmung 
des Gewicbtes der einzelnen Muskeln auf exakte Weise erfolgen kann, 
dass aber damit allein noch kein exakter MaCstab fiir die Arbeit, der 
jeder Muskel fahig ist, gewonnen werden kann, dass ferner dort, wo 
wir fiber den Grad der Anstrengung der einzelnen Muskelpartien, 
fiber das Verhaltnis der geforderten Leistungsfahigkeit sprechen, unsere 
Ausffihrungen nicbt beanspruchen konnen, als exakteste, naturwissen- 
scbaftliche Beweisfuhrung zu gelten. Aber doch glauben wir, da wir 
uns auch auf die Anatomie und Physiologie der einzelnen Muskel- 
gruppen stfitzen, den Boden der Wirklichkeit nicht verlassen zu haben. 
Darfiber, ob wir von einer elektiven Wirkung des Bleies gerade auf 
diese bestimmten Muskeln und Nervengruppen ganz absehen konnen, 
welche Bedeutung einer solchen eventuell zuzugestehen ist, dariiber 
soil spater gesprochen werden. 


Im Folgenden soli der Versuch gemacht werden, an der Hand 
unseres Materials jede Modifikation und Varietat innerhalb dieses 
Grundtypus jede Abweichung von ihm, jedes Hinausgehen fiber den 
Type antibrachial Dejerine-Klumpkes durch die spezielle Tatigkeit 
des betreffenden Individuum8 zu erklaren. 

Zunachst aber wollen wir jene Falle betrachten, die dem eben 
besprocbenen Typus der Bleilahmung am meisten entsprechen. Das 
siud zunachst jene Falle, bei denen es erst zu den allerleichtesten 
Symptomen der Bleilahmung gekommen ist; dann aber werden wir 
— bei Besprechung der tibrigen Falle teilweise nach Bernfsarten vor- 
gekend — jene Handvverker zuerst betrachten, die dieseu Gruudtypus 
am ungetrfibtesten zeigen: die Anstreicber. 

Wir hatten in der Zeit vom 1. XI. 1905 bis 1. I. 1909 Gelegenheit, 
13 Falle von Parese der Exlensoren zu beobachten. Die Parese 
ergreift in erster Linie die Extensoren der Finger. Es ist den Kranken 
nicht moglich, bei gestreckten Fingern die Hand im Handgelenk dorsal 
zu flektieren; bei dem Versuch der Dorsalflexion im Handgeleuk 
beugen sich die 1 . Phalaugen. Versuclit man passiv, durch Druck auf 
die Metacarpalknochen von der Vola aus diese Dorsalflexion herbei- 
zuffihreu, so tritt so fort Beugung der Finger im Metacarpophalangeal- 
gelenke ein. Die Extensoren der Finger sind nicht imstaude, ent- 


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XIV. Teleky 


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gegen dem Widerstand der Interossei und Lumbricales die Finger ge- 
streckt zu erhalten. Dabei ist bei Faustschluss oder starker gebeugten 
Fingem die Dorsalflexion meist in vollem Umfange und mancbmal 
mit guter Kraft (Intaktheit der Extensoren der Hand), manchmal mit 
verminderter (leichte Parese dieser Extensoren) moglich *). 

Es wurden von uns in diese Gruppe der Extensorenparesen nur 
solche Falle aufgenommen, bei denen bei keinem anderen Muskel 
Storungen der Funktion vorhanden waren; von Fallen aber, die nur 
Storungen der Extensoren zeigten, nur jene, bei denen diese Stoning 
so gering war, dass bei gerade gestrecktem Handgelenk voile Finger- 
streckung moglich war, und erst bei weiterer Dorsalflexion im Hand- 
gelenk Beugung der Finger eintrat. In den allerleichtesten der hieher- 
gehorigen Falle ist sogar eine voile Dorsalflexion im Handgelenk bei 
voller Streckung der Finger moglich, doch erfolgt sie mit erbeblich 
verringerter Kraft. 

Wahrend in alien anderen Fallen alle Finger annahemd gleich- 
massig paretisch scheinen, blieb in einem Falle, bei dem Anstreicher 
S., nur der 3. und 4. Finger u. zw. schon bei leichter Dorsalflexion 
im Handgelenk in Beugung zuriick, wahrend 2. und 5. Finger gestreckt 
blieben. Wir haben oben darauf hingewiesen, dass die ersterwahnten 
Finger meist die am schwachsten mit Streckern versehenen sind. 
Neben Parese dieser Strecker war in diesem Falle auch eine Parese 
der Handstrecker (auch bei Faustschluss Dorsalflexion nur bei ver¬ 
ringerter Kraft und nicht in vollem Umfange moglich) vorhanden. 

Von den 13 von uns beobachteten Fallen betraf einer beide 
Hande in gleicher Weise. Die Parese war bei einem 43 Jahre alten 
Mobellakierer, der mehrmals Bleikolik durchgemacht hatte, eingetreten, 
nachdem er langere Zeit Kittarbeit verrichtet hatte. Es handelte sich 
beiderseits um eine starkere Parese der langen Fingerstrecker: bei 
gestreckten Fingem war jedes dorsale Erheben der Hand fiber die 
Horizontale unmoglich; bei gebeugten Fingern erfolgte die Dorsal- 
Hexion mit guter Kraft (Freisein der Handstrecker). 

In einem einzigen Falle war die linke Hand allein erkrankt. 


1) Gowers (Handbuch der Nervenhcilkde. 3. Bd. S. 319) nimmt an, dass 
bei gestreckten Fingern die Oberstreckung im Handgelenk ausschliesslich durch 
die langen Extensoren der Finger erfolge, weshalb bei deren Lahmung Dorsal¬ 
flexion der Hand bei gestreckten Fingern nicht moglich sei, wahrend bei ge- 
beugten Fingern die Dorsalflexion stets durch die eigentlichen Handstrecker 
erfolge. Diese Aufl'assung kbnnen wir nicht fur richtig halten, sie wfirde an- 
nehmen miissen, dass — wenn wir bei dorsalflektierter Hand die Finger beugen 
und streckcu — auch burner ein Wechsel in den die Hand fixierenden Muskeln 
stattfiudet. 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


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Bei einer 29 Jahre alten Schriftgiessereiarbeiterin, die mehrerc Male 
Bleikolik durchgemacht und in letzter Zeit fiber „rheumatische“ Beschwer- 
den geklagt hatte, erfolgte die Dorsalflexion im linken Handgelenk bei ge- 
streckten Fin gem mit viel geringerer Kraft als rechts. Es handelte sich 
also um eine Parese leichtesten Grades. Patientin hatte in den letzten 
Jahren Buchstaben sortiert und eingepackt. Wir mOchten in diesem Falle 
aber nicht einmal mit vollster Sicherheit behaupten, ob es sich um Exten- 
sorenparese gebandelt hat, oder ob nicht der Umstand, dass Patientin 
Schmerzen in der Hand hatte, sie zu geringerem Widerstand beim Beuge- 
versuch veranlasste. 

Bei alien anderen 11 Fallen war ausschliesslich die 
rechte Hand ergriffen. Sie betrafen einen Bleiloter, einen Spengler, 
2 Hafner, 6 Anstreicher. 

Sehr verschieden isfc die Zeitdauer, die eine solche Parese zu ihrer 
Heilung braucht. Ich sab in einem Falle (Anstreicher) nach 8tagiger, 
in einem anderen Falle (Spengler) nach lOtagiger Arbeitsruhe alle 
Erscheinungen verschwinden, wahrend in zwei anderen Fallen noch 
nach 1 Monat nur eine erheblicbe Besserung, aber keine Heilung zu 
verzeichnen war. Die meisten Falle sind nach kurzer Zeit ungeheilt 
meiner Beobachtung entschwunden. 

Die Heilung der Parese innerhalb der oben erwabnten kurzen 
Zeit muss den Gedanken nahe legen, ob es sich in diesen Fallen tiber- 
haupt um Giftwirkung und nicht vielleicht nur um eine Ermfidungs- 
erscheinung gehandelt habe. 

Dass es aber mit Ausnahme eines Falles von doppelseitiger Parese, 
bei dem wir fiber die Reihenfolge, in der die Parese eintrat, nichts 
wissen, und eines Falles von linksseitiger Liihmung, der nicht ganz 
einwandfrei ist, stets — unter 13 Fallen 11 mal — die rechte 
Hand war, die erkrankte, spricht wohl deutlich fUr die Rolle, die 
die Arbeit bei Entstehung der Parese spielt. 


Von den 14') Anstreichern und Lackierern, die wir mit Blei¬ 
lahmung der Hande zu behandeln Gelegenheit batten, zeigten nur 3 
einseitige Lahmung, und zwar samtlich an der rechten Hand. 

Bei einem dieser rechtsseitig Gelfihmten handelte es sich um eine 
relativ leichte Erkrankung, die ohne dass andere Erscheinungen von Bleiver- 
giftung (ausser Bleisaum) vorausgegangen waren, plotzlich entstanden war. 
Faradische und galvanische Erregbarkeit zeigten keine grflberen Stbrungen; 
nach 2 Monaten konnte Patient, bei dem komplete Lahmung der Exten- 
soren der Finger und der Hand bei Mitbeteiligung der Daumenstrecker 
bestanden hat, mit einer ganz leichten Schwiiche der Extensoren aus der 
Behandlung entlassen werden. 


1) tJber einen 15. Anstreicher wire! spiiter bericlitet. 


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Bei deni 2. Falle handelte es sich am einen 33jfihrigen Anstreicher- 
gehilfen, der in den Jahren 1902—1906 achtmal Bleikolik durchgemaclit 
hatte; dann arbeitete er 2 V 2 Jahre ohne Bleifarben, bis er (23. Oktbr. 1906) 
nach 5wochentlicher Bleiweissarbeit an Bleikolik erkrankte nnd in ein 
Krankenhaus aufgenommen wurde. Gegen Ende seines Spitalaufentbaltes 
(1. XI.—28. XI. 1908) stellte sich Lahmung der rechten Hand ein, mit 
der er Ende November in meine Behandlung trat. Es bestand leichto 
Parese der Handstrecker, starke Parese der Fingerstrecker, von denen 
der 2. am besten, der 5. am wenigsten gestreckt werden konnte; der 
Daumen konnte nicht voll gestreckt, nicht in die Handrfickenfliiche gehoben. 
Abduktion von der Handflache nicht in vollem Umfange ausgeffihrt werden; 
faradische Erregbarkeit des Extensor communis erloschen. 

Bei dem 3. Falle bestanden, als wir ihn sahen, nur die Residuen einer 
vor 13 Jahren entstandenen Bleilahmung, und zwar in einer Parese der 
Daumenmuskulatur. Diesem letzteren Falle (von dem das unten fiber ver- 
altete Falle Gesagte gilt) kommt ftlr unsere Betrachtung wohl kaum eine 
Bedeutung zu. 

In alien anderen Fallen (11) betraf die Lahmung beide Hande, 
immer aber war die recbte Hand starker ergriffen als die linke; 
in alien, mit Ausnahme eines einzigen Falles (Ant. M.), machte die 
Besserung links raschere Fortschritte als rechts. Warum in dem einen 
Falle die Heilung links durch eine Zeit lang langsamer von statten 
ging, konnten wir nicht ermitteln, doch stellte sich bald wieder eine 
Verschiebung ein, so dass heute die recbte Hand starkere Residuen 
zeigt als die linke. Es tritt also in alien diesen Fallen das Be- 
troffensein der starker angestrengten Hand aufs deutlichste 
hervor. 

Unter alien Anstreichern sind nur drei, bei denen auch die den 
Arm im Schultergelenk bewegenden Muskeln — die, wie auch 
Edinger betont, nach den das Handgelenk bewegenden am meisten 
angestrengt werden — mit ergriffen wareu. 

Der eine dieser Patientou, F. Cz., war im Dezember 1905 mit einer 
bereits seit 2 Monatcn bestehenden Extensorenparese der rechten Hand zu 
mir gekommen, hatte sich aber — da er durch Familienverh&ltnisse sicli 
in Notlage befand — geweigert, die Arbeit zu verlassen. Als er endlich 
Mitte Januar 1906 sich in den Krankenstand aufnehmen liess, bestand 
Lahmung der Fingerstrecker rechts, Parese der Handstrecker rechts, leichte 
Mitbetciligung des Daumens, Parese des gemeinsamen Fingerstreckers links, 
also noch keincswogs das Bild schwerer beiderseitiger Streckerlfihmung. 
Daneben aber vollstandige Unmoglichkeit.den rechten Oberarm zu heben,starke 
Erschwerung der Rotation dcsselben uni seine cigene Achse: also vollstiindige 
Lahmung dor Ilober (M. deltoideus |Xerv. axillaris] und M. supraspinatus ]_X. 
suprascapularisl, teres minor [Nerv. axillaris !. M. subscapularis und teres major 
|Xerv. subscapularis]), sowie Parese des das Sehulterblatt dreheuden Mus- 
kels (M. serrat. |N. thoracicus longus I. Es bestand Atrophie des Mm. del - 
toides, supraspinatus, infraspinatus. Links bestand nur Parese des M. del¬ 
toideus. Audi bier sehen wir also wieder, dass Muskeln, die von verschie- 


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Zur Kasuistik der Bleiliihmung. 


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denen Nerven versorgt werden, aber funktionell miteinander verbuuden sind, 
geraeinsam erkranken, wobei nur noch darauf kingewiesen sei, dass diese 
Lokalisation nicht dem Typ. brachialis von Remak u. Dejerine-Klumpke 
entspricht, aber ganz einem Falle, den Kocher beschreibt (Korrespondenz- 
blatt fOr Schweizer Arzte 1898, S. 257). Der Grand aber for das Auf- 
treten der L&hmung dieser Muskeln bei unserem ja noch keineswegs lioch- 
gradige Hand- and Fingerl&hmung zeigenden Patienten ist wohl darin zu 
suchen, dass er das letzte Jahr in einer landwirtschaftlichen Maschinen- 
fabrik gearbeitet hatte; er war hier sehr hftufig genbtigt, beira Minisieren 
des Innern von Maschinen in unbequemer Lage, auf dem Rttcken lie- 
gend, and mit erhobenem Arm seine Anstreicherarbeit zu ver- 
richten. Im Marz waren die Lahmungserscheinungen der Schultermus- 
kulatur verschwunden, die Ver&nderungen an den Hand- und Fingermuskeln 
aber waren nur teilweise zurhckgegaugen. 

Patient nahm dann — die Zeit, wiihrend welcher die Krankenkasse 
fQr ibn zu sorgen hatte, war inzwischen abgelaufen — die Arbeit wieder 
auf und arbeitete bei verschiedenen Anstreichermeistern in der allgemein 
Oblichen Art und Weise. Ende November 1907 kam er wieder mit den 
Erscheinungen einer neuerlichen Bleivergiftung zu mir — ich hatte ibn 
in der Zwischenzeit mekrmals gesehen — und zeigte eine betrachtliche 
Verschlimmerung der Lahmung seiner Streck- und Daumenmuskulatur der 
rechten und eine nicht ganz so weit wie rechts gehende Lahmung der in¬ 
zwischen bereits geheilt gewesenen langen Streckmuskeln der Finger der 
linken Hand. Die Schultermuskulatur war vollkommen intakt. 

Bei dem Anstreicher F. K., der bereits mehrmals Bleikolik durchge- 
macht hatte, auch einmal vor 8 Jahren an Streckerlahmung gelitten hatte, 
kam es im Juli 1906 zu einer neuerlichen ziemlich schweren Streckerlah- 
nmng; neben dieser bestand die Unmoglichkeit, den recliten Arm ini 
Sckultergelenk zu heben (Lahmung des Deltoideus und Supraspinatus), 
uud auch mit dem Schulterblatt zusammen konnte der Arm nur wenig ge- 
hoben werden (Parese des M. serratus antic, major). Die Schulterlahmung 
ging in einigen Wochen, die Streckerlahmung nur ganz langsam zurftck. 
Im November 1907 und seitdem noch einige Male kam Patient wegon Ver- 
schlimmerung seiner nie ganz ausgeheilten Streckerlahmung zu mir, die 
Schultermuskeln waren stets intakt. Was bei der Erkrankung im Sommer 
1906 zur Erkrankung der Schultermuskeln gefQkrt hatte, war der Umstand, 
dass er durch mehrere Wochen ausschliesslich Plafondarbeit, 
also Arbeit mit stark eleviertem Arm, verrichtet hatte (vgl. Remaks 
Wellblechdeckenanstreicher). 

Bei einem dritten Patienten, Anton M., bestand keine ausgesprochene 
Lahmung in der Schultergtlrtelmuskulatur, doch erfolgte beiderseits das 
Armheben mit ziemlich verringerter Kraft (Parese des M. deltoi¬ 
deus), auch die Beugung im Ellbogengelenk nicht mit der der Muskulatur 
entsprechenden Kraft, also eine leichte Parese nach dem Tvpus brachialis 
Remaks. Ausserdem bestand beiderseits ziemlich starke Streckerlahmung 
der Finger und Hande unter Mitbeteiligung des Daumens. 

Die Erscheinungen an dor Armmuskulatur sind wohl darauf zurtick- 
zuftihren, dass er als Wagenlackierer haufiger sclnvere Arlieit dadurch 
zu verrichten hatte, dass er genotigt war. die schweren Wagen 
zu heben. 

Deutsche Zeitsdir. f. NerveuheilUuude. 37. Bd. 17 


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XIV. Teleky 


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Bei alien Fallen also, bei denen die Schultergfirtel- oder Oberarm- 
muskulatur beteiligt war, liess sich diese Lokalisation durch 
eine die betreffenden Muskeln in besonders hohem Mabe 
anstrengende Arbeit erklaren. 

Bei alien unseren Fallen — mit Ausnabme des oben erwahnten 
einen Falles, bei dem wir als Residuum einer vor vielen Jabren ent- 
standenen Bleilahmung nur eine Parese der Daumenmuskulatur fest- 
stellen konnten und der als veralteter Fall nicbt ganz in unsere Be- 
trachtung gehort — bestand eine vollstandige oder teiiweise Lahmung 
der Extensoren der Finger und der Hand. Starker erschienen stets 
die Fingerstrecker betroffen, die zweimal beiderseits vollstandig, 
einmal beiderseits mit Ausnahme der Strecker des 2. Fingers voll¬ 
standig gelahmt waren, d. h. aucb bei maximal gebeugtem Handgelenk 
keine Streckung der Finger auszulosen vermochten; in aUen andereD 
Fallen bestand mehr oder weniger ausgesprocbene Parese, stets 
rechts mehr als links. 

Hingegen konnte nur in einem Falle eine (einseitige) komplete 
Lahmung der Handstrecker rechts festgestellt werden, bei einem Falle, 
der auch dadurch von dem Schema etwas abweicht, dass nur die 
rechte Hand ergriffen war. Sonst aber war in alien Fallen wenigstens 
eine leichte Hebung im Handgelenk moglicb, die nur in 2 Fallen an 
der rechten Hand die Horizontale nicht erreichte, in einem anderen 
Falle rechts bis zur Horizontale, in alien diesen Fallen links, sowie 
in alien anderen Fallen beiderseits (stets rechts weniger als links) 
noch fiber die horizontale moglich war. 

Es sind also die Extensoren der Finger mehr betroffen 
als die der Hand, die rechte Seite mehr als die linke. 

"Was nun die Lahmung der einzelnen Finger (mit Ausnahme 
der des Daumens) anbelangt, so ist die Beurteilung, wie weit bei der 
starkeren Lahmung einzelner derselben die Anstrengung eine Rolle 
spielt, dadurch sehr erschwert, dass nicht nur die Inanspruchnabme, 
sondern auch die Kraft der Strecker der einzelnen Finger eine ganz 
verschiedene ist. Unsere obige Betrachtung fiber die Wirkung der 
Extensoren bei moglichster Ausscbaltung der Beuger zeigen uns aufs 
deutlichste die verschiedene Wirkung und Starke der Extensoren der 
einzelnen Finger, speziell die der langen Extensoren. Bei der be¬ 
sonders kraftigen Wirkung der Extensoren des Zeigefingers konnte 
man eine ebenso starke Lahmung dieser Extensoren wie der der 
anderen Finger nur erwarten, wenn ihnen besondere Anstrengungen 
zugemutet wfirden; das ist nun bei den Anstreichern, die den in Wien 
gebrauchlichen Pinsel zwischen 3. bis 4. Finger einer- und Daumen 
andererseits halteu (woher sich eine ganz typische Schwiele am 4. 


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Zur Kasuistik der Bleilahiuuug. 257 

Finger erklart), (Fig. 2) nicht der Fall, eher noch bei dem in Deutsch¬ 
land gebrauchlichen Pinsel und seiner Haltung. Der 2. Finger ist also 
beim Anstreichen selbst — wenigstens bei den Wiener Anstreichern — 
gewiss nicht im besonderen Malie angestreugt, nur beim sogenannten 
„Spachteln“, dem Glatten der zum Ausgleichen von Unebenheiten in 
dicker Schicht aufgetragenen Kittmasse tritt der Zeigefinger starker 
in Tatigkeit, aber auch hier sind die Strecker nur als Antagonisten der 
Fingerbeuger tatig und zwar nur bei einer keine besondere Differen- 
zierung verlangenden, also die Antagonisten nicht besonders an- 
strengenden Tatigkeit. 

Es ist demnach zu ervvar- 
ten und nur vollkommen be- 
greiflich, dass bei fast alien 
unseren Fallen der 2. Finger, 
und zwar an beiden Handen 
jener ist, der am meisten noch 
die Extensionsfahigkeit sich 
bewahrt hat. 

4 von unseren FiUlen (bei 
deren einem der Zeigefinger der 
beiden Hande etwas weniger be- 
teiligt war, w&hrend bei zweien 
nichts dartlber erwdhnt ist, beim 
dritten aber nur Daumenlah- 
mung bestand) kcinnen ftlr diese 
Betrachtung und for unsere 
neiteren Ausfilhrungen deshalb nicht in Betracht kommen, weil es sich um 
veraltete, scheinbar in mehreren Attacken entstandene Bleilahmung handelt; 
ist aber als Residuum einer Bleilahmung in irgend einer Weise die Be- 
"egungsmogllchkeit oder Kraft der einzelnen Finger beschriinkt, dann ver- 
>eilt sich die zur Berufstatigkeit notwendige Anstrengung in ganz anderer 
Weise als vorher. So hielt einer dieser Anstreicher den Pinsel zwischen 
den ersten Phalangen des 3. und 4. Fingers und presste ihn mit dem ad- 
duzierten Daumen an den Zeigefinger an, so dass an diesen beiden Stellen 
Schwielen entstanden. 

Ftlr unsere Betrachtung sind also vor allem nur solche Fiille geeignct, 
die zum ersten Mai an Bleilahmung erkrankt sind, ausserdem viellcicht 
noch solche, bei denen die erste Liihmung sicher zur vollen Ausheilung 
gelangt war, ehe es zu einer ncuerlichen Lfthmung kam. 

Bei einem Falle fehlen uns bei der ersten Erkrankung Angaben aber 
den Grad der L&hmung der einzelnen Finger (bei den spateren Erkran- 
knngen war der 2. Finger am wenigsten betroffen). 

Nur bei dem oben erwahnten Falle F. K., der auch rechts eine Parese 
der Sclmltermuskulatur zeigte, hattc auch der 2. Finger rechts jede Mog- 
lichkeit der Extension verloren. Bei den fibrigen 8 Fallen finden wir 
stets an alien Qberhaupt betroffenen Handen den 2. Finger am 
"enigsten an der Lahmung beteiligt (vgl. Fig. 1). 

17* 



Fig. 2. 


I 


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258 


XIV. Telkky 


Was nun die iibrigen Finger anbelangt, so zeigen sich meist — 
so wie bei der oben geschilderten Hand ruit entspannten Beugern — 
in zunehmendem MaCe der 3., 4. und 5. Finger gebeugt (vergl. 
Fig. 1). Nur in zwei Fallen sehen wir an der rechten Hand den 
5. Finger nicht oder weniger gelahmt als die iibrigen (Fig. 3), und 
hierher gehort wohl auch der oben erwahnte Fall von Extensoren- 
parese, S. An der linken Hand sehen wir vierraal — also fast in 
der Halfte der Falle — den 5. Finger weniger ergriffen als den 3. und 

4. Wir miissen es unentschieden lassen, ob diese Ausnahmsfalle auf 
eine angeborene, besonders gute Entwicklung der langen Strecker des 

5. Fingers zuriickzufiihren sind, oder auf eine besondere Schonung 
desselben bei der Arbeit. Die Hiiufigkeit des Freibleibens des 5. Fingers 



Fig. 3. 


an der linken Hand scheint fiir letztere Annahme zu sprechen. Be- 
rnerkt sei nur, dass wir — mit Ausnahme des spater zu erwahnenden 
Schlossers — keinen einzigen Fall gesehen haben, bei dem ausschliessliche 
Parese des 4. und 5. Fingers bestand; hingegen bestand bei einem 
Kranken an der linken Hand ausschliesslich Parese des 4. Fingers. 

Was die Mitbeteiligung der Daumenmuskulatur anbelangt. 
so ist in den von uns als Extensorenparese bezeichneten leichtesteu 
Fallen der Daumen nicht mit beteiligt; in alien Fallen aber, bei denen 
es zu einer hochgradigen Streckerparese oder -liihmung gekommen 
war, war mindestens die Muskulatur des rechten Daumens mit 
beteiligt. 

In einem einzigen Falle von zweimaliger Bleilahmung konnte eine 
Mitbeteiligung der Daumenmuskulatur nicht festgestellt werden, doch 
sind in diesem Falle die beiden Daumen von Kindheit an (wahrscheinlieh 
angeboren) im Interphalangealgelenk versteift. 

In einem der veralteten Falle ist als Residuum einer vor 13 Jahren 
erworbenen Bleilfthmung nur eine Einschr&nkung der Beweglichkeit des 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 259 

Daumens (Behinderung der Abduktion, Extension, Opposition) zurttck- 
eeblieben. 

Wie ja die rechte Hand sfcets starker ergriffen ist, so ist auch 
der rechte Daumen in starkerem Malie gelahmt als der linke 
(von den Fallen mit ausschliesslich rechtsseitiger Streckerlahmung 
ist begreiflicherweise im Folgenden abgesehen). 

Bei einem Falle war bei Beginn der Erkranknng der rechte Daumen 
starker erkrankt, doch besserte sich der Zustand rechts schneller, so dass 
dann eineZeit lang der linke Daumen schwerer beteiligt erschien (vgl. o.). 

Bei einem veralteten Falle war der linke Daumen ebenso stark 
beteiligt wie der rechte; in einem anderen veralteten Falle war der linke 
Daumen intakt, ebenso war bei einem Falle, bei dem bei der erstmaligen 
Lahmung Angaben liber die Daumen fehlen, bei der zweiten Erkrankuug 
der rechte Daumen mitbeteiligt, der linke Daumen intakt. 

In alien anderen Fallen war zvvar auch der linke Daumen be¬ 
teiligt, jedoch der rechte Daumen starker ergriffen als der linke. 
Mit Ausnahme von 3 spater zu besprechenden Fallen hatte stets die 
Abduktion und Hyperextension gelitten, also die Extensoren und der 
Abductor longus, aber niemals waren die betreffenden Muskeln voll- 
kommen gelahmt, es bestand nur eine geringe Parese des Extensor 
poll, longus, die sich vor allem darin ausdriickte, dass der Daumen 
nicht bis in die Ebene des Handriickens gehoben werden konnte, so- 
wie eine geringe Parese des Extensor pollic. brevis (Abduktion von 
Kadialseite der Hand nicht mit voller Kraft und nicht in vollem Um- 
fange moglich); auch die voile Streckung der Phalangen, an der die 
beiden erwabnten Muskeln mitwirken, war nicht moglich. Das Fehlen 
der Wirkung des Abductor longus und die Trennung seiner Parese 
von der des Abductor poll, brevis ist bei funktioneller Prtifung nur 
schwer festzustellen (vergl. weiter unten). Dass die langen Strecker 
des Daumens — ungleich den Streckern der iibrigen Finger — nie¬ 
mals vollkommen gelahmt gefunden wurden, erklart sich wohl aus 
ihrer relativen Kraftigkeit (vergl. oben) sowie daraus, dass der Daumen 
bei den Anstreichern keine starkeren oder haufigeren Bewegungen 
anszufiihren, sondern nur den Pinsel — der aus dem Handgelenk be- 
wegt wird — zu halten hat, wobei die Strecker und der Abductor longus 
als Antagonisten und Moderatoren der Daumenballeumuskeln wirken. 

Nicht gelahmt erscheinen die langen Daumenstrecker, wie oben 
erwahnt, nur in 3 Fallen und zwar bei einem veralteten Falle sowie bei 
zwei frischen Fallen; bei einem Fall fehlen bei der ersten Lahmung 
die Angaben. Bei den erstgenannten 3 Fallen jedoch und ebenso bei 
der zweiten Lahmung des zuletzt genannten sind die Daumenballeu¬ 
muskeln (neben den Hand- und Fingerstreckern) ergriffen, wie iiber- 


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260 


XIV. Tf.UF.KY 


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haupt in alien unseren Fallen — mit Ausnahme yon 2 Fallen — 
an der rechten Hand diese Muskeln mitbeteiligt sind, wahrend sie an 
der linken Hand in 5 Fallen trotz Ergriffenseins der langen Muskeln 
freigeblieben sind. Von den kleinen Daumenmuskeln ist haufiger 
der Abductor poll, brevis — der eigentliche Muskel der Opposition 
— etwas seltener der Adductor ergriffen. Vielleicht, dass es von ge- 
ringen Unterscbieden in der Pinselhaltung abhangt, welcher dieser 
Muskeln am meisten angestrengt wird. 

Dabei muss aber ausdrlicklich betont werden, dass auch bei diesen 
Muskeln fast stets nur eine Parese bestanden hat; nur bei einem ver- 
alteten Falle war rechts die Opposition ganz unmoglich, bei zwei 
anderen war die Adduktion an die Handflache durch kurze Zeit nicht 
moglicb; sonst bandelte es sich stets nur um eine Behinderung der 
volien Opposition oder um eine Schwache der Opposition resp. Ad¬ 
duktion. Immer treten die amDaumen vorhandenen Erschei- 
nungen von Parese ganz in den Hintergrund gegenuber den 
Paresen oder Lahmungen der Strecker von Fingern und 
Hand. Eine Atrophie der kleinen Handmuskeln im 2., 3., 4. Interos- 
sealraume konnte ich bei Anstreichem nicht selbst beobachten. Hin- 
gegen sah ich eine leichte, bald wieder vorttbergehende Atrophie im 
1. Interossealraum beiderseits bei einem Anstreicher; bei einem anderen 
entwickelte sich eine ein wenig starkere und persistente Atrophie im 
1. Interossealraume rechts. Bei zwei veralteten Fallen bestand Atrophie im 
1. Interossealraum und zwar rechts starker enwickelt als links, aber nur 
bei einem dieser Falle war die Atrophie rechts ttberhaupt stark entwickelt 

Wir konnen also wohl sagen, dass es nur in einem geringen 
Teil der Falle zu Atrophie der Interossei kommt, dass 
diese aber fast immer auf die Muskulatur im 1. Zwischenknochenraum 
beschrankt ist und wohl nur sehr selten hohere Grade erreicht. 

Die elektrische Erregbarkeit der langen Finger-, Daumen- und 
Handstrecker zeigte in alien Fallen mit Ausnahme eines einzigen, ver- 
haltnismassig rasch geheilten, Storungen, deren Grad stets dem funk- 
tionell festgestellten entsprach; die faradische Erregbarkeit war in den 
am meisten ergriffenen Muskeln auch stets am meisten herabgesetzt, 
in ein/.elnen Fallen erloschen; die galvanische Erregbarkeit zeigte stets 
geringere Storungen, nur in einem Falle konnte ausgesprochene Ent- 
artnngsreaktion festgestellt werden; in einem veralteten Falle war sie 
erloschen. Besser auf dem Wege der elektrischen Reizung als durch 
Prufung der Funktion liess sich feststellen, dass in den meisten 
Fallen der Abductor poll, longus von der Lahmung nur in geringem 
Grade ergriffen war. Nur in 2 Fallen war auch die faradische Erreg¬ 
barkeit des Abductor poll, longus anfangs vollkommen erloschen. 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


261 


Doch trat sie in diesem Muskel frtiber als in den langen Finger- 
streckern wieder auf. Dass im tibrigen eine Parese dieses Mus¬ 
kets keineswegs selten ist, bestatigt Duchenne (p. 178). — 
Bei Parese des Abductor pollicis longus und Extensor poll, brevis 
tritt der Metacarpus des Daumens in Adduktionsstellung und die 
1. Phalange wird leicht gebeugt, so dass sich ein ganz cbarakteristisches 
Bild ergibt. 

Scbliesslich sei noch erwahnt, dass wir bei einem unserer An- 
streicher insofern eine Mitbeteiligung der unteren Extremitaten ge- 
sehen haben, als Patellarklonus bestand. Gesteigerte Patellar- 
sehnenreflexe sind bei Bleivergiftung sehr haufig, warum aber dieser 
eine Patient eine so hochgradige Steigerung aufwies, konnte nicht 
ermittelt werden. 

Wir sehen also bei den Anstreichern in erster Linie die 
Extensoren der Finger ergriffen, die — wie wir oben gezeigt — 
relativ die schwachsten und die bei feinerer Yerrichtung relativ stark 
aDgestrengten Muskelgruppen sind, dann die Extensoren der Hand, 
die speziell bei Anstreichern (vergl. Edinger) noch mehr als 
bei sonstiger manueller Arbeit angestrengt werden. Ebenso findet 
sich fast stets eine Mitbeteiligung der Daumenmuskulatur, und 
zwar der Strecker des Daumens an beiden Handen — wobei 
der Abductor poll, longus weniger betroffen ist als die Extensoren 
brev. und longus — und der kleinen Daumenmuskulatur an der 
rechten Hand. Diese Lahmungen sind aber nie voll entwickelt, 
meist handelt es sich nur um eine ganz geringe Schwache derselben. 
Stets ist die rechte Hand mehr ergriffen als die linke. 

Mit dem oben Gesagten aber wollen wir nur die allgemeine Regel 
festgestellt haben, eine Regel, die sich ja vollstandig mit dem Bilde 
deckt, das von anderen Autoren in vollkommen gleicher Weise als 
das typische Bild der Bleilahmung beschrieben wurde; wir verweisen 
hier besonders auf die Beschreibung Remaks in Nothnagels Hand- 
buch (S. 656). 

Uns ist allerdings wolil bekannt, dass sich in der Literatur eine 
Anzahl von Fallen findet, die uns zeigen, dass auch beim Anstreieher 
eine starkere Beteiligung von kleinen Handmuskeln vorkommen kann; 
das aber geht aus unseren Ausfiihrungen hervor, dass gerade das so- 
genannte typische Bild der Bleilahmung das Bild der Blei¬ 
lahmung des Anstreichers ist. 

Edinger hat gezeigt, wie der Anstreieher in seinern Berufe ge¬ 
rade besonders die Handstreeker anstrengt, w'iihrend Supinator und 
Abductor poll, longus nicht mit verwendet werden. 


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XIV. Teleky 


Wir miissen Edinger in diesen seinen Ausfuhrungen liber die 
Handstrecker beistirnmen, glauben aber oben dargelegt zu haben, 
(lass in einer ganzen grossen Auzahl — ja in den meisten handwerks- 
massigen Berufen — eine starke Anstrengung derselben Muskeln statt- 
tindet. Auch glauben wir den Grund flir das Freibleiben von Supi¬ 
nator und Abductor poll, longus in ihrer besonderen Kraftigkeit finden 
zu rniissen, der ihr Freibleiben oder wenigstens geringeres Ergritfen- 
sein von der Lahmung auch bei anderen Berufen als den sie tatsach- 
lich vvenig anstrengenden Anstreichern erklart. Was uns aber fGr 
die Bleilahmung der Anstreicher besonders charakteristisch 
erscheint, ist die verhaltnismassig geringe Mitbeteiligung 
der Thenarmuskulatur, die seltene der tibrigen kleinen Hand- 

muskeln. 

Wir haben stets die beiden Hande ge- 
meinsam betrachtet, beide bieten auch fast 
stets ganz analoge Befunde, nur dass die 
Lahmungserscheinungen stets links weniger 
ausgesprochen sind als rechts. Die einzigen 
Unterschiede, die nicht nur rein quantita- 
tiver Natur sind, bestehen darin, dass an 
der linken Hand fast in der Halfte der 
Fiille die Strecker des 5. Fingers weniger 
ergriffen sind als die des 3. und 4. Fingers, 
und dass in 5 Fallen die Daumenballenmus- 
kulatur zwar an der rechten, nicht aber an 
der linken Hand Zeichen der Parese darbieteh 
Was hat nun die linke Hand des Anstreichers zu arbeiten? Ha u fig, 
wenn der Arbeiter am Boden — nicht auf der Leiter stehend — 
arbeitet und sich ihm bequeme Gelegenheit zum Niederstellen des Ge- 
fasses bietet, ist die linke Hand ganz unbeschaftigt, sonst aber hat 
sie beim Schleifen — ebenso wie die rechte Hand — den Bimstein 
oder das Sandpapier zu flihren, ihre Hauptaufgabe jedoch ist 
das Gefass mit Farbe zu halten. Dieses ist — besonders wenn 
mit Bleifarbe gearbeitet wird — keineswegs leicht, kann 1—2 kg. 
wiegen, und ist das dauernde Halten des Gefasses recht ermudend. 
Wie aber Fig. 4 zeigt, werden dabei die Beuger der Finger an- 
gestrengt; da es sich aber weder um eiuen mit sorgsam abgestufter 
Kraft auszulibenden Druck der Finger, noch um eine oftmals zu 
wechselnde Fingerstellung handelt, kommen die Strecker der Finger 
kaum in angestrengte Tatigkeit, und auch den Handstreckern wird 
nicht viel Arbeit zugemutet. 

Uber dieses ganz auffallige, mit unseren bisherigen Aus- 



Fig. 4. 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


263 


fiihrungen iiber die Ursachen, die zur Lahmung der einzelnen Mus- 
keln fuhren, nicht in tjbereinstimmung befindliche Verhalten 
der linken Hand der Anstreicher soil am Schlusse dieser Arbeit ge- 
sprochen werden. 

Die Feilenhauer haben seit jeher als Paradigma fur den EinHuss 
der professionellen Anstrengung auf die Lokalisation der Bleilahmung 
gegolten; sie waren es, die Mobius veranlasst haben, jene eingangs er- 
wahnten Ansichten auszuspreehen. 

Mobius hat damals auch die Behauptung aufgestellt, dass „bei 
Feilenhauern vorwiegend oder 
ausschliesslich die Muskeln des 
linken Daumens erkranken“. 

Gegen diesen Satz haben sich 
Bernhardt und sein Schuler 
Leichtentritt (Beitriige zur 
Pathologie der Bleilahmung, 

Dissert. Berlin 1887) gewendet. 
aber auch die von ihnen publi- 
zierten Falle von Bleilahmung 
zeigten, mit Ausnahme eines 
einzigen Falles, eine auffallende 
Mitbeteiligung der Muskulatur 
des linken Daumens. Mobius 
selbst hat spater das „vorwie- 
gend oder ausschliesslich" als 
,zu stark“ bezeichnet. 

Eine vorwiegende oder 
ausschliessliche Erkrankung 
der Muskulatur des linken 
Daumenballens aber ware durch die Bescbaftigung des Feilenhauers 
selbst auch kaum gerechtfertigt, denn wenn auch die Daumen- 
muskulatur der linken Hand sehr stark augestrengt wird, so ist 
die Anstrengung der rechten Hand kaum eine geringere; hat der 
Arbeiter doch mit dieser Hand einen Hammer zu fuhren, dessen Gewicht 
zwischen l l t und 5 Kilo betriigt. Arbeitet ein Feilenhauer kleiuere 
Sorten Feilen unter Benlitzung eines leichten Hammers, dann allerdings 
werden die Muskeln des linken Daumens die grosste Anstrengung 
zu vollfuhren haben, schwingt der Arbeiter aber kontinuierlich einen 
5 Kilo schwereu Hammer, dann wird wohl die Muskulatur der rechten 
Hand die schwerere Arbeit zu leisten haben. Welch schwere Arbeit 
der Feilenhauer leistet, wie seine samtlichen Handmuskeln dabei ange- 



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XIV. Teleky 


strengt sind, geht wohl aus dem Bilde (Fig. 5) hervor; uoch besser 
aber wird dies durch die gleich zu erwahnenden Berechnungen Olivers 
und durch die Hammerstiele bewiesen; diese letzteren haben einen 
ovalen gegen deu Hammerkopf zu sich allrnahlich und gleichmassig 
verjiingenden Durchschnitt und sind aus hartem Schlehdornholze gemacht. 
Nach V 2 —1 jahrigem Gebrauch aber zeigt der Stiel deutlicb die 
Fingerabdrlicke in folgender Gestalt (Fig. 6). Der Stiel selbst — der 
nacheinander von mehreren Arbeitern bentitzt wurde — zeigt uns auch 
deutlich, dass er nicht von alien Arbeitern in der gleichen Weise ge- 
handhabt wird. Er zeigt zwei vom Daumen herruhrende Eindriicke, 
den einen oben, den andere seitlich. Ein Teil der Arbeiter halt den 


Daumenabdruek bei Oppositionshaltung 



Daumenabdruck bei Adduk- 
tionshaltung 


Abdruck d. iibrigen Finger 
Fig. 6. 


Daumen gestreckt und oben, wobei mehr die Oppositionsmuskeln an- 
gestrengt werden, ein anderer gebeugt und seitlich, mit Hilfe der Ad- 
duktionsmuskeln. 

Dies zeigt uns aber aucb deutlich, dass wir kaum genau die 
gleichen Lahmungen bei genau derselben Beschaftigung erwarten diirfen, 
dass wir der individuellen Gewohnheit des Einzelnen — die vielleicht 
in individual verschiedener anatomischer Veranlagung ihren Grand 
hat — stets einen gewissen Spielraum werden zugestehen miissen. 
Auch auf diesen Umstand hat Mobius bereits hingewiesen. Auch die 
weitere Behauptung von Mobius, dass die vorwiegende Erkrankung 
des linken Daumens eine alien alten Feilenhauern bekannte Tatsache 
sei, konnen wir teilweise bestatigen. Fragt man einen Anstreicher, 
wie eine Hand mit Bleilahmung aussehe, so beschreibt er das so 
charakteristische Bild der Extensorenlahmung (wrist-di’op), wahrend 
alle Feilenhauer auf diese Frage hin angeben, „dass das Fleisch um 
die Daumen herum weggehe". 

Bemerkt sei auch, dass Oliver (Dangerous Trades, p. 344) die Lali- 
mnug der Feilenhauer Shertields ganz ebenso beschreibt wie die erwahnten 


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Zur Kasuistik dcr Bleilahmung. 


265 


deutschen Autoren. Oliver hat auch bereclinet, wie gross die Kraftleistung 
ist, die ein Feilenhauer zu verrichten hat. Einer seiner Patienten arbeitete 
mit einein Hammer, der 7 Pfund wog. Er erzeugte im Tag 15 Feilen, 
von denen jede 1500 Hammerschliige erforderte; er hob also wahrend 
eines Tagewerks 157 000 engl. Pfund. 

Allerdings wird diese Feilenhauerlahmung immer seltener. Wahrend 
man sich einerseits bemliht, die Bleiunterlagen durch andere zu er- 
setzen — nach den Erhebungen des deutschen Reichsamtes des Innern 
werden in drei Vierteln aller Feilenhauereien an Stelle der Bleiunter¬ 
lagen die weniger gefiihrlichen Unterlagen aus Blei-Zinnlegierungen 
oder Unterlagen aus Zinn oder Zink bentitzt, nnd auch der im Jahre 
1906 zwiscben den Wiener Feilenhauermeistern uDd -gehilfen zustande 
gekommene Tarifvertrag sieht die Abschaffung der Bleiunterlagen vor; 
nur ftlr Raspeln werden durchgehends noch Bleiunterlagen verwendet 
—, wird andererseits der Handbetrieb immer mebr durch den Maschinen- 
betrieb verdrangt, und wenn hier auch haufig Blei oder Bleilegierung 
zur Unterlage bentitzt wird, so ist scheinbar die Gefahr einer Bleiver- 
giftung hier eine etwas geringere und gar keine Ursache fur die be- 
sondere Lokalisation der Lahmung gegeben. 

Bei der Feilenhauerlahmung des linken Daumens scheintes ubrigens 
nicht leicht, die Grenze zwischen Ermildungs- und Lahmungserschei- 
nungen festzustellen. Nach Angabe der Gehilfen komme es ofters vor, 
dass der Daumen „nachgebe u . Sie unterstiitzen dann die Meissel- 
haltung durch Umschnurung der Finger mit Spagat oder einem Riemen; 
nach kurzer Arbeitsruhe verschwindet diese Erscheinung von Parese 
wieder. 

Was die ausgebildeten Bleiliihmungen anbolangt, so sail ieh im Oktobor 
1906 zwei Feilenhauer, die Bleilahmung durchgemacht batten. 

A. F., 38 Jahre alt, gab an, er sei vor einem Jahre an Bleilahmung 
erkrankt (ich selbst sail ihn damals flllchtig mit einer Atrophie der Daumen- 
ballenmuskulatur und der Muskulatnr des 1. Interossealraumes, sowie Ex- 
tensorenparese), es seien die Muskeln an beiden Daumen weg gewesen. 
Heute kann nicht mit Sieherheit eine Atrophie konstatiert werden. Arbeitet 
wieder als Feilenhauer. 

A. St, 28 Jahre alt. Seit 10 Jaliren alljiihrlich 1—2 mal Bleikolik. 
Vor einem Jahre begann die Lahmung am linken Daumen. Das Inter- 
phalangealgelenk gab nach, nach einem Monat sank die rechte Hand in 
Beugestellung. Die Lahmungserscheinungen dauerten ca. 5 Monate. Heute 
besteht nur eine geringe Schwiiehe der Extensoren. 

Einen weiteren Fall hatte ich durch liingere Zeit zu beobachten (»**- 
legenheit. 

F. H., 26 Jahre alt, kam am Elide 19<*5 in nioine Behainllung. Er 
hatte 1899 mehrfach Bleikolik durchgemacht; vom Jahre 1900 an sullen 


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266 


XIV. Tei.eky 


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die Magenbesckwerdeu nachgelassen, sich aber Schw&che und Abmagerung 
in den H&nden bemerkbar gemacht haben. Er bot folgendes Bild: 

Rechte Hand: Hand- und Fingerstreckung unmOglicb, Opposition und 
Abduktion des Daumens erhalten, Adductor poll, brevis und Interosseus I 
atrophisch. Fingerstrecker reagieren sehr wenig auf faradischen, etwas 
besser auf galvanischen Strom, rechts schlechter als links. Nur der Ab¬ 
ductor poll, longus reagiert etwas prompter. 

Linke Hand: Starke Parese der Finger-, m&ssige der Handstrecker. 
Endphalangen der Finger gebeugt. Lange Streckmuskeln sowie Muskula- 
tur sSmtlicher Zwischenknochenraume atrophisch. Daumenballen abgeflacht. 
Opposition des Daumens nicht, Abduktion nur wenig mOglich. Faradische 
Erregbarkeit der Handstrecker und des Abductor poll, longus herabgesetzt; 
galvanischer Strom lost trdge Zuckung aus. 

Sowohl aus den Angaben der beiden ersten als auch aus dem Be- 
funde bei dem letzten Falle geht die starke Beteiligung der Muskulatur 
des linken Daumens sowie auch die Beteiligung der fibrigen kleinen 
Handmuskeln aufs deutlichste hervor. Und wenn auch in der Literatur 
fiber Falle von starker Mitbeteiligung der kleinen Handmuskeln auch 
bei Anstreichern berichtet wird und wir ja auch selbst fiber Mitbe¬ 
teiligung derselben berichtet haben, so ist doch die vorwiegende 
Mitbeteiligung einzelner oder vieler kleiner Handmuskeln 
auffallend, und wir konnen nach allem das frfihe Auftreten 
dieser Lahmung und die starke Mitbeteiligung dieser Mus- 
keln (besonders der des linken Daumenballens) als charak- 
teristisch ffir die Lahmung der Feilenhauer ansehen. Dass 
aber gerade diese Muskeln besonders haufig und schwer ergriffen 
werden, hangt wohl aufs allerdeutlichste mit der profesaionellen tjber- 
anstrengung dieser Muskeln zusammen. Besonders sei noch darauf 
hingewiesen, wie in dem letzterwahnten Falle in der Lahmung der 
Daumenmuskeln deutlich die verschiedene Art der Anstrengung bei 
der Tatigkeit hervortritt. Links ist der Daumen in Oppositionsstellung 
angestrengt tatig — die Opposition des Daumens ist erheblich gestort 
Rechts zeigt die Adduktion erhebliche Storung, wahrend die Opposition 
frei ist — der Hammerstiel wird von vielen Arbeitern sehr wahrschein- 
lich, ganz genau liess es sich nicht mehr ermitteln, vom Patienten 
durch die Adduktion des Daumens gehalten. 


Zwei Falle, in denen noch mehr als bei den Feilenhauern die 
Lahmung und Atrophie von kleinen Handmuskeln oder vielmehr die 
einer gaDz eng begrenzten Gruppe derselben im Vordergrunde steht, 
wiihrend die Streckerlahmung nur in ganz geringem Malle zur Ent- 
wicklung kommt, hatten wir Gelegenheit bei Poliererinnen, „Putze- 
rinnen“, einer Flasclienkapselfabrik zu beobachten. 


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Zur Kasuistik der Bleiliihinuug. 


267 


Wir wollen zunachst die Krankengeschichten dieser ganz eigen- 
artigen Falle von Bleivergiftung folgen lassen: 

Therese H., geb. 1882, verh., Analphabetin, arbeitet in der Flascben- 
kapselfabrik als „Putzerin“ seit dem Jahre 1900 mit mannigfachen Unter- 
brechungen, meist nur im Winter, wfihrend sie im Sommer anf Bauten, 
ZiegelOfen usw. Beschaftigung findet. 

Hat 1899 normal entbunden, das Kind lebt. Seit der Arbeit in der 
Fabrik war sie llmal an Bleivergiftung erkrankt, war mehrmals (von 
demselben Vater, von dem sie das erste Kind hat) in der Hoffnung, hat 
aber stets (ihre Angaben schwanken zwischen 6—9 mal) abortiert, zuletzt 
— laut Krankenbuch — am 29. II. 1908. Zur Zeit ihrer ersten Blei¬ 
vergiftung 1901 war sie langere Zeit blind (nach ihrer Angabe), 1904 litt 
sie an Encephalopathia saturnina. Als ich sie im Jahre 1906 zum ersten 
Male sah, bestand beiderseitige, ziemlich weit vorgeschrittene Atrophia nervi 
optici. (Am 31. I. 1908 war die Sehschfirfe rechts 5|18, links wurden 
kaum Handbewegungen vor dem Auge gesehen [Prof. Konigstein]). 

7. III. bis 23. III. 1906 war sie an Bleikolik erkrankt, dann war sie 
bei anderen Arbeiten beschaftigt bis Spatherbst 1906. 

Nach 7 wOchentlicher Bleiarbeit 2. I. 1907 Abortus, dann andere Be¬ 
schaftigung. 

Ab Oktober 1907 Bleiarbeit: 29. I. 1908—7. III. Bleivergiftung (24. 
II. Abortus) dann wieder Bleiarbeit; 13. VI. 1908—26. VI. 08 in Kranken- 
stand (Bleivergiftung, dann Landaufenthalt auf Kosten der Kasse). 

Am 15. VIII. 1908, nachdem sie also fiber 2 Monate von Bleiarbeit 
feme gewesen und nur hfiusliche Arbeiten verrichtet hatte, kam sie zu 
mir und klagte Qber Schwache und Geffihllosigkeit in der rechten Hand 
und Unterarm. Die Untersuchung ergab: Motorische Kraft der rechten 
Hand stark herabgesetzt, besonders Dorsalflexion im Handgelenk sowohl bei 
gestreckten Fingern als auch bei Faustschluss erschwert. Grobschlfigiger 
Tremor, Sensibilitat aller Qualitaten an Hand und Unterarm stark herab¬ 
gesetzt, fast erloschen. Nachdem Patientin einige Male faradisiert worden, 
tritt starke Besserung ein, so dass Patientin aus der Behandlung ausbleibt. 
Da das verringerte SehvermOgen es der Patientin unmOglich maclit, andere 
Arbeit zu linden, so tritt sie am 1. IX. 1908 wieder in die Flaschen- 
kapselfabrik als Putzerin ein. 

Am 23. XI. kommt Patientin zu mir, klagt, dass sie wieder an gastri- 
schen Beschwerden (Kolik, Obstipation, Erbrechen) leide. Seit einigen 
Tagen gebe der Daumen bei der Arbeit nach, so dass ihr die Arbeitsver- 
richtungen unmOglich seien. Die Untersuchung ergibt neben dem Vorhan- 
densein der Zeichen chronischer Bleivergiftung (Bleisaum,hochgradige Aniimie, 
basophile Granulationen der Erythrocyten), erweiterten, trfige reagierenden 
Pupillen, Druckempfindlichkeit des Abdomens, Dampfung fiber der rechten 
Lungenspitze und gesteigerten PSR, Tremor beider, besonders aber an der 
rechten Hand noch folgenden Befund an der rechten Hand: 

Anch bei gestreckten Fingern voile Dorsalflexion im Handgelenk mog- 
lieh, aber mit etwas verminderter Kraft. Der Daumen wird in der Rulie- 
lage leicht an die Seitenflache des 2. Fingers adduziert, nach aussen leicbt 
rotiert und in die Ebene der Gbrigen Finger cingestellt gehalten (leichte 
Affenhandstellung). Der Daumen kann nach aussen niclit voll abduziert 
und nicht vollkommen extendiert werdeu, dock ffthlt man Itei Innervation 


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XIV. Tei.eky 


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die Sehnen des Extensor poll, longus, des Abductor poll, longus uml des 
Extensor poll, brevis sich ziemlich krhftig anspannen. 

Abduktion des Daumens von der Handflache, Rotation des Metacar¬ 
pus des Daumens um seine Ackse unmoglich. Der Metacarpus I kann nur 
soweit gebeugt und nach einwarts gezogen werden, dass er nur mehr wenig 
nach auswarts vom Metacarpus II stekt. Eine Streckung der Phalangeu 
des Daumens in dieser Stellung ist danu unmoglich. Die Adduktion des 
Daumens an die innere Handflache erfolgt nur mit sehr geringer Kraft. 

Dem so adduzierten, im Metacarpocarpalgelenk leicht, in den Phalan- 
gealgelenken ebenfalls leicht gebeugten Daumen ist es auch bei gestreckter 
Grundphalange und maximal gebeugter 2. und 3. Phalange der Qbrigen 
Finger nur mit grosster Anstrengung moglich, mit seiner Spitze die Kuppe 
des 4. Fingers zu bertthren. 

Die Flexion der Finger sowie die Flexion des Endgliedes des Dau- 
niens erfolgt mit guter Kraft. 

An der Dorsalseite des unteren Teils des rechten Unterarms ganz 
leichte Abmagerung, in dem proximalen Teile des Daumenballens leichte, 
aber sehr deutliche Atrophie. 

Am Daumen und Zeigefinger. und der entsprechenden Handpartie bis 
zwei Querfinger tlber dem Handgelenk ist an Volar- und Dorsalseite die 
oberflacklicke Sensibilitat in alien Qualitaten vollkommen erloschen, ebenso 
tiefe Sensibilitat. Faradische Erregbarkeit der Daumenballenmuskulatur 
sehr stark herabgesetzt, die der langen Fingerstrecker und der langen 
Daumenmuskulatur normal. Linke Hand intakt. 

Im Laufe der nhchsten Wochen kam es zu deutlicher Atrophie des 
Abductor poll, brevis. 

Bei der Patientin besteht zweifellos eine funktionelle Erkrankung 
neben einer organischen. Die erste Erkrankung im August war — 
daflir spricht auch der rasche Verlauf — zum allergrossten Teile 
funktioneller Natur, doch mogen sich auch hier die hjsterischen Sym- 
ptome auf Grundlage einer ganz leichten Extensorenparese — die ja 
auch ausserhalb der Berufsarbeit, vieleicht begiinstigt durch hausliche 
Arbeiten, entstauden sein konnte — entwickelt haben. Von dem eben 
beschriebenen Krankheitsbild sind zweifellos die Sensibilitatsstorungen 

— dafiir spricht auf das deutlichste ihre Ausdehnung und Intensitiit 

— funktioneller, ebenso zweifellos die motorischen Erscheinungen 
organischer Natur, wobei nur noch neben bei bemerkt sei, dass ihr das 
ahnliche Leiden ihrer Kollegin (vergl. folgende Krankengeschichte) 
nicht nur unbekannt war, sondern sie vermbge ihrer Opticusatrophie 
diese Veriinderungen nberhaupt nicht zu selien imstande war. 

Die motorischen Stbrungen bestehen also in leichter Schwache 
der Extensoren der Finger, ganz leichter Schwache der Extensoren des 
Daumens; v ollstandiger Lahmung des Abductor poll, brevis, 
des Opponens, des ausseren Biindels des Flexor poll, brevis, 
Parese des Adductor poll, brevis. 


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Zur Kasuistik dcr Bleilahmung. 


269 


Eleonore T., geb. 1872, verh. 

Als ich Patientin im Marz 1906 das erste Mai sab, bot sie an dor 
rochten Hand dieselben Erscheinungen wie jetzt (Dezember 1908). Sio 
war damals seit 1897 bereits 13 mal wegen Bleivergiftung in Krankon- 
stand gewesen. Sie hat seitdem noch 6 mal Bleivergiftung durcligeinacht, 
dabei im Marz 1908 Symptome von Encephalopathia saturnina gezeigt. 
Ubcr den Zeitpunkt der Entstehung der Atrophie am Daumenballen woiss 
<io nichts anzugeben, obwohl sie durcli die Bewegungseinschrankung dos 
Daurnens behindert wird. Sie zeigt starken Bleisaum, hochgradige Anamie, 
starke Odeme an den Fflssen and Unterschenkeln, die Patellarreflexe sind 
lobhaft, die Intelligenz ist sehr gering. Die linke Hand bietet normale 
Verhaltnisse dar. Rechte Hand (1906 ebenso wie jetzt): Alle Bewe- 
gungen im 2.—5. Finger sowie im Handgelonk frei and mit guter Kraft, 
ausfilhrbar. 

Rechter Daumen wird in Ruhelage in leichter Affenhandstellung ge- 
lialten, die etwas ausgesprochener als bei der vorher erwahnten Patientin 
ist. Abduktion des Daurnens vom Seitenrande des Zeigelingers in ver- 
riugertem Umfange mOglich, doch spannen sich dabei die Sehnen des 
Abductor poll, longus und Extensor brevis ziemlicb kraftig; wahrend dieser 
Abduktion ist voile Streckung der Phalangen nicht moglich. 

Der Metacarpus I kanu sowohl kraftig adduziert als auch in vollem 
Umfange in die Hohlhand eingezogen werden, wobei eine Streckung der 
Endphalange und die maximale Beugung der 1. Phalange mOglich. Es 
kann so die Spitze des Daurnens — allerdings mehr mit ihrer RQckseite 

— die Spitzen aller anderen Finger, wenn diese im Grundgelenk ge- 
streckt, in den anderen Gelenken maximal gebeugt sind, erreichen. Un- 
moglich ist die voile Abduktion des Daurnens von der inneren Haudflacbe 

— sie kann nur in ganz gcringem Umfange geschehen — und ebenso die 
Rotation des Daurnens urn seine eigene Achse. Die BerObrung der Spitze 
des Daurnens und der Qbrigen Finger ist nur in der oben beschriebenen 
Stellung mOglich. 

In der dera Abductor poll, brevis entspreclienden Region des Daumen- 
ballens ist eine starke Yertiefung sichtbar. 

Die faradische Erregbarkeit des Abductor poll, brevis und die gal- 
vauiscbe sind erloschen (1908); Patientin katte 1906 die Untersuchung ver- 
w eigert. Sensiblitiitsstdrungen bestehen nicht. Es besteht bei Patientin 
also neben einer ganz leichten Parese der langen Daurnens trecker 
(Extensor poll, longus und brevis, Abductor poll, longus) cine vollstiin- 
digeLahmung und Atrophie des Abductor poll, brevis. 

Bei dieser letzteren Patientin wissen wir nicht, ob wir die Lahmung 
relativ kurze Zeit nach ihrer Entstehung gesehen, oder ob wir es mit 
den Resten einer fruher vielleicht etwas ausgebreiteteren Liihmung zu 
tun haben. Patientin selbst weiss nur anzugeben, dass der Daumen 
seit langerer Zeit bei der Arbeit nicht gut brauchbar sei. Ob zu Be- 
ginn des Leidens eine leichte Parese der Fingerstrecker bestanden, 
wissen wir nicht. Patientin vermag nichts Derartiges anzugeben, aber 
bei der geringen Intelligenz derselben ware es gar nicht venvunderlich, 
wenn ihr eine leichte Streckerparese nicht zum Bewusstsein gekommen 


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270 XIV. Tki.f.kv 

ware, da solcbe auch, bei weit intelligenteren Personen oftmals gar 
nicht zum Bewusstsein kommen. Eine starkere Parese aber, auch nur 
eine Andeutung von wrist drop ware auch unserer Patientin gewiss 
nicht entgangen. Wenn wir es bei dieser Patientin auch vielleieht 
mit einera Residuum alterer Labmung zu tun haben, so kann auch 
die frische Lahmung das MaB der bei unserem 1. Falle beobachtetcu 
kaum wesentlich Oberschritteu haben. 

Es bestehen also bei beiden Arbeiterinnen, die beide seit vielen 
Jahren dieselbe Arbeit verrichten, beide an schwerer chronischer Blei- 
vergiftung leiden, ganz ahnliche, von alien bisher beobachteten Blei- 
vergiftungen in ihrer Lokalisation vollkommen verschiedene Lahmungs- 
erscheinungen. Ergriffen ist in beiden Fallen in erster Linie 
der rechtsseitige Abductor poll, brevis (Nerv. median.), der 
vollkommen gelahmt und atropisch ist, ferner — aber nur in 
ganz geringem MaBe — die langen Strecker und der lange Abduktor des 
rechten Daumens (Nerv. radial.). In dem einen Fall sind ausserdem 
samtliche Daumenballenrauskeln und der vom Nerv. ulnaris 
versorgte Adduktor hochgradig, in ganz geringem Grade 
die Finger- und Handstrecker betroffen. 

Unmittelbar vor, resp. bereits nach Abschluss dieser Arbeit kamen 
noch zwei Falle von Bleilahmung unter Putzerinnen zu unserer Be- 
obachtung, die wir — obwohl wir ja aus technischen Grunden uus 
im allgemeinen auf die vor 1.1. 1909 in unsere Beobachtung gelangteu 
Falle beschranken mGssen — doch der Vollstandigkeit halber anfQhreu 
miissen. 

I. S. 41 Jalire alt, verb. Seit 1901 Putzerin in der Flaschenkapsel- 
fabrik, ist sie nach 14monatlicher Arbeit das erste Mai an Bleivergiftung 
erkrankt. Seitdem 16 mal mit Bleivergiftung im Krankenstand gewesen. 

Beim vorletzten Mal (Juli 1908) war der Hfindedruck rechts schwftcher 
als links, ebenso die Beugung im Ellbogengelenk. Dorsalflexion der Hand 
b»‘i gestreckten Fingern im vollen Umtange moglich, mit nur unbedeutend 
geringerer Kraft als liuks. 

Als sie nach 15 wochentlicher Bleiarbeit am 4. II. 1909 wieder mit 
alien Zcichen der Bleivergiftung in meine Bebandlung kam, klagte sie fiber 
Sehmerzen im rechten Dauinenballen. Der rechte Daumen kann nicht fiber 
die Fliicbe des Handriickens geboben, nicht voll extendiert werden. Oppo¬ 
sition < i in wenig ersclnvert. 

Sie klagte dann — nacbdem die Erscheinung von seite des Verdau- 
ungstraktcs verscbwunden —, dass der rechte Daumen immer schwiicher 
werde. 

Befund am 18. 111. 19i>9. Ilechte Hand: Dorsalflexion in vollem Urn- 
fang auch bei gestreckten Fingern moglich. aber mit verringerter Kraft. 
Faustschluss mit verringerter Kraft. Extension und Abduktion des Dau¬ 
mens in vollem Urnfang. aber die letztere mit verringerter Kraft. Die 
Opposition lies Daumens. besonders aber die Adduktion mit nur sehr ge- 


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Zur Kasuistik der Bleilahimmg. 


271 


ringer Kraft (aber in vollem Umfange) mSglich. Es besteht eine leichte, 
aber deutlicbe Atrophie in der Gegend des Adductor poll. 

Faradiscke Erregbarkeit der Strecker sowie der Oppositionsmuskeln 
erlialten, die des Adductor poll, stark herabgesetzt (in Yergleich mit links). 
Angaben Qber die Schmerzempfiudlichkeit schwankend, meist beiderseits 
gleich, manchmal an der rechten Kflrperhiilfte weniger empfunden als links. 

Linke Hand intakt. 

Bcfund vora 8. Mai 1909. Rechter Daumen: Extension mit ganz wenig 
verringerter Kraft; vielleicht dass die zur Opposition notwendige Drehung 
nicht ganz vollstandig ausgefQhrt. werden kann. Adduktion moglich, aber 
mit sehr verringerter, ganz minimaler Kraft, Adductor poll, atrophisch. 
Alle anderen Hand- uud Fingerbewegungen vollkoinmen intakt, keine Sen- 
sibilitatsstdrungen. Faradiscbe Erregbarkeit des Adduct, poll, herabgesetzt. 

F. T. 20 Jahre, ledig. 

War von Mftrz bis Juli 1907 Putzerin in der Flaschenkapselfabrik, 
ohne zu erkranken. Seit 10. III. 1908 wieder mit dieser Arbeit besch&ftigt, 
kam sie am 13. V. 1908 mit Saturnismus in meine Behandlung, sie war 
damals im 6. Mount gravid. Am 23. VI. erfolgte eine FrQhgeburt, das 
Kind starb nach einigen Wochen an Lebensschw&che. 

Mitte August — 9. X. wieder in Putzerei gearbeitet. 9. X.—7. XI., 
dann 21. XI.—26. XII. 1908 mit Bleivergiftung im Krankenstand, dann — 
ebenso wie die frQheren Male trotz dringenden Abratens — wieder in 
I’utzerei, kommt 10. II. 1909 wieder in Krankenstand in sehr elendem Zu- 
stande, furchtbar herabgekommen und abgemagert, mit Apicitis dextra und 
alien Erscheinungen schwerer Bleivergiftung. 

Seit Mitte Mftrz klagt sie Qber Schmerzen in Armen und Beinen, am 
25. III. Qber Bewegungsbehinderung der HQnde. 

Befund vom 17. IV. 1909. Rechts: Vollstandige Lahmung der langen 
Hand- und Fingerstrecker. Daumen: Abduktion des Metacarpus I radial- 
warts fast in vollem Umfange, aber mit geringer Kraft moglich. Exten¬ 
sion der Phalangen nur ganz wenig moglich. Jede Oppositionsbewegung 
(sowohl Abduktion von Handflache als auch Rotation) ganz unmoglich. Ad¬ 
duktion mit minimaler Kraft moglich. Starke Atrophie der langen Hand- 
strecker. Atrophie der Daumenballenmuskulatur und des Adductor poll. 

Links: Vollstandige Lahmung der Fingerstrecker, Parese der lland- 
strecker. Daumen: Streckung nicht vollstandig. Opposition mit sehr ge¬ 
ringer Kraft, alle anderen Bewegungen mit einer der schlechten Gesamt- 
muskulatur entsprechenden geringen Kraft moglich. 

Faradische Erregbarkeit: Beiderseits lange Strecker und Daumenstrecker 
stark herabgesetzt. Daumenballenmuskulatur rechts erloschen. 

Galvanische Erregbarkeit intakt. 

Der Fall I. S. weicht von den beiden ersterwahnten Fallen inso- 
fern ab, als, nachdem eine leichte Schwache der Fingerstrecker rasch 
vorubergegangen ist, nunvor allem der Adductor poll, ergriffen 
ist, daneben eine leichte Schwache der Daumenstrecker und vielleicht 
auch der Oppositionsmuskeln des Dauraens besteht. 

Wir wollen uns zuniichst mit den das eigentiimliche Bild am 
scharfsten zeigenden 2 ersten Fallen beschiiftigen. 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. 37 . B<1. 18 


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Die Lokalisation der Lahmung in diesen Fallen, die sich ja von der 
sonst bei Beteiligung der kleinen Handmuskeln(Type Aran-Duckenne 
nach Dejerine-Klumpke) beobachteten wesentlich unterscheidet, die 
auch wesentlich anders ist als die als Beschaftigungsneuro.se be- 
schriebene progressive Muskelatrophie bei Goldpoliererinnen (Gessler, 
Medizinisches Korrespondenzblatt des wiirttembergischen arztlichen 
Landesvereins, 1896, S. 281) und der Platterinnen (Remak, in Eulen- 
burgs Realenzyklopadie) wird uns dann verstandlicb, wenn wir die 
Art der Arbeit dieser Frauen und die Anstrengung, die die verschie- 
denen Muskelgruppen dabei zu machen haben, betrachten. 

Der Vorgang beira sogen. „Putzen“ ist folgender: Die Flaschenkapseln 
werden einzelu auf eine in rascher Rotation um ihre eigene Achse befind- 
liche Spindel aufgesetzt. Durck zweckentsprechendes Andrttcken eines mit 
Spiritus befeuchteten und mit Kreide bcstreuten Rutzlappens an die Ober- 
fliicbe der Kapsel hat die Arbeiterin diese Kapseln blank zu putzen, wo- 
bei die ganz dhnne Schicht von Zinn, die das Bleiblech bedeckt, rissig 
wird, Blei zutage tritt und zum Teil auch abgerieben wird, wodurch eben 
der Anlass zur Entstehung der Bleivergiftung gegeben ist 

Bei dieser Arbeit nimmt die rechte Hand der Arbeiterin nach einauder 
die folgenden, aus den Pbotographien ersichtlichen Handstellungen ein 
(Fig. 7—10). Bemerkt sei nur noch, dass wir die Bilder niclit an Ort 
und Stelle aufnehmen konnten, und dass wir deshalb gezwungen waren, 
die sich drehende Spindel samt Kapsel durch einen ruhig gehaltenen Stab 
zu ersetzen. 

Nur bei Stellung 1 erscheint die Hand dorsal, bei Stellung 2 und 3 
volar flektiert, bei Stellung 4 in ruhiger Mittellage. Aber auch bei Stel¬ 
lung 1 ist die aktive Tatigkeit der Strecker — wenn tlberhaupt vorhanden 
— eine nur sehr geriuge, denn die Dorsalflektion wird erzeugt durch 
Stemmung des Spindelendes gegen das distale Elide des Metacarpus 2 bei 
stiirkerer Anniikerung des Armes. Die eigentliche Arbeit verrichten auch 
bier die Oppositionsmuskeln des Daumens und die Flexoren des 2. und 3. 
Fingers. Dieselben Muskeln sind auch bei Stellung 2, 3, 4 die am moisten 
angcstrengten. Nebcn den Oppositionsmuskeln ist auch der Adductor poll, 
in Tiitigkeit, besonders bei Stellung 3 fallt ikm eine starkere Anstrengung 
zu, aber auch bei Stellung 1 und 2 wird es wohl von geringen subjektiven 
Abweiehungen in der Handhaltung abhangen, wie weit und ob eventuell 
mehr als die Oppositionsmuskeln der Adduktor angestrengt wird (vergl. 
Ahnliehes bei der Handhaltung der Feilenhauer). NatQrlich wird es sich 
nacli eingetretener Parese niemals feststellen lassen, wie weit frtlher bei 
den Manipulationen von deni betretfenden Individuum der Opposition Oder 
Adduktion der Vorzug gegeben wurde. 

Nur bei der mit ziemlieher Kraft ausgeftihrten Arbeit bei Stellung 4 
spielen wenigstens beim Aufsetzen ties Daumens, weniger beim Herabgleiten- 
lassen tlesselben von oben nach unten die langen Daumenmuskeln der 
Streekseite eine gewisse Rolle. Was aber vielleicht das Allerwichtigste ist: 
Samtliclie Bewegungen ini Sinne der Beugung und der Opposition (mit 
Ausnalime Stellung 4) werden mit ziemlieher Kraft, aber oline feine 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 273 

Abstufung derselben ausgefllhrt, denn da sie stets gegen eine feste 
Unterlage erfolgen, so ist eine genauere Dosierung der anzuwenden- 
den Kraft unndtig, es ist deshalb die Mitarbeit und Anstrengung der 
entgegenwirkenden Muskeln, der Strecker, auf ein sehr geringes Mali ein- 
geschrankt. 



Fig. 7. 




• 




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Fig. 8. 



Fig. 9. Fig. 10. 

Die eingetretene Liihmung stimmt bei unseren 2 ersterwiihnten 
Fallen mit dieser Arbeitsanstrengung aufs genaueste iiberein: Die 
Oppositionsmuskeln des Daumens, diejenigen, die die meiste Arbeit zu 
verrichten haben (Fig. 7, 8, 10), sind die am starksten erkrankten. Die 
Flexoren der Finger sind ja an sich sehr kriiftig und starker An¬ 
strengung gewachsen. Von den Extensoren sind die am meisten ange- 
strengt gewesenen des Daumens etwas — wenn auch nur ein wenig 
—, die ubrigen nur ganz wenig ergrift'en. Auch der dritte unserer 
Falle lasst sich vollkommen gut erklaren, wenn wir annehmen, dass es 

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XIV. Teleky 


sich um ein Individuum handelt, bei dem in Stellung 1 u. 2 die Ad- 
duktion besonders in Anspruch genommen wurde, 

Nach den Abbildungen konnte man vielleicht glauben, dass bei 
der Entstehung der Lahmung der Druckwirkung eine gewisse Rolle 
zukomme. Bei genauerer Betrachtung siebt man aber, dass gerade 
auf die untere Gegend des Daumenballens nur geringer Druck aus- 
geubt wird. Noch deutlicher kann man bei den zwei ersterwahnten 
Fallen die Druckwirkung ausschliessen, wenn man die Schwielenbildung 
an den Handen der Arbeiterinnen betrachtei Stets ist der ganze Daumen 
ballen frei von jeder Schwielenbildung, wahrend die radiale Seite des 
Zeigefingers, die Innenflache des 1. Interdigitalraumes und der Hand- 
teller starke Schwielenbildung zeigen. Bei dem 3. Falle nur konnte 
auch dem Druck vielleicht eine gewisse Wirkung zukommen. Dass 
es sich aber nicht um Atrophie infolge von Druck, sondem um Blei- 
lahmung handelt, beweist wohl aufs deutlichste die Mitbeteiligung 
der Extensoren. 

Die erwahnte, nur so ganz geringe Inanspruchnahme der Strecker 
erklart es wohl iibrigens auch, warum unter den so vielen Fallen 
schwerer chronischer Bleivergiftung, die ich unter diesen — oft schon 
ehe sie dem Saturnismus verfallen — schlecht genahrten und blutarmen 
Arbeiterinnen gesehen, sich nur ein einziger Fall findet, der eine aus- 
gesprochene Extensorenlahmung zeigt. Diesen Fall, der 4. der oben 
erwahnten Falle, zeigt aber neben der Extensorenlahmung aufs scharfste 
ausgesprochen die bei Fall 1 und 2 als charakteristisch beschriebene 
Lahmung der Oppositionsmuskeln des r. Daumens. 

Der Vollst&ndigkeit wegen sei hier noch der folgende Fall erwlihnt, obwolil 
ich nicht glaube, dass es sich hier um eine Bleivergiftung gehandelt habe. 
Gegen die Auffassung des Falles als Bleivergiftung spricht der Umstand, 
dass die Frau, die sp&ter als „Putzerin“ gearbeitet hat und, als sie in 
Beobachtung gelangte, bleikrank war, den Beginn ibres Leidens in eine 
Zeit zurtlckverlegt, wo sie nur wenig mit Blei zu tun hatte, und in einem 
Teil der Flaschenkapselfabrik gearbeitet hatte, aus dem niemals eine Blei¬ 
vergiftung zu meiner Kenntnis gelangt war, sowie die Form der Lahmung, 
die mit keinem der gewohnlichen Typen auch nur die entfernteste Ahnlich- 
keit hat. 

Marie S. kam am 18. IV. 1906 in meine Behandlung mit alien Zeichen 
von Saturnismus; als sie am 29. August abermals zu mir kam, nachdem 
sie vom 25. IV.—25. VII. mit Bleikolik im Spital gelegen hatte, fiel mir 
ihre merkwftrdige Korperhaltung auf und bei genauerer Untersuchuug 
konnte ich feststellen: Lahmung des Musculus serratus anticus (Hebung des 
Oberarms flber die Ilorizontale unnidglich, Htlgelformig abstehende Schulter- 
bliitter), beiderseits Parese und Atrophie (besonders links) der Beugemus- 
keln am Oberarm — hingegen Deltoides und Scbultermuskeln kr&ftig —, 
kein Bleisaum, Hand- und Fingermuskeln frei. liber den Zeitpunkt des 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


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Beginns des Leidens weiss sie nor anzugeben, dass sie vor 4 Jahren, als 
sie mit Blei nur wenig zu tun hatte, hingegen schwere Lasten zu tragen 
hatte, eine SchwSche der Arme bemerkt habe and diese nicht flber die 
Horizontale heben konnte. Als sie im Februar 1907 auf die Abteilung 
des Professor Sternberg aufgenommen wurde — sie hatte im Dezembcr 
wieder Bleivergiftung gehabt —, wurde, wie mir Professor Sternberg in 
liebenswQrdigster Weise mitteilt, ausser dem Erwiihnten noch konstatiert: 
Musculus trapezius und Pectoralis major beiderseits, rechts mehr als links, 
atrophisch, Fossae supra- und infraspinata scharf ausgepr&gt, Scapulae weit 
auseinander stehend. Atrophie der Musculi interossei. 


Auffallende Verhaltnisse in Bezug auf BeteillgMlg ein- 
zelner Finger an der BleiULhmung zeigen die folgenden Falle. 

Wir haben oben darauf hingewiesen, dass bei gesunder Hand — 
bei moglichster Entspannung der Strecker und Einwirkung der Schwere 
auf die gebeugten Finger — der 2. Finger am wenigsten, der 5. 
Finger am meisten in Beugestellung kommt. An der rechten 
Hand wird bei den Anstreichern — bei eingetretener Streckerlahmung 
— meist diese Reihenfolge in der Starke der Beugung ein- 
gehalten; bei den Anstreichern bleibt nur in einzelnen Fallen bei der 
Lahmung der rechten, in der Halfte der Falle bei der Lahmung der 
linken Hand der 5. Finger mehr oder weniger verschont. Bei alien 
unseren Fallen war der 3. und 4. Finger an der Lahmung beteiligt 1 ); 
nur in dem folgenden Falle sahen wir eine isolierte Parese 
des 4. u. 5. Fingers. 

Josef H., 36 Jahre alt, verh., Schlossergebilfe. 

Patient arbeitete vom 12. VII.—30. X. 1906 bei einem BrQckenbau, 
bei dem er mit frisch minisierten Eisenbestandteilen gearbeitet und aucli 
selbst die Minisierung ausgebessert hatte. Die Arbeit bestand meist in 
Hiimmern mit einem IV 2 kg schweren Hammer, dabei war er viel der 
Kiilte und Nftsse ausgesetzt. Irgend welche Vorsicht beim Umgang mit 
Minium und minisierten Eisenteilen hat Patient nicht befolgt. Seit lftngerer 
Zeit hat er eine Verletzungsnarbe am rechten Mittelfinger, die 
ihn zwingt, diesen Finger bei der Arbeit zu schonen und den 
Hammergriff nur mit dem 2., 4. und 5. Finger zu halten. Als er am 
28. X. bei grosser Kiilte arbeitete, bemerkte er, dass er den rechten kleinen 
Finger nicht ganz ausstrecken konne; 2 Tage spider stellte sich dasselbe 
am 4. Finger ein. 

Patient hat bis vor 4 Jahren tiiglich 2 V 2 —3 Liter Bier getrunken, 
in den letzten Jahren angeblich weniger, jetzt tiiglich 1 Liter Most. 

Patient, ein sehr grosser, sehr muskuldser und kraftiger Mann, zeigt 
am 31. X. 1906 starken Bleisaum, geringgradige Aniimie. 

Rechte Hand: DorsalHexion im Ilandgelenk kriiftig, aber betriichtlicli 

1) Nur bei dem weiter unten enviilmten, von B. Mauthner publizierten 
Falle scheint die Lahmung der Finger einem auderen Typus gefolgt zu sein, der 
wesentlich von dem sonst beobachteten abweieht. 


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schwhcher als links. Bei Streckung des Handgelenks kdnnen 4. und 5. 
Finger nicht geslreckt werden, sondern bleiben in leichter Beugung, die 
sich bei Dorsalflexion im Handgelenk steigert. Am Endglied des 8. Fingers 
eine von der Fingerkuppe im Bogen gegen das 2. Interphalangealgelenk 
sich ziehende tiefe, hartliche Narbe. 

Faradische Erregbarkeit des Extensor digit, communis an 3., 4. und 5. 
Finger stark kerabgesetzt, ebenso die des Extensor digiti V. proprius; gal- 
vanische Erregbarkeit intakt. 

Am 8. XII. 1906 wurde Patient aus der Behandlung entlassen. Bei 
maximaler Dorsalflexion im Handgelenk blieben der 4. und 5. Finger nur 
ganz weuig gebeugt. 

Vielleicht hat iu diesem Falle neben dem Blei auch die Kalte und 
der Alkohol etwas zur Entstehung der Lahmung beigetragen. Auf- 
fallend ist es, dass nicht auch der Zeigefinger an der Lahmung be- 
teiligt war. Doch erklart sich dies wohl ungezwungen dadurch, dass 
der 2. Finger uberhaupt resistenter gegen die Schadigungen des Giftes 
und der Funktion ist. 

Konnen wir auch nicht mit vollster Sicherheit ausschliessen, dass 
es sich in diesem Falle um eiue am 5. Finger beginnende Lahmung 
samtlicher Fingerstrecker gehandelt hat, die bei weiterem Verlaufe 
das Bild der gewohnlichen Lahmung der Fingerstrecker dargeboten 
hatte — daflir scheint das Erloschensein der faradischen Erregbarkeit 
bei der den 3. Finger versorgenden Portion des Extensor communis zu 
sprechen — so ist doch andererseits zu bedenken, dass gerade der 3. 
Finger infolge der Narbe an seiner Spitze besonders geschont wurde, 
und dass dieser Umstand vielleicht dazu gefuhrt hat, dass der 3. Finger 
noch vollkommen gestreckt werden konnte, wahrend 4. u. 5. Finger 
bereits erkrankt waren. 

In der Literatur flndct sicli ein iihnlicher Fall von isolierter Blei- 
lahniung des 4. und 5. Fingers: Manouvrier (Recherches cliniques sur 
l’intoxication saturnine locale et directe par absorption cutanee. Paris 
1874), der anninunt, es gebe eine „Intoxication saturnine locale et directe, 
par absorption cutanee, atteignant les parties imm6diatement en contact 
avec le plomb“, die sich durch ncuralgischc Schmerzen, Sensibilithtsstdrun- 
gen, Lalimungen usw. iiusscrt, berichtet in etwas unklarer Weise Qber 
einen Mann, der Bleikapseln auf Apothekerflaschen aufzusetzen hatte. Mit 
dcin 4. und 5. Finger sowie mit dem ulnaren Teile der Vola manus drtlckte 
er die Kapseln um den Hals der Flasche zusammen. Er zeigte an diesen 
Handpartien Sensibilitiitsstdrungen und eine Parese, scheinbar Extensoren- 
parese des 4. u. 5. Fingers. 

Am 21. VIII. 1908 kam der Schriftgiesser F. B., 36 Jahre alt, in 
meine Behandlung. 

Er gab an, von Mai bis Jnli dieses Jahres an Bleilithmung gelitten 
zu liaben, und bot folgenden Bet und: Feiner Bleisaum, Anamie, reichlich 
Albumen im Urin. 

Reclite Hand: Dorsalflexion bei Faustschluss bei ziemlich verringerter 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


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Kraft. Fingerstreckung nur bei um zirka 10° unter die Horizontale ge- 
beugtem Handgelenk mttglich, bei weiterer Streckung bleibt am meisten 
der 2. Finger zurflck. 

Daumen: Extension des letzten Gliedes und Hebung ttber das Niveau 
des Handrtickens unmbglich. Adduktion mit geringerer Kraft, Opposition frei. 

Linke Hand intakt. 

Auffallend ist an diesemFall die starke Beteiligung des 
2. Fingers so wie die Schwache der Adduktion des Daumens. 

Patient war als „Fertigmacher" beschaftigt. Als solcher hat er die 
bereits fertiggestellten Lettern auf die von der Druckerei gewiinschte 
Hohe zu bringen. Sie werden zu diesem Behufe eng aneinander 
zwischen mehrere eine Art Etui bildende Latten gelegt, durch Darfiber- 
fahren mit einem Holz und dann mit einer kleinen Schieferplatte so- 
wohl fiber die Seiten als auch ttber die Unterflache in die gleiche 
Lage und zu festem Aufruhen auf der Uuterlage gebracht; dann werden 
mittelst eines eigenartigen Hobels die unteren Enden abgehobelt Bei 
all diesen Verrichtungen werden die Finger natttrlich in der mannig- 
fachsten Weise angestrengt; bei dem Gleichrichten und Anpressen 
der Lettern wird der Zeigefinger besonders angestrengt. Die erwahnte 
Schieferplatte wird sehrag auf die blossliegende Grundflache der in 
langer Reihe fest zwischen die erwahnten Latten eingepressten Lettern 
aufgesetzt und mit starkerem Druck fiber diese Flaclie hingeffibrt; das 
Schieferplattchen wird dabei zwischen dem Daumen und Zeigefinger 
und Mittelfinger beider Hande gehalten und mit starkem Druck gegen 
den Korper des Arbeitenden gezogen. Dabei wird nun, wie eine Be- 
sichtigung der Verrichtung ergibt, besonders der 2. Finger angestrengt. 

Vielleicht dass auf diesen Umstand, auf diese Verrichtung das be- 
sondere Ergriffensein des Zeigefingers zurttckzuffihren ist. 

Uber einen Fall mit ganz merkwttrdiger Mitbeteiligung des 2. Fingers 
wird weiter unten (S. 288) berichtet werden. 

Hier wollen wir zwei Falle mit auffallender Mitbeteiligung 
des Daumens folgen lassen. 

Der Glasergehilfe I. S., 28 Jahre alt, arbcitet vorwiegend Frtihbeet- 
fenster fdr Kfichengilrtner; bei diesen Fenstern werden die einzelnen 
Scheiben durch Bleiumfassung mit einander verbunden (ahnlich wie bei den 
sogenannten altdeutschen Fenstern). Dezember 1901 und Februar 1902 
war er an Bleivergiftung erkrankt. Bei der zweiten Erkrankung sptlrte 
er eine Schwache der rechten Hand, besonders des Daumens und Zeige¬ 
fingers, die er bei seiner Arbeit besonders benOtigt. Juli 1903, Februar 
1904 Bleikolik ohne Lahmungserscheinungen. September 1904 Lithmung 
an der rechten Hand; bis Juni 1905 hatte er eine andere Beschiiftigung; 
Oktober 1905 abermals Bleikolik; November 1905 bis Juni 1906 war er 
anderwarts tatig, seitdem wieder als Bleiglaser gearbeitet. Der Daumen 
rechts war seit 1904 nie ganz gut geworden. Im September 1906 traten 


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XIV. Teleky 


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wieder neue Erscheinungen der Lahmung an der rechten Hand aaf, nnd 
zwar konnte zuerst der 5. Finger, zum Sclduss der 2. Finger nicht mehr 
gestreckt werden. Die linke Hand begann spater zu erkranken und zwar 
am Daumen. Am 14. XI. 1906 sah ich den Patienten zum ersten Mai. 
.Befund am 14. XI. 1906. 

Rechte Hand: Dorsalflexion bei Faustschluss mit verringerter Kraft 
mdglich. Streckung der Finger auch bei maximal gebeugtem Handgelenk 
unmdglich, am meisten noch kann der 2. Finger gestreckt werden. 

Daumen: Abduktion vom radialen Rande des Metacarpus II in vollem 
Umfange, jedoch mit nur geringer Kraft mdglich. Streckung im Metacar- 
pophalangealgelenk nicbt ganz mdglich. Adduktion und Opposition (Ab- 
spireizung von Handflache) unmdglich. 

Fingerstrecker atrophisch; Muskeln des 1. Zwischenknochenraumes 
atrophisch, Thenarmuskulatur atrophisch, speziell der Abductor poll, brevis. 

Linke Hand: Dorsalflexion wie rechts, Streckung der Finger etwas 
besser mdglich als rechts. 

Daumen: Abduktion wie rechts; im Metacarpophalangealgelenk, das 
aber immer stark winkelig gebeugt gehalten wird, Streckung unmdglich. 
Opposition und Adduktion wenig behindert (fehlen genauere Angaben). 
Faradische Erregbarkeit an den langen Streckern mit Ausnahme des Ab¬ 
ductor poll, longus beiderseits erloschen. 

Patient war bis Mitte Januar in Krankenstand. Am 3. I. 1907 zeigte er 
eine erheblicke Streckerlahmung beiderseits; der rechte Daumen konnte radial- 
warts mit ziemlicher Kraft abduziert, gut adduziert werden. Opposition war 
unmdglich. Am linken Daumen war Opposition und Adduktion gut moglich. 

Patient blieb damals aus der Behandlung aus, arbeitete wieder als 
Glaser — nicht als Bleiglaser —, jedoch mit dem geringe Mengen Minium 
enthaltenen Kitt und in einer Werkstatt, in der altes Blei sortiert und 
umgeschmolzen wurde. 

Am 17. April kam er wieder mit Andeutung von Bleisaum in meine 
Behandlung, die Streckerlahmung war starker ausgesprochen, am rechten 
Daumen Abduktion (radialwarts) nicht in vollem Umfang und nur mit ge¬ 
ringer Kraft moglich, Adduktion nur mit sehr geringer Kraft. Sonst war 
der Zustand unverdndert. 

Bis Mitte Juli war Patient in Krankenstand. Die Extensorenlahmung 
beiderseits besserte sich. Rechter Daumen konnte in vollem Umfange mit 
ziemlicher Kraft radialw&rts abduzirt, das Metacarpophalangealgelenk nicht 
voll gestreckt werden. Die zur Opposition notwendige Abspreizung war 
unmdglich, Adduktion moglich. Auch am linken Daumen war Streckung 
des Metacarpophalangealgelenkes nicht mdglich, die Abduktion des Meta¬ 
carpus radialwarts nur in geringem Umfange, die Hebung in das Niveau 
des Haudrtickens unmdglich, Adduktion mit geringer Kraft mdglich; Oppo¬ 
sition nicht ganz und nur mit geringer Kraft mdglich. 

Was an diesem Falle auffiillt, ist die von Anfang an bestehende 
(vielleicht als Rest der ersten Lahmung ubrig gebliebene) starke Be- 
teiligung des rechten Daumens, die sich nicht nur auf die langen 
Strecker, sondern auch auf die Daumenballenmuskelu und die Musku- 
latur des 1. Zwischenknochenraumes erstreckte, und der spater eine 
iihnliche Lahmung des linken Daumens folgte. Beteiligt waren 


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Zur Kasuistik der Bleilahmuug. 


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am rechten Daumen die langen Strecker, die die Opposition bewirkenden 
Muskeln, vor allem der Abductor poll, brevis, weniger — weil seine 
Funktion sich rascher wieder herstellte — der Adduktor. Am linken 
Daumen eutwickelte sich sehr spat ebenfalls eine Parese des Abductor 
poll, brevis. 

Diese Lokalisation der Lahmung findet ihre Erklarung in der Arbeits- 
verricbtung der Glaser. Beim Bleiglaser ist der Daumen sowohl beim 
Aufbiegen der Bleileisten als aiich bei der Arbeit mit dem Lotkolben 
stark angestrengt. — Bei gewohnlicher Glaserarbeit hat der Daumen 
— beim Aufbiegen und Niederdrlicken des „Kittes“ — die Hauptarbeit 
zu verrichten. 

Mitte November 1907 kam W. S., 34 Jahre alt, Schuhmacher- 
gehilfe, in meine Behandlung. 

Er hatte seit 15 Jahren als „SchuhbQgler“ gearbeitct. Als solcher 
hat er die fertigen Schulie mit einem erwarmten, ca. 35 kdg schweren 
„Amboss“ zu bQgeln. In den letzten 2 
Jahren hat cr neben einer grossen 
Anzahl von schwarzen und dunkeln 
Schuhen wOchentlick 4—5 Dutzend 
weisse Halbschuhe (manchmal aucli 
1—2 Dutzend Salonschuhe) zu bQgeln. 

Nach dem BQgeln nimmt er Kremser- 
weiss, das er in ein Schalchen, in 
dem sich Benzin befindet, schQttet, 
taucht ein Tuch in diese Mischung und 
reibt den Schuh damit ein, dann macht 
er dieselbe Prozedur mit Talcum 
venetianum; nach seiner Angabe macht 
Kremserweiss die Schuhe reinweiss, 

Venetianerweiss macht sie glatt (vgl. 
meine Publikation dieses Falles in 
der Wochenschrift fQr soziale Medi- 
zin, 2. IV. 1908). 

Er gab an, vor 8 Wochen Kolik 
gehabt und neuerlich vor 3 Wochen 
Schmerzen im Bauche gehabt zu liaben, 
die jetzt besser seien, doch leide 
er an leichter Obstipation; vor einer 
Woche habe eine Unsickerheit in der 
rechten Hand begonnen, seit 4 Tagen 
kflnne er schlecht gehen und habe Schmerzen in den Obersckenkeln. 
Der Befund am 18. XI. 1907 war folgender: 

Rechte Hand: Bei Faustschluss Dorsalttexion der Hand in vollem 
Umfange, aber mit stark verringerter Kraft. Streckuug des 3. —5. Fingers 
auch bei vollkommener Beugung im Handgelenk nicht mOglich, 5. Finger 
bleibt am weitesten zurQck, 2. Finger bei leichter Beugung im Handge¬ 
lenk ganz ausstreckbar. 



Fig. 11. 


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Daumen in Ruhelage in leichter Opposition und in die Hand einge- 
zogen. Adduktion an Vola manus nicht mOglich, Extension nicht im vollen 
Umfange; Hebung in die HOhe des Handrflckens nicht moglich, Oppo¬ 
sition frei. 

Linke Hand: Dorsalflektion wie rechts, aber kraftiger. Streckung der 
Finger nur bei gestrecktem Handgelenk (nicht bei dorsal flektiertem moglich. 

Daumen: Hebung aber die Flftche des Handrttckens nicht mbglich. 
sonst normal. 

Gang spastisch-paretisch, P.-S.-R. und Achillessehnenreflexe hochgradig 
gesteigert Oberschenkelmuskulatur stark druckempfindlich. 

Auffallend ist au diesem Krankheitsbilde die Lahmung der Ad¬ 
duktion des rechten Daumens, die Mitbeteiligung der Exten¬ 
sor endesselben (bei fast vollkommenemFreibleiben des linken 
Daumens), sowie die starke Mitbeteiligung der unteren Extre- 
mitaten. Besonders die letztere war uns bei einem Scbuster — der 
ja stets sitzend arbeitet — ganz unerklarlicb, bis uns anlasslich der 
photographischen Aufnabme seiner Arbeitsstellung die Erklarung auch 
hierfiir wurde. Der Patient hatte in der let.zten Zeit mehr Halbschuhe 
als Stiefletten gebiigelt und dabei die auf dem Bilde (Fig. 11) darge- 
stellte Stellung eingenommen, die uns das oben beschriebene Krank- 
beitsbild nach jeder Richtung hin erklart, die uns begreiflicb ruacht, 
warum bei Freibleiben des linken Daumens der rechte Daumen, und 
warum bei diesem gerade der Adduktor erkrankte, und waruin auch 
die Beine in starkem Grade in Mitleidenschaft gezogen waren. uber 
die Bedeutung dieser letzteren Erscheinung vergl. S. 285. 


Anstreicber, Feilenbauer, Poliererinnen baben fast stets nur eine 
und dieselbe Gruppe von zusammengehorigen Bewegungen zu machen; 
kommt daneben auch eine andere Bewegung vor (Spachteln bei An- 
streichern), so tritt sie gegenuber den vorwiegend ausgeiibten ganz in 
den Hintergrund. Auch bei dem Schuhbugler, bei dem beim Bruckenbau 
beschiiftigteu Schlosser, dem Glaser liess sich eine Arbeitsverrichtung 
(Biigeln von Halbschuhen, Hammern usw.) ausfindig macben,mit der der 
Arbeiter den grossten Teil des Tages beschaftigt ist. Die bei dieser Arbeits¬ 
verrichtung notwendige Anstrengung erklart die Lokalisation der Lah- 
muug. Ganz anders aber liegen die Verhaltnisse in jenen Berufen, 
bei denen der Arbeiter eine grosse Anzalil der verschiedensten Hand- 
griffe auszufiihren hat, und bei denen keiner an Haufigkeit Oder Muskel- 
anstrengung die iibrigen so sehr iiberragt, dass man imstande ware, 
ibn als den fur den betreffenden Arbeiter charakteristischen HandgrifF 
anzusehen. In solchen Fallen wird es dann kaum moglich sein, mit 
Sicberheit eine Erklarung fur die Lokalisation der Lahmung zu geben. 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


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Der Schlossergehilfe L. A., 27 Jahre alt, der in einer Masckinenfabrik 
bescbaftigt war, kam, nachdem er eine Reihe von Koliken, zuletzt auch 
Encephalopathia saturnina durchgemacht hatte, im Februar 1907 in raeine 
Bebandlung; die Entstehungsursache seiner Vergiftung — den Gebrauch 
von Miniumpaste — babe ich in der Wochenschrift fflr soziale Medizin, 
2. IV. 1908 ausftthrlich publiziert. Hier ist nur das klinische Bild, das 
er darbot, von Interesse. Er ist Linksh&nder, nieist haramert und 
schraubt er mit der linken, feilt mit der rechten Hand. 

Er war am 13. XII. 1906 erkrankt, kam erst am 21. II. 1907 in 
meine Bebandlung. Zeigte Bleisaum, Andmie, Albumen. 

Rechte Hand: Bei Faustschluss Dorsalflexion in vollem Umfange, 
al>er mit verringerter Kraft. Fingerstreckung nur mbglich, wenn die Hand 
ea. 20° nnter die Horizontale gebeugt ist, 4. Finger bleibt am meisten 
zurtick. 

Daumen: Abduktion (radialwarts) und Extension nur in geringem 
Umfange moglich; Adduktion nur mit sehr geringer Kraft. Opposition und 
Beuguug frei. In Ruhelage Daumen etwas vom Handteller abduziert, leickt 
opponiert, im Metacarpophalangealgelenk gebeugt. 

Strecker atrophisch. Interosseus I ziemlich atrophisch, auch andere 
Interossei vielleicht etwas atrophisch. Adductor poll, atrophisch, Daumen- 
und Kleinfingerballen etwas schlaffer. Am HandrQcken kleine Anschwellung 
(Gublersche Verdickung). 

Linke Hand: Bei Faustschluss Dorsalflexion nicht in vollem Um¬ 
fange und mit ebenso geringer Kraft wie rechts moglich. Fingerstreckung 
auch bei maximal gebeugtem Handgelenk nicht mOglich, am meisten bleibt 
5., am wenigsten 2. Finger gebeugt. Strecker atrophisch. 

Daumen: Abduktion (radialwhrts) in sehr geringem Umfange und 
mit sehr geringer Kraft mOglich. Opposition nicht vollkommen und mit 
sehr geringer Kraft moglich. Adduktion mit sehr guter Kraft. Daumen 
in Ruhelage an die Vorderfliiche des 2. Fingers fast angeschlossen. 

Faradische Erregbarkeit: Rechts am Daumenballen erloschen, an den 
Streckern stark herabgesetzt. Links nur am ulnaren Haudstrecker und 
am Abductor poll, brevis erhalten. Galvanischc Erregbarkeit: Rechts Ex¬ 
tensor digit. V und Opponens Andeutung von Entartungsreaktion. 

Auffallend ist an diesem Krauken die starkere Beteiligung der 
Strecker an der linken Hand sowie das verschiedenartige Er- 
griffensein beider Daumen. 

Erklart sich die stiirkere Beteiligung der linken Hand aus der sthrkeren 
Anstrengung, die er ihr als Linkshiinder zurautete, so stosst die Erklhrung 
der Daumenveranderungen infolge der Mannigfaltigkeit der Verrichtungen 
auf gewisse Schwierigkeiten. 

Dasselbe ist bei den folgenden Erkrankungen der Fall: 

Der Druckerei-Maschincnmeister R. B., 43 Jahre alt, Rotator, kam am 
6. Mai 1907 in meine Bebandlung. Hatte vor 8 Tagen beim Erwachen 
leichte Schmerzen in der rechten Hand und Taubsein im 3.—5. Finger. 

Gingivitis mit auf Bleisaum sehr suspektem Saum, Arterien rigid, viel 
Albumen. 

Rechte Hand: Bei Faustschluss Dorsalflexion mit verringerter Kraft 
moglich. 

Fingerstreckung nur bei maximal gebeugtem Handgelenk moglich, 5. 


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Finger bleibt am meisten zurtlck. Daumen in Opposition nnd im Meta- 
carpophalangealgclenk gebeugt gehalten. Abdaktion radialw&rts and Ex¬ 
tension nicht mOglich, Adducktion mit sehr geringer Kraft. 

Linke Hand intakt. 

Faradische Erregbarkeit der Streeker rechts herabgesetzt. 

Der Gelbgiesser I. D., jetzt 63 Jahre alt, bat als Residuum einer im 
Jahre 1904 entstandenen Bleilahmung im Juli 1908 folgende Veranderungen 
an der rechten Hand gezeigt: Leichte Extensorenparese, leicbte Atropine 
der Interossei, starkere des Interosseus I. 

Im ersten dieser beiden Falle wollen wir es dahingestellt sein lassen, 
ob eine Neuritis alcoholica Oder saturnina bestand; die Mannigfaltigkeit der 
Handgriffe, die der Patient als Maschinenmeister, der 2 Schnellpressen be- 
dient, zu verrichten hat, macht eine Analyse der Lahmung unmOgliek. 
Der zweite der Falle eignet sicb, da wir in ihm nur die Residuen einer 
veralteten Lahmung sehen, auch kaurn zu einer naheren Betrachtung. 

Wenden wir uns nun den Hafnern (Topfern) zu, so mfissen wir 
zunacbst Einiges fiber deren Tatigkeit vorausschicken. Anlass zur Blei- 
vergiftung gibt nur die Herstellung der Glasuren. Das Blei hat die 
Eigenschaft, mit Kieselsaure vermengt, leicbt schmelzende und glan- 
zende Glaser zu bilden, und dies ffihrt zur Verwendung von Bleiver- 
bindungen bei der Herstellung sowohl bestimmter Glasarten als aueh 
besonders zu der Herstellung von Email und Glasuren. Die Glasur- 
masse wird gemischt, fein gemahlen, dann in Wasser suspendiert, und 
das Glasieren erfolgt nun entweder durch Eintauchen des zu glasieren- 
den Gefasses oder durch tJbergiessen mittelst eines Glasierloffels; die 
Gefiisse (oder Kacheln) werden dann zum Trocknen gestellt, die fiber- 
schiissige Glasurmasse durch Abstauben, Abwischen, Abbflrsten ent- 
fernt. Dann werden die so mit Glasurmasse versehenen Gegenstiinde 
(Gefasse, Kacheln) in den Brennofen getragen, dort entsprechend auf- 
gebaut und der Brennofen geheizt. In der Hitze des Ofens bildet sich 
durch Verschmelzen der Glasurbestandteile die eigentliche Glasur. 
Schliesslich wird der erkaltete Ofen wieder ausgeraumt. Die Gegen- 
stande, die auf diese Weise glasiert werden, bestehen aus Ton. Dieser 
Ton muss zuerst sorgfiiltig gemischt, durchgeknetet werden, dann er¬ 
folgt — meist von der Hand — die Forraung der Kacheln oder der Topfe 
auf der sogeuaunten Topferscheibe, die in kleineren, aber selbst in 
einzelnen griisseren Betrieben mit dem Fuss in Bewegung gesetzt wird. 

Die Arbeiten, die in der Topferei verrichtet werden, sind also 
iiusserst mannigfaltige. In der Ilausindustrie und den Kleinbetrieben hat 
ein Arbeiter in zeitlichem Nacheinander alle diese Arbeiten zu ver¬ 
richten. Je grosser der Betrieb ist, eine urn so weitgehendere Arbeits- 
teilung findet statt. 

lu den Grossbetrieben — vor allem in denen EDglands — werden 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


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selbst die einzelnen Teilverrichtungen beim Glasieren von verschiedenen 
Arbeitern ausgeftthrt. In den Betrieben Wiens ist die Arbeitsteiiung 
nur in so weit durchgeffihrt, als zwischen „Formern“, die die Ware aus 
Ton formen, und „Brennhausarbeitern“, die glasieren und brennen, 
nnterschieden wird. Es haben diese „Brennhausarbeiter“, die allein an 
Bleivergiftung erkranken, nicht nur die relativ leichte Arbeit des Gla- 
sierens zu verrichten, sondern auch die schwere und den ganzen Korper 
anstrengende Arbeit des Anftillens und Entleerens der Brennofen, und 
sie baben aucb das Heizen derselben zu besorgen. 

Wahrend von den bisher besprochenen Berufen der Anstreicher 
meist stehend, unter Umstanden auf der Leiter stehend und mit ihr 
zeitweise einige Scbritte machend arbeitet und dabei seine Hand- und 
Finger-, unter Umstauden auch seine Schultermuskulatur anstrengt, 
wahrend der Feilenhauer sitzend seine Finger- und Daumenmuskulatur 
einer ganz besonders hohen Anstrengung aussetzt, arbeitet der Brenn- 
hausarbeiter teils stehend mit dem Glasierloffel, wobei neben anderen 
Bewegungen Pro- und Supinationsbewegungen in besonderem MaCe 
in Betracht kommen, teils aber als Lasttrager, der das Brennmaterial 
herbeizuschleppen, der die Ofen anzuftillen, das Material in denselben 
aufzubauen und die glasierte Ware wieder aus dem Ofen wegzu- 
tragen hat. 

Wir hatten Gelegenhelt, zwei solche Brennhausarbeiter mit Blei¬ 
lahmung, drei andere mit Bleivergiftung zu sehen, ausserdem zwei mit 
Extensorenparese, die aber fur die folgenden AusfUhrungen nicht in Be¬ 
tracht kommen, weil es sich um ganz veraltete Falle handelt, ohne jede 
frischere Erscheinung. 

I. R., 88 Jahre alt, Ambidexter, war friiher Linkshander, jetzt 
sind beide H&nde angeblich gleich. Er halt in der rechten Hand den 
Glasierloffel, wirft mit der rechten das Holz in den Ofen, schreibt mit 
der rechten; schneidet aber mit der linken Brot und dergl. Gibt an, dass 
im Winter 1906/07 die Finger der rechten Hand herabzusinken begannen, 
dann die der linken; der Zustand besserte sich im Sommer, um sich dann 
wieder zu verschlechtern. Februar 1908 hot er folgenden Befund: Rechte 
Hand: Bei maximal gebeugtem Haudgelenk kann nur der 5. Finger hyper- 
extendiert werden, beim Verlassen der maximalen Beugung bleibt der 3. 
u. 4. Finger am ir.eisten, der 2. Finger etwas weniger zurfick. Bei Faust- 
schluss kann die Hand im vollen Umfange, aber mit verringerter Kraft 
dorsalflektiert werden. Daumenbewegungen sonst frei, nur voile Extension 
und Hebung Ober den Handrheken nicht mdglich. Oberarm kann 
rechts nicht so kraftig gehoben werden wie links. Linke Hand 
ebenso wie rechte Hand, doch bleibt der 2. Finger ebenso stark wie der 
3. u. 4. zurllck. Der Daumen kann sonst alle Bewegungen machen, auch 
bis zur HOhe des Handrttckens gehoben werden, doch ist jede Extension 
unmOglich, er wird im Metacarpophalangealgelenk stets gebeugt gehalten. 

Faradische Erregbarkeit rechts und links am Abductor poll, longus, 


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Extensor digit. V und Extensor carpi ulnaris erhalten, sonst erloschen; 
galvanische in denselben Muskeln herabgesetzt. 

F. H., 29 Jahre alt. Mehrfach Bleikolik durchgemacht. Am 12. I. 
1906 mit Kolik abermals erkrankt, starker Bleisautn, spastisch-pare- 
tischer Gang, hocbgradigste Steigerung samtlicher Sehnenreflexe, Tremor 
der Finger, Albuminurie. Auf seinen ausdrflcklichen Wunsch nabm er am 
31. I. die Arbeit wieder auf; am 26. II. erkrankte er wieder mit Bleikolik 
und klagte ttber Zittern und Schw&che im rechten Arm. Streckung der 
Finger, besonders des 3. u. 4. behindert, ebenso Dorsalflexion im Hand- 
gelenk. Hebung des Oberarms besonders bei fixierter Scapula 
nur schwer und nicht in vollem Umfange mOglich. Im rechten 
Bein motorische Kraft erheblich kerabgesetzt, hochgradigste 
Reflexsteigerung (fast Clonus), auch links P.-S.-R. sehr stark ge- 
steigert. Nach 10 Tagen noch SckwSche des Musculus tibialis 
anticus rechts. Am 7. V. 1906 auf sein eigenes Verlangen — Patient 
befand sich durch unglttckliche Familienverkaltnisse in grosser Not — 
aus dem Krankenstand entlassen: Die Parese der Strecker hatte sich er¬ 
heblich gebessert, die Erscheinungen am Oberarm und den unteren Ex- 
tremitaten waren geschwunden, doch konnte neben leichter Atrophie der 
Strecker rechts auch eine leichte Atrophie des Musculus brachio- 
radialis (im Vergleich mit links) festgestellt werden. 

Der Zustand der Strecker verschlimmerte sich wahrend des folgenden 
Jahres, bis er sich entschloss, der Brennhausarbeit zu entsagen und als 
Former zu arbeiten. 

Erwahnt sei hier ferner, dass unter drei Fallen von Bleivergiftung, 
die ich weiter bei Hafnern sah, bei zweien sich Zeicben schwerer All- 
gemeininfektion und Ergriffensein des Zentralnervensystems (Schwin- 
del, leichte Verwirrtheit) zeigten. Beide hatten hochgradigst 
gesteigerte Reflexe an den oberen und unteren Extremitaten. 

Was bei unseren Fallen auffallend ist, ist Folgendes: Bei dem 
ersten Falle ist auffallend, dass die Lahmung der linken Hand 
starker ausgesprochen war als die der rechten. Der Mann — ur- 
spriinglich Linkshander — hatte gelernt mit der rechten zu arbeiten, 
diese erkrankte zuerst; die linke Hand aber, die er auch, solange die 
rechte gesund war, mehr angestrengt hatte als ein Rechtshander, die 
wahrscheinlich nach Erkrankung der rechten diese unwillktlrlich starker 
snbstituierte, erkrankte etwas spiiter, aber in noch etwas starkerem 
Umfange. Auffallend ist an diesem Falle auch die starkere Mitbe- 
teiligung des 2. Fingers, die Mitbeteiligung der Streck- 
muskulatur des Daumens und des rechten Oberarms. Im 
2. Falle fanden wir wieder die Mitbeteiligung des rechten Ober¬ 
arms, eine Mitbeteiligung des rechten M.brachioradialis und 
Mitbeteiligung der unteren Extremitaten (Parese des Muse, 
tibialis anticus). 

Auch in den anderen Fallen von Bleivergiftung ist es auffallend. 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


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wie haufig bei den Hafnern das gesamte Nervensystem, dabei 
auch die unteren Extremitaten durch die hochgradige Steigerung 
der Patellarreflexe beteiligt sind. 

Es scheinen also unsere Falle auf eine Mitbeteiligung auch 
anderer Muskelgruppen als der Strecker und der Finger- 
muskeln, auf Mitbeteiligung der Schulter- und Oberarm- 
muskeln sowie der Muskeln der unteren Extremitaten hin- 
zudeuten: eine Mitbeteiligung, die sich durch die mannigfache 
und schwere Arbeit, die unsere Brennhausarbeiter zu verrichten 
haben, wohl erklaren liisst. Auf eine Deutung des Befundes am 
Daumen und Zeigefinger muss man bei der Mannigfaltigkeit der zu 
leistenden Handgriffe wohl verzichten. 

Erwahnt sei hier, dass Remak (Nothnagels Handbuch. 11. Bd. 
3. S. 659) zwischen degenerativer Bleilahmung der unteren Extremi- 
tiiten, bei denen die Sehnenreflexe normal bleiben, und den Fallen mit 
vorubergehender Schwache und einer starkeren Steigerung der Sehnen¬ 
reflexe unterscheidet. Diese letzteren Erscheinungen sieht er als rein 
funktionelle an und gibt an, dass sie nach schweren Koliken nicht 
selten seien. 

Wirsehen sehr haufig bei Bleikranken eine Steigerung der Patellar- 
sehnenreflexe ganz unabhangig davon, ob Koliken schweren Grades vor- 
handen sind oder nicht. Wir glauben sogar, dass wir in dieser Steige¬ 
rung der Patellarsehnenreflexe eines der ja nicht allzu zahlreichen ob- 
jektiven Symptome schwerer Allgemeinintoxikation besitzen (vergl. M. 
Sternberg, „Die Sehnenreflexe und ihre Bedeutung", Wien 1893, 
Deuticke, S. 178). Wir sehen aber nur sehr selten einen Zustand wie 
den bei dem oben geschilderten Patienten: mit hochgradigster Stei¬ 
gerung der Reflexe und spastisch-paretischem Gang. 

Von den einzigen zwei weiteren Fallen, die solche Erscheinungen 
darboten, wurde der eine (Schuhmacher) oben erwahnt. Ein weiterer 
Fall (Anstreicher) wird noch erwahnt werden. Ein Fall von Patellar- 
klonus bei einem Anstreicher ist schon oben erwahnt worden. Auch 
bei Encephalopathia saturnina ist eine Steigerung der Reflexe nur 
selten zu beobachten. Westphal jun. (Uber Encephalopathia satur¬ 
nina. Dissertation, Berlin 18SS) berichtet unter 13 Fallen von Ence¬ 
phalopathia nur von einem einzigen mit starker Steigerung der Patel¬ 
larreflexe. 

Wir wagen es nicht zu entscheiden, ob wir es bei den erwahnten 
Erscheinungen an den unteren Extremitaten mit den Vorstadien einer 
Lahmung (vergl. Fall H.) zu tun haben; jedenfalls scheint aus unseren 
Beobachtungen hervorzugehen, dass auch diese mit der Funktion 
im engsten Zusammenhang stehen. 


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Die Zahl der Falle ist leider zu gering, als dass man aus ihnen 
sichere Schlusse fiber die Gestaltung der Bleilahmung bei den Hafnern 
ziehen konnte. 

Auch in der alteren Literatur finden sich nur relativ wenig Falle von 
Bleivergiftung bei Topfern. Wir konnten ermitteln: bei Sohr (Die in der 
medizinischcn Klinik zu Breslau seit 1892 beobachteten Falle von cliro- 
nischer Bleiintoxikation. Inauguraldissertation 1903) 5 Falle bei TOpferu, 
davon zeigten zwei Streckerparesen (Nr. 45, 51), zwei Schmerzen in den 
unteren Extremitaten (Nr. 22, 55); bei Magdeburg (Die in der Greifswalder 
medizinischcn Klinik vom Jahre 1884—1895 behandelten Bleiintoxikationen) 
einen Fall, der neben Streckerlahmung eine Lahmung des linken Oberarmes, 
Schmerzen im rechten Bein und Tremor der Hande und Finger zeigte; 
bei Fischer (tJber die seit 1877 in der Gbttinger medizinischen Klinik 
behandelten Falle von Bleivergiftung. Inauguraldissertation 1898) 7 Falle, 
davon 2 Streckerlahmungen (Nr. 1, 18), ferner ein Fall, bei dem ausser 
beiderseitiger (rechts starkerer) Extensorenlahmung, Beteiligung der kleinen 
Hand- und Daumenmuskeln (besonders rechts) eine leichte Parese des Supi¬ 
nator rechts und Beliinderung der Pronation bestand. In einem weiteren 
Fall (Nr. 17) waren 9 Jahre vorher angeblich die Beine gelahmt. Bei 
einem TOpfer, fiber den Remak berichtet (Archiv fttr Psychiatrie und 
Nervenkrankheiten, 6. Bd.), bestand beiderseits Parese der Extensoren 
(geringer des M. extensor carp, ulnaris), ferner des M. biceps, der Interossei, 
Mitbeteiligung des M. brachioradialis. Klagen fiber leichte Schwache der 
unteren Extremitaten. 

Beim Vorwiegen der kleineren und mittleren Betriebe in Deutschland 
ist es wahrscheinlich, dass fast alle Falle aus Kleinbetrieben mit wenig 
weitgehender Arbeitsteilung stammen, also fihnliche Arbeiten zu verrichten 
batten vie unsere T5pfer. 

Doch geben diese Krankengeschichten ffir unsere Vermutung, dass 
bei den Topfern infolge der Anstrengung der mannigfachsten 
M uskelgruppen auch die Lahmung verschiedene Muskel- 
gruppen (Oberarm, Brachioradialis, Beine) ergreife, zwar nicht 
sichere Beweise, aber berichten doch einige auffallende Erscheinungen. 

Unsere Ansicht aber findet vollkommeneBestatigung durch Chyzers 
Schrift „t)ber die im ungarischen Tonwarengewerbe vorkommenden 
Bleivergiftungen." Fischer, Jena 1908. Chyzer hat in sehr dankens- 
werter Weise die sanitiiren Verhiiltnisse in der ungarischen Tonwaren- 
iudustrie — die zum weitaus grossten Teil Hausindustrie ist — studiert 
und die Ergebnisse seiner Studien, die oft geradezu grauenerregende 
Verhiiltnisse zutage gefordert haben, in einerfiir den Gewerbehygieniker 
sowolil als auch den Kliniker interessauten Broschfire, die deutsch, 
franzosisch und ungarisch erschienen ist, dargelegt. 

Er fund unter 980 Bleikranken 114 mit ausgcsprochener Lahmung. 
Enter diesen Fallen befandcn sich (wir folgen hier der franzosischen 
Angabe, deren Zalilen mit der ungarischen ttbereinstimmen) 89 Falle 
von Radialislalnnung an der rechten Hand, der bald die Erkrankung 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


287 


der linken folgte. Selten ist neben den Extensoren auch der Supinator 
brevis and longus ergriffen. 8 mal sah Chyzer eine Lahmung der vom 
Nerv. uln. versorgten Muskeln*) (Klauenhand). Nach andauernder Lfih- 
mung der Hand and Atrophie zeigen sich auch Lahmungen der Mus- 
kulatur des Oberarmes, und zwar meist am Deltoideus, dessen Beteili- 
gung in 30 Proz. der bestSndigen Lahmung der Hand festzustellen war, 
in schweren Fallen sind auch die Muskeln des Schulterblattes und des 
Oberarmes gelahmt. 

Die Lahmung der unteren Extremitaten ist (nach Chyzer) relativ 
selten, ihre Haufigkeit verhalt sich zu der der Hande wie 1 : 10. Meist 
betrifft die Lahmung die vom Nervus peroneus versorgten Muskeln, nur in 
einem Falle sah Chyzer eine Lahmung der vom Nervus tibialis versorgten. 

Bemerkt sei, dass Chyzer auch fiber Facialislahmung berichtet. 

Chyzer hatte die grosse LiebenswQrdigkeit, auf meine Anfrage hin 
mir noch weitere Mitteilungen fiber seine Beobachtungen zu machen. Dar- 
nach sah er unter 120 Bleilahmungen 14 mal Lahmungen der unteren 
Extremitaten. Yon diesen Lahmungen entfielen 9 auf Manner, 1 auf eine 
Frau, 4 auf Kinder. 

Da Chyzer Qber Hausindustrielle berichtet, so batten seine Kranken 
wohl auch als „Former“ tatig zu sein, mit den Ffissen die Topferscheibe 
in Drehung zu versetzen; hatten also ihre unteren Extremitaten auch 
noch hierbei in besonders hohem MaCe anzustrengen. 

Die relative Haufigkeit der Deltoideuslahmung ist Chyzer selbst 
aufgefallen, uns erscheint aber auch die — sonst so ungemein seltene 
— Ulnarislahmung hier relativ haufig. Auch die Lahmung der unteren 
Extremitaten ist auffallend haufig, wenn wir sie mit den sonst in der 
Literatur auffindbaren Fallen von Beteiligung der unteren Extremitaten 
vergleichen; nur Tanquerel berichtet fiber verhaltnismassig mehr 
Lahmungen der unteren Extremitaten, doch hat Remak darauf hin- 
gewiesen, dass es sich bei diesem Autor, da die Erscheinungen gewohn- 
lich rasch verschwanden, um die — oben erwahnten — von Remak 
als funktionell angesehenen Storungen gehandelt habe. Chyzer aber 
berichtet fiber ausgesprocbene Lahmungen. 

So sehen wir auch bei den in der Hausindustrie die mannigfachsten 
Topferarbeiten verrichtenden, daneben auch meist Feldarbeit leistenden 
Topfern Chyzers die auch nach unserer Erfahrung vermutete und 
durch die Schwere und Mannigfaltigkeit der Arbeit erklarte 
Haufigkeit der Lahmung derOberarm- und Beinmuskulatur. 

Es konnte gegentiber meinen Ausfuhrungen vielleicht der Einwand 
gemacht werden, dass die Bleivergiftungen, die sowohl Chyzer als 
auch ich bei den Hafnern beobachtet haben, besonders schwerer Natur 
waren, bereits lange bestanden hatten und dass, je schwerer die Blei- 

1) Es sei hier auf die durch die Funktion (Letternschleiferin) erklarte Ulna¬ 
rislahmung infolge von Bleivergiftung hingewiesen, die Li lien stein (Munch, 
med. Wochenschr. 1906) publiziert hat. 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenhellkunde. 37. Bd. 19 


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XIV. Teleky 


vergiftung ist, je langer trotz auftretender Lahmungssymptome die Blei- 
aufnahme fortdauert, um so mehr Muskelgruppen von der Lahmung er- 
griffen werden. 

Richtig ist es wohl, dass bei Chyzers Fallen es sich um besonders 
schwere, besonders lang bestebende und besonders vernachlassigte Falle 
von Bleivergiftung handelt, aber bei unseren Fallen trifft dies schon 
nicht in demselben MaBe zu. Richtig ist auch, dass in den meisten 
Fallen die Bleilahmung an den langen Streckern beginnend, zunachst 
die kurzen Fingermuskeln und dann erst andere Muskeln ergreift; 
aber nicht jede lang andauernde und schwer vernachlassigte Lahmung 
muss zur Erkrankung anderer Muskelgruppen fiihren; wir verweisen 
hier uur auf den Fall des Schlossers L. A., des Feilenhauers I. H., 
des Glaser I. S. sowie auf mehrere Anstreicher, die alle schwere und 
vernachlassigte Lahmung sowie sonstige schwere Allgemeinerscheinun- 
gen darboten, ohne dass aber die Lahmung andere als die Finger- und 
Handmuskeln ergriffen hat. Besonders sei auf die Flaschenkapsel- 
putzerinnen verwiesen, von denen eine grosse Anzahl haufig wieder- 
holte und schwere Bleivergiftungen (ruit Abortus, Sehnervenatrophie) 
durchgemacht hat; aber nur bei so wenigen kam es zur Bleilahmung 
und auch bei diosen beschrankte sich die Lahmung auf nur kleine 
Muskelgruppen. 

Hat zwar das Ergriffen werden zahlreicher Muskelgruppen wohl 
„ moist das Besteheu einer schweren und vernachlassigten Bleivergiftung 
zur Voraussetzung, so ist eine zweite unerliissliche Voraussetzung 
dieses Ubergreifens doch die berufliche Anstrengung der betreflfendeu 
Muskelgruppen, und auch bei den schwersten und vernach- 
lassigsten Fallen von Bleivergiftungen treten Lahmungs- 
erscheinungen aussehliesslich in solchen Muskelgruppen auf, 
die besonderer Anstrengung ausgesetzt worden sind. 

Anfttgen wollen wir liier noeh, dass Remak unter einer Anzahl von 
Bloilahmungsfallen nur hei zwei Frauen, einer Puella publica und einer 
Schneiderin, die beiile infolge Verwendung bleihaltiger Sehminken erkrankt 
waren, Bleilahmung der unteren Extremitaten gefunden hat und darUber 
sehreibt (Ardiiv ftir Psychiatric. 187(>. S. 52): „Ub insbesondere der Um- 
staud, dass meine bciilen cinzigen Beobachtungen von Bleilahmung der 
unteren Extremitaten Frauenzimmer betrafen, welelie ill re Beine mehr an- 
zustrengen ptlegen als Hire Anne, rein zufallig ist, lasse ieh dahingestellt“. 

Uie Bleilahmung der Kinder unterscheidet sich in ihrer Lokali- 
sation ganz wesentlich von der der Erwachsenen. Bei Kindern tritt 
niimlieh die Liihmung der unteren Extremitaten in den Vordergrund, 
sie tritt friih/.eitiger oiler starker auf als die der oberen Extremitiit. 

Wir batten nur eiu einziges Kind mit Bleilahmung zu sehen Ge- 


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Zur KasuUtik der Bleilahmung. 


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legenheit, und dieses ist schon deshalb nicht als reiner Fall von kind- 
licher Bleilahmung anzusehen, weil das damals 13 jahrige Madchen seit 
3 Jahren gewerblich tatig war, taglich 3—4 Stunden mit seiner Mutter 
zusammen als Heimarbeiterin Fransen knlipfte; die Seide, aus der diese 
Fransen gekniipft wurden, war mit Blei beschwert. 

DieKrankcngeschichte dieses Kindes ist von Dr. B. Mauthner in dor 
Allgemeinen Wiener mediziniscken Zeitung 1906, Nr. 50, 51 publiziert 
wordcn und entnehmen wir ihr folgende Daten: Beginn des Leidens im 
•Juni 1906 mit gastrischen Stdrungen; zugleich soil die Streckung des 
rechten Ringfingers unmoglich gewesen sein; damit begann einc Lithmung 
dor rechten Hand, der dann die der linken folgte. Im August — zu ciner 
Zeit, da das Kind schon der schildlichen Einwirkung und der gewerblicheu 
Arbeit entrQckt war — begann auch der Gang unsicher zu werden. 

Befund. RechteHand: Leichte Parese der Handstrecker; Fingerstrecker 
ziomlich stark, die des 4. und 5. Fingers am meisten paretisch. Parese 
<ler Strecker des Daumens; Paralyse und Atropliie des Abductor poll, 
brevis; Adduktion gut, Opposition nicht mOglich; im 1. Zwischcnknochen- 
raum starke, in den anderen leichte Atrophie. Bei passiver Streckung 
im Metacarpophalangealgelenk der Finger bleibt die Streckung des 
Zeigefingers in den I nterphalangealgelenken unvollkommen. 

Linke Hand: Handstrecker wie rechts. Beim Versuche, bei maximal 
gebeugter Hand die Finger zu strecken, wird der 3. Finger hyperextendiert, 
der 2. im Metacarpophalangealgelenk extendiert, bleibt in den Interpha- 
langealgelcnken gebeugt, der 4. extendiert, der 5. bleibt gebeugt. Atrophie 
im 1. Zwischenknochenraum wie rechts, in den anderen etwas weniger. 

2. Finger: Auch bei passiver Streckung der 1., die aktive 
Streckung der 2. und 3. Phalange unmoglich. Daumen: Extension 
besser als rechts. Opposition ziemlich gut, wenn auch mit verringerter 
Kraft moglich. 

Rechts faradische Erregbarkeit samtlicher Hand- und Fingerstrecker 
erloschen, ebcnso am rechten Opponens und liuken Adduktor herabgesetzt; 
galvanische: Handstrecker herabgesetzt, Fingerstrecker Entartungsreaktion. 

Untere Extremitiiten: Leichte Pes equinovarus-Stelluug, Uberstreckung 
der Zehen moglich, Dorsalflexion des Fusses nur ganz wenig und mit selir 
verringerter Kraft — links etwas besser als rechts. 

Wttrde man demnach eine Lahmung des M. tibial. anticus erwarton, so 
widerspricht dem die Angabe des Verfassers liber die elektrische Erreg¬ 
barkeit und seine Auffassung der Lahmung. 

Auffallend an diesem Krankheitsbild ist die starke Beteiligung der 
Handmuskeln so wie insbesondere die Un moglich keit, b eider seits den 
Zeigefinger in seinen Interphalangealgelenken zu strecken. 

Diese auffallige Erscheinung ist wohl darauf zurtickzufiihreu, 
dass beim Fransenknlipfen der Zeigefinger ganz eigenartige und sehr 
anstrengende Bewegungen auszuf’iihren hat. Er ist namlich der die 
Hauptarbeit verrichtende Finger. Bei im Metacarpophalangealgelenk 
wenig, im Interphalangealgeleuk starker gebeugter Haltung liat er 
zwiscben den Fiiden sich den Weg zu sucben, durch abwechselud 

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ausgefuhrte rasche Streckung und Beugung die eDtsprechenden Faden 
von den anderen Faden zu isolieren und mit geringer Unterstntzung 
des Daumens den Knoten zu schlingen — Bewegungen, bei denen den 
Mm. interossei und lumbricales eine besonders grosse Rolle zufallt. 
Die ganz besonders grosse Anstrengung gerade dieser Muskeln des 
Zeigefiugers erklart wobl, dass die Lahmung auch diese Mnskeln er- 
griffen hat Bei dieser Gelegenheit sei kurz darauf hingewiesen, dass 
die Verteilung der Gesamtmuskelmasse des Armes auf die einzelnen 
Muskelgruppen beim Kinde eine wesentlich andere ist als beim Er- 
wacbsenen (der Fingermuskulatur fallt ein relativ grosserer Anteil zu 
als der Ellbogenmuskulatur), und dass sich — zwar nicht in diesem 
Falle — aber gelegentlich vielleicht Abweichungen vom Typus, die bei 
Kindern auftreten, auf diese Verhaltnisse zurllckfiihren lassen. Speziell 
verwiesen sei darauf, dass der M. brachioradialis beim Kinde nur 2,89 Proz. 
der Armmuskulatur betragt, beim Erwachsenen 5,80 Proz. 

Auffallend aber bei dem Krankheitsbild ist weiter auch die Mit- 
beteiligung der unteren Extremitaten, die fiir die Bleilahmung des 
Kindesalters charakteristisch ist. 

Stellen wir die uns zug&nglichen- Falle von Bleilahmung des Kindes¬ 
alters aus der Literatur zusammem, so finden wir: 

einen Fall von Duchenne, bei dem nach generalisierter Lahmung 
schliesslich eine Lahmung der linken unteren Extremitat zurdckblieb; einen 
Fall von Bernhardt (Festschrift fttr Salkowski) mit starker Beteiligung 
aller Extremitaten. Chyzer sail — wie er mir mitteilt — bei zwei 
Kindern allgemeine Lahmung; zwei in seinem Buehe abgebildete Kinder 
zeigen Lahmungen an alien vier Extremitaten, das eine Radialis- und 
Peroneus-, das andere Ulnaris- und Tibialislahmung. Ferner sind in der 
Literatur mehrere Falle verzeichnet, bei denen eine Radialislahmung neben 
tier Fusslahmung bestand, bei denen aber die Lahmung an den unteren 
Extremitaten teils starker ausgesprochen war (Variot [zwei Falle], Gazette 
des hopitaux 1901, p. 1211, 1902, p. 482; Zappert, Wiener medizinischc 
Wockenschrift 1904, S. 1378; Escherichs 2. Fall), teils frQher entstanden 
war (Escherich, Wiener klinische Wocheuschrift 1903, S. 229, 1. Fall) 
als die der oberen Extremitat. Bei diesem Falle Escherichs hatten sich 
irn 4., 5., 6. Lebensjahr alljahrlich Lahmungserscheinungen der unteren 
Extremitaten gezeigt, erst im 7. Lebensjahr war eine Radialislahmung hin- 
zugetreteu. Bei Sinclair White war die Lahmung der unteren Extremitat 
vier Wochen vor der der oberen aufgetreten. In einem von Variot (An¬ 
imates d'hygiene puhlique 1902) flllchtig erwahnten Falle scheinen nur die 
unteren Extremitaten ergriffen gewesen zu sein. Putnam (Boston Medical 
and Surgical Journal 1893, p. 187) fiihrt die Lokalisation der Bleilahmung 
in den unteren Extremitaten bei Kindern darauf zurllck, dass bei diesen 
mehr die Beininu^kulatur, lad Erwachsenen mehr die Armmuskulatur an- 
gestrengt. werde, und ihm stimmen alle anderen Autoren (Remak, Bern¬ 
hardt, Escherich. Zappert) bei. Bernhardt weist jedoch dabei als 
Gegenargument gegen diese Auffassung darauf bin, dass auch eine ange- 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


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borene Bleilahmung der unteren Extremitaten beobachtet worden sei, ftigt 
jedoch hinzu, dass dieser beobachtete Fall keineswegs unanfechtbar sei. 

Der Typus der Bleilahmung an der unteren Extremitat scheint 
ubrigens bei weitem nicht so konstant zu sein wie der an der oberen. 

Dejerine-Klumpke und Remak haben nach den Beobachtungen 
Tanquerels, Meyers, Erbs, Lancereauxs, Zunkers und Remaks als 
den Typus die Erkrankung der Mm. peronei, der Extensores digitorum bei 
Freibleiben des M. tibialis anticus (samtlich versorgt vom Nerv. peroneus) 
angesehen. Aber Remak hat in einem Falle bei einem Erwachsenen ein 
Freibleiben der erwahnten Muskeln bei Ergriffensein des M. tibialis anticus 
uud des Triceps surae (Nerv. tibialis) festgestellt, ebenso vor ihm — bei 
einem Kinde — Duchenne de Boulogne; Newmark fand bei Kindern 
den M. tibial. anticus ebenso beteiligt wie die anderen Muskeln (zitiert nach 
Remak). Turner (refer. MQnchner med. Wochenschrift 1900, S. 945) gibt 
an, dass bei Kindern meist der Muse, tibialis anticus und Extensor digit, 
communis, seltener die Peronei erkranken; Variot sail bei zwei Kindern 
Erkrankung des Triceps surae und der Fussstrecker, Escherich sah bei 
zwei Fallen beiderseits den Muse, tibial. anticus, rechts den M. peroneus 
ergriffen. Chyzer gibt an, dass bei seinen Fallen 13 raal der Nerv. 
peroneus, nur einmal der Nerv. tibialis erkrankt war. 

In unserem oben erwahnten Falle (Ilafner F. H.) bestand Parese des 
Muse, tibialis anticus rechts. 

Nach all dem wird man wohl Remak und Bernhardt darin bei- 
stiminen miissen, dass ein absoluter Lahmungstypus fttr die Unter- 
extremitaten weder bei Erwachsenen noch bei Kindern festgehalten 
werden kann. Immerhin scheint die Lahmung der vom Nervus 
peroneus versorgten Muskeln das bei weitem Hliufigere zu 
sein und bei diesem Lahmungstypus der M. tibial. anticus in einer 
nicht geringen Anzahl von Fallen freizubleiben. 

Vielleicbt, dass eine vom Erwachsenen verschiedene Verteilung der 
Muskulatur an den unteren Extremitaten beim Kind — Zahlen hierfiir 
liegen uns leider nicht vor, doch vergl. das liber die obere Extremitat 
Gesagte — bei der Entstehung atypischer Lahmungsbilder an den 
unteren Extremitaten bei Kindern eine gewisse Rolle spielt. 

Neben der geringen Zahl der von uns gesehenen Falle von Blei- 
lalimung der unteren Extremitaten und der geringen Schwere unserer 
Falle hat uns auch diese Inkonstanz der Beobachtungen, das haufige 
Abweichen von dem wahrscheinlichen „Typus“ davon abgehalten, nach 
einer funktionellen Erklarnng der Lokalisation der Bleilahmung an 
den unteren Extremitaten zu fahnden. Erwahnt sei hier nur, dass 
nach den Untersuchungen W. u. E. Webers (Mechanik der mensch- 
lichen Gehwerkzeuge. Gottingen 1836) die Streckmuskeln viel 
grosser an Masse sind als alle anderen Muskeln des Unter- 
schenkels zusammengenommen (733: 537), und dass unter den Beugern, 


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den Abduktoren und Adduktoren der M. tibialis anticus der weit- 
aus kraftigste ist (146,7). 

Mit Bestimmtheit aber kann man wohl annehmen, dass der Grund 
dafur, dass bei Kindern Bleilahmung an den unteren Extremitaten so 
(relativ) haufig ist, dass sie ofters vor der der oberen Extremitaten ent- 
steht oder hohere Grade als diese erreicht, in der relativ starkerenln- 
anspruchnahme der unteren, der relativ geringeren der 
oberen Extremitaten zu suchen ist. 


Stieglitz (Eine experimentelle Untersuchung fiber Bleivergiftung 
mit besonderer Berucksichtigung der Veranderungen am Nervensystem. 
Inaug.-Dissertation, Heidelberg 1892) hat darauf verwiesen, dass das 
Tier in Bezug auf die Anstrengung bestiramter Muskelgruppen sich 
ebenso wie ein Kind verhalte, dass man deshalb auch bei experimentell 
mit Blei vergifteten Tieren keine „typische“ Bleilahmung erwarten dfirfe. 

Von seinen Meerschweinehen zeigt eines eine zuerst an den Yorder- 
pfoten auftretende Lahmung, bei einem trat gleichzeitig Lahmung samt- 
licher Ftisse (vorderer und hinterer), daneben voile Lahmung des linken 
Vorderbeines auf, bei einem Parese des rechten, bei einem anderen beider 
Hinterbeine. Prevost und Binet (Revue medical de la Suisse romando 
Nr. 10, 11. 1889) fanden bei 9 von ihren Meerschweinehen Lahmung der 
Strecker der Pfoten an den hinteren Extremitaten, bei einigen waren auch 
die Vorderpfoten leicht paretisch, aber viel weniger als die Hinterfusse. 
Von ihren Ratten fand sich bei einer eine ausgesprochene Lahmung, bei 
einigen eine leichte Sclnvacbe der hinteren Extremitaten, die aber stets 
rasch vortlberging. Es sind also bei Tieren meist die hinteren Extremi¬ 
taten, die erkranken. 

Wir konnen nach dem Gesagten wohl mit einem bohen Grade von 
Wahrscheinlichkeit sagen, dass man Mitbeteiligung der unteren 
Extremitaten nur dann findet, wenn diese mehr als die oberen 
Extremitaten oder in besonders hohem MaGe angestrengt 
werden, also bei Tieren, Kindern und bei den Berufen, die 
besondere Anstrengung dieser Extremitaten erfordern, in 
erster Linie bei Ilafnern. 


Schliesslich mbgen uns die folgenden Fiille zeigen, dass die Blei¬ 
vergiftung dann, wenn bestimmte Partien des Nervensystems durch 
amlere Ursachen bereits geschwiicht sind, gerade in diesen Partien 
neuerliche Liihmungserscheinungen hervorrufen kann, dass also auch 

eine andere als durch Arbeitsaufbrauch yerursachte Ernahrungs- 
sldrung den Bodcn fiir die Lahmniig vorbereiten und die 

Lokalisatiou derselben bestimmen kann. 


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Zur Kasuistik der Bleilahmuug. 


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I. D. hat 1895 im Alter von 20 Jahren Lues durchgemacht. Wie ich 
der von der Klinik Riehl (weil. Kaposi) freundlich Qberlassenen Kranken- 
geschichte entnehme, kam er Anfang Juli 1907 rait einem Rezidiv-Exan- 
them an der Klinik zur Aufnahme; es bestand ausserdem beiderseits Neu¬ 
ritis nerv. optici und heftiger Kopfschmerz. Am 7. VIII. 1897 zeigte sich 
plotzlich eine Parese des rechten Facialis und der beiden rechten Extremi- 
taten. Motorische Kraft der rechten ExtremitiUen deutlich herabgesetzt, 
paretischer Gang. Als Patient am 11. I. 1906 in meine Behandlung ein- 
trat, gab er an, Ofters kleine Kolikanfalle gehabt zu haben, die er aber 
nieht beachtet hatte. Die im Jahre 1897 entstandene leichte Lahmung 
der rechten Seite sei sonst ganz zurtlckgegangen, doch spOre er seit 
3 — 4 Jahren eino Schwiiche im rechten Bein; in den letzten 3 Monaten 
babe sich diese vorher bestandene Schwache im rechten Bein gesteigert, 
so dass er gegenwftrtig beim Gehen behindert sei. Er kdnne auch den 
Urin nicht so gut halten. 

Die Untersuchung ergab: Bleisaum, AnSmie; rechtes Bein: Sonsibilitat 
etwas herabgesetzt, motorische Kraft geringer als links. Rechts Patellar- 
klonus, links Patellarsehnenreflexe etwas gesteigert, Albuminurie. Im Laufe 
von 3 Monaten Besserung. 

Die damals (1906) auch von Doz. Dr. Innfeld gestellte Diagnose 
lautete: „Geringe residuftre Hemiparese nach luetischer Endarteriitis in 
der linken Hemisphare, Sphinkterparese, ausserdem Bleineuritis der rechten 
uuteren Extremitat.“ 

Es scheint also in dem Falle das von der luetischen Lahmung 
ergriffene rechte Bein den Locus minoris resistentiae fiir das Blei 
gebildet zu haben. 

Cber diesem ahnliche Falle berichten Mor. Meyer und Sarho; der 
erstere (Archiv ftlr Psychiatric V. Bd., S. 298) erinnert sich eines Falles, 
bei welchem ein Mensch, der einen weniger entwickelten Fuss hatte, ge- 
rade in diesem Bein die Lfthmungserscheinungen zeigte, w ah rend die an- 
deren Extremitaten weniger beteiligt waren. Sarho (Deutsche Zeitschrift 
fftr Nervenheilkunde. XIX. Bd., S. 249) berichtet Uber „spinale Muskel- 
atrophie infolge von Bleivergiftung, an eine infantile Poliomyelitis sich 
anschliessend‘\ Eine im Alter von 20 Jahren einsetzende spinale Muskel- 
atrophie begann an den durcli eine im 5. Lebcnsjahre aberstandene Polio¬ 
myelitis geschwachten rechten Bein. Nach Annahme des Autors wurde sie 
ausgelost durcli eine Bleivergiftung, die in den erkrankt, gewesenen Teilen 
des Rackenmarks einen Locus minoris resistentiae fand. 

Ferner sei auch ein Fall erwahnt, den ich der Liebenswiirdigkeit 
der Professoren Frank), v. Hochvvart und H. Schlesinger verdanke. 

A. Sch., 18 Jahre alt, FransenknOpferin seit ihrem 8. Lebcnsjahre, 
hat schwarze, mit Bleizucker beschwerte Seidenfransen geknttpft. Sie selbst 
war nicht an Bleivergiftung erkrankt, aber ilire Ziehschwester und Mit- 
arbeiterin sowieaudere Arbeitcrinuen des Betriebes waren mit Bleivergiftung 
in meiner Behandlung gewesen. 

Mit 14 Jahren Selbstmordversuch durcli Trinken von Lauge. 1904 Gas- 
trostomie wegen Stenosis oesophagi. 27. II. 1908 Fraktur des linken Ober- 
schenkels, zunachst Extensionsverband. Vom 20. III. an gcht Patientin 


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an Krbcken. Am 10. IV. beginnen Par&sthesien und Schwilche in der 
rechten Hand aufzutreten. Am 23. IV. begannen ahnliche subjektive Be- 
schwerden in der linken Hand. Patientin fand bei weiterer Entwicklnng 
der Lahmungserscheinungen nach einander an den Abteilnngen der genannten 
Herren Aufnahme und wurde von ihnen die Diagnose „Paresis nerv. radi- 
alis et ulnaris ex intoxicat. plumb, et compressione, Bleikrttckenlahmung“, 
gestellt. 

Man ist wohl zu der Annahme voll berechtigt, dass die zweifellos 
stattgehabte reichliche Bleiaufnahme far die Entstebung der 
KrQckenlahmung den Boden vorbereitet hatte. 


Wenn man der Meinung ist, dass die Funktion, die Anstrengung, 
von wesentlichem Einfluss auf die Lokalisation der Bleilahmung ist, 
dann liegt die Vermutung nahe, dass ihr auch auf das Entsteheu der 
Bleilahmung selbst eine gewisse Bedeutung zukommt, dass in jenen 
Berufen, wo starke Anstrengung gewisser Muskelgruppen 
die Regel ist, auch haufiger Bleilahmungen sich entwickeln 
als in anderen, bei denen keine Muskelgruppe besonders in Anspruch 
genommen, bei denen weniger Muskelarbeit geleistet wird. Ausdrucklich 
betonen wollen wir, dass aus der Annahme, dass die Bleilahmung sich 
in jenen Muskeln lokalisiert, die besonders in Anspruch genommen 
werden, noch keineswegs ohne weiteres folgt, dass die Bleilahmung 
in Berufen mit starker Muskelanstrengung haufiger sein muss als in 
solchen mit geringer Muskelanstrengung. Es konnte ja die schlechte 
Ernahrung der Arbeiter in einem Berufe der letzterwahnten Art, das 
Vorhandensein des Alkoholismus u. a. diese Gruppe von Arbeitern 
besonders empfindlich fur das Blei uberhaupt machen, oder auch die 
Bleiaufnahme besonders gross sein, und es deshalb zu einer grossen 
Zahl von Bleivergiftungen liberhaupt und zu einer, zwar im Ver¬ 
haltnis zur Zahl der Vergiftungen geringen, doch im Verhaltnis 
zur Zahl der Beschaftigten grossen Zahl von Bleilahmungen kom- 
men. Aber auch die Zahl der Bleilahmungen im Verhaltnis zur 
Zahl der Bleivergiftungen muss in Berufen mit starker Muskelanstrengung 
nicht unbediugt grosser sein als in Berufen mit geringerer Muskel¬ 
anstrengung. Ich habe seinerzeit auf dem Berliner Kongress far Hy¬ 
giene und Demographie darauf hingewiesen, dass das „Tempo“ der 
Bleiaufnahme gevviss ftir die Form, unter der Bleivergiftung auftritt, 
von Bedeutung ist. Bei langsamer Bleiaufnahme — mag sie dadurch 
zustande komtnen, dass nur geringe Mengen Blei in den Korper ge- 
langen, oder dadurch, dass das Blei in einer schwer resorbierbaren 
Form in den Korper gelangt — werden Gefassveranderungen, eventuell 
Liihmungen sich allmahlich entwickeln, ohne dass mehrfache Koliken 
vorhergegangen; bei rascher Bleiaufnahme werden hingegen zahlreiche 


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Zar Kasuistik der Bleilahmungen. 


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und in kurzeren Intervallen auftretende Koliken das Krankheitsbild 
beherrschen, wenn auch die mehr allmahlich sich entwickelnden Formen 
keineswegs ausbleiben. Trotzdem aber ist es wohl wahrscheinlich, 
dass durch berufsmassige starke Inanspruchnahme gewisser Muskel- 
gruppen nicht nur die Lahmung in diesen Muskeln lokalisiert, sondern 
aucb das Entstehen einer Lahmung in solchem Mafie ge- 
fordert wird, dass in solchen Berufen die Labmungen im Ver- 
haltnis zur Zahl der Bleivergiftungen haufiger sind. 

Das Material, das uns zur Klarung dieser Frage zur Verfflgung 
steht, ist aber nurein sehrgeringes und keineswegs zuverlassiges. Selbst 
iiber die relative Haufigkeit der Bleilahmungen tiberhaupt liegt nur 
wenig Material vor. Die von Weikert-Hirt gegebenen Zahlen sind 
nicht verwertbar. Ein grbsseres Material finden wir nur bei Tan- 
querel de Planches und in den Berichten des englischen Medical- 
Inspector. 

Tanquerel berichtct fiber 2171 Bleivergiftungen, doch ergibt sicli 
aus seinen AusfQhrungen, dass er nicht die Erkrankungsfalle dabei gezahlt, 
sondern die Hauptsymptome, so dass — wenn ein Krauker neben der 
Kolik noch Lahmung und Gelenkschmerzen aufwies, er 2- resp. 3 fach ge¬ 
zahlt wurde. Insgesamt standen ihm 1493 Krankheitsfalle zur Yerfttgung. 
Darunter waren 127 Falle von Lahmung, doch unterscheidet er zwischen 
motorischer Lahmung und „Anaesthesie saturnine 11 ; auf die erstere — die 
uns ja allein interessiert — entfallen 101 (an manchen Stellen spricht er 
von 102) Falle. Aus diesen Zahlen ergibt sich, dass 6,7 Proz. aller Blei- 
vergiftungsfalle Tanquerels an Bleilahmung litten. 

Nach den Berichten des englischen Medical-Inspector kamen in den 
Jahren 1901—1905 2761 Bleivergiftungsfalle bei Mannern, 485 bei Frauen, 
insgesamt also 3246 Falle zur Kenntnis der Behorden. Davon zeigten 587 
Manner, 69 Frauen Lahmungserscheinungen, also 21,26 Proz. der Manner, 
14,23 Proz. der Frauen, insgesamt also 20,23 Proz. 

Da sowohl Tanquerel als auch der Medical-Inspector Legge alle 
vorhandenen Symptome in Rechnung stellen — also ein Fall, der wegen 
Bleikolik in Behandlung kommt, aber eine veraltete Bleilahmung besitzt, 
auch unter den Bleilahmungsfallen aufgezahlt wird, so ergibt sich fhr beide 
Statistiken eine gewisse Ungenauigkeit, die aber ihre Yergleichbarkeit 
nicht beeintrachtigt. Bis zu einem gewissen, aber wohl sehr geringen 
Grade aber leidet diese vielleieht darunter, dass in den englischen Berichten 
ein Patient mit veralteter Bleilahmung, der z. B. 5 mal an Bleikolik 
erkrankt, nicht nur 5 mal als Erkrankung an Bleikolik, sondern auch 
5 mal als Erkrankung an Bleilahmung ausgewiesen wird; solclie Falle — 
vergl. unten unsere eigenen Zusammenstellungen — sind wohl geeignet, 
das Resultat der Berechnung um etwas weniges zu verschieben. Tan¬ 
querel aber zahlt — wie es scheint — je<le Lahmung nur einmal. Ein 
weiteres in Betracht zu ziehendes Moment ware folgendes: Tanquerels 
Material entstammt griisstenteils den Spitalern, daneben auch den Ambu- 
lanzen und der Privatpraxis. Dem Umstande, dass Labmungen meist 


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XIV. Tet.eky 


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weniger zur Spitalaufnahme gelangen, mag vielleicht auch eine gewisse, 
aber jedenfalls sehr beschrankte Wirkung zukommen. 

Immerhin waren diese Momente geeignet, eine Differenz, eine geringere 
Haufigkeit der Bleilahmung bei Tanquerel gegenQber den englisehen 
Listen innerhalb gewisser Grenzen zu erklaren. 

Die ganze gewaltige Differenz aber — bei Tanquerel 6,7 Proz., in 
den englisehen Listen 20,2 Proz. Bleilahmungen — muss auf andere Ursachen 
zurttckzuftlhren sein. 

In dem oben erwahnten Referate haben wir dargelegt, wie die relativ 
grosse Zahl der Bleilahmungen in den englisehen Berichten auf die mangel- 
hafte Durchftthrung der Anzeigepflicht, auf der diese Ausweise beruhen, 
zurQckzufflhren ist, da die mit lang andauernder Arbeitsunfahigkeit ver- 
bundenen und wohlcharakterisierten Lahmungen von der Anzeigepflicht 
besser erfasst werden als die relativ kurz dauernden Koliken Oder als 
andere weniger gut charakterisierte Erkrankungsformen. 

Ein gutes Material, dem keinerlei grobe, oder doch wenigstens 
gut abschatzbare Fehler aubaften, glauben wir zur Frage der Haufig¬ 
keit der Bleilahmung beibringen zu konnen. 

Es werden mir — wie ja eingangs erwahnt — von den Rayon- 
arzten des Verbandes der Genossenschafts-Krankenkassen und der All- 
gemeinen Arbeiterkranken- und Untersttitzungskasse Falle von Blei- 
vergiftung, sobald sie nicht mehr bettlagerig sind, zugewiesen; auch 
haben die Kassenmitglieder das Recht, im Erkrankungsfalle mich direkt 
aufzusuchen. Unter den so in meine Behandlung gelangten Kranken 
linden sich zahlreiche Falle, bei denen der vom Arzt Oder vom Pa- 
tienten selbst ausgesprochene Verdacht auf Bleivergiftung bei ge- 
nauerer Untersuchung oder langerer Beobachtung sich nicht als ge- 
rechtfertigt ervveist, und werden von mir nur Falle, bei denen die 
Diagnose Saturnismus mit grosster Wahrscheinlichkeit gestellt werden 
kann, als solcbe bezeichnet. Insgesamt habe ich so vom 1. XI. 1905, 
dem Beginn meiner kassenarztlichen Tatigkeit, bis 1. I. 1909 1336 Falle 
von Bleivergiftung gesehen. Ein grosser Teil der unter den Mitglie- 
dern der Krankenkassen vorkommenden Bleivergiftungsfalle gelangt 
nicht zu meiner Behandlung, und zwar sind dies meist solche Falle, 
die nur kurze Zeit an Bleikolik erkrankt sind und bald die Arbeit 
wieder aufnehmen, wogegen wohl fast alle lang andauernden und auch 
fast alle Falle von Bleilahmung schon aus ausseren GrQnden von den 
Rayoniirzten mir zugewiesen werden; speziell die Bleilahmungen durften 
— da der Spezialarzt fur Nervenkrankheiten, Doz. Dr. Erben, die 
Liebenswiirdigkeit liatte, die in seine Behandlung gelangten Falle von 
Bleiliihmung fast stets an mich zu weisen — mit wenigen Ausnahmen 
in meine Behandlung gelangt sein. Eine Durchsicht der im Jahre 
1907 in dem statistischeu Material der Kassen enthaltenen Falle von 
Bleilahmung ergab, dass nur ein Fall von leichter Bleilahmung nicht 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


297 


in meiner Beobachtung gestanden bat. Hingegen hatte icb in den 
Jahren 1906 und 1907 iusgesamt 871 Falle von Bleivergiftung in Be- 
handlung, wahrend die Ausweise der Krankenkassen 1540 Falle von 
Yergiftungen mit mineralischen Substanzen — mit ganz wenigen Aus- 
nahmen Bleivergiftungen — enbalten. Es sind also die Bleilahmuugen 
vollstandiger zu meiner Kenntnis gelangt als die sonstigen Bleiver- 
giftungen. Wir baben bisher fiber 45 an Lahmung erkrankte Per- 
sonen mit Bleivergiftung — fiber samtliche, die ich zu sehen Ge- 
legenheit hatte — berichtet Von diesen bestand in 2 Fallen keine 
eigentliche Bleilahmung (1 mal Krtickenlahmung, der Fall der Kapsel- 
arbeiterin Sw.); 3 mal handelte es sich um veraltete Falle, so dass 
insgesamt 40 Personen an Bleilahmung frisch erkrankt sind. Aber 
nicht um die Zahl der Personen handelt es sich — denn uns steht 
ja auch nicht die Zahl der an Bleivergiftung erkrankten Personen, 
sondern die Zahl der Erkrankungsfalle an Bleivergiftung zur Ver- 
fagung. 

Einzelne der hier angeffihrten Personen sind mehrmals wegen 
Bleilahmung in meine Behandlung gekommen, da nach Aufnahme 
der Arbeit Rezidive, resp. Verschlechterung der Lahmungserscheinungen 
auftrat; berucksichtigen wir diese Erkrankungen, so erhalten wir 53 
Erkrankungsfalle an Bleilahmung. Ziehen wir — wie es Ta nquerel, 
wie es vor allem aber die englischen Berichte tun — bei jedem Falle 
von Bleivergiftung, der zur Beobachtung kommt, das Bestehen einer 
— eventuell auch veralteten — Parese, Lahmung Oder Schwache in 
Betracht, wobei — wie bei der einen Flaschkapselputzerin, die funfmal 
bei uns in Behandlung karn, stets aber ausscbliesslich der Kolik- 
schraerzen wegen uns aufsuchte, wahrend ihre Hand konstant die 
gleichen Veranderungen aufwies — eine und dieselbe Lahmung immer 
wieder von neuem gezahlt wird, so oft das betreffende Individuum an 
lvolik erkrankt, und rechnen wir auch die fraglichen Falle ein, so er¬ 
halten wir insgesamt 65 Erkrankungsfalle, bei denen eine Bleilahmung 
vorhanden war. Das giebt in Prozenten berechnet, je nachdera 
wir 40, 53 — dies erscheiut uns richtig — oder 65 Falle in Betracht 
ziehen: 2,99 Proz., 3,97 Proz., 4,S7 Proz. Dass die Zahlen noch um 
Betrachtlicbes kleiner wfirden, wenn uns nicht so zahlreiche Falle von 
Bleikolik entgingen, wurde bereits oben dargelegt. 

Allerdings kann man damit keineswegs behaupten, dass iiberall 
und unter alien Umstanden der Prozentsatz der Liilimungen ein so 
niedriger sein wird. Abgesehen von dem Einfluss des Berufes — fiber 
den noch gesprochen werden soil — ist zu bedenken, dass, je mehr 
der Arbeiter auf leichtere Erscheinungen achtet, je mehr er bei deu 
ersten Erscheinungen der Bleivergiftung sich krank meldet und die 


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XIV. Teleky 


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gefahrliche Arbeit unterbricht, je langer er diese Arbeitsruhe einhalt 
und so dem Organismus Zeit lasst, einen moglichst grossen Teil des 
aufgenommenen Bleies wieder auszuscheiden, um so seltener es zu 
schweren Erscheinungen von Saturnismus, zur Bleilahmung, kommen 
wird. Vielleicht ist es zura Teil auf diese Umstande zurQckzuftihren, 
dass seit meiner Wirksamkeit bei den Krankenkassen die Zahl der 
Liihmungen ebenso wie die der schwersten Kolikerscheinungen abge- 
nommen hat. Allein schon der Umstand, dass infolge Fehlens einer 
Krankenvcrsicherung die Arbeiter zu Tanquerels Zeiten sich weniger 
leicht zur Unterbrechung ihrer Berufstatigkeit entschlossen als heute, 
konnte erklaren, dass damals die Bleilahmungen relativ haufiger waren 
als heute. Um so merkwtirdiger muss es uns aber erscheinen, dass in 
England, das zwar keine obligatorische Krankenversicherung besitzt, 
aber die periodische Untersuchung vieler Gruppen von Bleiarbeitern 
durch Arzte, meist durch Certifying surgeons ! ) vorschreibt und detail- 
lierte Verordnungen fur viele Bleibetriebe besitzt —, der Prozensatz 
der Lahmungen ein so merkwurdig hoher sein soil. Wir konnen 
hierfur nur die bereits in unserem Berliner Referate gegebene Er- 
klarung finden, dass namlich von der Anzeigepflicht vor allem die 
Lahmungen, in sehr viel geringerem MaCe die Kolikfalle erfasst werden. 

Was nun die Hiiufigkeit der Bleivergiftungsfalle in den verschie- 
denen Berufen anbelangt, so gestatten uns die Angaben Tanquerels 
uicht, zu berechnen, wieviel Bleivergiftungen aus jedem der verschie- 
denen Berufe stamraen. Wir konnen deshalb nach seinen Angaben 
nur die Zahl der in den einzelnen Berufen beobachteten Koliken und 
der beobachteten Lahmungen miteinander vergleichen. 

Tanquerel beobachtete: 

bei Koliken L&hinung 


Arbeiten in Farbenfabriken 

481 

37 

Anstreicher und Lackierer 

352 

26 

Topfer und keramische Gewerbe 

61 

5 

Scbriftgiesser 

52 

4 

verscbiedene andere Berufe 

267 

29 


Die Bereehimiig ergibt bier, dass in alien einzeln angeftlbrten Berufs- 
gruppen auf 12—13 Koliken eine Liihmung konimt. 

Wir verfugen nur bei den Anstreichern und den Flaschenkapsel- 


1) Fiir die ]>eriodi.sche Untersuchung hat der Unternehmer den Certifying 
surgeon zu bezahlen, fiir die Erhebungen bei VergiftiingsHillen (wie ge genii her 
unseren Ausfiihrungen ini Berliner Referat richtig gestellt sei) fiillt die Bezab- 
lung der Staatskasse zur Last. 


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Zur Kasuistik der Bleilalinumg. 


299 


arbeiterinnen liber so grosse Beobachtungsreihen, dass ihnen Bedeu- 
tung beigeraessen werden kann. 

Und zwar kamen 

auf 5S6 Bleivergiftungen bei Anstreichern .... bei 19 Personen 
frische (oder rezidivierte) Lahmungen in 27 Fallen .... (dazu 3 Personen 
mit veralteter Lahmung, die fiinfmal in unsere Behandlung kamen). 

Das gibt also bei der unserer Meinung nach richtigen Berecli- 
weise 4,50 Proz. 

Auf 249 Bleivergiftungen bei Arbeiterinnen einer Flaschenkapsel- 


Tabelle 2 


Nach den Bericht 

en 

des en 

glisch 

en Medical-I 

nspector. 


Wei- 

Bid 


Prozentsatz d. Lahmungen 


veriri 

1901 

iftungen 

—1905 

liilunungen 

1901—1905 

zu den 

Vergifrungen 

maim I. weibl. 

niannl. 

weibl. 

mannl. weibl. 

Metallschmelzer 

175 

— 

29 

— 

1G,G 

— 

Messingarbeiter 

37 

3 

17 

2 

45,9 

— 

Bleiblcch u. -Rohrerzeugg. 

50 

3 

11 

1 

22,0 

— 

Installateure u. Spengler 

95 

21 

20 

9 

27,4 

42,9 

Dr ticker 

84 

o 

18 

— 

21,4 

— 

Feileuhauer 

Verzinner und Emaillieure 

100 

28 

47 

3 

47, <» 

lu,7 

von Eisengetassen 

39 

lb 

12 

o 

33.3 

10.5 

Bleiweisserzeugung 

GOO 

37 

05 

3 

1",S 

S.7 

Miniuinerzeugung 

54 


5 

— • 

9,3 

— 

Keramik 

215 

205 

59 

55 

27,-1 

13,2 

Abziehbibler 

lu 

10 

1 

— 

Id,u 

— 

Glas^chneider u. -schleifer 

25 

— 

0 

— 

24,0 

— 

Emallieren von Eisen- 
plarten 

13 

S 

♦> 

1 

1 5.1 

— 

Akkiimulatoren 

152 

— 

17 

— 

11.1 

— 

Farbenfabriken 

213 

13 

40 

1 

1S,8 

7,< 

Wagenlackierer 

out I 

— 

72 


2J.'» 

— 

SchilTbau 

Anstreieher in anderen In- 

140 

— 

33 

— 

23.G 

— 

dustrien 

200 

20 

50 

.> 

27.2 

25.0 

Andere Industrie!! 

253 

5b 

71 

< 

2S.1 

12.5 


27G1 

is:, 

5^7 

09 

21,5 

14,2 


324G 


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30D 


XIV. Tf.i.eky 


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fabrik kamen 2, vielleicht 3 Personen ! ) mit wahrscheinlich frischen 
Lahmungen (wovon wir nur die ersterwahnten zwei berticksichtigen 
konnen), also kaum 0,8 Proz. 

Auf die 750 Bleivergiftungen in anderen Berufen kamen 26 Lah¬ 
mungen (3,47 Proz.). 

Uns scheint die verschiedene Haufigkeit der Lahmung bei den 
Anstreichem und den Flaschenkapselarbeiterinnen flir die ver- 
schiedene Haufigkeit der Lahmung in den verschiedenen Berufen 
zu sprechen. 

Doch sei hier erwahnt, dass manche Autoren (Bond) (British Me¬ 
dical Association 70. Jahresvers.) behaupten, dass Frauen nicht zu Blei- 
liihmung disponiert sind, eine Meinung, die wir allerdings nicht fflr richtig 
halten, vielmehr glaubeu, dass die verschiedene Haufigkeit der Bleilah- 
mung auf die verschiedenartige Beschaftigung zurttckzufQhren sei. 

In den englischen Tabellen ergeben sich die grossten Unterschiede 
zwischen den verschiedenen Berufen. Sollen wir annehmen, dass dabei 
die verschiedene Handhabung der Anzeigepflicht in den verschiedenen 
lndustriedistrikten massgebend ist? Gewiss spielt diese eine grosse Rolle 
dabei. Immerhin ist es auffallend, dass gerade die Feilenhauer einen 
so hohen (den hochsten) Prozentsatz von Lahmungen aufweisen (vgl. 
Tabelle 2). 


Wir glauben so wolil nachgewiesen zu haben, dass in fast alien 
Fallen von Bleivergiftung, wenn nur geniigend darauf geachtet wird, 
sich zeigen liisst, dass die Funktion von grosstem Einfluss auf das 
Entstehen, auf die Lokalisation der Lahmung ist. Wir sind uns dabei 
wohl bewusst, dass eine grosse Anzahl von Autoren bereits auf diesen 
engen Zusammenhang hingewiesen hat; einige dieser Autoren haben 
wir eingangs erwahnt. 

Doch schien es uns wertvoll, durch Betrachtung aller Falle eines 
grosseren Materials nachzuweiseu, dass es nicht einzelue Ausnahms- 
f'alle sind, an denen sich die Anwendbarkeit der Edingerschen Anschau- 
uugen bevveisen liisst, soudern dass fast alle Falle nach der Aufbrauch- 
theorie sich erkliiren lassen. 

Dabei muss aber sowohl, was unsere eigenen Krankengeschichten 
anbelangt. als auch uberhaupt beaclitet werden: Stets werden sich 
einzelne Fiille finden, bei denen die Funktion nicht alle Eigentumlich- 
keiten zu erkliiren imstande ist. Es ist ja leicht einzusehen, dass 

1) Die nach deni 1. Januar 1000 in unsere Beobachtuug gelangteu Fiille 
linden bei diesen Ausfiihrungen keine Beriicksichtigung. 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


301 


auch andere Einflusse in demselben Sinne wie die Funktion wirken 
konnen. Ein Trauma — Quetschung Oder Zerrung —, ein vor langerer 
Zeit abgelaufener Krankbeitsprozess kann durch Storung der Ernah- 
rung im selben Sinne elektiv wirken wie die Funktion. 

Eins ist den meisten Fallen von Bleilahmung gemeinsam: die 
Beteiligung der Finger- und Handstrecker. Wir haben uns in der 
Einleitung bemuht, zu zeigen, dass gerade die Fingerstrecker es sind, 
die an sich von geringerer Kraft sind, und haben uns weiter bemuht, 
zu zeigen, dass die Finger- und Handstrecker besonders bei alien nicht 
ganz groben Verrichtungen fibermassig angestrengt werden. Beruht 
die Schatzung der Leistungsfahigkeit auf exakten Wagungen, so sind 
wir leider nicht imstande, auch fiber die Leistung exakte zahlen- 
massige Angaben zu machen; wir konnen hier nur beilaufig schatzen, 
und einer solchen beilaufigen Schatzung fehlt ja stets zwingende 
Beweiskraft. 

Man konnte vielleicht einwenden: Wenn die Funktion alles ist, 
wenn sie elektiv wirkt, woher kommt es dann, dass die Alkohol-, die 
Arsenikvergiftung meist andere Bilder erzeugen als die Bleivergif- 
tung, dass Alkohol und Arsenik meist die unteren Extremitaten zu- 
erst ergreifen, dass bei Arsenikvergiftung an den oberen Extremi¬ 
taten meist das Gebiet des Medianus und Ulnaris in erster Linie 
befallen wird? 

Vielleicht, dass hier manches aufgeklart wurde, wenn auf die Be- 
schaftigung der Erkrankten genauer, als es bisher geschehen, geachtet 
wurde. Aber es ist doch auch hier auffallend, dass in gar nicht so 
seltenen Fallen bei der Alkohollahmung ebenso wie bei einer Reihe 
anderer Lahmungen, der Typus, den man als Typus der Bleiliihmung 
bezeichnet und den wir als den fnnktionelleii Typus des Hand- 
werkers bezeichnen much ten, zur Beobachtung kommt. 

Schliigt man irgend ein Handbuch der Nervenheilkunde auf, so 
findet man bei den atiologisch verschiedensten Arten von Lahmung 
immer wiederkehrend den Typus der Radialislahmung mit Freibleiben 
des M. brachioradialis, doch findet man nur sehr selten einen Fall 
von isoliertem Ergrilfensein der laugen Beuger. 

Nach Remak (Nothnagels Handbuch) zitiert findet sich dieser 
Extensorentypus bei spontaner symmetrisch amyotrophischer Poly¬ 
neuritis (nach Vierordt, Oppenheim, Lilienfeld, Bernhardt u. a.). 
Da der Abductor poll, longus zuw r eilen (nach Oppenheim u. a.) 
„ebenfalls noch eximiniert gefunden wird, kann eine der typischen 
Lokalisation der Bleilahmung ganz analoge Lahmungslokalisation be- 
obachtet werden 11 (S. 340). Auch bei der Kohlenoxydvergiftung fanden 
Bourdon, Rendu und Laudet eine der Bleilahmung analoge Liih^ 


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302 


XIV. Teleky 


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mung, bei der Alkoholneuritis wurde eine der Bleilahmung analoge 
Lokalisation beobachtet von Remak, Buzzard, Huss, Thompson, 
Lanceraux, Dreschfeld, Oettinger, Oppenheim, K. Lilien- 
feld u. a. 

Ganz in Kurze seien hier zwei Falle erwahnt, die wir zu beobachten 
Gelegenheit hatten und die eine der typischen Bleilahmung sehr ahn- 
liche Lokalisation zeigten, ohne dass sich irgend ein weiterer klini- 
scher Anhaltspunkt fiir das Vorhandensein einer Bleivergiftung, noch 
eine Gelegenheit fOr Entstehung einer solchen ermitteln liess. 

M. Zw., 59 Jahre alt, arbeitet seit 26 Jahren in der Spannerei einer 
Appreturanstalt. Sie hat weisses gestarktes Gewebe auf einen Rahmen zu 
spannen, eine Tatigkeit, bei der die Finger sehr angestrengt und auck 
die Strecker ziemlich in Anspruch genommen werden; dann hat sie mit 
mehreren anderen die grossen schweren Rahmen an Stricken in die Hohe 
zu ziehen, wobei neben der Hand- auch die Schultermuskulatur angestrengt 
wird. Ende Oktober 1907 erkrankte sie mit gleich zu besckreibender 
Lahmung, deren Lokalisation zur Diagnosenstellung ^Bleilahmung" Aulass 
gab. Als sie im Dezember 1907 in meine Behandlung kam, zeigte sie 
ausser der Lahmung ein serpiginOses ulcerOses Syphilid am Nacken. — 
Alle Nachforschung nach Gelegenheitsursachen fOr Entstehen von Saturnis- 
mus blieben ohne Erfolg. Die oberen Extremitaten zeigten folgenden 
Befund: 

Rechts: Hochgradigste Parese der langen Fingerstrecker, Parese der 
Handstrecker, Opposition des Daumens unmOglich, Atrophie der Thenar- 
muskulatur und der Muskulatur des 1. Interossealraumes. Der Oberarm 
wird adduziert gehalten. Einwarts- und Auswartsrollung sehr erschwert, 
Abduktion und Hebung unmOglich. 

Links: Finger- und Handstrecker unbedeutend weniger gelahmt als 
rechts. Am Daumen Opposition unmOglich, Adduktion mit sehr geringer 
Kraft. Schultergelenk frei. 

Faradische Erregbarkeit in den gelahmten Muskeln mehr oder weniger 
stark herabgesetzt. 

Der Zustand hat seitdem nur insofern eine Anderung erfahren, als 
rechts die Muskulatur des Schulterblattes atrophisch wurde und auch die 
Beugung und Streckung im Ellbogengelenk nur mit sehr geringer Kraft 
erfolgen kann. 

I. L. 31 Jahre alt, Ledergalanteriearbeiter. Er arbeitet hauptsachlich 
mit Daumen und Zeigefinger, zwischen denen er das Falzbein halt; durch 
das Halten der Zange werden auch die anderen Finger angestrengt. Eine 
Gelegenheitsursache fttr Bleiaufnahme liess sich nicht feststellen. 

Befund am 1. III. 1908: 

Rcelite Hand: Fast vollstiindige Lahmung der langen Fingerstrecker, 
Parese der Handstrecker. Daumen: Extension und Abduktion erhalten, 
Adduktion unmOglich, Opposition eingeschrankt. Auch Beugung im Meta- 
carpo])halangealgelenk und Interphalangealgelenk unmOglich. 
Atrophie des Abductor poll, brevis und der Muskulatur im 1. Zwischen- 
knochenraum sowie der langen Strecker. 


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Zur Kasuistik der Bleilahmung. 


303 


Links: Hand- und Fingerstrecker intakt Daumen: Beugung ebcnso 
wie reckts uumOglich, Opposition eingeschrftnkt, 

Die Beobachtungen desselben Typus bei Lahmungen, die sich 
auf der Basis verschiedenartigster toxischer Erkrankungen entwickelt 
haben, scheinen uns ebenfalls dafiir zu sprecheD, dass einem anderen 
Moment als dem Gifte selbst der elektive Einfluss, der zur Erkrankung 
gerade dieser Muskelgruppen fuhrt, zuzuschreiben ist, und nach 
allem ist man wohl berechtigt, die Funktion als dies elektive! Moment 
anznsehen. 

Nur eine Erscheinung unter den zahlreichen Bleilahmungsfallen, 
fiber die wir berichtet, lasst sich nicht ohne weiteres durch die funk- 
tionelle Inansprocbnahme erklaren. 

Wie wir oden dargelegt, zeigt die linke Hand der Anstreicber 
ebenfalls das typische Bild der Bleilahmung, wie sie sich an der rechten 
Hand der Anstreicher ungezwungen aus der Funktion erklaren lasst 
— ohne dass aber in ihrer eigenen Tatigkeit irgend ein Anhaltspunkt 
fiir das Auftreten dieser Lokalisation gewonnen werden konnte. 

Wie konnen wir uns die Lokalisation der Bleilahmung an der 
linken Hand der Anstreicher erklaren? Man konnte annehmen, dass 
die Kraft der Strecker auch fiir die relativ geringere, ihnen zugemutete 
Leistung nicht voll ausreiche, dass selbst bei diesen Verrichtungen die 
Ermudung der Finger- und Handstrecker eine grossere sei als die der 
Beuger — eine Erklarung, die uns deshalb nicht plausibel erscheint, 
weil man dann stets und bei alien Verrichtungen der menschlichen 
Hand eine starkere Anstrengung gerade der Strecker annehmen mfisste, 
oder eine keiner Anstrengung gewachsene leichte Storbarkeit ihrer Er- 
nahrung, wie sie nur durch eine ganz besonders ungunstige Stellung 
der Strecker in Bezug auf Ernahrung, die z. B. Barwinkel (Schmidts 
Jahrbuch, Bd. 139, S. 118) annimmt, erklart werden konnte. 

Ferner konnte man vielleicht die Hypothese aufstellen, dass nach 
Erkrankung der einen Hand auch die symmetrischen Partien der anderen 
in Mitleidenschaft gezogen werden. Oder — wenn diese Erklarungs- 
versuche nicht befriedigen — mtisste man doch wieder eine gewisse 
elektive Wirkung des Bleies annehmen. 

Wenn wir eine solche elektive Wirkung eines Giftes liberhaupt 
annehmen wollen, so haben wir dann — wie Edinger ausfiihrt — 
zu untersuchen, welche Komponente bei dem betreffenden Gifte: die 
elektive Bevorzugung gewisser Muskelgruppen und Nerven durch das 
Gift oder die Wirkung des funktionellen Aufbrauchs die starkere ist. 
Was nun das Blei anbelangt, so sehen wir nicht nur, dass auf den 
Typus der Bleilahmung vollkommen die Theorie von den 
am starksten angestrengten Muskeln passt; wir sehen auch, 
Deutsche Zeitschritt f. Nervenlieilkunde. 37. Bd. 2<J 


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304 XIV. Teleky 

class unter bestimmten Verhaltnissen, bei vorwiegender An- 
strangling anderer Muskelgruppen, diese allein oder vor- 
wiegend erkranken (Kinder, Feilenhauer, isolierte Lahmung wie bei 
den Flaschenkapselarbeiterinnen). Dies beweist uns wohl deutlicb, 
dass, wenn man Oberhaupt annehmeu will, dass das Blei eine elektive 
Auslese gewisser Nerven austibt, die Kraft dieser Selektion an 
sich nur eine sehr geringe sein kann, denn sie wird bei weitem 
iibertroffen durch die Wirkung der Funktion, die stets dazu 
fuhrt, dass entweder allein oder am starksten die Nerven er¬ 
kranken, deren Muskeln der starksten Anstrengung aus- 
gesetzt sind. 


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XV. 


Aus der medizinischen Universitatsklinik der Universitat Breslau 
(Direktor: Geh.-Rat v. Strtimpell). 

Uber die diffusen Geschwfilste der weichen Rflckenmarks- 
haute mit besonderer Berllcksichtigung der extramedul- 

laren Gliomatose. 

Von 

Dr. Horst Strassner, 

Assistenz&rzt der Klinik. 

(Mit 3 Abbildungen.) 

Die diffusen Geschwiilste der Rlickenmarkshaute zahlen imraerhin 
zu den seltneren Erkrankungen. Ich glaube daher berechtigt zu sein, 
einen an unserer Klinik beobachteten Fall mitzuteilen, namentlicb, da 
derselbe mir ausserdem Gelegenheit gibt, auf einige Fragen tiber den 
histologischen Aufbau und die pathologisch-anatomische Diagnose dieser 
Geschwiilste einzugehen. 

R. Sp., 28 Jahre, Maschinenassistent. Aufnahme d. 11. M&rz 1908. 

Anamnese: Eltern leben, sind gesund. 8 Gesokwister gesund. 
Keine Nervenkrankheiten in der Familie. Patient liatte als Kind Maseru, 
Scharlach und Dipktherie, war danach gesund. 1m Jahre 1897 erlitt er bei 
einer Gasexplosion Verbrennungen leichteren Grades an Gesicht, Hals und 
Handen, die gut verheilten; keine erheblichen Stossverletzungen. Sp. war 
dann 1899—1901 Soldat. Als soldier erlitt er einen Fall auf die rechte 
Seite, musste vier Tage im Lazarett liegen, war nacb dieser Zeit wieder 
dienstfahig und besdiwerdefrei; aucli in den folgenden Jahren war er 
ganz gesund. 

Im Herbst 1904 infizierte er sich mit Syphilis; er machte eine 
Schmierkur mit 12 g Hg durch, die ilm selir mitnahm; im November 
nochmalige Schmierkur mit 100 g Hg und Jodkalitherapie. Im FrOhjahr 
1906 dritte Schmierkur (100 g Hg). 

Die ersten Anzeichen der jetzigen Erkrankung traten im Juni 1907 
auf. Damals traten stichartige Schmerzen im rechten Arm, bald darauf im 
linken Gesass auf, die boim Gehen starker warden. Nach einigen Tagen 
verteilten sich die Schmerzen auf die rechte und linke Wade. Auf 
Jodkali und antirheumatische Mittel besserten sie sich nickt. Audi typische 
lanzinierende Schmerzen wurden damals ca. 14 Tage lang beobachtet. 

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XV. Strassner 


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Im August 1907 war Patient in der hiesigen psychiatischen Klinik 
poliklinisch untersucht, wobei keinerlei objektiven Ver&nderungen am 
Nervensystem gefunden werden konnten, so dass die Diagnose aufNeurastkenie 
gestellt wurde (Mitteilung der psych. Klinik). Nach dieser Zeit trat eine 
geringe Besserung der Schmerzen bis Weihnachten 1907 ein. Neujahrl908 
kamen heftige Rflcken- and Brustsckmerzen auf beiden Seiten hinzu, 
so dass er nachts nicht mehr schlafen konnte. Husten, Auswurf und Nacht- 
schweisse waren nicht vorhanden. Nach ca. 14 Tagen Hessen die Schmerzen 
nach, so dass er fast ganz beschwerdefrei war. Im Januar war Pat. 
bei einem Neubau besekaftigt und war hierbei oft Erkaltungen aus- 
gesetzt. Ende Jannar bekam er von neuem heftige Gesassschmerzen, die 
er auf die heftigen Erkaltungen und Durchnassungen zurQckfQbrte. Sobald 
er sich aufrichten wollte, traten heftige Schmerzen im Kreuz und stick- 
artige Schmerzen in den Kniegelenken auf, die ikm das Gehen sehr schwer 
machten; er hatte dabei das Geftlhl von Schwere in den Beinen. Anfang 
Februar traten zuerst leichte Blasenbeschwerden auf, der Urin konnte nur 
mit Mtlhe gelassen werden: nach 8 Tagen entwickelte sich dann binnen 
4—5 Tagen unter Bestehen der angefohrten Schmerzen eine vallige 
Lahmung beider unteren Extremitaten. Seit dieser Zeit ist Sp. standig 
bettlagerig und hat dauernde Schmerzen in den Beinen. Zugleich mit 
Eintritt der Lahmung trat Stuhlverhaltung, vollige Blasenlahmung und 
Imitotenz auf. Bei Berttkrung hatte Sp. das GefOhl von Pelzigsein in den 
Beinen. Vierzehn Tage vor der Aufnahme, also Ende Februar, entstand 
aus einer Anzahl kleiner Geschwttre ein ausgedehnter Decubitus in der 
Ivreuzbeingegend. In den Armen hat Pat. keine StOrungen bemerkt. 
Trauma in der letzten Zeit liegt nicht vor. Potus negatur. Am 11. Marz 
wurde Pat., da eine nockmalige antisyphilitische Kur erfolglos blieb, in die 
Klinik aufgenommen. 

Status praesens: Gross, abgemagert, schlaffe Muskulatur, ausser- 
ordentliche Blasse; Wangen und Gesicht eingefallen, Augen leicht hervor- 
stehend. Aussere Augenbesichtigung stellt ausser hochgradiger Blasse der 
Conjunktiva keine krankhaften Verilnderuugen fest. Augenbewegungen 
unbehindert, Pupillen etwas weit, verhalten sich aber sonst vdllig normal; 
keine Stauungspapille. Kein Kopfschmerz, keine Druck- und Klopf- 
ernpfindlichkeit des Schadels. Gehirnnerven intakt. Mund und Rachen- 
organe normal. Hals lang, hagcr, Schilddrtise nicht vergrdssert. Am 
hinteren Rand beider Sternocleidomastoidei, in beiden Achselhdhlen und 
Leistenbcugen derbe, nicht druckcmpfindliche Lymphdrllsen. 

Thorax kraftig, normaler Durcliniesser; rechtwinkliger epigastrischer 
NVinkel, ausgiebige, auf beiden Seiten gleiche Costoabdominalatmung. Supra- 
und Infraclavikulargruben eingesunken. Lungengrenzen normal, verschieblich: 
nirgends Dampfung, liberal 1 versikulares Atmen, ohne Gerausche. Herz- 
befund und Puls normal, abgesehen von leisen llerztonen und nicht fdhl- 
barem Spitzenstoss. — Abdomen: Blasengegend schmerzhaft, Bauchdecken 
weich, eindrliekbar. Milz nn<l Leber nicht palpahcl. Urinretention; Urin 
muss mit Katlieter entleert werden, tibelriechend, trQbe, Reaktion alkali sell. 
Albumen reichlich, Indikan -f-; in deni reiebliehen Sediment reichlich 
Leukoeyten, veivinzelte Lyinphocyten, Blasenepithelien, Bakterien, keine 
Zylinder. Am Kreuzbein ein etwa bandtellergrosser, tiefgreifender Decubitus 
mit Verlust der obersten Mu'kelschichten. 


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Ober die diffusen Geschwiilste der Ruckenmarksha.ute nsw. 


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Motilit&t: Grobe Motilit&t der oberen Kbrperhalfte bis zur Bauch- 
mnskulatar vbllig intakt, keine Atrophien. Recti und Obliqui abdominis 
sind beiderseits stark paretisch. Die unteren Extremit&ten sind ausnahmslos 
vollig und schlaff gelahmt, auch der Iliopsoas und die Glutaei nelimen an 
dieser Lahmung teil. Krampfe weder anamnestisch, noch bei der 
Beobachtung. Keine fibrillaren Zuckungen. Leichte Muskelzuckungen 
sollen manchmal vom Patienten beobachtet worden sein. Koordination 
der Bewegungen in den oberen Extremitaten nicht gestort, kann in den 
unteren Extremitaten nicht geprtlft werden. Gehen, Stehen unmoglich. 
Sensibilit&t: Von einer Linie, welche die beiden Spinae iliacae supp. antt. 
verbindet, ab unterhalb sind alle Gefflhlsqualitaten aufgehoben, nur die 
Temperaturempfindung scheint noch, wenn auch unsicher, in geringem 
Grade erhalten zu sein. Beflexe: Samtliche Haut- und Sehnenreflexe 
der unteren Extremitaten inkl. Bauch- und Kremasterreflex fehlen. 

Weiterer Verlauf: Das Bild der vblligen schlaffen Lahmung mit 
Aufhebung aller Sensibilitatsqualitaten in den unteren Extremitaten, das 
uns eine Querscbnittslahmung durch Kompression oder durch ein Gumma 
annehmen liess, blieb im Marz und April vbllig unverandert. Am 19. III. 
trat eine Schwellung beider Knieen mit nur geringer Schmerzhaftigkeit 
auf, die 14 Tage anhielt. Der Decubitus reinigte sich an den Randern, 
jedoch wurde Anfang April der Decubitus wieder starker und aussserdem 
trat ein Decubitus an den Fersen auf. Eine am 30. Marz vorgenommene 
Lumbalpunktion hatte keinerlei abnorme Veranderungen der Cerebrospinal- 
flQssigkeit feststellen konnen, auch der Druck war normal. Mitte Mai 
traten sehr heftige Schmerzen in der Gegend der mittleren Brustwirbel 
auf. Es entstand ausserdem Decubitus an den Scapularwinkeln und Gber 
den Dornforts&tzen der Brustwirbel. 

Am 22. V. hatte sich das Zustandsbild folgendermassen verbndert: 
Von seiten der Hirnnerven keine Stbrungen. Keine Stauungspapille. Die 
oberen Extremitaten ebenfalls vbllig normal. 

Motilit&t: Bis zum 6. Interkostalraum ftlhlt man deutlich die 
Anspannung der Mm. intercostales, vom 7. Interkostalraum ab nicht 
mehr; von da ab unterhalb vbllige Lahmung aller Muskeln, Fehlen 
samtlicher Haut- und Sehnenreflexe. Anasthesie von der 7. Rippe ab- 
warts. Schmerz- und Temperaturempfindung sind von der 8. Rippe ab 
vollig aufgehoben. Oberhalb der 7. Rippe vbllig normaler Zustand. An 
der Dorsalflache der Fussgelenke Dehnungsdecubitus. 

Anfang Juni traten die ersten Zeichen einer Tuberkulose des linken, 
spater auch des rechten Unterlappens auf, die unter fortschreitender Herz- 
schwache am 4. VII. 08 zum Tode ftlhrte. In dieser Zeit war ein Fort- 
schreiten des Prozesses nicht mehr zu konstatieren, cerebrale Symptome 
sowie Stauungspapille fehlten vollstandig. 

Sektionsergebnis (Dr. Ascher): Tumoros multipli in medulla spin., 
Tuberculosis pulmon. Peribronchitis caseosa, Bronchitis purulenta. Cystitis 
haemorrhagica hypertrophica vesicae urinariae. Infarct, veter. ren. dextr. 
Degeneratio adiposa hepatis cum hyperaemia. 

Von der ausftlhrlichen Wiedergabe des Gehirnbefundes will ich 
absehen, da derselde normales Verhalten ergab. 

Btlokemnark: Beim Erbffnen der Dura zeigen sich auf der Vorder- 


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XV. Stbassner 


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flache des Rflckenmarks erbsen- bis bohnengrosse Tumoren von breiiger 
und teils fester Konsistenz, teils breitbasig, teils gestielt aufsitzend. Die 
ganze Cauda equina ist von Tumormassen durchsetzt. 

Das genauere makroskopische Verhalten der Rtlckenmarksver- 
anderungen ist aus den beigegebenen Abbildungen (Fig. 1 u.2) leicht zu ersehen. 
Es besteht vom obersten Halsmark an eine leicbte Verdickung der Pia 
mater, der im Bereich des ganzen RQckeumarks kleine kndtchenfBrmige, 
meist breit, zum Teil auch breitstielig aufsitzende KnOtchen von Steck- 
nadel- bis Bohnengrdsse aufgelagert sind. Dieselben sind von einer Farbe, 
die gegen die Farbe der Meningen nicht wesentlich absticht, untf fahlen 
sich zum Teil breiig, teils aber auch ziemlich fest an. Nach unten zu 
nimmt die Verdickung der weichen Hirnhaute immer mehr zu, gleichzeitig 
werden die Knotchenbildungen und wulstfOrmigen Erhebungen deutlicher, 
grosser und reichlicher, so dass im Bereich des Brust- und des Lenden- 
marks der Tumorcharakter bereits dcutlich ausgesprochen ist. Die Cauda 
besteht nur aus ziemlicli derben Tumormassen, darQber ziehen die Nerven- 
wurzeln zum Teil hinweg, ohne in Geschwulstmassen eingekleidet 
zu sein, zum Teil treten sie aus dem Tumor heraus, um dann, ohne von 
Tumormassen bekleidet zu sein, weiter zu verlaufen. Etwas weiter 
abwftrts sehen wir dann die Wurzeln ziemlich frei von Geschwulstmassen, 
nur in den zentralen Partien von diesen umgeben, verlaufen, wahrend sie 
in einem weiter abwarts liegendem Abschnitt wieder fast ganz von den- 
selben eingeschlossen sind. 

Die Dura ist nicht verdickt und nirgends mit dem Tumor verwachsen, 
ebenso scheint die zarte Araclinoidea Oberall intakt und nirgends von 
Geschwulstmassen ergriffen. 

Das ROckenmark selbst ist nirgends wesentlich erweicht und zeigt auf 
Querschnitten ausser der Degeneration der Hinterstrange keine Ver- 
anderungen, die auf eine Zerstorung der Rttckenmarkssubstanz hindeuten. 

Die Tumormassen umgeben das Rflckenmark im Brust- und Lenden- 
bezirk vollstandig und zwar so, dass die Hauptmassen im hinteren Bezirk 
liegen und nach vom sich iu eine dflnne Spange verjhngen. Im oberen 
Brustmark ist die Vorderflache wesentlich mehr beteiligt an der Aus- 
breitung des Tumors als die Hintertiache; hier dringt auch die Geschwulst 
sclion makroskopisch sichtbar in die vordere Langsspalte und wohl auch in 
das RQckenmark ein. Nach dem Ilalsmark zu nehmen die vorderen 
Geschwulstpartien immer mehr ab, die hinteren werden ein wenig starker, 
so dass im unteren und mittlcren Ilalsmark der Tumor auf dem Querschnitt 
die Form eines Halbmondes zeigt. 

Im Hals- und Brustmark treten die Wurzeln aus der Tumormasse 
hervor, bis zum Ganglion meist von einer diinueu Umkleidung, an einzelnen 
Stellen auch von knotchentormigen Massen umgeben. Das Ganglion ist 
hier frei von umgcbenden Tumormassen. 

MikroBkopisch: Halsmark: Der Querschnitt des Riickenmarks 
weist die normale Form auf. Im Nervengewebe selbst sehen wir kein 
Tumorgcwebe. Der Zentralkanal ist im Ilamatoxyliu-Eosin- und im van 
Gieson-Priiparat normal. Die grossen Ganglienzellen zeigen keine Ver- 
anderungen. Die Gefassscheiden um die Getasse der grauen Substanz 
sind erweitert, die Gefassc selbst sind normal. 

Im Pal-Priiparat sehen wir eine vollige Degeneration der Gollschen 


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Uber die diffusen Geschwiilste der weiclien Riickenmarkshaute usw. 309 









Fig. 2. 


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XV. Strassxer 


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Strange, sowie eine geringere Degeneration in den Kleinhirnseitenstrang- 
btlndeln. Nach Marchi linden sich auch frische Degenerationskerde in den 
Gollschen Str&ngen, ehenso in den KleinhirnseitenstrSngen. Die ganzen 
Randpartien des Rtlckenmarksquerschnitts entbalten friseh degenerierte 
Nervensubstanz. 

Die bindegewebige Umkleidung des Rfickenmarks ist Oberall intakt. 
Auf ihr liegt das namentlick in den hintcren und seitlichen Partien ent- 
wickelte, in seiner grbssten Ausbreitung ca. IV 2 mm dicke Tumorgewebe, 
das sich im van Gieson-Pr&parat besonders deutlich durch seine braun- 
gelbe Farbung abhebt. In den vorderen Partien selien wir nur einen sehr 
dllnnen Saum von Tumorgewebe, so dass also das Rhckenmark ganz von 
Geschwulstniassen uingeben ist. 

Per Tumor ist verkaltnismilssig zellreich, namentlick in den dem RQcken- 
mark angrenzenden Partien, w&hrend nach der Peripherie zu der Zell- 
reichtum mehr zurttcktritt und mehr das FasergerQst pravaliert. In den 
inneren, zellreicheren Teilen sind die Kerne ca. 10 (i gross, rund oder 
rundlich-oval, blass, mit netzartigem ChromatingerOst; ein KernkOrperchen 
ist nicht zu sehen. Neben diesen grossen Zellen linden sich etwas kleinere, 
ein wenig dunklere, mehr langlich-ovale Kerne. Diese Kerne liegen ziemlich 
regelmassig verteilt, ohne bestimmte Anordnung, in einem fibrillaren 
Gewebe, das nach van Gieson sich braun bis gelbbraun farbt. Diese 
Fibrillen liegen ziemlich dicht, parallel zu einander, leicht geschwungen, 
manchmal etwas verflochten; sie sind kurz und ziemlich dick und unter- 
scheidcn sich von kollagenen Bindegewebfasern durch nichts als durch ilire 
deutliche gelblichbraune Farbe. Eine Verbindung dieser Fasern mit den 
Zellen ist nicht sicher festzustellen. 

In der Peripherie linden sich ebensolche Partien; jedoch sind hier 
solche Stellen vorherrschend, in denen die Kerne langgestreckt, 
oval oder spindelformig sind. Diese Kerne liegen meist parallel 
zu einander, und zwar in der Richtung der Fibrillen, die hier dhnner und 
lauger sind und zuin Teil wirbelartig, zum Toil facherartig verlaufen. 
An verschiedeneu Stellen sieht man in einiger Entfernung vom ausseren 
Tumorrande ein Dichterliegen der Kerne, die gleichsam einen kleinen 
Zellwall bilden; von dem dem Rande zugekehrten Pol dieser Zellen ziehen 
dann feine, dtinne, parallele, sich zum Teil verflechtende Fasern zur 
Peripherie. Diese Randpartien sind fast vollkommen zellfrei. Es hat den 
Anschein, als oh die Fasern direkt in das Zellprotoplasma Qbergingen. 
Ganz vereinzelt sieht man ferner im Tumor grosse blasse Zellen in Haufchen 
angeordnet oline weseutliehe Fasersubstanz, zum Teil regellos zusammen- 
liegend, manchmal fingerartig von einem Punkte ausstrahlcnd. 

In den der Pia mater angrenzenden Partien sehen wir Qberall im Tumor 
ein sparliches Stlitzgewebe von Hiudegewebsfibrillen, die der Pia ent- 
stammen. Ebenso sehen wir ein kurzes Eindringen der Tumorgewebs- 
librillen zwischen die Fasern der Pia mater, die sich durch ihre Farbe im 
van Gieson-Praparat. deutlich von einander unterseheiden. Das Eindringen 
ist mehr infiltrativ, ohne Zerstorung. eine Durchwucherung der Pia findet 
nirgends statt. An den Stellen. an denen sich die Pia in das Nerven- 
gewebe vorstlilpt, den hintcren Wurzeln und dem hinteren Lilngstspalt 
dringt. der Tumor in diesem Sj»alt gegen das Rtickenmarksgewebe vor, 
jedoch immcr die ihin von der Pia gesetzte Greuze respektierend. 


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Ober die diffusen Geschwulste der weichen Ruckenmarkshiiute usw. 31 [ 


Die Blutgefiisse sind im Tumor nur in mkssigem Grade entwickelt 
und zeigen, abgesehen von einer Yerdickung der Adventitia, normalen Bau. 
Eine besondere Anordnung der Tumorzellen und -fibrillen zu den Gefassen 
ist nicht vorhanden. Blutungen und entzttndliche Infiltration sind im 
Geschwulstgewebe nicht vorhanden. 

Die Wurzeln verlaufen durch den Tumor, ohne von demselben 
infiltriert oder zerstOrt zu werden; jedoch finden sich sowohl alte wie 
frische Degenerationen, besonders in den hinteren Wurzeln. Vakuolen 
fehlen. 

Die intakte Arachnoidea umzieht aussen den ganzen Tumor und ist 
nicht von demselben ergriffen. 

Unterea Halsmark: Das Nervengewebe weist keine Veranderungen in 
der Gestalt auf. Die Ganglienzellen sind normal. Der Zentralkanal ist 
ist T-f6rmig und zwar mit der Basis in der Richtung der Koramissur, 
wahrend der senkrecht hierzu verlaufende Spalt nach der hinteren L&ngs- 
spalte verl&uft. Das Lumen ist etwas enveitert. Die Zellen der Zentral- 
kanalwand sind normal. 

Nach Pal sehen wir eine fast vollige Degeneration der Gollschen 
Strange sowie gcringe Degeneration in den Randpartiert der seitlichen 
und hinteren Rtlckenmarksabschnitte. Im Marchipraparat findet sich 
reichlich frische Degeneration in den Gollschen Strangen und in der oben 
beschriebenen saumartigen periphercn Zone, nainentlich im Bereich des 
Kleinhirnseitenstranges. 

Das Geschwulstgewebe ist im ganzen etwas zellarmer, mehr faserreich 
und umgreift das ganze Rilckenmark. Die Dicke der Tumorschicht betrftgt 
ca. IV 2 mm; in den vorderen, seitlichen und hinteren Partien ist die 
Ausdehnung des Tumor ungefahr die gleiche. Die Zellen sind wiederum 
in Grosse und Gestalt sehr verschieden. In dem der Pia anliegenden 
Gewebe herrschen wieder die grossen blassen, runden Kerne vor, die in 
einem dichten Gewirr von zum Teil sich leicht verfilzenden, zum Teil 
parallel laufenden, ziemlich dicken Fibrillen liegen. Nach der Peripherie 
zu nehmen die Kerne eine mehr ovale Form an, die Fibrillen werden 
feiner und langer und haben einen mehr paralleleu Verlauf. An der 
Peripherie sieht man ferner Wucherungen bis zu makroskopisch eben 
sichtbarer Grosse, die sich pilzartig oder halbkugelig dem Tumor auf- 
setzen und durchaus den Charakter der Ependymitis granularis tragen. 
In einiger Entfernung vom Tumorrand sind lange spindelformige, diclit 
gedrdngt liegende Zellen palisadenartig, meist im Halbkreis gelagert und 
mit ihrem einen Pol senkrecht zur Peripherie gerichtet. Von diesem Pol 
aus ziehen feine Fibrillen parallel verlaufend oder leicht netzartig ver- 
flochten zum Rand der Gesclnvulst, um sich hier meist in allerfeinste, 
ausserst zarte Fiiserchen aufzulosen. Die Zone der ausstrahlenden Fibrillen 
ist frei von Kernen. Auch hier sieht mar an einzelnen Stcllen, und zwar 
etwas reichlicher wie oben, Zellen in Haufen fast oline Fasersubstanz 
zusammenliegen; an verschiedenen Stellen ordnen sich dieselben zu Halb- 
kreisen und zum Teil auch in Kreisen an. 

An einzelnen Gefiissen des Tumors findet sich eine beginnende hyaline 
Degeneration. An der Austrittsstelle der hinteren Wurzeln sowie in dem 
vorderen Langsspalt dringt der Tumor zwischen die sich einbuchtende 


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XV. Strassner 


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Pia vor, ist aber Gberall durch Piafasern vom Nervengewebe getrennt. 
Die Wurzeln verhalten sich wie oben. 

Oberes Brustmark: Die Tamormassen sind hier machtiger entwickelt 
und zwar vorwiegend an der Vorderseite des RGckenraarks; die Dicke des 
Tumors betr&gt hier 5 mm, in den seitlichen Partien 1 mm, an der 
Hinterfl&che 1 J / 2 mm. Das Rtlckenmarksgewebe ist durch den in den 
vorderen Langsspalt fast bis zum Zentralkanal eindringenden Tumor 
leicht komprimiert, die beiden Vorderstr&nge sind zur Seite gedrttngt und 
haben dadurch eine mehr langliche, vorn zugespitzte Form. Nach Pal 
besteht in den Randpartien des RGckenmarks Degeneration, namentlich 
in den seitlichen Teilen; die Gollschen Str&nge sind vollstandig degeneriert. 
Im ganzen Querschnitt, namentlich in den Kleinhirnseiteusthngen, Pyramiden- 
seitenstr&ngen und Gowersschen Strangen findet man zahlreiche grossere 
und kleinere Vakuolen. Im Marchi-Praparat sieht man im ganzen RQcken- 
mark frische Degenerationen, namentlich in den Gollschen Strangen und in 
den Randbezirken des RGckenmarks. Der Zentralkanal ist oval, mit dem 
grdssten Durchmesser in der Richtung der Kommissur gestellt. Das Lumen 
ist etwas vergrdssert. Die Zellen sind normal. 

Der Tumor selbst zeigt in Form, Grbsse und Anordnung der Zellen 
und Fibrillen ein ausserordentlich verschiedenes Verhalten. In den der 
Pia anliegenden Bezirken sieht man noch runde, blasse Zellen in mehr 
dichteren, ziemlich dicken, kurzen Fibrillen liegen, jedoch sind diese 
Stellen nur wenig im Tumor zu linden. Vorherrschend sind grosse 
blasse, spindelige Zellen, die ziemlich dicht liegen, meist in der vorher 
erwahnten, der Ependymitis granularis ahnlichen wallartigen Oder palisaden- 
artigen Anordnung. (Eine Abbildung dieser palisadenartigen Anordnung, 
wie sie der meinigen fast ganz entspricht, findet sich in der der Grundschen 
Arbeit beigegebenen Tafel.) Die Zellen haben die Neigung, in Halbkreis- 
form zu liegen, und senden von ihren beiden Polen sowohl nach der 
Peripherie als nach der Mitte lange Fibrillen aus, oder es strahlen die 
Fibrillen, in deren Verlauf die Zellen liegen, wirbelartig von einem Punkte 
aus. Der Tumor erhalt durch diese Anordnung eine gewisse Lappchen- 
zeichnung; besonders deutlich sind diese Acini an der Peripherie des 
Tumors dadurch, dass diese einzelnen Bezirke durch Bindegewebe von 
einander getrennt werden. An einer der Peripherie des Tumors auf- 
sitzenden Hervorragung hat das Gewebe wiederum einen anderen Charakter. 
Hier sind die Fasern nur Susserst sp&rlich, sehr fein und netzartig 
angeordnet. In diesen liegen eingeschlossen grosse und kleine Haufen von 
ziemlich grossen, kubischen, blassen Zellen ohne Fibrillen. Manche dieser 
Zellen liegen in regellosen Haufen zusammen, andere haben sich kreis- 
ftirmig um ein strukturloses Lumen angeordnet. Diese Stellen sind in dieser 
Rtlckenmarkshohe nur sehr sparlieh vertreten. 

Das Verhalten der Pia ist hier nicht das gleiche wie bisher. 
Abgeselien von dem Eindringen des Tumors in die ins RQckenmark sich 
vorsttllpenden Piataschen an den hinteren Wurzeln und dem vorderen und 
hinteren Lilngsspalt, sehen wir den Tumor an verschiedenen Stellen 
die Pia direkt durchbreehen und ins Riikenmark eindringen. Ganz 
besonders ist dies der Fall an der erwahnten Stelle, wo der Tumor sich 
in die vordere Langsspalte vordrangt und fast den Zentralkanal erreicht. 
Hier sehen wir zwar im grossen und ganzen iminer, wie bisher, Tumor 


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tjber die diffusen .Geschwiilste der weichen Eiickenmarkshaute usw. 313 

und Nervengewebe dnrch die oft allerdings sehr diinne und von Tumor- 
massen infiltrierte Pia getrennt. Jedoch fehlt an einer ziemlich aus- 
gedehnten Strecke die Pia gfinzlich, und der Tumor tritt breit mit dem 
Nervengewebe in Verbindung. Au dieser Stelle ist eine Trennung von 
Geschwulst- und Nervengewebe nicht mOglich. Beide gehen allmahlich in 
einander fiber; die wirbelartig angeordneten langen Tumorfasern verfindern 
sich in ein netzartiges Geflecht von feinen Fibriilen, die reichlich grossen, 
rundlich-ovalen Zellkerne werden allmahlich zum Nervengewebe hin 
sp&rlicher. Eine Erweichung an dem Ubergange beider Schichten 
besteht nicht. 

Auf keinem der Querschnitte erreicht der Tumor den Zentralkanal 
vollstfindig, und schon 1 cm tiefer abwfirts drfingt sich der Tumor nur 
noch ein wenig in den vorderen Langsspalt vor. 

Unteres Brustmark: Der Tumor ist auf der Hinter- und Vorder- 
fliiche ungefahr gleich stark, ca. 1 */ 2 mm, in den seitlichen Partien ein 
wenig starker. Das Rfickenmark zeigt in seiner Gestalt keine Ver- 
anderungen. Die Gollschen Strange weisen sowohl frische als alte 
Degenerationen auf. Auch in den ftbrigon Strfingen linden sich wenige 
alte and frische Degenerationsherde, letztere fiber das RQckenmark verteilt 
und sparlicher als bisher. Der Zentralkanal ist verengt, schlitzartig; 
in der Umgebung desselben befinden sich Anhaufungen von Ependymzelleu 
und kreisfOrmig angeordnete, meist einschichtig gelagerte Zellen, welche eine 
strukturlose Masse umschliessen. In der Nfilie des Zentralkanals sind die 
Blutgefasse stark mit roten BlutkOrperchen angefttllt. 

Der Tumor ist dem des oberen Brustmarks im grossen und ganzen 
gleich. Auch hier finden sich die beschriebenen grossen blassen Zellen, 
Zellen, oft in der erwfihnten palisadenfOrmigen Anordnung. An einigen 
Stellen legen sich die grossen, blassen Zellen zu Hfiufchen zusammen, oft 
zu halbkreisformigen Gebilden, oft kreisfOrmig gruppiert, eine strukturlose 
Masse in sich einschliessend. 

Auch das Verhalten der Pia ist das gleiche wie im oberen Brustmark; 
dieselbe ist hier an mehreren Stellen von Tumormassen durchwuchert. 
Ein Eindringen des Tumor in den vorderen und hinteren Langsspalt 
tindet nur in ganz geringem Grade statt. 

Lendenmark: Die Geschwulst ist am dicksten in der Gegend des 
Austritts der rechten hinteren Wurzel und verjttngt sich beiderseits nach 
vorn zu. Sie hat dadurch ungefahr die Form einer Mondsichel. Die 
grosste Breite betrftgt 5 mm. Das Rfickenmark selbst zeigt anniihernd 
normale Form, jedoch ist es an der Stelle der grOssten Dicke des Tumors 
leicht komprimiert, auch fehlt an dieser Stelle die Pia. Das Rfickenmark 
zeigt nirgends Erweichungen. Der Zentralkanal ist obliteriert. Es liegen 
an seiner Stelle Ependymzellenhaufen und in einiger Entfernung davon 
ringsherum kleinere Haufchen von kubischen Zellen. In diese kleinen 
Hitufchen sind hohlkugelige Gebilde eingestreut, deren kleiues Lumen 
strukturlos ist, und deren Wand durch meist einschichtige kubische Zellen 
gebildet wird. Manche dieser Gebilde zeigen ihren holilkugeligen Cliaraker 
dadurch, dass bei tieferer Einstellung eine den Boden der kleinen 
Cyste darstellende Zellanordnung zutage tritt. 

Die grossen Ganglien sind, soweit im van Giesonpriiparat zu sehen 
ist, nicht verfindert. Im Palpriiparat siehtman Degeneration der Gollschen 


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XV. Strassner 


Strange und in gcringerem MaBe ini ganzen iibrigen Rtlckenmark, besonders 
in den Randpartien; in gleicher Weise ist aucb die friscke Degeneration 
ausgebreitet. 

Der Tumor selbst ist wieder etwas zellreicher. An der Stelle der dicksten 
Zirkumferenz durchbricht er die Pia und tritt mit dem Nervengewebe in 
Verbindung, jedoch ist der Ubergang beider hier niclit so allmahlich wie 
im oberen Brustmark; man sieht auf der einen Seite das ausserst zellreiche, 
aus grossen kubischen Zellen und dicken, wirbelartig angeordneten Fibrillen 
bestehende Tumorgewebe, auf der anderen das zellarmere, aus feinen 


b a 



Fig- 3. 


Fasern bestehende NervenstQtzgewebe. Der Ubergang der einen in die 
andere Faserart ist ein allmahlicher. Eine Erweicliungsgrenze oder eine 
reaktive Veranderung bestelit niclit. Der tlbrige Tumor zeigt ungefahr 
dieselbe Anordnung, wie wir sie oben beschrieben liaben, docb macht sich 
hier die schon oben angedeutete Anordnung geltend, derart, dass einzelne 
Zellnester und Zellhiiufchen von einem Bindegewebssaum umschlossen sind, 
so dass das Geschwulstgewebe den erwahnten lappchenartigen Bau zeigt. 
Die Acini sind so angeordnet, dass in der Peripherie zahlreiche Kerne 
in palisadenartiger Anordnung liegen; von diesen strahlt in die Mitte ein 
dichtes feinfaseriges Gewirr aus. In der Mitte dieser Acini sind zum 
Teil die Gefasse untergebracht. In anderen Acinis sehen wir wieder eine 


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Uber die diffusen Geschwulste der weichen Ruckenmarksbaute usw. 315 


mehr wirbelartige Anordnung, wieder andere sind sehr zellreich und ent- 
kalteu nur wenig Fasermassen. 

Die Geschwulstzellen wechseln in Grosse und Gestalt sehr ausser- 
ordentlich. Sie sind bald langlich mit langsovalem oder spindeligem Kern, 
bald mehr rundlich mit grossem runden Kern; bald scheinen sie zahl- 
reiche Auslaufer zu besitzen, bald spftrlicher. Dazwischen finden wir in 
dieser H5he eigenartige Anordnungen dieser Zellen zu hoklkugeligen 
Gebilden (Figur 3). Diese Stellen enthalten einen zentralen mini- 
malen Hohlraum. Die Zellen sind radi&r zu diesem Hohlraum gestellt, 
einschichtig. Die kubischen, mittelgrossen Kerne liegen im distalen Teil 
der Zelle, wahrend der grOsste Teil des Zellprotoplasmas dem Hohlkugel- 
raum zugekehrt ist (Figur 3 a). Auch hier findet man an einigen dieser 
Gebilde die bei den hohlkugeligen Gebilden um den Zentralkanal erw&hnte, 
gleiehsam den Boden der Hoklkugel bildende Zelllage bei tiefer Ein- 
stellung (Figur 3 b). Derartige hohlkugelige Gebilde sind allerdings sehr 
selten, jedoch sieht man hier und da haufiger Bilder, die man gewisser- 
massen als Vorstufen derartiger Bildungen betrachten kann (Figur 3c), 
indem man Zellen zu kreisahnlichen Komplexeu sich zusammenschliessen 
sieht. Die Zellen selbst haben hier etwas zylinderepithelartigen Charakter. 
An ihren distalen Enden scheinen sie sich in Fasern aufzulOsen. 

Die Gefassc zeigen in dieser Hohe, namentlich die kleineren, ent- 
schieden hyaline Degeneration der Gefasswand, wahrend die Gefasse, die 
sich in den Septen zwischen dem Tumorgewebe finden, normalen Bau ihrer 
Wand zeigen. Blutungen sind nirgends zu sehen, ebensowenig Erweichungen. 
Dagegen sieht man an einzelnen Gefassen und in dem intermediaren 
Bindegewebe hier und da geringfllgige kleinzellige Infiltration. 

Conus: Der Conus terminalis ist vdllig in Geschwulstmassen 
eingebettet und wird von denselben von alien Seiten komprimiert. Die 
Geschwulst misst hier S 1 /* cm im grOssten Durchmesser. Das Nerven- 
gewebe weist durchgehends frische und alte Degenerationen auf. Die Pia 
wird Qberall von Tumorgewebe durchsetzt, dieses dringt’ auch Oberall in 
das Nervengewebe ein. 

Der Tumor selbst zeigt im Verhalten der Zellen und Fasern alle 
bisher beschriebenen Variationen. Es finden sich alle tTbergange von den 
kleinen spindelfdrmigen Zellen und langen dhnnen Fasern bis zu den 
grossen blassen runden oder kubischen Zellen mit kurzen sparlichen 
Fibrillen. Am Raude des Tumors ist die palisaden- oder wallartige 
Anordnung und der spindelfOrmige Charakter der Zellen vorherrschend, 
mehr nach dem Zentrum zu finden sich mehr Zellhaufchen, in denen auch 
mehrere der oben beschriebenen Hohlkugeln gelagert sind 

Die Gefasse des Tumors zeigen eine geringe khyaline Degeneration. 
Die im Zentrum der Geschwulst liegenden Gefasse sind stark mit roten 
BlutkOrperchen angefflllt Erweichungen sind nirgends vorhanden. 

In den hinteren und vorderen Wurzeln sieht man reichlich frische 
und alte Degeneration. Tumorrnassen dringen auf dem Wege der Septa bis in 
das Nervengewebe der Wurzeln vor. 

Klinisches. Was zuerst das Alter des Patienten anbetrifft, so 
findet sich auch hier die in der Literatur oft angefiihrte und zu gunsten 
der embryonalen Eutstehung verwertete Tatsache bestiitigt, dass meist 


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XV. Strassner 


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jugendliche Personen befallen werden. Unser Patient war 28 Jahre, 
erreichte also annahemd das Durchscbnittsalter, welches Rosenberg 
berechnete (32 J / 2 , resp. 34 V 2 Jahre) und das den Zusammenstellungen 
anderer Autoren (Westphal) ungefahr gleichkommt. 

Hereditare Belastung liegt nicht vor. Wenn auch Bruns 
und Oppenheim derselben sehr das Wort reden, so findet man nur 
selten bei Durchsicbt der Literatur (Schulz, Westphal) ein wirkliches 
Vorhandensein derselben. Immerhin wissen wir von anderen Hirn- 
nnd Ruckenmarkstumoren die Wichtigkeit der direkten und indirekten 
angeborenen Belastung. 

Ein auslosendes Trauma, das nacb Ansicht Oppenheims oft der 
Grund zum Manifestwerden der Krankbeit sein soil (Bruns, Fraenkel, 
Gauguillet, vielleieht Westphal), konnte vielleicht in dem Fall auf 
der rechten Seite zu suchen sein; jedoch ist ein causaler Zusammen- 
hang ziemlich unwahrscheinlich, da zwischen dem Trauma und dem 
Auftreten der ersten Erscheinungen ein ziemlich langer Zeitraum von 
6 Jahren liegt. Auch bei Fraenkel liegt zwischen Unfall und Beginn 
der Erkrankung ein Zeitraum von 4 Jahren. 

Die Gesamtdauer der Erkrankung betrug vom Beginn der 
ersten Prodrome bis zum Tode 13 Monate, immerhin gegentiber dem 
sonst meist angefuhrten, nur mehrmonatlichen Verlauf (Fraenkel, 
Westphal) ziemlich langdauernd. 

Bevor ich auf das Syraptomenbild unseres Falles zu sprechen 
komme, mochte ich auf das allgemeine Krankheitsbild der diffusen 
Geschwtilste der Meningen, wie es sich aus der Literatur ergibt, ein- 
gehen. Ein einheitliches Bild des Verlaufs ist bei der Verscbiedenheit 
des Sitzes und der Ausbreitung des Tumors nicht moglich. Schon 
Oppenheim, Nonne, Rindfleisch u. a. haben aus der Literatur eine 
Einteilung nach dem Sitz der Erkrankung und nach dem verschiedenen 
Verlauf so wie auf Grund der einzelnen Symptome gegeben. Wir mfissen 
nach Westphal hier 2 grosse Gruppen unterscheiden, namlich die Er¬ 
krankung der Nervensubstanz nebst den Hullen des Zentralnerven- 
systems und zweitens ein Befallensein der Hullen allein, sei es in Form 
multipier Knoten, sei es in diffuser Ausbreitung. Ahnlich unterscheidet 
auch Rindfleisch nach der Ausbreitung und Wachstumsverschieden- 
heit bei den Sarkomen der Riickenmarkshaute 3 Formen und zwar: 
1. die grossen solittlren Knotchen, 2. eine Form, bei der die Tumor- 
massen als grossere oder kleinere, von einander getrennte Knoten auf¬ 
treten, und 3. die sog. diffuse Sarkomatose, d. h. in Form diffuser 
lufiltrationen. event, mit darauf auf’gelagerten kleinsten Knotchen und 
Plattchen von Geschwulstgewebe. Die letztere Form unterscheidet sich 
wieder je nach der Ausbreitung 1. in die sog. einfache primare, auf 


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Cber die diffusen GeschwulBte der weicheu Riickenmarkshaute usw. 317 

die Meoingen beschrankte Geschwulstbildung (hierher ist auch unser 
Fall zu rechnen), 2. in die Form der diffusen Infiltration der Rttcken- 
markshaute, deren Ausgangspunkt ein primarer Tumor der Rucken- 
markssubstanz ist, und 3. in die diffusen Geschwulste der Meningen, 
die als Metastasen eines primaren Tumors der Brust- oder Bauchorgane 
aufzufassen sind. 

Gemass dieser Verschiedenheit des Sitzes und der Ausbreitung 
ist natiirlich das klinische Bild ein sehr variables. Vorausgeschickt 
sei, dass viele dieser Falle unter dem Bilde eines Kleinhirntumors ver- 
liefen (Rindfleisch) gemass der besonderen Bevorzugung des Klein- 
hims oder dessen Umgebung durch den primaren Tumor. Mehrere 
solche Falle tauschten auch das Bild einer Meningitis vor. Nach 
Rindfleisch herrschen besonders folgende zwei Symptomgruppen 
vor: Bei nicht elektivem Befallensein der Meningen ist das Krankheits- 
bild zum Teil von dem Verhalten des primaren Tumors abhangig, der 
bei intrakraniellem Sitz die diesbeziiglichen Herdsymptome mehr oder 
weniger erkennen lasst, oder bei intervertebralem Sitz das Bild einer 
mehr oder weniger vollstandigen Querschnittslahmung, kombiniert mit 
Symptomen des extra- oder intramedullaren Ausgangspunktes, zeigt; 
bei anderen Fallen dieser ersten Gruppe geht das Bild des primaren 
Tumors in den nberwiegenden schweren allgemeinen Hirnerscheinungen 
und vor alien Dingen den diffusen spinalen Reizerscheinungen unter. 

Das zweite Bild ist das der einfachen, auf die Meningen be- 
schrankten diffusen Geschwulstbildung, das uns in unserem Falle am 
meisten interessiert. Hier pflegen, worauf Westphal besonders hin- 
weist, die Symptome nicht so ausgebreitet zu sein, wie es der ana- 
tomische Befund erwarten liesse. Die meisten der in der Literatur 
angefiihrten Falle weisen gemass dem Ergriffensein der Meningen des 
Gehirns Symptome von seiten des Gehirns und der Hirnnerven auf, 
zuerst Reizsymptome, dann Lahmungssymptome, vergesellschaftet mit 
mehr oder weniger deutlichen Reiz- und folgenden Ausfallserscheinungen 
von seiten des Riickenmarks. Die Folge der Liihmnngs- auf die Reiz¬ 
erscheinungen, die Ausbreitung der Erscheinungen auf das gesamte 
Zentralnervensystem, die stete unaufhaltsame Progedienz des Krankheits- 
prozesses, unterbrochen durch einen oft sehr erheblicben, doch kurzen 
Wechsel in der Intensitat der Symptome, sowie die meist beobaclitete 
lange Dauer der oft wenig charakteristischen Prodromalerscheinungen 
geben in ausgesprochenen Fallen einen immerhin auffalligen Symptomen- 
komplex. Leider ist oft das Bild nicht ein derartig ausgepriigtes, so 
dass im Verlauf der Krankheit die Autoren die Diagnose meist auf 
Tumor cerebri, Meningitis, Myelitis oder Kompressionsliihmung stellten; 
die sichere Feststellung der Sarkomatose stiitzt sich also eigentlich 


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vorwiegend auf den eigentiimlichen, aber leider wohl nicht konstanten 
Befund in derLumbalfliissigkeit; ich werde spater darauf zuriickkommen. 

Unser Fall bot im grossen und ganzen das Bild, wie es uns 
z. B. Fraenkel far die von den RUckenmarkshauten ausgehenden 
Tumoren gibt. 

Das erste Stadium der Wurzelsymptome ist bei unserem Patienten 
ein ziemlich langes, namlich vom Juni bis Januar des nacbsten Jahres. 
Wabrend dieser Zeit wurden die Beschwerden, wie bei den meisten 
dieser Falle (z. B. Bruns), als „rheumatische“ angeseben und bebandelt 
Hier kann man meiner Meinung nach und, wie es auch unser Fall 
zeigt, oft nicht einen Unterscbied zwischen zirkumskriptem und diffusem 
Tumor machen, wie es Fraenkel will. Die Annahme desselben, dass 
sich die zirkumskripten Tumoren mebr auf einzelne Wurzelgebiete be- 
schrankeu, wahrend diffuse mehr Scbmerzen in der ganzen Wirbelsaule 
erkennen lassen, trifft fur unseren Fall nicht zu; dies bat seinen Grund 
darin, dass auch die diffuse Sarkomatose oder Gliomatose bestimmte 
Bezirke starker zu befallen pflegt. In unserem Falle bot das Krankheits- 
bild bis kurz vor dem Tode keinerlei Anhaltspunkte fttr eine Er- 
krankung der oberen Ruckenmarksabschnitte. 

Sehr lebrreich ist auch hier die diesen Geschwttlsten eigentamliche 
plotzliche, vollig schmerzfreie Zeit; auch andere Autoren haben diese 
Beobachtung gemacht, dass dieses Krankheitsbild durch einen oft er- 
heblichen Wechsel in den Erscheinungen ausgezeichnet ist Nach 
Nonne soil dieser durch die wechselnde Kompression der Blutgefasse 
hervorgerufen werden. 

Dass die Schmerzen durch Bewegungen noch bedeutend gesteigert 
werden, ist bei Affektionen der Hinterwurzelgebiete ofters beobachtet 

Das zweite von Fraenkel angegebene Stadium der motorischen 
Reizerscheinungen, das ubrigens auch nach Fraenkel meist sehr gering 
ist, ist in unserem Falle anamnestisch nicht festzustellen. Unter Um- 
standen soli sich aber gerade dieses Stadium durch seine ausser- 
ordentlich lange Dauer auszeichnen. 

Uberraschend ist der ungemein schnelle tjbergang in das dritte 
und letzte Stadium, das der Lahmungserscheinungen, das hier noch 
kombiniert ist mit immerhin sehr deutlichen fortdauernden sensiblen 
Reizsymptomen. Bionen 4—5 Tagen war in unserem Falle das Bild 
einer vulligen schlaffen Lahmung beider unteren Extremitaten aus- 
gebildet, der dann bald die Lahmung aller Sensibilitatsqualitaten folgte; 
nach 14 Tagen setzten dann die trophisehen Storungen (Decubitus) 
ein. Besonders zu beacliten ist hier der Beginn der Lahmungserschei¬ 
nungen durch Blasenstbrungen. Auf den niiheren Sitz der Lahmungen 
einzugehen, eriibrigt sich wohl, da die diffuse Gliomatose und Sarko- 


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Uber die diffusen Geschwulste der weichen Buckenmarkshaute usw. 319 

matose je nach der Verschiedenheit der Ausbreitung zahlreiche Vari- 
ationen gibt. In unserem Falle war der typische Symptomenkomplex 
einer ausgedehnten Kompression der Cauda und des mittleren Lenden- 
marks vorhanden. Allerdings wies die spatere Ausbreitung der moto- 
rischen und sensiblen Lahmungserscheinungen und trophiscben Sto- 
rungen nach oben auf ein schnelles Wacbsen des komprimierenden 
Tumors bis zum mittleren Brustmark hin. 

Es erQbrigt sich nun noch, auf ein sehr wichtiges Symptom ein- 
zugehen, das leider bei unserem Fall nicht konstatiert ist; es ist dies 
der Befund in der Lumbalfllissigkeit. Rindfleisch fand zuerst bei 
seinen Fallen neben einem erheblich erhohten Eiweissgehalt (272°/oo) 
eine spontane Gerinnung, teils in dichten, die Flussigkeit ganz aus- 
fiillenden, teils schleierformigen, zarten, an Meningitis tuberculosa er- 
innemden Gerinnseln, ferner, wenigstens in seinem dritten Falle, das 
Vorkommen von reichlichen grossen Zellen mit einfachem, grossem, 
blaschenformigem, die Zelle fast ganz ausfullendem Kern, die Rind¬ 
fleisch als Geschwulstzellen anspricht. Ausserdem zeigte in einem 
der Falle die Flussigkeit eine intensiv dunkelbraungelbe Farbe, wahrend 
die beiden anderen Falle eine mehr schwachgelbe Farbung der Cerebro- 
spinalfliissigkeit aufwiesen. Eine weitere Mitteilung liegt von Dufour 
vor, der den Liquor als gelbe Flussigkeit mit viel Fibrin, vielen 
Lymphocyten, sparlichen ErythrocyteD, einigen Makrocyten und Gra- 
nularkorperchen beschreibt. Eine von Nonne ausgeftihrte Lumbal- 
punktion ergab ausser etwas vermehrtem Druck ein normales Verhalten 
des Liquor cerebrospinalis. Grund fand eine Vermehrung des Eiweiss- 
gehalts und ebenfalls eine gelbe Farbung der Lumbalfliissigkeit. In 
unserem Falle war bei der im Anfang gemachten Punktion kein ab- 
normer Befund des Liquors zu verzeichnen; eine von mir gegen Ende 
der Erkrankung nochmals vorgenommene Punktion verlief leider er- 
gebnislos, da die Tumormassen den ganzen unteren Teil des Wirbel- 
kanals bereits ausfullten. 

Pathologisch-anatomisch sind verschiedene interessante Einzel- 
heiten zu erwahnen. Dies ist zuerst das isolierte Befallensein der Pia 
mater ohne Vorhandensein anderweitiger metastatischer oder primarer 
Tumoren des Zentralnervensystems oder des iibrigen Korpers. Solche 
diffuse isolierte Ausbreitung der Tumoren der Ruckenmarksmeningen 
ist bisher nur vereinzelt bekannt (Nonne, Dufour, Schulz, Simon, 
warscheinlich Richter, Holmsen), wahrend bei den meisten Fallen 
eine Beteiligung der Grosshirnmeningen besteht (Lobeck, Schroder, 
Busch, Pfeiffer, Schataloff und Nikoforoff). 

In den meisten Fallen der Literatur findet sich neben dem diffusen 
Befallensein der Meuingen ein zentraler Tumor des Gehirns oder 

Deutsche Zeit9cbrift f. Norvenheilkunde. 37. Bd. 21 


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Rfickenmarks. Es sind dies die F&lle Nonne III (Kleinhim), Lenz 
(Riickenmark), Pels-Leusden (Riickenmark), Pfersdorff (Rauten- 
grube), Schlagenhauffer (Riickenmark), Schultze (4. Ventrikel 
und Riickenmark), Grlinbaum (rechter Seitenventrikel), Schlesinger 
(Gl. pituitaria), Busch (Unterwurm, 4. Ventrikel), Fraenkel II 
(9. Dorsalsegment), Orlowsky (zentrale Gliomatose), Rindfleisch 
(Thalamus opticus), v. Hippel (Stirnlappen), Cyril Ogle (Gl. pinealis). 

Bei einer dritten Gruppe handelt es sich um metastatische Tumor- 
bildungen in den Hirnhauten bei primaren Geschwulsten in den Baucb- 
oder Brustorganen. Es sind dies die Falle von Stussberg, Westphal, 
Eppinger, Muller, Eberth; der Fall Bruns’ ist hierher wohl nicht 
zu rechnen, trotzdem bei demselben ein Fibrosarkom des Ohrlappchens 
vorher exstirpiert worden ist; dieser Fall wird von Pels-Leusden als 
ein Gliom angesehen, also das Fibrosarkom nicht als gleichartiger 
Tumor wie der des Rfickenmarks betrachtet. 

Sehr auffallig ist das Verbalten der Rfickenmarkshaute gegenuber 
den Tumormassen. Die Dura ist vollig unbeteiligt an dem Erkrankungs- 
prozess in tjbereinstimmung mit der Erfahrung der anderen Autoren, 
von denen nur Nonne und Westphal Verwachsung von Pia und 
Dura, Fraenkel ein Eindringen der Geschwulst in die Dura feststellten. 
Auch die Arachnoidea pflegt — wie auch bei uns — intakt zu sein. 
Dagegen ist die Pia mater Gegenstand zahlreicher Erorterungen ge- 
wesen. Im Gegensatz zu Schlagenhauffer, Westphal, Mfiller u. a., 
die ein Durcbdringen der Pia mater und ein tjbergreifen des Tumors 
auf das Riickenmark verneinen, zeigt unser Fall, dass sich der Tumor 
an zahlreichen Stellen nicht nur in die Taschen der Pia einsenkt, 
sondern auch in die Pia selbst eindringt. An verschiedenen Stellen 
durchdringt er dieselbe ganz und tritt mit dem Nervengewebe in Ver- 
bindung, in dasselbe ganz allmahlich ohne Erweichung an der Grenze 
libergehend. Immerhin ist zuzugeben, dass die Pia auffallig lange dem 
Vordringen der Geschwulst stand halt (Westphal). Eine Verdickung 
der Pia (Dufour, Fraenkel) ist an den dem Tumor angrenzenden 
Partien vorhanden. 

Die Kompression des Riickeumarks ist in unserem Falle keine 
erhebliche, auch Erweichungen (Schulz) im Verlauf des Ruckenmarks 
sind nicht zu finden. Fast durchgehends findet man dagegen in der 
Literatur Angaben von Degenerationen, besonders der Hinterstrange. 
Auch in unserem Fall zeigten die Gollschen Strange in ihrem ganzen 
Verlauf frische und alte Degeneration, die iibrigen Strange waren nur 
an den Randpartien des Riickenmarks degeneriert. Diese Bevorzugung 
der Hinterstrange hat seinen Grund in der vorzugsweisen Ausbreitung 
der Geschwulst auf der Ilinterfliiche des Ruckenmarks in den nnteren 


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Uber die diffusen Geschwiilste der weichen Ruckenmarkshiiute usw. 321 

Partien and der besonders machtigen Entwicklung des Tumors im 
Gebiet des Leadenmarks und der Cauda equina. 

Die Wurzeln verhalten sich den Tumormassen gegenfiber sehr 
resistent; es fanden sich nur einzelne frische Degenerationen in den- 
selben. 

1st nun schliesslich der Tumor ein Sarkom oder Gliom? 

Wir sehen bei sehr vielen Fallen der Literatur diese Frage auf- 
geworfen, nicht nur bei den Geschwiilsten des Rfickenmarks, soudern 
auch denen des Gehirns. Die meisten, welch e diese differentialdia- 
gnostischen Erwagungen machten, kamen zu dem Schluss, dass es sich 
hier entweder um ein Gliom mit sarkomatosem Charakter oder ein 
Sarkom mit gliomatosem Charakter bandelt, und halfen sich fiber alle 
differentialdiagnostischen Schwierigkeiten einfach mit der Diagnose 
„Gliosarkom“ hinweg. Meiner Meinung nach ist eine solche Diagnose 
vollig unberechtigt aus entwicklungsgeschichtlichen Grfinden. Denn 
die Sarkome sind bindegewebiger Natur, also inesenchymalen Ursprungs, 
wiihrend die Gliome ependymalem Gewebe ihre Entstehung verdanken, 
also ektodermalen Ursprungs sind und mithin den epithelialen Tumoren 
einzureihen sind. Da freilich die Glia das Stfitzgewebe des Riicken- 
marks und mithin funktionell dem Bindegewebe gleich zu achten ist, 
so erscheint es von vornherein verstandlich, dass die Gliome in ihrem 
Aufbau den Sarkomen nahe stehen. Jedocb scheint es mir deswegen 
nicht berechtigt, die Gliome zu den Sarkomen zu rechnen, sondern es 
wird sich immer empfehlen, den Gliomen eine eigene Stellung ein- 
zuraumen und zwar unter den epithelialen Geschwiilsten. Ganz mit 
Recht greift ja auch z. B. Strobe bei Beschreibung der gliomatoseu 
Hirngeschwiilste die Diagnose Gliosarkom in den Fallen an, bei weichen 
man ^mangels genligend genauer Kenntnis vom Bau der Glia, ferner 
auch infolge unzureichender Untersuchungsmethoden einen sicheren 
Unterschied fiber die Zugehbrigkeit zu der einen oder anderen Gruppe 
nicht treffen wollte oder konnte“. In der Tat ist es auch in unserem 
Falle sehr schwierig, den Tumor mit voller Sicherheit als Gliom oder 
Sarkom anzusprechen. Ich glaube auf Grund verschiedener Anhalts- 
punkte zu der Annahme eines Glioms berechtigt zu sein. 

Dass die spezifische Gliafiirbung nach Weigert nicht einwands- 
freie Resultate ergab, spricht nicht gegen diese Annahme, da ja auch 
bei der normalen Glia diese Reaktion sehr oft versagt. Bittorf sucht 
den Grund ffir ein solches Ausbleiben der Reaktion in besonders zell- 
reichen gliom atosen Geschwiilsten darin, dass die chemisehe Diffe- 
renzierung zwischen Zellen und Auslaufern noch nicht eingetreten ist, 
und macht diese von einer gewissen Reifung der Zellen abhiingig. 
Dass die Fasern namentlieh in den zentralen Partien des Tumors 

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durchaus keine Abnlichkeit mit den feinen, verflochtenen Gliafasern 
haben, kann nicht gegen die Annahrae einer gliomatosen Wucherung 
sprechen, da eine Reifung der Zellen nicht eintritt, und so ist das 
Vorkommen von alien moglichen in der normalen Glia nicht auf- 
findbaren Formen erklarlich; dazu kommen auch Formen, die als 
Degenerationserscheinungen aufzufassen sind. Benda und Fraenkel 
sehen schon allein in der auch in unserera Falle vorhandenen Gelb- 
farbung der Geschwulstfasern nach van Gieson, durch die sie sich 
von dem sich rot farbenden collagenen Bindegewebe unterscheiden, 
eine charakteristische Eigenscbaft der Gliafasern, und auch Schmorl 
gibt in seinen Untersuchungsmethoden dieses Verhalten gegen Saure- 
fuchsin-Pikrinsaure als ein dem Gliagewebe eigenttimliches an. Es 
spricht also diese Farbreaktion eher fur, nicht aber gegen die Diagnose 
einer glimatosen Neubildung. 

Ein weiterer Anhaltspunkt ist das Wacbstum der Geschwulst. 
Vom Sarkom wissen wir, dass es destruierend, von der Nervensubstanz 
gut abgegrenzt, durch eine Erweichungszone vom normalen Gewebe 
getrennt, sich ausbreitet. Keins dieser Momente ist jedoch in unserem 
Falle festzustellen. Dagegen weist unsere Geschwulst die Charakte- 
ristica der Gliome auf, namlich diffus infiltratives Wachstum ohne 
scharfe Grenze mit folgender Substituierung des Nervengewebes 
(Strobe). An einzelnen Stellen wirkt allerdings der Tumor leicht 
komprimierend und verdrangend auf das Ruckenmark; es ist dies da 
der Fall, wo derselbe sich in die vorgebildeten Spalten der Pia vor- 
schiebt, hat also mit der direkten Beziehung von Tumor und Nerven- 
gewebe nichts zu tun. Ebenso charakteristisch fur einen Gliom ist die 
doch immerhin sehr grosse Widerstandsfahigkeit der Pia mater dem 
Eindringen des Tumors gegeniiber. 

Ganz besonderen Wert inussen wir wohl auf die Form, besonders 
aber die Lagerung der Zellen zu einander legen. Dass die Gliomzellen 
die Gestalt von sarkomahnlichen Zellen annehmen konnen, kann man 
wohl als feststehend betrachten. Schon Schiippel z. B. sagt 1867 von 
einem von ihm beschriebenen zentralen Gliom: „Haufig sind die Kerne 
schwach oval und mit ihren Liingsdurchmessern siimtlich in gleicher 
Richtung gelagert, so dass dadurch ein eigenttimliches, an die Zellen- 
ziige des Sarkoms eriunerndes Bild entsteht.“ Ebenso verhalt es sich 
mit den extramedullareu ditfusen Geschwiilsteu. Diese Formen der 
Zellen haben daun zur Diagnose Gliosarkom und, wie oben schon ge- 
sagt, falsehlieh zur Annnhme gefuhrt, dass es sich um Sarkomzellen 
liandelt. Wir haben es in unserera Falle mit Zellen zu tun, deren 
Variability eine sehr grosse ist; von den grossen blaschenformigen, in 
Iliiufehen odor einzeln liegenden Kernen mit reichlichem Chromatin- 


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Uber die diffusen Geschwiilste der weichen Riickemnarkshaute usw. 323 

gerust bis zu den langgestreckten spindelformigen, zu einander parallel 
liegenden Kernen bestehen allerhand tjbergange. Ein Protoplasmaleib 
ist meist nur sparlich yorhanden, auch eine Verbindung der Zellen mit 
dem Fasern ist nur an einigen Stellen anzunehmen. Ebenso sieht man 
an einigen Stellen Formen wie Stern- und Spindelzellen. Jedoch sind 
alle diese Zellformen nicht so scbarf ausgepragt, dass man sie des- 
wegen nnbediugt als Gliazellen ansprechen miisste. Man muss eben 
bedenken, dass es sich hier um ein Gliom handelt, das ziemlich rasch 
und unter ganz anderen Wachstumsverhaltnissen sich ausbreitet. Ganz 
besonderes Gewicht mlissen wir daber auf die eigentOmliche Lagerung 
der Zellen in Hohlkugeln legen, wie ich sie oben beschrieben habe 
und wie sie in der Abbildung wiedergegeben sind. Ehe wir jedoch 
auf diese eingehen, mlissen wir uns die Entwicklung des ROckenmarks 
noch einmal vergegenwartigen (ich lehne mich hier ganz besonders an 
die Ausfhhrungnn Bittorfs an). 

Bekanntlich entsteht das Riickenmark durch das Zusammen- 
schmelzen der beiden Riicken- oder Medullarwiilste, welche die Me- 
dullarfurche umfassen. Allmahlich trennt sich dann das Nervenrohr 
vom Hornblatt. Die zunachst langen, zjlindrischen ektodermalen Zellen 
verhalten sich nun verschieden, denn, wahrend die sog. Boden- und 
Deckplatte dauernd einschichtig, undifferenziert bleibt, bilden sich die 
Seitenwandungen, welche beiderseits aus Grand- und Flllgelplatte be¬ 
stehen, weiter aus, und zwar behalt die innere Schicht ihren ependy- 
maren Charakter und bildet. nur Spongioblasten und Ependymepithel, 
aus weichen beiden spater die Gliazellen entstehen, wahrend die aussere 
Schicbt, die sog. Mantelschicht, ausserdem noch die Neuroblasten und 
hieraus durch Differenzierung Ganglienzellen und Nervenfasern zu 
bilden vermag. 

Wir sehen hieraus, dass die einzelnen Abschnitte des primaren 
Nervenrohrs verschiedene Fahigkeiten der Differenzierung besitzen, 
und dementsprechend mlissen auch die Tumoren, die von einem dieser 
Differenzierungsprodukte des Nervenrohrs ihren Ausgangspunkt nehmen, 
ganz verschiedene Formen der Entwicklung aufweisen. 

Nehmen wir an, ein Tumor entwickelt sich aus der Deck- oder 
Bodenplatte, so muss derselbe unbedingt rein epithelialen Charakter 
tragen. Den Beweis hierfiir hat Bittorf flir die epithelialen Ge- 
schwulste des Gehirns durch Anfiihrung der einschlagigen Falle aus 
der Literatur erbracht und gleichzeitig fiir das RQckenmark dieselbe 
Forderung aufgestellt. Flir die Riickenmarksgeschwiilste hat er kein 
sicheres Beispiel in seiner Literaturiibersicht gebracht, doch liegt eine 
Beobachtnng von Pfeiffer vor, die seinen Forderungen vollkommen 
entspricht. Es handelt sich hier um eine Entwicklung hohler epi- 


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thelialer Zellschlauche an den Wurzelu der Cauda equina, der Arach- 
noidea des Rlickenmarks und an den beiden Nervi optici. Der Aus- 
gang dieser Geschwulst von der Bodenplatte ist nach der ganzen 
Schilderung wahrscheinlicb. 

Ffir die Geschwiilste, die von der Seitenplatte, und zwar vom 
Ependym derselben ausgeben, ist nach den Ausffihrungen Bittorfs 
ein ganz anderer Bau zu erwarten. Sie mussen alle Differenzierungs- 
formen des Ependyms aufweisen, und ebenso wird auch die Gliazelle 
wiederum die Fahigkeit beibehalten, sich in die verscbiedenen Urformen 
wieder zuruckzubilden. Es konnte nun in meinem Fall ein derartiger 
direkter Ursprung aus dem Ependym vermutet werden, da wir ja 
epithelartige Bildungen in der Rosettenform finden, wie sie in unserem 
Tumor beschrieben ist. Jedoch glaube ich diese Annahme fallen lassen 
zu mussen, da einerseits keinerlei Zusammenhang mit dem Ependym- 
epithel nachweisbar ist, da ferner die fur diese Geschwiilste gescbilderten 
zentralkanalahnlichen Bildungen fehlen und da der vorliegende Tumor 
im Gegensatz zu all den bisher bekannten epithelial-gliomatosen Tu- 
moren des Rlickenmarks nicht intra-, sondern extramedullar liegt. Es 
seien aber diese Tumoren hier kurz mitgeteilt, da sie ein ganz charak- 
teristisches Bild liefern und in ihrer Histologie die ErklaruDg mancher 
Bildungen in unserem Tumor geben. Zuerst bat Rosenthal einen 
solchen Fall veroffentlicht. Er nennt seine Geschwulst Neuroepithelioma 
gliomatosum microcysticum. Dieses besteht vorwiegend aus grosseren 
und kleineren Cysten und Kanalen mit Epithelbekleidung und einem 
Fasergewebe mit weniger zahlreichen Kernen. Beide Gewebsarten 
gehen in einauder fiber. Auch die kleinen kugelfdrmigen, in sich ab- 
geschlossenen Cystchen, die sehr an die in unserem Praparat gefundenen 
erinnern, sah Rosenthal in seinem Tumor. Dieselben sind von 
kubischen Epithelien begrenzt. Die Entstehung derselben erklart 
Rosenthal folgendermassen: „Einzelne Epithelien werden aus dem 
Verbancle des wuchernden und schon allzu dichten Epithels in die 
Tiefe gedriingt; dort vermebren sie sich weiter und vererben auf ihre 
Nachkommen so viel ihrer epithelialen Natur, dass diese sich zur Kugel 
ordnen und zwischen ihnen das Lumen einer kleinen Cyste entsteht" 
Die grosseren Hohlraume lasst er danu sekundar durch Kommunikation 
und zwar durch Anwachsen der Cysten, Vermehrung des Epithels und 
durch Erweiterung des Lumens unter dem Druck einer durch das 
Epithel abgesonderten Flussigkeit entstehen. Ferner schreibt er diesen 
Epithelien auch die Fiihigkeit zu, sich weiterliin in reines Gliagewebe 
umzuwandeln. 

Einen weiteren hierher gelibrigen Tumor beschreibt Bittorf. Es 
handelt sich hier um eiue sehr zellreiche zeutrale Geschwulst des Hals- 


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Uber die diffusen Geschwulste der weichen Ruckemnarkshaute usw. 325 

und Brustmarks, welche sich aus einer gliosen Fasermasse und mit 
dieser zusammenhangenden Kanalen mit meist einschichtigem, zum 
Teil kubischem, zum Teil hohem zylindrischen Epithel zusammensetzt. 
Auch Bittorf findet in seinem Fall die erwahnten kleinen Hohlkugeln 
mit einer Wand von radiar gestellten Zellen mit epithelahnlichem 
Charakter. Er konnte den Ubergang der Epithelien der Kanale in 
die gliose Substanz des Tumors nachweisen. Die Kanale und Hohl¬ 
kugeln waren im ganzen Verlauf des Tumors teils zahlreich, teils ver- 
einzelt nachzuweisen. Auch Hohlkugeln mit fast zylindrischem Epithel 
waren vorhanden. Bittorf stellt dann die in der Literatur vorhandenen 
Tumoren des Zentralkanals zusammen, in denen „in einem wechselnd 
grossen, mehr oder weniger zellreichen Gliom des Zentralnervensystems 
sich bald reichlicher, bald sparlicher Kanale, Spalten und Cysten mit 
epithelialer Wand finden“, und weist die Entstehung derselben aus 
dem Ependym-, resp. Zentralkanalepithel nach. Die Gliazellen lasst 
er zum Teil aus den Geschwulstgliazellen, zum Teil aus den Epithel- 
zellen entstehen. Fiir die Epithelien hat er ebenfalls eine zweifache 
Entstehungsmoglichkeit, und zwar einerseits als direkte Sprossen des 
Zentralkanalepithels, wahrend er andererseits die Entstehung anderer 
Epithelien, besonders der Hohlkugeln, aus den Gliomzellen nachweist. 

Neuerdings ist ein weiterer Fall von Thielen mitgeteilt, der 
ebenfalls eine epithelial-gliomatose Geschwulst des Riickenmarks dar- 
stellt und in seinen Einzelheiten den beiden Fallen von Rosenthal 
und Bittorf ausserordentlich iihnelt. Auch in diesem Falle lasst sich 
der sichere Beweis fiir den Ausgang vom Zentralkanalependym fuhren. 
Es handelt sich um eine zeDtrale Gliose, die vom obersten Cervikal- 
mark bis herab zum Conus terminalis reicht. 

Die von Bittorf angefiihrte Entstehung der epithelahnlichen Ge- 
bilde der Hohlkugeln aus den Gliazellen, die sich als Abkommlinge 
der Spongioblasten und damit der Ependymzellen eine solche Fiihig- 
keit bewahrt haben, mochte ich fiir meine, zwar sparlichen, Cysten 
mit epithelahnlichen Zellen in Anspruch nehmen. Ich habe Gelegen- 
heit gehabt, Praparate meiner Geschwulst mit solchen der Geschwulst 
Bittorfs zu vergleichen und habe mich von der Gleichheit der Hohl- 
raume in beiden Geschwiilsten iiberzeugen kbnnen. 

Dass in meinem Falle diese Hohlraume nur vereinzelt zu finden 
waren, erklart sich aus einem schnellen Wachstum der Geschwulst, 
das den Gliazellen nicht die Moglichkeit liess, sich zu epithelahnlichen 
Gebilden weiter zu differenzieren. 

Eine dritte Art der Entstehung ist die aus den eigentlichen ditfe- 
renzierten Gliazellen. Diese entstammen den metamedullaren reinen 
Gliomen oder Gliosen. Nach der Lage der Gliazellen und den ent- 


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326 


XV. Stbassner 


wicklungsgeschichtlichen Tatsachen ist es leicht verstandlich, dass diese 
sich auch leicht extramedullar entwickeln konnen, denn wir wissen, 
dass Gliazellen zum grossten Teil von der ausseren Platte gebildet 
werden, dass sie oft in den weichen Hirnhauten zu finden sind, ferner 
das Austreten derselben entlang den hinteren Wurzeln; alles dies gibt 
Gelegenheit, eine extramedullare Entwicklung der Gliome zu erklaren. 
Dass innerhalb dieser Gliome rosetteuartige, also epithelahnliche Bil- 
dungen auftreten konnen, ist ja aus entwioklungsgeschichtlichen GrQnden 
leicht erklarlich, auch obne dass man deswegen annehmen musste, dass 
das Ependymepithel an der Entwicklung unserer Geschwulst beteiligt ist. 
So hat ja auch Bittorf schon auf die Moglichkeit der Entstehung rosetten- 
artiger Bildungen in zellreichen Gliomen und Gliazellen hingewiesen- 
Auf Grund dieser Ausfiihrungen glaube ich auch berechtigt zu 
sein, anzunehmen, dass eine grosse Anzahl der als primare Sarko- 
matose der weichen Hirnhaute beschriebenen Falle als extramedullare 
Gliomatosen anzusprechen sind. Allerdings scheint es mir nicht mog- 
lich zu sein, alle beschriebenen Falle nach dieser Richtung bin zu 
sichten und zu ordnen, da zum grossen Teil die Beschreibung des 
mikroskopischen Befundes fiir eine derartige nachtragliche Klassi- 
fizierung nicht gentigt. Folgende Falle aus der Literatur glaube ich 
aber als extramedullare diffuse Gliomatosen ansehen zu d&rfen: 
Bruns (vergl. Pels-Leusden), Cramer, Fraenkel, Grtinbaum, 
Grund, Holmsen(?), Lenz, Lobeck, Orlowsky, Pels-Leusden, 
Pfersdorff, Rindfleisch Fall III, Schlesinger Fall II, Schulz, 
Schultze, Fraenkel-Benda, Fischer. Diese Geschwiilste sind natttr- 
lich streng zu trennen von den sekundaren Geschwtilsten der weichen 
Hirnhaute, wie ich sie vorber in meiner dritten Gruppe angeftihrt babe; 
bei diesen handelt es sich um ein primares Sarkom der Bauch- oder 
Brusteingeweide mit sekundarer Sarkomatose der weichen Hirnhaute. 


Literatur. 

1) Bechterew, im Haudbuch der path. Anotomie des NervenBystems von 
Flatau, Jacobsohn, Minor. Berlin 1004. 

2) Benda, Deutsche med. Wochenschr. 1898. Nr. 30. S. 476. 

3) Borst, Die Lehre von den Geschwulsten. 

4) Bruns, Arch. f. Psychiatrie. Bd. 2S. 

5) Bittorf, Zieglers Beitrage 1003. Bd. 35. 

0) Busch, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 9. S. 114. 

7) Cramer, I.-Diss. 1888. 

8) Du four, Neurol. Zentralbl. 1005. Bd. 24. S. 87. (Sitzungsbericht.) 

0) Eberth, Virch. Arch. Bd. 49. 

10) Eppinger, Prager Vierteljahrsschr. Bd. 126. S. 17. 

11) Forster, Handbuch der path. Anatomie. Leipzig 1865. 


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Cher die difi’usen Geschwiilste der weiehen Ruckenmarkshiiute usw. 327 

12' Frankel, Deutsche med. Wochenschr. 1 SOS. S. 442. 

13) Glaser, Arch. f. Psychiatric. Bd. 10. S. 87. 

14) Gauguillet, I.-D. Bern 1878. 

l.>) Grunbaum, Deutsche med. Wochenschr. 1906. S. 702. 

10) Grund, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 31. 

17) v. Hippel, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 2. S. 3SS. 
lSf Holmsen, Ref. Neur. Zentralbl. 1902. S. 552. 

19) Lenz, Zieglers Beitr. Bd. 19. 003. 

20) Lilienfeld-Benda, Berl. klin. Wochenschr. 1901. Nr. 27. S. 729. 

21) Lem eke, Arch. f. klin. Chir. Bd. 26. S. 525. 

22} Lobeck, I.-D. Leipzig 1901. 

23; Muller, L. R., Deutsches Arch. f. klin. Med. Bd. 54. S. 472. 

24) Neumann, Archiv der Heilkde. 1872. S. 305. 

25) Nonne, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 21. S. 390. 

26) Derselbe, Arch. f. Psych. Bd. 33. S. 393. 

27j Derselbe, Neurol. Zentralbl. 1897. S. 285. 

28) Oppenheim, Nervenkrankheiten. 19<»5. 

29) Orlowsky, Neurol. Zentralbl. 1898. S. 93. 

30) Pels-Leusden, Zieglers Beitrage. Bd. 23. S. 69. 

31) Pfeiffer, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 1894. Bd. 5. S. 63. 

32) Pfer.sdorff, I.-D. Strassburg. 1900. 

33) Richter, Prager med. Wochenschr. 1880. S. 213. 

34) Redlich, Jahrbuch f. Psych, u. Neurol. 11*05. S. 351. 

35) Rindfleisch, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 26. S. 135. 
30) Rosenberg, I.-D. Strasshurg 1892. 

37) Roux et Paviot, Arch, de neurologie 1898. p. 433. 

38) Saxer, Zieglers Beitr. Bd. 20. S. 332. 

39i Schlagenhauffer, Arbeiten an 8 dem Institut f. Anatomie und Pliv- 
siologie des Zentralnervensystems an der Wiener Universitiit. Bd. 7. S. 208. 

40) Schlesinger, Beitr. zur Klinik der Riickenmarks- und Wirbeltumoren. 
Jena 1898. 

41) Schroder, Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1899. Bd. 6. 

42) Schultze, Arch. f. Psych. Bd. 8. 8. 367. 

43) Derselbe, Berl. klin. Wochenschr. ISsO. 8. 523. 

44) Derselbe, Arch. f. Psych. Bd. 11. S. 7702 

45) Scholz, Wiener klin. Wochenschr. 1905. 8. 1231. 

46) Schulz, Arch. f. Psych. Bd. 10. S. 592. 

47) Schuppel, Arch, der Heilkde. Bd. 8. 1S07. 

48) Siefert, Arch. f. Psych. Bd. 30. 8. 720. 

49) Siemon, Arch. f. Psych. 1^75. Bd. 5. S. Its. 

50) Strobe, Zieglers Beitriige. Bd. 18. S. 405. 

51) Strumpell, Arch. f. Psych. 1897. S. 1004. 

52) Stursberg, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. Bd. 33. S. 6 s 

53) Traube, Ges. Abhandlungen. 1871. S. 1(62. 

54) Thielen, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkde. 35. Bd. 

55) Virchow, Vireh. Arch. Bd. 10. S. 180. 

50) Westpha 1, Arch. f. Psych. 20. S. 770. 

57) Weickert, Arch. d. Heilkde. lsi;7. 8. S. 1"7. 


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XVI. 

Aus der medizinisehen Klinik zu Leipzig. 

Paramyoclonus multiplex mit Muskelatrophie. 

Von 

Priv.-Doz. Dr. Ed. Stadler, 

Assistenten der Klinik. 

Unter dem Namen Paramyoclonus multiplex oder Myo- 
klonie ist seit der ersten Schilderung dieses eigenartigen Krankheits- 
bildes durch Friedreich (1881) eine Anzahl von Fallen beschrieben 
worden, die aber nur zum Teil in ihren Erscheinungen mit Fried¬ 
reich s Beobachtung ubereinstimmen, zum Teil anderen, anscheinend 
verwandten Krankheitszustanden angehoren. Unverricbt 1 2 ) hat die bis 
etwa zum Jahre 1895 als Myoklonie veroffentlichten Falle einer Kritik 
unterzogen und manchen die Berechtigung dieser Diagnose abgestritten. 
Seitdem finden sich entsprechend der Seltenheit der Krankheit nur 
sparliche Beobachtungen in der Literatur mitgeteilt, die aber auch noch 
keine Einigkeit in der Umgrenzung des Bildes erkennen lassen. Beim 
Studium der so iiberaus klaren Schilderung Friedreichs sollte man 
immerhin glauben, dass in gewissen Fallen die Differentialdiagnose gegen- 
uber verwandten Krankheitszustanden moglich ware. Die Abnlich- 
keit gewisser Symptome hat ja zwar manche Autoren dazu gefiihrt, 
den Paramyoclonus als selbstandige Krankheit fiberhaupt fallen zu 
lassen und anderen Neurosen, der Hysterie, Neurasthenic, Chorea oder 
Tic-Krankheit zuzurechnen (Bottiger 3 ), Huchard und Fiessinger 4 ) 
u. a.). Die Unsicherheit in der Klassifikation der Myoklonie beruht 
nieht zum geringsten Teile in unserer Unkenntnis irgend welcher ana- 
tomischer Organveriinderungen, die fiir die Lokalisation der Krank- 
lieit und ihre Pathogenese herangezogen werden konnten. Zwei in 
der Leipziger medizinisehen Klinik beobachtete Falle zeigen neben 


1) Friedrich, Virchows Arch. 1SS1. Bd. 86. S. 421. 

2j Unverricht, Artikel Myoklonie in Eulenburgs Realencvklopadie. 
Is!*8. 3. Aull. 

3) Boettiger, Berl. klin. Wochenschr. 1896. Nr. 7. 

4) Huchard u. Fiessinger, Revue de mod. XV. 1905. p. 741. 


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Paramyoclonus multiplex mit Muskelatrophie. 


329 


den charakteristischen Erscheinungen des Paramyoclonus Symptome, 
welche bislang bei dieser Erkrankung nicht bescbrieben worden sind 
und vielleicht hinsichtlich ihrer Pathogenese ein gewisses Interesse 
beanspruchen dQrfen. 

Deri. Fall betrifft einen 33j&hrigen Instrumcntenmacher Albert R. 1 ), 
in dessen Familie keine erw&hnenswerten Krankheiten vorgekommen sind. 
Im 9. Lebensjahr hat er eine akute, fieberhafte Krankheit durchgemacht, 
die zu einer L&hmung des rechten Beins fdhrte, welches spftterhin in der 
Entwicklung wesentlich zurtlckblieb. Vor 5 Jahren war er kurze Zeit 
bettliigerig wegen einer Wundrose, die, vom rechten Fuss ausgehend, einen 
Teil des rechten Beins ergriff. Andere Krankheiten will er nicht gehabt, 
vor allem sich nie gcschlechtlich infiziert haben. Er hat stets ein sehr 
miissiges Leben gefhhrt und ist in den letzten Jahren ununterbrochen in 
seinem Bernfe tatig gewesen. Neben dem Polieren von Instrumcnten hat 
er haufig beim Transport schwerer Klaviere helfen mQssen, also verhaltnis- 
miissig schwere kOrperliche Arbeit verrichtet. 

Seit etwa 6 Jahren bemerkt der Mann ein eigenartiges Zucken in 
seinen Muskeln, das bald lebhafter, bald nur sehr gering, nie vollkommcn 
geschwunden sei, ihn im dbrigen in seiner Tatigkeit niemals belastigt habc. 
Nur nach der Arbeit, besonders abends beim Ausruhen, will er dieses 
Zucken in der rechten Seite hin und wieder unangenehm empfundcn haben. 
— Er hat jetzt die Klinik aufgesucht, da cr Schmerzen in seinem lahmen 
Fusse infolge Verlust eines passenden Schuhes bekam. 

Es handelt sich um einen grossen, muskelkraftigen, starkknochigen 
Mann in gutem Ernahrungszustande, dessen Brust- und Bauchorganc nichts 
Krankhaftes aufweisen. Der rechte Unterschenkel ist um mehrere Zenti- 
meter verkdrzt, der rechte Fuss steht in Equinovalgusstellung. Der 
M. tibialis antic, fehlt fast vollkommcn, am Obersehenkel sind die Adduk- 
toren und der Quadriceps wesentlich sell wltcher als auf der linken Seite 
(spinale Kinderlahmung). 

In den Muskeln beider Obersehenkel, besonders stark im Quadriceps, 
gcringer in siimtlichen anderen Muskeln springen fast ununterbrochen 
grossere Muskelbilndel kurz, blitzartig, wie die Hammer eines Klaviers auf, 
ohne dass dadurch ein lokomotorischer Etfekt hervorgerufen wftrde. Die 
Kontraktionen folgen sich oft so schnell, dass es in einigen Muskeln zu 
einem lebhaften Wogen komnit, das dann bisweilen von kurzen Zuckungen 
unterbrochen wird. Dieselben Zuckungen bemerkt man an der Muskulatur 
beider Schultergllrtel, der Oberarme — bier namentlich des Triceps —, 
wesentlich geringer an den Unterarmen und kleinen Handmuskeln. Die 
Unterschenkelmuskulatur weist nur ganz vereinzelte Zuckungen auf, an der 
Ilauchmuskulatur und den Muskeln des Gesichts sail ich sie niemals. 

Die Bewegungen sind am stilrksten bei Bettruhe, besonders wenn 
gleichzeitig leichte mechanische Ileize durch schwaches Beklopfen oder ein 
schwacher Kaltereiz durch Anblasen der Haut auf die Muskeln ausgellbt 
werden. Bei willktlrlichen, coordinierten Bewegungen Itoren sie sofort auf, 
steigern sich aber gewdhnlich in der Rube, wenn der Kranke durch liingeres 
Geiien und Arbciten ermtldet ist. Dann hat er bisweilen aucli selbst die 


1) Vorgestellt in der med. Gesellscbaft am 12. Januar 1909. 


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330 


XVI. Stadleb 


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Empfindung, als wenn an seinen Fingern mit einem Bande gezogen wQrde, 
ohne dass aber durch die Muskelkontraktion eine entsprechende Bewegung 
der Finger ausgelbst wird. Schraerzen fehlen. 

Die Sensibilitat ist am ganzen Kdrper fllr alle Qaalitaten vollkommeu 
intakt. Die Sehnenreflexe an Armen und Beinen sind etwas lebhaft, ohne 
dass man sie als pathologisch gesteigert bezeichnen kOnnte. Die sensiblen 
Reflexe sind gut ausldsbar, nur der Wttrgreflex erscheint ein wenig herab- 
gesetzt. Der Mann macht in keiner Weise den Eindrnck eines Hysterischen 
Oder Neurasthenikers. Sonstige Stigmata fehlen. 

Bemerkenswert erscheint nun aber eine zweifellose Atrophie der 
kleinen Handmuskeln und in geringem Grade auch der Muskeln des 
Unterarms, besonders rechts. Die Spatia interossea der HandrQcken sind 
auffallend tief, so dass man in die Lttcken einen Finger gut hineinlegeu 
kann. Die Kleiniigerballen sind im Gegensatz zu der sehr kraftigen Mus- 
kulatur der Oberarme dQnn und schlaff, wahrend die Daumenballen relativ 
gut gerundet und fest sind. Auch die Streckmuskulatur des Unterarms 
ist unverhaltnismassig schwach im Vergleich zur Oberarmmuskulatur. 
Entsprechend ist die grobe Kraft der Hande goring: Am Dynamometer 
drttckt der muskelkraftige Mann links 35, rechts noch nicht 30 kg, wahrend 
ein wesentlich schwacher gebauter Arbeiter im gleichen Alter mit Leichtig- 
keit 50 kg b’ewaltigte. Die direkte mechanische Erregbarkeit der Mus- 
kulatur zeigt keine Verstarkung. Die elektrische Reizung ergibt for 
alle Stromarten vom Muskel und Nerven aus flberall prompte Zuckungen, 
auch sonst keine merklichen Abweichungen von der Norm. 

Der Kranke hat bisher in seinem Berufe, bei dem vor allem die 
Oberarmmuskulatur in Tatigkeit tritt und Arbeiten, die eine besondere 
Kraft im Greifen mit den Handen beanspruchen, fehlen, von der Herab- 
setzung der groben Kraft nichts bemerkt. Eine Ursache far die Muskel- 
zuckungen, die, wie bemerkt, bereits seit etwa 6 Jahren bestehen, weiss 
er selbst nicht anzugeben. 

Ein 2. Fall, der seit 5 Jahren des Ofteren in der Klinik beobachtet 
werden konnte, gleicht dem eben geschilderten in alien Erscheinungen, nur 
stellt er ein wesentlich weiter vorgeschrittenes Stadium des Leidens dar. 
Ich kann mich bei seiner Beschreibung kQrzer fassen. 

Der jetzt 50 Jahre alte Tischler Emil H. 1 ) stammt angeblich aus 
gesunder Familie. Er hat ausser einem vorQbergehenden Nierenleiden als 
Kind keine bemerkenswerten Krankheiten durchgemacht Seit seiner Lehr- 
zeit ist er starker Raucher von Pfeifentabak und dem Alkohol nicht ganz 
abgeneigt Anfang 1904 begab er sich zuerst in arztliche Behandlung 
wegen eigenttlmlicher krampfartiger Zustande, welche bei angestrengtem 
Hobeln in der rechten Hand und bisweilen in der rechten Schulter auf- 
traten. Haufig war es ihm unmdglich, die Finger von dem fest gefassten 
Hobel loszulosen. In der Ruhe und bcim einfachen mtlhelosen Ergreifen 
von Gegenstanden traten diese „Krampfe“ nie auf. Zu gleicher Zeit wurde 
er von seinem Arzte auf eigenartige Zuckungen in den Arm- und Brust- 
muskcln aufmerksam gemaeht, von denen er selbst vorher nichts bemerkt 
hatte, die aber seitdem an Starke und Ausdehnung bedeutend zugenommen 


1) Vorgestellt in der mediz. Gesellsch. am 18. Dez. 1906. 


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Paramyoclonus multiplex njit Muskelatrophie. 


331 


haben sollen. Eine Empfindung will er von diesen Zuckungen selbst 
nickt haben. 

Seit Miirz 1904 bemerkt der Kranke eine Abnahme der Kraft seines 
rechten Arms, die, allmfthlich fortschreitend, ibn im Laufe von zwei Jahren 
zur AusObung seines Handwerks nntauglich machte. VorObergehend traten 
damals Schmerzen im rechten Unterarme auf, die dann gewShnlich von 
krampfartigen Kontraktionen der Finger begleitet waren, so dass er jetzt 
hiiufig ergriffene Gegenstande vor Schmerz fallen liess. Dieser Zustand 
wiihrte etwa bis 3 / 4 Jalir, am einer weiter zunehmenden Schwache des 
rechten Arms und nunmehr auch der linken Hand zu weichen. 

Bei einer mehrwOchentlichen klinischen Beobachtung Anfang 1907 sah 
man im Bereiche beider Arme, des ganzen ScliultergOrtcls und der Waden 
fast ununterbrochen einzelne Muskeln, wie den Supinator longus, den 
rechten Sternocleidomastoideus u. a. in toto, von anderen Muskeln nur 
grossere BOndel kurz aufspringen, ohne jegliche lokomotorische Wirkung. 
Beim leichten Beklopfen der Haut und bei Kaltereizen nahmen die 
Zuckungen zu, bei willkQrlichen Bewegungen sistierten sie fast voll- 
kommen, ebenso im Schlaf. 

Schon im Jahre 1904 fiel bei dem Kranken eine leichte Abmagerung 
der Muskulatur der ganzen rechten oberen Extremitat vora SchultergOrtel 
bis zu den kleinen Handmuskeln auf, die bis 1906 wesentliche Fortschritte 
machte. Damals traten zu den dauernden myoklonischen Bewegungen vor- 
flbergehend die vorhin beschriebenen „Myotonie tt -ahnlichen Krampfzustftnde 
in der rechten Hand. Die Sehnenreflexe waren lebhaft, die Sensibilitat 
war nicht gestort, die grobe Kraft der rechten Hand entsprechend dem 
Schwund der Muskeln vermindert. VorObergehend wurde Druck auf die 
Muskulatur des ganzen SchultergOrtels und im Verlauf der Nervenstamme 
von dem sehr sensiblen Patienten als sclimerzhaft bezeichnet. Im folgen- 
den Jahre war das Bild in der Beziehung verandert, als die Atrophie der 
Muskulatur der rechten Extremitat, besonders im Bereiche der kleinen 
Hand- und der Unterarmmuskeln, bedeutend zugenommen hatte und nun- 
mchr auch die Muskeln des linken Arms ausgesprochene Volumsverminde- 
rung aufwiesen. Der Umfang der Arme betrug: 

1906 1907 

Mitte des Oberarms: r. 25 Vg 1- 26'/ 2 r. 24'/ 2 1. 24 '/ 2 

Mitte des Unterarms: r. 24 1 / 2 h 25 :, / 4 r. 22 1. 25 

(Das KOrpergewicht des Kranken war 1906: 66, 1907: 67 kg.) 

An der linken Extremitat waren besonders die Oberarm- und Schulter- 
muskulatur, weniger der Unterarm und die kleinen Handmuskeln von der 
Atrophie betroffen. Dementsprechend verhielt sich auch die Herabsetzung 
der groben Kraft. Die elektrische Erregbarkeit war qualitativ bei direkter 
und indirekter Reizung vcillig normal, quautitativ fand sich eine Herab¬ 
setzung bei direkter Muskelreizung entsprechend der Atrophie. EaR fehlte. 
Von den frQheren Krampfzustanden war jetzt nichts mehr zu bemerken. 
Der Kranke hatte jetzt auch keine Schmerzeinpfindungen in den Ex- 

tremitaten, vor allem keinen Druckschmerz der Nervenstamme. 

Die Sehnen- und PeriostreHexe an den Armen sowie die Patellar- und 
Acliillessehnenreflexe waren sehr lebhaft. Fussklonus konnte nicht aus- 
gelost wcrden. Die Sensibilitat war am ganzen IvOrper intakt. 


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XVI. Stai>lek 


3;v2 

Es handelt sich also um 2 Falle von Paramyoclonus, die in ihren 
Erscheinungen mit der Schilderung Friedreichs in alien HauptzQgen 
nbereinstimmen. Wir baben die charakteristischen Muskelzuckungen 
ohne lokomotorischen Effekt, einzelne Muskeln Oder nur MuskelbOndel 
betreffend, deren willkurliche Nachahmung im Gegensatz zu mancheu 
Zwangsbewegungen bei Hysterie oder Neurasthenie unmoglich ist. Es 
fehlen Storungen der Gefuhls- u.'Scbmerzempfindung und im Bereiche 
des Temperatursinns, sowie uberbaupt Symptome, die ohne weiteres 
auf eine Erkrankung des Zentralnervensystems hinweisen. Sichere 
Anhaltspunkte ftir die Entstehung des Leidens lassen sich nicht auf- 
finden. Es ist ja bekannt, dass Friedreich in seinem Falle einen 
heftigen Schreck als auslosende Ursache beschuldigte und demen t- 
sprechend den Paramyoclonus als Schreckneurose auffasste. In einer 
Anzahl spaterer kasuistischer Mitteilungen spielen heftige Gemutsbe- 
wegungen atiologisch die Hauptrolle, wahrend von anderer Seite chro- 
nische Vergiftung mit Blei, Alkoholismus, akute und chronische In- 
fektionskrankheiten und schliesslich auch erbliche Belastung dafttr ver- 
antwortlich gemacht werden. Es ist kaum angangig, in unserem ersten 
Falle die erste spinale Kinderlahmung, die etwa 18 Jahre vor dem 
Beginn des Muskelzuckens bereits bestand, als dessen Entstehungsursache 
heranzuziehen. Es mag hier nur erwahnt werden, dass Remak 1 ) 
bei spinaler Kinderlahmung in dem verkurzten Bein nach Anstrengung 
vorlibergehend myoklonieartige Zuckungen beobachtete; allgemeine, 
fast die gesamte Muskulatur, wie in unserem Falle, betreffende Stb- 
rungen fehlen jedoch. Vielleicht hat bei unserem zweiten Kranken 
der Alkohol- und Tabakabusus eine atiologische Bedeutung, die wir 
diesen Giften ja bei alien sogenannten funktionellen Neurosen zuzu- 
erkennen pflegen. Eine besondere auslosende Ursache fehlt in beiden 
Fallen. Es fehlen weiterhin Erscheinungen anderer Krankheitsbilder, 
vor allem der Hysterie, Neurasthenie, Epilepsie, die so baufig als 
Grundkrankheit oder auch als Komplikation der Myoklonie beschrieben 
worden sind, so dass ja von mancher Seite der Paramyoclonus als 
selbstandiges Krankheitsbild geleugnet ward. Auf die Berechtigung 
dieser Ansicliten, die sich vielfach auf Beobachtung zweifelhafter Falle 
stiitzen, kann ich hier nicht eingehen. Zahlreiche frtthere Mitteilungen 
sind besonders in den Arbeiteu von Unverricht 2 ) und Schupffer 3 ) 

1) Remak, Deutsche Klinik von Leyden-Klemperer. Bd. 6. 1. S. Su.'l. 

2) Unverricht, Artikel Myoklonie in Eulenburgs Realeneyklopiidie. 
3. Aufl. 

.'!) Schupffer, l’oliclinico VIII. 19t>l. Zitiert nach Schmidts Jahrh. 
l!io3. Bd. 277. 


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Paramyoclonus multiplex mit Muskelatrophie. 


333 


von diesem Gesichtspunkte aus diskutiert worden. Es soil vielmehr 
meine Aufgabe sein, das Eigenartige im Bilde unserer zwei Falle zu 
besprechen, die Beobachtung von Muskelatrophien beim Para¬ 
myoclonus. 

In beiden Fallen handelt es sich um Atropbien mit progressivem 
Charakter im Bereicb beider oberen Extremitaten, die sich durch das 
Fehlen von fibrillaren Zuckungen und jeglicher SSnsibilitatssto- 
rungen bei nicht merklicb veranderten Reflexphanomenen und nor- 
maler elektriscber Erregbarkeit auszeichnen. 

Die Lokalisation der Atrophie ist in den zwei Fallen nicht ganz 
gleich. Fall 1 zeigt vornehmlich eine Verminderung der kleinen Hand- 
muskeln und der Vorderarmmuskulatur, rechts starker als links. Die 
Oberartn- und Schultermuskeln sind gut erhalten, sogar ausnehmend 
kraftig entwickelt. An der Hand ist der Daumenballen wenig oder 
gar nicht verandert. Volum und Kraft der Beuge- und Streckmus- 
keln des Vorderarms sind aber ziemlich gleichmassig vermindert. 

Fall 2 weist viel hochgradigere Atrophien auf. Die langere Be- 
obachtungszeit lasst hier den progredienteu Charakter des Leidens besser 
hervortreten. Der Muskelschwund nahm seinen Anfang im Bereiche des 
ganzen rechten Arms von der Schulter bis zu den kleinen Handmuskeln 
und schritt ganz allmahlich im Laufe der 4jahrigen Beobachtungszeit 
gleichmassig fort. Erst wesentlich spater machte sich die Schwache 
im linken Arm bemerkbar. Sie begann hier in der Oberarm- und 
Schultermuskulatur und ging spater erst auf Unterarm und Hand fiber. 
In beiden Fallen ist die Muskelatrophie doppelseitig, in beiden Fallen 
halt sie sich in ihrer Lokalisation nicht an bestimmte Ausbreitungs- 
gebiete der Nervenstamme, sondern befallt anscheinend ohne Wahl 
nur regionar zusammenliegende Muskeln. 

Dass die myoklonischen Kontraktionen mit fibrillaren Zuckungen, 
wie wir sie bei Erkrankungen des Rlickenmarks im Bereiche der 
Vorderhornzellen zu sehen gewohnt sind, nicht verwechselt werden 
konnen, bedarf wohl kaum der Erwahnung. Auf das Fehlen von 
Sensibilitatsstorungen und von Veranderungen der elektrischen Erreg¬ 
barkeit in den zwei Fallen sei hier noch einmal hingewiesen, beson- 
ders um die Annahme peripherer neuritischer Prozesse auszuschliessen. 
Schon das sehr langsame Fortschreiten der Atrophien wiirde ja ohne 
weiteres eine Neuritis als Ursache im hochsten Grade unwahrschein- 
lich machen. 

Das Hauptinteresse beansprucht nacli diesen Beobachtungen die 
Frage, ob wir es mit neuropathischen Oder mit mvopathischen Atrophien 
zu tun haben. Aus der Verteilung des Muskelschwundes ist ein sicherer 
Sehluss schon deshalb nicht mbglich, weil sie bei den beiden Kranken 


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334 


XVI. Stadlee 


nicht ganz gleich iat: bei dem einen fiberwiegt der Schwund in den 
Vorderarmen und kleinen Handmuskeln, bei dem anderen im Schulter- 
gurtel. Das Fehlen von Sensibilitatsstorungen erlaubt wobl, manche 
charakteristische Bilder von Ruckenmarkserkrankungen auszuschliessen, 
beweist aber keineswegs das Feblen anatomischer oder funktioneller 
Storungen im Zentralnervensystem. Nicht viel besser steht es mit der 
Verwertung der fibrillaren Zuckungen und der EaR fur die Diagnose 
des spinalen Sitzes der Krankbeit. So sehr ihr Vorhandensein zu 
gunsten der medullaren Natur des Leidens spricht, spricht doch ihr 
Fehlen nicht ohne weiteres dagegen, da sie in einer nicht unbetracht- 
lichen Zahl anatomisch festgestellter spinaler Muskelatrophien bekannt- 
lich vermisst worden sind. So lassen die bisherigen Untersuchungs- 
ergebnisse eine sichere Entscheidung der Frage, ob neuropathische 
oder myopathische Atrophien vorliegen, nicht zu. Yielleicht aber geben 
analoge Veranderungen bei anderen, haufigeren Krankbeiten der Be- 
wegungsorgane einen Anhaltspunkt fiir die Erklarung des Muskel- 
schwunds bei unseren Fallen von Myoklonie. 

Da wirft sich zunachst die Frage auf, ob denn die Muskelatrophie 
uberhaupt in einem Abbangigkeitsverhaltnis zum Paramyoclonus steht? 
Verschiedene Moglichkeiten sind da denkbar: 

Entweder haben sich beide Symptome zufallig neben einander, aber 
unabhangig von einander entwickelt, 

oder beide Erscheinungen sind die Folgen einer einzigen Ver- 
anderung, auf dessen Boden sie gemeinschaftlieh fussen, 

oder die Grundkrankheit ist der Paramyoclonus und die Muskel¬ 
atrophie nur ein Symptom desselben, 

oder schliesslich: es handelt sich vielmehr um progressiven Muskel¬ 
schwund, dessen Begleiterscheinungen die Muskelzuckungen bilden. 

Gegen die letzte Annahme spricht das zeitliche Auftreten beider 
Symptome: im Falle 1 wurde die Muskelschwache erst etwa 6 Jahre, 
im Falle 2 mindestens V 2 J&br nach Beginn der Zuckungen beobachtet. 
Die Erscheinungen des Paramyoclonus gingen also dem Muskelschwund 
voraus. Schwieriger ist die Beantwortung der beiden ersten Fragen. 

In der Literatur ist bislaug kein Fall von Myoklonie mitgeteilt, 
bei dem Muskelatrophien gefunden wurden. Ist der echte Fried- 
reichsche Paramyoclonus an sich schon eine seltene Erkrankung, so 
scheint seiue Kombination mit Muskelschwund zu den grossten Rari- 
tiiten zu gehoren. Die Verteilung der Atrophie am Korper lasst, wie 
wir saheD, keiue sichere Entscheidung zu, ob es sich um einen neuro- 
pathischen oder myopathisehen Typus handele. Sie ist weder charak- 
teristisch fur die spinale Form der Muskelatrophie, noch fur die 
dystrophische, noch auch fur eine periphere neuritische. Auch diese 


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Paramyoclonus multiplex mit Muskelatrophie. 


335 


Leiden gehoren nicht zu den alltaglichen; ihr gleichzeitiges Zusammen- 
treffen mit der Myoklonie in zwei Fallen ware immerhin eine selt- 
same Zufalligkeit. — Die Schwierigkeit in der Diskussion dieser ganzen 
Frage erhoht sich vor allem dadurch, dass wir von den pathologischen 
Grundlagen beider Leiden keine sicheren Kenntnisse haben. 

In Friedreichs Fall konnte Schultze bei genauer mikro- 
skopischer Untersuchung keine anatomischen Veranderungen im Zen- 
tralnervensystem nachweisen. Friedreich nahm als Ursache der 
Myoklonie eine funktionelle Storung im Bereiche der Ganglienzellen 
der grauen Vordersaulen des Ruckenmarks an. Die meisten spateren 
Autoren folgten ihm in dieser Ansicht. Einige wenige (Murri 1 ), 
Grawitz 2 )) verlegten den Sitz der Erkrankung in das Gehirn. Po- 
pow 3 ) wollte die Muskelzuckungen als Ermlldnngsphanomen erklaren, 
das sich einstelle, nachdem die Muskeln infolge des Schreckens (die 
Schreckneurose ist bei ihm als Atiologie des Paramyoclonus sichere 
Voraussetzung) in eine Art Starre verfallen waren. Hunt 4 ) fand eben- 
falls Gehirn und Ruckenmark frei yon anatomischen Veranderungen, 
er beobachtete jedoch eine Vergrosserung der Muskelfasern, sowie eine 
Verlagerung der Sarkolemmkerne. Diese Muskeldystrophie glaubt er 
als einen von den Vorderhornzellen ausgehenden trophischen Vorgang 
ansehen zu durfen, der die motorischen Phiinomene begleitet. 

Das eigenartige Zusammentreffen von Muskelschwund und einer 
Aktionsstorung der Muskeln beobachten wir aber in manchen Fallen 
einer Erkrankung, iiber deren Pathogenese wir zwar ebenfalls noch im 
Unklaren sind, deren Studium aber infolge des haufigeren Vorkom- 
mens des Leidens immerhin Aussichten auf Erfolg bietet, der Myo- 
tonie oder Thomsenschen Krankheit. Charakter und Lokalisation 
der Muskelatrophie weisen in den bisher beobachteten Fallen von 
Myotonie dieselben Merkmale auf, wie bei unseren zwei Myoklonikern. 
Die „Doppelseitigkeit und Symmetrie des Muskelschwundes im ein- 
zelnen Falle, der progressive Charakter, das Fehlen von fibrillaren 
Zuckungen in den erkrankten Muskeln" bei wechselnder Lokalisation 
der Atrophie in den verschiedenen Fallen sind die Erscheinungen, 
welche J. Hoffmann 5 ) als gemeinschaftliehe Merkmale aus den bis- 
herigen Beobachtungen zusammenstellt. Dazu komint, dass die Myo- 

1) Murri, Jahresber. f. Neurol, und Psych. It>02. lid. 0. 

2) Grawitz, Deutsche med. Wochenschr. iS'tO. Nr. 19. 

3) Popow, zit. nach Unverricht, Artikel Myoklonie in Eulenburgs Real* 
encvklopadie. 1S98. 3. Aufl. 

4) Hunt, Jahresber. f. Neurol, u. Psych. 1903. Pd. 7. 

5) J. Hoffmann, Deutsche Zeitschrift f. Ncrvenheilkunde. 1900. Bd. 18. 
S. 209. 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde. 37. Bd. 22 


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336 


XVI. Stadi.ku 


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tonie in alien daraufhin beobachteten Fallen dem Muskelschwund voraus- 
ging, ein Verbalten, das wir bei unseren Fallen von Myoklonie eben- 
falls feststellen konnten. 

Dann seien hier noch zwei weitere Beobachtungen angef&hrt, die 
man vielleicht als Berlihrungspunkte beim Vergleich der beiden Er- 
krankungen miteinander verwerten kann. In unserem Fall 2 wurden 
langere Zeit krampfartige Kontraktionen der Hande beobachtet, die 
beim festen Zugreifen uud Halten von Gegenstanden auftraten und 
sich erst ganz allmahlich wieder losten. Der kranke Tischler konnte 
oft die Finger von seinem fest umspannten Hobel nicht losbriDgen. 
Die einfache Beobachtung dieses Zustandes erweckte unmittelbar den 
Eindruck myotonischer Spasmen, die elektrische Untersuchung liess 
freilich die charakteristische myotonische Reaktion vermissen. Nach 
etwa 3 / 4 Jahr war von dem Symptom mit der Zunahme der Atrophie 
der Muskeln nichts mehr bemerkbar. 

Fernerhin schreibt Erb 1 ) in der Krankengeschichte seines Falles 
38 der Thomsenschen Krankheit: „Muskelspannungen bestehen in 
der Ruhe nirgends; dagegen zeigen sich haufig einzelne unruhige, 
zuckende Bewegnngen verschiedener Muskeln, besonders an den gerade 
untersuchten Gliedmassen; keine fibrillaren Zuckungen." Ob es sich 
in diesem Falle um myoklonieartige Zuckungen gehandelt hat, mag 
zwar dahingestellt sein; die Beschreibuug wurde immerhin dafur spre- 
clien. Also einerseits ein Fall von typischem Paramyoclonus mit myo- 
tonieahnlichen Symptomen, andererseits ein Fall von typischer Myo- 
tonie mit Muskelzuckungen, die sicher nicht fibrillare Zuckungen waren. 

Es mag als gesucht erscheinen, auf Grund dieser sparlichen Beob¬ 
achtungen eine Parallele zwischen dem Paramyoclonus und der Thom¬ 
senschen Krankheit ziehen zu wollen. Es ist dabei freilich zu be- 
denken, dass beide Krankheiten selten sind, und dass ausserdem die 
Myoklonie wahrscheinlich noch recht oft tibersehen wird, da sie ja 
meist von ihrem Trager selbst zuniichst garnicht wahrgenommen wird, 
weil sie ihm gar keine Beschwerden verursacht. Das Auftreten ganz 
gleichartiger Ernahrungstbrungen der Muskulatur in einer Anordnung. 
die unter keinen bekannten Typus der Muskelatropbie fallt, bei zwei 
Krankheiten. deren Hauptsyniptom in Aktionsstorungen der Muskeln 
besteht, fordert aber docb dazu heraus, nach gemeinsamen atiologisclien 
uud pathogenetischeu Grundlagen fiir beide zu suchen. 

Die Ansiehten der verschiedeneu Autoren tiber Wesen und Sitz 
der Myotonie hat Hoffmann in kurzer ubersichtlicher Weise zusammen- 
gestellt. Die Frage nach der myopathischen oder ueuropathischen Natur 


1) Deutsches Arehiv f. klin. Med. Bd. 43. S. 540. 


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Paramyoclonus multiplex mit Muskelatrophie. 


337 


des Leidens steht auch heute noch zur Diskussion, zumal hinsichtlich 
der Atrophie der Muskulatur. Manche Beobachtungen und anato- 
mischen Untersuchungen sprechen ja allerdings flir die Annahme eines 
primaren MuskelleideDS, das vielleicht in einer Stoffwechselstorung 
des Muskels seine Ursache hat. Andere ganz plotzlich im mittlereu 
Lebensalter entstandene myotonische Funktionsstorungen machen die.se 
Hypothese wieder unwahrscheinlich und lassen doch an nervose Ein- 
fliisse vor allem denken. Bei der Betrachtung der Falle von Paramyo¬ 
clonus stossen wir auf die gleichen Bedenken. Wenn auch fiir manche 
Falle eine Erschutterung des Nervensystems iitiologisch verantwortlich 
gemacht wird, so steht doch flir eine ganze Anzahl die Kenntnis der 
Entstehungsursache vollkommen aus. Wir haben zunachst wenigstens 
nicht das Recht, die Myoklonie ohne weiteres als nervose Storung auf- 
zufassen und ihren Sitz in das Ruckeumark zu verlegeu. Die zwei 
Beobachtungen von Muskelschwund beim Paramyoclonus erlauben 
ohne Zweifel einen Vergleich mit der Thomsenschen Krankheit und 
berechtigen zu der Hypothese, auch den Paramyoclonus als primares 
Muskelleiden aufzufassen und von diesem Gesichtspunkte aus zu be- 
trachten. Vielleicht bringt uns das Studium von Stoffwechselvor- 
gangen im Muskel auch fiir seine Funktionsstorungen neue Aufschlusse. 


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XVII, 


Aus der Poliklinik fiir Nervenkrankheiten von Prof. H. Oppenheim 

in Berlin. 

Ein Fall von Psammom der Arachnoidea des oberen Dor- 

salmarks. 

Yon 

Dr. W. Hertz, 

Assistant der Poliklinik. 

(Mit 3 Abbildungen.) 

Der im Folgenden mitzuteilende Fall von Ruckenmarkstuuior 
bietet zwar diagnostisch und klinisch keine auffallenden Besonder- 
heiten, was aber die Veroffentlichung wiinschenswert erscheinen lasst, 
sind die anatomischen Verhiiltnisse, die bei der relativen Haufigkeit 
der Psammome einen Hinweis geben konnen fiir die operative Behandlung. 

Die zunachst folgenden Daten hat mir Herr Professor Oppen¬ 
heim aus seinen Aufzeichnungen liebenswiirdigerweise zur Verfugung 
gestellt. 

Frau Gr., 51 Jalire, Arbeitcrfrau. 

Diagnose: Tumor im Umkreis des Rfickenmarks in Iloiie des 4. und 
5. Dorsalwirbels; ob von Wirbelsiiule odor Meningen ausgehend, zweifel- 
haft, dock sprieht der langsame Verlauf entscliieden fttr meningealen Sitz. 

Anamnese 24. X. 1907: Seit 6 Jahren Sclnviiehe im recliten Bein, 
die in der grossen Zehe angefangen hat. Umschnftrungsgelfihl in der 
recliten Kniegegend. Maltigkeit soil sicli dann allmahlich fiber das ganze 
reelite Bein bis zur llut'te erstreekt haben. Erst seit 2 Monaten auch 
Schwiidie im linken Bein. Ausserdem Rfickenschmerz, der sieh zeitweilig 
steigert. Keine Urinbescliwerden. Seit Beginn des Leidens hat sie Span- 
nuntrsgef'iihl in der Abdominalgegend. Eine linksseitige Ptosis soil seit der 
Kindheit bestehen. 

Status: Am rechton Rein massige Steifigkeit. Links weniger aus- 
gtsproehen. Reclits Patellarklonus, links nichts. 

Roclits Babinski, ebenso links. Oppenheim redits und links deut- 
lidi, erheblidie Ilyperiisthesio. Mendel fehlt beiderseits. Lahmung des 
redden Reins nalie/u komplet. Audi links holier Grad von Parese: bringt 
aueli das linke Rein nicht von der Unterlage. Pinsel an beiden Beinen 


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Ein Fall von Psammon der Arachnoidea des oberen Dorsalmarks. 339 

geftkhlt. Links mftssige Hypalgesie. Keine Lagegeftthlsstdrung, keine 
Muskelatrophie, aber auffallend Genu recurvatum. Bauchdecken schlaff. 
Bauchreflex feblt reckts, ist auch links nur angedeutet. Im ganzen blaht 
.sich bei Bauchpresse die linke Abdominalgegend etwas mehr auf, doch ist 
der Unterschied gering. Temperatursinn wohl an beiden Unterschenkeln 
nicht ganz normal. Wahrend aber am rechten Unterschenkel Kalt und 
Warm unterschieden werden, wird links Kalt als Warm bezeichnet. 

Sehnenphanomene an beiden oberen Extremitaten stark, aber nicht 
ausgesprochen pathologisch. Handedruck beiderseits gut 

Bei Kneifen einer Hautfalte am Oberschenkel stellt sich eine kom- 
plizierte starke Reflexbewegung ein: eine Beugung des Oberschenkels, 
Streckung des Fusses und der Zehen. Am ausgiebigsten im Extensor 
hallucis longus. 

HOhere Temperaturgrade erzeugen am rechten Unterschenkel Hitze- 
empfindung, am linken nicht. Bewegungen der Wirbelsaule erzeugen leb- 
haften Schmerz. 

Starke ROtung der Kreuzgegend. Schmerzen in Lendenkreuzgegend. 
Die ganze Dorsalgegend scheint ttberempfindlich, besonders die Gegend 
des 4. Dornfortsatzes. In derselben HOhe nach rechts vom Dornfortsatz 
Schall etwas verkttrzt. 

Rechts in der HOhe der 4, 5. und 6. Rippe eine scheinbare Hyper- 
algesie, doch bedarf das der weiteren Kontrolle. 

Sicher findet sich eine Zone taktiler Hypasthesie rechts zwischen 
Nabelhohe und 7. Rippe. Wahrend der Untersuchung wimmert Patientin 
vor Schmerzen im rechten Bein. Bei Schmerzausserungen verzieht sich 
der Nabel haufig nach rechts. Es blaht sich dabei die linke Abdominal¬ 
gegend etwas mehr. Die Zone der taktilen Hypalgesie erstreckt sich bis 
etwa 2 Querfinger breit unterhalb des Processus ensiformis. In demselben 
Gebiet leichte Hypalgesie, die sich ebenfalls bis zur 7. Rippe erstreckt. 

Bericht des Prof. Oppenheim an die chirurgische Klinik 

(Prof. Bier). 

Ich finde bei Frau Gr. die typischen Symptome einer spastischen 
Paraplegie, die im rechten Bein noch weiter vorgeschritten ist als 
links, ausserdem Hypalgesie und Thermhypasthesie besonders am linken 
Bein, wahrend am rechten eher Hyperasthesie besteht. Ferner Fehlen 
des Bauchreflexes rechts (jedoch bei der Schlaffheit der Bauchdecken 
kaum zu bewerten). Eine Sensibilitatsstorung an der rechten Abdo¬ 
minalgegend von der Nabellinie bis zur Hohe der 7. Rippe fur Be- 
ruhrungs- und Schmerzreize, wahrend sich in den entsprechenden Ge- 
bieten hinten eher Hyperalgesie findet. Schliesslich ist die Gegend 
des 4. Dorsalwirbeldornfortsatzes auf Druck sehr schmerzhaft. Beson¬ 
ders gilt dies auch fur den Druck, der die Gegend rechts vom 
Dornfortsatz trifft. Hier scheint auch der Perkussionsschall etwas 
abgeschwacht. 

Nach alledem ist es nicht zu bezweifeln, dass es sich um einen 


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340 


XVII. Hertz 


Prozess im Bereicne bezw. Umkreis des oberen Dorsalmarks, etwa im 
Ursprungsgebiet des 4.—7. Dorsalsegments, handelt, der seinen Aus- 
gang von der rechten Seite her genommen hat. Nach der ganzen Ent- 
wicklung ist-in erster Linie an eine Neubildung zu denken. Sie konnte 
von den "Wirbeln oder Meningen ausgehen. Bei der langsaraen Ent- 
wicklung und dem spaten Eintritt der Schmerzen, dem Fehlen jeder 
Deformitat nach so langer Zeit ist mir der meningeale Ursprung wahr- 
scheinlicher. Immerhin ware Rontgenaufnahme noch sehr erwunscht. 

Ich empfehle die operative Behandlung, bedauere nur, dass 
die Neigung zu Ohnmacht und Herzschwache die Aussicht ver- 
schlechtert. 

Untersuchung am 31. X. 1907. Die Hypfisthesie am Abdomen 
rechts beginnt 2 Querfinger breit Ober dem Nabel; in der Mamillarlinie 


etwas holier liinauf, bis zur 9. Rippe; 



Fig. 1. 


nach unten bis ca. 3 Querfinger breit 
unterhalb des Poupartschen Bandes. 

Genau in derselben Hohe auch 
Hypalgesie; fiir Schmerz liisst sich 
eine sicbere Stbrung in den Beinen 
nicht nacliweisen. Heute keine sichere 
Dift'erenz zwischen rechts und links. 
Am rechten Unterschenkel Warm 
uicht als Warm empfundcn, erst un- 
gefahr von Kniehohe an. Ebenso an> 
linken. Hier geht die Stdrung bis 
etwa zum oberen Drittel des Unter- 
schenkels. Links besteht fQr Kalt 
eine Ilypastbesie, die bis zur Mitte 
des Oberschenkels reicht, allroahlich 
abschliessend; rechts ebenfalls nur 
bis zum Knie. 

Im ganzen wird jedenfalls links 
Kalt und Warm bei geringen Diffe- 
renzen viel haufiger verwecliselt als 
rechts. Die Storung nimmt distal¬ 
warts zu. 

Im hypasthetischen Gcbiet auch 
Thermhypasthesie. 

Auch heute keine Lagegeftlhls- 
stbrungen. 

Am 6. XI. 1907 Operation durcb 
Bier. 

Erbffnung der Wirbelsaule in 
Hohe des 4. Dorsalwirbels, auch des 
5. Dura pulsiert nicht. Nach Spaltung 
erscheint das Rilckenmark in dieser 
Hohe stark geschwollen und blaurot 
verfarbt, in einer Ausdehnung von 


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Ein Fall von Psaminom der Arachnoidea des oberen Dorsalmarks. 341 

2—2,5 cm. Um alles gut flbersehen zo kQnnen, wird noch nach oben und 
nach unten ein Wirbelbogen entfemt. Man erkennt, dass die Schwellung 
dem Niveau ca. des 4. DorsalwirbelkOrpers entspricht. Es lilsst sich zu- 
Mchst nicht entsckeiden, ob der Tumor intra- oder extramedullar sitzt. 
Beim Yersuch, durch die Arachnoidea vorzudringen, erkennt man, dass es 
schon das stark komprimierte Mark ist, das eingeschnitten wird und das 
in die Geschwulst aufgeht. Diese lksst sich somit nur zum Teil entfernen. 
Fig. 1 zeigt die Geschwulst nach Eroffnung der Dura. 

Die frische Untersuchung zeigt Neurofibrom, das stellenwcise sarkomatds 
entartet scheint, dazwischen Rttckenmarkssubstanz. Es floss fast kein 
Liquor ab. Die ganze Operation verlief schuell, in ca. V 2 — 3 U Stunde. 
Wenig Blutverlust. 

Untersuchung am 8. XI. 1907. Dauernd viel Erbrechen; Puls, 
Temperatur normal. Klagen Aber Schmerzen heute geringer als gestern; 
absolute L&hmung beider Beine, aber mit Erhaltensein von Knie- und 
Achillesreflex. Zehenreflexe nicht auslosbar. Sensibilitat fdr Nadelstiche 
(grob geprtlft) jedenfalls nicht aufgehobeD, nur Yerminderung der Schmerz- 
empfindlichkeit. Auch an den FQssen ist die Schmerzerapfindung erhalten. 
BerUhrung auch bei starkeren Reizen richtig lokalisiert. 

Bild der totalen Querschnittslahmung mit volligcr Paraplegie, An- 
asthesie, Blasen-, Mastdarmlahmung, aber Kniephanomene erhalten. 

Aus dem Operationsbericht. Spaltung der Dura in der Mittel- 
linie in der Ausdehnung von 4 cm. Auf der H6he des 4. Wirbels zeigt 
das Mark eine spindelige Anschwellung, dr&ngt sich aus der geOffneten 
Dura sofort sehr stark hervor und sieht blaulich-grau verfarbt aus. Wenig 
Liquoralabfluss. Zur genauen Ubersicht wird zunachst noch nach oben 
der 3., nach unten der 6. Dornfortsatz und Wirbelbogen mit Zangen ent- 
fernt, die Dura in der gleichen Ausdehnung gespalten. Das Mark erweist 
sich hierbei oben wie unten als normal. Beim seitlichen Anheben des 
Marks mit stumpfen Instrumenten sieht man, dass die spindelige An¬ 
schwellung zirkular ist. In den austretenden Wurzeln ist nichts Krank- 
liaftes nachzuweisen. Ebenso ist die Dura und der Knochen hberall frei 
von Erkrankung. Es wird nun auf die spindelige Erkrankung des Marks 
von hinten her eingegangen. Nach Spaltung einer dttnnen Lamelle, die 
als verdickte Arachnoidea iniponiert, prasentiert sich ein mandelkerngrosser, 
weicher brauner Tumor, der nicht scharf abgekapselt, nahezu zentral im 
Mark sitzt, etwas mehr nach rechts. Beim stumpfen Ausheben des Tumors 
sieht man, dass die gespaltene Schicht, die ihn verdeckt hatte, bereits 
komprimiertes Mark war. Nach Entfernung der Gescliwulst prasentiert 
sich ein der GrOsse des Tumors entsprechender Defekt im Mark. Seine 
beiden Enden stehen nur noch durch die ebenfalls stark atrophische vordere 
Halite im Zusammenhang. Naht usw. 

18. XI. Keine Schmerzen, absolut schlaffe Paraplegie. Kniephanomen 
rechts deutlich, links schwach. Fersenphiinomene in der Rtlckenlage nicht 
zu erzielen. Kein Zehenreflex, kein UnterschenkelreHex. Absolute In¬ 
continentia urinae et alvi. Sensibilitiit ftir Bertlhrung und Nadel im Ab¬ 
domen und Beinen erloschen. Cystitis. 

2. XII. Temperatursteigerungen, klagt fiber Schmerzen in der Nieren- 


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342 


XVII. Hertz 


gegend. Cystitis und Decubitus haben zugenommen. Patientiu ist den ganzen 
Tag liber somnolent und verfallen. 

Temperatur 39. Puls sehr frequent und oberfl&chlich. 

6. XII. Leichte Besserung. 

12. XII. Agonie, zunehmender Verfall. Temperatur 40. 

13. XII. Exitus. 

Sektionsbericht (Dr. Sticker): 

An der Operationsstelle im Rtlcken linear verheilte Hautnarbe. Die 
Rftckenmuskulatur bildet an dieser Stelle eine etwa 10 cm lange, finger- 
starke, sclnvielige Narbe. In der Kreuzbeingegend handtellergrosses 
Decubitalgescbwtir. 

Die Dura ist an der oben envahnten Stelle fest mit dem Rtlckenmark 



Fig. 2. 


verwachsen, im tlbrigen Verlauf frei von krankhaften Yeranderungen. 
Lunge mit der Brustwand beiderseits verwachsen, starkes Odem. Milz 
vergrossert, Pulpa weich, braunrot. Nierenkapsel leicht abziehbar, Ober- 
flache stark granuliert, gcrade Harnkanalchen stark verbreitert. Pyelone¬ 
phritis, Cystitis. Leber derb, Zeiclinung der Acini deutlich. 

Todesursache: Sepsis. 

Das herausgenommene Rtlckenmark wurde in Mtlllerscker FlQssig- 
keit gehartet. Eiubettung in Celloidin. Farbung Pal, van Gieson, Eosin. 

Mikroskopische Untersuchung: 

An der Operationsstelle war ein grosser Defekt des Rtlckenmarks, von 
dem nur ein kleiner Rest vorhanden war. Der tiberwiegende Teil wurde 
von einer Neubildung ausgef'Qllt, wie sie in Fig. 2 abgebildet ist; es 
handelt sich urn ein zellreiches bindegewebiges Stroma (a), in welches 


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Ein Fall von Psammom der Arachuoidea des oberen Dorsalmarks. 343 


zahlreiche runde bis ovale Gebilde eingelagert sind, welche eine deutliche 
konzentriscke Schichtung zeigen. Die starke Farbaufnahme ftlr Hama- 
toxylin zeigt, dass es Kalkkonkremente sind (b). 

Diese Konkremente haben die Kerne des umgebenden Stroma ab- 
geplattet. Bei den frischeren Konkrementen mit noch sckwachem Kalk- 
gehalt (c) siekt man dieses Verdrangen der Kerne deutlick. Ausserdem 
linden sick vielfack rote Blutkorpercken im Stroma, nirgends Vaskularisation. 

Fig. 3 zeigt einen Scknitt in dem Niveau unterkalb des operativen 
Eingriffs. 

Farbung Pal-van Gieson, Lupenvergrosserung. Man siekt kier. 



Fig. 3. 

wie die reckte liintere Partie des Rfickenmarks aus dem durck die Opera¬ 
tion bedingten Scklitz der Dura (a) kervorgetreten ist und sick mit neu- 
gebildetem Bindegewebe Oberzogen hat (b). Die Dura ist verdickt und mit 
der Pia verwachsen; die Meningen zeigen kleinzellige Infiltration. An der 
rechten Seite des RUckcnmarks sieht man die Neubildung (c), die das 
Rtickenmark kalbmondfOrmig umgreift und von der Arachnoidea ausgeht. 
An keiner Hoke des ROckenmarks war ein Ubergreifen des Tumors auf 
die Marksubstauz selbst nachzuwciscn. Yon sekundaren Degencrationen 
liess sich nur die absteigende vOllig verfolgen; sie betraf haupts&chlich die 
rechten PyS und war bis in den Conus nackzuweisen. 


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344 


XVII. Hertz 


Die aufsteigende bestand in typischer Weise, doch lag Material nur 
bis zur HShe des mittleren Cervikalmarks vor. 

Es handelt sich mithin urn ein Fibropsammom, das von der Aracb- 
noidea ausgehend das RQckenmark komprimiert hatte. Daneben Meningitis. 

Epikrise. 

Die Anamnese hatte ergeben, dass ein Prozess von sehr langsam 
progredientem Verlauf vorlag, der in einem Zeitraum von 6 Jahren 
keine Tendenz hatte, in vertikaler Richtung sich zu verbreiten. Neben 
Schwache im rechten Bein bestand schon zu Anfang Spannungsgefuhl 
in der Abdominalgegend. 

Allmiibliches Hoherrttcken der Schwache in dem rechten Bein 
bis zur Htifte, wahrend im linken Bein erst Beit 2 Monaten Schwache 
verspurt wird. Daneben intermittierende RQckenschmerzen, die erst 
spater auftraten. 

So weit die positiven anamnestischen Daten. Der Befund bei der 
ersten Untersuchung ergab das Bild der spastischen Paraplegie, die 
besonders im rechten Bein ausgesprochen war. 

Die Sensibilitatsstorungen bestanden einmal in einer Hypasthesie 
und Hypalgesie der rechten Rumpfhalfte, welche ihre obere Grenze in 
der Mamillarlinie in der H5he der 7.—8. Rippe erreicht, und einer 
Thermhypasthesie, die beide Beine betrifft, aber links deutlicher und 
ausgedehnter ist und sich auch auf die hypasthetische Partie an der 
rechten Rumpfhalfte erstreckh 

Es bestand also ein Brown-Sequardscher Symptomenkomplex, 
allerdings nicht in ganz reiner Form; jedoch wird man wohl annehmen 
konnen, dass er im frtiheren Verlauf einmal deutlich ausgesprochen 
war, da nach der Anamnese die Parese des linken Beines erst seit 
zwei Monaten vorlag. 

Zusammenfassend war also der Befund folgender: Spastische Para¬ 
plegie der Beine, besonders rechts, ein atypischer Brown-Sequard, hef- 
tige Schmerzen in den Beinen und im Rticken; Druckscbmerzhaftigkeit 
besonders der Gegend des 4. Dorsalwirbeldorns und eine Dampfung 
rechts von letzterem. Allmahliche Entwicklung des Leidens in einem 
Zeitraum von 6 Jahren. 

Von den Sensibilitiitsstorungen war die Thermhypasthesie der Beine 
als Symptom der Leitungsunterbrechung aufzufassen, wahrend die 
Hypalgesie und Iiypiisthesie der rechten Rumpfseite sowie die Schmerzen 
als Wurzelsymptome zu deuten waren. 

Es rnusste sich also um eineu Prozess handeln, der in sehr lang- 
samer Progredienz das Riickenmark von rechts her komprimiert hatte 


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Ein Fall von Psammom der Arachnoidea des oberen Dorsalmarks. 345 

und innerhalb sechs Jahren keine Tendenz hatte, sein Niveau nach 
oben zu andern, da Parasthesien in der Abdominalgegend scbon zu 
Anfang bestanden hatten. Die Diagnose einer intravertebralen exfcra- 
medullaren Neubildung im Bereich des oberen Dorsalmarks war daber 
mit grosser Wabrscheinlicbkeit zu stellen. 

Fflr die Niveaudiagnose kamen folgende Gesichtspunkte inBetracbt: 

Die Sensibilitatsstorung reichte rechts am Abdomen bis zur 7. 
Rippe, wahrend die Gegend der 4., 5. und 6. Rippe byperasthetisch 
schien. Diese Zone entspricbt nach MaGgabe des Seifferschen Schemas 
der 5.—6. Dorsalwurzel, d. h. des 4. Wirbelfortsatzes, der ja auch auf 
Druck besonders empfindlich war, und von dem aus rechts eine 
Dampfung nachgewiesen war. 

Die Laminektomie zeigte denn auch, dass das Riickenmark an der 
angenommenen Hohe erkrankt war. 

Doch war das Bild, das sich nach Eroffnung der Dura zeigte, un- 
gewohnlich. Es fand sich kein abgegrenzter Tumor, sondern eine 
spindelige Verdickung des Marks, das zugleich verfarbt erschien. Beim 
Eingehen imponierte die peripherische Partie zunachst als „verdickte 
Arachnoidea". Darunter aber kam man auf eine weiche verfarbte 
Substanz. Man hatte also den Eindruck, dass es sich um einen intra- 
medullaren Tumor handelte, der naturgemass ein weiteres Yordringen 
unmoglich machte. Eine Abgrenzung des Prozesses war nicht zu er- 
kennen. Der Wundverlauf zeigte, dass eine vollkommene Leitungs- 
unterbrechung eingetreten war, und die Inkontiuenz, bei dem be- 
stehenden Decubitus, beschleunigte den Eintritt einer Sepsis, der die 
Patientin erlag. 

Die mikroskopische Untersuchung klarte die Verhaltnisse dahin 
auf, dass die Schicht, weiche beim Eingehen in die Neubildung als 
verdickte Arachnoidea angesprochen wurde, und die man spater flir 
lamellenformig verdiinnte Medulla gehalten hatte, in Wirklichkeit die 
Neubildung gewesen war, und dass das Mark unter derselben schon 
stark komprimiert war und wohl deshalb so braunrot verfarbt und 
weich erschien. Doch war an den Markresten keine Veranderung im 
Sinne einer Neubildung nachzuweisen. 

Was nun den Fall beachtenswert macht, ist eben die ungewohn- 
liche Form, in der das Psammom dem Marke angelagert war, und die 
eine totale Exstirpation unmoglich machte. Ich habe in dem grossen 
Sammelreferat von Stursberg (Zentralblatt f. Grenzgeb. 1908) 9 Falle 
von Psammom der Riickenmarkshaute gefunden. Bei alien diesen 
handelte es sich um gut abgegrenzte und leicht auszuschalende Neu- 
bildungen. Yon den 9 Fallen endeten nur 2 letal, 5 wurden geheilt 


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XVII. Hertz, Psammom der Aracbnoidea. 


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und bei 2 trat Besserung ein. Die Prognose liegt also gerade bei 
Psammomen sehr gfinstig. 

Beim vorliegenden Falle moss man aber eher yon einer umschrie- 
benen Psammomatose der Arachnoidea sprechen. Die Arachnoidea 
war in der ganzen Zirkumferenz, besonders aber rechtsseitig, psammo- 
matos verdickt, und wenn auch nirgends ein tjbergreifen der Veran- 
rung auf das Mark stattgefunden hatte, so war doch die Entfernung 
der erkrankten Partie sehr erschwert, da es sich zeigte, dass die Neu- 
bildung das Mark zirkular umgriff. 

Ob selbst bei gelungener Entfernung des Tumors eine Heilung 
zu erzielen war, muss zum mindestens als sehr unwahrscheinlich an- 
gesehen werden, da das Mark doch schon schwer verandert erschien. 


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XVIII. 

Cber den IMmnngstypus bei cortikalen Hirnherden. 

Von 

Otfrld Foerster, 

Privatdozent an der Universitat Breslau. 

(Mit 8 AbbildungeD.) 

Aus der Unterbrechung der corticospinalen Leitungsbahnen, deren 
wesentlicbste beim Menschen die Pyramidenbahn ist, resultiert 
eine absolut charakteristische Koordinationsstorung, die sich 
in der Hauptsache aus zwei Komponenten zusammensetzt. Die erste 
Komponente der Koordinationsstorung bestebt kurz gesprocben darin, 
dass die corticogene Erregbarkeit der Muskeln infolge der 
Zerstorung der innervatorischen Pyramidenbahnfasern, 
welche normaliter Innervationsimpulse vom Cortex zu den 
Muskeln leiten, aufgehoben oder berabgesetzt ist, was sich 
besonders darin aussert, dass die Muskeln zum Zwecke der willkfir- 
lichen AusfQhrung der ihnen zufallenden Bewegung gar nicbt oder 
nur mangelhaft in Spannung bezw. Kontraktion versetzt werden konnen; 
wir wollen den hieraus entspringenden Teil der Bewegungsstorung die 
paretische Komponente nennen. Andererseits ist die Errregbar- 
keit der Muskeln von den subcortikalen Zentren, speziell vom Rficken- 
marksgrau aus, also die subcorticogene Erregbarkeit, nicht aufgehoben, 
sofern diese Zentren die Anregung nur nicht vom Cortex, sondern 
von der Peripherie her auf dem Wege der sensiblen Erregung empfangen. 
Man kann daher auch sagen, die reflektorische subcortikale Er¬ 
regbarkeit der Muskeln ist erhalten, was sich darin zu erkennen 
gibt, dass die unwillkfirlichen Reflexbewegungen und reflektorisch zu- 
stande kommenden fixatorischen Muskelspannungen fortbestehen. Ja 
diese reflektorische Erregbarkeit der Muskeln ist sogar fiber ihr nor- 
males MaC hiuaus gesteigert, weil in der Norm der Cortex cerebri 
durch besondere in der Pyramidenbahn verlaufende inhibitorische 
Fasern die Anspruchsfahigkeit der subcortikalen Zentren fur zustro- 
mende sensible Reize auf einer bestimmten niederen Stufe halt. Fallt 
die cortikale Inhibition der subcortikalen Reflextlitigkeit fort, so erreiclit 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkuude. 37. Bd. ‘J3 


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350 


XVIII. Foerstek 


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diese letztere das ihr primar innewohnende, uns von der Pyramiden- 
bahnlasion her bekannte MaG. Die Steigerung der reflektorisch-subcorti- 
kalen Erregbarkeit der Muskeln aussert sich erstens in der Steigerung 
der Sehnenreflexe und Periostreflexe der Muskeln und zweitens in der 
Modifizierung des unwillkurlicben Abwehrbeugereflexes des Beines 
auf sensiblen Reiz, speziell einen Strich fiber die Fusssohle hin (Cber- 
greifen der Erregung auf normaliter uubeteiligte Muskeln, wie den 
Extens. hall, longus, anderes Bein, eventuell auch Arme, Rumpf und 
K opf, und Neigung zu tonischer Anspannung im Tib. anticus, Elexoren 
des Ober- und Unterschenkels); drittens in einer unwillfirlichen toni- 
schen Anspannung der Muskeln bei Annaherung ihrer Insertionspunkte 
— einerlei ob diese Annaherung passiv oder durch aktive Muskel- 
tatigkeit erfolgt —, wodurch das Glied in der betreffenden Stellung 
unwillkfirlich fixiert wird und der Bewegung im Gegensinne Widerstand 
erwachst (spastische Muskelkontraktur), und endlich viertens in deui 
Auftreten mehr oder weniger zahlreicher, meist ganz konstanter Mit- 
bewegungen bei der Ausffihrung einer — an sich noch moglichen — 
willkfirlichen Bewegung eines bestimmten Gliedabschnittes. Die 
unwillkurlichen Mitbewegungen werden durch die bei der willkfirlichen 
Bewegung entstehenden sensiblen Reize reflektorich ausgelost und sie 
konnen nicht unterdruckt werden, da die ffir die Ausschaltung der 
ihnen zugrunde liegenden Reflexe erforderliche cortikale Inhibition 
nicht mehr stattfinden kanu. Die Folge ist, dass isolierte willkurliche 
Bewegungen eines Gliedes oder Gliedabschnittes nicht mehr moglich 
sind. Die bekanntesten Beispiele sind die unwillkfirliche Dorsalflexion 
des Fusses bei willkiirlicher Beugung des Beines, die unwillkfirliche 
Extension der Hand bei willkiirlicher Flexion der Finger, die unwill- 
kiirliche Mitbeugung aller Finger bei willkurlich intendierter Flexion 
des Zeigetingers allein usw. Ich kann bier nicht alle diese Mitbewe- 
guugen anfiihren. Die Ilerabsetzung der corticogenen (willkiirlichen) 
Erregbarkeit einerseits und die Steigerung der reflektorisch-subcorti- 
kalen Erregbarkeit der Muskeln andererseits tinden sich bei alien an 
sich nicht komplizierten Pyramidenbahnaft’ektionen. 

Es ist das Verdienst von Wernicke und Mann, gezeigt zu haben, 
dass die Ilerabsetzung der corticogenen Erregbarkeit bei Pyramidenbahn- 
erkrankungen, speziell bei der haufigsten Form derselben, bei der cere- 
bralen Hemiplegic, nicht alle Muskeln in gleichem MaGe betrifft, son- 
dern dass am hemiplcgischen Bein die Dorsalflexoren des Fusses, die 
Beuger, Abduktoren und Aussenrotatoren des Oberschenkels eine merk- 
lich bedeutendere Abschwachnng ihrer willkiirlichen Erregbarkeit zeigen, 
als ihre Antagonisten, die Plantarflexoren des Fusses, die Strecker des 
Knies, die Strecker, Adduktoren und luneurotatoreu des Oberschenkels. 


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Uber den LahmuDgstypus bei cortikalen Hirnherden. 


351 


die unter Umstanden fast ganz intakt sind. Am hemiplegischen Arm sind 
nachMann besondersdieExtensorender Finger, die Abduktoren,Exten- 
soren sowie die die Opposition des Daumens besorgenden Muskeln, ferner 
die Supinatoren der Hand, die Extensoren des Vorderarms, die Erheber 
und Aussenrotatoren des Oberarms und endlich die Erheber und Ad- 
duktoren der Schulter willktlrlich gelahmt oder doch mehr geschwacht 
als ihre Antagonisten, die Flexoren der Finger, der Flexor und Ad¬ 
ductor pollicis, die Pronatoren der Hand, die Beuger des Vorderarms, 
die Adduktoren und Innenrotatoren des Humerus, sowie die Senker und 
Abduktoren der Schulter. Mann gibt allerdings selbst zu, dass am 
Arm dieser Labmungstypus nicht in alien Fallen ausgepragt sei und 
dass bier Abweichungeu vorkamen. 

Gegen die Wernicke-Mannsche Lehre vom hemiplegischen Pra- 
dilektionstypus ist besonders yon Clavey und von Monakow Eiu- 
spruch erhoben worden. Beide geben fur einen Teil der Muskeln eine 
gewisse Differenz in dem Grade der willkiirlichen Lahmung zu, be- 
tonen aber merkwtirdigerweise, dass am Bein die Plantarflexoren des 
Fusses in demselben Grade wie die Dorsalflexoren, und am Arm die 
Flexoren der Finger ebenso sehr wie die Extensoren gelahmt seien. 
v. Monakow fiigt hinzu, dass seiner Ansicht nach der Unterschied 
in der willkurlicben Kraftentfaltung der Fingerflexoren und Exten¬ 
soren dadurch vorgetauscht werde, dass sich erstere im Zustande der 
Kontraktur befinden und allein dadurch mit einer dieser entsprechenden 
Kraft die Finger unwillkbrlich in Beugung gebracht werden. Es ist meines 
Erachtens fast iiberfliissig, zu betonen, dass gar nicht daran zu denken ist, 
Wernicke und Mann hatten nicht verstanden, diesen Unterschied 
zwischen willkurlicher und unwillkiirlicher Beugung durch Kontraktur 
der Flexoren zu machen. Wie die Uuterschiede in den Ergebnissen zu er- 
klaren sind, kann ich hier nicht erbrtern. Ich komme auf die Resultate 
meiner seit vielen Jahren gefuhrten Untersuchungen tiber den Lah- 
mungstypus bei Pyramidenbahnerkrankung demnachst in einer urnfang- 
reichen Arbeit zuriick. Hier will ich nur sagen, dass ich — von einer 
Reihe Ausnahmen, Verschiedeuheiten und Ergiinzungen abgeseheu — 
im grossen und ganzen zu denselben Resultateu wie Wernicke und 
Mann gekommen bin, und dass speziell bei cerebraler Hemiplegie der 
Wernicke-Mannsche Labmungstypus tatsaclilich besteht. Vor allem 
habe ich gefunden, dass am Bein in der grbssten Mehrzahl der Fiille 
die willkiirliche Dorsal flexion des Fusses gelahmt oder stark geschwacht, 
die wilkurliche Plantarflexion aber viel weniger betroffeu ist, und dass 
am Arm die willkiirliche Beugung der Finger auffallend kriiftig ist, 
hingegen die willkiirliche Streckuug mehr oder weniger stark abge- 
schwiicht ist. Allerdings fehlt es bisher noch an einer einigermassen 

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XVIII. Foersteb 


erschopfenden Erklarung dafur, warum gerade bestimmte Maskeln ihre 
willkarliche Kraftentfaltung behalten bezw. nach anfanglicher Lahmung 
wieder erlangen. Zunachst scheint so viel sicher, dass far das Erhalten- 
bleiben bezw. die Restitution der willkQrlichen Kraft irgend einer 
Muskelgruppe uberhaupt trotz vollkommener Unterbrechung der von 
der gekreuzten Hemisphare stammenden corticospinalen Hauptbabn 
das vikariierende Eintreten der in der gleichseitigen Hemisphare ge- 
legenen Hilfsursprungsfelder und der von ihnen ungekreuzt verlaufenden 
Hilfsbabnen (Py ramidenvorderstrangbahn, ungekreuzte Pyramidenseiten- 
strangbahn) fur die betreffende Muskelgruppe erforderlich ist. Wenn 
dieses kompensatoriscbe Eintreten der Hilfsbahnen nicbt stattfinden kann, 
so bestebt eine dauemde vollkommene willkttrliche Lahmung der be- 
treffenden Muskelgruppe. 

FOr den Fall, dass noch ein Teil der Pyramidenbahnfasern f&r 
eine Muskelgrappe erhalten und an sick funktionstfichtig ist, hangt 
nun aber die Frage, ob dieser geringe Teil imstande ist, den Muskel 
wirklich zu einer genOgenden Spannungsentwicklung und Kontraktion 
zu bringen, noch wesentlich von der Anspruchsfahigkeit des spinalen 
Kernes dieser Muskelgruppe fur corticogene Impulse ab. Diese An¬ 
spruchsfahigkeit ist an sicb schon eine verschiedene, wird aber vor 
allem sehr beeinflusst durch die den Kernen der verschiedenen Mus- 
keln aus den Muskeln selbst zustromenden sensiblen Erregungen, spe- 
ziell derart, dass Kontraktur einer Muskelgruppe vermittels der hier- 
durch hervorgerufenen Reizung intramuskularer sensibler Nerven die 
Anspruchsfahigkeit des spinalen Kernes dieser Muskelgruppe erhoht, 
dagegen die des Kernes der antagonistischen Gruppe herabsetzt So 
kommt der Pradilektionstypus bei der Hemiplegie dadurch zustande, 
dass von der gesunden Hemisphare Hilfsfasern fflr die Kerne der 
Muskeln der gelahmten Seite ziehen und dass ein Teil dieser Kerne 
auf die zugeleiteten corticogenen Impulse hin anspricht, ein anderer 
Teil nichk 

Wernicke und Mann hatten zunachst fQr die cerebrale Hemi¬ 
plegie das Bestehen des Pradilektionstypus festgestellt; Mann zeigte 
spiiter, dass derselbe auch fiir die spinale Hemiplegie gelte, und Strfim- 
pell wies nach, dass auch bei spastischer Spinalparalyse die Lahmung 
der Muskeln demselben Typus folge. 

Wernicke hat dann 1902 die Vermutung ausgesprochen, dass 
bei cortikalen Lasionen in der motorischen Zone, die also das Ur- 
sprungsfeld der Pyramidenbahn betreffen, ein anderer Lahmungstypus 
als bei Unterbrechung der Pyramidenbahn in der inneren Kapsel oder 
weiter unterhalb bestiinde, und zvvar, dass sich die Lahmung hier 
nach (iliedabschnitten richte. Er fiihrt als Beleg erstens einen 


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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnlierden. 


353 


Fall an, in dem eine Depressionsfraktur der medialen Halfte des Os 
pariteale, die etwas auf die rechte Seite hiniibergriff, eine fast vollige 
Lahmung der willkurlichen Plantarflexion des recbten Fusses bestand, 
wabrend die Muskeln des Knies und der Httfte keine nennenswerte 
Parese erkennen liessen. In Bezug auf Steifigkeit der Muskeln und 
Steigerung der Sehnenreflexe entsprach der Befund dem Durchschnitts- 
bilde der bemiplegischen Beinlahmung. Wernicke hob femer noch 
hervor, dass er auch bei Rindenverletzungen der Armregion eine nur 
die Hand betreffende, nacb Gliedabschnitten sich richtende Lahmung 
angetroffen habe. 

Ich habe in unmittelbarem Anschluss an Wernickes Vortrag 
darauf hingewiesen, dass bei den infantilen Cerebrallahmungen, die ja 
recht oft cortikale Affektionen sind, die Lahmung oft nach Gliedab¬ 
schnitten angeordnet ist, dass in vielen Fallen von Diplegia spastica 
congenita (Little) die Plantarflexoren und Dorsalflexoren des Fusses 
willkQrlich total oder fast vollstandig gelahmt sind, die Beuger und 
Strecker des Knies weniger, aber einander nahezu gleichmassig, die 
Hfiftmuskeln hingegen gar nicht geschwacht sind. Ferner wies ich 
auch auf die totale Lahmung von Fingerbeugem und Fingerstreckern, 
sowie die gleichmassige Parese von Handbeugern und Handstreckern 
bei Integritat der Kraft der Muskeln des EUbogen- und Schulterge- 
lenkes in einem Falle cerebraler Kinderlahmung mit cortikaler Lokali- 
sation hin. Seitdem ist die Frage, ob der Lahmungstypus bei Rinden- 
erkrankungen, die die Ursprungsstatte der Pyramidenbabn zerstoren, 
ein wesentlich anderer sei als bei Unterbrechung der Pyramidenbahn 
im Him oder im Rfickenmark, nicht eingehender geprQft worden. 
Andeutungsweise wird das Verhalten der Lahmung allerdings hier und 
da gestreift. So sagt z. B. Bonhoeffer 1904, dass sich bei isolierten 
Lasionen im Bereiche der cortikalen Armregion als definitive Aus- 
fallserscheinungen eine vor allem die feineren Bewegungen der Hand, 
die Handfertigkeiten betreffende Storung finde, wahrend die groben 
motorischen Leistungen eine nur geringe, oft gar keine Schadigung 
aufweisen. Eine cortikale monoplegische Storung im Armgebiet, derart, 
dass sie etwa nur den Schulterglirtel oder die Bewegungen im Ellbogen 
betrafe und die Hand frei liesse, werde nie angetroffen. Es konne 
deshalb von einer gliedweisen, den Gelenkabschnitten entsprechenden 
Projektion der Motilitat, entsprechend den Munkschen Anschauungen, 
nach den Erfahrungen der Klinik nicht eigentlich gesprochen werden. 
Stets sei vor allem die Hand geschadigt. Auch v. Monakow be- 
schreibt als charakteristisch fiir die cortikale Armlahmung, dass die 
Bewegungen des Arms, des Ellbogens und der Hand nicht wesentlich 
gestort sind; allerdings zeigten sie dabei eiue leichte Ermlidung uud 


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XVIII. FOEliSTKH 


Zittern. Auch die Finger konnten geoffnet und geschlossen werden, 
ein Gegenstand konne ergriffen und gehalten werden, werde aber ofters 
ganz pldtzlich fallen gelassen; haupsachlich seien die feineren Finger- 
verrichtungen, Knopfen, Aufschliessen usw., meistens dauemd verloren. 
In einem Falle von sehr frfih erworbenem porencephalischen Defekt 
sowohl der vorderen als der hinteren rechten Zentralwindung mit to- 
talem Schwund der rechten Pyramide war der Kranke bei Lebzeiten 
imstande gewe9en, sich des linken Anns bei alien moglichen Ver- 
richtungen des taglichen Lebens und auch beim Ballspiel in geeig- 
neter Weise zu bedienen; eine betrachtliche Ungeschicklichkeit war 
indessen beim Gebrauch der Hand und der Finger nicht zu verkennen 
gewesen. Eine vollstandige Restitution ist nach Monakow bei Er- 
wachsenen selbst nach kleineren Lasionen in der Armregion kaum zu 
erwarten. InsbesOndere bleiben nach ihm unverkennbare Bewegungs- 
storungen im Dauraen und im Zeigefinger zurOck, und zwar sei das 
Wesentliche dieser Bewegungsstorung, dass die betreffenden Finger 
keine Einzelbewegungen mehr ausfiihren konnen. Von der cortikalen 
Beinlahmung sagt v. Monakow nur, dass der Fuss in starkerem 
Grade befallen sei als der Unter- und Oberschenkel. Doppelseitige 
Lasionen der Beinregion konnten Paraplegie der Beine erzeugen, ja 
unter Umstanden konne ein am Sulcus longitudinalis gelegener Tumor, 
der nach der anderen Seite hinQber wachst, Ursache einer solchen Para¬ 
plegie sein. 

Ich moehte nun liber eine Reihe von Beobachtungen bericbten, 
die geeignet sind, die Art und Verteilung der willkurlichen Lahmung 
auf die einzelnen Muskelgruppen genauer zu beleuchten. 

Fall 1. Monoplegia cruralis dextra. Cortikale Tastlahmung der 

rechten Hand. 

A. B., 01 Jahre alt, leidet seit einigen Jaliren an einer langsam zu- 
nehmenden Liihnmng des rechten Beins. Nieinals Krami>fanfalle. 

Status April 1900. Rechter Fuss in leichter Spitzfussstellung, die 
grosse Zehe etwas dorsalflektiert, reehtes Knie in Streckstellung, rechter 
Oberschenkel etwas nach inuen rotiert. Spastische Kontraktur der Plantar- 
tlexoren des rechten Fusses, lebhalter Fussklonus, starke spastische Kon¬ 
traktur der rechten Kniestrecker, geringe der Beuger bei Annaherung ihrer 
Insertionspunkte, deutliehe Kontraktur der Adduktoren und Innenrotatoren 
des rechten Oherschenkels, niiissige Kontraktur der Flexoren und Exten- 
soren, keine der Abduktoren. Lebhalter Patellar- und AchillesreHex. Beim 
St reiehen der rechten P’usssolile Dorsaltlexion der grossen Zehe, leichtc 
Borsalflcxion des rechten Fusses mit tonischer Auspannung des Tib. antic., 
gfi'inge Flexion in Knie- und Huttg(denk. Willktlrliche Dorsalflexion 
des rechten Fusses fast ganz aufgehoben, es kommt nur zu eiuer 
geringen Dorsalflexion der grossen Zehe sowie zu einer leichten Mit- 


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Uber den Lahmimgstypus bei cortikalen Himherden. 


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bewegung in Gestalt von Beugung in Knie und HQfte. WillkQrliche 
Plantarflexiou des rechten Fusses ebenso kr&ftig wie die des linken, 
rechts erfolgt dabei stets eine Mitstreckung des rechten Unterschenkels und 
Oberschenkels. Willkllrliche Flexion des rechten Unterschenkels 
in Bauchlage ganz unmoglich, willkQrliche Streckung sehr kraftig 
unter Mitstreckung von Fuss und Oberschenkel. Der rechte Oberschenkel 
kann ausgiebig gebeugt werden, aber die Kraft der Bewegung ist schwach, 
stets erfolgt dabei eine ausgiebige Mitbeugung des Unterschenkels im Knie 
und eine gewisse Dorsalflexion des rechten Fusses durch Wirkung des 
Tibialis anticus; ein isoliertes Erheben im HQftgelenk des im Knie ge- 
streckten Beins ist unmdglich. Willkllrliche Streckung des rechten Ober¬ 
schenkels ebenso kraftig wie links, es erfolgt dabei aber stets Streckung 
des rechten Unterschenkels und Fusses. WillkQrliche Abduktion des 
rechten Beins sehr schwach, willkQrliche Adduktiou sehr kraftig, willkQr¬ 
liche Innenrotation vollkommen mdglich und sehr kraftig, willkQrliche 
Aussenrotation sehr beschrQnkt. Linkes Bein vollkommen intakt. Gang 
typisch heraiplegisch; rechtes Bein wird nur nachgezogen, in Knie und Fuss 
gar nicht gebeugt, rechtes Bein fungiert als StQtzbein sehr mangelhaft, 
Unterschenkel ist stark nach hinten geneigt, Knie hyperextendiert, Becken 
nach vorn und links geneigt. 

Blase und Mastdarm o. B. 

Rumpf o. B. 

An der rechten oberen Extremitat vollkommen uormale Motilitat, alle 
leinen Fingerverrichtungen geschehen prompt und sicher, er schreibt kalli- 
graphisch. Dageggn besteht vollkommene Tastlahmung an der rechten Hand; 
kein Gegenstand wird durch Tasten erkannt. Dabei ist das GefQhl fQr 
BerQhrung, Schmerz, Warm und Kalt, fQr Druck, fQr passive Bewegungen 
rechts genau so gut wie links. Nur das Lokalisationsvermogen fQr punkt- 
t'ormige BerQhrungen ist an der rechten Hand schwer gestort, der Lokali- 
sationsfehler betragt an der Vola digitor. im Durchschnitt 2 cm. 

Am Kopf keine StOrungen. 

Befund wahrend mehr als einjahriger Beobachtung dauerud ganz gleich. 

Tod im Marz 1907 an Bronchopneumonie. 

Die Sektion ergibt eine diffuse Arteriosklerose der Hirnarterien und 
einen ausgesprochen cortikalen Erweichungsherd im Bereich des 
linken Parazentrallappens und des obersten Viertels der linken 
Zentralwindungen. Im Bereich der hinteren Zentralwindung reicht der 
Herd etwa bis zur Mitte derselben lierab. Der Herd ist Qberall ganz 
strong auf die Binde beschrankt, nirgends ist das subcortikale Marktlager 
ergriffen. Die Rinde ist toils ganz geschwunden, toils sehr stark atrophiert 
und verschmalert. 

Das Wesentliche dieses Fallos, in dem eine ausgesprochene spastische 
Beinliihmung infolge eines strong cortikalen Erweichungsherdes im 
Bereiche der Beinregion bestand, ist das Vorhandensein des Wer- 
nickeschen Lahmungstypus in einer Reiuheit, wie sie bei einer Kapsel- 
hemiplegie nicht besser angetroffen werden kann: die willkQrliche 
Dorsalflexion des Fusses, die Beugung des Unterschenkels sind so gut 
wie ganz aufgehoben, die willkQrliche Flexion, Abduktion und Aussen- 


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XVIII. Foerster 


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rotation sind stark eingeschrankt, dagegen die willkurliche Plantar- 
flexion des Fusses, Streckung des Unterschenkels, Streckung, Adduk- 
tion des Oberschenkels sind fast ebenso kraftig wie auf der gesunden 
Seite. Auch im ubrigen bestehen genau dieselben Symptome der 
spastischen Beinlahmung, wie sie bei der Kapselhemiplegie und bei 
der spinalen Hemiplegie angetroffen werden, also die Steigerung der 
Sehnenreflexe, die charakteristische Modifikatiou des Fusssohlenreflexes, 
die spastischen Kontrakturen und genau die gleicben charakteristi- 
schen unwillkflrlichen Mitbewegungen bei willkurlichen Bewegungen 
der einzelnen Beinabschnitte, mit anderen Worten, der Verlust der 
Fahigkeit zu isolierten Bewegungen der einzelnen Abschnitte des Beins. 
Ich kann hier nicht weiter auf alle diese Mitbewegungen eingehen, 
muss yielmehr diesbezQglich auf die Krankengeschichten yerweisen, 
sowie auf meine frtiheren verschiedenen AusfQhrungen l ) darliber. In- 
teressant ist auch in dem mitgeteilten Falle das Bestehen einer echten 
cortikalen Tastlahmung im Sinne Wernickes ohne Sensibilitatssto- 
rungen im engeren Sinne, die Vergesellschaftung dieser cortikalen 
Tastlahmungen mit Storungen des Lokalisationsvermogens, auf die ich 
1901, Bonhoeffer 1904 aufmerksam gemacht haben, und die ana- 
tomische Grundlage dieser Tastlahmung in einer Erkrankung der hin- 
teren Zentralwindung, wie sie Kramer annimmt. 

Fall 2. Hemiplegia corticalis dextra, motorische Aphasie, 

cortikale Epilepsie. 

A. Ph., 61 Jahre alt FrQher immer gesund. Seit 1900 leidet er 
an Jack sonschen cpileptischen Anfallen in der rechten Kdrperhalfte, die 
im Arm beginnen und alle 4—6 Wochen auftreten, manchmal auch 
Jacksonscke Anfhlle im linken Arm. Seit Ende 1900 allmablich zu- 
nehmende Parese des rechten Arms, spater auch des Beins und motorische 
Aphasie. Sprache hat sich allmahlich wieder etwas gebessert. Seit ca. 2 Jahren 
Status idem. 

Status Januar 1906. Rechtsseitige Lahmung des Lippenfacialis, 
Zunge weicht beira Vorstrecken stark nach rechts ab. Motorische Aphasie, 
kann viele Worte gar nicht sprechen, andere werden schwer und entstellt 
vorgebracht, dabei auch deutliche artikulatorische Storung; Negerstil. Lesen 
und Schreiben (mit der linken Hand geprtlft) sehr gestort. Sprach- 
verstandnis nicht beeintrachtigt. 

1) O. Forster, Mitbewegungen bei Gesunden Nerven- und Seitenkrank- 
heiten. Jena 1903. 

Derselbe, Die Kontrakturen bei Erkraukuugen der Pvramidenbahn. 
lieriiu, Karger 190'i. 

Derselbe, Das Wesen der Koordinationsst<">rung Dei F’rkrankungen der 
Pyramidenbahn und deren Bebandluug durch Resektion hinterer Ritekeumarks- 
wurzelu. Grenzgebiete der Mediziu und Chirurgie. 1009. 


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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 357 

Obere Extremit&t: Die rechte Schulter steht etwas tiefer als die 
linke, der rechte Oberarm etwas abduziert, stark nach innen rotiert, in 
der Frontalebene des Korpers, der Vorderarm etwas flecktiert, die Hand 
proniert and total flecktiert; die Finger in alien Gelenken leicht flecktiert, 
der Daamen adduziert and in den Phalangen flecktiert Es besteht starke 
spastische Kontraktur der Adduktoren and Innenrotatoren des Humerus, 
geringere der Abduktoren, Vor- and Rdckwdrtsbeweger; im Ellbogengelenk 
besteht starke Kontraktur der Beuger, im Handgelenk starke Kontraktur 
der Pronatoren and Flexoren, an den Fingern spastische Kontraktur der 
Beuger mit Clonus, spastische Kontraktur mit Clonus in dem Adduktor 
des Daumens und an den Beugern der Phalangen des Daumens. Die will- 
kdrliche Beweglichkeit verhalt sich folgendermassen. Die rechte Schulter 
kann willkdrlich nur wenig erhoben werden, dabei Miterhebung der linken 
Schulter, Abduktion des rechten Oberarms und Flexion des rechten Vorder- 
arms, keine Mitbewegung der Hand und der Finger. Willkdrliche Ad- 
duktion der rechten Schulter kaum angedeutet, dabei Mitadduktion der 
linken Schulter, leichte Abduktion des rechten Oberarms und Flexion des 
rechten Yorderarms. WillkQrliches Senken der Schulter etwas krdftiger 
als die Hebung, dabei Mitsenkung der linken Schulter; der linke Ober¬ 
arm, der sich bei der willkdrlichen Erhebung der Schulter abduziert hatte, 
adduziert sich wieder, und der Vorderarm, der sich bei der Schulter- 
erhebung flecktiert hatte, extendiert sich wieder. Willkdrliche Vorwdrts- 
bewegung der rechten Schulter besser als die Adduktion, dabei Vorwdrts- 
bewegung der linken Schulter. Die willkdrlichen Bewegungen der linken 
Schulter sind nach alien Richtungen ungestQrt und sind ganz isoliert mbg- 
lich. Der rechte Oberarm kann willkdrlich etwas abduziert werden, dabei 
unwillkdrliche Erhebung der rechten Schulter und Flexion des rechten 
Vorderarms; die willkdrliche Adduktion geliugt auch leidlich, dabei senkt 
sich die rechte Schulter wieder und die Beugung des rechten Vorderarms 
geht wieder zurdek. Die willkdrliche Vorwdrts- uud Rdckw&rtsbewegung 
des Oberarms gelingt gar nicht, ebensowenig die willkdrliche Aussen- 
rotation, dagegen gelingt die willkdrliche Innenrotation etwas. Der rechte 
Vorderarm kann willkdrlich gut gebeugt werden, dabei unwillkdrliche Ab¬ 
duktion des rechten Oberarms und Erhebung der rechten Schulter, keine 
Mitbewegung der Hand und der Finger. Die willkdrliche Streckung des 
Arms gelingt nicht eine Spur, der Krauke kann nicht einmal den vorher 
willkdrlich gebeugten Arm willkdrlich wieder ausstrecken, erst ganz all- 
m&hlich lost sich die entstandene Anspannung der Beuger wieder und geht 
der Vorderarm in die Ausgangsstellung zurdek. Die Hand kann willkdr¬ 
lich nur eine Spur proniert werden, dabei Flexion des Vorderarms und 
Abduktion des Oberarms, die willkdrliche Streckung, Beugung und Supi¬ 
nation der rechten Hand sind nicht eine Spur moglich, auch zeigt sich 
von diesen Bewegungen keine Spur bei noch so kraftvoller Intention der 
gleichen Bewegung linkerseits, auch nicht bei kraftvoller Intention der an 
sich mOglichen Bewegungen des rechten Arms. Mit anderen Worten, es 
kommt bei dem Kranken eine Streckung, Beugung oder Supination der 
Hand durch aktive Muskeltatigkeit nicht zustande. Gleichwohl bestehen 
keine StOrungen der elektrisciien Erregbarkeit, Die willkdrliche Beweg¬ 
lichkeit der Finger und des Daumens der rechten Hand ist total aufge- 
hoben, keine Spur von aktiver Beugung oder Streckung, auch nicht, wenn 


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XVIII. Foerster 


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man die Flexoren bzw. Extensoren durch maximale passive Streckung 
bzw. Beugung in die gttnstigsten mechanischen Verhttltnisse versetzt. 
Auch bei willkttrlicher Beugung oder Streckung der Finger linkerseits 
erfolgt keine Mitbewegung der rechten Finger, ebensowenig erfolgt eine 
solche bei den an sich mbglicheiv Bewegungen des rechten Arms. Ganz 
dasselbe gilt vom rechten Daumen. Derselbe ist vollkommen unbeweglich. 
Lebhafte Steigerung des Tricepsreflexes, des Bicepsreflexes, des Radius- 
periostreflexes, des Sehnenreflexes der langen Fingerbeuger rechterseits. 
Die elektriscbe Erregbarkeit der Muskeln der rechten oberen Extremist 
zeigt keinerlei StOrungen. 

Am Rumpf besteht geringes Zurttckblciben der rechten Brusthttlfte bei 
forcierter Inspiration, und der rechten Abdominalpresse bei forcierter 
Bauchpresse. Bauchdeckenreflex normal. 

An dem rechten Bein steht der Fuss in Spitzfussstellung, es besteht 
spastische Kontraktur der Plantarflexoren des rechten Fusses mit Fuss- 
klonus, spastische Kontraktur der Kniestrecker, der Adduktoren, Flexoren, 
Extensoren, Innen- und Aussenrotatoren des rechten Oberschenkels, leb¬ 
hafte Steigerung des Achilles- und Patellarreflexes. Beim Strich Qber die 
Fusssohle erfolgt Dorsalflexion der grossen Zehe, Anspannung des Tibialis 
anticus sowie in geringem MaBe der Beuger des Knies und des Tensor 
fasciae latae, alle mit Neigung zu tonischer Andauer. Die willkttrliche 
Dorsalflexion des rechten Fusses ist fast total aufgehoben, es erfolgt nur 
eine geringe Dorsalflexion der grossen Zehe und eine sehr geringe An¬ 
spannung des Tibialis anticus, sowie eine geringe Beugung in Knie und 
Httfte. Die willktlrliche Plantarflexion des rechten Fusses geschieht in 
vollem Umfange und selbst gegen grossen Widerstand, dabei stets Streckung 
des Knies und der Httfte. Die willkttrliche Beugung des Unterschenkels. 
in Bauchlage geprttft, gelingt rechts nicht eine Spur, die willkttrliche 
Streckung ist fast ebenso kriiftig wie links, dabei stets Mitstreckung von 
Fuss und Httfte. 1m Httftgelenk geschieht die willkttrliche Beugung leid- 
lich, aber bedeutend schwachcr als links, stets erfolgt dabei eine leichte 
Mitbeugung im rechten Knie und eine Dorsalflexion der rechten Grosszehe 
sowie eine Anspannung des rechten Tibialis anticus. Die willkttrliche 
Streckung des rechten Oberschenkels geschieht rechts fast ebenso kriiftig 
wie links, es erfolgt dabei stets kriiftige Mitstreckung des rechten Unter¬ 
schenkels und Fusses. Willkttrliche Abduktion des rechten Beins sehr 
beschriinkt, willkttrliche Adduktion ebenso kriiftig wie links, willkttrliche 
Jnnenrotation etwas, willkttrliche Aussenrotation sehr beschrttnkt. Der 
Gang des Kranken ist typisch hemiplegisch. Das rechte Bein wird nur 
wenig in der Httfte vorgesetzt und zwar nur bis ans linke vordere Bein 
herangezogen, es wird in Knie und Fuss nicht eine Spur dabei gebeugt. 
Als Sttttzbein fungiert es schwach und unsicher, der Unterschenkel ist 
dabei stark gegen den Fuss nach hinten geneigt, das Knie ist hyper- 
extendiert, das Beckon ist nach vorne und nach links geneigt. 

Blase und Mastdarm zeigen keine Storung. Die Sensibilitat ist fftr 
die einfachen Qualitaten, also fttr die Bortthrung, ffir Schmerz, fttr Warm 
und Kalt, fiir Druck und fttr passive Bewegungen der Glieder an der 
rechten Kdrperhiilfte ganz intakt. Dagegen besteht eine vollkommene Tast- 
lahmung an der rechten Hand, man kann die Gegenstande noch so sehr 
in der Hand hin- und herhewegen, ilm durch die Finger ziehen, er er- 


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Uber den Liihmungstypus bei eertikulen Hirnherden. 


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kennt nicbts; links erkennt er, sowie man ihm nur den Gegenstand in die 
Hache Hand legt, denselben sofort. Anch ist das Lokalisationsvermdgen 
tar punktfOrmige BerOhrungen an der rechten Hand schwer geschadigt, er 
verwechselt die berQhrten Finger fortw&hrend, macht Lokalisationsfebler 
von 4—5 cm an der Vola digitorum, an Vorderarm und Oberarra ist die 
Lokalisation viel besser. Am rechten Bein bestehen nur sebr geringe 
Storungen der Lokalisation gegenbber dor linken Seite. 

Der Zustand des Kranken ist jahrelang ganz stationar geblieben. 

In dem eben mitgeteilten Falle liegt zwar kein Autopsiebefund 
vor, doch spricht die Jacksonsche Rindenepilepsie, beginnend im 
rechten Arm, femer die allmahliche Entwicklung der rechtsseitigen 
Hemiplegie aus einer rechtsseitigen Monoplegia brachialis, die typische 
motorische Aphasie und die vollkommene Tastlahmung der rechten 
Hand ohne entsprechende Sensibilitatsstorungen dafiir, dass eine Rinden- 
affektion vorliegt. Was nun zuniichst die Beinlahmung in dem vor- 
liegenden Falle anlangt, so zeigt auch sie den Wernickeschen 
Priidilektionstypus in derselben Reinheit wie der vorangehende Fall. 
Auch in Bezug auf die iibrigen Symptome der spastischen Beinlah¬ 
mung, die Steigerung der ReHexe, die Modifikation des Fusssohlen- 
reflexes, die spastischen Kontrakturen, die charakteristischen unwill- 
kiirlichen Mitbewegungen bei willkurlichen Bewegungen der einzelnen 
Beinabschnitte sind hier wie dort die gleichen und weichen in nichts 
von dem Verhalten ab, wie es bei der Kapselhemiplegie gefunden wird. 
Auch die Gangstorung ist in beiden Fallen genau die gleiche, die 
typisch hemiplegische, das kranke Bein wird, wenn es als Schwung- 
bein fungiert, im Fuss und Knie gar nicht gebeugt, in der Hufte 
unter leichter Zirkumduktion nur bis an das gesundo vordere Bein 
herangezogen, als StQtzbein fungiert es schwach und unsicher, der 
Unterschenkel ist gegen den Fuss nach hinten geneigt und beugt sich 
nicht nach vorn liber wie in der Norm, das Knie ist etwas hyper- 
extendiert, das Becken und mit ihm der ganze Oberkorper ist vorn- 
uber gebeugt und sinkt mit der freien (linken) Halfte herab. Die Phase 
der einseitigen Untersttttzung ist, wenn das rechte Bein die Stiitze 
bildet, daher sehr abgekiirzt. 

Auf das Verhalten der Armlabmung in diesem Falle gehe ich hier 
zuniichst noch nicht ein, sondern ich komme darauf erst weiter unten 
zurQck. Jedenfalls beweisen die beiden mitgeteilten Falle, 
dass an sich der Lahmungstypus bei der cortikalen Mono¬ 
plegia cruralis kein anderer zu sein braucht, als er es bei 
Unterbrechung der Pyramidenbahn weiter abwarts, in der 
inneren Kapsel usw., ist, und jedenfalls kommt dem Satz, bei 
cortikaler Beinlahmung richte sich die Anordnung der Liihmung eo 


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XVIII. Foerstkr 


ipso uach Gliedabschnitten, keine allgemeine Giiltigkeit zu. Wir haben 
also die Frage an der Hand weiterer Falle zu prufen. 

Fall 3. Tuberkel in derRinde des linken Parazentrallappchens, 

cortikale Lahmung des rechten Fusses, Rindenepilepsie. 

E. G., 13 Jahre alt. Am 1. XII. 1907 plOtzlich erkrankt mit Fieber, 
Kopfschmerzen, Erbrechen, heftigen Leibschmerzen und Durchfallen. Nacii 
einigen Tagen Krampfanfalle im rechten Bein, die sich wiederholen am 6. XII. 
Aufnahme ins Allerheiligenhospital (Professor Ercklentz). Dort schwerer 
epileptischer Anfall, danach langere Zeit benommeD. 

7. XII. Sensorium vollkommen frei, leichte Temperatursteigerung. 
Kopfschmerzen, Steifigkeit beider Beine im Kniegelenk. Gang breitbeinig, 
Knie schlecht gebeugt. Im Bett choreatische Unruhe der Glieder. An 
beiden FQssen Andeutung von Fussklonus. 

Im weiteren Verlauf derselbe Befond, nur lasst die choreatische Unruhe 
der Glieder nach. 

27. XII. Typischer Jack sonscher Anfall, beginnend im rechten Fuss, 
und zwar langere Zeit isolierte klonische Krampfe im Tibialis anticus, 
dann auf den Extensor h. 1. tibergreifend, dann im ganzen rechten Bein 
tonisch-klonische Krampfe, allmahlich den rechten Arm, das rechte Gesieht, 
zuletzt auch die linke Kftrperhalfte ergreifeDd. 

28. XII. Rechterseits Fussklonus, auch links angedeutet. Rechts 
Babinski links wechselnd. Steifigkeit des rechten Kniegelenks (Qua- 
dricepskontraktur). Rechts deutliches Tibialisphanomen, links ist dasselbe 
angedeutet. Patellarreflexe beiderseits lebhaft, rechts > links. Keine 
Tastlahmung. Augenhintergrund o. B. Kopfschmerzen. Temperatur 38°. 

In den folgenden Tagen entwickelt sich eine vollkommene Lahmung 
der willkOrlichen Beweglichkeit des rechten Fusses. Zuerst besteht Lahmung 
des Tibialis anticus, am nachsten Tage auch des Extensor d. c. 1., wfihrend 
der Extensor liallucis links noch etwas funktioniert, Schwache der willkOr- 
lichen Plantarflexion des rechten Fusses; am 2. I. 1908 besteht voll¬ 
kommene Lahmung der willkOrlichen Dorsalflexion und Plantar- 
flexion des rechten Fusses. Dabei besteht nicht die geringste 
Parese der Beuger und Strecker des Knies sowie der HOft- 
muskein. Bei willkOrlicher Beugung des rechten Beins in Knie und 
HOfte gegen Widerstand sowie bei willkOrlicher Beugung des Unter- 
schenkels in Bauchlage beugt sich der rechte Fuss unter Qberwiegender 
Wirkung des Tibialis anticus unwilkQrlich (Tibialisphanomen). Diese 
Mitbewegung kann nicht unterdrUckt werden. Sie tritt auch auf bei 
passiver Beugung des Beins in Knie und HOfte oder bei passiver Flexion 
des Unterscbenkels. Bei willkOrlicher Streckung des Beins erfolgt un- 
willkOrliche Plantarflexion des Fusses. Bei einem Strich Qber die Fuss- 
solile erfolgt ausser leichter Beugung des Ober- und Unterscbenkels tonische 
Anspanuung das Extensor halluc. longus (Babinski -(-) und des Tibialis 
anticus. ebenso tonische Anspannung des Tibialis anticus bei Strich Qber 
das Periost der Innenfhiche der Tibia (Oppenlieim). Rechts ausge- 
sprocbener Fussklonus. Geringer spastischer Widerstand der rechten Knie- 
strecker bei passiver Flexion, bei aktiver Flexion nicht merklich. Rechts 
lebhafter Patellarreflex mit Patellarklonus. Am linken Bein besteht nur 


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Uber den Liihmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 


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leichter Fussklonus, Babinski -j-, aber wechselnd und etwas gesteigerter 
Patellarreflex. Beim Gang hangt der rechte Fuss ganz herab und streift 
mit der Spitze tlber den Boden, aber Unterschenkel und Oberschenkel 
werden ausgiebig gebeugt, ja sogar starker als in der Norm, um die 
Lahmung der Dorsalflexion des Fusses zu kompensieren, typische Step- 
page. Keine Sensibilit&tsstOrungen. Obere Extremitaten, Kopfnerven, 
Augenhintergrund, Blase und Mastdarm ganz ungestOrt. Puls sehr frequent. 
Temperaturkurve zeigt steile Spitzen (abends 89,2—39,5). Uber den Lungen 
stellenweise etwas Schallverkflrzung und feinblasige Rasselgerausche. Kein • 
Husten. Kein Auswurf. Keine Leukocytose. 

Im Folgenden bleibt der Befund genau der gleiche. Sowohl der Fuss- 
klonus wie der Bab inski sche Zehenreflex sind linkerseits recht wechselnd 
und inkonstant. Dagegen entwickelt sich am rechten Bein eine Sensi- 
bilitatsstdrung. Am 10.1. 1908 Berdhrungsempfindung am ganzen rechten 
Bein etwas, am Fuss sehr stark herabgesetzt. Schmerz- und Temperatur- 
empfindung erhalten. Drucksinn ungestbrt Gefiihl fQr passive Bewegungen 
an den Zehen und am Fuss erloschen, im Knie und HOftgelenk stark ver- 
mindert LokalisationsvermOgeu am rechten Bein sehr gestdrt. Aus- 
gesprochene Ataxie des rechten Beins beim Erheben, beim Kniehacken- 
versuch usw. Beim Gang schwankt das Kind stark nach der rechten Seite. 

Am 13. I. Jacksonscher Anfall, der nur das rechte Bein betrifft, 
Fuss zeigt tonisch-klonische, Unterschenkel und Oberschenkel tonische 
Krampfe. 

Am 14. I. erneute Anf&lle, die sich auch auf den rechten Arm, das 
Gesieht, den Kopf und die Augen erstrecken. Sonst Status idem. 

Die typischen Jacksonschen Anfftlle, die immer im rechten Fuss 
beginnen, im Verein mit der typischen spastischen Lahmung des rechten 
Fusses bei Integritat der willkOrlichen Bewegungen des Unterschenkels 
und Oberschenkels wiesen auf eine cortikale Affektion im Bereiche des 
oberen Viertels der linken Zentralwindung und zwar speziell im Fokal- 
gebiete des Fnsses, also im Parazentrallappchen hin. Die Sensibilitats- 
storungen im rechten Bein und die Ataxie desselben deuteten darauf hin, 
dass die Affektion nicht streng auf die vordere Zentralwindung beschrankt 
sei, sondern auch die hintere, eventuell auch den Parietallappen oder den 
corticopetalen Anteil des Stabkranzes der genannten Windungen in Mit- 
leidenschaft gezogen. Und der, allerdings schwankende Fussklonus und 
das ebenfalls inkonstante Bab inski sche Zehenphanomcn deuteten darauf 
hin, dass auch das rechte Parazentrallappchen mitgeschadigt sei. Wegen 
des andauernden Fiebers und des allerdings sparlichen Lungenbefunds 
wurde an Tuberkulose gedacht und ein Solitartuberkel in der Rinde an- 
genommen. Daher am 23. I. Trepanation (Professor Tietze). Es gelang 
aber nicht die postulierte Steile freizulegen. In den folgenden Tagen 
starke Zunahme der Krampfe, die sich rasch generalisieren, erhebliche 
Verschlechterung des Allgemeinbefindens, dauernd hohe Temperaturen, 
Cyanose, Dyspnoe. Am 28. I. Exitus im Status epilepticus. Bei der 
Autopsie fand sich erstens eine typische Miliartuberkulose der Lungen und 
des Darms, und zweitens ein kirschgrosser verkiister Konglomerat- 
tuberkel im linken Lobulus paracentralis. Derselbe sitzt in der 
Rinde und wfllbt sich an der Medianflache der Hemisphare liervor, an 
dieser Steile drangt er die Dura nach rechts herftber und tlbt einen I)ruck 


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XVIII. Foerster 


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auf das rechte Parazentrall&ppchen aus, in demselben eine deutlich sicht- 
bare Impression hervorrufend. 

Es haudelt sich in diesem Falle um eine cortikale Affektion 
(Rindentuberkel) im Bereich des linken Parazentrallappchens. Die- 
selbe batte sich einmal durch typische Jacksonsche Anfalle, die stets 
im rechten Fuss begannen odersich ausschliesslich auf ihn beschrankten, 
geaussert. Hervorzuheben ist, dass zu Beginn des Anfalls isolierte 
klonische Zuckungen allein im Tibialis anticus bestanden, die minuten- 
lang andauerten, dann auch den Extensor ballucis longus mitergriffen 
und erst nach einer weiteren Weile in einen tonisch-klonischen Krampf 
des ganzen Beins fibergingen. Icb lege Wert darauf, gerade im Zu- 
sammenhang mit dem eigentlicben Gegenstand dieser Arbeit den iso- 
lierten Krampf eines einzelnen Muskels, des Tibialis anticus, spater 
auch des Extensor halluc. longus bei Rindenreizung hervorzuheben. 
In dieser Beziehung erinnert der Fall sehr an einen Fall von Jastro- 
witz, bei dem ein kleiner Tumor in der hinteren Zentralwindung ca. 
4 cm von der Langsspalte entfernt wochenlang isolierte Krampfe im 
Extensor hallucis longus hervorgerufen hatte. 

Was die motorischen Ausfallserscheinungen in unserem Falle au- 
langt, so ist das Wesentlichste eine totale Lahmung der will- 
kurlichen Dorsalflexion und Plantarflexion des rechten 
Fusses bei vollkommener Integritat der willkfirlichen Be- 
wegungen des Unterschenkels und der Hiifte, sowohl in Be- 
zug auf Umfang der Bewegung als auch auf Kraftentfaltung. 

Es besteht also bei dieser cortikalen Affektion eine Anordnung 
der Lahmung streng nach Gliedabschnitten: der Fuss willkfirlich total 
gelahmt, Unterschenkel und Oberschenkel ganz intakt, also ein Ver- 
halten, das noch reiner ist, als es in dem 1902 von Wernicke mit- 
geteilten Falle cortikaler Beinlahmung vorlag. Im tibrigen zeigt diese 
cortikale Koordinationsstorung des Fusses dasselbe charakte- 
ristische Verhalten der Stbrung, welches bei jeder Pyramidenbahn- 
erkrankung, einerlei, an welcher Stelle dieselbe gelegen ist, besteht. 
Die betreffenden Muskelgruppen, in diesem Falle die Dorsalflexoren 
und die Plantarflexoren des Fusses, sind nur willktirlich gelahmt, d. h. 
die ihnen zufallende Bewegung kann nur willkurlich nicht mehr 
ausgefiihrt werden, dagegen haben dieselben Muskelgruppen ihre retlek- 
torisch-subcortikale Erregbarkeit keineswegs eingebusst, im Gegenteil 
ist dieselbe int'olge des Wegtalls der cortikalen Inhibition gesteigert 
tind kann vom Kranken nicht ausgeschaltet werden, was in der Norm 
outer Umstiinden moglich ist (unwillkurliche Dorsalflexion des Fusses 
und der grossen Zehe [Babinski +1 bei einern Strich fiber die Fuss- 
sohle oder fiber die lnnenfliiche der Tibia, eventuell mit tonischer An- 


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Cber den Lahmungstypus bei cortikaleu Hirnlierden. 


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dauer [Oppenheim +], unwillkurliche Dorsalflexion des Fusses bei 
willkurlicher Beugung des Beins in Knie und Hlifte gegen Wider- 
stand [StrGmpell], oder bei willkurlicher Beugung des Unterschenkels 
in Bauchlage [Foersfcer] oder auch bei passiver Ausfiihrung dieser Be- 
wegungen [Foerster], Unfahigkeit, diese Mitbewegungen zu unter- 
drficken — Fussklonus, gesteigerter Achillesreflex, unwillkurliche Plan- 
tarflexion bei willkurlicher Streckimg des Beins in Knie und Hufte 
oder bei willkurlicher Streckung des Unterschenkels in Bauchlage, oder 
bei passiver Ausfiihrung dieser Bewegungen [Foerster]). 

Das Betroffensein des Fusses bei Integritat der Bewegungen des 
Unterschenkels und Oberschenkels beherrscht auch die Gangstorung. 
Das Bein wird beim Vorsetzen in Hufte und Knie vollkommen ge- 
beugt, dagegen hangt die Fussspitze total herab und streift entweder 
uber den Boden oder es wird kompensatorisch eine ausgiebigere He- 
bung des Beins in Knie und Hlifte ausgefiihrt, wodurch typische 
Steppage entsteht wie bei peripherer Lahmung der Dorsaltlexoren 
des Fusses. 

Beilaufig sei hier nur der Sensibilitatsstorung gedacht, die im 
weiteren Verlauf im rechten Bein auftrat und welche die Beruhrungs- 
empfindung, die Bewegungsempfindungen und das Lokalisationsvermogen 
betraf, die Schmerz-, Temperatur- und Druckempfinduugen dagegen 
frei liess. Verbunden war die Stoning der Bewegungsempfindung mit 
einer deutlichen Ataxie des ganzen Beins beim Erheben, beim Knie- 
hackenversuch undeinem Schwanken beim Gang nach der rechten Seite. 

Pall 4. Lues cerebri, cortikale Lahmung des rechten Fusses. 

M. 0., 31 Jahre alt. Vor 5 Jahren luetisch intiziert. Wiederholt 
spezifisch behandelt. Seit mehreren Monaten Kopfschmerzen, besonders auf 
der Hohe des Scheitels lokalisiert und zunehmende Schwiiche des rechten 
Fusses. Ant'angs streifte derselbe nur beim Gauge etwas tiber den Boden. 
jetzt kann er den Fuss schou seit Wochen gar nicht niehr bewegen. Oft 
klonische Zuckungen im rechten Fusse. 

Status praesens Miirz 1906. Ausgesprochene Druck- und Klopf- 
cmpfindlichkeit des Os parietale gerade auf der Hbhe des Scheitels beider- 
seits von der Mittellinie, links mehr wie reclits. Druckeinplindliehkeit des 
linken N. infra- und supraorbitalis. Gehirnnerven sonst o. B. Augen- 
hintergrund normal. Obere Extremitaten canz olme Stoning, nur ist der 
reclite Tricepsreflex und der rechte RadiuspcriostroHox lebhafter als der 
linke. Rumpf o. B. Alalominalretlex beiderseits vorhanden. 

Der rechte Fuss ist in Equinusstellung, die Zehen, besonders die 
grosse Zehe desselben, sind dorsal Hektiert. Starker spastischer Wider- 
stand der BlantarHexoren des rechten Fusses mit lehhaftem Fussklonus; 
hat man den Fuss einige Zeit (10—15 Minuten) in extremer Dorsalllexion 
gehalten, so zeigen nuninehr auch die Dorsaltlexoren deutlichen spastischen 


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XVIII. Foerstek 


Widerstand bei ihrer Dehnung. Die willktirliche Beweglichkeit des 
rechten Fusses ist total aufgehoben, er kann willkOrlich weder 
cine Spur dorsal- noch plantarflektiert werden. Bei der An- 
strengung dazu ftlhrt der linke Fuss eine deutliche Mitbewegung im Sinne 
der Dorsal- bzw. Plantarflexion aus. Bei willktlrlicher Beugung des rechten 
Beins in Knie und Htlfte gegen Widerstand und bei willktlrlicher Beugung 

_des Unterschenkels gegen den Oberschenkel in 

Bauchlage begibt sich der rechte Fuss, unter 
Uberwiegen des Tibialis anticus, unwillktlrlich 
in deutliche Dorsalflexion. Diese unwillkQrliche 
Mitbewegung kommt auch zustande, wenn man 
passiv den Unterscbenkel in Bauchlage gegen den 
Oberschenkel flecktiert. Bei willktlrlicher for- 
cierter Streckung des rechten Unterschenkels 
ftlhrt der rechte Fuss unwillktlrlich eine ener- 
gische Plantarflexion aus. Bei der willkdrlichen 
Dorsal- oder Plantarflexion des linken Fusses 
aber kommt es zu keiner Mitbeugung oder 
-Streckung des rechten Fusses. Bei einem Strich 
tlber die Fusssohle kommt es, neben der leichten 
Beugung von Knie und Htlfte (Tensor fasciae) 
zu einer tonischen Anspannung des Extensor 
hallucis longus (Babinski -f-) und des Tibialis 
anticus; letzterer gerat auch bei einem Strich 
tlber das Periost der Tibiainnenflache in tonische 
Anspannung (Oppenheim -)-). Der Achillesreflex 
ist gesteigert. Die willktirliche Beugung und 
Streckung des rechten Unterschenkels und die 
willktirliche Beweglichkeit im rechten Htlftge- 
lenk sind nach keiner Richtung hin beschrankt 
oder abgeschwacht. Die Strecker des rechten 
Kniegelenks zeigen eine leichte spastische An¬ 
spannung bei passiver Beugung, sonst bestehen 
keinerlei Andeutungen erschwerter passiver Be¬ 
weglichkeit. Der Patellarreflex ist rechts sehr 
gesteigert. Der Kremasterreflex ist vorhanden. 

Am linken Bein bestehen ganz normale 
Verhaltnisse, nur besteht Andeutung von Fuss- 
klonus und positiver Babinski, letzterer ist aber 
inkonstant. Der Gang des Kranken ist hOchst 
charakteristisch. Der rechte Fuss hangt total 
herab und seine Spitze streift beim Vorsetzen des 
rechten Beins tlber den Boden. Dagegen ist die Beugung des rechten Unter¬ 
schenkels und Oberschenkels in keiner Weise eingeschr&nkt, vielmehr, um 
das Streifen der Fussspitze tlber den Boden zu umgehen, ansgiebiger wie links. 



Fig. 1. 

Cortikale Fussliih- 
mung in Fall 4. 
Mangelnde Dorsalflexion 
des Fusses bei guter Knie- 
u. Oberschenkelbeugting 
wiihrend des Ganges (Step* 
page). 


Blase und Mastdarm zeigen keine StOrung. 

Sensibilitat durchgehends normal. 

Wegen der syphilitischen Anamnese wird eine Calomelkur eingeleitet, 
die aber keine Besserung bringt, nur die Kopfschmerzen lassen nach. 
Auch eine erneute Calomelkur, die einige Monate nach Beendigung der 


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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Himherden. 


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ersten vorgenommen wird, bringt nor geringe Besserung der motorischen 
Lahmung des rechten Fusses. Es besteht uach wie vor eine fast voll- 
kommene Aufhebung der willkttrlichen Dorsal- und Plantarflexion des 
rechten Fusses. Fussklonus und Babinski nach wie vor beiderseits positiv. 

In diesem Fall 4 liegt zwar kein Autopsiebefund vor. Doch gleicht 
derselbe in Bezug auf die Lahmung des rechten Beins dem voran- 
gebenden so vollkommen, dass wir mit grosser Wahrscheinlichkeit 
eine luetische Rindenaffektion im linken Parazentrallappcben annebmen 
dtirlen. Auch in diesem Falle zeigt sich wieder, dass die willktirliche 
Beweglichkeit des Fusses und zwar sowohl die Dorsalflexion als auch 
die Plantarflexion total aufgehoben sind, wahrend die willktirliche Be¬ 
weglichkeit des Unterschenkels und Oberschenkels vollig intakt ist, 
also eine Anordnung der Lahmung von exquisit segmentalem 
Typus. Im Hbrigen ist die reflektorisch-subcortikale Erregbarkeit der 
cortikal gelahmten Muskeln ebenso wie im vorigen Fall erhalten, ge- 
steigert und nicht unterdrQckbar (Fusssohlenreflex +, Babinski -f- 
Oppenheim -f-, unwillkurliche Dorsalflexion des Fusses bei willkhr- 
licher oder passiver Beinbewegung usw., Fussklonus usw.). Auch der 
Gang zeigt genau dasselbe Verhalten, das to tale Fehlen der Dorsal- 
flexion des Fusses beim Vorsetzen und infolge dessen das Streifen der 
Fusspitze uber den Fussboden bei vollig ausgiebiger, ja kompensato- 
rischgesteigerter Unterschenkel- und Oberschenkelbeugung (Steppage, 
Fig. 1). Der einzige Unterschied zwischen Fall 3 und 4 liegt in den 
Fehlen der Sensibilitatsstorung und der aus ihr entspringenden Ataxie 
in dem betroffenen Bein in Fall 4. 

Falls. Cortikale Lahmung des linken Fusses, spiitor des linken 
Beins, noch spater auch der linken Schulter. 1 ) 

A. T., 19 Jahre alt. Soit oinigen Wochen Schwache im linken Fuss, 
derselbe schleift beim Gehen tlber den Boden. Haufig Kopfschmerzen, 
besonders nachts. 

Status am 10. II. 1907. Linker Fuss in vollkommener Spitzfuss- 
stellung, Zehen in gerader Verlangerung des Fussrtlckens, spastische Kon- 
traktur der Plantarflexoren mit Fussklonus; linker Achillesreflex ge- 
steigert. Willktirliche Beweglichkeit des linken Fusses total aufgehoben, 
weder die Dorsalflexion noch die Plantarflexion ist willkttrlich auch nur 
eine Spur mOglich, ehensowenig konnen die Zehen eine Spur willkilrlirh 
bewegt werden. Beim Versuch der Kranken, den linken Fuss dorsalzu- 
flektieren oder plantarzuflektieren, geriit der rechte Fuss in Mitheugung. 
hzw. Mitstreckung: bei willktlrlicher Bewegung des rechten Fusses keine 
Mitbewegung des linken. Bei Beugung des linken Beins in Knie und 
Ilttfte gegen Widerstand sowie bei Beugung des linken Unterschenkels in 

1) Der Fall ist von mir auf der inneren (Prof. Ercklcntz) und chirur- 
gischen (Prof. Tiet/.e) Abteilung des Allerheiligenhospitals beobaehtet worden. 

Deutsche Zeitschrift f. Nurvenhcilkunde. 37. IM. 24 


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XV1IL Foehster 


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Bauchlage gegen Widerstand erfolgt Anspannung des linken Tibialis 
anticus. Bei kr&ftigem Strich fiber die linke Fusssohle Anspannung des 
Extensor hallucis longus (Babinski -)-) und des Tibialis anticus mit 
tonischer Andauer. Kein Oppenheim. 

Knie in der Ruhe in Streckstellung passiv vollkommen frei beweglieh. 
Keine spastischc Kontraktur des Quadriceps oder der Beuger, will¬ 
kfirliche Streckung und Beugung des Unterschenkels in vollem Umfange 
und mit voller Kraft mfiglich; auch in Bauchlage bei der Beugung des 
Unterschenkels keine EinschrSnkung und keine Mitbewegung des Ober¬ 
schenkels, der Fuss ffihrt nur bei Widerstand eine Mitbewegung aus. 
Oberschenkel aktiv und passiv in vollem Umfange und mit voller Kraft 
nach alien Richtungen hin isoliert beweglieh. Patel larreflex links etwas 
lebhafter als rechts. Keine Ataxie des linken Beins. 

Am rechten Bein Andeutung von Fussklonus und Babinski, sonst keine Sto- 
rung. Rumpf, obere Extremititten, Gehirnnerven, Blase und Mastdarm o. B. 

Augenhintergrund normal. 

Sensibilit&t ganz ungestOrt. 

Beim Gang streift die linke Fussspitze, die ganz herabhfingt, ttber den 
Boden, Knie und Oberschenkel werden vermehrt gebeugt (Steppage). 

Status am 25. II. 1907. Linker Fuss in deutlicher Equinovarus- 
stellung, grosse Zehe steht dorsalflektiert. Kontraktur der Plantarflexoren, 
lebhafter Fussklonus, Babinski +, totale willkfirliche L&hmung des linken 
Fusses, im Obrigen dasselbe Verhalten wie anfangs. Im linken Knie 
spastische Kontraktur der Strecker, lebhafter Patellarreflex links; deutliche 
Parese der willkttrlichen Flexion des linken Unterschenkels in Bauchlage, 
dabei starke Mitbewegung des linken Oberschenkels und linken Fusses. 
WillkOrliche Kniestreckung nur wenig abgeschw&cht (Mitstreckung des 
linken Oberschenkels und linken Fusses dabei). In der linken HQfte 
besteht keine Kontraktur und keine Einschrfinkung der willkfirlichen Be- 
weglichkeit, beim Erheben des linken Beins Neigung des linken Knies, in 
Flexion, und der grossen Zehe in Dorsalflexion zu geraten. Am rechten 
Fuss Fussklonus und wechselnder Babinski. Beim Gange streift die linke 
Fussspitze stark fiber den Boden, linkes Knie wird nicht gebeugt, Ober¬ 
schenkel unter Abduktion vorgesetzt. Wenn das linke Bein als Stfitzbein 
fungiert, ist es im Knie stark hyperextendiert. 

Im Obrigen absolut normales Verhalten. 

Status am 3. III. 1907. Am linken Fuss genau dasselbe Verhalten 
wie fruher, im linken Knie Spasmus der Strecker, sehr gesteigerter Patellar¬ 
reflex, willkfirliche Beugung des linken Unterschenkels fast ganz unmfig- 
licli, dabei starke Mitbeugung des Oberschenkels und Fusses. WillkOrliche 
Streckung des linken Knies auch etwas abgeschw&cht, doch bedeutend 
hosser als die Beugung (Mitstreckung von Oberschenkel und Fuss). In 
der Ilfifte willkfirliche Erhebung des linken Beins mfiglich, doch schwach, 
dabei innner Mitbeugung in Knie und Fuss; willkfirliche Streckung etwas 
abgeschw&cht, willkfirliche Abduktion ganz erloschen, willkfirliche Adduk- 
tion etwas abgeschw&cht, willkfirliche Innenrotation und willkfirliche Aussen- 
rotatinn beide sehr beeintr&chtigt. Deutliche spastische Kontraktur der 
Adduktoren, Innenrotation und Aussenrotation. Rechtes Bein zeigt Fuss- 
clonus und Babinski, sonst o. B. 

Beim Gange wird das linke Bein in der Ilfifte nur rofihsara etwas 


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Ober den LahmuDgstypus bei cortikalen Hirnherden. 


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vorgesetzt ohne Beugung von Knie und Fuss; wenn das linke Bein als 
Sttitzbeiu fungiert, ist das Knie hyperextendiert, das Becken sinkt nach 
vorne tlber und ganz nach rechts herunter, die Wirbelsaule wird kompen- 
satorisch nach links verlegt. 

Im Obrigen Status idem. 

Starke Kopfschmerzen, Erbrechen. Beginnende Temperatursteigerungen. 

Status am 10. III. 1907. An den unteren Extremitaten genau 
derselbe Befund wie frdher. 

Ausserdem besteht eine hochgradige Lahmung der linken Schulter, 
dieselbe steht tiefer wie die rechte und mehr nach vorne gertickt als 
die rechte. Sie kann gar nicht gehoben, gar nicht adduziert werdeu, 
etwas vorwarts bewegt werden; die Schulter kann gegen den leisesten 
Widerstand nicht gesenkt werden. Dabei hebt sich die Schulter prompt 
mit, sobald die Kranke den linken Arm emporhebt, und diese Mithebung 
ist ebenso ausgiebig wie auf der rechten Seite. Wahrend aber diese Mit¬ 
hebung der Schulter beim Erheben des Arms rechterseits, wenigstens zu 
Anfang der Erhebung, leicht unterdrtlckt werden kann, ist dies links ganz 
unmbglich. Linker Oberarm, linker Vorderarm, Hand und Finger sind 
aktiv und passiv absolut frei beweglich, nicht die geringste Beeintrachtigung 
der feinen Fingerverrichtungen. Keine Tastlahmung an der linken Hand. 
Keine Sensibilitatsstorung. 

Im Obrigen Status idem. Kopfschmerzen, Erbrechen, Fieber dauern 
fort. Es wird ein operatives Vorgehen beschlossen, da ein Tuberkel im 
Bereiche des oberen Drittels der rechten Zentralwindung wahrscheinlich 
erscheint. Operation aber abgelehnt. Es werden grosse Dosen Jodkali 
gegeben, 3—5 g pro die. Nach wenig Tagen lassen Kopfschmerz, Fieber 
und Erbrechen ganz nach. Jod weiter gegeben. 

Status am 20. III. 1907. Linkes Bein Status quo ante, am rechten 
Bein ist Fussklonus und Babinski verschwunden. Linke Schulter steht 
noch tiefer als die rechte, kann aber willkOrlick etwas erhoben werden, 
dabei aber Miterhebung der rechten Schulter und Abduktion des linken 
Oberarms; beide Mitbewegungen kbnnen nicht unterdrOckt werden. Die 
rechte Schulter kann vollkommen isoliert erhoben werden. Die willkQr- 
liche Adduktion der linken Schulter ist etwas moglich, aber sehr schwach 
und durch leichten Widerstand zu unterdrQcken; sie ist stets von einer 
ausgiebigen Adduktion der rechten Schulter begleitet, wiihrend diese letztere 
ganz isoliert adduziert werden kann. Die willkUrliche Yorwtirtsbewegung 
der linken Schulter ist noch deutlich eingeschr&nkt und recht schwach, 
stets von einer VorwOrtsbewegung der rechten Schulter begleitet, wahrend 
diese ganz isoliert vorbewegt werden kann. WillkQrliches Senken der linken 
Schulter sehr abgeschwacht, man kann z. B. die Kranke nicht an den herab- 
hangenden Oberarmen emporheben, da der linke Oberarm den SchultergOrtel 
vollkommen nach oben driingt. Linker Oberarm, Vorderarm, Hand und Finger 
ganz ohne StOrung, keinerlei spastischcr Widerstand der Muskeln, keine Ein- 
schrOnkungoder Abschwachung der willkQrlichen Beweglichkeit, auch kOnnen 
alle isolierten Bewegungen ausgefilhrt werden, nur beim Erheben des Ober¬ 
arms erfolgt stets Miterhebung der Schulter. Keine Tastlahmung. 

In den folgenden Monaten bleibt der Befund im wesentlichen derselbe. 
Doch kehrt allmahlich geringe willkQrliche Beweglichkeit in die Plantar- 
Hexoren des linken Fusses und in die DorsalHexoren der grossen Zehe 

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XVIII. Foerster 


wieder. Auch die Kniestreckung wird wieder ganz kr&ftig, ebenso die 
Oberschenkelstreckung, Adduktion und Innenrotation; die willkQrliche 
Unterschenkelbeugung und willktirliche Abduktion des Oberschenkels bleibt 
fast ganz gelithmt, die Flexion des Oberschenkels und die Aussenrotation 
bleiben abgeschwtlcht. Am rechten Fuss wieder bisweilen Fussklonu9 und 
Babinski. An der Schulter bleibt der Befund auch der gleiche. Allgemein- 
erscheinungen bestehen nicht mehr. Die Kranke wird mit diesem Befunde 
im August 1907 nach Hause entlassen. 

Auch in diesem Falle liegt kein Autopsiebefund vor. Dennoch 
ist es hochst wabrscheinlich, dass es sich um eine Rindenaffektion im 
Gebiete der rechtsseitigen Beinregion handelt. Zunachst glich der Be- 
fund wieder ganz genau dem Befund in Fall 3 und 4. Es bestand 
vollkommene Aufhebung der willklirlichen Dorsalflexion 
und Plantarflexion des Fusses bei volliger Integritat der 
willklirlichen Beweglichkeit desUnter- und Oberschenkels, 
also wieder nur eine Monoplegia pedis; auch hier beziiglich der 
reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit der willklirlicb gelahmten Dor¬ 
sal- und Plantarflexoren dasselbe typische Verhalten wie in Fall 3 
und 4 und wie iiberhaupt in alien Fallen von Pyramidenbahnerkran- 
kung mit Beteiligung des Fusses; auch hier dieselbe typische Gang- 
stoning wie in Fall 3 und 4. Im weiteren Verlaufe bleibt aber die 
Lahmung nicht beschrankt auf den Fuss, sondern es entsteht auch in 
Unterschenkel und Oberschenkel eine Lahmung der willklirlichen Beweg¬ 
lichkeit, nur zeigt diese hochst interessanterweise den Wernickeschen 
Pradilektionstypus; es sind also gelahmt oder stark paretisch die willkiir- 
liche Beugung des Unterschenkels, die willktirliche Flexion, Abduktion, 
Aussen-und Innenrotation des Oberschenkels, wahrend die willkiirliche 
Streckung des Unterschenkels sowie die Streckung und Adduktion des 
Oberschenkels relativ sehr kraftig sind. Dieser Befund, soweit Unter- 
und Oberschenkel in Frage kommen, weicht also vom Wernickeschen 
Pradilektionstypus nur noch darin ab, dass auch die willktirliche 
Innenrotation des Oberschenkels gelahmt ist Doch hat diese spater 
wieder fast voile Kraft erlangt Obrigens hat sich auch im weiteren 
Verlaufe die willktirliche Plantarflexion des Fusses spurenweise wieder 
eingestellt, doch blieb sie danernd sehr viel mehr betroffen, als es bei 
der Kapselhemiplegie und in imseren Fallen 1 und 2 der Fall ist. 
Beacht-enswert ist vielleicbt noch die Reihenfolge, mit der die Lahmung 
der willkiirlichen Beweglichkeit die einzelnen Muskelgruppen ergriff; 
nachst der Lahmung des Fusses warden die Flexoren des Knies, dem- 
nachst die Abduktoren des Oberschenkels und zuletzt auch die anderen 
Muskeln des lJiiftgelenks ergriffen. 

Endlich soli noch erwiihnt werdeu, dass, als aus der Monoplegia 
pedis die Monoplegia cruris sich entwickelte, naturlich auch die iibrigen 


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Uber den Liihmuugstypus bei cortikalen Hirnberden. 369 

Symptome derselben, die gesteigerte reflektorisch-subcortikale Erreg- 
barkeit der Beinmuskelu, also die Steigerung des Patellarreflexes, die 
Kontrakturen, die typischen unwillkflrlichen Mitbewegungen sich ein- 
stellten und dass naturgemass auch die Gangstorung deD typisch hemi- 
plegischen Charakter annahm. 

Auf die im weiteren Verlauf in diesem Falle noch hinzutretende 
Schulterlahmung gehe ich hier noch nicht ein. 

Pall 0 . Tumor der oberen Halfte der rechten Zentralwindung. 
Monoplegia cruris sinistri, Beteiligungdes rechtenBeins, sp&ter 

Monoplegia brachialis. 1 ) 

H. T., 51 Jahre alt, frfiher stets gesund, seit 1905 Geffihl von Steifig- 
keit im linken Fuss, allmtlhlich immer starker, das ganze Bein einnehmend. 
Seit Anfang April 1906 Schwindel. Keine Kopfschmerzen. 

Status am 27. IV. 1906. Innere Organe o. B. Kopf nirgends 
Druck- oder Klopfempfindlichkeit. Augenhintergrund o. B. Pupillen gleich 
weit, reagieren prompt. Gehirnnervcn o. B. Am linken Bein befindet 
sich der Fuss in vollkommener Equinusstellung, die grosse Zehe ist dor- 
salflektiert, spastische Kontraktur der Planfarflexoren des linken Fusses 
mit starkem Fussklonus. Babinski links -j-, lebhafter Achillesreflex links. 
Willktlrliche Beweglichkeit des linken Fusses fast total erloschen. Beim 
Versuch der Dorsalflexion richtet sich nur die grosse Zehe etwas dorsal- 
warts, im Qbrigen ist die Dorsalflexion und auch die Plantarflexion will- 
kUrlich ganz aufgehoben. Beim Strich fiber die Fusssohle unwillkfirliche 
Kontraktion des Extens. b. 1. und des Tibialis anticus mit tonischer An- 
dauer, ebenso beim Strich fiber die Innenflfiche der Tibia tonische Kon¬ 
traktion des Tib. antic. Bei wrillkfirlicher Beugung des linken Beins in 
Knie und Hfifte gegen Widerstand erfolgt unwillkfirliche Mitbeugung des 
linken Fusses (Tibialisphfinomen), ebenso bei willkfirlicher Streckung des 
linken Beins unwillkfirliche Plantarflexion des Fusses. Dieselben Mitbe¬ 
wegungen des Fusses finden statt bei passiver Beugung bezw. Streckung 
des linken Beins in Knie und Hfifte. 

Im linken Knie, das in Streckstellung befindlich, besteht spastische 
Kontraktur der Strecker, auch solclie der Beuger, wenn das Bein eine 
kurze Weile in Beugung gebracht ist. Patellarklonus, lebhafter Patellar- 
reflex, willktlrliche Flexion des linken Unterschenkels sehr abgeschwficht, 
dabei unwillkfirliche Dorsalflexion des linken Fusses durch Tibialis- 
wirkung und unwillkfirliche Flexion des linken Oberschenkels. Will- 
kfirliche Streckung des linken Unterschenkels recht kr&ftig, dabei uu- 
willkttrliche Plantarflexion des Fusses und unwillkfirliche Extension des 
Oberschenkels. In der Hfifte spastische Kontraktur der Adduktoren und 
Innenrotatoren, geringe der Flexoren und Extensoren. Die grobe Kraft der 
willkfirlichen Bewegungen des Oberschenkels ist ffir keine Muskelgruppe 
herabgesetzt, auch ist keine Bewegung eingeschrankt; beim Erheben des 
Beins kommt es zu einer Mitbewegung der grossen Zehe in Dorsalflexion. 


1) Der Fall ist von mir auf der inneren Abteilung (Prof. Stern) des 
Allerheiligenspitals beobachtet worden. 


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XVIII. Foerstek 


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Das Erheben des linken gestreckten Beins and das Setzen der linken Ferse 
aufs rechte Knie l&sst eine deutliche Ataxie erkennen. 

Am recbten Bein besteht Fussklonus, Babinski +, Kontraktur derKnie- 
strecker und leichte der Adduktoren, gesteigerter Patellarreflex, keine Pare>e. 
keine Ataxie, angedeutetes Tibialisphanomen. Am linken Bein ist die Schmerz- 
und Temperaturempfindung nicht geschadigt, die BerQhrungsempfindung herab- 
gesetzt; stark berabgesetzt ist der Drucksinn, die Bewegungsempfindung und 
das Lokalisationsvermogen. Am rechten Bein keine Sensibilitatsstorung. 

Am Rumpf besteht Fehlen der Bauchdeckenreflexe, keine Parese der 
Bauchmuskeln, keine Sensibilitatsstdrung. 

Keine Blasen- und Mastdarmstdrungen. 

An der linken oberen Extremitat besteben ebenso wie an der rechten 
keinerlei Stdrungen. 

Status am 4. V. 1906. Linker Fuss total willkQrlich gelahmt, 
auch die grosse Zebe wird nicht mehr beim Versuch der Dorsalflexion 
aufgerichtet; sonst Status quo ante. Willktlrliche Flexion des linken 
Unterschenkels in Bauchlage so gut wie erloschen. WillkQrliche Flexion 
des linken Oberschenkels stark paretisch, stets von einer Beugung des 
Knies und einer Dorsalflexion der grossen Zehe begleitet, wiilkQrlicbe 
Extension des linken Oberschenkels aucb abgeschwacht, wiilkQrlicbe Ab- 
duktion uumdglich, Innenrotation und Aussenrotation sebr beschrankt, will- 
kQrliche Adduktion leidlich erbalten. 

Ataxie des linken Beins nicht mehr so stark wie frOher in dieAugen fallend. 

Am recbten Bein Fussklonus, Babinski inkonstant, meist +, Kontrak¬ 
tur der Kniestrecker und Adduktoren, keine Paresen, keine Ataxie. 

Sensibilitat wie frQber. 

Keine Blasen- und Mastdarmstorung. 

An der linken oberen Extremist besteht eine fast vollkommene Liih- 
mung der Scbulter, dieselbe steht tiefer wie die rechte Schulter, die pas¬ 
sive Beweglichkeit stbsst auf leicbten spastischen Widerstand nach alien 
Richtungen; willkQrlich kann die linke Schulter nicht so hocb erhoben 
werden wie die rechte, dabei bewegt sicli die rechte stets stark mit, und 
der linke Oberarm wird abduziert. Diese Mitbewegungen konnen nicht 
unterdrQckt werden, wahrend die rechte Schulter willkQrlich ganz isoliert 
erhoben werden kann. Die wiilkQrlicbe Adduktion der linken Schulter 
gelingt garnicht, es kommt nur zu einer leicbten Mitbewegung der 
rechten Schulter im Sinne der Adduktion. Dabei begiebt sich aber die linke 
Schulter unwillktirlich in ausgiebige Adduktion, sobald die Kranke Oberarm 
und Vorderarm kr&ftig nach aussen rotiert, oder sobald sie mit dem linken 
Oberarm nach hinten adduziert, um die rechte Geshssh&lfte zu kratzen. Die 
willktirliche VorfQhrung der linken Scbulter ist ganz unmdglich, sobald die 
Kranke aber den linken Oberarm vorfQhrt, um die linke Hand auf die rechte 
Schulter zu legen, bewegt sich auch die linke Schulter unwillkQrlich weit 
nach vorn. WiilkQrlicbe Senkung der linken Schulter ausserst schwach. 

Passive und aktive Beweglichkeit des linken Oberarms, Vorderarms. 
der Hand und der Finger ganz ungostbrt. Speziell sei betont, dass die 
Supination der Hand, die Opposition des Daumens nicht die geringste Be- 
schrankung zeigt, es kann der Zeigetinger oder der Daumen isoliert ge- 
beugt oder gestrcckt werden. Audi besteht keine Ataxie des Arms oder 
der Finger. A He Fingerverrichtungen giinzlich ungestort. 


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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnlierden. 371 

- Nach wenigen Tagen ist die Schulterlabmung eine totale, die willkOr- 
liche Hebung ist jetzt auch ganz erloschen, dabei erhebt sich aber die 
linke Selmlter bei der Erhebung des linken Oberarms unwillkOrlich genau 
so gut wie rechterseits, aber diese unwillkOrliche Mitbewegung kann nicht 
unterdrQckt werden. Ira ttbrigen ist das motorische Verhalten des linken 
Arms genau so wie bisher. Aber es besteht jetzt vollkommene Tast- 
lahmung an der linken Hand; auch ist das Lokalisationsverraogen an 
derselben schwer geschadigt, meist gibt die Kranke einen ganz falschen 
Finger an, Oder wenn der Finger richtig erkannt wird, so betritgt der 
Lokalisationsfehler doch mekrere Zentimeter. Dabei ist die BerGhrungs- 
empfindung, Schmerzempfindung, Temperaturempfindung, der Drucksinn, das 
GefGhl fttr die Vibration einer Stimmgabel ganz intakt. Dieser Befund 
bleibt die folgenden Wochen ganz der gleiche. 

Status am 9. VII. An der linken unteren Extremitat fast derselbe 
Befund wie frOher. Lahraung des Fusses, der Beuger des Enies, der Ab- 
duktoren, Flexoren und Aussenrotatoren des Oberschenkels, Kniestrecker und 
Innenrotatoren etwas paretisch, ebenso die Extensoren des Oberschenkels, 
am besten sind die Adduktoren. Rechts spastische Kontraktur des Qua¬ 
driceps und der Adduktoren, keine Paresen und keine Ataxie am rechten 
Bein. Dagegen Fussklonus -j-, Babinski -)-, StrOmpell +. Sensibilitat am 
linken Bein wie frOher: StOrungderBerOhrungsempfindung, Druckempfindung 
und Bewegungsempfindung, keine der Schmerz- und Temperaturempfindung. 

Am Rumpf fehlen beiderseits die Bauchdeckenreflexe, die linksseitige 
Abdominalmuskulatur zeigt Parese bei der willkQrlichen Bauchpresse wie 
beim Emporrichten aus der RQckenlage. Bei forciertem Inspirium bleibt 
der linke Brustkorb zurOck. 

Am linken Arm Schulterlabmung genau wie frOher. Oberarm zeigt 
spastischen Widerstand der Adduktoren, Innenrotatoren, Vorwarts- und 
RGckwartsbeweger; willkOrlich kann der Arm nach vorne nicht Qber die 
Horizontale erhoben werden, Bewegung nach hinten sehr beschrankt, Er¬ 
hebung nach der Seite Ober die Horizontale moglich, Innenrotation recht 
kraftig, ebenso die Adduktion; Aussenrotation sehr beschrankt. Bei der 
willkQrlichen Abduktion des Humerus unwillkOrliche Erhebung der Schulter 
und Flexion des Vorderarms. Im Ellbogen leichter spastischer Widerstand 
der Beuger und Strecker, willkOrliche Beugung und Streckung unge- 
sckwacht, dabei stets unwillkOrliche Abduktion bzw. Adduktion des Ober¬ 
arms. Leichter spastischer Widerstand der Pronatoren der Hand. Keine 
Parese der Handbewegungen; kein spastischer Widerstand der Fingerbeuger. 
keine Parese der Fingerbewegungen, Opposition des Daumens uneinge- 
schrankt, Flexion und Extension eiues einzelnen Fingers moglich, knopft init 
der linken Hand, wenn auch schwerfalliger als mit der rechten Hand. 

Ausgesprochene Ataxie der linken Hand beiin Ergreifen eines Glases, 
beim FOhren desselben zum Munde. 

Tastlahmung wie frOher. Storung der Bewegungsempfindung besonders 
im linken Schultergelenk, sehr gering in den Fingergelenken, Druck¬ 
sinn etwas lierabgesetzt am ganzen linken Arm, BerGhrungsempfindung, 
Schmerz- und Temperaturempfindung ganz ungestort. Lokalisationsvermogen 
sehr gestort. 

Im weiteren nimmt die Bewegungsstorung am linken Arm erheblich 
zu, die Streckung der Finger wird mangelhaft, es kann kein Finger einzeln 


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XVIII. Foerster 


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extendiert werden, Fingerbeugung noch recht krttftig, aber einzein un- 
moglich, Daumen wird noch bis zum Kleinfinger opponiert, aber das 
1. Metacarpale wird nicht mehr genttgend flektiert und rotiert. Bei der 
Opposition Beugung samtlicher Finger. Abdnktion nnd Extension des 
Daumens noch gut. WillkQrlicbe Handstreckung abgeschwacht, ebenso 
Supination. Vorderarmbeugung und -streckung etwas schwacher. Bei der 
Vorderarmbeugung stets Pronation der Hand, bei der Fingerbeugung stets 
Extension der Hand. 

BerQhrungsempfindung, Drucksinn und Bewegungsempfindung am linken 
Arm stark herabgesetzt. Schmerz- und Temperaturempfindung ungeschadigt. 
Tastlahmung besteht fort. 

Im weiteren Verlauf treten Erbrechen und Ohnmachtszustandc auf. 
Augenbintergrund normal. 

10. VIII. Linker Arm weiter sehr verschlechtert. Starke Kon- 
trakturen der Schulter und des Oberarms, des Vorderarms, der Hand 
(Pronatoren und Flexoren) und der Finger (Flexoren). Willkttrlich Schulter 
unbeweglich, Oberarm kann etwas abduziert werden (dabei Flexion des 
Vorderarms und Pronation der Hand), er kann etwas nach innen rotiert 
und adduziert werden (dabei Extension des Vorderarms), sonst willkttr- 
lich unbeweglich. Vorderarm wird noch gut flektiert (dabei Abductio 
humeris et Pronatio manus). WillkQrliche Extension aufgehoben. Hand 
kann willkttrlich gar nicht extendiert und supiniert, etwas flektiert und 
proniert werden; bei letzterer Bewegung Flexion des Vorderarms und 
Abduktion des Oberarms. Finger werden willkttrlich zur Faust geschlossen, 
dabei Handstreckung, Extension der Finger fast ganz aufgehoben. Daumen 
kann mit den anderen Fingern zur Faust geschlossen werden, sonst auch 
willkttrlich unbeweglich. 

Sensibilitttt wie frfiher. 

Rumpf Status quo ante. 

Untere Extremitat auch Status quo. 

In diesem Zustande verblieb die Kranke in der Folge. Erbrechen, 
Benommenheit hilufen sich. 

7. XI. Hypostatische Pneumonic. 

11. XI. Exitus letalis. 

Bei der Autopsie findet sich ein oberflachlicher Tumor, der die obere 
Halite der rechten Zentralwindung einnimmt; der Tumor greift vorne auf den 
Fuss der ersten und zweiten Stirnwindung ttber, hinten auf die vorderen Ab- 
schnitte des oberen und einen Teil des unteren Scheitellappchens, oben auf 
den Parazentrallappen ttber. Es handelt sich um ein Endotheliom. Die Binde 
ist ttberall an der Stelle des Tumors vollkommen in diesen aufgegangen. 
Er haftet an einer kleinen Stelle an der Falx cerebri und an der Dura 
der Konvexitat fest an, von der er offenbar seinen Ausgangspunkt ge- 
nomnien hat. 

In diesem Falle 6 handelt es sich also wieder um eine durch 
Autopsie belegte cortikale Aftektion, einen oberflachlichen Tumor der 
rechten Zentralwindung, welcher seinen Ausgang von der rechten Seite 
der Falx cerebri genommen und fuglich zuerst das rechte Parazentral- 
liippcheu betroffen hat, allmahlich sich nach unten iiber die Konvexi- 


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Uber den Lahmuogstypas bei cortikalen Hirnherden. 373 

tat ausbreitend. Die motoriscbe Storung bestand zuerst in einer totalen 
Lahmung der willkurlichen Dorsalflexion und Plantarflexion des linken 
Fusses, also in einer Monoplegia pedis, allerdings war auch die 
willkurliche Flexion des Unterschenkels abgeschwacht, alle ubrigen 
Muskelgruppen zeigten keine Beeintrachtigung ihrer willkurlichen 
Kraftentfaltung; doch bestanden bereits am ganzen recbten Bein, also 
auch am Unterschenkel und Oberscbenkel, die Zeichen der gesteigerten 
reflektorisch - subcortikalen Erregbarkeit der verschiedenen Muskel¬ 
gruppen, d. h. die gesteigerten Sehnenreflexe, Kontrakturen und vor 
allem die unwillkttrliche Mitbewegung bei willkUrlicher Bewegung des 
Unter- oder Oberschenkels. Ausserdem bestand am linken Bein eine 
deutliche Bewegungsataxie beim Erheben des Beins im Htiftgelenk, 
beim Kniehackenversuch, als Folge einer gleichzeitig vorhandenen 
Sensibilitatsstorung, die Beruhrungsempfindung, die Bewegungsempfin- 
dung, die Druckempfindung und das Lokalisationsvermogen betreffend. 

Im weiteren Verlauf entwickelt sicb dann eine Monoplegia crura- 
lis, bei der die willkurliche Beweglichkeit des Fusses nach wie vor ganz 
aufgeboben ist, wahrend die Lahmung der Muskeln des Unter- und 
Oberschenkels im wesentlichen den Wernickeschen Pradilektions- 
typus zeigt: stark abgeschwacht oder ganz gelahmt ist die willkurliche 
Beugung des Unterschenkels, die Beugung, Abduktion und Aussen- 
rotation des Oberschenkels, wahrend die Strecker des Unterschenkels, 
die Extensoren, Adduktoren und Innenrotatoren des Oberschenkels gar 
nicht oder doch weniger betroffen sind. Immerhin muss betont werden, 
dass die Kraft der willkurlichen Innenrotation und Extension des 
Oberschenkels sowie auch der Streckung des Unterschenkels in diesem 
Falle eine merklich starkere Einbusse erkennen lasst, als z. B. in dem 
vorangehenden Falle und in den Fallen 1 und 2. Die ubrigen Sym- 
ptome der spastischen Beinlahmung, die gesteigerten Sehnenreflexe, die 
Kontrakturen, der Beugereflex sowie die unwillkttrlichen Mitbewegungen 
zeigen dasselbe typische Verhalten wie in den anderen Fallen. Auf 
die Monoplegia brachialis sowie auf die Sensibilitatsstorungen am Arm 
wird weiter unten eingegangen. — 

tjberblicken wir nunmehr das Verhalten der Beinlahmung in den 
bisher mitgeteilten 6 Fallen im Zusammenhang, so ist zu betonen, dass 
eine Zerstorung, die die Rinde in der Beinregion betrifft, an sich 
keinen anderen Lahmungstypus zu erzeugen braucht, als wir ihn bei 
dem Durchschnittsbilde der Kapselhemiplegie antreffen; das beweisen 
Fall 1 und 2, in denen der Wernickesche Pradilektionstypus in ex- 
quisiter Weise angetroffen wurde. Dafur spricht auch in der Haupt- 
sache die Verteilung der Lahmung der willkurlichen Beweglichkeit auf 
die einzelnen Muskeln des Unterschenkels und Oberschenkels, welche 


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XVIII. Foekstf.r 


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in den Fallen 5 und 6 angetroffen wird und welche den Pradilektions- 
typus im wesentlichen befolgt. Ganzlich abweichend vom Pradilek- 
tionstypus ist aber das Verhalten des Fusses in den Fallen 3, 4, 5 
und 6, indem dessen willktirliche Beweglichkeit sowohl im Sinne der 
Dorsalflexion als auch der Plantarflexion total erloschen ist. Ziehen 
wir dazu noch die weitere Tatsacbe in Betracht, dass in Fall 3 u, 4 
wahrend der ganzen Beobacbtungsdauer die Lahmung der willkur- 
lichen Beweglichkeit sich ausschliesslicb auf den Fuss beschrankte, 
bei volliger Integritat der willkurlichen Kraftentfaltung der Muskeln 
des TJnter- und Oberschenkels, hier also eine wirkliche Monoplegia 
pedis bestand, und dass auch in den Fallen 5 u. 6 anfangs eine iso- 
lierte totale Monoplegia pedis (Fall 5) vorlag oder doch gegenuber 
derselben die geringe Parese der Knieflexoren zunachst in den Hinter- 
grund trat (Fall 6) und erst im weiteren Verlauf auch Unter- und 
Oberschenkel in die Lahmung einbezogen wurden, so ist nicht ab- 
zuleugnen, dass alle diese dem von Wernicke 1902 mitgeteilten Falle 
von cortikaler Beinlahmung recht ahneln und einer Anordnung 
der Lahmung nach Gliedabschnitten bei cortikalen Herden das Wort 
reden konnten. Wie sind diese scheinbaren Widerspruche zu ver- 
einen? Zunachst geht mit Sicherheit aus den Fallen 3, 4, 5 und 6 
hervor, dass die Ursprungsfelder der Pyramidenbahnfasern ftir die 
Muskeln des Fusses in der Beinregion getrennt von denen ftir die 
Muskeln des Unter- und Oberschenkels, wabrscheinlich im Lob. 
paracentralis gelegen sind und isoliert betroffen werden konnen (Fall 3 
und 4). Mit der getrennten Lagerung der Ursprungsfelder ftir Fuss, 
Unter- und Oberschenkel stimmt auch die allmahliche Ausbreitung der 
Lahmung in Fall 5 und 6 iiberein, die anfangs den Fuss betrifft, danu 
den Unterschenkel (wesentlich die Flexoren) und wieder spater erst 
den Oberschenkel (wesentlich die Adduktoren, die Flexoren, Aussen- 
rotatoren) ergreift. Dass wir in Fall 1 und 2 eine Lahmung von 
Muskeln des Fusses, Unter-und Oberschenkels antreffen, hangt einfach 
damit zusammen, dass in ihnen die ganze Beinregion betroffen ist. 

Innerhalb der cortikalen Ursprungsfelder der Pyramidenfasern fur 
die einzelnen Gliedabschnitte (Fuss, Unter- und Oberschenkel) sind 
nun aber weiter noch die Ursprungsfelder der Pyramidenbahnfasern 
ftir die einzelnen Muskelgruppen, also z. B. ftir die Dorsalflexoren und 
fur die Plautarflexoren des Fusses, getrennt gelagert, und innerhalb 
dieser Foci fiir die einzelnen Muskelgruppen bestehen isolierte Foci 
fiirjeden einzelnen Muskel, ja wahrscheinlich ftir einzelne Teile eines 
einzelnen Muskels. Das ist zuerst von dem Entdecker der elektrischen 
Erregbarkeit der Hirnriude und der Lokalisation derselben innerhalb 
der vorderen Zeutralwinduug, von Hitzig, bereits betont worden, seit- 


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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 


375 


dem vielfach bezweifelt Oder nicht genugend scharf hervorgehoben 
worden. Ganz isolierte Muskelzuckungen habe ich bei pathologiscber 
Reizung der Rinde der vorderen Zentralwindung sehr oft gesehen. 
Unser Fall 1 zeigte das sehr deutlich: isolierte Zuckungen des Tibialis 
anticus oder des Extensor hallucis longus (vgl. den Fall von Jastro- 
witz); in anderen Fallen habe ich isolierte klonische Zuckungen ein- 
zelner Bundel des Quadriceps wahrend langerer Zeit beobachtet. Ich 
komme auf diesen Punkt noch einmal bei Besprechung der Armregion 
zurlick. Dagegen sind isolierte cortikale Muskellahmungen innerhalb 
der Beinregion m. W. bisher noch nie beobachtet worden. 

Wenn wir nun in unseren Fallen 3, 4, 5 und 6 eine isolierte 
Lahmung der willkUrlicben Beweglichkeit des Fusses und zwar der 
Dorsalflexion wie der Plantarflexion antreffen, so konnte es scheinen, 
dass diese einfach durch die Zerstorung des in der linken (bezw. 
rechten) Zentralwindung gelegenen Ursprungsfeldes der Pyramiden- 
fasern fttr die Dorsaltlexoren und Plantarflexoren des rechten (bezw. 
linken) Fusses erschopfend erklart ist. So einfach liegt es aber nicht. 
Denn in Fall 1 ist das in der linken Zentralwindung gelegene Ur- 
sprungsfeld fur den rechten Fuss auch ganz zerstort und trotzdem ist 
die willkurliche Plantarflexion desselben gar nicht gelahmt, ebenso wie 
bei jeder totalen Unterbrechung der Pyramidenbahn in der linken 
inneren Kapsel, wo doch auch das linke Fussursprungsfeld ganz von 
der Verbindung mit dem rechten Fuss abgeschnitten ist, die Plantar¬ 
flexion dieses letzteren nicht gelahmt ist. 

Wir wissen, dass neben dem Hauptursprungsfeld in der linken 
Zentralwindung fGr den rechten Fuss (far den rechten Unterschenkel 
usw.) noch ein Hilfsursprungsfeld fur diesen rechten Fuss auch 
in der rechten Zentralwindung gelegen ist und dass von diesem aus 
Hilfspyramidenbahnfasern durch die rechte innere Kapsel usw. unge- 
kreuzt in der rechten Pyramidenvorderstrangbahn und in homolateralen 
Fasern der rechten Pyramidenseitenstrangbahn zu den Muskeln des 
rechten Fusses verlaufen. 

Diese Hilfsursprungsfelder und die von ihnen staramende unge- 
kreuzte Pyramidenvorderstrangbahn sowie die ungekreuzten Pyramiden- 
seitenstrangfasern treten bei Zerstorung, sei es des Hauptursprungs- 
feldes in der linken Zentralwindung, sei es der Hauptbahn in der 
linken inneren Kapsel, kompensatorisch ein und ubernehmen die Zu- 
leitung von Willensimpulsen zu den Muskeln des rechten Fusses 
(Unter- und Obersclienkels). In der Regel aber partizipieren an dieser 
Kompensation nur die Plantarflexoren des Fusses, die Strecker des 
Knies, die Strecker, Adduktoren und Innenrotatoren des Oberschenkels. 
Warum diese funktionelle Bevorzugung einer bestimmten Reihe von 


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376 


XVIII. Foerster 


Muskeln vor einer anderen Reibe besteht, kann hier nicht erortert werden. 
Diese bat ihren Grrund gar nicbt in bestimmten Verhaltnissen des 
Cortex oder der Pyramidenbahn, sondern in einer differenten Anspruchs- 
fahigkeit der spinalen Kerne der verschiedenen Muskelgruppen auf 
corticogene Impulse. Nur so viel ist sicher, dass ffir das Zustandekom- 
men einer willkurlichen Plantarflexion des rechten Fusses (Streckung 
des Unterschenkels usw.) bei Zerstorung des Hauptursprungfeldes in 
der linken inneren Kapsel die funktionelle Tuchtigkeit des Hilfsur- 
sprungfeldes in der rechten Zentralwindung und der von ihm ab- 
gehenden Hilfsbahn Bedingung ist. Ist dieses Hilfsursprungsfeld auch 
geschadigt, so bleibt die Kompensation aus, die willktirliche Plantar- 
flexion ist ebenso wie die Dorsalflexion ganz erloschen. In unserem 
Falle 1 und 2 ist das Hauptursprungsfeld fttr die Muskeln des rechten 
Beins in der linken Zentralwindung zerstort, daber Monoplegia cru- 
ralis dextra, aber das Hilfsursprungsfeld fur die Muskeln des rechten 
Beins in der rechten Zentralwindung ist als intakt anzusehen, da gar 
keine Zeicben einer Erkrankung der rechten Zentralwindung vorliegen; 
dasselbe tritt kompensatorisch ffir das zerstorte Hauptfeld ein, daber 
besteht der Wernickescbe Pradilektionstypus. Anders in Fall 3—6. 
In alien vier Fallen besteben Zeicben, die auf eine Schadigung auch 
der gegenuberliegenden Beinregion hinweisen, ein Punkt, auf den ich 
bisher noch nicht eingegangen bin, der mir aber von der grossten 
Wichtigkeit zu sein scheint. In Fall 3 lag ein Tuberkel des linken 
Parazentallappens vor, daber Monoplegia pedis dextri, der Tuberkel 
prominierte und fibte auch auf das rechte Parazentrallappchen einen 
Druck aus, in demselben eine deutliche Impression hervorrufend; die 
Schadigung dieses rechten Parazentrallappens gab sich klinisch er- 
stens in dem Besteben von Fussklonus und Babinski auch am linken 
Fuss zu erkennen. Diese Mitschadigung des rechten Parazentral- 
lappchens bedingte nun aber auch eine Stoning der Funktion der hier 
gelegenen Hilfsursprungsfelder fur die Muskeln des rechten Fusses, 
daher bleibt die Kompensation aus, die Plantarflexoren sind ebenso 
gelahmt wie die Dorsalflexoren. In Fall 4 (Erkrankung des linken 
Parazentralliippchens — Monoplegia pedis dextri) genau die gleichen 
Verhaltnisse; die Mitschadigung des rechten Parazentrallappchens ist zwar 
nicht anatomisch erwiesen, aber klinisch durch Bestehen von Fuss¬ 
klonus und Babinski am linken Fuss dargetan, daher auch Versagen 
des Hilfsursprungsfeldes fur die Muskeln des rechten Fusses, Fehlen 
der Kompensation, totale willktirliehe Lahmung der Plantarflexion des 
rechten Fusses. Und so ist auch in Fall 5 und 6 die Mitschadigung 
auch des anderen Parazentrallappens klinisch dargetan, in Fall 6 
(Tumor der rechten Zentralwindung — Monoplegia cruralis sinistra) 


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tjber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 


377 


sogar anatomiscb erwiesen. Hier bestand rechts sogar ausser dem Fuss- 
klonus und Babinski noch Kontraktur der Strecker des Knies und der 
Adduktoren der Hfifte. Daher Versagen des im linken Parazentral- 
lappchen gelegenen Hilfsursprungsfeldes fur die Muskeln des linken 
Fusses und totale willktirliche Lahmung der Dorsalflexion und Plantar- 
flexion desselben. Ja in diesem Falle sind wohl auch die links ge¬ 
legenen Hilfsursprungsfelder flir die Muskeln des linken Unterschen- 
kels und Oberschenkels etwas mitgeschadigt, wodurch sich die merk- 
licbe Abschwachung auch der Streckung des linken Unterschenkels 
und der Streckung und Innenrotation des linken Oberschenkels er- 
klaren dfirfte. Auch in dem 1902 von Wernicke mitgeteilten Falle 
von cortikaler rechtsseitiger Beinlahmung, der auf einer Depressions- 
fraktur des linken Scheitelbeins, die aber fiber die Medianlinie nach rechts 
herfibergriff, beruhte, und in dem eine fast totale Lahmung der will- 
kurlichen Dorsalflexion und Plantarflexion des linken Fusses bestand, 
waren hochst charakteristischerweise auch Anzeichen der Mitschadigung 
der rechtsseitigen Beinregion vorhanden. Von Babinski und Fuss- 
klonus ist zwar in der kurzen Mitteilung fiberhaupt nichts erwahnt, 
aber es bestand eine Lahmung der Abduktoren der linken Httfte. 

Man konnte gegen die hier vorgetragene Auffassung, flir die Lah¬ 
mung der Plantarreflexoren des Fusses sowie die Schwache der Strecker 
des Knies und der Extensoren und Innenrotatoren der Hufte des er- 
krankten Beins eine Mitschadigung des in der homolateralen Zentral- 
windung gelegenen Hilfsursprungsfeldes der Pyramidenfasern ffir das 
erkrankte Bein, mitanderen Worten die Doppelseitigkeit der Erkrankung 
zur Erklarung heranzuziehen, den Einwand erheben, dass dann doch auch 
eine totale Lahmung der Muskeln des anderen Fusses erwartet werden 
mfisste. Dem gegentiber ist aber hervorzuheben, dass es sich ja nur 
um eine Mitschadigung leichteren Grades handelt. Nun wissen wir 
aber, dass bei Schadigung sowohl der Pyramidenbahn selbst als auch 
ihrer cortikalen Ursprungsfelder die beiden Funktionen der Pyramiden¬ 
bahn, die innervatorische und die inhibitorische, in recht verschiedenem 
Grade vulnerabel sind; letztere leidet viel eher als erstere, und in 
zahlreichen Fallen besteht gar keine Abschwachung der willkfirlichen 
Kraftentfaltung der einzelnen Muskelgruppen, hingegen ausgesprochene 
Anzeichen der ungehemmten reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit 
der Muskeln. So bestehen auch in xmseren Fallen, entsprechend der 
leichten Schadigung, die ein auch nach der Gegenseite drfickender 
Tumor auf die letztere ausubt, nur Zeichen der Storung der inhibi- 
torischen Funktion dieser Gegenseite, aber keine der innervatorischen 
Funktion. Hingegen — das dfirfen w r ir aus unseren Fallen schliessen 
— ist die kompensatorische Funktion der Hilfsursprungsfelder ebenso 


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378 


XVIII. Fokrster 


vulnerabel wie die inhibitorische Funktion der gleichen Rindenpartien. 
So konstatieren wir bei Mitschadigung des rechten Parazentrallappens 
vollige Aufhebung der Funktion der hier gelegenen Hilfsursprungs- 
felder ftir den rechten Fuss, aber keine der hier gelegenen Haupt- 
ursprungsfelder des linken Fusses. Besteht aber eine schwerere Lasion 
auf beiden Seiten, dann bleibt es nicht bei einem Versagen der Hilfs- 
ursprungsfelder, dann versagen auch die Hauptursprungsfelder beider 
Seiten und die Folge ist eine Lahmung aller Muskeln des Fusses oder 
des Fusses und Unterschenkels, oder aller drei Beinabschnitte, je nach- 
dem die Affektion sicb iiber die Fussfoci oder diese und die Unter- 
schenkelfoci oder iiber die gauze Beinregion erstreckt. Ein derartiges 
Verhalten treffen wir nun in den Fallen von Paraplegia corticalis con¬ 
genita, bei der Littlescben Krankheit an. Ich gebe in Folgendem 
eine tabellarische Ubersicht der Verteilung der Lahmung der willkiir- 
lichen Beweglichkeit auf die einzelnen Muskelgruppen, wie ich sie in 
15 von mir genau untersuchten Fallen angetroffen habe. 

In dieser Tabelle sind zvvei Falle, in denen beide Beine in Fuss. 
Knie und Hfifte willkiirlich total unbeweglich sind. 

In Fall 3, 4, 5 und 6 ist der Fuss und Unterschenkel total will- 
kfirlich gelahmt, der Oberschenkel zeigt schwache Flexion und Ex¬ 
tension, ist aber ist im iibrigen gelahmt. 

In Fall 7 ist der Fusa gelahmt, der Unterschenkel sehr schwacb, 
der Oberschenkel schwach bezw. gelahmt. 

Fall 9 zeigt Lahmung des Fusses, Schwache des Unterschenkels, 
voile Kraft des Oberschenkels nach alien Richtungen. 

Fall 10, 11 und 12 zeigen Lahmung nur des Fusses, voile Kraft 
des Unter- und Oberschenkels. 

Fall 15 zeigt Fuss, Unter- und Oberschenkel vollkraftig. In alien 
diesen Fallen besteht streng segmentaler Typus. 

In Fall 8 und 13 finden wir ein Verhalten, das an den Pra- 
dilektionstypus erinnert; in Fall 8 ist die Streckung des Unter¬ 
schenkels erhalten, die Beugung gelahmt, die Adduktion des Ober¬ 
schenkels erhalten, die Abduktion gelahmt; in Fall 13 die Beugung 
des Unterschenkels schwach, die Streckung vollkraftig, die Abduktion 
des Oberschenkels schwach, die Adduktion vollkraftig, der Fuss zeigt 
auffallenderweise ein dem Pradilektionstypus contrares Verhalten: die 
Dorsaltlexion des Fusses ist gut, die Plantarflexion gelahmt 

Auch Fall 14 bietet den Pradilektionstypus am Fuss und am 
Oberschenkel fur die Ab-Adduktion, bezw. Aussen-Innenrotation, am an- 
deren Bein besteht allerdings hinsichtlich der Kraft der Rotatoren das 
umgekehrte Vellniltnis. 

Es ist nach meiner obigen Darlegung klar, dass der segmentale 


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Verteilung der L&hmung in 15 Fallen Littlescher Krankheit. 



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380 


XVIII. Foerster 


Typus nur da erwartet werden darf, wo eine nahezu vollige Lahm- 
legung der Haupt- und Hilfsursprangsfelder der Pyramidenfasern fur 
die Muskeln eiues Gliedabschnittes besteht. Da, wo fur die Muskel- 
gruppen eines Gliedabschnittes noch eine ganze Zahl leitungsfahiger 
Pyramidenelemente yorhanden sind, wird es zum Pradilektionstypus 
kommen, der seinen Grand in letzter Linie in der verscbiedenen An- 
sprachsfahigkeit der spinalen Kerne der verschiedenen Muskeln fur 
corticogene Impulse hat. Und wenn diese letztere durch besondere 
Umstande von der unter gewohnlichen Verhaltnissen vorhandenen ab- 
weicht, so kann auch ein umgekehrter Typus als der Pradilektions¬ 
typus entstehen. 

An dieser Stelle mochte ich bemerken, dass Lewandowsky 1904 
darauf aufmerksam gemacht hat, dass bei der infantilen Hemiplegie 
der segmentale Lahmungstypus vorwiege, ein Verhalten, auf dessen 
Vorkommen bei cerebraler Kinderlahmung im allgemeinen ich ja schon 
1902 hingewiesen hatte. Er meinte, dass besonders die Innen- und 
Aussenrotatoren des Oberschenkels gelahmt seien, doch auch an an- 
deren Gliedabschnitten gegenteilig wirkende Muskelgruppen mehr oder 
weniger gleichmassig betroffen seien. Merkwurdigerweise fand er gerade 
am Fuss ein Verhalten, das mehr dem Pradilektionstypus glich. Mein 
Material von 15 Fallen infantiler cerebraler Hemiplegien zeigt folgendes 
Verhalten. 

In Fall 2, 3, 4, 5, 6, 7, 9, 11, 12, 13 und 14, also bei weitem in 
der Mehrzahl, besteht totale Lahmung der willkurlichen Dorsalflexion 
und Plantarflexion des Fusses, wahrend die willktlrliche Beweglichkeit 
des Unterschenkels und Oberschenkels nicht die geringste Parese zeigt. 
In Fall 10 besteht dasselbe Verhalten, nur ist die Beugung und 
Streckung des Oberschenkels gleichmassig abgeschwacht. In Fall l 
besteht am Fuss Lahmung der Dorsalflexion und Plantarflexion und 
eine Lahmung der Aussenrotation des Oberschenkels bei Integntat 
der Innenrotation. Ein ausgesprochener Pradilektionstypus besteht 
in Fall 8 am Fuss und Unterschenkel bei Integritat des Oberschenkels, 
und auch im Fall 15, in dem der Oberschenkel aber auch Pra¬ 
dilektionstypus fur die Ab-Adduktion erkennen lasst, wahrend die 
Aussenrotation kraftig, die Innenrotation gelahmt ist. 

Danach ist der bei weitem hiiufigste Typus totale Fuss lah¬ 
mung, keine Unter- und Oberschenkellahmung. Die von 
Lewandowsky in seinen Fallen gefundene Lahmung der Innen- und 
Aussenrotation des Oberschenkels konnte ich in keinem meiner Falle 
finden; in zwei Fallen bestand Lahmung einer der beiden Muskelgruppen, 
also gerade ein difl'erentieller Typus. 

Dass aber in meinen Fallen der bei weitem iiberwiegende streng 


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Tabelle 2. 

Verteilung der L&hmung in 15 F&llen infantiler Hemiplegie. 


Cber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 


381 



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Deutsche Zeitscbr. f. Nervenheilkunde. 37. BJ. 25 


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382 


XVIII. Foerster 


segmentale Typus der Monoplegia pedis darauf beruht, dass in 
diesen Fallen eine cortikale Affektion von typischem zirkumskripten 
Sitz und eine Mitschadigung des Hilfsursprungsfeldes far den gelahmten 
Fuss in dem homolateralen Parazentrallappen vorliegt, halte ich fQr 
recht wahrscheinlich. 

Fassen wir nach dieser kleinen Abschweifung unsere bisherigen Er- 
gebnisse in Kurze zusammen, so kommen wir zu folgender Auffassung. 
In der sogenannten Beinregion sind die Ursprungsfelder der Pyramiden- 
bahnfasem flir die einzelnen Gliedabschnitte, Fuss, Unterschenkel, Ober- 
schenkel, getrennt von einander gelagert, jedes dieser Ursprungsfelder 
fur ein Segment ist in Foci fiir die einzelnen Muskelgruppen und end- 
lich diese wieder in Foci flir die einzelnen Muskeln und Teile der- 
selben gegliedert. Bei ganzlicher einseitiger Zerstorung der Rinde der 
Beinregion oder der von ihr entspringenden Pyramidenbahnfasern ent- 
steht Lahmung der willktirlichen Beweglichkeit des gegentiberliegenden 
Beins, doch treten die in der Beinregion der gleichen Hemisphere ge- 
legenen Hilfsursprungsfelder und die daraus entspringenden ungekreuzten 
Hilfspyramidenfasern des gelahmten Beines (Pyramidenvorderstrang- 
bahn, homolaterale Pyramidenseitenstrangbahn) kompensatorisch ein und 
iibernehmen die Zuleitungvon Willensimpulsen zu den spinalen Kemen 
des betroffenen Beins, von denen wenigstens ein Teil die Impulse an 
die Muskeln weiter gibt, wodurch der Pradilektionstypus bedingt wird. 
Dieser kommt also der cortikalen Beinlahmung an sich ebenso zu wie 
der Kapsellahmung. 

In der Rinde liegen die Foci fiir den Fuss, Unterschenkel nnd 
Oberschenkel so weit getrennt, dass sie isoliert betrotfen werden 
konnen, ja die Foci flir die einzelnen Muskelgruppen des Oberschen' 
kels (Flexion-Extension, Ab-Adduktion, Aussen-Innenrotation) sind auch 
unter sich so getrennt, dass sie isoliert betroffen werden konnen. In 
der inneren Kapsel und im weiteren Verlauf der Pvramidenbahn sind 
dagegen die Pyramidenbahnfasern fur die Fuss-, Unterschenkel- und 
Oberschenkelmuskeln so innig vermengt, dass ein isoliertes Be- 
fallensein eines Gliedabschnittes nicht mbglich ist. Also in der raum- 
lichen Trennung der Pyramidenbahnelemente fiir die einzelnen Glied¬ 
abschnitte liegt der Hauptunterschied zwischen cortikaler und kapsularer 
Lahmung begriindet. Eine ausgepragte Monoplegia pedis ist nur bei 
Rindenherden mbglich. 

Die Nachbarschaft der beiden Beinregionen bedingt nun aber 
weiter, dass ein Herd, weleher seiner Xatur nach auf die Umgebung 
driickt, also besonders die Xeubildungen selbst bei einseitigem Sitz 
(z. B. links) auch die Gegenseite (rechts) mitschiidigt und in erster 
Linie die am leichtesten vulnerable Funktion der hier gelegenen Bein- 


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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Himherden. 


383 


region trifft, d. i. die kompensatorische Funktion der Hilfsursprungs- 
felder fur das gleichseitige (rechte) Bein. Dadurch werden alle die 
Muskelgruppen vollig gelahmt, deren Hauptfeld zerstort und deren 
Hilfsfeld auch gelahmt ist, also z. B. bei einem Uerde im linken Para- 
zentrallappen, der den rechten Parazentrallappen mitschadigt, die Dorsal- 
flexoren und Plantarflexoren des rechten Fusses, wahrend fiir die Muskel¬ 
gruppen, deren Hilfsfelder nicht betroffen sind, die Mogliohkeit der 
Kompensation weiter besteht. Besteht doppelseitige totale Zerstorung 
der Fussfoci, so besteht auch totale Lahmung der Dorsal- und Plantar- 
flexion beider Fusse bei voller Kraft der willkurlichen Beweglichkeit 
der Unterschenkel und Oberschenkel (haufiger Typus bei L'ittlescher 
Krankheit); sind beiderseits die Foci fiir Fuss und Unterschenkel zerstort, 
so besteht totale Lahmung der willkurlichen Beweglichkeit dieser beiden 
Beinabschnitte bei Integritat des Oberschenkels. An diesen letzteren 
konnen die einzelnen Muskelpaare auch wieder isoliert gelahmt sein, 
wenn symmetrische Herde die Foci fur das betreffende Paar beider¬ 
seits vemichten. Sind beide Beinregionen ganz zerstort, so besteht 
vollge willkfirliche Lahmung beider Beine. 

Liegt dagegen eine Kapselhemiplegie vor, so kann es zur Lahmung 
eines einzelnen der sonst durch das kompensierende Eintreten der 
Hilfsfelder der Gegenseite relativ intakt bleibenden Muskeln nur da¬ 
durch kommen, dass auch eben dieses Hilfsfeld durch einen entspre- 
chenden Rindenberd ausgeschaltet ist. Innerhalb der Pyramidenbahn 
selbst kann die Hilfsbahn fiir eine einzelne Muskgruppe nicht betroffen 
werden, wohl aber wird bei einer Zerstorung der Hauptbahn fiir ein 
Bein durch einen Herd im Seitenstrang des Ruckenmarks auch noch 
die gesamte Hilfsbahn dieses Beines mit ausgeschaltet, wenn auch die 
gleiche Pyramidenvorderstrangbahn vernichtet ist. Die spinale Hemi- 
plegie zeigt daher nur den Pradilektionstypus, wenn die Vorderstrang- 
bahn intakt ist; ist auch sie zerstort, so besteht vollige Lahmung aller 
Beinmuskeln dieser Seite. 

Mit dieser Auffassung von der Gliederung der motorischen Rinde 
nach Gliedabschnitten, einer weiteren Gliederung dieser Foci in Foci fiir 
die einzelnen Muskelgruppen und einzelne Muskeln, ja Teile derselben 
und mit der hier vertretenen Anschauung von der Bedeutung der Hilfs¬ 
felder und Hilfsbahnen wollen wir nun an die Betrachtung unserer die 
Armregion betreffenden Falle herautreten. Wir wollen zunachst das Ver- 
haltender cortikalen Armlahmung in dem oben bereits mitgeteilten Falle 
6 ins Auge fassen. Und zwar wollen wir zuerst die voll entwickelte 
Armlahmung, wie sie sich in den letzten 4 Monaten vor dem Exitus 
gezeigt hat und wie sie aus der totalen Zerstorung der rechten Arm- 
region folgte, in Betracht ziehen. Soweit die Verteilung der Lahmung 

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384 


XVIII. Foerster 


der willkurlichen Erregbarkeifc der einzelnen Muskelgruppen in Frage 
koinmt, so entspricht der Befund im wesentlichen dem Durchschnitts- 
bilde der Armlahmung bei eiaer voll entwickelten Kapselhemiplegie, 
zeigt also den Pradilektionstypus. Aufgehoben ist die willkfirliche 
Beweglichkeit der Schulter nach alien Richtungen, die Vor- nnd Rflck- 
wartsbewegung des Oberarms sowie dessen Aussenrotation, die Streckung 
des Vorderarms, die willkQrlicbe Strecknng und Supination der Hand, 
die willkurliche Streckung der Finger sowie die Streckung, Abduktion 
und Oppositon des Daumens; erhalten ist dagegen, wenn auch nur in 
abgeschwachtem Malle, die Abduktion, Adduktion und Innenrotation 
des Humerus, die Flexion des Vorderarms, die Beugung und Pronation 
der Hand, die Flexion der Finger und des Daumens sowie dessen Ad¬ 
duktion. Diese Verteilung weicht zwar etwas von dem von Mann 
beschriebenen Verhalten der Armlahmung ab, deckt sich aber mit dem 
Typus, den ich in der Mehrzahl meiner Hemiplegiker angetroffen habe. 

Bezuglich der anderen Komponente der Koordinationsstorung des 
Armes, d. h. der gesteigerten reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit 
der Muskeln, besteht dasselbe typische Verhalten, wie es bei jeder hemi- 
plegischen Armlahmung angetroffen wird; das gilt von den Kontrak- 
turen, den Sehnen- und Periostreflexen und von den typischen un- 
willkOrlichen Mitbewegungen, die sich an die verschiedenen willkttr- 
lichen Bewegungen der einzelnen Armabscbnitte anschliessen und 
welche den Verlust der isolierten Bewegungen dieser Abschnitte bedingen. 
Die Sensibilitat war in diesem Falle anfangs gar nicht betroffen, dann 
entstand cortikale Tastlahmung im Verein mit Storungen des Lokali- 
sationsvermogens ohne Storungen der Qbrigen Sensibilitat, doch stellen 
sich im weiteren Verlauf Storungen der Bewegungsempfindung und 
der Druckempfindung ein, die beachtenswerterweise erheblich ausge- 
pragter im Schultergelenk sind als in den Fingern. Zuletzt kommt auch 
noch eine betrachtliche Herabsetzung der Beruhrungsempfindung dazu, 
wahrend Schmerz- und Temperaturempfindung ganz ungestort blieben. 

Das Interessante dieses Falles liegt also erstens darin, dass er 
zeigt, dass ebenso, wie die Zerstorung einer Beinregion die typische 
Beinlahmung nach sich zieht, so auch die Zerstorung der ganzen 
Armregion die typische hemiplegische Armlahmung im Gefolge hat. 

Noch bemerkenswerter ist aber die Art der Entwicklung dieser 
Armlahmung. Ebe ich aber darauf naher eingehe, wollen wir zuvor 
noch das Verhalten der cortikalen Armlahmung in Fall 2 ins Auge 
fassen, weil wir es auch hier mit einer voll entwickelten, seit Jahren 
stationiiren Armlahmung zu tun haben. Die cortikale Natur der Lahmung 
ist zwar nicht durch die Autopsie belegt, doch sprechender Beginn des 
Leidens mit Jacksonschen Anfallen im rechten Arm, die allmahlich 


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Uber den Lahmungstypua bei cortikalen Hirnherden. 


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darans sich entwickelnde Monoplegia brachialis, die lange Zeit ohne 
Beinlahmung bestand, endlioh die vorhandene Tastlahmung der rechten 
Hand und ihre Vergesellschaftung mit erheblichen Storungen des Lo- 
kalisationsvermogens bei sonst intakter Sensibilitat gentigend fBr den 
cortikalen Sitz des Prozesses. Was nun zunacbst die Lahmung der 
willktlrlichen Beweglichkeit der Schulter, des Oberarms, des Vorder¬ 
arms und der Hand im Sinne der Pro- und Supination anlangt, so ist 
bier im wesentlichen wieder das Durchscbnittsbild der Armlahmung 
bei kapsularer Hemiplegie gewahrt. Es ist gelahmt bezw. stark pare- 
tisch Erhebung und Adduktion der Schulter, Vor- und Ruckwarts- 
bewegung, Aussenrotation des Oberarms, Extension des Vorderarms, 
Supination der Hand, dagegen ist weniger betroffen die Senkung und 
Abduktion der Schulter, die Abduktion, Adduktion und Innenrotation 
des Oberarms, die Flexion des Vorderarms und die Pronation der Hand. 
Diese Verteilung toeicht zwar wieder ebenso wie im vorangehenden 
Falle etwas von dem von Mann beschriebenen Verhalten ab, deckt 
sich aber vollkommen mit demjenigen Typus, welchen ich bei der 
Mehrzahl meiner Hemiplegiker angetroffen habe. Auch bezOglich 
der Kontrakturen und der unwillkiirlichen Mitbewegungen, die die 
einzelnen Muskelgruppen im Anschluss an bestimmte willkftrlich 
intendierte Bewegungen der einzelnen Armabschnitte ausfQhren, 
ist der Fall absolut typiscb. Dagegen weicht der Fall vollig von 
dem Durchschnittsbilde, wie ich es bei meinen Hemiplegikern ange¬ 
troffen habe, darin ab, dass die Finger und der Daumen total 
gelahmt sind. Dass dieselben nicht extendiert werden konnen, ware 
nichts Abweichendes, dass sie aber keine Spur willktirlich flek- 
tiert werden konnen, ist jedenfalls atypisch; dabei besteht spastische 
Kontraktur der langeu Beuger der Finger und des Daumens und des 
Adductor pollicis. Letzteres erwahne ich nur, weil es ein Gegen- 
beweis gegen die Mannsche Behauptung ist, dass kontrakturierte 
Muskeln stets einen gewissen Grad willklirlicher Erregbarkeit be- 
wahrt hatten. 

Die totale Labmung der willkiirlichen Handstreckung ware typisch 
fdr die hemiplegische Armlahmung, atypisch ist aber, dass auch die 
Handbeugung total gelahmt ist; dabei sind auch die Handbeuger wieder 
spastisch kontrakturiert, ja bieten deutlichen Handklonus. 

Die vollige Lahmung auch der Fingerbeuger, Daumenbeuger und 
Adduktoren und der Handbeuger mochte ich dadurch erklaren, dass, 
wie die im linken Arm bestehenden Jacksonschen Anfalle dartun, 
auch in der Nahe der rechten Armregion ein Herd sitzt, und dass 
dieser eine Schadigung der hier gelegenen Hilfsursprungsfelder fur 
die rechten Finger und die rechte Hand bewirkt. 


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386 


XVIII. FoEKSTEK 


Ich komme nunmehr auf den Fall 6, den wir zuerst ins Auge 
gefasst batten. zurGck. Hochst beachtenswert ist in diesein Falle die 
Ausbreitung der Lahmung auf die einzelnen Armabscbnitte im Ver- 
laufe der Entwicklung der Armlahmung. Nachdem anfangs eine iso- 
lierte Monoplegia cruralis bestanden batte, stellte sich zunachst eine 
isolierte Lahmung der willkurlichen Beweglicbkeit der Schulter ein, 
und zwar annahernd nach alien Richtungen gleichmassig. Diese iso¬ 



lierte Schulterlahmung ist 
darum so beachtenswert, 
weil der Focus fUr die 
Schulter nach den experi- 
raentellen Ergebnissen der 
elektrischen Reizung der 
vorderen Zentralwindung 
sich an die Beinregion an- 
schliesst und die oberste 
Stelle der Armregion ein- 
nimmt. Dabei zeigen die 
Schultermuskeln das cha- 
rakteristische Verhalten der 
zentralen Koordinationssto- 
rung, d. h. sie haben nur ihre 
corticogene willk&rliche Er- 
regbarkeit eingebusst Fig. 
2 a zeigt die mangelnde 
willkurliche Erhebung der 


Fig. 2a. 

Cortikale Schulterlahmung iu Fall G. 
Fig. 2a zeigt die mangelnde willkurliche Er¬ 
hebung der linken Schulter, es erfolgt eine 
starke Mitbewegung der rechten Schulter in 
gleichem Sinne. 


linken Schulter, dagegen 
besteht ihre reflektorisch- 
subcortikale Erregbarkeit 
fort, ja ist erbeblich gestei- 
gert, daher die spastische 


Kontraktur der Schulter¬ 


muskeln, daher die unwillkiirliche Erhebung der Schulter beim will- 
kiirlichen Erheben des Arms (Fig. 2 b), die unwillkiirliche Adduktion 
der Schulter beim willktirlichen Fuhren des Arms nach hinten innen, 
die unwillkGrliche Vorwartsbewegung der Schulter beim willknr- 
lichen Fuhren des Arms nach vorn innen. Hingegen zeigen die 
Muskeln aller anderen Abschnitte des Arms weder eine Beeintrach- 


tigung ihrer willkurlichen Erregbarkeit, noch eine Steigerung ihrer 
reflektorischen Erregbarkeit. Selbst die einzelnen Fingerbeweguugen, 
die Opposition des Daumens usw. gelingen ungestort, es kann ein 
Finger isoliert, z. B. der Zeigefinger, Hektiert oder extendiert werden 


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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 387 

usw.; es besteht nicht die geringste Stoning der feineren Fingerver- 
richtungen, des Kndpfens usw. Erst zwei Monate spater kommt eine 
Labmung der willkiirlichen Bewegungen des Oberarms dazu — ent- 
sprechend der raumlichen Anreihung des Oberarmfocus an den Schulter- 
focus— und zwar vom Charakter des Pradilektionstypus: starke Parese 
der Vorwarts- und Ruckwiirtsbeweger und der Aussenrotatoren, nur 
geringe Schwache der Abduktoren, Adduktoren und Innenrotatoren; 



Fig. 2 b. 

Cortikale Schulterlahraung in Fall 6. 

Fig. 2b zeigt die gute unwillkurliche Erhebung der linken Schulter bei 
der willkiirlichen Erhebung des linken Arms. 

neben der paretischen Komponente bestehen spastische Kontrakturen 
und Hitbewegungsphanomene der Oberarmmuskeln; die Bewegungen 
des Vorderarms, der Hand und der Finger zeigen noch nicht die ge¬ 
ringste Parese, die Opposition des Daumens ist noch ungestort, es 
kann noch ein Finger einzeln gebeugt und gestreckt werden. Im wei- 
teren Verlaufe ergreift nun die Entwicklung der Lahmung nicht mehr 
der Reihe nach die Foci fur den Vorderarm, die Hand, die Finger 
und den Daumen, sonderu diese werden zusammen befallen und zwar 
in einer Weise, die im wesentlichen den Pradilektionstypus zeigt: 
Extension und Supination der Hand, Extension der Finger sind ge- 
lahmt, wahrend Flexion und Pronation der Hand und die Flexion der 


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388 


XVIII. Foerstek 


Finger kraftig bleiben. Der Daumen zeigt znnachst einen isolierten 
Ausfall der Funktion des Abductor pollicis brevis, indem bei der 
Opposition, die bis zum 5. Finger gelingt, das erste Metacarpale nicht 
genii gend flektiert und rotiert wird. 

Diese Funktion des Abductor brevis leidet bei alien Pyramiden- 
bahnerkrankungen von den Muskeln des Daumens zu allererst, sowohl 
bei kapsularer Armlahmung als auch bei cortikaler Daumenlahmung, 
ja seine Lahmung ist bei langsam entwickelten Hemiplegien oft gerade 
die allererste und einzige Parese an der oberen Extremitat; umge- 
kehrt bleibt sie bei weitgebender Restitution der willkurlichen Be- 
weglichkeit des Arms nach anfanglicher Hemiplegic oft das einzige 
Residuum der Paresen. In weiterem Verlaufe nimmt in Fall 6 die 
Daumenlabmung den Typus, den wir bei jeder schwereren Armlah¬ 
mung finden, an, es ist nur die Flexion der beiden Phalangen und in ge- 
ringem MaBe die Adduktion des 1. Metacarpale m&glicb. 

Dass es auch in ubriger Beziehung in diesem Fall allmahlich zur 
voll entwickelten Armlahmung kommt, ist ja schon vorweg besprochen 
worden, und dass diese den Pradilektionstypus bis zum Tode be- 
wahrt hat. 

Das Wesentlichste des eben mitgeteilten Falles scheint mir in dem 
Bestehen einer isolierten cortikalen Schulterlahmung und spater 
einer Schulteroberarmlahmung ohne Paresen der anderen Arm- 
segmente zu liegen. 

Eine isolierte cortikale Schulterlahmung treffen wir nun auch in 
dem bereits mitgeteilten Fall 5. Hier schloss sich dieselbe auch 
wieder an die gliedweise zur Entwicklung gekommene Beinlahmung 
an. Sie zeigt dasselbe typische Verhalten wie in Fall 6; anfangs Auf- 
hebung, spater Herabsetzung der corticogenen willkiirlichen Erregbar- 
keit der Schultermuskeln bei erhaltener, ja gesteigerter reflektorisch- 
subcortikaler Erregbarkeit derselben, die sich in der spastischen Kon- 
traktion und den unwillkurlichen Mitbewegungen der Schulter in An¬ 
schluss an wiUkiirliche Armbewegungen zu erkennen gibk Die Schulter¬ 
lahmung bleibt die ganze Zeit der Beobachtung (V 2 Jahr) isoliert* 

Diese beiden Beobachtungen einer ganz isolierten Schulterlahmung 
bezw. einer isolierten Schulteroberarmlahmung zeigen, dass die Ansicht 
Monakows und Bonhoeffers, dass bei cortikalen Herden in der 
Armregion stets die Hand am meisten leide, nicht fur alle Falle zu- 
trifft, dass vielmehr bei zirkumskripten Lasionen der Rinde isolierte 
Lahmung auch der proximalen Armabschnitte vorkommi Die Aus- 
fallssymptome gehen also den Ergebnissen der Rindenreizung kon- 
form und bestatigen die Munkschen Ergebnisse an AfFen auch ffir 
den Menscben. 


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fiber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 389 

Fall 7. Cortikale Monoplegia digitoram sinistra. 1 ) 

H. J., 71 Jahre alt, klagt seit einiger Zeit fiber Schwindel und Kopf- 
schmerzen geringeren Grades, sonst iramer gesund. Seit 1. V. 1906 abends 
plOtzlich heftige Kopfschmerzen and bald danach fortw&hrende Zuckungen 
in der linken Gesichtshfilfte, welche fast die ganze Nacht andauerten. Am 
2. V. Aufnahme ins Hospital. 

Status am 2. V. Fortw&hrende klonische Zuckungen in der linken 
Gesichtshfilfte, die linke Stirn wird gekraust, das Auge zugekniffen, der 
Mundwinkel nach links und oben verzogen. Manchmal hOren die Zuckungen 
auf einige Minuten auf, und cs lfisst sich dann eine deutliche Facialis- 
lfihmung auf der linken Seite feststellen: die linke Stirn kann gar nicht 
gekraust werden, das linke Auge kann nicht ganz geschlossen werden, 
beim Zeigen der Zfihne wird die linke Oberlippe nicht gehoben und die 
Unterlippe nicht herabgezogen. 

Linksseitige Hypoglossuslfihmung. Zunge weicht stark nach links ab. 
Die Finger der linken Hand sind in alien 3 Gelenken etwas gebeugt, die 
willkfirliche Strcckung derselben gelingt nur mfihsam und nicht voll- 
kommen, die willkfirliche Beugung der Finger ist ganz unmOglich. Passive 
Beweglichkeit der Finger zeigt keine Erschwerung. Der Daumen hftngt 
mit dem 1. Metacarpale herab und steht dasselbe fast ganz unter deni 
2. Metacarpale. Die Grundphalange steht in gerader Verlfingerung des 
1. Metacarpale, die Endphalange etwas gebeugt Die willkfirliche Beweg¬ 
lichkeit des Daumens ist vollkommen erloschen. 

Die passive und aktive Beweglichkeit der linken Hand, des linken 
Vorderarms, Oberarms und der Schulter sind ganz ohne StOrung. Der 
Tricepsreflex und der Radiusperiostreflex sind nicht gesteigert. Am Rurapf 
und am Bein keinerlei StOrungen. Patellar- und Achillesreflex beiderseits 
gleich stark, kein Babinski, kein Oppenheim. Gang ohne jede StOrung. 
Blase und Mastdarm o. B. Augenhintergrund, Augenbewegungen o. B. 

Die Sensibilitfit ist im Gesicht, am Rumpf und an den Beinen und 
der rechten oberen Extremitfit ganz normal. An der linken oberen Ex- 
tremitfit ist die Berfihrungsempfindung, die Schmerz-, die Warm- und 
Kaltempfindung ganz ungestOrt, der Drucksinn ebenfalls ganz ungestOrt, 
die Bewegungsempfindungen sind am Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger 
genau so gut wie rechts, ungestOrt; am Gold- und Kleinfinger werden zwar 
die feinsten Bewegungsexkursionen empfunden, aber nicht immer richtig 
gedeutet. Es besteht vollkommene Tastlfihmung der linken Hand. Das 
LokalisationsvermOgen ist schwer gestOrt, an der Vola digitorum ist der 
Lokalisationsfehler so betrfichtlich, dass er fast nie den richtigen Finger 
angibt oder mehrere Zentimeter von der berQhrten Stelle entfernt die 
Berfihrung lokalisiert; am Dorsum digitorum besteht dasselbe gestOrte 
Verhalten. An der Vola manus betrfigt der mittlere Lokalisationsfehler 
1,7 cm, am Dorsum manus 3 cm. 

Status am 3. V. Zuckungen im Gesicht geriuger, linke Facialis- 
und Hypoglossuslfihmung besteht ebenso wie am Tage zuvor. Totale 
Lahmung der Fingerstrecker und Fingerbeuger, ebenso totale Lfihmung des 


1) Der Fall ist von mir auf der inneren Abteilung des Allerheiligenhospi- 
tals (Prof. Buchwald) beobachtet wordeu. 


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390 


XVIII. Foerstek 


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Daumens. Hand, Vorderarm und Oberarm in ihrer aktiven und passiven 
Beweglichkeit gar nicht beeintrachtigt. Bein ganz frei. 

Tastlahmung der linken Hand besteht fort Bewegungsempfindungen 
an alien Fingern der linken Hand heute geschadigt; sonst SensibilitUt 
genau wie am Tage vorher. 

Im tibrigen Status idem. 

Status am 4. V. Zuckungen im Gesicht haben aufgehdrt; linksseitige 
Facialislahmung und Hypoglossuslahmung bestehen fort. Finger und Daumen 
der linken Hand total gelahmt, leichte spastiscbe Kontraktur der langen 
Fingerbeuger. Hand, Vorderarm und Oberarm, ebenso linkes Bein ganz 
frei. Sensibilitat wie am Tage zuvor. 

Status am 12. V. Linker Facialis dauernd gelahmt und zwar kann 
die linke Stirnhalfte nur wenig gekraust werden. Das linke Auge stelit 
weiter often als das rechte, es kann nicht vollkommen geschlossen werden, 
Nasolabialfalte ganz verstrichen, linke Oberlippe bleibt beim Zahnezeigen, 
beim Offnen des Mundes, beim Sprechen vollkommen zurttck, ebenso die 
Unterlippe; beim Aufblasen des Mundes entweicht die Luft aus dem linken 
Mundwinkel. Elektrische Erregbarkeit des linken Facialis vollkommen 
normal, beim Lachen agiert die linke Gesichtshalfte genau so gut wie die 
rechte. Zunge weicht beim Vorstrecken ganz nach links ab. Die Finger 
der linken Hand sind in alien 3 Gelenken leicht gebeugt, es besteht deut- 
liche spastische Kontraktur der langen Fingerbeuger, willkQrlich besteht 
totale Lahmung der Finger sowohl fttr Beugung und Streckung, als far 
Ab- und Adduktion. Auch bei kraftiger Beugung Oder Streckung der 
Finger der rechten Hand kommt es zu keiner Mitbewegung der Finger 
linkerseits. Der Daumen steht mit dem 1. Metacarpale ganz adduziert 
und stark flektiert, also unter dem 2. Metacarpale; beide Phalangen sind 
leicht flektiert, es besteht leichte spastische Kontraktur der Adduktoren 
des Daumens und des Flexor p. longus. WillkQrlich ist der Daumen 
total gelahmt. Reflex bei Beklopfen der Sehnen der langen Fingerbeuger 
erhOht. Die linke Hand ist aktiv und passiv nach alien Richtungen voll¬ 
kommen frei beweglich, nur besteht bei Widerstandsbewegungen eine leichte 
Abschwachung der Beugung und Streckung sowie der Ab- und Adduktion. 
Vorderarm, Oberarm und Schulter zeigen weder bei passiver Bewegung 
irgend eine Beschrankung Oder irgend einen spastischen Muskelwiderstand, 
aktiv werden samtliche Bewegungen uneingeschrankt und mit voller Kraft 
ausgeftthrt, samtliche Bewegungen kOnnen ganz isoliert ausgeftthrt werden. 
Linkes Bein ganz oline Storung (kein Babinski, kein Oppenheim usw.). 

An den Fingern der linken Hand ist das Geftthl fttr passive Be¬ 
wegungen stark geschadigt, das LokalisationsvermQgen ist ebenfalls sehr 
geschadigt (siehe oben) und es besteht vdllige Tastlahmung; BerQhrungs- 
empfimlung, Schmerz-, Warm-, Kaltempfindung, Drucksinn, Knochen- 
sensibilitat (GefOhl fur die Vibrationen der Stimmgabel) sind ganz ungestort. 

Der Befund bleibt von nun an bei haufiger mehrmonatlicher Kontrolle 
ganz genau der gleiche. Speziell die totale Lahmung der Finger und des 
Daumens besteht fort, die Hand zeigt nur leichte Schwache bei Wider- 
standsbeweguniten, Vorderarm usw. sind ganz intakt. 

Ende September zunehmende Herzschwaehe, starke Anfalle von Angina 
pectoris. Exitus letalis. Bei der Autopsie findet sich im Bereiche der 
Zentralwindungen rechterseits ein runder, mehr als MarkstQck grosser 


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Ober den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 391 

oberflachliclier Erweichungsherd, welcher sowohl die vordere als die hintere 
Windung einnimmt und an der Grenze zwischen mittlerem and unterem 
Drittel gelegen ist; er geht nach binten mit mehreren unregelm&ssig ge- 
formten Aasl&ufern auf das untere Scheitell&ppchen Qber. Auch nach unten 
zu gehen einige Auslaufer in das untere Drittel der Zentralwindung Ober. 

Das Wesentliche dieses Falles liegt erstens in dem Vorhandensein 
einer isolierten totalen Lahmung der Finger und des Daumens 
der linken Hand, die anfangs ganz isoliert far sich besteht; zuletzt 
kommt noch eine ganz leichte Parese der willkttrlichen Handstrecknng 
und Handbeugung dazu, wahrend die Bewegungen des Vorderarms, 
Oberarms und der Schulter nicht die geringste Stoning zeigen. Nicht 
einmal Erscheinungen gesteigerter reflektorisch-subcortikaler Erregbar- 
keit der Vorderarm- und Oberarmmuskeln sind vorhanden. Diese to- 
tale Lahmung der Finger hat ihre Ursache in einer Erweichung des- 
jenigen Gebietes der Zentralwindungen, welches den Focus der Finger 
darstellt; gleichzeitig greift der Herd auf das facio-linguale Gebiet 
ober, daher isolierte klonische Krampfe im Facialis uud Lahmung des 
linken Facialis und Hypoglossus. Zweitens ist nun der Fall bemerkens- 
wert dadurch, dass die Lahmung der Finger nicht den Pradilektionstypus 
zeigt, sondern dass die Fingerbeugung ebenso gelahmt ist wie die Finger- 
streckung, wahrend fur gewohnlich die Zerstorung der rechtsseitigen Arm- 
region die willkiirliche Fingerbewegung nicht vernichtet, da das Hilfsur- 
sprungsfeld fttr die linken Finger in der linken Armregion kompensierend 
eintritt und die Fingerbeager an dieser Kompensation partizipieren. 

In unserem Falle handelt es sich aber urn einen 71 jahrigen Mann 
mit diffuser Arteriosklerose des Zentralnervensystems. Ich mochte das 
Ausbleiben des Eintritts der linksseitigen Hilfsursprungsfelder far die 
linke Hand durch eine leichte, auf dem Boden der dififusen Arterio¬ 
sklerose erwachsene Schadigung auch der linken Armregion erklaren, 
die eben nur die feinste Funktion dieser Armregion, d. h. die Funktion 
der hier gelegenen Hilfsfelder ftir den linken Arm schadigt. Ebenso ware 
die seltene Lahmung auch des Augen- und Stirnfacialis in diesem Falle zu 
deuten. Dass ubrigens in diesem Falle zu Anfang die Fingerbeuger total 
gelahmt waren, hingegen die Fingerstrecker noch etwas agierten, kann 
meines Erachtens nur so gedeutet werden, dass anfangs nur der Focus der 
Beuger, welcher den dem Sulcus centralis zugelegenen Teil der vorderen 
Zentralwindung einnimmt, total zerstort, hingegen der vor diesem ge- 
legene Focus der Fingerstrecker noch funktionsfahig geblieben war. 

Der Fall bietet aber noch in einem dritten Punkt Interesse. Es 
bestand neben der vollkommenen Lahmung der willktirlichen Beweg- 
lichkeit der Finger und des Daumens deutliche spastische Muskel- 
kontraktur der langen Beuger der Finger und des Daumens; in diesem 


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392 


XVIII. Foerster 


Punkt gleicbt der Fall dem Verhalten der Finger in Fall 2 und be- 
weist ebenso wie dieser, dass die Bebauptung Manns und Lewan- 
dowskys, spastische Kontraktur einer Muskelgruppe sei immer ge- 
kntipft an einen geringen Rest erhaltener willknrlicher Erregbarkeit, in 
dieser Fassung nicbt richtig ist. Auch zu keiner unwillkurlichen Mitbe- 
wegung der Fingerbeuger im Anschluss an eine willkurliche Beugung der 
recbten Finger oder an willkfirliche Bewegungen des linken Arms oder der 
linken Hand kam es, was icb besonders mit Bezng auf Lewandowskys 
erweiterte Fassung der Mannschen Behauptung hervorheben mochte. 

Die Sensibilitatsstorungen zeigen dasselbe Verhalten wie fast alle 
bisber hier mitgeteilten Falle mit Sensibilitatsstorungen; anfangs besteht 
Tastlahmung vergeseilschaftet mit schwerer Storung des Lokalisations- 
vermogens ohne andere Storungen der Sensibilitat, spater kommen Sto- 
rungen der Bewegungsempfindungdazu,wahrendBertthrungs-, Schmerz-, 
Temperatur- und Druckempfindung dauernd ganz intakt bleiben. 

Fall 8. Rindentuberkel, Jacksonsche Epilepsic des rechten 
Arms. Rechtsseitige cortikale Interosseusparese. Trepanation. 

Heilung. *) 

M. Kl., 11 Jahre alt. Grossmutter litt an Spondylitis tuberculosa. 
Eltern gesund, sie selbst hatte frtther Diphtherie. Vor 1 l j 2 Jahren knoten- 
artige Anschwellungen unter der Haut des ganzen KOrpers, dieselben ver- 
loren sich nach einiger Zeit wieder, blieben aber am recbten Arm dauernd 
bestehen. Mitte Oktober 1908 Krftmpfe im rechten Arm bei ungestOrtem 
Bewusstsein, dieselben danerten 1 */ 2 Stunden. Solche Krampfanfalle sind 
bis jetzt 5 aufgetreten, der letzte dauerte 2 Stunden. Sie komint deshalb 
am 6. XI. ins Hospital. Hier folgender Status: Blasses Madchen, Puls 
und Temperatur normal. Innere Organe o. B. Am rechten Unterarm fQhlt 
man an der Dorsalseite mehrfache erbsengrosse Verdickungen im Unter- 
hautzellgewebe, die sich massig gegen die Unterlage verschieben und auf 
Druck etwas empfindlich sind (Basinsche Knoten). Hirnnerven o. B., nur 
Geruchsvermbgen links etwas herabgesetzt Am Augenhintergrund beider- 
seits etwas geschlangclte Venen. Klopfempfindlichkeit des linken Os 
frontale. Druckemptindlichkeit des linken N. infraorbitalis. An beiden 
Armen lebhafte Sehnen- und Pcriostretlexe. Keinerlei Parese der Muskeln 
der rechten oberen Extremitat, nur fallt auf, dass der rechte Klein- 
finger in der Ruhe ganz abduziert steht und nur unvollkommen 
und sclnvach adduziert werden kann (Fig. 3a). Keine StOrungen der 
elektrischen Erregbarkeit des Interosseus interims III, keine Kontrakturen, 
keine pathologischen Mitbewegungsphanomene der Finger, keine Sensi- 
bilitatsstbrungen am rechten Ann, keine Tastlahmung. Bauchdeekenreflexe 
normal. Untere Extremitat im wesentlichen o. B., nur besteht rechts 
wechsolnder Fussklonus und manclunal andeutungsweise Babinskischer 
GrosszelienrcHex. Blase und Mastdarm o. B. Am 12. XI. mittags 2 Stun- 

1) Per Fall ist von inir auf der chirurgischeu Abteilungdes Allerheiligen- 
hospitals (Prof. Tietze) beobachtet worden. 


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Uber den Lahmungstypus bei cortikaleu Hirnherden. 


393 


den langer Anfall von Krftmpfen im rechten Arm. Bewusstsein erhalten, 
aber doch eingenommen. Nach dem Anfall besteht vorflbergehend reckts- 
seitige Facialisparese und Apraxie der Gesichtsmuskeln; der Mund kann 
nicht gespitzt werden, ein Licht kann nicht ausgeblasen werden usw. 




c) 

Fig. 3. 

Cortikale Lahmung der Interossei in Fall 8 (Rindentuberkel). 

Fig. 3 a zeigt die Lahmung des Interosseus adductorius digiti V vor der 
Operation. 

Fig. 3 b und c zeigen die totale Lahmung aller Interossei nach Excision 
des Tuberkels und eines kleinen Rindenstuckchens an der Grenze der vorderen 
Zentralwindung und der 2. Stirnwindung. 

Zunge o. B. Starke Klopfempfindlichkeit der linken Stirnbeinhalfte. Am 
rechten Arm ist das Akstehen des Kleiniingers stark ausgesprochen, leichte 
Krallenstellung aller Finger. Sonst Status idem. Seit dem Anfall ist das 
Allgemeinbefinden schleckt. 

Diagnose: Herdformige Affektion in der Nachbarschaft des mittlereu 


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394 


XVIII. Fof.rster 


Drittels der linksseitigen Zentralwindung. Es ist wahrscheinlich, dass 
die Affektion nicht im Bereich der hinteren Zentralwindung gelegen ist, 
sondern etwas vor der vorderen sich befindet, da einerseits sensible Aus- 
fallserscheinungen nicht vorhanden sind, andererseits sich motorische nur 
andeutungsweise in einer Schwache des Interosseus adductorius des rechten 
Kleinfingers bieten. Das deutet auf einen unmittelbar vor dem mittleren 
Drittel der vorderen Zentralwindung gelegenen Herd. 

Am 17. XI. 1908 Trepanation (Professor Tietze). Es finden sich da, 
wo der untere Fuss der 2. Stirnwindung in die vordere Zentralwindung 
Qbergeht, auf der Pia sitzend drei kleine Tuberkel. Dieselben werden mit 
der Pia entfernt und ein kleines Stuck darunter befindlicher Rinde wird 
exstirpiert. Knochendeckel wird entfernt. Naht. Nach der Operation 
vortibergehend Parasthesien im rechten Arm. Es besteht dauernd aus- 
gesprochene Krallenstellung der Finger der rechten Hand, die Grund- 
phalange ist Oberstreckt, die Mittel- und Endphalange kOnnen nicht voll- 
kommen gestreckt werden (Fig. 3 b u. c). 

Dieser Fall ist von grosstem Interesse, weil er uns das Vorhanden- 
sein einer ganz isolierten cortikalen Lahmung der Interossei der rechten 
Hand vor Augen fiihrt. Wir wissen, dass in der vorderen Zentral¬ 
windung die Foci fur die einzelnen Gliedabschnitte von oben nach 
unten aneinander gereiht sind, und dass die fur die einzelnen Finger 
auch von oben nach unten einander folgen, in der Weise, dass der 
Kleinfinger am obersten, der Daumen am weitesten unten lokalisiert 
ist. Ferner ist der Focus fiir die Streckung eines Fingers vom am 
Sulcus praecentralis, der Focus fiir die Beugung hinten am Sulcus 
centralis gelegen. Aus unserer Beobachtung kann man schliessen, dass 
der Focus fur die Streckung der 2. und 3. Phalange, welche durch 
die Interossei besorgt wird, ganz vorne, noch vor dem Focus fur die 
Streckung der Grundphalange (Extensor digit, longus) gelegen ist, in¬ 
dent nach der Exstirpation eines bestimmten Rindenstuckchens, das an 
der Grenze der vorderen Zentralwindung und der 2. Stirnwindung ge¬ 
legen ist, eine absolut typische Interosseusliihmung aufgetreten ist. 
Diese Stelle war vor der Exstirpation durch die auf ihr sitzenden 
kleinen Tuberkel nur ganz leicht geschadigt und das ftlhrte nur zu 
eioer Andeutung von Interosseusparese. Interessanterweise ausserte 
sich nun dieser leichte initiale Grad von cortikaler Interosseusparese 
genau in derselben Weise, wie sich die beginnende Interosseuslahmung 
spinalen oder peripheren Ursprungs aussert, namlich durch eine 
Schwiiche des Interosseus internus III, bei der wir auf keine weitere 
Anomalie stosseu, als dass in der Ruhe der Kleinfinger abduziert steht 
und nicht ordentlich adduziert werden kann; erst im weiteren Verlauf 
konimt es dann zu einer mangelhaften Streckung der Mittel- und End- 
phalange des Klein- und Goldfingers, bis zuletzt das voile Bild der 
Krallenstellung alter 4 Finger entwickelt ist. 


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L'ber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 


395 


Es ware interessant, wenn auch durch lokale Reizung der Hirnrinde, 
die allerdings raumlich and graduell sebr fein abgemessen sein mfisste, 
eine isolierte Reizung der Interossei erzielt werden konnte. Bisher gelang 
es meines Erachtens imtner nur, Streckung eines einzelnen Fingers in 
alien 3 Gelenken hervorzurufen, also traf der Reiz gleichzeitig das Feld 
der Interossei und den unmittelbar dabinter gelegenen Focus des Ex¬ 
tensor longus. Vielleicht ist aber noch weitere Differenzierung moglich. 

Pall 9. Lues. Jacksonsche Epilepsie des linkeu Arms. Cortikale 
Liihmung der Interossei links, spiiter auch der Handstrecker 
und der langen Fingerstrecker. 1 ) 

Fr. B., 43 Jahre alt. Luetisch infiziert. Danach mehrere Hg-Kuren. Seit 
Jahren keine Kur mehr. Juli 1907 starkes TaubheitsgefQhl im 5. und 4. 
Finger der linkcn Hand, dasselbe breitete sich bald Ober die ganze Hand aus 
und ging auf den ganzen linken Arm und die linke Brusthiilfte liber. Es trat 
dieses TaubheitsgefUhl anfallsweise auf, meist mehrere Male am Tage. 

Nach einiger Zeit bemerkte sie, dass der linke Kleinfinger und Ring- 
finger krumm wurden und dass ersterer abstand und dem Ringfinger nicht, 
mehr genahert werden konnte. Der Kassenarzt verordnete Jodkali sowie 
Einreibungen und Elektrisieren, jedoch ohneErfolg; so ging es bis zum 16. X. 

16. X. 1907 war ihr gegen Abend Obel, in der Nacht vom 16./17. 
heftiger Jacksonscher Krampfanfall im linken Arm ohne Bewusstseins- 
verlust; der Anfall griff bald auch auf die linke Gesichtshiilftc liber, der 
Mund verzerrte sich nach links, das linke Auge wurde zugekniffen, auch 
das linke Bein wurde mit ergriffen. Der Anfall wiederholte sich in der- 
selben Nacht 6 mal, stets im linken Arm beginnend und allmahlich Gesicht 
und Bein mit ergreifend. Am 26. X. wieder ein Anfall, bei dem aber nur 
Arm und Gesicht krampften. Schmierkur eingeleitet. Am 2. XI. wieder 
starke Anfalle, ebenso am 6. XI. und am 13. XI.; an diesem Tage hOrten 
die Anfalle eigentlich gar nicht auf. Dann noch am 19. XI. mehrere Anfalle. 

Wahend dieser Zeit bot nun die Kranke folgenden Status. Nach der 
Aufnahme ins Krankenhaus am 17. X. stellte ich fest starke Klopf- und 
Druckempfindlickeit des rechten Os parietale vom, starke Druckempfind- 
lichkeit des rechten Supra- und Infraorbitalis. Heftige Kopfschmerzen, 
narnentlich in der rechten Schadelhalfte. Augenhintergrund normal, Pupillen 
reagieren, Facialis und Zunge ohne Stbrung. An der linken oberen Ex- 
tremitat steht der Kleinfinger vom Goldfinger und dieser vom Mittelfinger 
abduziert und kdnnen beide nicht adduziert werden. Der Kleinfinger be- 
findet sich in deutlicher Krallenstellung, die Grundphalange ist Oberstreckt, 
die Mittel- und Endphalange sind gebeugt. Am Goldfinger ist die Krallen¬ 
stellung angedeutet, an den ubrigen Fingern besteht sie nicht (Fig. 4«a). 
Die Mittel- und Endphalangcu des Kleinfingers und Goldtingers konnen 
nicht vollkommen extendiert werden, bei dem Yersuche dazu nimmt die 
Krallenstellung noch deutlich zu. Die Streckung der Grundphalangen ist 
nicht eine Spur abgesehwaeht. Die Beugung der Finger ist nicht ein- 


1) Der Fall wurde von mir anfangs auf der inneren Abteilung des Allerheiligen 
hospitals (Prof. Stern), spiiter ambulant in meiner Sprechstunde beobachtet. 


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XVIII. Foerstek 


geschr&nkt, nur ist die Kraft der Beugung der Grundphalange des Klein- 
fingers deutlich abgeschwacht. Es kann jeder Finger einzeln gebeugt und 
einzeln gestreckt werden. Am Daumen sind keine Stdrungen. Hand nach 
alien Richtungen aktiv und passiv voll frei beweglich. ebenso Vorderarm, 
Oberarm und Schulter. Gesteigerter Triceps- und Radiusperiostreflex 
linkerseits. 

Keine Sensibilit&tsstdrungen an dcr linken Hand, keinc Tastlahmung. 

Rumpf, untere Extremitat, Blase und Mastdarm o. B. 

Status am 27. X. 1907. Es befinden sich samtliche Finger in deut- 
licber Krallenstellung, die Grundphalangen iiberstreckt, die Mittel- und 
Endpbalangen gebeugt. Alle Fin¬ 
ger sind etwas gespreizt, am 
meisten der Kleinfinger; die 
Streckung der Grundphalangen 
gelingt mit voller Kraft, die 
der Mittel- und Endpbalangen 
gelingt nickt Die Adduktion der 
Finger gelingt auch nicht, wohl 
aber die Spreizung unter gleich- 
zeitiger Uberstreckung der 


a) b) 

Fig. 4. 

Cortikale Lahmung der Interossei und der Handstrecker in Fall 9 
(Lues cerebri, Jacksonsche Epilepsie). 

Fig. 4 a zeigt die initiale Lahmung der Interossei des 5. und 4. Fingers. 
Fig. 4 b zeigt die Lahmung der Handstrecker. 

Grundphalangen. Beugung der Finger gelingt im vollem Umfang, doch 
ist die Kraft der Beugung der Grundphalangen herabgesetzt. Leichter 
spastischer Widerstand der langen Fingerflexoren. Isolierte Beugung eines 
Fingers nicht mehr moglich, es geraten die anderen Finger immer etwas 
in Mitbeugung. Ebenso isolierte Streckung eines Fingers unmoglich. Sonst 
Status idem. 

In den folgenden Wochen weitere Verschlechtcrung. 

Status am 10. XI. Krallenstellung und Interosseusl&hmung der Finger 
besteht fort, Streckung der Grundphalangen uneingeschrftnkt. Spastischer 
Widerstand der langen Fingerbeuger grosser als frtiher, Unf&higkeit einen 




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Uber den Liihmungstypus bei cortikalen Hirnherden. 


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Finger isoliert zu beugen oder zu strecken. Bengung aller Finger un- 
eingeschrftnkt. Totale willktlrliche Lahmung der Handstrecker, die Hand 
hangt vollkommen am Vorderarm herab, kann willkiirlich keine Spur auf- 
gerichtet werden. Bei dem Versuch dazu erfolgt starke Flexion des 
Vorderarms (Fig. 4 b). Beim Faustschluss begibt sich die Hand unwillkGr- 
lick in ausgiebige Streckung. Spastischer Widerstand der Handbeuger, 
Clonus derselben. Daumen zeigt keine wesentliche Einschrankung seiner 
Beweglichkeit, kann aber nicht mehr isoliert bewegt werden, stets beugen 
oder strecken sich die anderen Finger alle mit. 

Vorderarm und Oberarm ganz ohne Stbrung, ebenso Sensibilitat 
ungestdrt. 

Status am 20. XI. Es besteht jetzt eine starke Parese der langen 
Fingerstrecker, so dass jetzt alle 3 Phalangen nicht mehr ordentlich 
extendiert werden konnen. Die Finger sind stark in die Hohlhand ein- 
geschlagen, spastischer Widerstand der langen Flexoren erheblich, willkOr- 
liche Beugung aller Finger kraftig, isolierte Beugung eines Fingers ohne 
Mitbengung der anderen unmoglich. Die Beweglicheit des Daumens ist 
auffallend gut nach alien Richtuugen. Der Daumen kann bis zum Klein- 
tinger opponiert werden, nur gelingt die Raddrehung und Flexion des 
1. Metacarpale nicht so gut mehr wie frtther (Parese des Abductor pollicis 
brevis) und die Abduktion des 1. Metacarpale ist schwacher (Parese des 
Extensor pollicis brevis). 

Lahmung der willkQrlichen Handstreckung, unwillkOrliche Hand- 
streckung beim Faustschluss erhalten. Spasmus der Handbeuger, Hand- 
beugung gelingt mit leidlicher Kraft. Aktive Supination und Pronation 
nicht beschrankt, leichter Spasmus der Pronatoren. Sonst Status idem. 

Da die Lahmung immer weiter griff und auch die Jack son sclien Anfalle 
trotz der Schmierkur (18 Einreibungen) immer weiter dauerten, riet ich am 
20. XI. zur intramuskularen Calomelapplikation. Es wurden injiziert zuerst 
0.03, nach 3 Tagen 0,04, dann alle 3—4 Tage 0,05 Calomel, im ganzen 
14 Injektionen. Die Krampfanfiille haben sich seit dem 20. XI., also seit 
Beginn der Calomelkur, nicht mehr wiederholt, ebenso erfolgte bald rascher 
Rtickgang der Bewegungsstorung der Hand und der Finger. Nach 14 Tagen 
besteht nur noch eine leichte Interosseusparese, der Kleinfinger steht noch 
stark ab. Nach weiteren 3 Wochen ist auch diese Storung ganz gewichen. 
Nur die Sehnenretlexe der obercn Extremitat sind noch lebhaft. Kopf- 
schmerzen haben ganz aufgchort. 

Im Sommer 1908 erneute Attache von Kopfschmerzen, hiiufige Zuckungen 
in den Streckmuskeln der Finger des linken Arms. Der Kleinfinger steht 
wieder ab und ist in Mittel- und Endphalange gekrtimmt. Erneute 
Calomelkur: alle 3—4 Tage 0,05 Calomel, in Summa 16 Spritzen, Summa 
0,8 Calomel. Vollkommener Rtickgang aller Erscheinungen. Patientin 
befindet sich seitdem dauernd gut. Dezember 1908 und Januar 1909 
werden prophylaktisch 0,5 Calomel in 10 Spritzen a 0,05 injiziert. 

In dem vorangehenden Falle handelt es sich offenbar um eine 
luetische Rindenaffektion im Bereich der rechten Armregion, daher 
die Jacksonschen Anfalle im linken Arm. Das Bemerkenswerte der 
Ausfallssymptome liegt nur darin, dass auch hier wieder zunachst 
eine isolierte, absolut typische Lahmung der Interossei be- 

Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkuude. 37. Bd. 26 


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XVIII. Foerster 


stand nnd zwar betraf dieselbe zuerst nur den Kleinfinger und Gold- 
finger (Fig. 4 a). 

Andere Erscbeinungen der Erkrankung der Armregion bestanden 
absolut nicht, keinerlei andere Paresen, insbesondere auch keine spastischen 
Kontrakturen der Fingerbeuger, keine Mitbewegungsphanomene; es 
kann der Zeigefinger, der Daumen isoliert gebeugt nnd gestreckt werden. 
Nur die Sehnen- und Periostreflexe des Arms sind gesteigert. Im 
weiteren ergreift die Interosseuslahmung alle Finger, sonst besteben 
weiter keine Paresen, aber es stellen sich Zeichen gesteigerter reflek- 
torisch-subcortikaler Erregbarkeit der ubrigen Fingermuskeln ein (spa- 
stische Kontraktur der langen Beuger, Mitbeugung bezw. Mitstreckung 
aller Finger bei willktirlich intendierter Beugung bezw. Streckung 
eines Fingers allein). Die weitere Ausbreitung der Lahmung zeigt 
nun das hochst Charakteristiscbe, dass sicb eine totale Lahmung 
der willkiirlichen Handstreckung einstellt (Fig. 4b), wahrend 
die langen Fingerstrecker und die Daumenmuskeln noch 
vollkraftig agieren. Dabei zeigt die Hand, die willkurlich nicht 
eine Spur gestreckt werden kann, das ffir die aus der Pyramidenbahn- 
erkrankung entspringende Koordinationsstorung absolut typiscbe Yer- 
balten, dass sie sich infolge der erhaltenen, ja gesteigerten reflekto- 
risch-subkortikalen Erregbarkeit der Handstrecker unwillkiirlich recbt 
gut mitstreckt, sobald die Finger willkiirlich gebeugt werden, ja dass 
diese Mitstreckung vom Kranken nicht unterdruckt werden kann. In 
dritter Instanz kommt dann eine Lahmung der langen Finger¬ 
strecker dazu, so dass die Finger jetzt gar nicht mehr gestreckt 
werden konnen, wahrend ihre Beugung uneingeschrankt bleibt. Auch 
am Daumen entwickelt sich eine Parese des Abductor pollicis brevis 
sowie eine Parese des Extensor pollicis brevis, wahrend der Extensor 
longus vollkraftig bleibt, ebenso wie der Adduktor, Flexor brevis und 
Flexor longus. Hierzu kommen auch noch Storungen, welche aus der 
ungehemmten subcortikalen reflektorischen Erregbarkeit der Finger- 
und Handmuskeln entspringen (Clonus der Handbeuger), Kontraktur 
der Pronatoren, Mitbewegungsphanomene). Dartiber hinaus hat sich 
aber die Bewegungsstorung nicht ausgedehut. 

Fall 10. Traumatisehe Rindenepilepsie des rechten Arms. 

Monoplegia bracliialis. 

Th. Fr., gel). 1880, 22 Jalire alt. Mit 8 .Tahren heftiger Schlag gegen 
die linke Selilate. worauf sie 5 Stunden lung Kriimpfe der rechten KOrper- 
liiilfte liatte und mehrere Tage ganz zu Bett lag. Sie konnte 4 Wochen 
lang die Sebule nicht besuchen. Dann war sie aber gesund, nur blieben 
in den nach>teu Jahren der rechte Arm und das rechte Bein in ihrem 


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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnherdeu. 


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Dickenamfang etwas gegen die linke KOrperhalfte zurfick, sie waren zwar 
nach alien Richtungen in vollem Umfange frei beweglicb, nur zeigten sie 
sich immer eine Spur schw&cher als die linksseitigen Extremit&ten. Beim 
Gange zeigten sich keine Storungen des rechten Beins und anch die rechte 
Hand konnte bei dem Handwerke, das sie ausfibte — sie ist Posamentier- 
arbeiterin — von der Eranken, wie diese ausdrttcklich angibt, immer genau 
ebenso geschickt gebraucht werden wie die linke. Nur ermfidete der rechte 
Arm manchmal eher. Im September 1901 bemerkte nun die Eranke, dass 
der rechte Eleinfinger von den Qbrigen Fingern abstand und sich krfimmte. 
Im Laufe der nficbsten Monate wurde die ganze Hand ungeschickt, auck 
die anderen Finger krfimmten sich, und Januar 1902 musste die Eranke 
ihre Arbeit ganz aufgeben. Auch spfirte sie in den Fingern der rechten 
Hand bisweilen ein deutliches Zucken, und es kam wiederholt zu tonisch- 
klonischen Erampfen des ganzen rechten Arms, die aber nur von kurzer 
Dauer waren. 

Status im Janur 1902. Geringe Elopfempfindlichkeit fiber der linken 
vorderen Schadelhalfte, etwa an der Grenze zwischen Os frontale und 
parietale. Pupillen o. B. Augenhintergrund o. B. Rechtsseitige Facialis- 
parese im Bereich der Ober- und Unterlippe, rechtsseitige Hypoglossus- 
parese.' Eeine SprachstOrung. 

Obere Extremitat: In der Rube stehen die 2. und 3. Phalange der 
Finger in Beugung, wfihrend die Gruudphalangen gestreckt sind, die Finger 
stehen deutlich gespreizt, am meisten ist der Eleinfinger abduziert. 
Die Mittel- und Endphalange konnen willkfirlich nicht vOllig extendiert 
werden, bei der Anstrengung, die die Eranke dazu macht, werden die 
Grundphalangen Qberstreckt, wahrend die Mittel- und Endphalange in nock 
starkere Beugung geraten, die Finger nehmen also typische Erallen- 
stellung an. Die Adduktion der gespreizt stehenden Finger gelingt nicht, 
nur bei Flexion aller Finger in alien drei Gelenken rttcken sie ganz an 
einander. Die Spreizung gelingt gut, aber es erfolgt dabei Uberstreckung 
der Grundphalangen. Die Grundphalangen werden willkfirlich in vollem 
Umfange extendiert, sogar hyperextendiert, dabei aber immer gespreizt. 
Die Flexion der Finger geschieht auch in vollem Umfang und mit guter 
Eraft, nur ist die Beugung der Grundphalangen, wenn man ihr Widerstand 
lcistet, kraftlos (Interosseusliihmung). Die langen Fingerbeuger zeigen 
einen leichten Grad von spastischer Eontraktur. Isolierte Flexion oder 
Extension eines Fingers ist unmOglich, stets beugen oder strecken sich 
sfimtliche Finger. Der Daumen selbst zeigt in der Rube keine weitere 
Anomalie, als dass die Endplialauge etwas flektiert steht, sie kann aber 
vollkommen extendiert werden; die Beugung der Grund- und Endphalange, 
sowie die Extension der Grundphalange zeigen keine Einschrfinkung, ebenso- 
wenig die Extension, Abduktion, Adduktion und Flexion des 1. Metacarpale. 
Auch die Opposition des Daumens gegen die anderen Finger zeigt keine 
StOrung, nur konnen die anderen Finger wegen der Interosseusparese nur 
im Mittel- und Endgliede gebeugt mit der Daumenspitze in Berflhrung 
gebracht werden. Der Daumen kann auch nicht isoliert bewegt werden; 
soil er abduziert oder extendiert werden, so erfolgt stets Streckung und 
Spreizung der anderen Finger; soil er adduziert, flektiert oder opponiert 
werden, so erfolgt stets eine leichte Flexion auch der fibrigen Finger. 
Der Flexor pollicis longus zeigt leichte spastische Eontraktur, duller geriit 

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bei willkQrlicher Abduktion des Daumens das Endglied leicbt in Flexion, 
aber es kann auch vollkommen dabei extendiert werden. 

Die Hand zeigt keinerlei Stttrung, sie wird in vollem Umfange ex¬ 
tendiert and flektiert, bei der Extension geraten die Finger in starke 
Flexion and diese Mitbewegung kann nicht ausgeschaltet werden, um- 
gekehrt ger&t bei jedem Faustschluss, den die Kranke ausftthrt die Hand 
in Extension, aber diese kann willkttrlich sehr gut unterdrttckt werden. 
Supination und Pronation der Hand zeigen keine Bcschr&nkung, weder bei 
passiver noch bei aktiver Bewegung. 

Vorderarm wird in vollem Umfange und mit guter Kraft gebeugt und 
gestreckt, keine Kontraktur der Beuger Oder Strecker, keine Mitbewegungen 
der Hand oder des Oberarms bei willkttrlichen Bewegungen des Vorderarms. 

Oberarm ebenfalls nach keiner Richtung in seiner passiven oder 
aktiven Beweglicbkeit eingeschrfinkt. Keine Kontraktur der ihn bewegen- 
den Muskeln. Keine charakteristischen Mitbewegungen des Vorderarms 
oder der Hand bei willkttrlichen Bewegungen desselb^n. 

Schnlter aktiv und passiv nach alien Ricbtungen vollkommen frei und 
isoliert beweglich. 

Der Beugesehnenreflex am rechten Arm, ebenso der Triceps brachii- 
reflex und der Radiusperiostreflex sind rechts gesteigert. 

Der Umfang des rechten Oberarms betrftgt 21 ’/ 2 cm gegen 23 1 ! 2 cm 
links, der Umfang des rechten Unterarms 18 , / 2 cm gegen 20 cm links. 

Die elektrische Erregbarkeit der Muskeln des rechten Arms ist 
nirgends, auch nicht im Gebiete der Interossei, qualitativ oder quantitativ 
verttndert. 

Rumpf o. B. Abdominalreflex beiderseits gleich. An der rechten 
unteren Extremitttt besteht Andeutung von Fussklonus, etwas spastischer 
Widerstand der Kniestrecker. Gesteigerter Achilles- und Patellarreflex 
rechts. Kein Babinskischer Zehenreflex. Die willkttrliche Beweglichkeit 
ist nach keiner Richtung hin eingeschrankt, nur besteht bei alien Wider- 
standsbewegungen eine leichte diffuse Schwache des ganzen rechten Beins. 
Der Umfang des rechten Oberschenkels betrttgt 38 cm, ebenso wie links, 
der Umfang der rechten Wade 31 cm gegen 32 cm links. 

An der linken Kbrperhalfte sind keinerlei Storungen zu eruieren. 

Blasen- und Mastdarmstorungen bestehen nicht. Die Sensibilit&t zeigt 
eine ganz leichte Differenz fttr alle Qualitatcn zu ungunsten der rechten 
Kbrperhalfte sowohl im Gesicht, als am Rumpf und an den Extremitaten. 

Keine Tastlahmung der rechten Hand. 

Im weiteren Verlauf kehren vereinzelte Jacksonsche Anfalle im 
rechten Arm wieder. Ferner breitet sich die Lahmung, die also bisher 
sicli ausschliesslich auf das Gebiet der Mm. interossei der rechten Hand 
beschrankte, allmahlich weiter aus, und zwar wird zunachst die Hand- 
streckung von derselbeu ergriffen. 

Im Juni 1002 besteht im ttbrigen genau derselbe Status wie im 
.Tanuar, ausserdem aber liangt die Hand am Vorderarm total herab und 
kann willkiirlich fast gar nicht extendiert werden, es erfolgt nur die bei 
alien Lahmnngen der Handstrecker charaktcristische Flexion des Vorder- 
arms. Die Handbeuger zeigen deutlieh spastische Kontraktur, willkQrliche 
llandbeugung ist nicht abgeschwiickt. Beim willkttrlichen Faustschluss 
extendiert sich die Hand unwillkttrlich recht gut mit. Diese Mitbewegung 


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kann nicht mehr wie frQher unterdrOckt werden. Hervorzuheben ist, dass 
die langen Fingerstrecker und die langen Fingerbeuger sowie die Maskeln 
des Daumens noch gar keine Parese zeigen. 

August 1902 beginnende Schw&che der langen Fingerstrecker, die 
Grundphalangen werden nicht mehr Qberstreckt, die Spreizung der Finger 
ist eingeschrankt. Lange Fingerflexoren noch vollkraftig. Handbeugung 
leicht paretisch. WillkQrliche Pro- und Supination uneingeschrankt, leichter 
spastischer Widerstand der Pronatoren. Am Daumen besteht Parese des 
Abductor pollicis brevis, am demselben wird bei der Opposition das 1. Meta- 
carpale nicht mehr genQgend flektiert und um seine Langsachse gedreht, 
so dass die Vola pollicis nicht ordentlich der Vola digiti gegenObersteht, 
sondern nur den radialen Rand berGhrt. Dabei ist der Flexor pollicis 
brevis noch ganz intakt, so dass die Spitze des Daumens noch mit der 
Spitze des Kleinfingers ohne Mflhe in BerOhrung gebracht wird. Ferner 
besteht eine starke Einschrankung der Abduktion des 1. Metacarpale (Parese 
des Extensor pollicis brevis), auch die Streckung der Grundphalange ist 
schwach (Extensor pollicis brevis), dagegen ist die Extension des 1. Meta¬ 
carpale und die Streckung der Endphalange noch sehr gut (Extensor 
pollicis longus). 

Auch die Adduktion des 1. Metacarpale (Adductor pollicis brevis) und 
die Flexion der beiden Phalangen (Flexor pollicis longus) ist nicht ein¬ 
geschrankt. 

November 1902. Zur vollkommenen Lahmung der Interossei und 
der Handstrecker ist eine fast vollkommene Lahmung der langen Finger¬ 
strecker getreten. In der Ruhe hangen an der unterstfltzten Hand die 
Finger im Metacarpophalangealgelenk total herunter, bei forciertem Streck- 
versuch extendiert sich die Grundphalange des Kleinfingers und Goldfingers 
noch leidlich, die des Mittel- und Zeigefingers gar nicht. Lange Finger¬ 
beuger noch gut wirksam, wenn auch gegen links in ihrer Kraft herab- 
gesetzt. WillkOrliche Handbeugung etwas paretisch. WillkOrliche Pro 
und Supination nicht beschrankt. Spastischer Widerstand der Pronatoren. 

Der Daumen zeigt jetzt auch deutliche Parese der Extension des 
1. Metacarpale und der letzten Phalange (Extensor pollicis longus), wahrend 
die Adduktion des 1. Metacarpale sowie die Flexion der Phalangen noch 
gut gelingcn. Auch die Funktion des Flexor brevis zeigt noch keine 
wesentliche Einschrankung, indem die Daumenspitze noch mit der Klein- 
fingerspitze gut in BerOhrung gebracht werden kann. Die Lahmung des 
Abductor pollicis brevis ist eine totale. 

April 1908. Interossei und lange Fingerstrecker total gelabmt, Finger 
sind ganz eingcsohlagen, lange Fingerflexoren wirken gut, wenn auch gegen 
links in ihrer Kraft vermindert. Kontraktur der langen Fingerbeuger, 
Handstreckung willkQrlich unmoglich, beim Faustschluss gut ausgefOhrt. 
Handbeugung sehr abgeschwacht. Pro- und Supination auch abgeschwacht, 
Kontraktur der Pronatoren. Beim Beugen des Vorderarms erfolgt starke 
Pronation der Hand als Mitbewegung, ebenso beim Erheben des Oberarms. 

Vorderarmbeugung und -streckung etwas paretisch, leichte Kontraktur 
der Beuger sowie tier Strecker, bei der Erhebung des Oberarms nach der 
Seite erfolgt unwillkOrliche Flexion des Vorderarms (neben Pronation der 
Hand) und beim Adduzieren des Oberarms unwillkOrliche Streckung des 
Vorderarms. Beide Mitbewegungen konnen nicht unterdrOckt werden. Im 


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Oberarm besteht leichte Kontraktur der Adduktoren, Vor- und ROckwfirts- 
beweper und Innenrotatoren, auch die aktive Beweglichkeit ist beschr&nkt, 
indem der rechte Arm gerade nach vorn nicht ganz so hoch erhoben wird 
als der linkc, auch die Erhebung nach der Seite ist etwas besckrftnkt; 
dabei unwillkOrliche Flexion des Vorderarms und Pronation der Hand 
sowie Erhebung der Schulter. WillkOrliche Adduktion ist recht kr&ftig, 
dabei unwillkOrliche Streckung des Vorderarms. ROckw&rtsbewegung des 
Arms nicht beschr&nkt, dabei aber unwillkOrliche Flexion des Vorderarms 
und Pronation der Hand. WillkOrliche Innenrotation und Aussenrotation 
des Oberarms etwas abgeschwacht, aber in vollem Umfange mOglich. 

Die rechte Schulter steht eine Spur tiefer als die linke. Sie kann 
willkOrlich ebenso hoch erhoben werden als die linke, aber nicht allein, 
es erfolgt dabei immer eine Mithebung der linken Schulter sowie eine 
Abduktion des rechten Oberarms. 

Der Tricepsreflex, der Beugesehnenreflex, der Radiusperiostreflex der 
rechten Seite sind lebhaft gesteigert. An der unteren ExtremitOt besteht 
derselbe Befund wie zu Anfang. Das Gleiche gilt von der Sensibilitats- 
stOrung der rechten KOrperh&lfte. Es besteht nach wie vor keine Tast- 
l&hmung an der rechten Hand. 

Die Jacks on schen Anfalle im rechten Arm sowie die Kopfschmerzen 
Ober dem linken Stirn-Scheitelbein bestehen fort. 

Bis August 1903 hat sich der Zustand nicht weiter ver&ndert. 
Seitdem habe ich die Kranke nicht wieder gesehen. Auf wiederholte Auf- 
forderungen, sich vorzustellen, hat sie nicht mehr geantwortet. 

Auch in diesem Falle, in dem wir eine posttr&umatische Rinden- 
aflektion annehmen mussen, die im wesentlichen die H&ndregion er- 
greift, besteht zunachst eine isolierte Lahmung der Interossei der 
rechten Hand, daneben Zeichen ungehemmter reflektorisch-subcorti- 
kaler Erregbarkeit der Finger- and Daumenmuskeln (Kontraktur, Mit- 
bewegungen.) Auf die Lahmung der Interossei folgt wieder zunachst 
eine Lahmung der Handstrecker (wie in Fall 9), die Hand kann 
willkilrlich nicht eine Spur extendiert werden bei erhaltener, ja unge¬ 
hemmter reflektorisch-subkortikaler Erregbarkeit der Extensores carpi 
(unwillkOrliche Mitstreckung der Hand bei willkOrlicher Fingerbeugung). 

Erst viel spater beginnt auch in die9em Falle wieder eine Parese 
der langen Fingerstrecker und zwar zuerst des Zeige-undMittel- 
tingers, spater auch des Gold- und Kleinfingers; zuletzt vollkommene 
Lahmung der langen Fingerstrecker, wahrend die langen Fingerbeuger 
recht kriiftig bleiben. Am Daumen stellt sich auch hier wieder zu¬ 
erst Lahmung des Abductor pollicis brevis und des Extensor pollicis 
brevis ein, wahrend der Extensor pollicis longus lange intakt bleibt 
und nur gegen Ende eine Parese erkennen lasst; Flexor pollicis longus, 
Adductor pollicis und Flexor pollicis brevis zeigen bis zuletzt keine 
Einschriinkung. 

Auf die geringl'iigigen Stdrungen von seiten des Beins (gesteigerte 


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Uber den Lahraungstypus bei cortikalen Hirnherden. 


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Reflexe, Fussklonus) sowie die leichte Herabsetzung der Sensibilitat 
for alle Qualitaten an der rechten Korperhalfte soil hier nur hinge- 
wiesen werden. 

Auf die weitere Ausbreitung der Bewegungsstorung auf die 
Muskeln der Hand, des Vorderarms, Oberarms und der Schulter will 
ich hier nicht naher eingehen, da sie keine Besonderheiten bietet, son- 
dern im wesentlichen der allerdings nicht voll entwickelten Arm¬ 
lahmung entspricht; die Paresen sind nur geringe, aber die Zeichen 
der ungehemmten reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit der Muskeln 
(Kontrakturen, unwillkurliche Mitbewegungen) sind voll entwickelt. 

Fall 9 und 10 zeigen eine grosse Ahnlichkeit in der Entwick- 
lung der Lahmung, in beiden Fallen besteht zunachst ausschliesslich 
eine cortikale Interosseuslahmung, an diese schliesst sich eine corti- 
kale Lahmung der Handstrecker und an diese erst die Lahmung auch 
der langen Fingerstrecker an, wahrend die langen Fingerbeuger keine 
Schwache erkennen lassen. Am Daumen beginnt die Lahmung in 
beiden Fallen mit einer Lahmung des Abductor pollicis brevis, dann 
folgt der Extensor pollicis brevis, wahrend der Extensor pollicis longus 
in Fall 9 dauernd, in Fall 10 eine Weile frei bleibt. Adductor pollicis, 
Flexor pollicis brevis und Flexor pollicis longus bleiben in beiden 
Fallen frei von der Lahmung. Letzteres sowie das Freibleiben der 
langen Fingerflexoren entspricht dem Prtidilektionstypus der cerebralen 
Armlahmung, auch das frtihe Ergriffensein des Abductor pollicis brevis 
entspricht diesem Typus, aber da9 Ergriffensein des Extensor pollicis 
brevis bei Integritat des Extensor pollicis longus spricht ftir eine 
cortikale Lasion, indem der Focus des einen Muskels ergriffen ist, der 
des anderen lange Zeit verschont bleibt; eine derartige Differenzierung 
habe ich wenigstens bei Kapselhemiplegie noch nicht angetroffen. 
Vollends ist die isolierte Lahmung der Interossei bei intakter Kraft 
des Extensor digitor. longus, also die typische Krallenstellung der 
Finger nur bei cortikaler Lasion moglich, die den Focus der Interossei 
zerstort, den des Extensor longus intakt lasst Die Lahmung der Hand¬ 
strecker bei erhaltener oder kaum verminderter Kraft der Handbeuger ent¬ 
spricht auch dem Verhalten der Kapselhemiplegie; was aber den beiden 
Fallen ein besonderes Geprage gibt und nur durch die spezielle corti¬ 
kale Lasion erklarlich ist, das ist die Tatsacbe, dass die Lahmung der 
Handstrecker sich an die Lahmung der Interossei anschliesst, wahrend 
die langen Fingerstrecker noch intakt bleiben. Diese Differenzie- 
rung kommt bei kapsularer Armlahmung nie vor. Sie kann nur so 
erklart werden, dass der Focus fur die Interossei und der Focus ftir 
die Handstrecker ganz vorne an der vordereu Zentralwindung sich 
befinden, wahrend der Focus fur die langen Fingerstrecker hinter dem 


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fttr die Interossei zu denken ist. Wenn ein Herd von vorne her die 
vordere Zentralwindung trifft, so kann der Focus flir die Intesossei 
und der fur die Fxtensores carpi zunachst betroffen werden, und erst 
bei einiger Ausdehnung des Herdes nach hinten wird auch der Focus 
fQr den Extensor longus mit einbezogen. 

In dieser Beziebung ist der folgende Fall hochst lebrreicb, der 
anch wieder eine Lahmung der Interossei und der Handstrecker zeigt, 
wabrend die langen Fingerstrecker ganz frei geblieben sind. 

Fall 11. Rindenepilepsie, Monoplegia brachialis sinistra. 

F. L., 30 Jahre alt. Als Kind mit einem Jahr Stnrz von der Treppe, 
danach angeblich GehirnentzQndang. Seit dem Alter von 12 Jahren epi- 
leptische Krhmpfe, mit 19 Jahren erhebliche Verschlimmerung der Anfalle, 
mehrere Anfalle an einem Tage. Da eine ganz leichte Parese der linken 
KOrperhalfte bestand, wurde 4. VII. 1900 die Gegend der rechten Zentral¬ 
windung durch Trepanation (Geh.-R. v. Mikulicz) freigelegt, milchige 
Trflbung und Odematose Schwellung der Pia an dieser Stelle gefunden; 
einige schwartige Teile der Pia wurden abgeldst und entfernt. Nach der 
Operation zunachst totale Hemiplegia sinistra, welche aber rasch zurOck- 
ging. Epileptische Anfalle wesentlich gebessert, noch 4—6 Anfalle im Jahre. 

Status im Dezember 1907. Die Pupillen reagieren prompt auf Licht, 
sind gleichweit. Augenhintergrund normal, Augenbewegungen ungestdrt. 
Es besteht eine deutliche Lahmung des linken Gesichtsnerven im Bereich 
der Ober- und Unterlippe, die Zunge weicht eine Spur nach links ab. 
Am Gaumensegel bestehen keine Lahmungserscheinungen, ebensowenig am 
Kiefer. Haltung und Bewegungen des Kopfes ungestort. 

Die linke Schulter steht scheinbar tiefer als die rechte, doch ist dies 
nur durch die bestehende Skoliose der Wirbelsaule vorget&uscht, die Stel- 
lung der Schulter zur Wirbelsaule selbst ist, beiderseits gleich hoch. Die 
Haltung von Oberarm und Vorderarm ist rechts wie links normal, die 
linke Hand ist gegen den Vorderarm etwas ulnarwarts geneigt, die Finger 
der linken Hand sind in alien 3 Gelenken gebeugt, in die Hohlhand ein- 
geschlagen, der Metacarpalknochen des Daumens ist ganz adduziert, die 
beiden Phalangen des Daumens sind leicht flektiert. Die passive Beweg- 
lichkeit der linken Schulter zeigt keine Einschrankung, dagegen stflsst die 
passive Beweglichkeit des linken Oberarms nach alien Richtungen hin auf 
einen leicht abnormen Widerstand der Muskeln. Im Ellbogengelenk be¬ 
steht kein nennenswerter Muskelwiderstand bei passiven Bewegungen, wohl 
aber stossen passive Bewegungen der Hand auf einen starken Widerstand 
der Pronatoren und der Handgelenksbeuger. An den Fingern besteht be- 
trachtlicher Widerstand der Beuger, keiner der Strecker, am Daumen ent- 
falten die Adduktoren den Hauptwiderstand. Die willkQrlicbe Beweglich¬ 
keit der linken oberen Extremist ist folgende: Die Schulter wird links 
nach alien Richtungen ebensogut wie rechts bewegt und zwar auch for sicli 
allein ohne Mitbewegung der anderen Seite und ohne Mitbewegung von 
seiten des Anns. Der linke Oberarm wird ebensogut wie der rechte nach 
vorn oben, nach der Seite und nach hinten erhoben. Soil der Kranke 
den Aim erhoben halten, so ermttdet er dabei elier als rechts. Beim Er- 
heben des Anns geht die Hand immer in Pronation, aber es erfolgt keine 


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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hiruherden. 


405 


Mitbewegung von seiten der Beuger des Vorderarras. Innen- und Aussen- 
rotation sowie Adduktion des Oberarms sind ungestdrt Der linke Vorder- 
arm wird vollkraftig gebeugt und gestreckt, ohne dass krankhafte Mit- 
bewegungen des Oberarms dabei auftreten. Die Pro- und Supination der 
linken Hand ist in vollem Umfange mbglich, beim willkOrlichen Beugen 
des linken Vorderarms unwillkOrliche Pronation der linken Hand; die 
Streckung der linken Hand ist stark beschrankt, wahrend die Beugung 
links fast ebensogut geschieht wie rechts. 

Die Fingerbeugung geschieht links und rechts gleich gut, doch kann 
L. links keinen Finger und keine Phalange allein beugen, es erfolgt immer 
ein vollkommener Faustschluss. Die Streckung der Grundphalangen ist an 
alien Fingern links ebensogut wie rechts, die Streckung der Mittel- und 
Endphalange ist am 5. und 4. Finger links auch vollkommen mOglich, am 
2. und 3. aber sehr beschrankt. Isolierte Streckung eines Fingers un¬ 
moglich. Spreizung der Finger ist voll mdglich, aber die Annaherung ist 
schwach. Am Daumen ist die Abduktion des Mittelhandknochens etwas 
mOglich, doch erfolgt dabei starke Mitbeugung der beiden Phalangen, die 
Streckung und die Adduktion in Streckung ist sehr beschrankt, die Ad¬ 
duktion in Beugung ganz gut, die Opposition ganz unmoglich (Lahmung 
des Abductor brevis und Flexor pollicis brevis); die Beugung der beiden 
Phalangen des Daumens ist gut, die Streckung unmdglich. — Alle feineren 
Fingerverrichtungen, wie das Erfassen eines kleinen Gegenstandes mit den 
Fingern, das Auf- und ZuknOpfen usw., sind sehr gestOrt; nicht einmal das 
Erfassen eines grOsseren Gegenstandes mit alien Fingern (der ganzen Hand) 
ist gut mdglich, da die Streckung der Endglieder des 2. und 3. Fingers 
mangelhaft ist. 

Die Sehnen- und Periostreflexe sind an der linken oberen Extremitat 
lebhaft gesteigert. Der Umfang des linken Arms betrhgt in der Mitte des 
Oberarms 22 cm gegen rechts, wo derselbe 24 cm ' betragt, der grosst- 
messbare Umfang des linken Vorderarms ist 24 cm, der des rechten 25 cm. 

Am Rumpf besteht eine starke Skoliose (seitliche VerkrQmmung) der 
Wirbelsaule, im Qbrigen gescheben aber die Bewegungen der Wirbelsaule 
in vollem Umfange. Auch die Funktion der Bauchmuskeln ist eine beider- 
seits gute, ebenso die der Brustmuskeln, speziell bleibt die linke Brust- 
halfte bei forcierter Einatmung nicht zurQck. Der Bauchdeckenreflex ist 
linkerseits nicht auszulOsen, rechts ist er schwach. 

An den unteren Extremitaten besteht linkerseits eine deutliche Steifig- 
keit der Plantarflexoren des Fusses, der Strecker des Knies und der Ad- 
duktoren des Oberschenkels. Die Sehnenreflexe (Patellar- und Achilles- 
reflexe) sind beiderseits lebhaft, links mehr wie rechts, links besteht An- 
deutung von Fussklonus. Kein Babinskisches Zehenphanomen. Samtliche 
willkOrlichen Bewegungen der linken unteren Extremitat kSnnen in vollem 
Umfange und mit voller Kraftentfaltung ausgefOhrt werden, jedes Segment 
kann einzeln bewegt werden; beim Gauge wird das linke Bein im Knie 
mangelhaft gebeugt, die Fussspitze streift manchmal Ober den Boden. 
Stehen ist auf dem linken Bein unmoglich. Der Umfang des linken Beins 
ist in der Mitte des Oberschenkels 43 cm, der des rechten 45 cm. Der 
Fusssohlenreflex ist beiderseits schwach, qualitativ normal, der Kremaster- 
reflex ist beiderseits schwach. Von seiten der Blase und des Mastdarms 
bestehen keine krankhaften Stbrungen. 


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406 


XVIII. Foerster 


Die Sensibilitat ist an der ganzen linken KOrperhfilfte etwas herab- 
gesetzt, am wenigsten im Gesicbt and am Rampf, starker an den Ex- 
tremit&ten. An diesen betrifft die StOrung vornebmlich die Endglieder, 
d. h. Hand and Finger, bzw. den Fuss. Die Sensibilitatsstdrung betrifft 
in nur sehr geringem Mafie den Schmerzsinn and die Tempera tar- 
empfindung, vorwiegend aber die BerGhrungsempfindung, die Lage- and 
Bewegangsempfindung, Emptindang for Drack- and das Lokalisations- 
vermOgen. An der linken Hand besteht vollkommene Tastlahmnng. 

Von sciten der Sinnesorgane liegen keine in Betracht kommenden 
Storungen vor. 

Dieser Fall 11, dem eine cortikale, durch operative Ablosung einer 
Piaschwarte im Bereiche der Armregion entstandene Lasion zugrunde 
liegt, zeigt im wesentlichen nur eine Schadigung der Finger und 
der Hand, und zwar sind, wie scbon vorwegnehmend gesagt ist, interes- 
santerweise aucb hier wieder nur gelahmt die Interossei und zwar 
nur am Zeige- und Mittelfinger und die Handstrecker, wahrend die 
langen Fingerstrecker ganz frei von Parese geblieben sind; der corti¬ 
kale Herd hat also deu Focus far den Extensor dig. longus verscbont, 
welcber hinter dem der Interossei gelegen ist. Beachtenswert ist aucb 
die Daumenlahmung, indem alle Muskeln desselben bis auf den Ad¬ 
ductor brevis und Flexor longus fast total gelahmt sind. Es bedeutet, 
dass also eine sehr schwere Daumenlahmung, die mit der geringen 
Lahmung der Finger, speziell des 4. und 5., scharf kontrastiert und nur 
durch den cortikalen Herd, der den Focus far den Daumen ganz zerstort 
hat, hingegen den far die anderen Fingermuskeln z. T. intakt gelassen 
hat, erklart werden kann. Bei kapsularer Armlahmung sah ich das 
nie. Endlich ist auch noch die Handlahmung beachtenswert. Ge¬ 
lahmt sind die Strecker, dagegen die Beuger intakt, das ware an sich 
nichts spezifisch Cortikales, dass aber bei der totalen Lahmung der 
Strecker die Supinatoren ganz frei bleiben, ist nur erklarlich aus corti- 
kaler Lasion, die den Focus der Strecker zerstort, die anderen Hand- 
foci frei gelassen hat 

Auch die Muskeln des Vorderams uud des Oberarms und der 
Schulter zeigen keinerlei Paresen. Die Symptome der ungehemmten 
reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit dei Muskeln sind ausgespro- 
chen nur an den Muskeln der Finger und der Hand vorhanden. 

Am Bein bestehen leichte Kontrakturen, keine Paresen. 

Die Sensibilitat zeigt eine Herabsetzung der Berfihrungsempfin- 
dung, der Bewegangsempfindung, der Druckempfindung, des Lokali- 
sationsvermogens an der ganzen linken Korperhalfte, Schmerz- und 
Temperaturempfindnng sind kaum mit betroffen. An der linken Hand 
besteht totale Tastlahmung, doch ist diese durch die bestehenden 
Storungen der einfaeheren Empfindungsqualitiiten vollauf erklart 


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fiber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnberden. 407 

Im Anschluss an die in den Fallen 8, 9, 10, 11 bestehende corti- 
kale Interosseusparese mochte ich, hier allerdings nur kursorisch, auf die 
relative Haufigkeit derartiger cortikaler Interosseusparesen bei Little- 
scher Krankheit, also bei einer Affektion, die im wesentlichen die Bein- 
region betrifft, aber doch auch oft die Armregion beteiligt, hinweisen. 

Pall 12. Cerebrate Kiuderl&hmung, cortikale Lahmung 
des Abductor pollicis brevis. 1 ) 

A. L., 12 Jahre alt, leidet seit dem 3. Lebensjahre an Krftmpfen und 
an einer halbseitigen Schwache des linken Arms und Beins. Krftmpfe in 
letzter Zeit sehr gehauft. Aufnahme ins Allerheiligenhospital 21. XI. 1908. 

Status praesens. Allgemeiner Ernahrungszustand gut. Pupillen 
gleich weit, reagieren prompt. Augenbewegungen normal. Augenhinter- 
grund o. B. Parese des linken Lippenfacialis (Stirn- und Augenfacialis 
normal). Zunge o. B. Linker Arm 1V 2 cm kftrzer als der rechte, eine 
Spur schwacher im Umfang. Stellung der einzelnen Segmente des linken 
Arms und der Finger o. B., keine Kontrakturen der Schulter-, Oberarm- 
und Vorderarmmuskeln, geringe spastische Kontraktur der Pronatoren und 
Flexoren der linken Hand. Keine spastische Kontraktur der Fingerbeuger. 
Die Finger lassen sich passiv in alien Gelenken stark hyperextendieren. 
Lebhafte Sehnen- und Periostreflexe der linken oberen Extremitat. Die 
willkftrliche Beweglichkeit der linken Schulter und des linken Oberarms, 
Vorderarms und der Hand ist durchaus nicht beeintrachtigt. Es kQnnen 
samtliche Bewegungen in vollem Umfange und mit annahernd der gleichen 
Kraft wie rechterseits ausgeffthrt werden, und zwar jede Bewegung jedes 
einzelnen Armabschnittes ist ganz isoliert ausffthrbar. Nur bei der Flexion 
des Vorderarms kommt es zu einer unwillkftrlichen, nicht zu unterdrftcken- 
den geringen Pronation der Hand. Die Finger werden mit voller Kraft 
flektiert, aber es kann kein Finger isoliert gebeugt werden, sondern es 
kommt immer zu einer leichten Mitbeugung aller anderen Finger und des 
Daumens und zu einer nicht zu unterdrttckenden Extension der Hand. 
Die Finger werden vollkommen und kraftig extendiert, dabei kommt es zu 
einer starken Hyperextension und Spreizung, es kann kein Finger allein 
extendiert werden, immer kommt es zu einer leichten Mitextension auch 
der anderen Finger und stets zu einer nicht zu unterdrftckenden Flexion 
der Hand. Die Adduktion und Spreizung der Finger geschieht auch in 
vollem Umfange, aber auch hier bewegen sich stets alle Finger in dem- 
selben Sinne. Der Daumen wird im Metacarpo-carpalgelenk vollkommen 
kraftig adduziert, abduziert und extendiert, die Beugung beider Phalangen 
sowie die Streckung derselben ist weder eingeschrankt noch abgeschwacht. 
Die Opposition des Daumens geschieht bis zur Berfthrung der Daumen- 
spitze mit dem Kleinfinger, aber es wird dabei das Metacarpale des Daumens 
nicht ordentlich flektiert und nicht genftgend um die Langsachse rotiert, 
so dass die Spitze des Daumens entweder nur den radialen Rand der 
Finger in der Gegend der Mittelpbalange berftbrt, oder es muss, wenn 
die Fingerspitzen mit der Daumeuspitze in Berfthrung kommen sollen, der 

1) Der Fall ist von mir auf der chirurgischen Abteilung des Allerheiligen- 
hospitals (Prof. Tietze) beobachtet worden. 


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XVIII. Foehstek 


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Finger in beiden Interphalangealgelenken eingebeugt werden. Es bestebt 
also ein isolierter Ausfall der Wirkung des Abductor pollicis brevis. Bei 
der Opposition stets leichte Mitbeugung aller Finger. Das Kind ist infolge 
dessen mit den Fingern der linken Hand bei der Ausffihrung feiner Finger- 
verrichtungen sehr behindert, es knOpft scblecht, es fasst feinere Objekte 
ungescbickt an usw. 

Am Rumpf bestehen keine Stfirungen. 

Das linke Bein ist 3 cm kfirzer als das rechte. Es besteht Andeutung 
von Babinski links. Patellar- und Achillesreflex lebhaft, kein Fussklonus, 
keine Kontrakturen am linken Bein, keine Paresen der cinzelnen Muskel- 
gruppen, keine Ataxie des linken Beins; s&mtliche Abschnitte sind einzeln 
in vollem Umfange mit voller Kraft beweglich. Beim Gange geht sie etwas 
mit Spitzfuss, um die Verkfirzung auszugleichen, das linke Knie jvird am 
StQtzbein stark hyperextendiert. 

Blase und Mastdarm o. B. 

Sensibililtat o. B. 

Wegen der schweren und gehfiuften epileptischen Anffille, die typische 
Jacksonsche Anfalle darstellen, wird Palliativtrepanation fiber der recbten 
Zentralwindung beschlossen. 

Dabei wird eine starke schwartige Verdickung der Pia fiber deni 
rechten Stirnhin festgestellt, die Zentralwindungen sind im wesentlichen 
frei, nur befindet sich eine sehr dicke Scbwarte mit einer cystischen Bil- 
dung fiber der vorderen und hinteren Zentralwindung am Knie derselben. 
Von einer Entfernung der Piascbwarten wird Abstand genommen. Die 
Dura wird vernfiht, der Knochendeckel entfernt, die weichen Schfideldeeken 
werden vernaht 

Erhebliche Besserung der epileptischen Anfalle. Der objektive Befund 
bleibt genau der gleiche. 

Das Wesentliche dieses Falles liegt — soweit die paretische Kom- 
ponente der bestehenden Koordinationsstorung in Betracht kommt — 
in dem Vorhandensein einer isolierten Parese des Abductor pollicis 
brevis, die sich darin zu erkennen gibt, dass bei der Opposition des 
Daumens, die bis zum Kleinfinger gelingt, das erste Metacarpale nicht 
genugend gegen die Mittelband flektiert und um seine Langsachse 
rotiert wird; dadurch kommt erstens die Volarflache des Daumens nicht 
eigentlich mit der Volarflache der Finger, sondern nur mit dem 
radialen Rande derselben in Beruhrung, zweitens geschieht die Be- 
rfihrung, wenn der Finger in den Phalangealgelenken gestreckt ist, 
nur im Bereich der Mittelphalange und eine Bernhruug der Finger- 
spitze ist nur bei Beugung der 2. und 3. Phalange moglich. 

Wenn nun auch die Parese des Abductor pollicis brevis die ein- 
zige Parese ist, welche im vorliegenden Fall besteht, so ist die Koordi¬ 
nationsstorung doch keineswegs allein dadurch bedingt, vielmehr be- 
steheu noch von seiten der ubrigen Fingermuskeln und der Handmuskeln 
bei zwar erhaltener cortikaler Erregbarkeit die Zeichen gesteigerter 
reflektorisch-subcortikaler Erregbarkeit, es besteht spastische Kontrak- 


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Uber den Lahmuugstypus bei cortikalen Hirnherden. 


409 


tur geringen Grades der Pronatoren und Flexoren der Hand. Die Hand 
fiihrt bei der willktirlichen Flexion des Vorderarms eine unwillknrliche 
ununterdrtickbare Pronation, bei der willktirlichen Beugung aller Finger 
oder eines einzeinen Fingers, Oder des Daumens, oder bei der Opposition 
desselben eine unwillknrliche ununterdrtickbare Extension, bei der will- 
kiirlichen Streckung aller Finger oder eines einzeinen Fingers oder des 
Daumens, oder bei der Abduktion des Daumens eine unwillktirliche 
ununterdrtickbare Flexion aus; die Finger beugen sich alle etwas mit, 
sobald einer isoliert gebeugt werden soli, oder der Daumen gebeugt, oppo- 
niert oder adduziert wird; sie strecken sich alle mit, sobald einer ge- 
streckt werden soil, oder der Daumen gestreckt oder abduziert wird. 

Aus beiden Komponenten setzt sich die motorische Storung im 
vorliegenden Falle zusammen. Zu beziehen ist die Storung sicher auf 
die Schwarte und Cyste fiber der vorderen und hinteren Zentralwin- 
dung gerade am Knie derselben, also an einer Stelle, die als Focus 
des Daumens bekannt ist. Trotzdem mochte ich darauf aufmerksam 
machen, dass die Art der motorischen Storung nichts fBr die corti- 
kale Genese Charakteristisches hat. Denn erstens kommt die isolierte 
Lahmung des Abductor pollicis brevis auch bei kapsularer Armlahmung 
vor, wie schon oben hervorgehoben wurde, und zweitens sind auch die 
aus der gesteigerten reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit der Hand 
und Fingermuskeln entspringenden Kontrakturen und unwillktlrlichen 
ununterdruckbaren Mitbewegungen bei jeder kapsularen Armlahmung 
ebenso vorhanden wie bei cortikaler Schadignng der Foci ftir die Hand 
und die Finger. 

Mir scheint nur, dass bei zirkumskripten Rindenschadigungen in 
der Armregion genau dieselbe Kombination der Symptome wie im 
vorliegenden Falle recht oft vorkommt, und deshalb wollte ich den 
Fall hier mitteilen, indem ich gleichzeitig eine etwas nahere Analyse 
der Storung der feineren Fingerbewegungen geben wollte, welche ge¬ 
rade bei Riudenlasionen so oft hervorgehoben wird. Dass aber diese 
Storung weder in den einzeinen Komponenten noch in der Kombina¬ 
tion dieser Komponenten ftir Rindenlasionen charakteristisch ist, sei 
anderen Autoren gegeniiber nochmals hervorgehoben. 

tfberblicken wir noch eiumal das, was uns unsere Falle lehren, 
im Zusammenhang, so demonstrieren sie ausser der ja langst bekannten 
Einteilung der motorischen Rinde in eine Bein- und Armregion usw. 
eine weitere Gliederung der motorischen Rinde in Foci fur die Glied- 
abschnitte. Diese Gliederung lasst zunachst ein isoliertes Befallensein 
der Foci fur einzelne Gliedabschnitte zu: Fall 5 und 6 zeigen das Er- 
griffensein des Fuss- und Unterschenkelfocus bei Integritat des Ober- 


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XVIII. Foebster 


schenkelfocus. Viele Falle von Littlerscher Krankheit zeigen das 
isolierte Befallensein des Fussfocus oder des Fuss- und Unterschenkel- 
focus bei Integritat des Oberschenkelfocus; dasselbe zeigen viele Falle 
von infantiler Hemiplegie, in denen zumeist der Fussfocus allein ergiffen 
ist. So lehren auch unsere Falle 3, 4 und 5 das isolierte Ergriffensein des 
Fussfocus bei Integritat des Unter- und Oberschenkelfocus, was von 
v. Monakow als bisber nicbt beobachtet erklart wird (S. 640). Fall 5 
und 6 lehren die isolierte Zerstorung des Schulter-, bezw. des Schulter- 
Oberarmfocus bei Integritat der Foci for Vorderarm, Hand und Finger, 
Fall 7 zeigt die Zerstorung des Focus for Daumen und Finger bei In¬ 
tegritat der Foci for Hand, Vorderarm, Oberarm und Schulter, Fall 11 
endlich zeigt Ergriffensein des Finger-, Daumen- und Handfocus bei 
Integritat des Vorder-, Oberarm- und Schulterfocus. 

Die Darstellung, die Monakow von der Gliederung der motori- 
schen Zone gibt, scheint mir widersprucbsvoll zu sein. Denn auf der einen 
Seite erklart er, dass die motorische Vertretung in der Rinde nicht 
nach Muskelgruppen oder Gliedabschnitten, sondem nach Bewegungs- 
kombinationen geschehe. Andererseits vertritt er die Ansicht, dass 
z. B. die Zerstorung des Focus des Daumens gerade die Einzelbewe- 
wegungen des Daumens vemichte. 

Wenn Monakow die Ansicht vertritt, dass fast jede cortikale 
Focalparese, auch wenn sie durch einen begrenzten cortikalen Herd 
veranlasst wird, als eine Bewegungsschwache der ganzen Extremitat 
und noch offers als kombinierte Monoplegie debutiere, so ist diese 
Ansicht wohl durch die hier mitgeteilten Falle als zu eng dargetan. 

Das isolierte Ergriffensein eines einzelnen Gliederabschnittes oder 
mehrerer Gliederabschnitte bei Integritat der anderen Abschnitte dieses 
Gliedeskommt in dieserWeise bei Erkrankungen der Pyramidenbahn in 
der inneren Kapsel nicht vor. Dagegen scheint dasselbe bei spinalen 
Seitenstrangerkrankungen gelegentlich vorzukommen. Es kann aller- 
dings bei leichteren Schadigungen in der inneren Kapsel an der unteren 
Extremitat der Fuss nur eine Parese der Dorsalflexoren und der Unter- 
schenkel eine Schwache der Flexoren zeigen, wahrend die Bewegungen 
des Oberschenkels keine Einbusse ihrer Kraftentfaltung erkennen lassen; 
dann ist aber die Parese am Fuss und Unterschenkel auch nur eine 
geringftigige. Totale Lahmung des Fusses bei volliger Integritat des 
Unter- und Oberschenkels kommt aber meines Erachtens nur bei 
cortikaler Lasion vor, nie bei kapsularer. Ebenso kann am Arm bei 
kapsularer Lasion leichteren Grades ausscbliesslich eine Parese an den 
Fiugern bestehen, wahrend die Muskelu der Hand, des Vorderarms, 
Oberarms und der Schulter keine Einbusse an Kraftentfaltung er¬ 
kennen lassen. Dieser Gegensatz ist aber auch wieder nur moglieh 


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{jber den Lahmungstypus bei cortikalen Himherden. 


411 


bei geringftigiger Parese, zumeist in der Opposition des D&umens. 
Totale Lahmung des Daumens und der Finger bei lntegritat der Hand 
usw. kommt nur bei cortikaler Lasion vor. Vollends kommt eine 
isolierte Schulter- Oder Schulter-Oberarmlfthmung bei lntegritat der 
distalen Armabscbnitte nur bei Rindenherden vor. 

Die Zerstorung einer ganzen Extremitatenregion, also des Haupt- 
ursprungsfeldes der Pyramidenbahnfasern fdr das gekreuzte Bein 
oder far den gekreuzten Arm, erzeugt, wenn sie sich einiger- 
massen langsam entwickelt, oder wenn sie sich nach akutem Beginn, 
in dem die Lahmung alle Muskelgruppen gleichmassig betrifft, allmah- 
lich restituiert, keinen anderen Labmungstypus als die Unterbrechung 
der Pyramidenbabn selbst, sei es innerbalb der inneren Kapsel oder 
weiter unterhalb; es bestebt in beiden Fallen der Pradilektionstypus 
infolge des vikariierenden Eintrittes des Hilfsursprungsfeldes fiir die 
betreffende Extremitat in der gleichseitigen Bein-, bezw. Armregion 
und der von diesen ausgebenden, ungekreuzt zu dem gelahmten Bein 
bezw. Arm ziehenden Hilfsbahnen (Pyramidenvorderstrangbahn, homo- 
laterale Pyramidenseitenstrangbahn und infolge der difFerenten An- 
spruchsfahigkeit der spinalen Kerne der einzelnen Muskelgruppen auf 
diese corticogenen Impulse (Falll [Bein], Fall2 [Bein und Arm], Fall 6 
[Arm]). Sind dagegen beide Beinregionen zerstort, so besteht totale 
Lahmung beider Beine (Fall 1 und 2 der Tabelle I, S. 379), weil die Hilfs- 
ursprungsfelder mit ausfallen. Dass gelegentlich bei totaler Zerstorung 
einer ganzen Extremitatenregion, besonders in fiUhem Alter, die Korn- 
pensation erheblich weiter geben kann, als das ftir gewohnlich der Fall 
ist, lehrt der eingangs mitgeteilte Fall von Monakow. Auch in dieser 
Beziehung besteht Ubereinstimmung zwischen cortikaler und kapsularer 
Lasion. Andererseits darf man nicht obne weiteres annebmen, dass in alien 
Fallen, in denen der Ausgleich ein so weitgekender ist, die ganze Armregion 
zerstort sei; sondern eine so umfangliche Restitution ist im allgemeinen 
nur bei einem zwar die ganze Armregion treffenden, aber dieselbe nur 
bis zu einem gewissen Grade schadigenden Prozesse zu erwarten. 

Auch die Lahmung bei Zerstorung des Focus eines Gliedab- 
schnittes betrifft an sich, wenn sie sich langsam entwickelt oder nach 
akuterem Beginn restituiert, nicht alle Muskelgruppen dieses Ab- 
schnittes in gleichem Mafie, sondern zeigt infolge des vikariierenden 
Eintritts des Hilfsfocus dieses Gliedabschnittes in der gleichseitigen 
Hemisphere und infolge der differenten Anspruchsfahigkeit der zuge- 
horigen spinalen Kerne relatives Freibleiben hestimniter Muskelgruppen 
und eine Lahmung anderer Gruppen dieses Gliedabschnittes, wobei die 
Differenzierung demselben Typus folgt wie bei der Zerstorung der ganzen 
Extremitatenregion oder bei der kapsularen Hemiplegie. Das lehrt 


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412 


XVIII. Foerster 


Fall 5 und6: Labmung der Beuger, relative lntegritat der Strecker des 
Knies bei Zerstorung des Unterschenkelfocus, das lehrt Fall 6 (Ober- 
armlahmung): Parese der Vorwarts-, Rfickwartsbeweger und Aussen- 
rotatoren, lntegritat der Abduktoren, Adduktoren und Innenrotatoren, 
ferner Fall 11 (Daumenlahmung): lntegritat des Adductor pollicis und 
Flexor pollicis longus. Labmung aller anderen Daumenmuskeln. 

1st dagegen bei Zerstorung des Focus ftlr einen Gliedabschnitt, also 
etwa ffir den Fuss, wie in Fall 3, 4, 5 und 6, auch der Hilfsfocus dieses 
Fusses in der gleicbseitigen Hemisphere mitgeschadigt, dann kommt 
es zu keiner Kompensation und es sind alle Muskelgruppen dieses 
Gliedabschnittes gleichmassig willkiirlich gelahmt (Dorsalflexoren 
und Plantarflexoren des Fusses). Dasselbe gilt von vielen Fallen 
Littlescher Krankheit und der Mehrzahl der Falle von infantiler 
Hemiplegie. In Fall 7, wo der Hauptfocus der linken Finger zer¬ 
stort ist, besteht Labmung der Beuger und Strecker, weil der Hilfs¬ 
focus der linken Finger in der linken Hemisphere infolge der allge- 
meinen Hirnarteriosklerose nicht geniigend funktionstucbtig ist. 

Die Foci ftir die einzelnen Gliedabschnitte sind nun ihrerseits 
wieder gegliedert in Foci ftir die einzelnen Muskelgruppen, Beuger 
und Strecker, Ab- und Adduktoren, Innen- und Aussenrotatoren, und 
es kommen bei cortikalen Lasionen isolierte Zerstorungen des Focus 
fur eine bestimmte Muskelgruppe vor, wehrend die Foci fur andere 
Muskelgruppen frei bleiben, die sonst an sich bei Zerstorung des 
Focus fur den ganzen Gliedabschnitt oder vollends bei Lahmung der 
ganzen Extremitat sowie bei kapsularer Hemiplegie in die Lahmung 
einbezogen sind. 

In Fall 5 war z. B. zunachst nur der Focus der Abduktoren des 
Oberschenkels ergriffen, wahrend der Focus der Extensoren und Aussen¬ 
rotatoren noch frei geblieben war. Gleiches zeigt Fall 13 der Tabelle I. 
In Fall 8 der Tabelle 1 ist der Focus der Flexoren und Extensoren 
des Oberschenkels in der Hauptsache verschont, die aller anderen 
Muskelgruppen desselben aber sind zerstort. 

In Fall 7 und 11 wurden z. B. die Beuger der Finger eher ergriffen 
als die Strecker, in Fall 9 besteht totale Lahmung der Handstrecker, 
wiihrend der Focus fur die Supination nicht ergriffen ist. Dasselbe 
gilt von Fall 10, in dem die Schwache der Supinatoren erst sebr spat 
beginnt. Tn Fall 11 ist der Focus der Supination dauernd ganz frei 
geblieben, dagegen der fur die Extension ganz zerstort. 

Eine derartige Ausvvahl einzeluer Muskelgruppen eines Gliedab¬ 
schnittes kommt bei kapsuliirer Hemiplegie kaum vor. Hier ist am 
Oberscheukel, wenn dieser uberhaupt an der Lahmung teilnimmt, 
zum mindesten fur gewbhnlich Abduktion und Aussenrotation in star- 


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Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hirnkerden. 


413 


kerem Grade, die Flexion etwas paretisch; an der Hand ist die Supi¬ 
nation mindestens ebenso geschadigt wie die Streckung, an den Fingern 
die Extension mebr wie die Flexion. 

Endlich sind nun die Foci fur eine bestimmte Muskelgruppe wieder 
in Spezialfoci fur die einzelnen Muskeln, ja auch fbr Teile eines Mus- 
kels gesondert, und diese Spezialmuskelfoci konnen ihrerseits bei 
zirkumskripten cortikalen Lasionen isoliert zerstort werden. So ist der 
Focus fGr die Muskelgruppen der Fingerstrecker gesondert in den 
Focus fiir die Interossei und fur den Extensor longus und, wie Fall 8, 
9, 10 und 11 lehren, kann ersterer isoliert betroffen werden, was bei 
kapsuliirer Armlahmung nie vorkommt. Auch im Focus des Daumens 
ist der Spezialfocus des Extensor pollicis longus getrennt von dem des 
Extensor pollicis brevis gelagert, und in Fall 9 und 10 ist ersterer frei 
letzterer zerstort, was bei kapsularer Armlahmung nie vorkommt. Wenn 
der Abductor pollicis brevis isoliert betroffen wird, so darf man das 
allerdings nicht als ein Zeichen isolierter Zerstorung seines Spezial¬ 
focus ansehen, sondern dieser Muskel versagt immer am leichtesten und 
oft ganz allein sowohl bei leichter Scbadigung des ganzen Daumen- 
focus Oder der ganzen Armregion als auch bei ganz leichter Schadi- 
gung der Pyramidenbahn in der inneren Kapsel. Das hangt mit der 
erschwerten Anspruchsfahigkeit des spinalen Kernes dieses Muskels 
auf corticogene Impulse hin zusammen. Sonst kommt aber Lahmung 
eines einzelnen Muskels bei Pyramidenbahnerkrankungen innerhalb 
der Kapsel usw. nicht vor. 

Ganz analog wie die innervatorischen Elemente in der Hirnrinde, 
aus deren Zerstorung die Lahmung der willktirlichen Erregbarkeit der 
Muskeln folgt, sind nun auch die inhibitorischen cortikalen Elemente 
der Zentralwindung, deren Zerstorung die Steigerung eventuell die Un- 
unterdriickbarkeit der reflcktorischen Erregbarkeit der Muskeln mit 
sich bringt, angeordoet. Auch sie folgt Gliedabschnitten und Muskel¬ 
gruppen, und im allgemeinen geht die Schadigung der innervatorischen 
und inhibitorischen Elemente in unseren Fallen Hand in Hand; so 
zeigen in Fall 5 die Muskeln des Fusses willkiirliche Lahmung und 
ungehemmte reflektorisch-subcortikale Erregbarkeit, derselbe Fall 5 
zeigt spater willkiirliche Lahmung und ungehemmte reflektorisch-sub¬ 
cortikale Erregbarkeit der Schultermuskeln bei volliger Integritat aller 
anderen Gliedabschnitte. Fall 6 zeigt dasselbe Verhalten an der Schulter 
und Fall 7 zeigt totale willkiirliche Lahmung und ungehemmte 
reflektorisch-subcortikale Erregbarkeit der Finger und Daumenmuskeln 
bei Integritat der Hand-, Vorderam-, Oberarm- und Schultermuskeln. 
In Fall 9 besteht anfangs willkiirliche Lahmung und ungehemmte 
reflektorisch-subcortikale Erregbarkeit der Fingermuskeln bei voller 

Deutsche Zeitschrift f. Xervenkeilkunde. 37. Bd. 27 


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414 XVIII. Fokrstkr, Uber den Lahmungstypus bei cortikalen Hiruherden. 


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Integritat der Hand usw. (bis auf die Steigerung der Sehnen- 
reflexe); spater wird die Hand von der Lahmung ergriffen und da 
zeigen auch ihre Muskeln Kontrakfcuren und Mitbewegungsphanomene, 
wahrend Vorderarm, Oberarm und Schulter dauernd frei davon bleiben. 
Genau dasselbe zeigt Fall 10: anfangs Lahmung der Finger und unge- 
hemmte reflektorisch-subcortikale Erregbarkeit derselben, Integritat 
von Hand bis Schulter einschliesslich. Als spater die Hand gelahrat 
wird, zeigen sich auch Kontraktur und Mitbewegungsphanomene an 
ihr, wahrend Vorderarm, Oberarm und Schulter noch intakt sind. 

Nun lehren aber unsere Falle noch weiter, dass im allgemeinen 
die inhibitorischen Elemente vulnerabler sind als die innervatorischen, 
so dass bei der allmahlichen Progression des Prozesses von Focus auf 
Focus immer die Muskeln des betreffenden Gliedabschnittes zuerst 
Kontraktur und Mitbewegungsphanomene zeigen, ehe noch eine An- 
deutung von Abschwiichung der willkurlichen Erregbarkeit besteht. 
So besteht in Fall 3 Lahmung der Fussmuskeln, ungehemmte reflek- 
torische Erregbarkeit der Fuss- und Unterschenkelmuskeln, Integritiit 
der Huftmuskeln. Genau das Gleiche zeigt Fall 4. In Fall 6 besteht 
anfangs eine Lahmung der Fuss- und Unterschenkelmuskeln, dagegen 
eine ungehemmte reflektorische Erregbarkeit des Muskeln des Fusses, 
Unter- und Oberschenkels. In demselben Falle finden wir Lahmung 
der Schulter- und Oberarmmuskeln, gesteigerte reflektorische Erreg¬ 
barkeit der Schulter-, Oberarm- und Vorderaiunmuskeln, Integritat der 
Hand und Finger. Fall 9 und 10 zeigen Paresen an den Fingern, 
keine am Daumen, dagegen ungehemmte reflektorische Erregbarkeit 
der Daumeumuskeln. Fall 12 zeigt als eiuzige Parese nur eine Lah¬ 
mung des Abductor pollicis brevis, dagegen Kontrakturen und Mit¬ 
bewegungsphanomene an alien Fingern und an der Hand. 

Die Tatsache, dass die inhibitorische Funktion ruehr leidet und 
dass die Steigerung der reflektorisch-subcortikalen Erregbarkeit der 
Muskeln den Paresen vorangeht, bezw. liinger alteriert bleibt und sich 
auf weitere Muskelgruppen erstreckt als diese, wird besonders gut 
auch durch die Falle von Littlescher Krankheit demonstriert, wo der 
Gegensatz ja oft frappirend ist. Sie gilt aber fur alle Lasionen der 
Pyramidenbahn, man denke nur an die multiple Sklerose, an die spas- 
tische Spinalparalyse, an beginncnde Kompressionsmyelitis, an Heiui- 
plegien mit weitgehender Restitution usw. 

Fur die Falle mit spinaler und kapsularer Lokalisation ist aber 
charakteristisch, dass gerade diese Steigerung der reflektorischen 
Muskelerregbarkeit die gauze Kxtremitat betrifl't, wiihrend wir bei corti¬ 
kalen Lasionen ein gliedweises Befallensein antrelfen. 


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XIX 


Em Fall yon Stichverletzung des Rflckenmarks. Zugleich 
ein Beitrag zur Frage tlber die Leitungsbahnen im Rilcken- 

mark. 

Von 

H. Fabritius-Helsingfors (Finnland), 

Assisteuzarzt. 

In der folgenden Arbeit will ich einen Fall von Brown-Sequard- 
scher Labmung mitteilen, den ich verhaltnismassig lauge Zeit zu be- 
obachten Gelegenheit hatte, uud der besonders von seiteu der motori- 
schen Sphare mehrere interessante Storungen aufwies. 

A. S., 21jiihriger Bauerssolin, wurde am 18. April 1908 ins chirur- 
gische Krankenhaus zu Helsingfors aufgenommen. Pat., der sicli seit 
einiger Zeit wcgen Schmerzcn im Arme, woran er seit einem Jalire litt, 
in Helsingfors aufhielt, wurde am 18. April uugefiihr um 9 Uhr abends 
von einem unbekannten Manne Gberfallen, welcher ilirn mit einem scharfon 
Gegenstand, walirscheinlicli einem Messer, links im ROcken eine Wunde 
beibraclite. Er tiel unmittelbnr zu Boden, ohne sich allein von der 8telle 
wegbegeben zu kdnnen. Will beim Uberfall weder in der Gegend der 
Wunde noch sonstwo nennenswerte Schmerzen empfuuden haben. Als 
unmittelbare Folge bemcrkte Pat. eine vollstiindige Lahmung des rechteu 
Beins; linkes Hein und Arme frei heweglick. Bei der Uberfuhrung ins 
Krankenhaus maeht sich Empfindliehkeit „im ganzen Korper 1 * fidilbar. 
Aus der Wunde eine zicmlich unbedeutende Blutuug. 

Status praesens: 19. IV., 1—2 Uhr nachmittags, 10—17 Stunden 
post trauma. 

Pat. mittelkraftig. Muskulatur und Erintlirung^zustand befriedigeml. 
Herz und Lungen normal. 

Pat. etwas benommen, liegt. auf dem Rilcken; klagt uber Sehmerzen 
in der rechteu Seite und in dem rechten Beiu sowie uber Emptindlichkeit 
in der Gegend der Wunde. 

Pat. kann den Urin nicht selbst lassen; wurde lieute katheterisiert. 
Kein Priapismus. 

Pupilleu gleich gross, reagieren lcldiaft. 

In der Ilohe des Proe. spin, des 3. Dorsalwirbels. 5—0 cm links von 
der Mittellinie eine 3 cm lange Wunde, in einem Winkel von 45° von 
unten aussen nach oben innen verlaufend. 

Motilitat: Muskeln des Koptes und der Oberextremitaten volUtan- 
dig intakt. 

O- A 

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XIX. Fabritius 


Rechtes Bein vollstandig und schlaff gelfihmt. 

Linkes Bein: Beim ersten Anblick frei beweglich. Bei nQherer Unter- 
suchung bemerkt man jedocli folgendes: Zehen leicht und vollkommen nor¬ 
mal beweglich, ebenso das Fussgelenk und das Knie, in welchen die Muskel- 
kraft offenbar normal ist. In der Httfte bemerkt man jedoch deutlich eine 
gewisse Herabsetzung der Muskelkraft. Pat. kann das Bein von der Unter- 
lage heben, aber es schwankt hin und her und ermttdet bald. DrQckt man 
mit der Hand auf die Vorderseite des Oberschenkels und fordert Pat auf, 
eine Bewegung in der Htifte auszufQhren, so ergibt sich ganz deutlich, dass 
die Beugungsmuskulatur in dem HQftgelenk nicht ihre normale Kraft ent- 
falten kann. 

Bei passiven Bewegungen mit dem rechten Bein gibt Pat. unbedeu- 
tende Schmerzen an und sagt, er habe die Empfindung, „als ob man mit 
Nadeln steche*. Die Richtung der passiven Bewegungen (das Bein wird 
gehoben, ab- und adduziert) wird annahernd richtig angegeben; ebenso die 
Bewegungen mit dem linken Bein. 

Sensibilitiit rechts: 

Bei PinselberQhrung des rechten Beins Oder des unteren Teils des 
Rumpfes fQhlt Pat in den meisten Fallen nichts; zuweilen, besonders wenn 
der Pinsel mit den Haaren senkrecht auf die Haut und etwas starker auf- 
gestellt wird, antwortet Pat.: „Sie stechen mit einer Nadel." Druck fidhlt 
Pat. gut, und verstarkt man denselben oder kneift man, so tut es Pat 
sichtlich mehr weh als an den gesunden Korperteilen (Arme, Gesicht). 

Ftir Nadelstiche eine ziemlich hochgradige Hyperasthesie. 

Audi fOr Temperaturreize ist die Empfindlichkeit gesteigert, so dass 
Pat. warme und kalte Gegenstande an dem Bein und am unteren Teil 
des Rumpfes warmer oder kalter fQhlt als am Gesicht und an den Armen. 

Die Grenze zwischen den verandcrten und der normalen Hautsensibi- 
litat verlauft ungefabr zwischen dem 7. und dem 8. Intercostalraume, da- 
raut' foltrt eine ungefahr 3—4 Intercostalraume umfassende Zone, in der 
grossere Empfindlichkeit als an den Armen und dem Gesicht, aber eine 
geringere als an dem Bein angegeben wird. Eine anasthetische Zone ist 
nicht nachzuweisen. 

Linke Seite: Bis zur Ilohe dos 7. Intercostalraumes fast vdllige An- 
iisthesie ftir alio Reize. PinselberQhrung wird grosstenteils garnicht ge- 
fiililt, und Druck wird bloss ab und zu. besonders auf der Innenseite des 
Oberschenkels empfunden. Fasst und drQckt man den Fuss, so fQhlt Pat. 
dies und lokalisiert ziemlich richtig. Kiilte, Warme und Nadelstiche werden 
ebenso unsicher wie Druck oder auch gar nicht walirgenommen und rufen 
gar keine spezifischen Emptiudungen hervor. fiber dem anasthetischen 
Gebiet liegt eine etwa 3—4 Intercostalraume umfassende, etwas hyper- 
a>thetische Zone. 

Patrllarreflexe: Links normal, werden gut und ziemlich leicht ausgeldst, 
nicht schwach; rechts vollig erloschen. 

19. IV. abends. Die Parese in der linken Htifte hat dermassen zu- 
genommen, dass Pat. das Bein nicht von der Unterlage zu heben vermag. 
In den Knie-, Fuss- und Zehengelenken ist die Bcweglichkcit gut erhalten. 
Pat. wird katheterisiert. Der Sehmerz in der rechten Seite hat etwas ab- 
genonimen. 


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Ein Fall von Stichverletzung des Ruckenmarks. 

20. IV. abends: Die Motilitat ist unverfindert; die linke Hlifte ist 
noch schwacher als gestern, doch nicht ganzlich gelahmt. 

Sensibilitat: Leichte PinselberUhrung und Streichen mit dem Pinsel 
ftthlt Pat. weder auf der rechten noch auf der linken Seite, nur zuweilen ant- 
wortet er bei Bertthrung „jetzt“. Druck wird links in den meisten Fallen 
nicht geftthlt; nurmanchmal glaubt cr etwasdunkel und andeutlich zu ftthlen. 
Auch Alloasthesie wird beobachtet, so dass Pat. zuweilen, z. B. an der 
Innenseite des rechten Oberschenkels bertthrt, den Reiz nach links ver- 
legt und umgekehrt. Unter der linken Fusssohle ftthlt Pat stets und gut 
Bertthrung und Nadelstiche, welche als Druck oder Bertthrung wahrge- 
nommen werden. — 

Was die Patellarreflexe betrifft, wird insofern eine Veranderung be¬ 
obachtet, als sie jetzt auf beiden Seiten vermisst werden. 

21. IV. abends. Pat. klagt nicht melir fiber Schmerzen, hustet ziem- 
lich stark. 

Motilitat wie gestern. 

Sensibilitat: Links wird Pinselbertthrung fast nie empfunden (da- 
gegen wird die Bertthrung an gesunden Kdrperstellen prompt angegeben). 
Die normale Empfindlichkeit beginnt ungefahr beim 8. Intercostalraum Oder 
ungefahr 1 Querfinger oberhalb des Nabels. Die Grenze ist jedocli nicht 
ganz deutlich, weil Pat. Pinselbertthrung zuweilen angeblich schon unter- 
halb des Nabels ftthlt. Mit dieser Grenze fallt auch die Grenze fttr Nadel¬ 
stiche zusammen, d. h. ungefahr vom 8. Intercostalraum aufwirts werden 
Nadelstiche durchaus als solche empfunden. Vorher, in einem Gebiet, das 
ungefahr 3—4 Querfinger ttber der Leiste beginnt und sich bis einen 
Querfinger fiber dem Nabel erstreckt, rufen mittelstarke Stiche nur Be- 
rttbrungsgefQhl hervor. Temperaturempfindungen in diesem Gebiete gitnz- 
lich aufgehoben. Druck ftthlt Pat. in den meisten Fallen garnicht. — 
Wird Athylchlorid auf das linke Bein gespritzt, so sagt Pat., dass „das 
linke Bein nach innen rechts gehoben wird u . Nadelstiche in die linke 
Fusssohle werden deutlich, aber als Bertthrung empfunden und lOsen dabei 
Dorsalflexion des Fusses sowie Kontraktionen des M. quadriceps aus. 
Rechts werden Nadelstiche in die Fusssohle nur als starker Schmerz em¬ 
pfunden, doch werden keine Kontraktionen ausgelost. Kitzeln der Fuss¬ 
sohle wird rechts nur schwach als solches empfunden, links nicht als 
Kitzeln, sondern nur als fiusserst schwache und unbedeutende Bertthrung. 

Rechte Seite: Leichte Pinselbertthrung unsicher, wird ungefahr in der 
Halfte der Untersucliungen als solche geftthlt, sonst nicht. Bei „Stieldruck“ 
(ziemlich stark) hat Pat. eine deutliche Empfindung, die jedoch offenbar 
nicht vollkommen deutlich und leicht definierbar ist. So sagt Pat. nach 
einer Weile: „Sie kueifen“, und sucht dies Geftihl so zu beschreiben, dass 
er mit der Hand eine Hautfalte hebt und kneift Deutliche Hyperttsthesie 
fttr Nadelstiche. 

Patellarreflexe auf beiden Seiten vollig erloschen. 

22. IV. Motilitilt: Rechtes Bein fortgesetzt schlaff gelahmt, al>er bei 
Aufforderung und starker Anstrengung von seiten des Pat. werden schwache 
Flexionsbewegungcn in den Zehen, besonders in der grossen Zehe, beobachtet. 
Linkes Httftgelenk nach wie vor paretisch. 

Sensibilitat: Links werden Pinselbertthrung und Druck vielleicht 
etwas besser als gestern geftthlt, doch iminer undeutlich und konnen nicht 


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XIX. Fabritius 


unterschieden werden. Pat. sagt nur ganz im allgemeinen, dass man das 
Bein berQhre, ohne die Art des Reizes ntther prazisieren zn kOnnen. 
Xadelstiche werden nicht als solche, in den meisten Fallen garnicht ge¬ 
ftthlt. Beim Applizieren von Athylchlorid sagt Pat., dass „das Bein hin- 
und herbewegt werde“. 

Reckts wird Pinselbertthrung haufiger als gestern empfnnden. Bei Druck 
•sagt Pat., dass man kneife. 

Patellarreflexe rechts vOllig erloschen. 

Links tritt der Patellarreflex,- der gestern vermisst wurde, ziemlich 
leicht hervor. 

23. IV. abends. Motilitat: Bei Aufforderung schwache, aber deut- 
liehe Kontraktionen des Muse. flex, hallucis longus; auch in den beiden 
Zehen daneben schwache Flexionsbewegungen. 

Die linke Httfte fortgesetzt deutlich paretisch; Pat. will dieselbe auch 
nicht gem beugen, weil es ihm Schmerzen in der rechten Leiste und dein 
Unterkorper verursache. 

Sensibilitat: Links noch immer fast vdllige Anasthesie; zuweilen 
antwortet Pat. bei Druck, dass „man das Bein hin- und herbewege“. 
Kneifen und Druck werden, wenn Gberliaupt wahrgenommen, meistens nicht 
unterschieden. Athylchlorid ruft wie gestern die Empfindung hervor, als 
ob das Bein nach oben und unten gehoben wttrde (Pat. demonstriert dies 
mit Hilfe der Hand, indem er das linke in der Httfte paretische Bein hebt 
und senkt). 

Rechts nach wie vor Hyperalgesie, auch fttr Kneifen und etwas star* 
keren Druck, die zuweilen unterschieden werden kdnnen, aber gewdhnlich 
miteinander verwechselt werden (auffallender Kontrast mit den anderen im 
Saale liegenden Kranken bei gleichzeitiger Untersuchung mit Druck und 
Kneifen). 

Patellarreflexe rechts weg, links heute sehr schwach. 

24. IV. Motilitat links wie gestern. 

Rechts machen sich Fortsehritte bemerkbar, indem der rechte Fuss 
deutlich, obgleich schwach, im rechten Talocruralgeleuk flektiert und exten- 
diert werden kann. 

Sensibilitat: Links wie gestern; Druck und Kneifen oder Klemmen 
des Beines werden oft nicht geftthlt, und besonders auffallend ist es, dass 
es Pat., wenn man beim Anlegen der Hand den Oberschenkel nicht schQttelt, 
weit schwerer fallt zu unterschciden, wann er bertthrt wird oder nicht. 
Rechts: Druck und Klemmen werden fortgesetzt verwechselt. 

Deutliche Hvperasthesie auch fur Kneifen. 

Patellarreflexe wie gestern. 

25. IV. abends. Motilitat: Rechts in den Zehen und dem Fussge- 
lenk noch weitor gebessert, Bein im Qbrigen schlaff gelahmt. 

Sensibilitat wie gestern. Pinselbertthrung wird beiderseits ab und 
zu geftthlt, meistens jedoch garnicht. 

Druck und Kneifen werden links, wenn sie ttberhaupt empfunden 
werden, ebenso gut wie rechts lokalisiert. 

Patellarreflex beiderseits nicht hervorzurufen. — Pat., der noch am 
Morgen katheterisiert werden musste, kann zurn ersten Male den Urin 


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Ein Fall vou Stichverletzung ties Riiekeumarks. 


419 


selbst lassen. (In den vorhergehenden Tagen bat Pat. zwar geftihlt, wenn 
der Urin drangte, hat ihn aber nicht selbst lassen konnen.) 

*26. IV. Motilittit: Der rechte Fuss und die Zehen konnen schon mit 
merkbarer Kraft bewegt werden. Bein sonst gelahmt. 

Die Parese in der linken Htifte bestebt noch, wahrend die Knie- und 
Fussgelenke bier intakt sind. Wenn man das Bein in der Htifte passiv 
beugt und den Oberscbeukel in der Flexionsstellung sttitzt, kann Pat. den 
Unterschenkel kraftig und gut extendieren und ihn in der Luft halten. 
Will Pat. selbst die linke Htifte beugen, so verursacht es ihm fortgesetzt 
Schmerzeu in dem rechten Unterkorper, wo es aucb bei Hustenanfallen 
weh tut. 

Seusibilitat: Links wird ebenso wie gestern beobacbtet, dass, wenn 
man die Hand vorsicbtig und behutsam auf das Bein legt und dann kneift 
und zudrtickt, Pat. gar nichts ffihlt; manipuliert man unvorsichtig und stosst 
an das Bein, so gibt Pat. jedoch oft richtig an, wenn man ihn anrtihrt. 
Aber die Empfindung ist offenbar ziemlicb verwischt und undeutlicb; Pat. 
lokalisiert ziemlich gut, obgleich bisweilen grosse Febler vorkommen (Ober- 
und Unterschenkel werden verwechselt). 

Recbts werden Kneifen und Druck meistens immer noch verwechselt; 
offenbar kostet es den Pat. viel Kopfzerbrechen, sicb klar zu machen, was 
vorgeht. 

Fortgesetzte Hyperalgesie und auffallend starke Empfindlicbkeit ftir 
Kneifen. 

Pinselbertihrung beiderseits iiusserst unsichor. 

Patellarreflexe beiderseits erloschen. 

Pat. uriniert selbst. 

27. IV. Zustand genau wie gestern. 

28. IV. Es haben ziemlich grosse Veriinderungen stattgefunden. 
Heute urn die Mittagszeit beobachtete Pat. eine gewisse Beweglichkeit in 
der rechten Htifte, und jetzt (am Abend) adduziert er das rechte Bein mit 
ziemlich guter Kraft. Dagegen ist Flexion in der Htifte uumoglich, ebenso 
alle Bewegungen in dem Knie; Zehen und Fuss werden wie frtiher bewegt. 

Linke Htifte paretisch, aber nicht so sehr wie frtiher; das Bein kann 
.jedoch fast in toto von der Unterlage gehoben werden. 

Seusibilitat: Tn den Hauptztigen unveriindert. Recbts fortdauerndo 
Hypertisthesie. 

Patellarreflexe kdnnen jetzt beiderseits ausgelfist werden, obgleich recbts 
iiusserst schwach und mit Schwierigkeit, dagegen links ziemlich leiclit. 
Spuren von Fussklonus in dem linken Fuss. 

Was den Muskelsinn betrifft, der bei den frtilieren Beobachtungen 
etwas vernachliissigt worden war, so wird bemerkt, dass er in dem rechten 
Knie, welches vollkommen gelahmt ist, ganzlich geschwunden ist: Pat. 
gibt an, er konne nur iiusserst schwer erkennen, ob das Bein in dem Knie 
extendiert oder flektiert sei, und beim Ausfragen greift er tatsiichlich ofters 
absolut fehl; in der Htifte dagegen fQhlt er Bewegungen besser, macht aber 
doch Febler; mochte besonders oft behaupten, dass das Bein nach aussen 
sreftihrt werde. obgleich es nach oben gesebiebt. In den Fuss- und Zehen- 
geleuken scheint der Muskel- und Gelenksinn ziemlich gut zu sein. 

Muskelsinn links gut. 

29. IV. Zustand in den Hauptztigen unveriindert. 


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XIX. Fabritus 


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30. IV. Die Muskelstarke (Ad- und Abduktion) hat in der HQfte 
zugenommen. 

2. V. Bechts wird in der HQfte das Bein adduziert und mit einer 
gewissen Kraft bis Qber die Mittellinie gefQhrt oder vielmehr gescbleudert. 
Jede Flexion ist dagegen in der HQfte vollkommen aufgehoben. In dem 
Kniegelenk werden schon deutliche Extensions- und schwache Flexionsbe- 
wegungen beobachtet. 

Linke Seite. Pat. hebt nunmekr das Bein gut von der Unterlage und 
vermag es eine Weile in der Luft zu halten. 

Sensibilitat: Links wird PinselberQhrung in den meisten Fallen 
niclit get’Ohlt, auch vorsichtiger Druck wird nicht wahrgenomraen; Nadel- 
stiche werden in den meisten Fallen empfunden, aber nicht als spezifische 
Empfindungen, sondern als BerQhrung. 

Rechts wird PinselberQhrung nunmehr ziemlich gut empfunden, oft 
aber auch garnicht. 

Druck und Kneifen werden oft verwechselt. 

Ziemlich starke Hyper&sthesie. 

Lokalisationsvermdgen beiderseits gleich. 

Alloasthesie wird ab und zu beobachtet. 

Muskelsinn links prompt, rechts in dem Knie vollstandig aufgehoben: 
ebenso in den Zehen; in der HQfte wird Ab- und Adduktion richtig an- 
gegeben; wird das Bein gehoben, so sagt Pat oft, dass es nacli aussen ge¬ 
fQhrt werde; hier macht Pat. jedoch offenbar Fehler. Auffallend ist es, 
dass die Bewegungen besonders in dem Knie ziemlich grosse Schmerzen 
hervorrufen. (Pat. hat die ganze Zeit mit einem Kissen unter den Knieen 
gelegen, so dass das rechte Bein in dem HQft- und Kniegelenk leicht 
flektiert, ebenso etwas nach aussen rotiert war. Diese langandauernde, un- 
bewegliche Lage des Beins und die HyperUsthesie sind wahrscheinlich die 
Ursacbe dieser Schmerzen bei passiven Bewegungen.) Patellarreflexe beider¬ 
seits so gut wie erlosclien. Rechts deutlicher, obgleich etwas kurzer und 
schwacher Fussklonus. 

3. V. Motilitat: Rechts kann der Unterschenkel extendiert werden. 

Linkes Bein kr&ftig, kann schon gut von der Unterlage gehoben werden. 

Sensibilitat: PinselberQhrung wird nun gewbhnlich und weit offer 

als frQher auf der rechten Seite gefQhlt, links dagegen selten. 

Nadelstiche und Kitzeln werden an der linken Fusssohle und zwar beide 
als Kitzeln aufgefasst, wobei ziemlich lebhafte Flexionsbewegungen in den 
Gelenken des Beins ausgelost werden. 

Obgleich nicht so hochgradig wie frQher, besteht rechts fortgesetzt 
Hyperasthesie. 

Patellarreflexe werden beiderseits ziemlich leicht hervorgerufen und 
sind niclit mehr so sclnvach. 

4. V. Motilitat: Die Bewegungen in dem rechten Bein werden schon 
mit einer gewissen Kraft ausgeluhrt. In dem Fuss und den Zehen sind 
Flexion und Extension sowie schwache Adduktion mdglich, Extension im 
Knie ziemlich stark und weit starker als die Flexion, die noch schlecht 
ist. In der HQfte ist besonders die Adduktion stark hervortretend, die 
Flexion vollkommen unmoglich. 

Sensibilitat ungefahr wie gestern. 

f>. V. Flexion in der rechten HQfte nach wie vor unmoglich. 


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Ein Fall von Stichverlet/.ung des Ruckenmarks. 


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Sensibilitat: Pat. behauptet, dass heute Nadelstiche auf der Vorder- 
seite des linken Obersekenkels schmerzhaft, obwohl ausserst schwach em- 
pfunden werden. 

8. V. Auch bei sorgfaltiger Untersuchung keine Spur von Flexion in 
der rechten Httfte. 

Muskelsinn in dem rechten Knie ausserst schlecht, fast 0; in den 
Zehen etwas besser. 

Rechts fortgesetzte, obgleich nicht besonders hochgradige Hyperasthesie. 

Leichte PinselberQhrung wird rechts nunmehr hiiufig empfunden. Links 
fuhlt Pat. in den meisten Fallen BerOhrung; auch Pinselbertthrung wird 
oft, ja in den meisten Fallen geftthlt. 

Schmerzempfindung am linken Oberschenkel nach vorne zu unsicher. 
Temperaturempfindungen gleich 0. Athylchlorid wird nur als Berfih- 
rung geftthlt. 

Pat. sass heute. 

11. V. Pat. kann seit gestern und heute unbedeutend das rechte Httft- 
gelenk flektieren. 

Ftlhlt am linken Oberschenkel, besonders auf dessen Hinterseite, Nadel¬ 
stiche als schwache spezitische Empfindungen. 

12. V. Flexion in der rechten HQfte fortgesetzt ausserst unbedeutend 
und schwach. In den Knie-, Fuss- und Zehengelenken werden die Be- 
wegungen schon ziemlich gut und mit einer gewissen, obgleich immer noch 
unbedeutenden Kraft ausgeffihrt. Bittet man Pat., den Unterschenkel zu 
extendieren, so wird ab und zu ein kurzer Clonus in dem rechten Fuss 
hervorgerufen. Hyperasthesie schwach. 

Druck und Kneifen werden rechts manchmal verwechselt. 

Leichte Bertthrung mit dem Pinsel wird nunmehr in den meisten 
Fallen beiderseits empfunden. 

13. V. Pat. hebt heute das rechte Bein in toto 10—20 cm von der 
Unterlage, aber es sinkt doch unter Schwanken und Schwingen gleich zurtlck. 

Sensibilitat: Nadelstiche behauptet Pat. als spezifische, schwache 
Schmerzempfindung am linken Oberschenkel und besonders auf dessen 
Hinterseite und der Aussenseite des Unterschenkels wahrzunehmen. Nadel- 
spitze und -knopf werden deutlich von einander unterschieden. Ein Eis- 
stQck wird stellenweise links als kalt geftthlt. Warme (heisses Reagens- 
glas) ruft keine spezifische Empfindung hervor. 

Patellarreflexe beiderseits ebenso schwer hervorzurufen; gelingt es, so 
sind sic nicht schwach, sondern fast normal. 

16. V. Pat. fiebert (Bronchopneumonie?). 

Die Motilitat in dem rechten Bein hat sich gebessert, so dass Pat. 
das Bein eine Weile in der Luft schweben lassen kann. Die Kraft in 
dem rechten Knie ziemlich gut. 

Patellarreflexe nicht stark, treten jedoch hervor. 

Fussklonus rechts. 

Sensibilitat: Leichte Bertthrung wird ttberall geftthlt. 

Kneifen und Druck werden beiderseits gut geftthlt. Verwechselung 
kommt jedoch rechts vor. 

Nadelspitze und -knopf werden links unterschieden. 

Warm und Kalt werden nicht unterschieden. Pat. sagt vom heissen 


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XIX. Faijkitils 


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Reagensglas auf der Aussenseite des Unterschenkels, dass es einigermassen 
deutlich als warm geffthlt wird. 

18. V. Pat. fieberfrei. 

Motilitat: Das rechte Bein wird gut gehoben und ziemlich test in 
der Luft gehalten. 

Sensibilitat: Hyperhsthesie reehts fortgosetzt nachweisbar, obgleich 
schwach. Kneifen und Druck werden auf dieser Seite recht oft ver- 
wechselt. 

Linke Seite: Die Spitze und der Knopf einer Stecknadel werden nnn- 
mehr ziemlich gut unterschieden, Schmerzsinn jedoch stark herabgesetzt. 
Der Temperatursinn macht merkbare Fortschritte. So vermag Pat. beson- 
ders, wenn das Glas l&ngere Zeit auf den Oberschenkel gehalten wird, 
anzugeben, wann ein Glas (mit heissem Wasser) warm und wann es kalt 
ist (ziemlich kaltes Wasser). Ein Eisstflck wird als deutlich kalt be- 
zeichnet. Das Auffassungsvermbgen ist otfenbar verlangsamt, aber das 
Unterscheideu erfolgt doch mit ziemlich grosser Sicherheit. Die Sensibili- 
tiit ist auch ftir diese Sinne auf der Aussenseite des Unterschenkels und 
auf der Hinterseite des Oberschenkels besser entwickelt 

Der Muskelsinn im rechten Knie unsieher, ebenso in den Zelien. 

Patellarreflexe werden beiderseits, obgleich mit Schwierigkeit, hervor- 
gerufcn. 

19. V. Wenn Pat. sein rechtes Bein mehr bewegt, so zeigt sich in 
dem Fuss ein kurzes und schnell vortlbergehcndes klonisches Zittern. 
Kniehackenversuch mit dem rechten Bein wird etwas ataktisch ausgefQhrt, 
geht aber doch von statten. 

20. V. Beim Pat. wird ein kleines linksseitiges Pleuraexsudat kon- 
statiert. 

Pat. versucht zu stelien, fallt aber zusammen; das rechte Bein ge- 
wi'ihrt ihm keine Sttitze. 

25. V. Pat. vermag einige Scliritte an KrQcken zu gehen, wobei sich 
die Rolle des rechten Beins auf ein Minimum reduziert: es wird langsam 
und mtlhsam vorwarts geschleppt und ist ataktisch. 

30. V. Pat. geht schon bedeutend besser, aber das rechte Bein ist 
ausserst schwach. Bei naherer Untersuchung ergibt sich, dass beim Gehen 
besonders zwei Momente storend wirken: einerseits die grosse Schwache 
in dem Bein, andererseits cine ziemlich stark hervortretende Ataxie, eine 
Unsicherlieit, ein Umhertasten und Suchen mit dem Bein. Der Kniehacken¬ 
versuch bekraftigt dies noch mehr. Pat. sagt auch, dass sich das rechte 
Bein unsieher und eigenttimlich ftihle. Der Muskelsinn ist fortgesetzt ge- 
stort; was die Lage des Knies betritft, ftthlt Pat. sie oft nicht und macht 
unrichtigc Angalien; ebenso in den Zehen- und Fussgelenken. 

Die Sensibilitat hat sich nicht bemerkenswert verfindert. Reehts keine 
Ilyperasthesie. 

Die Patellarrotlexe werden beiderseits leiclit hervorgerufen, reehts 
sogar etwas gestcigcrt. Ein langsamer, aber ziemlich lange anhaltender 
Clonus wird in dem rechten Fuss hervorgerufen. 

5. VI. Pat. geht auf einen Stock gesttltzt. Beim Gehen wird das 
rechte Bein nicht besonders geschleppt; eine autfalleude Ataxie macht sich 
in ihm geltend. 

Sensibilitat: Links wird ein warmes Reagensglas vom Pat. be- 


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Ein Fall von Stichverletzung des Kuckenmarks. 


423 


stimint als warm angegeben; Eis und Athylchlorid werdcn dcutlich ge- 
ftihlt; Nadelspitze und -knopf werden unterscbieden. Temperatur- und 
Schmerzsinn jedoch stark herabgetzt. 

Patellarreflexe rechts gesteigert. Fussklonus rechts (langsame Oscil- 
lationen). 

7. VI. Pat. geht langsam ohne Stock. Das rechte Bein wird vorsich- 
tig und langsam vorwiirts geboben, wobei eine ziemlich starke Ataxie her- 
vortritt. Das Bein wird hiermit unbedeutend geschleppt. Auf dem linken 
Bein steheud, vermag Pat. das rechte Bein gut zu heben und in seinen 
verschiedenen Gelenken zu beugen; die Muskelst&rke im Yerh&ltnis zur 
linken Seite allerdings schwach, aber nicht ganz schlecht. Ein hoherer 
Grad von spastischer Steifheit macht sicli nicht geltend. Beim Gehen 
hangt die Fussspitze nicht nach unten, sondern die Fusssohle wird hori¬ 
zontal gehalten. 

9. VI. Der Gang verbessert sich standig. 

Patellarreflex rechts gesteigert; auf dieser Seite Dorsalklonus in 
dem Fuss. 

Babinski daun und wann positiv; auch links tritt Babinski zuweilen 
unsicher hervor. Oppenheims Reflex beiderseits negativ. 

Rechtes Bein etwas atrophisch: 

Umfang des rechten Oberschenkels fiber der Mitte 42,5 cm 
„ „ linken „ „ „ 44,0 ,, 

., der rechten Wade „ „ „ 30,0 „ 

n linken n „ „ ,, o0,0 „ 

Pat. hat heute gebadet, und das Badewasser soli an dem linken Bein 
einen deutlich, obgleich schwach warmen Eindruck gemacht habcn. 

18. VI. Pat. wird aus dem Krankenhause entlassen. 

Status: Motilitat links vollkommen intakt. 

Rechts: In den einzelnen Gelenken des rechten Beins flihrt Pat. alle 
dort moglichen Bewegungen aus. Nur eine gewisse Herabsetzung der Mus- 
kelkraft macht sich geltend, und die Bewegungen gehen etwas steifer als 
links von statten. Beim Gehen wird das rechte Bein etwas steif gehalten, 
aber doch bei jedem Schritt etwas im Knie gebeugt. Das rechte Bein 
wird in einem ganz kleinen Bogen nach aussen gefnhrt. und die Fusssohle 
schleppt leicht; gibt Pat. bei Aufforderung mehr auf sich acht, so beugt 
er das Bein besser im Knie, so dass sich beim Gehen nur eine leichte 
Steifheit und Ataxie geltend macht. Pat. wird zwar nach einer Weile 
miide, geht aber doch recht lange Wege; besonders des Morgens ist das 
Bein milder als am Tage. Steht Pat. litugere Zeit., so werden in dem 
ganzen rechten Bein klonische Zuckungen bemerkt. Darf sich Pat. auch 
nur leicht mit der Hand stiitzen, so kann er schon allein auf dem rechten 
Bein stehen. 

Sensibilitat: Die Wahrnehmung von Berllhrung und Druck beider¬ 
seits ziemlich intakt. 

Rechts keine Hyperiisthesie oder Hvperalgesie. 

Links behauptet Pat, bei Nadelstichen eine deutliche spezilische, ob¬ 
gleich ausserst schwache Schmerzempfindung zu haben. Nadelspitze und 
-knopf werden meistens von einander unterscbieden. Der Schmerzsinn 
offenbar merkbar lierabgesetzt; Athylchlorid und heisses Wasser werden 


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424 


XIX. Fabritjus 


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deutlich verschieden empfunden. Auf der Vorderseite des Oberschenkels 
sind die Temperaturempfindungen am schlechtesten. 

Die Grenze zwischen der normalen Sensibilitat fftr Nadelstiche und 
der herabgesetzten geht ungef&hr einen Querfinger fiber dem Nabel bin. 
Dicht unter dieser Grenze werden Nadelstiche als solche, aber auf der 
oberen Seite der Grenze bedeutend starker empfunden. 

Muskelsinn am rechten Bein ziemlich gut, doch maclit Pat. ab und 
zu Fehler. 

Lokalisationsvermogen beiderseits ziemlich gut. 

Patellarreflex rechts multipel, links lebbaft, ohne pathologisch zu sein. 
Dorsalklonus rechts, aber nicht links. 

Babinski und Oppenheim beiderseits negativ, treten aber doch zuweilen 
rechts sowohl als links hervor. 

Umfang des rechten Oberschenkels etwas unter der Mitte 37 cm 
„ „ linken „ « « n r» 40 „ 

„ der rechten Wade „ „ „ „ 29 „ 

n r> linken „ » » » » 29 ,, 

In einem Brief vom 15. VIII.. also ungefahr 4 Monate nach der Ver- 
letzung, teilt Pat. mit, dass „das rechte Bein sich gut, aber doch nicht 
vollstandig entwickelt habe, der Oberschenkel sei noch schwach. Ich kanu 
gut gehen, muss aber etwas hinken, weil ich das Geffihl habe, als ob das 
rechte Bein lfinger als das linke sei. Morgens ist das Bein etwas steifer. 
als wenn man eine Zeit lang in Bewegung gewesen ist, da sich das Bein 
dann tiberall gut beugt. Heftige Wendungen kann ich nicht machen. Ich 
kann jetzt leicht einen 3 km langen Weg, ohne auszuruhen, zurficklegen 
und gehe nach kurzem Ausruhen denselben Weg zurfick. Wenn es draussen 
drfickend heiss ist, ist das Bein bedeutend schwftcher, als wenn es kfihl ist. 

Das linke Bein ist vollig in Ordnung, nur dass es weder Wftrme noch 
Kalte ffiblt. Wenn man auf das Bein kaltes Wasser giesst, so ffihle ich 
in demselben Reissen oder Frostschfitteln genau, wie wenn es einem kalt 
ist. Heiss wird nur als schwache WSrme gefQhlt, wenn man in der Bade- 
stube seinen heissen Atem an das Bein haucht.“ 

In einem Brief vom 24. IX., also mehr als 5 Monate post trauma, 
erklart Pat., dass er gut 3 km in einem Stock gehen kdnne und sein 
rechtes Bein nach Belieben bewegen, jedoch nicht laufen kOnne. 

Warme- und Kalteempfindung ist im Verhfiltnis zur rechten Seite 
schwach. Der gefOhllose Fuss schwitzt leicht. „Das rechte Bein ffihlt nicht 
immer gut, in welcher Stellung es sich befindet, sobald ich nicht mit den 
Augcn nachsehe." Pat. hinkt jetzt nur unbedeutend. 

Am 1. III. 1909 schreibt Pat., dass die Motilitfit immer besser ge- 
worden sei, nur ermfide das rechte Bein schneller und leichter als das 
linke. „Natttrlich zeigt es noch immer Zeichen von Schwfiche und erscheint 
ungeschickter." Der Gang ist so gut wie frfiher und Pat. kann sogar 
laufen. Er braucht nur ganz unbedeutend zu hinken, „man merkt es kaum“. 

Die Empfindliehkeit im . linken Bein hat sich nur wenig verbessert. 
„Nadelknopf und -spitze unterscheide ich nicht, sondern nur das Eiskalte 
Oder das sehr Heisse; die emidinde und unterscheide ich.“ 

Zusammenfassnng: Ein 2ljiihriger Mann erhalt einen Messer- 
stich in den Riicken 5—6 cm links vom Proc. spin, des 3. Dorsal- 


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Ein Fall von Stichverletzung des Riickenmarks. 


425 


wirbels. Unmittelbar im Anschluss daran tritt eine vollstandige schlaffe 
Lahmung des recbten Beins ein; das linke bleibt dagegen anfangs in- 
takt. 16—18 Stunden spater tritt jedoch eine merkbare Parese in den 
Bewegungsmuskein des linken Hliftgelenks ein, und ungefahr 24 Stunden 
spater kann das linke Bein in dem Hliftgelenk nicht gebeugt werden. 
Knie-, Fuss- und ZebeDgelenke dagegen links intakt und die Bewegungen 
in ihnen von gewohnlicher Kraft. Diese Storung auf der linken Seite 
beginnt sich jedoch ziemlich schnell zurtickzubilden, innerbalb 10—14 
Tagen kann Patient wieder das Bein in toto von der Unterlage heben 
und kann es einige Augenblicke in der Luft halten; einige Tage spater 
ist keine motorische Storung mehr in dem Bein zu bemerken. 

Auch rechts geht die Lahmung ziemlich schnell voruber. Schon 
4 Tage post trauma beginnen schwache Flexionsbewegungen in der 
grossen Zehe und schwachere in den angrenzenden Zehen; darauf wird 
der Fuss bewegt, 2 Wochen post trauma auch das Knie (Extension 
und schwache Flexion) und am 22. Tage wird auch die rechte Httfte, 
wenn auch ausserst schwach, flektiert. Adduktion und Abduktion in 
diesem Gelenk haben sich schon etwas frfiher eingestellt. Die motorische 
Kraft nimmt darauf allmahlich zu, bleibt jedoch ziemlich lange sehr 
mangelhaft, was im Verein mit einer auffallenden Ataxie in diesem 
Bein und dem etwas geschwachten Zustand des Patienten (Pleuritis 
serosa sin.) das Gehen hocbgradig erschwert, welches deswegen erst unge¬ 
fahr 50 Tage nach dem Trauma — wenn auch in geringem Grade — 
ohne Stock moglich wird. Das rechte Bein schleift vielleicbt etwas, 
das Knie wird etwas steif gehalten, wird aber, wenn auch unbedeutend, 
gebeugt, und der Fuss hangt nicht herab. Das Haupthindernis fur 
das Gehen bildet eine gewisse Ataxie sowie die grosse Schwache. 

Die Patellarreflexe: Unmittelbar nach der Verletzung waren sie auf 
der vollkommen gelahmten rechten Seite vollig erloschen. Links werden 
sie gut hervorgerufen. Den folgenden Tag werden sie auf beiden Seiten 
vermisst, bleiben darauf weg oder sind ausserst schwach und wahrend 
3—4 Wochen schwer auslbsbar; beginnen darauf leichter hervorzu- 
treten, werden stark und sind 2 Monate post trauma auf der rechten, 
d. h. auf der motorisch relativ schwer geschadigten Seite multipel, 
auf der linken Seite lebhaft. 

Rechts tritt nach ungefahr 4 Wochen Clonus in dem Fuss her- 
vor, der allmahlich recht lebhaft wird. Links kein Clonus. 

Babinski, Oppenheitn unsicher, eher negativ als positiv. 

Die Sensibilitat ist linkerseits unmittelbar nach dem Trauma so 
gut wie vollstandig aufgehoben. Leichte BerGhrungen (Pinselberiih- 
rung) werden in den meisten Fallen, ebenso wie Druck, garnicht ge- 
fuhlt, besonders wenn man beim Applizieren der Hand auf das Bein 


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426 


XIX. Fakritils 


vorsichtig und behutsam vorgeht, so dass das Bein nicht erschfittert 
oder gertittelt wird. Geschieht dies trotzdem, so erleichtert es sicht- 
lich die Entstehung einer Art Empfinduug. 

Schmerz- und Temperaturreize rufen gar keine Empfindungen oder 
hbchstens bin und wieder ein undeutliches Berlihrungsgefiihl hervor. 

Rechts wird besonders am Anfang recht bedeutende Hyperasthesie 
und Hyperalgesie bemerkt. Pinselberuhrung wird dagegen mehrere 
Tage garnicht geftihlt. Auch spezifische Druckempfindungen (von nicht 
schmerzhaftem Charakter) konnen auf dieser Seite ausgelost werden. 

Alle diese Empfindungsstorungen gehen allmahlich zurnck: Pinsel- 
beruhrungen werden beiderseits empfunden, ebenso Druck; die Hyper- 
iisthesie verschwindet und zwar ungefahr in demselben MaCe, wie die 
Motilitat in dem hyperasthetischen Bein zuriickkehrt. 

Schliesslich konnen auch die Schmerz- und die Temperaturemptin- 
dung 2 Monate post trauma auf der linken Seite hervorgerufen werden, 
wenngleich ausserst schwach, unvollkommen und unsicher. 

Muskelsinn auf der motorisch schwer gestorten Seite teilweise 
ziemlich schwer angegriffen. 

Lokalisationsvermogen nicht gestbrt. 

Wiihrend einer Woche Blasenlahmung. Kein Priapismus. 


Von den vielen interessanten Symptomen, die dieser Fall bietet. 
will ich zuerst die motorischen Stbrungen naher betrachten. 

Das linke Bein war motorisch intakt, nur dass in der linken Hufte 
eine innerhalb 10 Tagen vollig voriibergehende Parese konstatiert werden 
konnte. Nun ist die Frage: Wie soli man diese isolierte, nur das eiue 
Gelenk des Beins umfassende Stbrung auffassen und erkliiren, wahreud 
die tibrigen Gelenke tadellos funktionierten? 

Offenbar — und dariiber konnen wohl die Ansichten nicht geteilt 
sein — muss die Ursache in einer Liision des linken Pyramidenseiteu- 
stranges oder wenigsteus in einer Schadigung von dessen Funktion 
gesucht werden, uud vor allem mussten wohl die Leitungsbahnen, die 
den Kontakt zwisehen dem hoheren Nervensystem und den Bewegungs- 
muskeln des Huftgelenks vermitteln, aftiziert gewesen sein. Aber wo- 
her diese, wenn ich so sagen darf, elektive Wirkung gerade auf die 
Balmeu der HiifteV 

Gehen wir von der Annahme aus, dass die motorischen Bahnen 
innerhalb des Pyramidenseitenstrangs ditfns gestreut um einander ver- 
laufen, so konnen wir. wie mir scheint, diese Stbrung allerdings nicht 
verstehen. in dem Falle batten wir eine Parese itn linken Bein finden 
miisseu, aber eine Parese, an der samtliche Muskeln des Beins beteiligt 
gewesen wiiren. Auch deBoecks Auffassung des Leitungsverlaufs inuer- 


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Em Fall von Stichverletzung des Riickenmarks. 


427 


lialb des Pyramidenseitenstranges kann uns keine Antwort auf unsere 
Frage geben. Dieser Forscber glaubte namlich durch Tierexperimente 
festgestellt zu haben, dass bei Reizungen z. B. des Halsmarks die 
Starke der Reize flir die Muskeln, die in Tatigkeit treten, bestimmend 
sei, und zwar in der Weise, dass sich bei schwacherer Reizung vorzugs- 
weise die mehr proximal, der gereizten Stelle naher gelegenen Muskeln, 
bei starkerer die entfernteren, mehr distal gelegenen kontrahieren 
wtirden. Aber in diesem Falle miissten wir erwarten, dass, da die beim 
Patienten vorhandene Lasion ein gewisses Hindernis fur die Leitung 
im Riickenmark herbeigefiihrt hatte, zu allererst die Zehen, der Fuss 
und das Knie paretisch geworden waren, nicht aber wie hier die Htifte. 

Wie soil man dann die vorhandene Stoning in der linken Hiifte 
verstehen? 

Mir scheint, dass die Erklarung ungesucht gefunden werden kann, 
darin namlich, dass die Bahnen der Hiifte — und in "Obereinstimmung 
hiermit wahrscheinlich auch die Bahnen der iibrigen Gelenke — grup- 
penweise zusammen innerhalb des Pyramidenseitenstranges verlaufen 
und dass in diesem Falle besonders die Bahnen der Hiifte dem Ein- 
fluss der Lasion ausgesetzt worden waren. Und noch ungezwungener 
driingt sich uns diese Erklarung auf, wenn wir durch eine eingehende 
Analyse der Symptome, die der Fall bietet, einen Einblick in den Ver- 
lauf der Lasion und deren Ausbreitung innerhalb des Riickenmarks zu 
gewinnen versuchen. 

Die aussere Wunde befand sich ziemlich weit links von der Mittel- 
linie; andererseits muss die rechte Rtickenmarkshalfte und besonders 
der rechte Pyramidenseitenstrang auf irgend eine Weise schwer be- 
sehiidigt gewesen sein, weil das rechte Bein unmittelbar im Anschluss 
an das Trauma gelahmt wurde und wabrend einer verhaltnismassig 
langen Zeit schwere motorische Stbrungen aufwies. Gleichzeitig kann 
der linke Pyramidenseitenstrang, wie die Storungen in der Beweglich- 
keit des linken Beins zeigen, nicht in seiner ganzen Ausdehnung, son- 
dem nur teilvveise affiziert gewesen sein. Unter diesen Umstanden 
und wenn wir uns das Bild des Querschnitts des Riickenmarks und 
dessen Lage in dem Rtickenmarkskanal vor Augen halten, gelangen 
wir zu dem Schluss, dass das Instrument von hinten und links in das 
Riickenmark eindrang und nach rechts und etwas nach vorn verlief, 
und dass es, ehe es die rechte Pyramidenbahn traf, entweder die hin- 
teren oder hinteren innereu Teile des linken Pyramidenseitenstranges 
liidierte oder in grosserem oder geringerem Abstand tangierte. Am wahr- 
scheinlichsten sind die besehadigten Bahnen nicht direkt durchschnitten, 
sondern nur sekundar durch die Lasion affiziert worden, weil sich die 
Storung in dem Hiiftgelenk, wie gut zu verfolgen war, erst allmahlich 
im Verlauf von 15—2u Stunden post trauma entwickelte. 


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XIX. Fabritiub 


Somit wtirden wir zu dem Schlusse kommen, dass die hinteren 
Oder hinteren medialen Teile des linken Pyramidenseitenstranges in der 
Hohe der Lasion funktionshemmenden Einfllissen dieser Oder jener 
Art ausgesetzt werden, uud klinisch zeigt der Fall eine in verhaltnis- 
massig kurzer Zeit vollstandig vorubergehende Stoning in der Bewegung 
der linken Hufte. Durfen wir nun hieraus schliessen, dass die Bahnen 
des Hiiftgelenks zu hinterst und medial im Pyramidenseitenstrang 
verlaufen? 

Ich glaube, diese Frage bejahen zu konnen und zwar erstens darum, 
weil die Literatur uns mehrere ahnliche Falle bietet von — wenn ich 
so sagen darf — medullarer Monoplegie, Lahmungen eines einzelnen 
Gelenks, welche am besten durch die Annahme einer partiellen Lasion 
innerhalb des Pyramidenseitenstranges erklart werden konnen. Und 
zweitens, weil viele — und teilweise besonders sorgfaltige — experi- 
mentelle Tieruntersuchungen zu demselben Resultat gefuhrt haben. 
Alle diese Tatsachen habe ich in einem fruheren Aufsatz zusammen- 
gefasst, auf den ich hinweise; ich beschranke mich daher hier nur auf 
ein kurzes Referat desselben. 

Wir finden namlich in der Literatur viele Falle, wo wir auf Grund 
von Obduktionen oder durch Analyse der vorhandeneu Symptome an- 
nehmen miissen, dass die hinteren inneren oder hinteren Teile des 
Querschnittes des Pyramidenseitenstranges in grosserer oder kleinerer 
Ausdehnung ladiert waren, und in diesem Falle sind die Bewegungen 
der Hlifte und des Knies gestort oder fUr einige Zeit aufgehoben ge- 
wesen, wahrend die Bewegungen des Fusses und der Zeben nebst denen 
des Knies oder einfacb die Bewegungen des Fusses oder der Zeben 
intakt waren. Zweitens habe ich selbst einen Fall beobachtet und in 
der Literatur drei andere gefunden, wo eine Lasion des ausseren oder 
vorderen ausseren Teils des Pyramidenseitenstrangquerschnitts wahr- 
scheinlich gewesen war, und in diesen Fallen sind Storungen in den 
Zeben und dem Fussgelenk oder in diesen Gelenken und im Knie 
vorgekommen. 

Und die Tierexperimente, die Woroschiloff 1874 machte, resul- 
tieren u. a. darin, dass „zum ofteren die Muskeln des Fusses gelahmt 
warden, wenn das aussere Drittel der Seitenstrange weggeschnitten war, 
und umgekehrt beweglicb blieben, wenn das genannte Stfick erbalten 
und das mittlere Drittel des Stranges verletzt gewesen. Unter diesen 
Umstanden trat dagegen eine Liihmung in den Muskeln des Huftge- 
lenks ein“. Flat.au und Gad fanden wiederum, dass bei Reizungen 
der hinteren Teile des Seitenstrangs in dem Halsmark die hintere 
Extremitiit auf derselben Seite zuerst in Bewegung kam. Sogar 
de Boeck, der eine diffuse Gruppierung <ler Bahnen innerhalb des 


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Ein Fall von Stichverletzung des Riickenmarks. 


429 


Pyramidenseitenstranges fiir wahrscheinlich halt, findet, dass es „hautig, 
doch keineswegs immer gelang, von deni aussersten Rande des Seiten- 
stranges aus die Muskeln des Fusses durch schwachere Strome zu er- 
regen, als von anderen der Mittellinie naher gelegenen Einstichen 11 . 
Auf Grund aller dieser und einiger anderer Tatsachen glaube ich Fol- 
gendes iiber den Yerlauf der motorischen Bahnen innerhalb des Pyra¬ 
midenseitenstranges aussprechenzudlirfen: Die motorischen Bahnen 
innerhalb des Pyramidenseitenstranges verlaufen nicht dif- 
fus und unregelmassig um einander gestreut, sondern die 
Bahnen des Beins verlaufen, wenigstens in den Hauptziigen 
in dem hinteren oder inneren hintereu Teile zusammen, die 
der Arme in dem ausseren oder vorderen ausseren, und inner¬ 
halb dieses Gebietes liegen die Bahnen fur die mehr proxi¬ 
mal gelegenen Korperteile mehr medial (resp. medial und 
nach hinten), fiir die distaleren mehr nach vorn oder vorn 
aussen, also innerhalb des Gebiets derBeine die Bahnen der 
Hiifte am meisten nach hinten innen oder hinten, worauf die 
des Knies und am meisten vorn aussen oder aussen die des 
Fusses. Und fiir die Bahnen des Arms gilt wahrscheinlich 
eine analoge Anordnung. 

Stellen wir diese Resultate mit den Verhaltnissen in dem vorlie- 
genden Falle zusammen, so mtissen wir zugeben, dass die tjbereinstim- 
mung auffallend ist. Wir haben auch in diesem Falle eine Storung 
der Beweglichkeit der Hiifte und gleichzeitig eine Funktionsstorung 
am wahrscheiulichsten in den hinteren oder hinteren inneren Teilen 
des Pyramidenseitenstrangs auf derselben Seite. Und demnach ist es 
uns wohl auch erlaubt, diesen Fall als eine wichtige Stiitze fiir die 
Richtigkeit der fruher erzielten Resultate zu registrieren. 

Aber auch in anderer Hinsicht gibt uns der Fall einen Beitrag 
zur Aufklarung der Gruppierung der motorischen Bahnen, einen Bei¬ 
trag, der in dieselbe Richtung weist wie der eben erwahnte. 

Wenn wir die Wiederherstellung der Motilitat in dem anfangs 
vollstandig gelahmten rechten Bein des Patienten verfolgen, finden wir 
folgende Details: 

Wir sehen, dass sich die ersten Bewegungen auf dieser Seite am 
4. Tage in den Zehen, am 6. Tage in dem Talocruralgelenk einstellten, 
am 10. und 12. Tage zeigten sich Adduktion und Abduktion in der 
Hiifte und am 14. Tage deutliche Extensions- und schwache Flexions- 
bewegungen in dem Knie. Aber erst am 22. Tage kann eine minimale 
Flexion in der Hiifte vor sich gehen. 

Nun kann diese Wiederherstellung der Motilitat auf zweierlei 
Weise erklart werden. 

Deutsche Zeitschrift f. Xervenheilkunde. 37 . B<1. 2S 


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XIX. Fahkitii/s 


Entweder so, dass gewisse funktionshemmende Momente, die im 
Anschluss an die Lasion entstanden sind, allmahlich in Wegfall kamen, 
worauf die Bahnen, die auch fruher den Kontakt zwischen dem Zentrum 
und den gelahmten Teilen vermittelten, frei und funktionsfahig wurden. 

Oder auf die Weise, dass sich die Leitung vom zentralen Nerven- 
system neue Wege gebildet haben wUrde. Wir wisseu namlich, dass, 
wenn auch der eine Pyramidenseitenstrang ganz und gar durchge- 
schnitten wurde, die Motilitat doch nach langerer oder ktirzerer Zeit 
in gewissem MaBe zuriickkehrt, und dies geschieht, wie Tierexperi- 
mente bewiesen haben, dadurch, dass sich Impulse von seiten der in- 
takten Rtickenmarkshalfte geltend zu machen beginnen. 

Welche von diesen Moglichkeiten liegt in unserem Fall vor? 

Die Sache ist von grosser Wichtigkeit. Sollte namlich die erste 
Alternative am wahrscheinlichsten sein, so hatten wir eine neue und 
schOne Bestatigung der Richtigkeit der Annahme vor uns, die eben fur 
die Gruppierung der motorischen Bahnen innerhalb des Pyramiden- 
seitenstranges entwickelt wurde. Die Motilitat kehrt ja in den Haupt- 
ziigen in der Ordnung zuriick, die wir nach meiner Annahme zu er- 
warten hatten, wenn der Pyramidenseitenstrang einer Schadigung aus- 
gesetzt worden ware, die, ohne die anatomische Kontinuitat innerhalb 
desselben zu unterbrechen, eine vortibergehende Funktionsunterbrechung 
verursacht hatte, und wenn die hemmenden Einfliisse allmahlich und 
in der Weise entfernt worden waren, dass die vorderen und vorderen 
ausseren Teile zuerst und danach die mehr nach hinten gelegenen zu 
funktionieren begonnen hatten. 

Um Klarheit zu gewinnen, mlissen wir erstens die Art, die Be- 
sehaffenheit der Motilitat, die in unserem Falle wiederkehrt, und dann 
auch die Zeit, innerhalb welcher dieses geschah, untersuchen und sie 
dann mit den Verhiiltnissen in den Fallen, wo eine wirkliche Total- 
liision des Pyramidenseitenstranges vorlag, vergleichen. 

In diesen Fallen pflegt die zurlickgewonnene Motilitat — beson- 
ders handelt es sich um den Gang — eine ziemlich bestimmte, typische 
— um nieht zu sagen stereotypische — Form anzunehmen, die von 
Wernicke und Mann eingehender studiert und beschrieben worden 
ist. Besonders sind es die Beinverkiirzer und vor allera die Kniebeuger 
und die Streckmuskeln des Fusses, welche in Mitleidenschaft gezogen 
werden, so dass das affizierte Beiu beim Gehen wie ein mehr oder 
weniger steif'es Gan/.es mit herabbangender Fussspitze geschleppt und 
gleichzeitig in einem Bogen nach aussen geschleudert wird. 

Vergleichen wir die Storung bei unserem Patienten mit diesem 
Bible, so linden wir, dass sie nicht damit ubereinstimmt. Am 60. Tage, 
als Patient 10 Tage olme Stiitze gegangen war, war das Bein zwar 


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Ein Fall von Stichverletzung dcs Riiekenmarks. 


431 


noch paretisch, wurde ganz unbedeutend oder, wenn Patient darauf 
achtete, garnicht gesclileppt nnd wurde in einem leichten Bogen nach 
aussen geflihrt. Aber man konnte deutlich merken, dass das Bein bei 
jedem Schritt in dem Knie gebogen wurde, und vor allem hing der 
Fuss nicht nach unten, sondern wurde in normaler Stellung gehalten. 
Die Hauptstorung bestand vielraehr — ausser in der grossen Schwache 
— in einer merkbaren Ataxie, die auf einer Unterbrechung der Mus- 
kelsinnsbabnen beruhte. 

Noch mehr als die Beschaffenheit dieser „Gemeinschaftsbewegungen“ 
zeigten die sogenannten „Sonderbewegungen“, dass wir es kaum mit einer 
Totallasion des rechten Pyramidenseitenstrangs zu tun hatten. Forderte 
man den Patienten, wenn er auf dem linken Bein stand und sich an einen 
Tisch stiitzte Oder auch wenn er im Bette lag, auf, eiuzelne Bewegungen 
mit dem rechten Beine auszufubren, so tat er das fast ebenso gut wie 
ein Gesunder. In der Hufte konnten Flexion, Extension, Ab- und Ad- 
duktion ausgeflihrt werden, obgleich die Muskelkraft deutlich herab- 
gesetzt war; das Knie wurde gut gebeugt und gestreckt, und mit dem 
Fusse wurden alle Arten von Bewegung offenbar ganz normal und 
mit recht guter Kraft vollzogen. Dies sieht man nun nicht nach einer 
Totallasion des Pyramidenseitenstrangs. Die Bewegungen in den ein- 
zelnen Gelenken geschehen in diesen Fallen steif und langsam, und 
daneben tritt die schon erwahnte charakteristi 3 che Lahmungoder Parese 
in den Dorsalflektoren des Fusses und in den Beugern des Knies mehr 
oder weniger hervor. 

Und auch die Zeit, innerhalb deren sich die Motilitat zuriickbildet, 
spricht entschieden gegen eine Totallasion des r. Pyramidenseitenstrangs. 
Schon am 4. Tage post trauma beginnen die ersten Bewegungen in 
den Zehen, und in 21 Tagen ist die Beweglichkeit in samtlichen Ge¬ 
lenken zurlickgekehrt, obgleich in der Hufte noch ausserst unvollstan- 
dig und schwach. Erst verhaltnismassig spat — am 37. Tage — be- 
ginnt Pat. sich an Kriicken fortzubewegen, aber dies beruhte ganz sicher, 
wenigstens teilweise darauf, dass eine akute serose Pleuritis mit Fieber 
hinzukam, die die Krafte des Patienten wesentlich herabsetzte und die 
Kekonvalescenz verzogerte. Auf jeden Fall gestalten sich die Verhalt- 
nisse bei einer Totallasion ganz anders. 

So beriohtot v. Arx fiber einen Fall, in dem wir es wahrscheinlich 
mit einer Totallasion des rechten Pyrainidensei tens trances zu tun liaben. 
Im Anschluss an einen Messerstieh links in den Rfleken entstaud eine 
Paraplegic. 9 Tage spiiter konnten die Zehen auf der linken Seite bewegt 
werden, d. h. auf derselhen Seite, wo sich die iiusserc Wumle befand, und 
4 Woclien spiiter wurde der Fuss frei uml nach Belieben bewegt, wahrend 
das reclite Bein fortgesetzt vollkominen geliilimt war. „Erst nach 6 Woclien 
kann das in dem Knie Hektierte, nach aussen rotierte und abduzierte rechte 

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XIX. Fabritius 

Bein vom Pat. adduziert werden, und 3V2 Monate post trauma, als sieh 
Pat. schon einen Monat an Krtlcken etwas fortbewegte, waren in der rechten 
Htifte nur Abduktion und Adduktion sowie Extension, jedoch stark be- 
hiudert mdglich.“ In dem Kniegelenk ist die Extension mOglich (stark 
behindert), aber koine Flexion; andere Bewegungen in dem rechten Bein, 
ausser zuweilen einer minimalen Beugung der Zeben, sind nicbt mSglieh. 
Das Bein wird beim Gehen stark geschleppt, wird im Kreisbogen nacli 
vorne gebracht, indem die Fussspitze am Boden schleift. 

In einem von Raymond mitgeteilten Falle sehen wir ebenso anfangs 
Paraplegie, aber die Motilit&t in dem rechten Bein wird innerhalb 4 Ids 
5 Tagen wieder hergestellt, so dass nur eine gewisse Steifbeit Obrig bleibt. 
Links w&hrend 4 Wochen vollige L&hmung, bis Pat. eines Tages bemerkt, 
dass das Bein zeitweise von starken Zuckungen erschOttert wird; allmahlich 
kOnnen auch kleinere Bewegungen ausgeffthrt werden. Zirka *j 2 Jahr 
spater ist das Gehen ohne StQtze, obgleich mit Schwierigkeit, moglieh. 
Der Gang typisch residuar-hemiplegisch. Das linke Bein kann unbedeutend 
flber das Bett gehoben, aber nicbt in der Luft gehalten werden, sondern 
es macht grosse Oscillationen und f&llt bald zurQck. 

Xolte teilt einen Fall mit, wo im Anschluss an einen Messerstich 
das der Wunde entgegengesetzte Bein gelahmt wurde, wahrend das Bein 
derselben Seite vollig intakt war. Erst am 31. Tage fangt in der kleineu 
Zehe eine „Andeutung“ von Beweglichkeit an, am 33. Tage werden die 
4. und 5. Zehen bewegt, am 36. Tage samtliche Zehen und desgleichen 
in dem Fussgelenk leichte Bewegungen ausgeftlhrt; am 37. Tage leichte 
Abduktion und Flexion in der Hiifte, am 40. Tage wird das Bein 30" ab- 
duziert und bis aber die Mittellinie adduziert; am 42. Tage wird der beim 
Sitzen herabhangende Unterschenkel, „freilich sebr mtlhsam und langsam u , 
extendiert, Pat. kann „das gestreckte Bein jedoch nicht flektieren“. Xacli 
dem 45. Tage beginnt Pat. an Krttcken zu gehen, und 7 Monate post 
trauma geht er am Stock Oder wendet sein linkes Bein „wie ein Am- 
puticrter seine Protese“ an; „er wirft den Unterschenkel vor, wobei sicli 
die rechte(V) Schulter leicht hebt. Das linke Bein wird dabei ziemlich 
steif gehalten und gescbiebt das Heben der Schulter wohl nur, um ein 
Schleifen dcs linken Fusses liber die Erde zu verhindern u . 

Wie naan sieht, besteht in diesen Fallen und dem meinigen ein wesent- 
licher Unterschied in den Erscheinungeu. Nicht nur die Beschaffenheit 
der wiedergewonnenen Motilitat ist eine ganz andere, sondern auch die 
Zeit, die sie brauchte, um sich zu entwickeln, ist merkbar langer. Kurz- 
um, die Verhiiltnisse sowohl im Detail als im Ganzen sind in meinem 
Falle derart, dass wir mit ziemlich grosser Sicherheit behaupten 
diirfen, dass eine Totallasion nicht vorhanden ist. Aber andererseits 
kijunen wir wohl auch fiir ausgemacht halten, dass die Storung, die 
das rechte Bein des Patieuten aufvvies, nicht einfach ein Fernsymptom 
war, vielmehr muss wohl eine partielle Liision vorliegen. Und am 
wahrscheinlichsten ist wold, dass sie vorzugsweise die hinteren Teile, 
die hintere Ilalfte oder sogar mehr umfasste. Schon die L^e der 
iiusseren Wunde ziemlich weit links von der Mittellinie zusammen mit 


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Ein Fall von Stichverletzung des Kiitkenmarks. 


4:53 


dem Umstande, dass die Pvramidenseitenbahn auf derselben Seite nicht 
durchschnitten war, wie ich es frfiher zu beweisen versucht babe, lassen 
uns vermuten, dass das Instrument einen ziemlich schragen Verlauf, 
hauptsachlich von links nach rechts und schwach von hinteu nach vorn, 
gehabt und somit vielleicht zuerst die hinteren Teile der rechten Pyra- 
midenbabn getroffen babe. Weiter wurde die Motilitat in den Zehen 
und dem Fussgelenk schon ausserst schnell — innerhalb einer Woche 
— hergestellt und nabm auch bald fast normale Kraft und normalen 
Charakter an, und desgleichen wurde die Beweglichkeit in dem Knie 
in verhaltnismassig kurzer Zeit hergestellt, und nicht nur Extension, 
sondern auch Flexion wurde mbglich, worauf ein grosses Gewicht 
gelegt werden muss. Alle diese wiedergewonnenen Bewegungen 
sprechen schon an und fur sich dafiir, dass sie durch schon fruher 
sie auslbsende Bahnen vermittelt wurden und dass also der Teil des 
Pyramidenseitenstrangs, in dem sie verlaufen, nur indirekt in die Lasion 
hineingezogen worden war; dieses lasst sich auch mit meiner Annahme 
uber die Gruppierung der Bahnen der Pyramidenseitenstrange ganz 
ungezwungen verstehen: Die Lasion hat vorzugsweise die hinteren Teile 
des Ruckenmarksquerschuitts getroffen und die vorderen frei gelassen, 
unter anderen auch die in dem vorderen Teile des rechten Pyramiden- 
seitenstranges verlaufenden Bahnen des rechten Knies und Fusses. 

Dagegen ist die Wiederherstellung der Beweglichkeit in der rechten 
Htifte schwerer zu erkliiren. Flexion und Extension stellen sich 
3 Wochen post trauma ein, aber da diese Bewegungen auch in den 
Fallen von Totalliision der Pyramidenbahn zuriickkehren, kbnnen sie 
in diesem Fall ebenso gut darauf beruhen, dass die Bahnen der Htifte 
innerhalb des gleichseitigen Pyramidenseitenstranges nach einer funk- 
tionsunfahigen Zeit wicder zu funktionieren begannen, wie darauf, dass 
eine Kompensation von seiten der gesunden Seite stattgefunden hat. 
Dariiber lohnt es sich nicht zu diskutieren. 

Jedenfalls kbnnen wir es wohl fur sehr wahrscheiulich halten, dass 
der rechte Pyramidenseiteustrang nicht in seiner Gesamtheit durch¬ 
schnitten, sondern wenigstens in seinen vorderen Teilen intakt war, 
wiibrend andererseits eine ziemlich schwere und eingreifende Lasion 
in seinen hinteren Teilen oder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft 
bedeutende Erschutterungen der Funktion dieser Bahn verursacht hatte, 
und zwar nicht nur wiihrend der niichsten Zeit nach dem Trauma, 
sondern auch wahrseheinlich fOr lange Zeit in der Zukunft. Wir sehen 
also, dass die Motilitiit des rechten Beins, als Patient 2 Monate post 
trauma das Krankenhaus verliess, Abweichuugen vom Normalen 
aufwies, welclie — wenn auch nicht vom residuar-hemiplegischem 
Tvpus — doch bedeuteud waren. Ausser einer noch gut merk- 


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XIX. Fabritrs 


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baren Schwiiche und Ataxie wollen wir vor allem gesteigerte, mul¬ 
tiple Patellarreflexe auf der rechten Seite, Fussklonus und eine ge- 
wisse Steifheit konstatieren. Noch 4 Monate spater ist das Bein 
des Morgens steif, Patient kann keine heftigen Wendungen machen: 
5 Monate nach dem Trauma kann Patient „auf jede Weise gehen, 
aber nicht laufen"; und ungefabr 10 Monate post trauma hinkt Patient 
so unbedeutend, dass man es kaum merkt. Wir sehen auch in anderen 
Fallen, wo kaum eine Totallasion vorliegen kann, ahnliche Erschei- 
nungen. In einem von Reinhardt mitgeteilten Fall tritt nach einem 
Messerstich links von der Mittellinie eine Lahmung der Extremitaten 
der linken Seite ein, aber schon am 2. Tage ist ein Teil der Bewegungen 
sowohl im Arm wie im Bein moglich; 4 Wochen post trauma geht 
Patient hinkend. Links Dorsalklonus und gesteigerte Reflexe. In diesem 
Falle liegt wohl kaum eine Totallasion des linken Pyramidenseiten- 
stranges vor, und doch sehen wir spater ziemlich deutliche Abwei- 
chungen vom Normalen, Abweichungen, die in den Hauptzugen mit 
denen meines Falles ubereinstimmeu. Ebenso in einem Falle von 
Albrecht, wo schon 5 Tage post trauma alle Bewegungen, obgleieh 
schwach, moglich waren und Patient 16 Tage spater das Bein „un- 
geniert, wie er will", bewegte. Trotzdem konnten noch 4 Jahre spater 
Dorsalklonus, gesteigerte Reflexe und schwache Storungen in dem 
Gauge beobachtet werden. Vielleicht wirkt eine in der Nahe der 
Pyramidenbahn entstandene Narbe veraDdernd und umstimmend 
auf deren Leitungsvermogen, oder Zirkulationsveranderungen oder 
irgend welche sonstigen anderen Einfliisse rufen die gesteigerte Reflex- 
tatigkeit hervor. 

Hierrait habe ich die Analyse der raotorischen Storungen in un- 
serem Falle beendigt und bin auf den Einwand bereit, dass sie viel¬ 
leicht zu spekulativ sei. Wir sind nicht berechtigt, wird man sagen, die 
Berechnung einer Lasion in dem lebenden Riickenmark auf die Art, 
wie es hier geschehen ist, zu machen. Wir miissen damit recbnen. 
dass viele unberecheubare Faktoren mitspielen konnen, z. B. Zer- 
reissungen, Kompression usw. und vor allem, dass Blutungen ganz 
beliebige Veranderungen an Stellen hervorrufen konnen, die wir nicht 
zu bestimmon vermogen. 

Dieser Einwand ist berechtigt und kann durch einen einzigen Fall 
nicht zuriickgewiesen werden. Alter wie ich friiher hervorzuheben ver- 
suchte, stehen die Schliisse, zu denen ich durch meine Analyse ge- 
langt bin, nicht in diesem einzigen Falle vereinzelt da; viele andere 
Fiille sjtrechen ganz dieselbe Spraehe, und diese Resultate stimmen 
mit vielen positiven Tierexperimenten zusammen. Und je mehr ich an 
der Hand der in diesem und in meinem friiheren Aufsatz eutwickelteu 


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Ein Fall von Stichverletzung des Riickenmarks. 435 

Gesichtspunkte in das Verstandnis von Fallen traumatischer Brown- 
Sequard-Lahmung einzudringen versuche, desto klarer werden diese 
Falle; Erscheinungen, die sich sonst der Aufmerksamkeit entziehen 
oder als Zufalligkeiten wirken wfirden, treten als notwendige und na- 
tiirliche Glieder eines gesetzmassigen Ganzen hervor und das Krank- 
heitsbild lasst sich besser hberblicken, leichter beherrschen. 

Als Beispiele und weitere Sttttze will ich bier 3 Falle anfOhren. In einem 
von Brown-Sequard mitgeteilten Falle treten motorische Storungen in 
beiden Beinen im Anschluss an einen Messerstich auf, der rechts von der 
Mittellinie in der HOhe des 9. bis 10. Dorsalwirbels zugefOgt wurde. Linkes 
Bein total gelahmt, nur dass „on remarque quelques petits mouvements 
dans les orteils“. Recbts, d. h. auf derselben Seite wie die aussere Wunde, 
sind die Bewegungen in den Fussgelenken und in dem Knie nicht bloss 
moglich, sondern „les mouvements sont assez Stendus 44 ; aber Pat. kann 
das Bein in dem Htlftgelenk nicht beugen. 2 Tage spater bewegt Pat. 
gut das rechte Bein; links beschrankt sich die Beweglichkeit nicht rnehr 
auf die Zehen: „Le malade commence ii ftechir le pied sur la jambe. 44 
Der Status 21 Tage post trauma zeigt, dass sich die Beweglichkeit in dem 
rechten Bein von Tag zu Tag bessert; links ist die Beweglichkeit aucli 
besser, aber „lorsqu’ou dit au malade de flechir la cuisse sur le bassin 
il ne peut le faire — les mouvements du pied sont faciles 44 . Am 28. Tage 
beugt Pat. das Bein in der Hdfte, und am 44. Tage ist die Beweglichkeit 
„presqu’a l’dtat normal 14 zurhckgekehrt. 

Bei der Analyse zeigt dieser Fall eine bis in Einzelheiten gehende 
Ahnlichkeit mit den Verhaltnissen in meinem Falle. Die Storungen 
sind nicht ganz gleich gross, also wahrscheinlich auch nicht die La- 
sion in dem Riickenmark. Die ausere Wunde befindet sich rechts 
von der Mittellinie, das rechte Bein zeigt in dem Hiiftgelenk schnell 
vorubergehende Storungen der Beweglichkeit, Storungen, die ich schon 
in meinem fruheren Aufsatze berticksichtigt habe und deswegen jetzt 
unerwahnt lasse; in dem der ausseren Lasion entgegengesetzten, linken 
Beine liegt eine totale Lahmung vor, nur dass in den Zehen kleine 
Bewegungen merkbar sind, die meiner Theorie gemass darauf deuten, 
dass der rechte Pyramidenseitenstrang in seinen vorderen Teilen funk- 
tionsfahig geblieben, auch in prognostischer Hinsicht von gunstiger 
Bedeutung war. Schon zwei Tage spater beginnt Patient auch den 
Fuss zu beugen; darauf sind die Angaben unvollstandig, aber es geht 
doch aus ihnen hervor, dass der Oberschenkel erst am 28. Tage in 
der Hufte gebeugt wurde; also ein ahnlicher Riickgang der Symptome 
wie in meinem Falle. 

Einen andercn Fall treffen wir hoi Gilbert. Messerstich rechts von 
der Mittellinie in der Hobe des 1. bis 2. Dorsalwirbels. Status am folgen- 
den Tag: Linkes Bein gelahmt, aber „les orteils souls out conserves 
quelques legers mouvements de flexion et d'extension 44 . Rechtes Bein veil- 


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XIX. Fabkitius 


kommen intakt. Die Krankengeschichte teilt mit, dass sich die Motilitiit 
am 2., 3. und 4. Tage stetig verbessert, am 7. Tage kann Pat. „presque 
soulever sa jambe“. Am 10. bis 17. Tage beginnt Pat. aufzustehen. Am 
28. Tage geht Pat. an Krttcken, schleppt aber das Bein sehr stark nach. 

Vergleichen wir diesen Fall mit dem Brow-Sequardschen und 
meinem Fall, so finden wir, dass in alien eine analoge Lasion vor- 
liegt. Die aussere Wunde und die hauptsachliche Lasion in demR&cken- 
mark, besonders der ladierte Pyramidenseitenstrang, liegen je auf einer 
Seite der Mittellinie. In meinem Fall ist das Bein bis zum vierten 
Tage vollstiindig gelahmt, dann stellen sich schwache Bewegungen in 
den Zehen ein. In dem Brown-Sequardschen Fall waren die Zehen 
gar nicht gelahmt, sondern konnten sich unmittelbar nach dem 
Trauma bewegen, die Motilitiit in der Hiifte der entgegengesetzten 
Seite war gestort. Gilberts Patient bewegt die Zehen, das andere Bein 
aber ist vollkommen intakt. Und die Restitution erfolgt- in urage- 
kehrter Ordnung, bei Gilberts Patienten am frlihesten, ebenso bei 
demjenigen Brown-Sequards, und am spatesten bei meinem. Die 
Falle sind, wie mir scheint, so schlagend, dass man kaum mehr 
verlangen kann; rnankonnte sie ineineReihe einregistrieren undordnen, 
die uns eine ahnliche, aber nur gradweise verschieden grosse Zer- 
stbrung des Rlickenmarksquerschnittes und als Folge derselben ver¬ 
schieden starke, von Gelenk zu Gelenk zunehmende Motilit&tsstb- 
rungen zeigen wurde. 

Der dritte Fall, den ich mitteilen will, ist dadurch gauz beson¬ 
ders interessant, dass die Lasion durch eine Revolverkugel hervor- 
gerufen wurde, die, im Gegensatz zu den Verhaltnissen in den frtiheren 
Fallen, die vorderen Teile des Rtickenmarks affizierte und hauptsach- 
lieh auf sie storend einwirkte. 

Der Fall ist von Hiillstrdm mitgeteilt worden und betrifft ein 
15jahriges Miidchen, das am 6. Sept. 1907 durch einen Revolverschuss 
verwundet wurde. Ungefahr in der Mitte der rechten Wange sieht man 
eine 3 mm messende Wunde. Die Ausgangsoffnung fehlt. Die Proc. spin, 
des 3. und 4. Halswirbels stark druckcmpiindlich. Die ganze linke KOrper- 
hiilfte von der Clavicula abwarts anastlietiseh, die rcchte Seite empfindlich. 
Linke Seite motorisch intakt, reclits gelahmt. 

8. IX. Svmptome unveriindert. 

9. IX. Reclite Hand und Arm fortgcsetzt vollig gelahmt; in der Htlfte 
und dem Knie sind selion schwache Bewegungen rnoglich, der Fuss da- 
gfgen vollstandig gelahmt. Die Sensibilitat links beginnt schwach zurdck- 
zukehren. 

12. IX. In dem rechten Obersehenkel sciion melir Kraft. 

15. IX. Bewegt unbedeutend die Zehen des rechten Fusses. 

23. JX. Die Kraft im Bein viel grosser. 

oi>. IX. Setzt. sich (dme Ililfc. Kami die Riicken- und Rumpf- 


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Ein Fall von StichverletzuDg des Ruckenmarks. 


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niuskeln, ebenso alle Muskeln des rechten Beines bewegen; am Arm aber 
nur unbedeutende Bewegungen in dem Schultergelenk. 

6 . X. Gekt ohne StQtze. Bewegungen in dem Arm- und Ellenbogen- 
gelenk moglich. 

7. X. Vermag schon etwas die Hand und die Finger zu bewegen. Die 
Sensibilit&t links hat sich bedeutend gebessert, ist aber immer nocli 
schwacher als rechts. 

Pat. wurde einige Wochen spater ins chirurgische Krankenhaus zu 
Helsingfors (Finnland) aufgenommen. Ein hier (von Seite zu Seite) aufge- 
nommenes Rontgenbild zeigt, dass die Kugel in der HOhe des zweiten Cer- 
vikalwirbels und in der Hohe des vorderen Teiles des RQckenmarkskanals 
sitzt. Ob auf der linken Oder rechten Seite, ist aus dem Bild nicht zu er- 
sehen, und auf einem Bilde von vorn nach hinten, welches dies entscheiden 
sollte, sieht man die Kugel gar nicht, weil der Hinterkopf beschattet. 

Was den Zustand der Pat. im llbrigen betrifft, war diese am 31. Dez. 
1907, also ungefahr 4 Monate post trauma, so weit hergestellt, dass „der 
Gang unbehindert und die Bewegungen in dem Arme beinahe normal wareu“. 

Wir mussen in dem vorliegenden Falle, wie es Hallstrom tut, 
annehmen, dass eine Zerreissung des Marks oder der motorischen 
Bahnen nicht vorliegen kann. Dagegen spricht namlich die schnelle 
und so vollstandige Restitution sowohl der motorischen wie der sen- 
siblen Storungen. Hochst wahrscheinlich muss wohl vielmehr ein 
Blutextravasat, Odem oder dergleichen komprimierend oder irgend wie 
sonst auf das Mark und indirekt auf den Pyramidenseitenstrang in der 
Hohe der Kugel storend gewirkt haben. Und das funktioushemmende 
Moment muss, wie man aus der Lage der Kugel zu schliessen be- 
rechtigt ist, am meisten und langsten auf die vorderen Teile des 
Ruckenmarksquerschnittes, am wenigsten auf die hinteren storend ge¬ 
wirkt haben; und umgekehrt mQssen wohl in dem Mafie, wie das 
Blut oder das Exsudat um die Kugel resorbiert wurde, zuerst die mehr 
entfernten, also die hinteren, spater die vorderen Teile des Quer- 
schnittes entladen und frei gemacht worden sein. 1m Anschluss hieran 
entwickelt sich folgendes Kranklieitsbild: Nach einer volltsandigen 
Lahmung des rechten Arms und Beins stellen sich am dritten Tage 
schwache Bewegungen in der Htifte und dem Knie ein, wahrend Fuss 
und Arm noch unbeweglich sind; am siebenten Tage in dem Fusse 
und in den Zehen, ebenso in der Rumpfmuskulatur und den Muskeln 
der Schulter, schliesslich in dem Ellenbogen, Handgelenk und zuletzt 
in den Fingern. Also eine bis ins einzelne gehende Ubereinstimmung 
mit dem, was wir nach meiner Annahme von der Gruppierung der 
motorischen Bahnen innerhalb des Pyramidenseitenstranges zu er- 
warten haben. 

Diese Anordnung stimmt iibngens mit den Kenntnissen, die wir 
iiber den Verlauf der Pyramidenbahnen in dem hoheren Nervensystem 


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XIX. Fabritius 


besitzen, gut iiberein. Wie wir wissen, sind ja nicht nur die ver- 
schiedenen Korperteile, das BeiD, der Rumpf, dei Arm usw., in der 
motorischen Region durch ihre respektiven Gebiete vertreten, sondern 
auch innerhalb dieses Gebietes ist eine Differenzierung noch inso- 
weit moglich, dass, wie es scheint, einer jeden Muskelgruppe oder 
Muskelfunktion eine bestimmte Stelle entspricht. So liegt %. B. inner¬ 
halb des Zentrums des Armes beim Menschen das Zentrum des Dau- 
mens und Zeigefingers wabrscheinlicb am tiefsten, darauf folgen nach 
aufwarts die Centra fur die ubrigen Finger, dann das Zentrum der 
Hand usw. gelenkweise aufwarts, so dass das Zentrum der Schulter 
relativ am hochsten liegt Gehen wir von der Gehirnrinde weiter, so 
kann wohl in dem Centrum semiovale eine diffuse Umlagerung der 
Bahnen kaum stattgefunden haben, weil in dem hinteren Schenkel der 
Capsula interna die Bahnen hinter einander in derselben Ordnung liegen, 
wie sie innerhalb der motorischen Region fibereinander gelagert sind. 
Und was schliesslich das Gebiet der Pyramidenkreuzung anbetriflt, 
hat besonders Wallenberg betont, dass die Bahnen des Armes und 
Beines hier isoliert liegen und von Lasionen isoliert getroflen werden 
konnen. Warum soli man da nicht annehmen dttrfen, dass die moto¬ 
rischen Bahnen auch innerhalb des Rfickenmarks gruppenweise ange- 
ordnet sind? 

Jedenfalls scheint es mir der Mfihe wert, die Aufmerksamkeit auf 
die Erscheinungen zu lenken, bei denen wir eben verweilt haben, be¬ 
sonders auf die Monoplegien, welche von einer partiellen Lasion des 
Pyramidenseitenstranges abhangen: damit zuktinftige Beobachter auf 
sie vorbereitet seien, um dann entweder meine Resultate zu widerlegen 
oder zu bestatigen oder etwas Neues zu finden. Aber — und dies 
muss ich auch hier wie schon in meinem frfiheren Aufsatze von neuem 
betonen — nur bei akut eintretenden Zerstorungen haben wir ein 
Hervortreten der Monoplegien zu erwarten, von denen hier die Rede 
war. Bei langsam vor sich gehenden Zerstorungen tritt parallel mit der 
Zerstorung eine Kompensation von der gesunden Seite her ein, welche 
mehr oder weniger vollstandig die Erscheinungen verdeckt, die sich 
bei einer akuten Lasion unzweifelhaft eingestellt hatten 

Wir gehen nun zu den sensiblen Storungen des Patienten fiber. 
In den Hauptzfigen entsprechen sie dem Brown-Sequardschen Krank- 
heitsbilde, d. h. Hyperasthesie auf der motorisch gelahmten und eine 
ziemlich vollstiindige Aniisthesie auf der anderen Seite. Die Storungen 
veriinderten sich jedoch stark, worauf es sich niiher einzugehen lohnt. 

Die linke Seite des Patienten, besonders das linke Bein, das ab- 
gesehen von einer vollstandig voriibergehenden Parese motorisch intakt 
war, war ungefiihr wiilirend der drei ersten Woclien fur alle Reize so 


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Ein Fall von Stichverletzung des Riickennmrks. 4;)9 

gut wie vollig gefuhllos. Darauf beginnt die Empfindlichkeit all- 
mahlich zuriickzukehren, und als Patient zwei Monate post trauma 
das Krankenhaus verliess, konnte er auf dieser Seite auch leichte Pinsel- 
berlihrung und ebenso Druck ftthlen, den er von leichten Beriihrungen 
gut unterscheiden konnte. Auch der Schmerzsinn, der anfangs vollig 
vermisst wurde, wurde in geringem Grade hergestellt. Bei Nadel- 
stichen behauptete Patient jedoch am Ende seines Krankenhausaufent- 
haltes eine deutliche, wenn auch schwache spezifische Schmerzempfin- 
dung zu haben, und Nadelspitze und -knopf konnte er unterscheiden; 
aber die hervorgerufene Empfindung muss doch ziemlich schwach ge- 
wesen sein, weil man sogar lange und tief stechen konnte, ohne so 
viel Unbehagen zu erwecken, dass er das Bein weggezogen hatte. Mit 
dem Temperatursinn verhalt es sich in den HauptzOgen wie mit dem 
Schmerzsinn, doch war die wiedergewonnene Sensibilitat fur Tempe- 
raturreize noch unvollkommener als die Schmerzempfindlichkeit. Ex¬ 
treme Temperaturen, ein Reagensglas mit heissem oder ziemlich warmem 
Wasser, Eisstticke oder Athylchlorid, kalte Reagensgliiser rufen beim 
Patienten spezifische, aber sehr schwache Temperaturempfindungen 
hervor, und in der Tat gibt er richtig an, wann warme oder kalte 
Gegenstande auf das Bein appliziert werden. Aber ftir mittelstarke 
Temperaturen hat Patient offenbar das IJnterseheidungsvermogen ver- 
loren, was auch aus seinem zweiten, 4—5 Monate post trauma da- 
tierten Briefe hervorgeht. 

Konnen diese Storungen auf der Basis unserer gegenwartigen Auf- 
fassung iiber die sensiblen Leitungsbahnen verstanden werden und 
wie entsprechen sie den Zerstorungen, die wir im Ruekenmark 
vorfinden? 

Wir wissen jetzt — oder wenigstens stelit miser Wissen gegeu- 
wartig auf diesem Standpunkte —, dass die sensible, zum Zentrum 
aufsteigende Leitung von jeder Stelle unseres Korpers durch zwei ver- 
schiedene Bahnen oder Gruppen von Bahnen vermittelt wird, das 
heisst einerseits durch die Hinterstrange auf derselben Seite, anderer- 
seits durch gekreuzte Bahnen, die in dem Hinterhorn auf derselben 
Seite entspringen, darauf im Verlauf von einigen Segmenten durch 
die graue Substanz steigen, dabei allmiihlich nach der entgegengesetzten 
Seite umbiegen, mu schliesslieh in den peripheren Toil des contra- 
lateralen Seitenstrauges zu gelangen. Auf diesen Bahnen verteilen 
sich die versehiedenen Hautsinneseindriieke so, dass die Sehmerz-, 
Kalte- und Warmeempfindmigen — was man wolil jetzt als ausser 
allem Zweifel stehend anselieu muss — ausschliesslich in den gekreuzten 
Bahnen emporsteigen, wiihrend die Beriihrungs- und Druckemptin- 
dungen — oder, wie man kiirzer sagen miisste, Druckempfindungen, 


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44(1 


XIX. Fabritii's 

da die Beruhrungsempfindung nichts anderes als eine schwache Druck- 
empfindung ist — sowohl auf dem einen als auf dem anderen Wege 
fortgeleitet werden konnen. 

In unserem Falle mussen wir wohl annehmen, dass die beiden 
Leitungswege derjenigen Teile der linken Korperhalfte, die unterhalb 
der Lasion lagen, wenigstens unmittelbar nacb dem Trauma unter- 
brochen waren. Das rechte Bein war ja wahrend der ersten Tage 
vollkommen gelahmt, unzweifelhaft darum, weil der rechte Pyramiden- 
seitenstrang durch die Lasion ausser stand gesetzt worden war zu 
funktionieren. Aber flir sicher konnen wir halten, dass diese Stoning 
sieh nicht einzig und allein auf die Pyramidenbahn beschrankte, son- 
dem auch die umgebenden Teile des rechten Seitenstranges umfasste, 
also auch die lateralen Teile desselben und folglich zugleich die Teile, 
wo die gekreuzten Bahnen der linken, unter der Lasion gelegenen 
Korperhalfte verliefen. Nun erinnern wir uns weiter, dass die aussere 
Wunde 5—6 cm links von der Mittellinie lag; das verletzende Instru¬ 
ment musste deswegen, ehe es den rechten Pyramidenseitenstrang traf, 
erst wenigstens den rechten Hinterstrang mehr Oder weniger vollstan- 
dig durchschneiden, aber wabrscheinlicb, ja fast sicher, auch den linken 
schwer beschadigen. Fast sicher, dtirfen wir wohl sagen; denn der 
Umstand, dass auch das linke Bein, wenn auch bloss in der HOfte, 
motorisch gestort war, zeigte, dass die Lasion ihre Wirkung wenigstens 
teilweise bis zum linken Pyramidenseitenstrange ausdehnte, und dieses 
konnte wohl kaum moglich sein, ohne dass der linke Hinterstrang be- 
schadigt wurde. Der Umfang der Zerstorung der sensiblen Leitungs¬ 
wege in der nachsten Zeit post trauma war folglich dieser: Beide 
Hinterstrange -f- den Leitungswegen, die in dem rechten Seitenstrange 
aufsteigen, funktionsunfiihig. 

Diese Zerstorung miisste nach der eben erwahnten zur Zeit ghl- 
tigen Auffassung iiber die sensible Leitung eine vollstandige Anasthesie 
auf der linken Seite zur Folge gehabt haben. Dies war ja auch in 
den Hauptziigen der Fall. Wahrend der ersten Wochen war Patient 
in den meisten Fallen fiir jede Art Reize unempfindlich, alle Empfin- 
dungen von der linken Seite, besonders die des linken Beins (ausser 
Lageempfindungen) waren aufgehoben. Doch, in den meisten Fallen, 
miissen wir betonen. Denn wir diirfen den Umstand nicht mit Still- 
schweigen ubergehen, dass Patient ab und zu bei Bernhrung, Druck, 
Xadelstichen usw. bemerken konnte, dass ein Reiz auf das linke Bein 
ausgeiibt wurde. Auf diese interessante Tatsache werde ich spater 
zurlickkommen. Vorhor werden wir bei der Wiederherstellung der 
Sensibilitat der linken Seite verweilen. 

Nach den drei ersten Wochen begann die Sensibilitat allmahlich 


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Ein Fall von Stichverletzuug des Riickemuarks. 


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zuriickzukehren, und beim Verlassen des Krankenhauses konnte Patient 
Beruhrung und Druck fiihlen und unterscheiden; er behauptete auch 
spezifiscbe, obgleich ausserst schwache Temperatur- und Druckempfin- 
dungen zu haben. 

Dies kann nun, was die Druckempfindungen betrifft, dadurcb ge- 
schehen sein, dass der linke Hinterstrang, der vielleicht nicht durch- 
schnitten worden, sondern nur funktionell gestort war, wieder in (3rd* 
nung kam und in den Stand gesetzt wurde, Eindriicke fortzuleiten. 
Dies konnen wir jedoch nicht entscheiden, wir mussen uns vielmehr 
auf Vermutungen beschranken. 

Dagegen konnen wir uns mit grosserer Gewissheit tiber die Mbg- 
lichkeit der Restitution der contralateralen Babnen der linken Seite 
aussprechen. Wie ich frtiher hervorgehoben habe, lag wabrscheinlich 
nicbt eine totale Lasion des rechten Pyramidenseitenstranges, sondern 
nur eine Lasion seiner hinteren Teile vor. Das recbte Bein war anfangs 
vollstandig gelahmt, aber am 4. Tage begannen die Bewegungen in den 
Zehen und allmablich auch in dem Fuss und Knie zuriickzukehren, 
und diese Bewegungen wurden wahrscheinlich durch Bahnen in dem 
rechten Pyramidenseitenstrang vermittelt, die dies auch friiher getan 
batten, d. h. durch Bahnen, die allein funktionell geschadigt waren, 
aber wieder funktionsfahig wurden. In Analogie hiermit durfen wir 
wohl auch schliessen, dass die in dem Seitenstrang aufsteigenden zen- 
tripetalen Leitungswege, besonders die mehr ventral gelegenen, wieder 
leistungsfahig wurden und anfingen, Eindriicke von der linken Seite 
fortzuleiten. Dies mussen wir auch besonders deshalb annehmen, weil 
die Temperatur- und Schmerzempfindung, obgleich ausserst schwaeh, 
moglich wurden. Wir miissen es namlich jetzt als so gut wie be- 
wiesen betrachten, dass diese Empfindungen nicht auf anderen Wegen 
als durch den contralateralen Seitenstrang ausgelost werden konnen; 
eine Kompensation durch neue Bahnen ist nicht moglich; das haben 
schon zahlreiche und sichere Falle gezeigt, wo eine Zerstbrung der in 
Frage kommenden Teile von vollstandiger und dauernder contralatc- 
raler Thermanalgesie begleitet waren. Dass andererseits die ausgelbsten 
Empfindungen so ausserst verwischt und unklar waren, lasst sich auch 
verstehen. Denn wir mussen wohl annehmen, dass die in Betraeht 
kommenden contralateralen Bahnen, wenn auch funktionstiichtig nach 
dem Trauma, doch bei weitem nicht normal waren. Seitens der mo- 
torischen Sphare hatten wir viele von dem Normalen abweichende 
Erscheinungen zu verzeichnen: gesteigerte multiple Patellarreflexe und 
Fussklonus auf der rechten Seite, eine gewisse, wenn auch nicht be¬ 
sonders hochgradige Steifheit, welche sich u. a. nach fiinf Monaten 
geltend machte, so dass Patient zwar fast uugeniert gehen, aber nicht 


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XIX. Fabiutiis 


laufen konnte. Eine analoge Veranderung konnen wir uns auch auf 
dem sensiblen Gebiete vorstellen. 

Wir kehren nun zu dem schon kurz erwahnten Umstande zurfick, 
dass bei Priifung mit verschiedenen Reizen auch in der nachsten Zeit 
nach dem Trauma, als sich links fast vollstandige Anasthesie geltend 
machte, diese Reize ab und zu eine Art Empfindung beim Patienten her- 
vorriefen. Ein Eingehen auf diesen Umstand hat um so mehr Interesse, 
als wir dadurch Gelegenheit erhalten, eine Frage zu erortern, die schon 
seit den ersten Tierexperimenten am Ruckenmark bis zum heutigen 
Tage so viel Aufmerksamkeit erweckt hat und so scbwer zu erklareu 
gewesen ist, die Frage namlich nach dem enormen Kompensationsver- 
mogen des Ruckenmarks, dem Vermbgen, die sensiblen Storungen 
zu verhtillen, obwohl die Zerstorung verhaltnismassig kolossal war. 
Wir finden in der Literatur relativ wenige Falle, wo bei grossen 
Lasionen eine absolute Anasthesie der einen Korperhalfte zu ver- 
zeichnen ware. Schon Brown-Sequard wendet in solcben Fallen 
von der Sensibilitiit der sensibel gestorten Seite Ausdriicke an, wie 
„considerablement diminuee, presque annihilee, presque perdue" usw., 
und bei den meisten iibrigen Autoren begegnen wir ahnlichen Aus- 
drncken. Auch in dem uns vorliegenden Falle seben wir ein ahn- 
liches Verhalten. 

Wie soil man dies verstehen? 

Wir sahen, dass wenigstens in der ersten Zeit nach der Verletzung 
beide Leitungswege der linken Seite, der linke Hinterstrang und die con- 
tralateralen Bahnen in dem rechten Seitenstrang funktionsunfahig waren. 
Unter diesen Umstanden miissen wir wohl die Bahnen, die tatsachlich 
noch ab und zu gewisse Empfindungen auf der linken Seite vermittelten, 
in den Teilen des Riickenmarksquerschnitts suchen, die nicht von der 
Lasion getroffen worden waren, also vor allem in dem linken Seiten¬ 
strang; oder vielleicht kbnnten wir annehmen, dass einzelne Faden 
unter der sonst zerstorten Bahnen der linken Korperhalfte inmitten 
der zerstorten intakt geblieben und imstande waren, periphere Reize 
fortzuleiten. 

Diese letztere Vermutung muss wohl ohne weiteres zuruckgewiesen 
werden. Denn es sind — wie oben erwiihut — zahlreiche Falle, auch 
mit Sektionsbefund, bekannt, in denen eine gleich grosse Zerstorung 
wie in unserem Falle vorkam und wo dieselben Symptome von seiten 
der sensiblen Sphare wie in unserem Falle vorlagen. Wir konnen in 
alien diesen Fallen nicht auf einen Zufall bauen, dass sich namlich 
einige Bahnen vor der Zerstorung gerettet hiitten; sondern wir mtlssen 
die Erklarung auderswo suchen. 

So bleibt in unserem Falle nur der linke Seitenstrang iibrig. Hier 


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Ein Fall von Sticliverlctzung des Kuckenmarks. 


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mussen wir die Bahnen suchen, die uns eine Erklarung fur die noch 
in dem iinken Bein teilweise erhaltene Empfindlichkeit geben. 

Man hat sich gedacht, dass sich die Leitung kurzer Bahnen be- 
diene, die so zu sagen treppenformig die Reize von Segment zu Seg¬ 
ment nach aufwarts leiten wurden. Aber dies ist nie bewiesen worden. 
Und gegen diese Vermutung spricht in unserem Fall ein Umstand 
sehr stark. Wenn Patient einen auf das linke Bein ausgeiibten Reiz 
wahrnahm, so konnte er ihn richtig lokalisieren. Dies zeigt wohl 
deutlich, dass die im Bewusstsein erweckten Empfindungen nicht nur 
irgend eine Empfindung, sondern Empfindungen eines bestimmten, im 
Raume projizierbaren Wertes waren. ' Es musste sich hier um eine 
Empfindung handeln, die schon frliher erweckt werden konnte, und um 
Bahnen, die auch in normalem Zustand funktioniereu. 

Diese Bahnen waren hochst wahrscheinlich die seniblen, den 
Muskeln und Gelenken entstammenden Bahnen, die, wie es schon das 
Brown-Sequardsche Krankheitsbild erfordert, ungekreuzt aufsteigen. 
Anatomisch entsprechen diesen Bahnen teils der Hinterstrang auf der- 
selben Seite und — wahrscheinlich — teils die gleichfalls ungekreuzt 
aufsteigende Flechsigsche Bahn (Fascialus spinocerebellaris) (Mar¬ 
burg, Lewandowskyu. a.). In unserem Fallewar, wie ich schon frliher 
zu zeigen versucht habe, der linke Hinterstrang nach der Verletzung 
wahrscheinlich ausser stand, zu funktionieren, und es bleibt uns somit 
das Flechsigsche Bundel auf der Iinken Seite iibrig, in dem wir den 
Leitungsweg linden konnen, durch welchen die linke, unterhalb der 
Lasion gelegene Korperhalfte mit dem Zentrum in Verbindung stand. 

Wie kann aber diese Bahn, die eigentlich im Dienste des Muskel- 
sinns steht, Empfindungen hervorrufen, die durch Druck oder andere 
Reize ausgelost werden? 

Wir konnen dem Verstandnis der Frage etwas naher kommen, 
wenn wir von Heads Untersuchungen ausgehen, die ich nach Alrutz 
zitieren muss, da mir die Originalquellen nicht zuganglicb waren. 

Head liess an seinera Iinken Arme den Ram. cut. nervi rad. und Ram. 
lat. nervi musculocut. durchsehneiden und beobachtete u. a. infolge 
dieses Eingrilfs folgeude Sensibilitatsstorung am radialen Teil des 
Unterarms und der Hand: Reizung mit Baumwolle, Nadelspitze und 
alien Arten von Wiirme und Kalte oder mit Induktionsstromen konnte 
nicht wahrgenommen werden. Ebenso wurde keine Empfindung aus- 
gelbst, wenn man an den Haaren zog oder wenn ein Druck gegen eine 
gehobene Hautfalte ausgetibt wurde. Mit einem Wort: alle Formen 
von kutaner Empfindlichkeit waren verschwunden. Dagegen wurde 
jeder Druck gegen die Hautoberflache gleich empfunden und gut 
lokalisiert; sogar wenn das in Frage kommende Hautgebiet mit eiuer 


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XIX. Fabritius 


Bleistiftspitze oder einem Stecknadelkopf beriihrt wurde, konnte die 
Reizung sogleich wahrgenommen werden. Diese tiefe Sensibilitat 
musste nach Head durch die zentripetalen NerveD, die in der Tiefe 
zusammen mit den motorischen verlaufen, vermittelt werden. Dieser 
Verlauf gilt jedoch nur von dem peripheren Teil dieser Nerven, im 
Ruckenmark findet eine Umschaltung statt, ob aber diese die tiefe 
Sensibilitat vermittelnden Babnen gekreuzt oder nicbt, oder sowohl 
gekreuzt als ungekreuzt verlaufen, geht aus Alrutz' kurzer Mitteilung 
nicbt hervor. Wir konnen uns ja denken, dass sie wenigstens teil- 
weise zusammen mit den Babnen des Muskelsinns verlaufen, die in 
unserem Falle auf der linken, sensibel -gestorten Seite unleugbar in- 
takt waren, da Patient auch mit geschlossenen Augen jede Bewegung 
in seinem linken Bein sogleich und genau angeben konnte. In dieser Weise 
konnten wir vielleicht den unbedeutenden, unsichem Rest von Empfind- 
lichkeit erklaren, der in unserem Fall und auch in anderen Fallen, 
wo die beiden normalen Leitungswege der einen Korperhalfte durch- 
schnitten waren, auf der sensibel gestorten Seite erhalten zu sein pflegt. 

Aber wir konnten die Empfindlichkeit auch anders erklaren, und 
unser Fall besonders gibt uns einen Fingerzeig. Wennwirdie Sensibilitat. 
die unser Patient auf der linken Seite aufwies, mit Heads Beschreibung 
der tiefen Sensibilitat bei sich vergleichen, ist der Unterschied auffallend. 
Auch wenn die tiefen Druckbahnen im Ruckenmark bloss teilweise nur zu 
einem geringen Teil zusammen mit den zentripetalen Leitungswegen des 
Muskelsinns verlaufen sollten, konnten wir — scheint es mir — eine 
etwas bessere und vor allem eine konstantere Empfindlichkeit der linken 
Seite erwarten dtirfen. Jetzt konnte Patient nur ab und zu angeben, 
ob er beriihrt wurde, und besonders tat er es, wie ich unzahlige Male 
Gelegenheit hatte zu sehen, wenn die beriihrende Hand unvorsichtig auf 
das Bein appliziert wurde, so dass eine Erschiitterung desselben erfolgte. 
Frappant waren auch die vom Patient gegebenen Antworten: „Jetzt be- 
wegen Sie das Bein“ oder „Sie schwiugen das Bein“. Es waren Bewe- 
gungsempfindungen, die im Bewusstsein auftauchten. Wurde das Bein ge- 
hoben, das Knie gebeugt oder das Bein anderswie bewegt, so hatte Pa¬ 
tient, wie erwahnt, auch mit geschlossenen Augen eine durchaus deut- 
liche Vorstellung davon. Und auch bei leichter Erschiitterung des 
Beins musste eine gevvisse Verschiebung in den Gelenken stattfinden; 
Patient full It, dass eine Verschiebung seines Beins stattgefunden hat, 
er hat es nicht selbst bewegt und er schliesst, dass es jemand auf die 
eine oder andere Weise bewegt hat. Die Empfindung nimmt eine - un- 
klare Form von Druck und Beriihrung an; hochst wahrscheinlich 
klingen Druckempfiudungen assoziativ mit. Auch bei einem gesunden 
Mensehen sind die Gelenk- und Bewegungsempfindungen nicht spezi- 


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Ein Fall von Stichverletzung des Ruckenmarks. 


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fisch, sie sind immer mit gleicbzeitigen Hautempfindungen vermischt. 
Die in der Haut, die ein G-elenk umgibt, befindlichen Druckapparate 
werden bei jeder Bewegung einer gewissen, mehr oder weniger starken 
Reizung ausgesetzt und die entstandenen Druckempfindungen farben 
und assoziieren sicb mit den Bewegungsempfindungeu. Besonders deut- 
lich tritt das hervor, wenn wir z. B. einen Karbunkel, erne oberflach- 
liche Wunde oder dergleichen in der Nahe eines Gelenks haben. Bei 
jeder Bewegung entstehen Schmerzen. Auf diese Weise konnen die 
Empfindungen der Glieder, Sehnen oder Muskeln gewissermassen die 
Hautempfindungen ersetzen. Und umgekehrt dflrfen wir wohl auch 
annebmen, dass die Hautempfindungen Defekte im Muskelsinn teil- 
weise decken konnen. Und das Resultat bleibt das schon erwahnte 
hocbgradige Kompensationsvermogen bei Lasionen des Riickenmarks. 

Eine Erscheinung, bei welcher wir noch verweilen miissen, ist der 
in den drei ersten Wochen nach der Yerletzung aufgehobene Beruh- 
rungssinn, das beiderseitig vorkommende Unvermogen des Patienten, 
Pinselbernbrungen wabrzunehmen. 

Bei balbseitigen Ruckenmarkslasionen ist diese Storung scbon 
friiher beobachtet worden und besonders hat Leyden unter dem Namen 
relative Hyperasthesie ein Symptom beschrieben, das darin besteht, 
dass bei vorhandener Hyperasthesie gleichzeitig eine Hypasthesie fur 
leicbte Beriihrung vorliegt, so dass schwacbe Reize gar nicht geftihlt 
werden, aber unmittelbar, nacbdem sie empfunden worden sind, einen 
schmerzhaften Charakter annebmen. "Wagner und Stolper haben 
in einem Fall, wo sie diese Erscheinung beobachtet haben, die taktile 
Hypasthesie mit einer Zerstorung des Hinterstrangs auf derselben 
Seite in Zusammenbang gebracht. Und in der Literatur finden wir 
bei naherer Durchmusterung mehrere Falle relativer Hyperasthesie 
(Jolly, Reinhardt, Weiss, Urban, Veit), wo mit grosster Wahr- 
scheinlichkeit eine Storung in den Hinterstrangen vorliegt, und be¬ 
sonders ist der von Muller 1871 publizierte Fall mit Leichenbefund 
bemerkenswert. Oberflachliche Beriihrung konnte garnicht wahrge- 
nommen werden, dagegen aber war Patient auf der linken Seite be¬ 
sonders fur „intensivere Reize (Druck, Stoss, Kalte)“ empfindlich. Die 
linke Ruckenmarkshalfte und der rechte Hinterstrang waren durch- 
schnitten. Die aussere Wunde lag einen Zoll breit rechts von der 
Mittellinie. 

Dieser letzte Fall eriunert stark an unseren, ausser dass die Lasion, 
wie man aus den iibrigen Symptomen zu sehliessen berechtigt ist, un- 
zweifelhaft etwas grosser war. Aber auch bei unserem Patienten miissen 
die beiden Hinterstrange, wenigstens wahrend der niichsten Zeit nach 
der Verletzung, funktionsunfiihig gewesen sein, und der Fall spricht 
Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkuude. 37 . Bd. *29 


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XIX. Fabkitics 


also wie auch der Mtillersche daffir, dass eine Storung oder Zersto- 
rung der Hinterstrange einen Verlust des Vermogens, leichte Berfih- 
rungen wahrzunehmen, wenigstens fttr eine Zeit lang herbeifuhrt 
Frfiher oder spater sehen wir namlich beinahe in alien Fallen, dass die 
Storung kompensiert wird, und dies muss wobl offenbar dadnrch ge- 
schehen, dass andere Bahnen, d. h. die kontralateralen, sich allmablich 
schwachen Reizen anpassen, denn eine Wiederherstellung der Leitung 
in den Hinterstrangen hat sicher in den meisten Fallen nicht statt- 
gefunden, sie sind definitiv durchschnitten. Eine solche Dbung der 
Empfindlichkeit ist ja fibrigens nicht unwahrscheinlich, sondern sie 
hat Entsprechungen auf mehreren anderen Gebieten. Blinde konnen 
ja z. B. die Empfindlichkeit in der Fingerhaut bis zu einem unglaub- 
lichen, weit fiber das Normale gehenden Grade ausbilden. 

Dass die Hinterstrange Leitungswege ffir schwachen Druck (Be- 
ruhrung) sind, ist eine noch nicht allgemein anerkannte Sache. Zwar 
enthalt ja schon Schiffs bekannte Lehre von der sensiblen Leitung 
diese Annahme, aber auch andere Ansichten sind ganz vor kurzem 
ausgesprochen worden. So hat Petren die Vermutung geiiussert, dass 
der Drucksinn der tieferen Teile zusammen mit dem Muskelsinn in 
den Hinterstrangen aufsteige, wahrend die Druckempfindungen der 
Haut zusammen mit den fibrigen Hautsinnseindrncken in dem gekreuzten 
Seitenstrang fortgeleitet werde. Oppenheim scheint in der letzten 
Auflage (190$) seines bekannten Lehrbucbs der Krankheiten des Ner- 
vensystems keine bestimmte Ansicht zu vertreten. Kurzum, die Frage 
scheint ungelost zu sein. 

Es scheint daher geboten, darauf hinzuweisen, dass unser vor- 
liegender Fall ebenso wie die eben erwahnten Falle von relativer Hyper- 
asthesie entschieden ffir die Richtigkeit der alten Schiffschen Lehre 
sprechen. Und ich habe in einem grosseren Aufsatze auch mehrere 
andere Tatsachen zusammengefasst, die, wie mir scheint, ganz unzweifel- 
haft und tiberzeugend die Hinterstrage als die Leitungswege ffir alle 
Arten von Druckreizen, fur starke wie schwache, bezeichnen. Ich will 
hier auf den sorgfaltig untersuchten Hennebergschen Fall hinweisen, 
in dem ein Tumor den linken Seitenstrang vollstandig zerstort hatte, 
wahrend die rechte Rfickenmarkshalfte und die beiden Hinterstrange 
intakt waren. Ein genauer, 10 Tage vor dem Tode aufgenommener 
Seusibilitiitsstatus unterrichtet uns davon, dass „Pinselberflhrungen 
iiberall empfunden werden. Bertihrung mit dem Pinsel und mit dem 
Pinselstiel wird gut untersehieden“. Auf der rechten Seite, deren 
kontralaterale Bahnen in dem linken Seitenstrang also ganz und gar 
zerstort waren (Schmerz- und Temperaturempfindungen auf der rechten 
Seite waren gleichfalls aufgehoben), leitete folglich der Hinterstrang 


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Ein Fall von Stichverletzung des Riickenmarks. 


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alle taktilen Reize, Beriihrung und Druck, fort. Aber einen Einwand 
kann man macben. Eben erwahnte icb, wie sich in Fallen, wo die 
Hinterstrange durchschnitten sind, die anfangs bestebende taktile Hyp- 
astbesie allmahlicb zurfickbildet und zwar wahrscheinlich dadurcb, dass 
andere Babnen (die kreuzenden) sich leicbten Reizen anpassen. In 
Hennebergs Fall konnen wir uns denken, dass der rechte Hinter- 
strang im Gegenteil allmahlicb wabrend des Wachstums des Tumors 
die Rolle der in dem linken Seitenstrang zerstorten Bahnen fiber- 
nommen babe, und dass das in Hennebergs Fall bestehende Leitungs- 
vermogen der Hinterstrange fur leichte Beriihrung eine durch die Um- 
stande hervorgerufene pathologische Abweichung vom Normalen sei. Aber 
dieser Annabme konnen wir mehrere Falle von Verletzungen des 
Riickenmarks entgegenstellen. Ich hatte Gelegenheit, einen Fall zu 
beobachten — und in von Piltz, J. Hoffmann, Vucetic, Rein¬ 
hardt und Albrecht mitgeteilten Fallen liegen analoge Verhaltnisse 
vor —, wo nach einem Messerstich links vom Proc. spin, des 4. Cer- 
vikalwirbels eine 6—8 Wochen bestehende, aber vollkommen vor- 
iibergehende linksseitige motoriscbe Storung nebst einer 8 Monate 
spater nocb bestehenden vollstandigen Thermanalgesie rechts eintrat. 
Diese Symptome berechtigen uns zu behaupten, dass eine verhaltnis- 
massig oberflacbliche Lasion der linken Rfickenmarkshalfte vorlag, und 
sicber konnen wir behaupten, dass die rechte Halfte des Riickenmarks 
in der Hohe der Lasion und auch der Hinterstrang auf dieser Seite 
intakt waren. Die bestehende Thermanalgesie der rechten Seite zeigt 
wieder, dass die contralateralen Bahnen dieser Seite durch die Lasion 
durchschnitten wurden; die rechte Seite verfugte also bloss fiber Lei- 
tungswege in dem Hinterstrang. Und Patient konnte beiderseits und 
ganz ebenso gut wie ein Gesunder Pinselberiihrung und Druck em- 
pfinden und sie von einander unterscheiden. Wir haben also die Be- 
weiskette geschlossen: Der Hinterstrang wird durchschnitten und Patient 
verliert das Verinogen, leichte Beriihrung auf dieser Seite zu perzi- 
pieren; der Hinterstrang bleibt erhalten und der contralaterale Leitungs- 
weg wird durchschnitten oder durch einen Tumor zerstort. Schmerz- 
und Temperaturempfindung verschwinden auf der einen Seite, aber 
Beriihrung und Druck werden wie friiher fiberall wahrgenommen und 
konnen unterschieden werden. 

So bleibt schliesslich noch eine Erscheinung der sensiblen Sphare 
iibrig, die auch in unserem Falle hervortritt, die Hyperasthesie. 

Das rechte Bein und der untere Teil des Bauches auf der rechten 
Seite ungefahr bis zur Nabelhohe waren hyperasthetisch: Nadelstiche 
riefen lebhaften Schmerz hervor, und bei Druck oder Kneifen hatte 
Patient zwar erst eine deutliche Druckempfindung, aber bei Steigerung 

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XIX. Fabbitius 


des Reizes nahm die Empfindung ziemlich bald einen schmerzbaften 
Charakter an, was besonders gut beim Yergleich mit der Sensibilitat 
an gesunden Stellen (Anne, Gesicht) hervortrat. Diese S to rung beginnt 
sich allmahlich zuriickzubilden, und die Besserung geht Hand in Hand 
mit der Besserung der Motilitat. Einen Monat nach der Verletzung, 
als die Bewegungen samtlicher Glieder des recbten Beins schon, ob- 
gleich noch schwach und unvollkommen, zurtickgekehrt waren, ist in 
der Krankengeschichte verzeichnet: Hyperasthesie reehts fortgesetzt, 
obgleich schwach, nachweisbar. 6 Wochen post trauma keine Hyper¬ 
asthesie. 

Wie soil man die Hyperasthesie erklaren? 

Ich kann hier nicht auf die zur Erklarung dieser Erscbeinung 
aufgestellten Theorien eingehen. Eine ziemlich vollstandige Zusammen- 
stellung derselben finden wir z. B. bei Henneberg, auf dessen Auf- 
satz ich verweise. Anstatt dessen benutze ich die Gelegenheit, um 
eine Theorie vorzulegen, die ich liber die Anordnung der sensiblen 
Leitung im Ruckenmark und der Hyperasthesie aufgestellt habe. 

Ich bin von der Auffassung ausgegangen, in welcher die moderne 
Rtickenmarksforschung resultiert. Ich habe also angenommen, dass 
von den verschiedenen Sinnesempfindungen, die durch unsere Haut 
ausgelost werden, die Schmerz-, Warme- und Kalteempfindung einzig 
und allein durch gekreuzt, im contralateralen Seitenstrange aufsteigende 
Bahnen fortgeleitet werden, wahrend die Druckempfindungen sowohl 
durch den Hinterstrang derselben Seite wie durch Bahnen, die zu- 
sammen mit den Schmerz- und Temperaturbahnen verlaufen, auslos- 
bar sind. 

Weswegen hat die Natur diese Anordnung getroffen und vor 
allem: Was kann kann die Aufgabe, der Zweck der doppelten Druck- 
bahnen sein? 

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, habe ich verschie- 
dene in der Literatur vorhandene Falle durchmustert, und zwar einer- 
seits solche, wo nur der Hinterstrang funktioniert, andererseits solche, 
wo dies die contralaterale Beruhrungsbahn tut. Aber irgend ein Unter- 
schied in der Funktion der beiden Bahnen konnte auf diesem Wege 
nicht gefunden werden. 

Da hatte ich Gelegenheit, einen Fall von Stichverletzung des Rticken- 
inarks zu beobachten, den ich in einein anderen Aufsatze vollstandig 
referiert und auch hier etwas beriihrt habe. Es handelte sich um 
einen Patienten, bei dem die Temperatur- und Sehmerzbahnen der rechten 
Seite und also auch die contralateralen Beruhruugsbahnen dieser Seite 
vollstiindig durchschnitten waren, so dass noch 8 Monate spater jede 
Schmerz- und Temperaturempfiudung auf der rechten Seite aufgehoben 


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Ein Fall von Stichverletzung des Riickenmarks. 


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war. Bertthrte man Patient leicht, fiihlte er es augenblicklich und 
gut; wurde die Beriihrung zu immer starkerem Druck gesteigert, so 
gab Patient ganz richtig die Art und Intensitat des Reizes an, aber 
das, was seine Empfindungen von denjenigen eines Gesunden unter- 
schied, war die totale Abwesenheit aller Arten von Gefuhlsalteration; 
das Unbehagen, die Unlust, die dem Auftreten des Schmerzes voraus- 
gebt, konnte gamicbt konstatiert werden; man konnte mit der Faust 
einen Druck gegen das rechte Bein ausiiben, ohne dass Patient eine 
Miene verzog oder versucht hatte, das Bein wegzuziehen; er hatte nur 
die Empfindung eines starken Drucks. Die Gefiihlsbetonung, der Ge- 
fiihlston, der unsere Empfindungen mehr oder weniger deutlich be- 
gleitet, wurde vermisst, und dies, scheint mir, gibt uns die Moglich- 
keit, die Bedeutung der contralateralen Bahnen und die Aufgabe der 
beiden Druckbahnen zu verstehen. 

Die zentripetalen Bahnen des Riickenmarks sind in zwei grossen 
Hauptgruppen angeordnet. Einerseits haben wir die den spinalen 
Ganglien entstammenden direkten Leitungswege in den Hinterstrangen, 
andererseits die sekundaren, in dem Hinterhorn entspringenden und in 
dem entgegengesetzten Seitenstrange aufsteigenden Bahnen. Die Auf¬ 
gabe der ersten ist, alle Druckreize von der leisesten Berlihrung bis 
zum starksten Druck fortzuleiten, und sie tun es, wenn ich so sagen 
darf, ohne diesen Reiz zu verwischen; sie zeigen dem Bewusstsein die 
objektive Seite des Reizes, dessen Qualitat und Intensitat an, aber 
nicht die subjektive Seite: die BeschafFenheit dieser Einwirkung auf 
unseren Korper. Erst wenn die contralateralen Bahnen in Tatigkeit 
treten, verstehen wir diese Seite der Erscheinung; wir beginnen Un¬ 
lust, Unbehagen zu fiihlen, bis der Schmerz hervortritt, um uns zur 
Reaktion gegen den drohenden Eingriff zu zwingen. Kurzum, die Lei- 
tung in den contralateralen Bahnen bildet die physische Unterlage fur 
das Gefuhlselement unserer Hautempfindungen. 

Von diesem Standpunkte aus miissen wir uns vorstellen, dass unsere 
durch mechanische Reize von derHaut vermittelten Sinnesempfindungen 
durch eine gleichzeitige Einwirkung und durch eine Zusammenwir- 
kung der Reizung in den beiden Bahnen entstehen. Bei leichter Be- 
ruhrung, z. B. wenn wir mit der Hand einen Gegenstand so zu sagen 
objektiv untersuchen wollen, sind es vor allem die Bahnen der Hinter- 
strange, die in Anspruch genommen werden, natiirlich ausser den 
„Muskelsinnsbahnen“, die die Stellung und die Bewegungen unserer 
Finger vor dem Bewusstsein projizieren. Bei zunehmender Starke des 
Reizes nimmt auch die Leitung in den contralateralen Bahnen — „den 
Gefuhlsbahnen 11 , wie ich sie neunen ruochte — immermehr zu, die Em- 


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XIX. Fabrjtius 


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pfindung wird immer mehr druckend und peinigend und das Subjektive 
in der Empfindung beginnt zu dominieren. 

Auch unter den Symptomen, die unser Patient bot, war eitie 
Erscheinung, die mir der jetzt angefOhrten Annabme zuzustimmen 
scheint. Ich bemerkte, dass Patient wahrend der ersten Wochen 
nach der Verletzung an seinem hyperasthetischen rechten Bein nur 
schwierig Druck und Kneifen unterscheiden konnte. An gesunden 
Korperstellen geschah es dagegen prompt. Die Ursache konnten 
wir vielleicht darin suchen, dass die Reize von der hyperasthetischen 
Seite nur durch die kontralateralen Babnen fortgeleitet wurden. Patient 
hatte deshalb eine mehr oder weniger stark gefuhlsbetonte Druckem- 
pfindung, aber die exakte Bedeutung des Reizes konnte er nicbt an- 
geben, weil durch die Lasion der Hinterstrange die notigen diesbezug- 
lichen Nachrichten nicht zum Gehirn befordert werden konnten. 

Aber wir kehren zur Frage nach der Hyperasthesie zurQck. 

Hyperasthesie nennen wir in Ubereinstimmung mit den Annahmen 
iiber die Leitungsverhaltnisse den Zustand, wo die Gefuhlsbetonung 
einer erweckten Empfindung abnorm stark ausfallt, und die anatomisch- 
physiologische Unterlage mussen wir in einer so oder so entstandenen 
unproportionierten Steigerung des Reizungszustandes suchen, die in den 
contralateralen Bahnen von dem hyperasthetischen Hautgebiete aus- 
gelost wird. 

Durch eine eingehende Analyse von 81 Fallen glaube ich nach- 
gewiesen zu haben, dass die Hyperasthesie dann auftritt, wenn eine 
Lasion, z. B. ein Messerstich, eine anfallsweise verlaufende Krankheit, 
eine Blutung, eine Riickgratfraktur oder -luxation usw. plotzlich die 
Kontinuitiit der einen Riickenmarkshalfte unterbricbt, und besonders 
in dem Fall, dass der Pyramidenseitenstrang und seine nacbste Um- 
gebung liidiert wurden. Es tritt namlich ein ganz auffallender Par- 
allelismus zwischen den motorischen Strangen und der Hyperasthesie 
auf; liegt, eine akute einseitige Totallahmung im Anschluss an eine 
Lasion von der oben aufgezahlten Art vor, so haben wir auch sicher 
Hyperasthesie auf dieser Seite; ist die Lahmung partiell oder ausserst 
schnell voriibergehend, so konnen wir in der Regel keine Hyperasthesie 
erwarten, doch gil)t es hier eine wichtige Ausnahme. Es scheint, als 
ob die Hyperasthesie sich immer beim Eintritt einer Lahmung des 
Hfiftgelenks einstellte, sei es, dass diese Hiiftlahmung allein oder als 
Teilsymptom einer Totallahmung besteht, wogegen in Fallen, wo eine 
Stbrung des Arms, des Fusses oder Knies oder nur eines dieser Teile 
vorliegt, die Hyperasthesie vermisst wird. Dieses habe ich in Uber- 
einstimmung mit meiner friiher entwickelten Auffassung iiber die Grup- 
pierung der motorischen Bahnen so gedeutet, dass. wenn die hintersten 


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Ein Fall von Stichverletzung des Ruckenmarks. 


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Teile des Pyramidenseitenstranges oder seine nachste Umgebung durch- 
schnitten warden, dann die Hyperasthesie eintritt. Diese Stelle ist 
auch durch yiele sorgfaltige Tierexperimente als diejenige des ROcken- 
marksquersclmittes bezeichnet worden, deren Zerstorung Hyperasthesie 
in den tiefer gelegenen Teilen verursacht (Woroschiloff, Koch und 
besonders Martinotti). 

Den Effekt dieser Leitungsunterbrechung innerhalb des Riieken- 
marks mochte ich so erklaren, dass durch denselben die unter der 
Lasion liegenden Zellen plotzlich aus ihrem Zusammenbang mit dem 
zentralen Nervensystem herausgerissen werden. Ihre Wirkungsart, 
ihre Reaktion auf Reize, fur die sie noch zuganglich sind, verandert 
sich hierdurch so, dass in den entsprecbenden zellulifugalen Bahnen 
abnorm starke Reizungen hervorgerufen werden. Und auf diese Weise 
entsteht auch in den im Hinterborn liegenden Zellen, aus welchen die 
Temperatur- und Schmerzempfindung auslosenden Bahnen entspringen, 
um in dem contralateralen Seitenstrang aufzusteigen, ein unproportio- 
niert starker Reizungszustand, und der Gefiihlston der ausgelosten Em- 
pfindungen wird abnorm stark: es entsteht Hyperasthesie. 

Von dieser Auffassung ausgehend konnen wir die Hyperasthesie 
oder ihre Abwesenheit in fast alien 81 Fallen, die ich analysiert habe, 
verstehen und erklaren. Wo sie vermisst wird, liegt eine partielle 
Lasion der Pyramidenbahn vor, oder die Angaben beziehen sich auf 
eine so spate Zeit nach dem Trauma, dass die Hyperasthesie sich schon 
zurfickgebildet hat, oder die Zerstorung des Riickenmarksquerschnittes 
ist langsam vor sich gegangen. Dass wir in den beiden letztgenannten 
Fallen keine Hyperasthesie zu erwarten haben, ist nur die Konsequenz 
der gemachten Annahme. Denn wenn einmal eine Veranderung der sen- 
siblen Zellen, aus denen die contralateralen Bahnen entspringen, die 
Ursache der Hyperasthesie ist, so ist es vollig naturlich, dass die 
Zellen allmahlich zu Verhaltnissen zurfickzukehren bestrebt sind, die 
mehr mit dem Normalen iibereinstimmen. Die Hyperasthesie muss 
abuehmen oder ganz und gar verschwinden. Dieses trifft auch in den 
meisten Fallen zu; die Falle, in denen sie Jahre und Monate bleibt, 
sind gezahlt, und in dem Falle ist ihre Intensitat nur ein Bruchteil 
der ursprunglichen. 

Und wenn die Zerstorung des Querschnittes langsam vor sich 
geht, haben wir keinen Grund Hyperasthesie zu erwarten. Wir nehmen 
z. B. den Hennebergschen gut beobachteten Fall. Hier hatte, wie 
schon friiher erwiihnt, ein Tumor den linken Seitenstrang vollstandig 
(auch die Pyramidenbahn mit den angrenzenden Teilen) zerstort. Und 
Henneberg schreibt: „Unser Fall wiirde somit zu dem Schluss be- 
rechtigen, dass eine isolierte Durchschneidung des Seitenstrangs beim 


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452 


XIX. Fabritius 


Menschen wohl die Schmerz- und Temperaturempfindung auf der gegen- 
uberliegenden Seite aufhebt, nicht aber Hyperasthesie auf der Seite 
der Lahmung erzeugt." Aber Henneberg gebt Ton einer unrich- 
tigen Pramisse aus. Er dlirfte gar nicht von einer „Durchschneidung 
des Seitenstrangs“ sprechen, weil nicht eine solche, sondern eine Zer¬ 
storung durch einen Tumor vorlag. Im Gegenteil mttssten wir auf 
Grund der Kenntnisse, die wir liber den Effekt einer Stichverletzung 
vom selben Umfange wie die Lasion in Hennebergs Fall besitzen, 
folgendermassen sagen konnen: Wenn die Zerstorung mit einem Messer 
erfolgt ware, so hatten wir sicher Hyperasthesie konstatieren konnen; 
nun erfolgte sie aber durch einen Tumor, und die Hyperasthesie wurde 
vermisst; in dem ersten Falle trat die Zerstorung plotzlich ein, in dem 
letzteren'langsam; das ist der Unterschied. Die unter der Lasion ge- 
legenen Zellen hatten bei Hennebergs Patient Zeit und Gelegen- 
heit, sich allmahlich den veranderten Verhaltnissen anzupassen und 
deshalb blieb die Hyperasthesie aus. Weswegen sollte nicht auf dem 
sensiblen Gebiet ebenso gut eine Ausgleichung stattfinden wie auf 
dem motorischen ? Eine Woche vor dem Tode bewegte Patient, wenn 
auch mangelhaft, noch beide Arme und das Bein der linken Seite, 
wo der Pyramidenseitenstrang ganz sicher schon zerstort war; ja sogar 
einen Tag vor dem Tode konnte Patient, obgleich schon elend, den 
linken Arm in dem Ellenbogen beugen; die Funktion des Triceps ist 
„leidlich erhalten", die Extensoren und Flexoren der Finger sind 
schwach; in dem Bein werden die Bewegungen mit sehr „herab- 
gesetzter Kraft“ ausgefiihrt. Also ein recht bedeutender Rest der 
Motilitat, obgleich die Muskelkraft herabgesetzt ist; aber mehr 
konnte man kaum von dem zyanotischen und rochelnden Patienten 
erwarten. Eine vollstandige Lahmung lag wahrend der ganzen 
Krankheitszeit uberhaupt nicht vor, die Kompensation ist gleichzeitig 
mit der Zerstorung vor sich gegangen. Und eine gleiche Kompen¬ 
sation, ein Streben, den Folgen des wachsenden Tumors entgegenzu- 
wirken, diirfen wir auch innerhalb der sensiblen Sphare erwarten. 

Wir kommen nun zu unserem Fall zurtick. Eine ziemlich starke 
Hyperasthesie konnte anfangs an dem vollkommen gelahmten rechten 
Beine bemerkt werden; noch als die Motilitat in samtlichen Segmenten 
des Beines schon, obgleich schwach und rudimentar zuruckgekehrt 
war, konnte eine leichte Hyperasthesie nachgewiesen werden. Dies 
liisst sich leicht verstehen. Wir sahen schon friiher bei der Analyse 
des Falles, dass hdchst wahrscheinlich die hintersten Teile des rechten 
Pyramidenseitenstranges von der Lasion getroffen waren, also auch 
wenigstens teilweise das Gebiet, dessen Zerstorung Hyperasthesie mit sich 
bringt. Und wenn, wie wir im Vorhergehenden anseinandergesetzt 


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Ein Fall von Stichverletzung des Ruckenmarks. 453 

haben, die Wiederherstellung der Lasion in dem Mark hauptsachlich 
von vom nach hinten von den mehr ventral liegenden, von der Wunde 
relativ entlegenen Teilen zu den mehr dorsalen erfolgte, so verstehen 
wir auch, dass die Hyperasthesie linger als die motorischen Storungen 
dauerte, und dass sie z. B. noch vorhanden sein musste, als Patient 
die Zehen, den Fuss und das Knie, nicht aber die Hlifte bewegen 
konnte. Dass die Hyperasthesie, wenn auch ziemlich stark, nicht von 
derselben Intensitat war wie in einigen in der Literatur mitgeteilten 
Fallen, lasst sich durch die verhaltnismassig nicht zu grosse Lasion 
erklaren, die ausser den vorderen Teilen des Pyramidenseitenstranges 
auch wahrscheinlich die medialen Teile und das anliegende Gebiet 
intakt liess. 

Weshalb bemerken wir aber auf der linken Seite keine Hyper¬ 
asthesie, wo die Beweglichkeit der Hiifte wahrend der ersten Zeit 
nach der Verletzung gestort war? Auch hier dtirfte das Hyperasthesie 
auslosende Gebiet wenigstens funktionell gestort gewesen sein. Die 
Erklarung ist die, dass die Leitung der contralateralen Bahnen unter- 
brochen war, eine eventuell vorhandene Hyperasthesie konnte nicht 
zum Zentrum fortgeleitet werden. 


Literatnr. 

1) Albrecht, Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1887. Bd. 20. 

2) v. Arx, Korrespondenzbl. f. schw. Arzte. 1898. 

3) Brown-S£quard, Journal de Physiol. 1S03—1865. 

4) de Boeck, Arch. f. Anat. u. Phys. Phys. Abt. 1889. 

5) Fabritius, Studien liber die sensible Leitung im menschliehen Rucken- 
mark auf Grund klinischer und pathologisch-anatomischer Tatsachen. Arbeiten 
aus dem pathologischen Institut der Universitat Helsingfors 1908. Bd. 2, H. 1. 
Kargers Verlag. Berlin. 

6) Derselbe, Uber die Gruppierung der motorischen Bahnen innerhalb 
des Pyramidenseitenstrangs. Ebenda. 

7) Flatau und Gad, Neurol. Zentralbl. 1897. 

8) Gilbert, Arch, de Neurologie. 1882. 

9) Head, Brain 1905—1906. Zitiert nach Alrutz, Uppsala Lakareforening 
forhandl. Bd. XIII. Nr. 4. 

10) Henneberg, Arch. f. Psychiatrie. Bd. 33. 

11) Hallstrum, Duodecim 1907. 

12) Hoffmann, J., Deutsches Arch. f. klin. Med. 1SS0. Bd. 30. 

13) Jolly, Arch. f. Psychiatrie. Bd. 33. 

14) Koch, Virchows Arch. Bd. 73. 

15) Lewandowsky, M., Untersuchungcn liber die Leitungsbahnen des 
Truncus cerebri und ihreu Zusammenhaug mit denen der Medulla spin, und des 
Cortex cerebri. Jena 1904. 

10) Derselbe, Die Funktionen des zentralen Nervensystems. Jena 1907. 


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454 XIX. Fabrjtius, Ein Fall von Stichverletzung des Ruckenmarks. 


17) Leyden, Klinik der Ruckenmarkskrankheiten. 

18) Marburg, Arch. f. Anat. und Physiol. 1904. Supplement. 

19) Martinotti, Arch. f. Anat. und Phvs., Phys. Abt. 18,S9. 

20) Muller, W., Beitrage zur pathologischen Anatomic und Physiologic 
des menschlichen Ruckenmarks. Festschrift 1871. 

21) Nolte, Inaug.-Diss. Bonn 1887. 

22) Petrdn, Skandin. Arch. f. Physiologie. Bd. 13. 1902. 

23) Piltz, Arch. f. Psych. 1906. 

24) Raymond, Lemons sur les maladies du svsteme nerveux. 1896. 

25) Reinhardt, Deutsche Zeitschr. f. Chir. 1898. Bd. 47. 

26) Urban, Deutsche med. Wochenschr. 1S98. 

27) Wagner u. Stolper, Deutsche Chirurgie. 189S. Bd. 11. 

28) Wallenberg, zitiert nach Bruns, Die Geschwiilste des Nervensystem*. 
1901. 

29) Weiss, Arch. f. klin. Chir. Bd. 21. 

30) Woroschiloff, Ber. d. Ges. d. Wissensch. z. Leipzig 1S74. 

31) Vix, Korrespondenzblatt der arztlichen Vereine im Rheinland usw. 
1874. Nr. 14. 

32) Vucetic, Wien, allgem. Zeitung 1S92. Bd. 37. 


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XX. 

fiber Diagnose der Zirbeldrtisentumoren. 

Von 

Prof. Dr. L. y. Frankl-Hochwart. 

(Mit 2 Abbildungeb.) 

Ubersicht: 5 1 ' 2 j^briger Knabe. 

Vater und 2 Vatersbrtlder Kieraenspalte; bei 2 Gescbwistern kon- 
genitale Anomalien. Ab 3. Lebensjahr ungewfihnliches Lfingenwachstum, 
geistige Frflhreife. Zirka 5 Monate vor dem Tod Strabismus, spater pro- 
gressiv fortschreitende Augenmuskellahmung, Entwicklung von Stauungs- 
papille, beftiger Kopfschmerz. Zirka 4 Wochen vor dem Tod sehr starkes 
Wachstura des Penis, starke Erektionen, Behaarung des Genitale, des 
Schienbeins. Die Stimme wurde auffallend tief. — Interkurrierende 
Scarlatina. Exitus. 

Diagnose: Tumor cerebri, die Zirbeldrfise zerstorend. 

Obduktion: Teratom der Zirbeldrfise. 

Am 13. Januar wurde mir von Herrn Primarius Dr. Hanke ein 
Fall*) zur Untersuchung zugewiesen, bei dem der Verdacht auf Hypo- 
physentumor bestand. 

5V2J a hriger Knabe. 

Anamnese: Der Vater hat eine kleine Kiemenspalte vor dem rcchten 
Ohr; beide BrQder desselben desgleiclien, die einzige Schwester des Vaters 
hat keinerlei Anomalien. Eine iiltere verstorbene Schwester des Kindes 
hatte ein H&mangiom an der reehten Scliamlippe; ein jfingerer Bruder 
einen Naevus am reehten Unterschenkel. 

Bei der Geburt des Kindes niclits Besonderes. Im 7. Monal Pertussis, 
im 2. Jahr Kehlkopfdiphtherie; bis zum 4. Jahr skrophuldse Drfisen. Im 
3. Lebensjahr begann das Kind plbtzlich auffallend zu wachsen und hatte 
mit 5 Jahren die Grosse einen 7jahrigen Kindes erreicht. Urn diese Zeit 
fiel die ungewdhuliche geistige Entwicklung auf: das Kind beschaftigte 
sich hauptsachlioh mit Fragen fiber die Unsterbliclikeit und fiber das Leben 
nach dem Tode, ohne dass es von der Umgebung zu solchen Gedanken 
angeregt worden war. Es war von ungewbhnlicher Gutherzigkeit; eines 
Tages fragte es: „\Vie komrnt es, dass icli so glficklich bin, wenn ich 
anderen etwas schenke?” Um diese Zeit wurde das Kind auffallend dicker. 


*) Der Fall wurde von mir in der Diskussion gelegentlich eines Vortrages 
von v. Eiselsberg in der Gesellschaft der Arzte am 19. II. 1909 erwiilint (siehe 
Wien. klin. Woehcnschr. 19()9. S. 2^7); vergl. aucb den Vortrag in der Gesell¬ 
schaft der Nerveniirzte. Wien, 18. IX. 1909. 


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456 


XX. v. Frankt.-Hochwart 


Im August 1908 machte sich Schielen geltend — ein Zustand, der immer 
mehr zunahm; direkte Augenmuskellahmungen waren im Dezember 1908 
noch nicht konstatierbar (Klinik Fuchs). Mitte Dezember Kopfschmerz, 
Schlafsucht, permanentes Gahnen, kein Erbrechen; am 28. Dezember Fieber, 
Erbrechen, Angina, Scarlatina. Am 3. Januar 1909 fieberfrei, doch immer 
schlafsftchtig und apatbisch. Seit 9. Januar Zunahme des Kopfschmerzes. 
Die Aufwftrtsroller der Augen versagten, der reckte Abducens wurde 
paretisch, am 12. Januar Parese beider Abducentes, Incontinenz- 
erscheinungen. 

Ab Anfang Dezember 1908 wurde auffallendes Wachstum des Penis 
von dem ausserordentlich aufmerksam beobachtenden Hausarzte vermerkt. 
Rascb kam es zum Auftreten starker Genitalhaare, sowie kleiner Haare 
an den Schienbeinen; oft wurden sebr deutliche Erektionen konstatiert. 
Die Stimme wurde auffallend tief. Urinmenge 700 g. Appetit ziemlich 
gut, docb nicht ungewohnlich, keine Polydipsie, massige Obstipation; Moti- 
litat frei, keine Ohnmacht. 

Status praesens (13. I. 1909): Das Kind macht den Eindruck eines 
9jahrigen Knaben.*) Korperliinge 123 cm. Fettentwicklung mittleren 
MaBes. Knochen gleichmassig entwickelt. Penis 7 cm lang, Hoden hasel- 
nussgross, die Behaarung am Genitale wie bei einem 15jahrigen Indi- 
viduum. An den Tibien kleine Harchen, Axillen haarlos, Haupthaar nor¬ 
mal. — Scarlatina-Exanthem, leichte Angina; innerer Befund, Urinbefund 
negativ. — Augenbefund (Primarius Dr. Hanke): Pupillenreaktion trag. 
Beiderseits Abducensparese, besonders rechts, Heber und Senker beiderseits 
gelahmt, linker Interims paretisch, rechter normal. Gesichtsfeld allseitig 
konzentrisch eingeengt; am rechten Auge hochgradige temporale Gesichts- 
feldeinschrankung, fast bis zum Fixierpunkt. Die nasale EinschrSnkung 
ist viel weniger prononciert. Doppelseitige Stauungspapille. Im Obrigen 
Hirnnervenbefund negativ (Facialis symmetrisch, Zunge gerade, gut beweg- 
lich. Kauen normal, Uvula wird prompt gchoben, Sensibilitat im Gesicht, 
Geschmack, Geruch normal, Kopfbewegungen frei, keine Schluckanomalien, 
GehOrbefund negativ). Die Stimme ist auffallend tief wie bei einem 
mutierenden Knaben. Die Lippen leiclit geschwellt, sonst an den Schleiin- 
hauten nichts Besoiuleres. An der linken oberen Extremitat geringes 
Zittern; sonst Motilitat normal, keine Ataxie, Sensibilitat ohne Stoning: 
Sehnenretlexe normal, kein Clonus, kein Babinski. Bauchdecken- und 
KremasterreHex normal. 

Decursus: Am 14. 1. 1909 Zunahme der Somnolenz und des Kopf¬ 
schmerzes. Incontinentia urinae. Anf Fragen unwirsche, doch klare Ant- 
worten. Vormittag Erbrechen, epileptoider Anfall; in der Nacht Er¬ 
brechen. — Am 15. I. Facialisparese rechts. Am 16. und 17. starke 
Somnolenz; Oedema fugax des Gesichtes. Allmahliche Zunahme der Som¬ 
nolenz, der Ilerzschwacho. — Vom 18. bis 20. geringe Nackensteitigkeit. 
Am 21. I. tiefes Koma, Cornealreflexe erloschen; fortwalirende Erektionen 
(lurch 2 Stunden. Temperatur 39,7, selir beschleunigte Atmung, fliegender 
Puls. Am 22. I. 4 Ulir nachmittags stertordses Atmen, tiefes Koma. 
Exit us i/ 2 0 Uhr abends. 


* i Knaben dieses Alters haben gewdhnlieh eine Kbrperliinge von 105 cm. 
Die Lange von 123 cm ent-pricht dem Alter von ea. 9 Jabren. 


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Ober Diagnose der Zirbeldriisentumoren. 


457 


Es war natttrlich klar, dass es sick urn einen Hirntumor handeln 
musste. Dafttr sprach der Kopfschmerz, das Erbrechen, die Konvulsionen, 
die Stauungspapille sowie die Augenmuskellahmungen. Die trophischen 
StOrungen sowie das merkwiirdige Verbalten des Genitalsystems liessen 
mich zuerst an einen Hypophysentumor denken. Der Vergleich aber mit 
einigen frflheren Fallen, das Yergleicken mit den Darlegungen Marburgs, 
mit dem icb die Sache aucb noch tbeoretisch durchsprechen konnte, liessen 
die Diagnose gcrecbtfertigt erscheinen, dass es sick am einen Tumor handle, 
der die ZirbeldrQse konsumiert batte. 

Es wurde mir die Gehirnsektion gestattet, und ich lasse nun das 
Resultat der von Herrn Prosektor Dr. Erdheim am 23. I. 1909 aus- 
gefiihrten Obduktion folgen. Ftir die aussergewohnliche Sorgfalt, 
die er darauf verwendet hat, erlaube ich mir, ihm an dieser Stelle 
den aufrichtigsten Dank zu sagen. 

123 cm lange, mannliche Kindesleicbe von grazilem Knochenbau, massig 
entwickelter Muskulatur und gut erhaltenem Panniculus adiposus. Die auf- 
gebobene Hautfalte ist an der Streckseite des Oberarms 8 mm, am Abdomen 
5 mm, an der Streckseite des Oberschenkels 10 mm dick. Die Epidermis 
vorne am Thorax, an den Ober- 
armen und der Aussenseite der 
Kniee leicht schuppend. Odeme 
fehlen. Die Haut und die 
sichtbaren Schleimhaute ana- 
misch. Die Hande und Fbsse 
stehen in einem richtigen, pro- 
portionalen Verbaltnis zur KOr- 
pergrdsse; die Ohrmuschel 
beiderseits 6 cm hoch. Die 
Pupillen beiderseits massig 
weit, die linke etwas weiter 
als die rechte. Das Kopfbaar 
bellbraun, trocken. Im Gesicht 
keine Bebaarung wahrnehm- 
bar. Der Hals schlank. Die 
Mammae vollstandig flacb; ein 
Drllsenkorper nicht palpabel. 

— Der Thorax schmal, wenig 
gewOlbt. Das Abdomen etwas 
iiber dem Niveau des Thorax; 
pseudomelanotische Yerfarbung der Bauchdecken. Der Mons veneris (Fig. 1) 
dicht behaart; die Haare erreicben daselbst eine Lange von 23 mm. Der 
Penis von der Wurzel bis zur Spitze der Gians 6 cm lang; seine Zirkum- 
ferenz betragt ebenfalls 6 cm. Die Haut des Scrotum und des Penis 
dunkclbraun pigmentiert. Durch das Scrotum bindurcb gemessen ist der 
linke Hoden 28:17:12, der rechte 21:16:12 mm gross (in Wirklichkcit 
mQssen natarlicb die Hoden kleiner sein). Die Oberschenkelhaut von 
hellbraunen, bis 1 cm langen Harchen bedeckt; ebenso die Unterscbenkel 
dicht behaart. Die oberen Extremitateu und die Axillen sind jedocb von 
auffallender Bebaarung frei. 



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458 


XX. v. Frankl-Hochwart 


Die weichen Schadeldecken feucht, blutreich, nicht verdickt. Das Sch&del- 
dach 19 cm lang, 13,5 cm breit und 2—4 mm dick. An der Tabula externa 
nichts Pathologisches wahrnehrabar. Die Diploe stellenweise vorhanden, 
im allgemeinen byperamisch; die Tabula interna rauh anzuffihlen, usuriert, 
die Impressiones digitatae vertieft. Im Bereicbe der Scbeitelbeine ist die 
Usur der inneren Tafel so hochgradig, dass die Yenen der Diploe bloss- 
liegen; die Knochennahte sind dehiscent. Die Dura mater stark gespannt. 



Fig. 2. 

D = Dura mater. F = Falx major. S = Zirbeldriisenstiel. T = Tumor. 

K = Kleinhirnzelt. 


wenig durchscheinend, byperamisch. Im grossen Sichelblutleiter reichlich 
dunkles, fllissiges Blut. Die Innenflache der Dura glatt und glanzend. 

Es wird die grosse Sichel vorne durchtrennt und zurtickgeschlagen. 
Behufs Herausnahme des Gehirns werden die Gefasse, die Hirnnerven, das 
Kleinhirnzelt und die Medulla oblongata in ganz regularer Weisc durch- 
schnitten; es gelingt danach leicht, das Hirn aus der Schadelbasis heraus- 
zuholen. Dabei gleitet aus dem Innern des Gehirns, zwischen dem Hinter- 
hauptslappen und dem Kleinhirn, zusammen mit dem Kleinhirnzelt ein etwa 
walnussgrosser Tumor hcrvor und bleibt an der Dura hangen*) (Fig. 2). 

*) Bekanntlieh ereignet es sich bei Sektionen nicht selten, dass bei der Hirn- 
herausnahme auch eiue nicht vergrosserte Zirbel aus ihrem Lager herausgerissen 


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Uber Diagnose der Zirbeldrusentumoren. 


459 


Die nahere Untersuchung des Tumors ergibt, dass derselbe im sagittalen 
Durchmesser 5 cm misst, im queren 2,5 cm und im HOhendurchmesser 2,9 cm. 
Seine Konsistenz ist weich, die Oberflache grobhOckerig, im flbrigen aber 
glatt, glanzend, von Gefassbaurachen bedeckt; die hOckerige Beschaffenheit 
ist durch an der Oberflache vorspringende, verschieden grosse Cystchen mit 
klarem Inhalt bedingt. Die Farbe des Tumors ist vorwiegend rot; doch 
wechseln Partien von gelbgrauer mit solchen von dttsterroter und rot- 
braunerFarbe ab. An 2 Stellen baften der Tumoroberflache Hirnsubstanz- 
partikelchen an (diese rQhren von den mit dem Tumor herausgerissenen 
Habenulae her). Der Tumor haftet mittels eines ganz kurzen fibrdsen, 
die Vena magna cerebri enthaltenden Stieles an jener Stelle der Dura fest, 
wo der untere Rand der grossen Sichel mit den freien Randern des Klein- 
hirnzeltes zusammen stbsst. Die Leptomeningen an der Basis und der 
Eonvexitat sind vollstandig zart und durchsichtig, ihre Venen gut gefttllt 
Die Hirnwi.ndungen deutlich abgeplattet, die Sulci verstrichen, die Kon¬ 
sistenz des Gehirns etwas herabgesetzt; an der Basis failt das blasig vor- 
gewdlbte Tuber cinereum auf. Die Nervi optici und ihre Querschnitte sind 
weiss; aucb an den anderen Hirnnerven nichts Pathologisches wahrnehmbar. 
An der Schnittflache erweist sich die Hirnsubstanz stark durchfeuchtet. 
Die Seitenventrikel sind betrachtlich erweitert; ihr Ependym zart, glatt, 
glanzend, fest. Auch die 3. Kammer, besonders der Eingang in dieselbe, 
von oben stark dilatiert. Der Oberwurm erscheint in seinem vorderen An¬ 
ted abgeplattet. Die Zirbel fehlt vollstandig, ebenso die Habenulae, deren 
Abrissstelle noch deutlich erkennbar ist. Auch das Dach der vorderen 
Halfte des Aquaeductus Sylvii fehlt zum Teil, wodurch der Einblick in 
denselben mflglich ist. Der Aquadukt ist hier stark dilatiert, insbesondere 
in querer Richtung; sein Ependym wulstig verdickt, br&unlich bis rotbraun, 
pigmentiert. Der hintere Teil des Aquaeductus und die 4. Kammer sind 
nicht erweitert; das Ependym der Rautengrube ist zart und glatt. 

Danach ist es klar, dass der Tumor die Stelle der Zirbel eingenommen 
haben muss, daselbst den Aquaeductus Sylvii komprimierte, was zu einer 
betrachtlichen Dilatation des vorderen Anteiles desselben, der 3. Kammer 
und der Seitenventrikel fQhren musste, wahrend der hintere Teil des 
Aquaeductus und die 4. Kammer nattlrlich nicht erweitert wurden. 

Die Hypophyse ragt aus der Sella nicht vor; das Operculum sellae 
zieht flach hinweg. Der Hirnanhang ist 13:10:7 mm gross, seine Schnitt¬ 
flache rotbraun; die Sella erscheint nicht erweitert und nicht vertieft: 
Sie ist 1 cm tief, etwa 1,3 cm breit und misst im sagittalen Durchmesser 
1,1 cm. Der Sattelboden ist ebenso wie die Schadelbasis im allgemeinen 
rauh anzufQhlen, usuriert. 

Die Mittelohrschleimhaut erscheint beiderseits trocken, blass, frei von 
irgend welchem Belag. 

In Folgendem sei der histologische Befund des Tumors aus- 
zugsweise mitgeteilt. Derselbe wird in ausfiihrlicherer Weise von 
Herrn Dr. Erdheim in einer besonderen Arbeit besprochen werden. 


wird und an der herunter gefalleneu Dura haugen bleibt, wobei die Vena magna 
cerebri als Verbindungsstiel fuuktioniert. Schou darum erschien es sehr walir- 
seheinlich, dass der vorhaudene Tumor der Zirbel angeliorte. (Prosector.) 


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460 


XX. v. Frankl-Hochwaht 


Der in toto in Formol fixierte Tumor wurde seiner Ganze nach in 
eine Stufenserie zerlegt. Jeder 4. Schnitt wurde mit Hamalaun-Eosin ge- 
farbt. Der Tumor ist stellenweise von einem lockeren, balkig aufgebauten, 
gefassreichen Bindegewebe Oberkleidet, von dem aus die Blutgefhsse viel- 
fach sich in die Geschwulst hineinbegeben. An mehreren Stellen liegt dem 
Tumor direkt Hirngewebe an und sein Stroma wSchst in letzteres, teils 
verdrangend, teils infiltrierend vor. Am kinteren Tumorpol finden sich 
weite, dfinnwandige Yenen, deren Wande vom Tumorgewebe durchwacksen 
sind; dieses ragt in Form von Geschwulstthromben zum Teil in die 
Venen hinein. 

Das eigentlich Tumorstroma erinnert durch seinen Kernreichtum und 
durch seine Faserarmut sowie das bttndelige Geftlge an ein Spindelzellen- 
sarkom; stellenweise, namentlich um die bald zu erw&hnenden epithelialen 
Gebilde herum, weist es myxomatbsen Charakter auf. Ein auffallender 
Bestandteil des Tumorstroma ist hyalines Knorpelgewebe, welches in Form 
meist rundlicher, hbchstens 3 mm grosser Herde vorgefunden wurde. Der 
Knorpel hatte embryonalen Charakter; einer der Knorpeiherde ist verkalkt 
und zeigt in rudimentarer Weise enchondrale Ossifikation. Sehr haufig 
finden sich im Stroma Rundzelleninfiltrate. Das Tumorgewebe ist sehr 
reich an Blutgefassen und zwar sowohl an Kapillaren, als auch an grossen 
Gef&ssen; letztere sind sehr haufig von Thromben erf&llt, die sich in alien 
Stadien der Organisation befinden. Unter den epithelialen Gebilden des 
Tumors kann man solche mit Drflsenepithel und solche mit Plattenepithel 
unterscheiden: erstere formieren langgestreckte, manchmal verzweigte 
Drlisenschlauche, kleine Follikel, aber auch recht grosse Cysten mit glatter 
oder papillarer Wand. Das Epithel meist einschichtig, selten flimmernd 
oder vom Typus der Becherzellen, meist von indifferentem Charakter; nur 
stellenweise ist das Epitbel mehrschichtig. Die aus Plattenepithel aufge¬ 
bauten Gebilde haben vollstandig den Charakter der Epidermis und weisen 
typische Verhornung auf. Das Zentrum solcher Cysten ist von konzentrisch 
geschichteten Hornperlen eingenommen; doch fehlen Haare, Talg- und 
SchweissdrQsen vollstandig. Zylinder- und Pflasterepithel kdnnen sich in 
der mannigfaltigsten Art in ein und demselben epithelialen Gebilde kom- 
binieren. Sehr ausgebreitet sind im Tumor Nekrose-Herde, welche meist 
mit ausgedehnten Blutungen einhergehen; Ablagerungen kamatogenen Pig- 
mentes sind nur an wenigen Stellen nachweisbar. 

Yon der Zirbel ist nock ein ca. 8 mm breiter und an der dicksten 
Stelle 2 mm dicker Rest erhalten, welcher der Tumoroberflacke in Form eines 
Plattchens eng anliegt. Histologisch ist das Zirbelgewebe, soweit es er¬ 
halten ist, fast gar nicht verandert. Es finden sich im gefassffthrenden, 
netzfOrmig angeordneten Stroma die typischen Zellhaufen und sehr reich- 
lich geschichtete Kalkkonkremente; auch eine kleine Cyste liegt mitten im 
Zirbelgewebe. 

So wie in das benachbarte Hirngewebe, so dringt auch ins Zirbel- 
drlisengewebe der Tumor infiltrierend ein, dasselbe allmahlich zerstorend 
und durch Atrophie zum Schwinden bringend. Auch erstrecken sich Blu¬ 
tungen vom Tumor kontinuierlich in die Zirbel hinein. Die mikroskopische 
Untersuchung der Ilypophyse ergab keine Abweichung von der Norm. 

Die mikroskopische Diagnose des Zirbeltumors lautet: Embryo- 
nales Teratom. 


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Uber Diagnose der Zirbeldriisentumoren. 


461 


Die im neurologischen Institut vonHerrn Hofrat Obersteiner 
unter gfitiger Mitwirkung von Herrn Doz. Dr. Marburg ausge- 
ffihrte Untersuchung des Gehirns ergab Folgendes: 

Hfirtung rnit Formol-Mllller. Schnittfarbung nach Weigert-Pal. — 
Sehr starke Ausweitung des 3. Ventrikels, insbesondere in den dorsalen 
Partien, aber auch in der Tubergegend. Samtliche Thalamuskerne sind 
deutlich ausgepragt und in ihrer Faserung vollkommen intakt. Caudalwarts 
erweitert sich der Ventrikel immer mehr; auch hier lasst sich eineFaser- 
degeneration nicht konstatieren. Die beiden Tanien sowie die beiden 
Ganglia habenulae und die Fasciculi habenulae pedunculares sind wohl 
stark verdrangt, aber intakt. Der Eingang in den Aquaeductus erscheint 
ad maximum verbreitert. Von einer Commissura posterior oder Commissura 
habenularum ist nichts zu sehen; von letzterer kann man nur die Ansatze 
an die Ganglia habenulae linden. Die Decke des Aquaeductus fehlt voll- 
standig; ob dieselbe artificiell oder durch Tumordruck zerstort ist, lasst 
sich nicht entscheiden. Jedenfalls betrifft die Zerstdrung nur ein minimales 
Gebiet, da die Corpora quadrigemina — wenn auch stark lateralwarts 
verdrangt — vollkommen vorhanden sind. Auch die Gebilde der Hirn- 
schenkelhaube lassen ausser Verdrangungserscheinungen keinerlei Degenera- 
tionen erkennen: so zeigen sowohl die Oculomotorius- wie die Trochlearis- 
kerne normale Verhaltnisse. 

Diagnose: Hydrops des 3. Ventrikels und des Aquaeductus. Zer¬ 
stdrung der hinteren Commissur(?). Kompression und Verdrangung der 
Corpora quadrigemina latero-caudalwarts. 

Im beschriebenen Fall sehen wir als die hervorragendsten 
Symptome einerseits die Erscheinungen am Auge (Stauungspapille, 
Augenmuskellahmung), andererseits die dystrophischen Erscheinungen 
(abnormes Langenwachstum, ungewohnlicher Haarwuchs), verbunden 
mit Dysgenitalismus in Form von abnormer Entwicklung geschlecht- 
licher Erregungszustande. Als mit letzteren Erscheinungen vielleicht 
zusammenhangendes Phanomen ist auch die pramature geistige Ent- ' 
wicklung hervorzuheben: das sich Beschaftigen mit den Weltproblemen. 
— Derartiges Bestreben, den Weltratseln naher kommen zu wollen, ist 
ja ein baufiges Vorkommen bei der Pubertatsentwicklung. — Nicht 
uninteressant ist noch in unserem Falle das Konstatieren von ange- 
borenen Anomalien bei den verschiedenen Familienmitgliedern. 

Der Uberblick fiber die Literatur ergibt nur eine sparsame 
Auswahl von ahulichen Fallen: 

1. Der Fall von Ogle. Derselbe bescbreibt einen im G. Lebensjahr 
verstorbenen Knaben. Einige Monate vor seinem Tode war das Kind in 
seinem Wesen ganz verandert, masturbierte viel und wurde sehr schlaf- 
sttchtig. Bei der Untersuchung fiel der schwankende Gang und die steife 
Rttckenhaltung auf. Der Erniihrungszustand wird als „gut“ bezeichuet. 
Der Penis war wie bei einem Jungling von 17 Jahren, die Haare am 
Genitale waren autlallend entwickelt, die Hoden schienen nicht vergrossert. 

Deutsche Zeitschrift 1'. Xervenheilkunde. 37. Bd. 3<j 


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462 


XX. v. Franki.-Hochwart 


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Zeitweilig kam es zu Erbrechen sowie zu Krampferscheinungen mit. 
Opisthotonus. Die Schlafsucht wurde immer auff&lliger, allm&hlich kam 
es zu doppelseitiger Parese der Recti externi, Pupillenstarre, leichter Neu¬ 
ritis optica, Erblindung. Die Kniereflexe verschvvanden allmahlich. Die 
Nekropsie ergab ein eigentttmliches Alveolarsarkom der ZirbeldrQse mit 
Hamorrhagien und Cystenbildungen. 

2. Der Fall von Gutzeit. Es handelt sich um einen 7 3 4 jahrigen 
Knaben, der ca. 8 Monate vor seinem Tod unter Erbrechen und Kopf- 
schmerz erkrankte; nach einigen Monaten Doppelsehen, schleppender Gang, 
Schlafsucht, HOrstdrung, Nebelsehen. Bei der Untersuchung erschien der 
Patient „kraftig gebaut und gut genfthrt". Er verlangte permanent zu 
essen, war etwas benommen und gahnte auffallend viel. Die Bewegungen 
waren unsicher, ataktisch. Puls retardiert. Neuritis optica. Parese des 
linken Musculus rectus internus; Bnlbusrollung nach unten unmdglich, 
nach oben mit stark nystaktischen Zuckungen. Pupillen eng, different, 
starr. Hdrvermdgen herabgesetzt. Incontinentia alvi et pineal.; hie und 
da Zuckungen im Gesicht. Crines pubis „reichlich entwickelt 14 . 

Nekropsie: Teratom der Zirbel mit Koinpression der VierhQgel. 

3. Der Fall von Oestreich-Slawyk aus der Klinik von Heubner. 

4jahriger Knabe. Normale Entwicklung; mit 3 Monaten Stimm- 

ritzenkrampf, mit 1 Jahr epileptiforme Anfalle. Vom 3. Lebensjahr an 
still und sclieu, zum Weinen geneigt. Gleichzeitig auffallende Kdrper- 
entwicklung. Uberm&ssiges Wachstum des Penis. Das Urinlassen war 
zeitweilig schmerzhaft, sp&ter stellte sich Bettn&ssen ein. Dazu gesellte 
sich Unbeholfenheit des Ganges, zeitweise Verwirrtheit, die mit normalem 
psychischen Verhalten abwechselte. Esslust sehr rege. Das Kind war far 
sein Alter sehr gross, hatte starken Knochenbau, kraftige Muskulatur und 
reichliches Fettpolster. Kdrperlangc 108, Kdrpergewicht 20 kg, ent- 
sprechend einem Kind von 7—8 Jahren. Stimmung gleichgttltig. Be- 
nehmen etwas „altklug“, sonst dem Alter entsprechend. — Geringer Stra¬ 
bismus convergens dexter, leichter Nystagmus, Pupillentragheit, typiscke 
Stauungspapille. Mammae hypertrophisch, 2 cm hoch; es lasst sich Colo¬ 
strum ausdrttcken. Penis stark hypertrophisch, in schlaffem Zustand 9 cm 
lang; Hoden taubeneigross, am Mons veneris reichliche 1 cm lange 
Schamhaare. 

Nekropsie: Psammosarcoma cysticum glandulae pinealis Hydro¬ 
cephalus internus. 

4. Sehr wichtig ist der Fall Mar burgs, bei dem es sich im Gegen- 
satz zu den oben befindlichen mannlichen Fallen um ein 9jahriges weib- 
liclies Iiulividuum handelt. Dasselbe zeichnete sich durch seine be- 
sondere Adipositat aus, wiihrend an den Genitalen — auch nekroskopisch 
— nichts Abnormes naehzuweisen war. Dasselbe war nahezu 6 Monate 
vor dem Tode an den Erscheinungen eines Hirntumors erkrankt. Gleich 
nach Beginn des Leidens bemerkten die Eltern eine Zunahme des Kdrper- 
fettes, die schliesslieh exzessive Grade annahm; andere Anomalien des 
Wachstums wurden nieht bemerkt. 

Bei der Beobachtung envies sich das Cranium als kydrocepkal; ausser- 
dem bestand maehtige Adipositas, besonders an der Brust und am Bauche. 


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Uber Diagnose der Zirbeldrusentumoren. 


46:5 

Am Auge fand sich Atrophie nach Stauungspapille; daneben leicbte Ataxie 
der oberen Extremit&ten, schwere an den unteren, die zudem noch etwas 
spastisch waren; linke obere Extremit&t paretisch, Reflexsteigerung, Adia- 
dokokinesis and Asynergie cerebelleuse. 

Nekropsie: Zusammengesetzter Tumor der ZirbeldrOse. 

Der genannte Autor stellt eine Reihe von Fallen zusammen, bei 
welchen auch bei vorhandener Zirbeldrusengeschwulst Adipositat be- 
stand. Ganz auffallend konnte ich dieses Symptom seinerzeit im be- 
rfihmten Falle von „Vierhugeltumor“ Nothnagels beobachten. Ich 
hatte durch zwei Jahre Gelegenheit, mich mit diesem damals 18—20- 
jiihrigenManne zu beschaftigen. Als ich mich fiir die vorliegende Literatur 
mehr interessierte, erinnerte ich mich nachtraglich, dass der sonst wohler- 
zogenejunge Mann oft in cynisch ostentativer Weise onanierte. Friih- 
zeitige Masturbation erwahnt noch Feilchenfeld bei einem derartigen 
Kranken. Exzessive Onanie hebtferner Biancone bei einem jugendlichen 
Individuum hervor,bei welchem die Nekropsie einen Vierhiigeltumorauf- 
wies; fiber die Epiphyse ist in dem Befund leider nichts ausgesagt. 
Auch bei diesen Andeutungen von Genitaleigentfimlickeiten sehen wir 
nur Individuen mannlichen Geschlechtes, von einem weiblichen Dys- 
genitalismus bei den uns beschaftigenden Geschwfilsten ist nichts 
Sicheres bekannt. Allerdings litt die 28jahrige Patientin Neu¬ 
manns an Menstruationsanomalien; der Fall ist aber ffir diese 
Frage deshalb nicht voll verwertbar, weil in der Nekropsie ausdrfick- 
lich hervorgehoben wird, dass die Hypophysis platt gedrtickt erschien. 

Wenn wir nun nach diesemExkurs auf unsere Hauptfrage zuruck- 
gehen, so lasst sich mit dem vorliegenden Material die Aufstellung 
des folgenden diagnostischen Satzes versuchen: Wenn sich bei 
einem sehr jugendlichen Individuum (Knabe) neben den 
Allgemein-Tumorsymptomen sowie neben den Symptomen 
der Vierhti'gelerkrankung (Augenmuskellahmung, Blicklah- 
mung, Ataxie) abnormes Langenwachstum, ungewobnlicher 
Haarwuchs, Yerfettung, Schlafsucht, pramature Genital- 
und Sexualentwicklung, eventuell geistige Friihreife findet. 
hat man an einen Zirbeldriisentumor (Teratom) zu denken. 

Am schwierigsten kann unter Umstanden die Differential- 
diagnose von den Hvpophysistumoren ohne Akromegalie 
sein: Auch da kommt es zu sexuellen Dystrophien, zur Verfettung 
(Degeneratio adiposo-genitalis-Typus Frohlich), zum Exophthalmus, 
Nystagmus, Opticusveriinderungen, zur Schlafsucht, Polyurie, Poly- 
dipsie, zu epileptischen Anfallen, zu psychischen Anomalien, zu eigen- 
tUmlichen Temperaturanomalien; bei beiden Zustanden tritt relativ 
selten Bradycardie auf. Man wird eher an eiuen Pinealtumor denken, 

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-164 


XX. v. Fkankl-Hochwart 


wenn bei einem nicht akromegalischen jungen Individuum (nicht alter 
als 7 Jahre) Genitalhypertrophie, fiberstarke Entwicklung der Scham- 
und Axillenhaare eintritt, wenn sich damit sexuelle Reizzustande ver- 
binden. Beim Hypophysistumor komint es zur genitalen Unterfunk- 
tion; auch ist bei letzterer Krankbeit die Adipositat oft yiel ausge- 
sprochener. Flir die Diagnose „Tumor der Hypophysis" spricht 
bitemporale Hemianopsie, eventuell der positive radiologische Befund 
an der Sella turcica — Dinge, die der ZirbeldrQsenschwellung kaum 
zukommen. Bei den Tumoren der Zirbeldrfise scheint die Blicklah- 
mung manchmal etwas Charakteristisches zu haben; nberhaupt sind 
die Augenmuskellahmungen mehr im Vordergrunde der Erscheinungen. 
Auch die Ataxie, die Horstorung, der Schwindel sind viel prononcierter, 
die Stauungspapille haufiger. Die genuine Atrophie, welche bei den 
Hypophysistumoren so oft konstatiert wird, ist bei den Zirbeldrusen- 
geschwiilsten anscheinend recht selten. Nicht unerwahnt sei, dass 
bei den Zirbeldrusentumoren, namentlich im Kindesalter, das mann- 
liche Geschlecht pravaliert; bei den Hirnanh an ggesch wtilsten beteiligen 
sich beide Geschlechter ziemlich gleichmassig. Kinder mit Pineal- 
tumoren sind eher gross, solche mit Hypophysistumoren eher klein. 
Vielleicht konnte der Nachweis von kongenitalen Anomalien am Indi¬ 
viduum oder in der Familie gelegentlich einmal eine Sttitze zur Dia¬ 
gnose bilden. (Man vergleiche liber die Differentialdiagnose mein 
Referat auf dem Budapester internationalen medizinischen Kongress 
im September 1909; auch abgedruckt in der Wr. med. W. 1909. Nr. 37ff.). 

Wenn wir uns nun Bberlegen, welche Bedeutung die Zirbel- 
drtlse flir den Organismus haben kann, so gibt uns die Morpho¬ 
logic nur einige vage Anhaltspunkte. (Man vergleiche darnber die 
Ausfiihrungen Marburgs [daselbst Literatur].) Man hat in der ge- 
nannten Drlise eines der konstantesten Gebilde der gesamten Wirbel- 
tiere vor sich. Wahrscbeinlich hat dieses Organ nur in der frtthen 
Kindheit beim Menschen eine Bedeutung, da bereits vor der Pubertat 
die Involution auftritt. Die Experimentalpathologie hat uns 
bisher uber die Funktion dieses Organs nichts gelehrt. Klinische 
Erwagungen weisen darauf hin, dass wir dieselbe zu den sogenannten 
Blutdriisen zu rechnen haben. Es scheint, dass von ihr eine gewisse 
Hemmung fiar die Genitalentwicklung ausgeht; wenn die Druse funk- 
tionsunfahig wird, kommt es zu einer Hypertrophie des Genitalsystems. 
Es scheint da eine gewisse Gegensiitzlichkeit zur Hypophyse zu be- 
stehen: Zerstorung dieses Organs provoziert bekanntlich Unterent- 
wicklung resp. Unterfunktion des Genitales. 


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Uber Diagnose der Zirbeldriisentumoren. 


465 


Literatur. 

Die Literatur der Zirbeldriise findet sich ausfiihrlich dargestellt bei 
O. Marburg, Zur Kenntnis der normalen und pathologischen Histologie der 
Zirbeldriise. Arbeiten aus dem Wiener neurologischen Institut (H.Obersteiner). 
17. Bd. 1909. S. 217. 

Man vergleiche ferner: 

1) Biancone, G., Contributo alio Studio dell Tumori delle Emineuze Bige- 
mine. Rivista Sperimentale di Freniatria. Vol. XXV. Fasc. III.—IV. 1899. 

2) Feilchenfeld, Ein Fall von Tumor cerebri. N. Z. 1885. Nr. 18. Seite4C9. 

3) Gutzeit, Teratom der Zirbeldriise. I.-D. Konigsberg 1896. 

4) Heubner, Tumor der Glandula piuealis. Deutsche mediz. Wocbenschr. 
1898. Vereinsbeil. Nr. 29. 

5) Neumann, Max, Zur Kenntnis der Zirbeldriisengeschwiilste. Monats- 
schrift f. Psychiatrie und Neurologic. 1901. Bd. 9. S. 337. 

6) Nothnagel, Geschwulst der Vierhiigel. Wiener med. Klinik. 188s. 
S. 162. 193. 225. 

7) Osterreich-Slawyk, Riesenwuchs und Zirbeldriisengeschwulst. Virch. 
Arch. Bd. 157. S. 475. 

8) Ogle, C., Sarcoma of piueal body. Transact, of the patholog. society 
of London ls99. Bd. I. p. 4. 


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XXI. 


Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis 
nnd seine gerichtsarztliche Bedentung. 

Von 

Dr. Hasche-Klttnder, 

z. Z. Arzt an der Irrenanstalt Friedrichsberg-Hamburg. 

Es gibt zahlreiche Formen von Meningitis cerebrospinalis, die 
mehrfachen Ursachen ihre Entstehung verdanken und einen verschie- 
denen V erlauf nehmen konnen. Eine Einteilung der Meningitisformen 
kann daher von verschiedenem Gesichtspunkte aus erfolgen. So kann 
man unterscheiden eine akute und eine chronische Meningitis cere¬ 
brospinalis. Da jedocb der bakteriologische Befund bei der chroni- 
schen Form, zumal wenn wir von der tuberkulosen absehen, eine we- 
sentliche Rolle bisher nicht gespielt hat, so wird uns im Vorliegenden 
vorwiegend nur die akute Cerebrospinalmeningitis beschaftigen. 

Dieselbe kann epidemisch und nicht epidemisch auftreten; sie kann 
eine serose und eitrige Beschaffenheit besitzen; sie tritt auf infolge von 
Traumen, bei Infektionskrankheiten, im Anschluss an entzundliche 
Erkrankungen benachbarter oder auch entfernt liegender Organe, bei 
Intoxikationen und nach anderen Schadlichkeiten. Endlich kann man 
die Meningitis cerebrospinalis vom Gesichtspunkte der Entstehung und 
der verschiedenen Erreger betrachten. Uber die Atiologie besitzen wir 
hauptsachlich erst seit der Zeit genauere Kenntnisse, seitdem wir die 
Mikroorganismen als die Erreger vieler Krankheiten kennen. Der 
erste, welcher im Exsudat von Meningitis cerebrospinalis Mikroorga¬ 
nismen, „Monadinen“, nachgewisen hat, ist Klebs 1 ), Ende der sieb- 
ziger Jahre. Quincke fiihrte dann im Jahre 1891 die Lumbal- 
punktion in die moderne Therapie bei Gehirn- und Riickenmarks- 
krankheiten ein. Damit wurde gleichzeitig in diagnostischer Hin- 
sicht ein iiberaus w T ert,volles Untersuchungsmaterial gewonnen. Die 
bakteriologische Untersu chung der Cerebrospinalfliissigkeit trat in 
den Vordergrund des Interesses, und man konnte Schlusse auf die 
Entstehung und die verschiedenen Formen der Meningitis und ihre 
Erreuer ziehen. Die verschiedensten pathogenen Mikroorganismen, wie 

1) Klebs Arcliiv f. exper. Path. Bd. 4. 


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Der bakteriologisehe Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 467 


1. Meningokokken, 2. Diplococcus lanceolatus, 3. Tuberkelbazilleo, 
4. Influenzabazillen, 5. Diphtheriebazillen, 6. Frankelscher Pneumo¬ 
coccus, 7. Bacterium coli, 8. Pyocyaneus, 9. Rotz- u. Pestbazillen, 10. 
Typhusbazillen, 11. Streptokokken, 12. Staphylokokken u. a. wurden 
in der Cerebrospinalflussigkeit nachgewiesen. 

Die vorliegende Arbeit wird 

1. die Erreger der Cerebrospinalmeningitis und 

2. die gerichtsarztliche Bedeutung derselben 
bebandeln. 

Derjenige Mikroorganismus der Cerebrospinalmeningitis, urn den 
wohl am meisten gestritten ist, dnrfte der Erreger der epidemischen 
Genickstarre sein. Erst die grosse schlesische Epidemie im Jahre 
1905 hat endlich den jahrelang herrschenden Streit, ob dieselbe 
durch den Pneumococcus, ob durch den Meningococcus, Weichselbaum 
oder Jaeger hervorgerufen wird, entschieden. 

Der erste, der bei einer epidemischen Meningitis Mikroorganismen 
gefunden haben will, scheint Gaucher 1 ) im Jahre 1881 gewesen zu 
sein. Er will nicht nur im Exsudate der Hirnhaute, sondern auch 
wiihrend des Lebens im Blute und im Urin Kokken gesehen haben. 

Leyden 2 ) fand 1883 im Exsudat einer primaren Cerebrospinal¬ 
meningitis Mono-, Diplo- und Streptokokken; Kokken, die er nicht fur 
Pneumokokken hielt. 

FoaBordoni und Uffreduzzi 3 ) berichteten 1886 von zwei Fallen 
primarer Meningitis cerebrospinalis, in denen sie aus dem Exsudat 
eine Kokkenart kultivieren konnten, welche mit dem Diplococcus 
pneumoniae identisch war, und den sie fur die Ursache der Genick¬ 
starre hielten. 

Net ter 4 ) berichtete 1887 neben anderen Fallen, bei denen es sich 
urn Gehirnhautent/.undung nach Pneumouie handelte, auch von einem 
Fall primiirer Meningitis, in denen er Pneumokokken fand. 

Denselben Pneumococcus hat Weichselbaum 5 ) 1887 bei einer pri¬ 
maren Meningitis gefunden. Dieselbe Arbeit enthalt jedoch noch 6 ob- 
duzierte Cerebrospinalmeningitiden, in denen er iunerhalb der Eiterzellen 
des Meningealexsudats einen Diplococcus, zu 2 oder 4, zuweilen in 
kleinen Hiiufchen zusammenliegend, oline Kapsel, beschreibt, der nach 
G ram entfarbt wird, nur bei Brutofentemperatur spiirlich auf der Ober- 
fliiche des Agars in runden oder etwas unregelmassig fein granulierten 

1) Gaucher, zit. nach Kolle-Wassermann, Haudbuch. 

2 ) Zentralbl. f. klin. Medizin. 1883. 

3) Deutsche mod. Wochensehr. 1880. 15. IV. 

4) Archives gum'rales do mod. Paris 1887. 

- 5) Fortschritte dor Medizin 1887. 18. 19. 


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468 


XXI. Hasche-Ki.ixi>er 


Kolonien mit gekerbten Randern wachst und nach sechs Tagen ab- 
gesfcorben war. In Bouillon fand er das Wachstum kfimmerlicb; auf 
Kartoffel konnte ein solches iiberhaupt nicht konstatiert werden. 

Goldschmidt 1 ) und Edler 2 ) konnten 1888 in je einem Falle 
den Befund Weichselbaums bestatigen. 

Im folgenden Jabre hat Weichselbaum 3 4 ) den Diplococcus intra- 
cellularis noch in 3 Fallen, den Diplococcus pneumoniae in 7 Fallen 
gefunden. Der Autor glaubte damals, dass der haufigste Erreger der 
idiopatbischen Meningitis der Diplococcus pneumoniae sei, und dass 
er in vielen Fallen eine epidemische Meniningitis hervorrufe. Gleich- 
zeitig sprach er auch dem Diplococcus intraeellularis dieselben Faliig- 
keiten zu. 

Guarneri 1 ) fand 1888 in zwei Fallen im Exsudat von Menin¬ 
gitis cerebrospinalis intracellular Gonokokken ahnliche Diplokokken, 
die den Weichselbaumschen glichen. 

Bonome 5 ) beobachtete in5 von 17 Fallen einenCoccus, der weder 
identisch war mit dem Diplococcus lanceolatus Fraenkel, noch mit 
einem anderen Streptococcus. Es handelt sich hier offenbar um den 
von Schottmfiller 6 7 8 ) beschriebenen Streptococcus mucosus, der extra¬ 
cellular liegt, Gram -+- ist, auf Nahrboden gezfichtet, Ketten bildet, 
eine Kapsel besitzt und auf Agar sehr durchsichtige, nicht leicht er- 
kennbare Kolonien zeigt. Foa Bord oni u. Uffreduzzi ^ fassen den 
eben beschriebenen Streptococcus, Diplococcus pneumoniae und Diplo¬ 
coccus intraeellularis als Varietaten einer Kokkenart auf. 

Flexner und Barker s ) berichten fiber eine Epidemie von 200 
Fallen und bezeichnen als ihren Erreger ebenfalls den Frankelschen 
Pneumococcus, sie haben jedoch nur zwei Falle bakteriologisch 
untersucht. 

Haleschini 9 ) untersuchte 13 Falle von Meningitis, darunter 8 
Falle von primiirer Meningitis und will stets den Diplococcus pneu¬ 
moniae, allerdings in zwei Varietaten, gefunden haben. 

Panienski 10 ) fand in sechs Fallen von Meningitis cerebrospinalis 


1) Zentralbl. f. Bakt. 2. <>49. 

2) Edler, Sanitatsberieht der preuss. Armeeu 1SSS. 

3) Wiener klin. Wochensehr. 1SS3. 

4) Kef. Zentralbl. f. Bakt. 1SSS. 

f)i Zieirlera Beitriige zur patholog. Anatomie 1890. Bd. 8. 

6) Deutsche med. Wochensehr. 1903. 

7) Zentralbl. f. Bakt. Bd. 7. 

8) American journ. of the med. Assoc. 1S94. 

9) Zit. nach Kolle-Wassermann, Handbuch. 19')3. 

10) Deutsche militar. Zeitschrift. 


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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinal is usw. 469 


epidemica einen Coccus, der wohl mit dem Streptococcus mucosus 
identisch sein diirfte. 

Auch Quadu 1 ) fand in 8 Fallen von 86 Erkrankungen im Blute 
intra vitam und im Meningealeiter den Diplococcus Fraenkelii. 

Righi 2 ) will in Fallen von Genickstarre aus dem Blute, das er 
einer Fingerbeere entnommen hat, im Ham und den Faeces Pneumo- 
kokken nachgewiesen haben. 

Der erste, der den Diplococcus intracellularis intra vitam gefunden 
und darauf hingewiesen hat, dass er der eigentlich spezifische Erreger 
der ubertragbaren Genickstarre bis auf vereinzelte kleinere Epidemien 
ist und streng von dem Streptococcus und Pneumococcus geschieden 
werden musse, ist Jtiger 3 ). Er untersuchte wahrend der wtirttem- 
bergischen Epidemie 1893/1894 14 Falle anatomisch und bakterio- 
logisch und fand in alien Fallen den Diplococcus intracellularis. Es 
unterliegt wohl keinem Zweifel, dass Jager im frischen Ausstrich- 
praparat in vielen Fallen den von Weichselbaum 1887 beschriebenen 
Diplococcus gesehen und auch von ihm Kulturen angelegt hat; doch 
sind die Kulturen, die er beschreibt und dann mikroskopisch unter¬ 
suchte, was Aussehen, Wachstum und Fiirbbarkeit nach Gram anlangt, 
von dem Weichselbaumschen Meningococcus so verschieden, dass 
es sich nicht, wie Jager annahm, um eine Varietat handeln kann. 
Der Coccus, den Jager nach Zuchtung gewann und der zum Teil 
von Leichenteilen stammte, die bereits in Faulnis nbergegangen waren, 
muss nach den Untersuchungen von Albrecht und Ghon 4 5 ) 4 ), Weich¬ 
selbaum 6 ), Schottmtiller 7 8 ), Kaberlah s ) u. a. als Yerunreinung 
angesehen werden. 

Wenngleich Jager das Verdienst nicht abzusprechen ist, auf den 
Diplococcus intracellularis als den Erreger der Meningitis cerebrospi- 
nalis epidemica hingewiesen zu haben, so wurde doch dadurch, dass 
der von ihm gezuchtete Coccus mit dem echten Weichselbaum, dem 
er mikroskopisch glich, ftir identisch erklart wurde, eine grosse Ver- 
wirrung angerichtet, die in der Literatur einen heftigen Streit zur 
Folge hatte. 

Eine Reihe von Klinikern zuchteten bei Fallen sporadisch und epi- 


1) Ref. Baumgarten, Jaliresbericht 1893. 

2) Ref. Baumgarten, Jaliresbericht 1893. 

3) Zeitschrift f. Hygiene 1693. Bd. 19. 

4) Wiener klin. Wohhensehr. 1901. 

5) Zentralbl. f. Bakt. ItK>3. 23. 

<i) Zentralbl. f. Bakt. 1903. 23. 

7) Deutsche med. Woehenschr. I'm 13 . 

8) Berl. klin. Wochenschr. 19< >3. 


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XXI. Hasche-Klundeu 


demisch auftretender Genickstarre verscbiedenartige Kokken (Diplo- 
kokken, Pneumokokken, Streptokokken, Staphylokokken), die alle raebr 
oder minder far eine Abart des Weichselbaumschen Meningo¬ 
coccus gehalten wurden, aber nicbts mifc ibm zu tun batten. Jager 1 ) 
selbst unterschied Weichselbaum-Staphylokokkentypus dick, Sta- 
phylokokkentypus zart, Streptokokkentypus. Ich will nur kurz auf 
die Arbeiten von Heubner 2 ), Pfaundler 3 ), Sorgense 4 ), Wil¬ 
helm Mailer 5 ), Hunermann 6 ), Zupnick 7 ) verweisen. Diesen stehen 
Arbeiten anderer Autoren gegenuber, denen die Zuchtung des 
Weichselbaum gelang, wie Bonhoff 8 ), Kamen 9 ), Councilman, 
Hallory und Wright 10 ), die von 35 Sektionsfallen 31mal kul- 
turell oder mikroskopisch oder auf beide Weisen im Meningitiseiter, 
und von Faber 11 ), der von 31 Fallen 27 mal mikroskopisch und kul- 
turell den Meningococcus Weichselbaum fand. 

Die ersten, die darauf hingewiesen und es an einem grossen 
Material auch nachgewiesen haben, dass der von Jager gezOchtete 
Diplococcus absolut nichts mit dem Erreger der Meningitis cerebro- 
spinalis epidemics, dem Diplococcus intracellularis Weichselbaum, zu 
tun hat, waren Albrecht und Ghon. Sie liessen sich von Jager 
Stamme schicken und stellten mit den von ihnen gezUchteten Vergleiche 
an. Sie halten den Diplococcus intracellularis nur dann fur den echten 
Weichselbaum, wenn er: 

1. den Typus der Mikrokokken gonorrboeae mit Teilung in zwei 
auf einander senkrechten Richtungen besitzt, sich nach Gram 
nicht farbt, meist intracellular gelegen ist; 

2. wenn das Wacbstum nur bei Brutofentemperatur erfolgt; in 
Agarstichkulturen ein Oberflachenwachstum vorhanden ist; 

3. wenn die Qppigen Kulturen auf der Agarplatte grauglanzend 
im auffallenden, grauweiss im durchfallenden Licbt aussehen; 

4. wenn er auf der Bouillon eine Rabmbaut bildet; 

5. wenn die Lebensfahigkeit eine geringe ist; 

6. wenn er nur eine geringe Pathogenitat fur Versuchstiere hat. 

1) Zentralbl. f. Bakt. 19<>3. 33. 

2) Deutsche med. Wocheusehr. 1000. 

3) Jahrbuch f. Kinderheilkde. 1S99. 

■I) Zentralbl. f. Bakt. Bd. 39. 1. 

5) Deutsche med. Wocheusehr. 1S97. 

G) Deutsche med. Woehensshr. 1S99. 39. 

7) Deutsche med. Wocheusehr. 1899. S. 835. 

8) Miinch. med. Wocheusehr. 1901. 

9) Zentralbl. f. Bakt. 24. 1:5, 10. 

10) Kef. Hvg. Rundschau 1899. 

Ill Zeitschr. f. ilvg. Bd. 34. 


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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 47 1 


Die Untersuchungen Albrechts undGohns werden bestatigt durch 
die Arbeiten von Kaberlah 1 ), Schottmfiller 2 ), Kutscher 3 ), Fiei- 
uer 4 ), Kfister 5 * * ), Bettencourt und Fran<;a°), Pick") u.a. Schott- 
miiller 8 ) wies darauf hin, dass der Meningococcus Jager wahrschein- 
lich ein Saprophyt ist, da er einen identischen Coccus haufig auf Blut- 
platten als Verunreinigung gefunden und auch gezuchtet hat. Die 
Ansicht Schottmiillers teilte Kaberlah 9 ). Beide fordern, dass die 
Spinalflfissigkeit, um einerseits Verunreinigungen zu vermeiden, an- 
dererseits um das Absterben des Diplococcus Weichselbaum zu ver- 
hindern, unmittelbar nach der Lumbalpunktion untersucht bezw. die- 
selbe kulturell verarbeitet wird. 

Schneider 10 ) fand den Meningococcus Weichselbaum bei 91 
Untersuchungen 73mal; Huger 11 ) wies ihn in 50 Proz. der Falle 
nach. Lenhartz hat eine Znsammenstellung von fiber hundert Fallen 
und fand den Meningococcus in fiber 95 Proz. Bettencourt und 
Franca 1 ' 2 ) wiesen ihn in 271 Fallen stets nach. 

Interessant sind auch die Beobachtungen Flfigges 13 ), dem der 
Xachweis der Meningokokken Weichselbaum von den 193 eiuge- 
sandten Praparaten in 04 Fallen gelang. Flfigge machte auf gewisse 
Veranderungen im Verhalten der langere Zeit im Laboratorium fort- 
ge/.fichteten Stamme aufmerksam. Von einigeu Kulturen beobachtete 
er, dass sie trotz haufiger Ubertragung auf neue Niihrboden uur spiir- 
lich wuchsen und schliesslich ganz versagten. Audere Kulturen wuehsen 
besser, blieben zart und veriiuderten sich gar nicht. Die dritte Ka- 
tcgorie passte sich allmahlich den kfinstlichen Wachstnmsbedingungen 
an, nalim einen snprophytischen Charakter an, wuchs fippiger, schneller, 
gedieh auf Nahrboden, die den Ansprfichen der jungen Kulturen nicht 
gcufigt hatten, und hielt sich selbst bei langen Umzuchtungsintervallen 
lebensfahig. Gleichzeitig wurde sie der Gramfarbe zuganglich. Flfigge 

1) Berl. klin. Wocbcnscbr. 1905. 

2) Deutsche med. Wochenschr. 1905. 

3) Deutsche med. Wochenschr. luOO. 

4) Zentraltd. f. Bakt. 1 SO!*. Id. 49. 

5a) Miiuch. med. Wochenschr. 19 <m>. 

5 hi Berl. kliu. Wochenschr. 1901 j. 

01 Archives de Vi 11 st it lit de Bacterioloirie. 

7j Berl. klin. Wochenschr. 1905. 

s) Deutsche me<|. Wochenschr. 1905. 

9; Berl. klin. Wochenschr. 19o5. 

l'ii Kliu. Jalirbuch. 15. 

11) Klin. Jalirbuch. 15. 

12) Zeitschr. f. Hv<r. 19)i4. Bd. 40. 

Id) Klin. Jahrhuch. Bd. 15. 


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472 


XXI. Hasche-Klunder 


glaubt, dass hier bei Anlegung der Kulturen neben den echten Me- 
ningokokken aucb ihnen ahnliche Kokken vorhanden waren, die fiber 
den Meningococcus Weichselbaum die Oberhand gewannen und die 
bakteriologischen Veranderungen verursachten. Die Erklarung, wie 
Jager zur Zfichtung seiner vermeintlichen Meningokokken kam, dtirfte 
hierrait gegeben sein. 

Flexner 1 ) hat zahlreiche Versuche fiber die biologischen und 
patbogenen Eigenschaften des Diplococcus intracellularis Weichsel¬ 
baum gemacht. Er halt fur ein wichtiges differentialdiagnostisches 
Moment gegenfiber anderen gramnegativen Diplokokken das Ver- 
halten gegenfiber verschiedenen Temperaturen und Zuckerarten, die 
Neigung der Meningokokken, auch auf gfinstigem Nahrboden schnell 
zu degenerieren und abzusterben. Weichselbaum unterscheidet sich 
yon den anderen Diplokokken vor allera noch dadurch, dass er sich 
in ilfissigen Kulturmedien, besonders in einer mit Toluol versetzten 
Salzlosung, auflost. Flexner hat mehrfach durch intraspinale Injek- 
tion von Meningokokkenkulturen bei Affen eine Meningitis erzeugt. 
Ein bei ihnen gewonnenes Serum erwies sich in drei oder vier Fallen 
als wirkungsvoll. 

Hohe 2 ) berichtet, dass die fiblichen Desinfektionsmittel in mas- 
siger Konzentration die Meningokokken toteten, wahrend Jager an 
seinen Stammen hohe Resistenzgrade beobachtete. 

Lingelsheim 3 ) ist endlich wahrend der schlesischen Epidemie 
1905/1906 auch der Nachweis der Eintrittspforte des Meningococcus 
Weichselbaum in den menscblichen Organismus gelungen und hat 
auf die Wege seiner Verbreitung hingewiesen. 

Da die Meningitis haufig mit Katarrhen der oberen Luftwege, 
wie Schnupfen und Husten, beginnt, ausserdem Nase, Ohr, Rachen 
und Gehirn mit einander mehr oder weniger in Verbindung stehen, so hat 
Weichselbaum die Erreger im Nasenrachenraum und den Neben- 
hohlen und im Ohre gesucht, und hat den Pneumococcus lanceolatus 
in der Paukenhbhle und der Nase bei einem an Meningitis Erkrankten 
gefunden. 

Strumpell 4 ) verwies auf die Nasenhohle als die Eingangspforte 
der Menigitiserreger infolge einer eitrigen Rhinitis, die er bei einer 
epidemischen Genickstarre in mensa sah. Jager und Scherer 5 ) wollen 
1895 den Diplococcus intracellularis in alien Fallen epidemischer 

1) Zentralhl. f. I’.akt. Abt. 1. Bd. 43. 

2) Klin. Jahrbueh. Bd. 13. 

3) Klin. Jalirbueli. Bd. 15. 

4) Deutsches Arcliiv fiir klin. Med. Bd. 22. 

5) Zeitschrifr t'. Hygiene. Bd. 19. 1895. 


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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 473 


Meningitis im Nasenrachenraum gefunden haben, doch haben dieselben 
offenbar den von Jager gsziichteten (Pseudo-) Meningococcus oder 
den Meningococcus Pfeiffer, den Micrococcus catarrhalis oder crassus 
gesehen, die oft wohl Varietaten einer Art sind und haufig im Nasen- 
sekret Gesunder vorkommen. 

Der erste einwandfreie, d. h. kulturelle Nachweis des Erregers 
der Genickstarre im Nasensekret eines Genickstarrekranken bezw. An- 
steckungsverdachtigen gelang Albrecht und Ghon. 1 ) 2 ) Spater folgen 
andere einwandfreie Befunde von Lord 3 ), Weichselbaum und 
Ghon 4 ), E. Meyer 6 ), Drigalski 6 ), Lingelsheim 7 ), Goppert 8 ), 
Gravitz 1 -'), Westenhoeffer 10 ), Ostermann 11 ), Kolle und Was- 
sermann 12 ), Kutscher. 13 ) 

Lingelsheim untersuchte nun 787mal das eingesandte Nasen¬ 
sekret und fand in demselben 182 mal den Meningococcus, und zwar 
von dem aus Beuthen stammenden 130:390 in 33 Proz. der Falle. 
Das Resultat war haufig negativ, sobald die Erkrankung bereits langer 
bestand. Von den 182 positiven Fallen war das Sekret 147 mal, d. h. 
in 80 Proz. in den ersten 5 Krankheitstagen entnommen. Von 60 
Fallen, in denen die Entnahme des Sekrets technisch von ein und 
derselben Person gut ausgefnhrt und dasselbe sofort eingeliefert und 
sofort untersucht wurde, waren 49 positive Resultate. 50 Personen 
von 60 waren jedoch nur im Beginn der Erkrankung, einmal versagte 
die Untersuchung und in 46 Fallen wurde ein positives Resultat er- 
zielt Endlich hat Lingelsheim noch Gesunde auf Meningokokken 
Weichselbaum und zwar ersteus solche, die mit Meningitiskranken 
in nahe BerOhrung gekommen waren, wie Arzte, Pfleger und Ange- 
horige, und endlich 56 Kinder aus einer Volksschule untersucht. 

Im ersten Falle fand er bei 15 Proz. Meningococcus Weichsel¬ 
baum im Nasensekret, im zweiten Falle bei 4 Kindern, doch stellte 


1) Wiener klin. Wochenschr. 1001. 

2) Wiener klin. Wochenschr. 1005. 

3) Zentralbl. f. Bakt. Abt. 1. Bd. 34. 

4) Wiener klin. Wochenschr. 1005. 25. 

5) Klin. Jahrbuch 1900. 15. 

6) Deutsche med. Wochenschr. 1905. 25. 

7) Klin. Jahrbuch. Bd. 15. 

8) Berl. klin. Wochenschr. 1905. Klin. Jahrbuch 1906. 15. 

9) Berl. klin. Wochenschr. 1905. 

10) Klin. Jahrbuch. 1000. Bd. 15. 

11) Deutsche med. Wochenschr. 1906. 

12) Klin. Jahrbuch. 15. 

13) Deutsche med. Wochenschr. 1900. 


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474 


XXI . Hasche-Klundek 


es sich heraus, dass samtliche 4 Kinder aus Hausern stammten, in 
denen die epidemische Genickstarre aufgetreten war. 

Kutscher 1 ) untersuchte im Mai—Juni 1905 in Berlin das Nasen- 
sekret Gesunder auf Meningokokken Weicbselbaum and zwar stets 
mit einem negativen Resultat Nur bei zwei Personen, welcbe in 
Beziehung zu Meningitiskranken gestanden batten, zuchtete er aus 
dem Nasensekret einen Diplococcus, welcher hinsichtlich der Farbung 
nach Gram und seiner kulturellen Eigenschaften sowie dnrch die 
Agglutination mittels eines hochwertigen spezifischen Serums als Me¬ 
ningokokken identifiziert werden mussten. Im Winter setzte er seine 
Untersuchungen fort und isolierte bei 4 von 57 Personen, von denen 
sich nicht nacbweisen liess, dass sie mit an Genickstarre Erkrankten 
in Verbindung gewesen waren, einen Diplococcus, welcher morpho- 
logiscb, kulturell und durch sein immunisatorisches Verbalten vom 
ecbten Meningococcussicb nichtunterscheidenliess. Kutscher schliesst 
daraus, dass entweder die sogenannten Kokkentrager ihre Keime durch 
Kranken erhalten haben oder dass dieselben gelegentlich auch einmal im 
Nasensekret Gesunder vorkommen. Vor kurzem brachte er noch eine 
Bestiitigung dieser Beobachtung, indem er unter 400 Soldaten eines 
Berliner Regiments 8 Meningokokkentrager feststellte. 

Kolle und Wassermann 2 ) haben zahlreiche Untersuchungen 
bei Gesunden und Kranken des Moabiter Krankenhauses angestellt, 
haben jedoch nirgends, mit Ausnabme zweier Falle, den typiscben 
Meningococcus Weichselbaum finden konnen. In diesen beiden Fallen 
handelte es sich lmal um ein Kind, welches unter dem Verdacht 
der Genickstarre ins Krankenhaus geschickt war, in dem anderen 
Falle um den Vater eines meningitiskranken Kindes. 

Dass Individuen, die mit Meningitiskranken in nahere Berbhrung 
gekommen sind, Meningokokken im Nasensekret beherbergen und als 
Zwischentrager andere mit Genickstarre infizieren konnen, wird ferner 
bestatigt durch Arbeiten von Ostermann 3 ), Hasslauer 4 ), Dieu- 
donne 5 ) und Jehle 6 ) sowie letzthin durch die Arbeiten von Bruns 
und Hahn 7 ), Krohne 8 ), Bahr 9 ), Wollenweber 10 ), Ditthorn und 
Gildemeister. 11 ) 


1) Deutsche med. Wochenschr. 1900. 

2) Klin. Jalirbuch. Bd. 15. 

3) Deutsche med. Wochenschr. 1906. 

4) Zentralbl. f. Bakt. 1906. Abt. 1. Bd. 40. 

5) Zentralbl. f. Bakt. 1906. Abt. 1. Bd. 40. 

6) Berl. klin. Wochenschr. 1906. 7) Klin. Jahrbuch. Bd. 18. 

8) Klin. Jahrbuch. Bd. 17. 9) Klin. Jahrbuch. Bd. 17. 

10) Klin. Jahrbuch. Bd. 17. 11) Klin. Jahrbuch. Bd. 17. 


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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 475 


Jehle 1 ) glaubt, dass die Epidemie in Schlesien ihre grosse 
Ausbreitung auf dem Wege der Grube gefunden hat. Bergleute, die 
in der Grube von fiberall her zusammenstromen, seidn von Kollegen, 
deren Kinder an Genickstarre erkrankt waren, mit Meningokokken 
infiziert und batten die Keime dann zu Hause weiter tibertragen. Der 
Ansicht Jehles, dass die Gruben zur Weiterverbreitung der epide- 
mischen Genickstarre beitragen konnen, schliessen sich Krohne 2 ) 
und Bahr 3 ) an. 

Die neuesten Untersuchungen fiber das Vorkommen der Meningo¬ 
kokken im Nasensekret stammen von Bruns und Hahn. Sie wiesen 
bei den Familienangehorigen im Ansteigen der Epidemie (Marz 1907) 
61 Proz., beim Abflauen schliesslich nur noch 8,5 Proz. Kokkentrager 
nach und scbatzten die Anzahl der vorhandenen gesunden Kokken¬ 
trager 10- bis 20mal so gross wie die ^nzabl der Kranken. 

Westenhoffer 4 5 , 8 ) fand bei seinen anatomiscben Untersuchungen 
fast stets eine katarrhalisch-eitrige Pharyngitis und Angina retro- 
nasalis im Beginn der Erkrankung und halt den Rachen, speziell die 
Rachentonsille fiir die Eintrittspforte des Krankheitserregers. F lfi gge 6 ) 
behauptet, dass es ohne Rachenaffektion keine Genickstarre gibi 

Wie verbreitet sich nun der Meningococcus im menschlichen 
Korper? Westenhoffer 7 ) fand neben der Nasen- und Rachen- 
erkrankung sehr haufig eine Otitis, jedoch nie vor dem dritten Krank- 
heitstage, fast stets war eine Tracheitis, Bronchitis oder Broncho- 
pneumonie vorhanden; er halt die Genickstarre ffir eine Inhalations- 
krankheit. 

Goppert 8 ) betont ausserdem die haufigen Erkrankungen des 
Magen- und Darmtraktus, wie Hyperamien, Petechien, entzfindliche 
Schwellungen der Solitarknotchen, der Peyerschen Haufen, Blutungen, 
Geschwtirsbildungen, Erscheinungen, die wohl auf das Verschlucken 
von meningokokkenhaltigem Nasen-Rachen- und Bronchialsekret zu- 
rfickzuffihren sind; er fand ferner die Meningokokken in der Schleim- 
haut des Larynx, der Bronchien und in brochopneumonischen Herden. 


1) Berl. klin. Wochenschr. 1006. 

2) Klin. Jabrb. Bd. 17. 

3) Klin. Jabrb. Bd. 17. 

4a) Berl. klin. Wochenschr. 1005. 

4b) Fortschritte der Med. 1005. 

5) Klin. Jahrbuch. 1006. Bd. 15. 

6) Versammlung des deutschen Vereins fur 611’entliche Gesundbeitspflege. 
Bremen 1007. 

7) Berl. klin. Wochenschr. 1005 u. Fortscliritte der Medizin 1005. 

8) Berl. klin. Wochenschr. 1005. Klin. Jahrbuch 1006. 15. 


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476 


XXI. Hasche-Klundkr 


Jacobitz ! ) bat 2 mal die Erreger aus dem Sputum ztichten konnen. 

Weichselbaum' 1 2 ), Ghon 3 ), Lenhartz 4 ), Schottmuller 3 * ) 
beobachteten Myocarditis, miliare Herzabszesse, Pericarditis, Endo¬ 
carditis, Nephritisiuterstitialis (SchottmUller), Cystitis purulenta, Epi¬ 
didymitis, Gelenkerkrankungen; Reuter 0 ) Periorchitis; Drigalski 7 ) 
will den Meningococcus im Herpesblascben, Pick ? ) in den Ductus eja- 
culatorii gefunden haben. Yon Menigokokken im Blut intra vitam 
berichten Lenhartz 4 * ), Schottmuller'•'), Harcowich 10 ), Dieu- 
don|ne 4 ). Dass auch im Blut die Meningokokken von anderen Keimen 
tiberwuchert werden, geht aus einem von Lenhartz 11 ) mitgeteilten 
Fall hervor, in dem wenige Stunden vor dem Tode fast nur Meningo¬ 
kokken, vereinzelte Streptokokken, post mortem hingegen fast nur 
Streptokokken gefunden wurden. 

Lingelsheim 12 * ) fand in 3:30 Fallen Meningokokken im Herz- 
blut, 2:29 in der Milz, 0:25 in den Driisen, 2:3 in bronchopneumo- 
nischen Herden, 1:1 im Pleuraexudat; in makroskopisch nicht ver- 
anderten Nasenhohlen 0: 10, Otitis 1:12, einmal im Herzblut Meningo¬ 
kokken und Staphylokokken. Wenn bei Sektionen in vielen Fallen 
Entziindungen des Nasen- und Rachenraums nicht gefunden wurden, 
so ist damit uoch nicht gesagt, dass eine solche Erkrankung nicht 
bestanden hat, bevor Symptome von Gehirnentzundung auftraten. Nach 
den Untersuchungen von Kirchner 1:i ), Lingelsheim 14 ), Westen- 
hbffer 13 ), Kutscher 10 ), Bruns und Hahn 17 ) muss man annehmen, 
dass die Keime vou Person zu Person beim Anhusten und Anniesen uber- 
tragen werden. Die iufizierte Person erkrankt dann etwaselbstan Genick- 


1) Zeitschr. f. Hygiene 10‘ >7. 

2) Zentralbl. f. Bakt. 1903. 23. 

3) Deutsche med. Wochenschr. 1902. 

4) Notlmagels Handbuch, svst. Erkrankungeu. 

7 >) Deutsche med. Wochenschr. 1903. 

<»; Zcitschr. f. Hygiene 1907. 

7) Deutsche med. Wochenschr. 1905. 25. 

5) Berl. klin. Wochenschr. 190.3. 

9 Deutsche med. Wochenschr. 1903. 

I 1 *) Wiener klin. Wochenschr. 19 <m.;. 1312. 

11) Zentralbl. 1'. Bakt. 190(1. Abt. 1. Bd. 40. 

12) Klin. Jahrbueh. Bd. 13. 

13a Berl. med. GesellschaA 31. V. 1905; bi Berl. klin. Wochenschr. 11*05; 

c) Klin. Jahrbueh 1900. 

14) Klin. Jahrbueh. Bd. 15. 

1.5) Klin. Jahrbueh. 19o(>. Bd. 15. 

l'l) Deutsche Tiled. Wochenschr. 1900. 

17) Klin. Jahrbueh. Bd. Is. 


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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 477 


starre, oder — und das dtlrfte meistens der Fall sein — verbreitet 
als Kokkentrager die Keime weiter, die dann besonders bei Kindern 
mit einem lymphatiscben Habitus oder bei geschwachten, schlecht 
genahrten Individuen, die dazu disponieren, einen frucbtbaren Boden 
finden und hier eine Gehimentzlindung hervorrufen. Kutsclier 1 ), 
Ostermann 2 ), Bruns und Hahn 3 ; erwahnen Falle, in denen im 
Nasensekret Meningokokken gefunden wurden, die erst nach 3 Tageu, 
3 Wochen und 2 Monaten erkrankten. 

Die tJbertragung durch staubhaltige Luft durfte wobl uur in den 
allerseltensten Fallen erfolgen, da die Kokken sich nur bei hoherer 
Temperatur lebensfahig halten und ausserdem schnell eintrocknen. 
Nicht dagegen ist von der Hand zu weisen, dass die Keime gelegentlich 
durch Taschentiicher (Familientaschentlicher) verbreitet werden konnen. 
Meistenteils dtirften dann die Keime vom Nasenrachenraum in die 
Nebenbohlen, ins Obr, in die Stimhohle, durch die Foramina ethmoidalia 
ins Gehim gelangen. Da beim Husten und Schneuzen gelegentlich 
eine Verletzung eines Gefasses stattfinden kann, so ist es nicht aus- 
geschlossen, dass Keime von hier aus in die Blutbahn eindringen, eine 
Meningokokkensepsis, ev. mit zahlreicheu Metastasen hervorrufen. Dass 
eine Invasion in die Blutbahn erfolgen und die Krankheit letal ver- 
laufen kann, bevor eine Meningitis erfolgt, lehrt ein Fall von Schott- 
m filler 4 ), der einmal den Meningococcus Weichselbaum bei einer 
verrukosen Endocarditis fand, ohne dass klinisch oder anatomisch ein 
entzundlicher Gehirnprozess nachzuweisen war. Andrews 1 ) fand Me¬ 
ningokokken im Blut bei einem Fall schvver verlaufender Septikamie 
mit Purpura haemorrhagica, ohne dass klinische Erscheinungen von 
Meningitis vorlagen; ebensowenig waren bei der Autopsie irgend welche 
Veranderungen am Gehirn zu finden. Mischinfektionen mit andereu 
Keimen dfirfen bei der Meningitis zu den Seltenheiten gehoren; jeden- 
falls muss man stets den Verdacht haben, dass Verunreinigungen vor- 
liegen. Erwahnt sei nur, dass Schottmiiller vor kurzem im Allge- 
meinen Krankenhaus Eppendorf bei Meningitis epidemica anfangs 
Jager und Weichselbaum, spater nur Weichselbaum ziichtete. Jager'*; 
will Mischinfektionen mit Diplococcuspneumonie, Streptococcus pyo¬ 
genes und Kapselbacillus 1895 beobachtet haben. Doch sind diese 
Angaben wie die vieler anderer nicht einwandsfrei, da M. Jager und 

1) Klin. Jahrbuch. Bd. 18. 

2) Deutsche rued. Wochenschr. 1900. 

3) Klin. Jahrbuch. Bd. 18. 

4) Deutsche mod. Wochenschr. 1905. 

5) Berl. ined. Wochenschr. 1900. 772. 

6) Zeitschr. f. Hvjriene 1895. Bd. 19. 

Deutsche Zeitschrift t'. N'ervt-nhellkuuda. 37. BJ. 31 

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478 


XXI. H ASCHK-KLf NDEIt 


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M. Weichselbaum durcheinander geworfen werden. Gelegentlich ist 
kurz ante mortem Staphylococcus oder Streptococcus (Lenhartz 1 )) 
gemeinsam mit Menigococcus gefunden; ferner Weichselbaum und 
Pneumococcus. Albrecht und Ghon 2 ), Councilman 3 ), Kirchoer 4 ) 
berichten von einem 15jahrigen Jiingling, bei dem intra vitam Me- 
ningokokken W. gefunden wurden und bei dem sich bei der Obduk- 
tion eine Tuberkulose aller Organe fand. 

Ferner berichtet Lingelsheim 5 ) von Mischinfektionen mit 
Streptokokken, Staphylokokken, Pneumokokken. Um Meningokokken 
von ahnlichen, zumal von den gramnegativen, intracelluliir lie- 
genden Kokken zu unterscheiden, hat man in letzter Zeit ferner 
auch vielfach den Weg der Agglutination benutzt; doch sind hieriiber 
die Autoren sich noch nicht einig. Gerade so wie ein Bacterium 
coli ein Bacterium typhi bis zu einem gewissen Titer agglutinieren 
kann, so hat man Ahnliches auch zwischeu Meningococcus Jager und 
Weichselbaum beobachtet. .Jager 6 ) berichtet, dass der von ihm be- 
schriebene Meningococcus den Weichselbaum bis zu einer Verdunnung 
von I : 300 agglutinierte, wiihrend andere solches bestreiten. 

.J ochmann ") stellte ein hochwertiges Serum her, das den Diplo- 
coccus intracellularis in Verdiinnungen bis zu 1:500 agglutinierte. 
Dieudoune'') spricht schon solche Kulturen als Meningokokken an, 
die in einer Serumverduunung von 1:100 agglutiniert werden. Kut- 
scher 9 ) berichtet von leicht und schwer agglutinablen Meningokokken- 
stiimmen. Er fand jedoch bei letzteren in der Regel dann eine posi¬ 
tive Rcaktion, wenn er dieselhen in den Brntofen bei 55° stellte. 
Albrecht und Ghon |0 ) berichten ebenfalls, dass 2 Meningokokken- 
stamme sich gegenseitig agglutinieren, wiihrend bei Jiiger und Weich- 
sclhaum eine Agglutination nicht stattfindet. Wollen weber 1 ’) be¬ 
richtet. dass Hiissiges Meningokokkensermn mit einem Titer von 
l:lbOn Mcningokokkenstiimme in Verdiinnungen von 1:400, 1 : S<>0 


1‘ NotImairelx Handbucli, syst. Erkrankuniren. 

2j Wiener klin. Woclicnsehr. 1M07. 

31 Xentrallil. 1’. Bakt. 2-1. l. r >, 10 

1 a I I’.erl, meil. (.ie^ellseltaf't 31. V. lllo.7; 1>| Berl. klin. Wochenschr. 11*03; 
ei Klin, .lalirlmeli It'oii. 

fo Klin .lalirlmeli. I*• 1. 17. 

• Xentrall.l. f. Bakt. lUOM. 23. 

T 21. K'inrre.'. tiir ituiere Medi/.in. 

" Xentrallil. f. Ilakt. I'.ioil. Al't. 1. Bd. 1'>. 

ln iit'i'iie miliiar. Xeit-ehr. lU'o. .7. 

I 1 Wiener klin. Woelieti-clir. 1'70,7. 

II Klin. 3 all 11 illeli. Bd. 1 7. 


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Der bakteriologiscbe Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 479 

und 1:1000 agglutinierte; doch zeigten zwei unechte Diplokokken- 
stamme ebenfalls hohe Agglutinationswerte: 1:400, 1:800. Wollen- 
weber halt die Agglutinationsprobe dann ffir beweisend, wenn die 
Aufschwemmung einer sonst typischen Kultur in einer Serumver- 
dfinnung von 1:400 Dach 4 Stnnden Ausflockung, nach 24 Stunden 
Brutschrankaufenthalt einen Niederschlag in klar gewordener Flussig- 
keit zeigt. 

Bruns und Hahn 1 ) fanden ebenfalls gut agglutinable Stamme, 
die mit dem Merckschen Serum in Verdiinnung bis 1:1500 aggluti- 
nierten, w&hrend andere nur einen Titer von 1:100 erkennen liessen, 
der allerdings bei Brutofentemperatur meist hoher ging. 

Lingelsheim 2 ) Wollenweber, Ditthorn und Gildemeister 
(Kl. Jahrbuch XVII) haben die serodiagnostische Reaktion mit Me- 
ningokokken an Blutproben ausgefuhrt. Wahrend Lingelsheim 
Agglutinationswerte bis 1:200 zu verzeiohnen hatte, fand Wollen¬ 
weber in 53 Proz. nur einen Wert von 1:10, in 33 Proz. von 1:30. 

Ditthorn u. Gildemeister 3 ) beobachteten die Agglutnine nicht 
vor dem 10. Krankheitstag. 

tjbereinstimmung herrscht im ganzen bei fast alien Autoren in 
Bezug auf die Tierpathogenitat des Meningococcus. Er ist pathogen 
fur weisse Mause, weniger pathogen ftir Meerschweinchen und Kanin- 
chen. Heubner 4 ) hat ferner bei Ziegen, Ohlmann 5 ) bei Pferden, 
Lingelsheim 6 ) bei einer Affenart durch iDjektion von Meningo- 
kokkenkulturen eine Meningitis hervorgerufen. 

Die Ergebnisse der letztjabrigen Untersuchungen fiber den Erreger 
der epidemischen Genickstarre sind kurz folgende: 

1. Der Meningococcus Weichselbaum ist der Erreger der Menin¬ 
gitis cerebrospinalis und hat nichts gemeinsam mit dem von 
Jager beschriebenen Diplococcus intracellularis. 

2. Die Eingangspforte sind die oberen Luftwege; er setzt sich 
vor allem im lymphatischen Gewebe des Nasenrachenraums 
nieder und verbreitet sich von dort weiter. 

3. Um den Meningococcus Weichselbaum zu zttchten, muss das zu 
untersuchende Material sofort weiter verarbeitet werden, da 
derselbe nur geringe Lebensfahigkeit besitzt, indem er nur bei 
Brutofentemperatur gedeiht, schnell von Saprophyten fiber- 

1) Kin. Jahrbuch. Bd. 18. 

2 ) Deutsche med. Wochenschr. 1905. 26. 31. 

3) Klin. Jahrbuch. Bd. 17. 

4) Deutsche med. Wochenschr. 1906. 

5) Journ. of Amer. Assoc. 1906. 3. 

6) Deutsche med. Wochenschr. 1905. 26. 31. 

31* 


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4S0 


XXI. Hasciie-Kt.uxuek 


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wuchert wird und schnell eintrocknet. Er kann bei genugea- 
der Sorgfalt in der Lumbalfliissigkeit stets mikroskopisch oder 
wenigstens kulturell nachgewiesen werden. 

4. Wird bei einem Meningitiskranken die Lumbalfliissigkeit sofort 
untersucht und findet sich in ihr mikroskopisch ein gramnega- 
tiver Diplococcus intracellularis, so ist die Diagnose als wahr- 
scheinlich zu betrachteD. Durch die Kultur wird die Diagnose 
gesichert. 

Bei Untersuchung des Nasensekrets ist die Anlegung der Kulturen 
unerlasslich. Ein positives Resultat der Agglutination mit einem Anti- 
meningokokkenserum wird jedenfalls die Diagnose ganz sicher stellen. 

Eigene Untersuchungen. 

Dank der Liebenswiirdigkeit von Herrn Dr. Sellottmiiller, der 
rair zwei Weichselbaumstamme, von denen der eiue von der schlesi- 
schen Epidemie, der andere von einer Patientin des Allgemeinen Kran- 
kenhauses Eppendorf (Abteilung Oberarzt Dr. Sehottmtiller) herruhrte, 
und einen Stamm Jager, welcher ihm seinerzeit von Herrn Prof. Jager 
iibersandt war, zur Verfugung stellte, war es mir mbglich, Nachunter- 
suchungen anzustellen und mich selbst von der Verschiedenheit des 
Diplococcus Jager und Weichselbaum zu iiberzeugen. Zweimal fami 
ich den Diplococcus Jager zufallig auf einer Blutplatte als Veruneiniguug 
und habe von ihnen Kulturen angelegt. Ausserdem standen mir noch 
mehrere Stamme von Streptococcus mucosas und Pneumokokken zur 
Verftigung. 

Mikroskopisch sail ich den Weichselbaum im hitngeuden Tropfen 
moist als Diplococcus, bald zu vier, bald in kleineren, bald in grosseten 
Haufchen zusammenliegend. Die Diplokokken waren nicht immer gleich 
gross, waren an den einander zugekehrten Flachen abgeplattet, zeigten 
Molekular-, aberkeine Eigenbewegung. Ich habe nie Ketten beobachtet, doch 
sahen manche Priiparate Staphylokokken ahnlich. Die Kokken fiirbten sich 
nicht nach Gram. 

Der mir von Herrn Dr. Schottmttller zur Yerftlgung gestellte Jager 
untersehied sich mikroskopisch nicht von dem Diplococcus, den ich zuerst 
auf einer Blutplatte als Verunreinigung fand. Beide glichen im gauzen 
dem Weichselbaum, doch erschienen die einzelnen Kokken etwas grosser 
und lageu gelegentlich zu mehreren hinter einander. Der zweite Diplo¬ 
coccus, den ich als Verunreinigung auf einer Blutplatte fand, bestand ent- 
schioden aus grbsseren Einzelkokken; sonst glich er den beiden auderen. 
A!lo drei fiirbten sich nach Gram. 

Kulturell erfolgte heim Weichselbaum kein Wachstum auf Ge¬ 
latine; er gedieh nur bei Brutofentemperatur. 

Auf Blut bildeten sich nach 24 Stunden bei feinem Ausstrich kaum 
stecknadelgrosse, feinen Tautrupfchen ahnlielie Kolonien, die bei durchfallen- 


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Der bakteriologische Behind bei Meningitis cerebrospinalis usw. 481 


dem Licht einen blaulichen Schimmer batten, bei auffallendem Licht weiss, 
mit einem Stich ins Graue erschienen. Nach 3 Tagen flossen die Kolonien 
allmahlich zusammen und wuchsen lippiger. 

Die auf Blntagar geivachsenen Kolonien wurden nach Uberimpfung 
zu Agglutinationsversuchen verwandt, nachdem auf Agar, Ascitesagar, 
Glyzerinagar, Hammelserum, Bouillon, Gallenbouillon, Peptonwasser, Lack- 
musmolke, Kartoffel, Milch Drigalski-Kulturen angelegt waren. Auf Agar 
war ein Wachstum nicht eingetreten. Die anderen St&mme wurden leider 
beim Uberimpfen verunreinigt mit Ausnahme einer Glyzerinagarkultur, die 
am 4. Tage vereinzelte graue stecknadelkopfgrosse Kulturen eben oberhalb 
des Kondenswassers zeigte. Dieser Stamm sowie ein Stamm den ich vom 
hygienischen Institut in Hamburg durch Yermittlung erhielt, wurde noch 
einmal auf die oben erwahnten Nahrboden Oberimpft. Gelatine blieb steril. 
Am bestcn gedieh das Wachstum auf Blutagar, dann auf Hammelserum, 
Ascitesagar, dann Traubenzuckeragar, schwach auf Glyzerinagar, Kartoffel, 
ganz vereinzelte Kolonien auf Drigalski, gar nicht auf Agar. In den 
tiOssigen Nahrbbden am besten in Milch, Gallenbouillon, sparlicher in 
Peptonwasser, Lackmusmolke, am geringsten in Bouillon. Auf Hammelserum 
und Ascitesagar fand sich nach 24 Stunden ein feiner, dQnner, glanzender, 
durchscheinender Rasen, der nach 24 Stunden tlppiger, zah - schleimig 
wurde. Ein ahnlicher Rasen bildete sich anf den anderen festen Nahr- 
boden, der einen blaulichen Schimmer bei durchfallendem Licht hatte. Die 
einzelnen Kolonien waren anfangs rund, scharf konturiert, waren grosser 
als Streptokokken. Bei alteren Kolonien eutwickelten sich Degenerations- 
formen. Die Kokken quollen auf, nalimen schwer Farbstoff an und 
farbten sich nicht gleichmassig. Bei Agarstichkultur war ein Wachstum 
nicht erfolgt. Bei Traubenagarstich und Neutralrotagarstich, der die Farbe 
nicht anderte, fand sich ein grauer Belag an der Oberflache der Einstich- 
stelle, nach der Tiefe zu nahm das Wachstum schnell ab, hOrte 1 cm 
unterhalb der Oberflache vollig auf. Auf Drigalski batten sich ganz ver¬ 
einzelte fein sandkornahnliche Kolonien gebildet; eine Rotung des Nahr- 
bodens war, wenn tlberhaupt vorhanden, nur minimal. Bouillon, Pepton¬ 
wasser, Gallenbouillon blieben klar; am Boden bildete sich ein brockliger 
Satz, an der Oberflache ein feines zartcs Hhutchen, das bei unvorsichtigen 
Bewegungen sofort vernichtet wurde. Milch gerann nicht. Auf Kartoffel 
bildete sich ein ganz feiner weisser Rasen, der nacli einigen Tagen eine 
leicht braunliche Farbe annahm. Mit Glyzerinagar wurden a-, /?-, y-Platten 
gegossen, die klein stccknadelkopfgrossen Kolonien zeigten mikroskopisch 
leichte Einkerbungen und nalimen nach 2 Tagen im Zentrum eine etwas 
braunliche Farbe an. 

Jager war kulturell leicht zu ztlchten. Nach 24 Stunden hatte sich 
auf Agar, Glyzerinagar bereits ein tlppiger, zusammenhangender, grauer 
Belag gebildet, der am Rande einen blaulichen Schimmer hatte. Die 
Kolonien waren nach 24 Stunden bereits so tippig wie der Stamm Weichsel- 
haum nach 3—4 Tagen und waren zusammengeflossen. Nach 3 tagigem 
Wachstum bestand ein dicker Belag, der einer weissen Staphylokokken- 
kultur iihnlich sail. Der .Tager wuchs auf Gelatine bei Zimmertempcratur; 
die Stichkulturen wuchsen Oppig his auf den Boden. I'jtjtiges Wachstum 
bestand auf Drigalski. der rot wurde; ehenfalls nahm Neutrallcakmusmolke 
eine rote Farbe an. Endlich bestand tlpjiiges Wachstum auf Kartoffel, <tie 


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br&unlich wurde. Auf Blutagar bildete der Diplococcus Jager einen gelb- 
grttnen Belag, der nach einigen Tagen eine gelbe Farbe annahm. 

Die Kultaren der auf deu Blutplatten zufftllig als Verunreinigung ge- 
fundenen Diplokokken glichen den Kulturen des von Jager besckriebenen 
Meningococcus. Am deutlichsten konnte ich den Unterschied des Diplo¬ 
coccus Jager vom Diplococcus Weichselbaum auf einer Blutplatte beob- 
achten, auf der der Diplococcus Jager, von dem ebenfalls spater Kulturen an- 
gelegt wurden, als Saprophyt wuchs. Ich hatte auf einer Blutplatte 2 Osen 
Meningokokken Weicbselbaum-Kulturen verrieben, da ich glaubte, in der 
ersten Ose nur wenig Material zu haben. Bei dem 2. Ausstrich muss ich 
den auf der Blutplatte zufallig vorhandenen Saprophyten Diplococcus berQhrt , 
haben, denn am folgenden Tage zeigte sich an der Stelle des 2. Ausstrichs ein 
gelblich-grQner, zaher schleimiger Belag wahrend an der Stelle des ersten ein 
zarter grau-blaulicher Rasen mit stecknadelkopfgrossen Kolonien gewachsen 
war. Nachweiteren 24 Stunden war der Weichselbaum von dem Saprophyten 
vdllig tlberwuchert, mikroskopisch, was die Farbung nach Gram anlangt, und 
makroskopisch zeigten beide Ausstriche das beschriebene differente Verhalten. 

Ich habe mehrfach a-, $•, y-Platten mit beiden Diplokokkenarten an- 
gelegt, doch gelang es mir nicht beide Diplokokken am folgenden Tage 
zu differenzieren, da olfenbar der Saprophyt den Meningococcus Weichsel¬ 
baum schon nach 24 Stunden uberwuchert hatte. 

Haufiger habe ich beide Diplokokken auf einem Objekttrager nach 
Gram gefarbt; stets fand ich den Jager bzw. den Saprophyten grampositiv, 
hingegen den Weichselbaum stets gramnegativ. 

Neben dem Meningococcus Weichselbaum und Jager habe ich noch 
von dem Streptococcus mucosus und dem Diplococcus lanceolatus, die 
ebenfalls far die Erreger der Genickstarre angesehen sind, Kulturen an- 
gelegt und dieselben mit dem Meningococcus verglichen. 

Im Gegensatz zu dem Diplococcus intracellularis Weichselbaum bildet 
der Streptococcus mucosus, der ebenfalls als Diplococcus vorkommt, Ketten, 
die Teilungsachse steht J_ zur Kettenachse; die Einzelglieder sind von 
einer Kapsel umgeben. Ausserdem entfarbt sich der Mucosus nicht nach 
Gram. Er wachst auf Agar sparlich, bildet nach 24 Stunden stecknadel- 
kopfgrosse, zarte, durchsichtige, farblose Kolonien, die nach 48 Stunden 
ttppiger werden und einen schleimigen, fadenziehenden Charakter an- 
nehmen. Der Belag wird nach wenigen Tagen trocken, der Coccus ist 
nach ca. 6 Tagen meist nicht mehr zu ttbertragen. Er whchst gut auf 
Gelatine und bildet hier bereits schon nach 24 Stunden einen fadenziehen¬ 
den Belag. Die Kolonien sind mikroskopisch rund, von braungelber Farbe, 
sehen den Jitgerschen Kolonien ahnlich. Bei Gelatine- und Traubenzucker- 
strichkulturen und Gallenagarstrich findet Wachstum in die Tiefe statt. 
In Bouillon wurde ein Wachstum nicht beobaehtet, Pepton und Gallen- 
bouillon wurden ganz lcicht getrdbt. Milch gerinnt in ca. 48 Stunden, 
Lackmusmolke und Drigalski nehmen eine rote Farbe an. Auf Blutagar 
bildet sich ein gliinzond grUner, schleimiger Belag, der spater dunkelgrUn 
wird und dann wegtrocknet. Auf Hanunelserum wurde ein Wachstum 
nicht beobaehtet. 

Der Diplococcus lanceolatus bildet mikroskopisch Diplokokken von 
liinglicher weisser Form, einer Lanzette oder KerzenHamme ahnlich. Die 
zugespitzten Enden kbnnen einander zu- und abgewandt sein, die Kokken, 


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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 433 

die keine Eigenbewegung haben, die statt lanzettfOrmig auch rand sein 
kOnnen und verschieden gross sind, bilden baufig Ketten von 6—8 Giedern. 
Nach Gram wird der_ Coccus nicht entfarbt. Auf Agar und Blutagar 
bildet sich ein feiner (jberzug, der aus kleinen, etwa stecknadelspitzen-' 
grossen, Tautropfen ahnlichen, wasserklaren Kolonien bildet, welche sich bei 
schwacher Vergrdsserung als etwa linsengrosse, schafrandige, mattgraue, 
strukturlose Auflagerungen darstellen; bei starkerer VergrOsserung erkennt 
man eine feine Granulierang. Bei durchfallendem Licht haben die Kolonien 
einen blaulichen Schimmer. Auf Gelatine erfolgte bei 22° kein Wachstum. 
In Strichkulturen fand kein Wachstum auf der Oberflache statt; im Impf- 
stich zeigte sich ein Streifen. In FleischbrQhe, Peptonwasser bildete sicli 
ein sparliches Sediment. Milch gerann, Lackmusmolke wurde rot gefarbt; 
auf der Kartoffel bildete sich ein feiner Ciberzug von grauweisser F$rbe. 

Ich habe dann noch Agglutinationsversuche angestellt und zwar 
mit einem Stamm, der von einer Kranken herruhrte, einem Stamm 
von der schlesischen Epidemie, einem Stamm, den ich dureh Vermitte- 
lung vom hygienischen Institut in Hamburg erhalten batte, einem 
Stamm, der Herrn Dr. Schottmiiller von Herrn Professor Jager 
Qbersandt war, und den Verunreinigungen, die ich auf Blutplatten ge- 
funden batte. Diese Stamme wurden znsammengebracht mit dem Serum 
der Patientin Sch., das 8 Wochen nach der Entfieberung entnommen 
ist, mit Normalserum und Immunserum; ferner wurden Kontrollproben 
angestellt. Der Meningokokkenstamm der Patientin Sch. wurde durch 
das Serum von Sch., entnommen 8 Wochen nach der Entfieberung, in 
einer Yerdftnnung von 1:100 agglutiniert; sonst fand eine Agglutination 
zwischen Sch.-Serum und den anderen Stammen nicht statt. Ebenso 
wenig ergaben alle erwahnten Meningokokkenstamme (Jager oder 
Weicbselbaum), mit Normalserum zusammengebracht, eine Agglu¬ 
tination. Hingegen wurde Stamm Sch. und Immunserum makroskopisch 
in einer Verdunnung bis 1:500, Stamm Weicbselbaum und Immun¬ 
serum in einer solchen bis 1:500. des echten Jager und Immunserum 
bis 1:200, der Verunreinigung Jager und Immunserum hingegen tiber- 
haupt nicht agglutiniert. Mikroskopisch war die Agglutination nicht 
sicher als positiv zu bezeichnen. Mikroskopisch bildeten sich bei 
Stamm Sch. und Serum Sch. in einer Verdtinnuug von 1:10O, 
Stamm W., Stamm Sch. und Stamm Jager -j- Immunserum bis zu 
einer Verdlinnung von 1:1000 kleine Haufchen; doch waren diese 
Kokkenhaufchen nicht mit der Agglutination von Typhusbazillen zu 
vergleichen. 

Nachstehend die Tabelle (S. 484). 

Wesentlich Neues haben die Nachprufungen nicht ergeben. Eigen- 
artig ist nur, dass der von Prof. Jager iibersandte Stamm -{- Immun¬ 
serum in einer Verdunnung von 1:200 makroskopisch deutlich noch 


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484 


XXI. Hasche-Klunder 


Stamme 

Serum Schuhmacher 

Normalserum 


makro- 

skopisch 

N * C1 s|s § 1 1 | 

o ' o 
1— o 

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| ^ 1 *5 | 

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- 1 - 1 ^ 1 " i " i ^ 


i —• i — | 



Immunserum 


Schum. 

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Hyg. Instit. 


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Jiiirer 


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+ 

+ 

+ 

+ 

— 


Verunreinig. 

Jiiger 

Gonococcus 


agglutiniert wurde. Dieser Stamm Jager scheint also noch cine gewisse 
Verwandtschaft mit dem Meningococcus Weichselbaum zu liaben. Der 
deni Diplococeus .lager ahnliche Saprophyt + Immunserum hingegen 
ergab keine Agglutination. 

1 her die anderen Erreger der Cerebrospinalmeningitis, die teil- 
weise schon Erwahnung gefunden haben, kann ich mich kurzer fassen. 

Der Streptococcus lanceolatus ist, abgesehen von dem Tuberkel- 
bacillus, der haufigste Erreger der Meningitis cerebrospinalis. Gelegent- 
1 ich rufc er eine solche hervor im Anschluss an eine Pneumonie, Otitis 
media, Empyem der Stirnhohle, im Anschluss an ein Trauma, doch 
kunnen auch die Meningen anscheiuend primar erkranken. 

Die ersten, die auf das Vorkommen von Meningitis bei Pneuino- 
nie im dahre I860 aufmerksam gemacht haben, waren Immermann 
and Heller 1 ). Xauwerk 2 ) berichtet 1881 liber eitrige Meningitis 
bei kruposer Pneumonie. Foa und Bordini- Uffreduzzi :i ) sowie 
Praenkel 1 ) fanden im eitrigen Exsudat bei Meningitis den Diplo- 
coccus lanceolatus und hielteu ihn fur den Erreger der epidemischen 
Genickstarre. Diese Beobachtungen bestatigten Weichselbaum *') 
(Compt. rend. soc. de biol. 18S7. d4), Netter 6 ) u. a. Spiiter glaubten 

li Deutsche Archiv f. klin. Medizin 5. 

‘J) Deutsches Archiv klin. Medizin 1SS1 

.I) Deutsche med. Worhcn^chr. Is'**). 1 T». IV. 

1 Deutsche med. Wochenschr. 1 SSii. 

?)] Fortscliritte der Medizin. Is87. 

•1 Archive* general*** de med. Paris 18S7. 


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Der bakteriologisclie Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 4§5 


viele Autoren, dass mehr oder weniger zahlreiche Varietaten des 
Frankelschen Pneumococcus bestanden, die beztiglich ihrer Form, 
des Wachstums ihrer Kulturen, ihrer Lebensfabigkeitund Virulenz sowie 
ihrer Tierpathogenitat ein mannigfaches Yerhalten zeigen konnten. 
So wurden Diplococcus pneumoniae, Weichselbaum und Jager, sowie 
Streptococcus mucosus f&r Varietaten einer Art gehalten und als 
Erreger der epidemischen Genickstarre angesprochen, bis durch die 
Untersuchungen von Albrecht u. Ghon 1 ), Weichselbaum 2 ), Schott- 
miiller 3 ) Lingelsheim 4 ) u. a. dieser Konfusion ein Ende gemacht 
wurde. Ob der Diplococcus pneumoniae Fraenkel imstande ist, kleine 
Epidemien hervorzurufen, darilber sind die Autoren auch heute sich 
nicht einig. 

Schon Jansen 5 ) und spater BrunDer G ) haben darauf hingewiesen, 
dass die krupose Pneumooie epidemisch auftritt. Bei einer Reihe der- 
artiger Pneumonien wurde der Lanceolatus gefunden, und man sah 
relativ haufig im Anschluss an dieselben eine Meningitis entstehen. 
Ausserdem beobachtete man, das die Meningitis ohne Pneumonie auf- 
trat, und man wies bei ibr im Meningealeiter oder intra vitam in 
der Spinalflussigkeit den Frankelschen Pneumococcus nach. Dass 
derselbe, welcher auch im Nasensekret Gesunder gefunden ist, Neigung 
hat, von der Nase und dem Ohre aus auf die Meningen uberzugehen, 
darauf hat bereits Weichselbaum 7 ) hingewiesen. 

Mag man nun mehrere in einer Gegend durch den Lanceolatus 
hervorgerufene Cerebrospinalmeningitiden als mehrere einzelne, spora- 
discbeFalle oder als kleine Epidemie auffassen, mit der Weichselbaum- 
scben Meningitis haben sie nichts zu tun. 

Wie der Meningococcus, so gelangt auch der Lanceolatus von der 
Nase und ihren Nebenhohlen oder vom Ohre aus auf dem Wege der 
Lymphbahnen ins Gehiru. Er kann aber auch durch Verletzung eines 
kleinen Gefasses in der Nase oder naturlich von der Lunge aus in die 
Blutbahn gelangen und so eine Pneumokokkensepsis mit Metastasen 
hervorrufen. Ich erwahne nur kurz den Befund bei Endocarditis in 
den Gelenken, Pericarditis, Peritonitis usw. 

Mischinfektionen von Pneumokokken mit anderen Bakterien ge- 
horen imruerhin zu den Seltenheiten. Dass Pneumokokken gelegent- 

Wiener klin. Wochenschr. 1901. 

2) Zentralbl. f. Bakt. 1903. 23. 

3) Deutsche rued. Woehenschr. 1005. 

4) Klin. Jahrbuch. Bd. 15. 

5) Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 1SS4. 

0) Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 1SS4. 

7) Fortschritte der Medizin 1SS7. IS. 19. 


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486 


XXI. Hasche-Klundek 


lich einmal mitMeningokokken vorkommen, ist bereits erwahnt.Netter 1 ) 
sowie Panienski 2 ) beschrieben einen Fall Ton Pneumococcus ge- 
meinsam mit Staphylococcus bei Meningitis. 

Zum Unterschied von Weichselbaumscher Meningitis ist die 
Lanceolatus- Meningitis prognostisch weit ungQnstiger. Wahrend im 
Allgemeinen Krankenhaus Eppendorf die Mortalitat bei ersterer ca. 
50 Proz. betrug, gehorte eine Heilung bei Lanceolatus-Meningitis zu 
den grossten Seltenheiten. Fur Tiere ist der Lanceolatus ebenfalls 
pathogener als der Weichselbaum. 

Ein anderer Erreger der Meningitis, der gelegentlich mit dem 
Meningococcus Weichselbaum, dem Meningococcus Jager und dem 
Pneumococcus Fraenkel verwechselt oder fur eine Varietat dieser Mikro- 
organismen gehalten wurde, ist der Streptococcus mucosus von Schott- 
miiller 3 ). 

Bono me 4 ) beschreibt einen Coccus, der mit dem Mucosus offen- 
bar identisch ist, und den er fur den Erreger der epidemischen Genick- 
starre halt, in seiner Arbeit „Zur Atiologie der Meningitis cerebro- 
spinalis epidemics" und nennt ihn Streptococcus meningitidis. Denselben 
Mikroorganismus fand Panienski 5 ) als den Erreger der Epidemie 
von Genickstarre in der Garnison Karlsruhe wahrend des Winters 
1892/93. SchottmOller 6 ) ztichteteihn 1896 aus einem parametritischen 
Abszess, 1899 aus einer Peritonitis, fand ihn spater mehrfach bei Pneu- 
monie sowie im Eiter bei Meningitis, die ihren Ausgang vom Mittel- 
obr nahm. Er machte darauf aufmerksara, dass dieser Coccus weder 
mit dem Meningococcus noch mit dem Lanceolatus das Geringste zu 
tun hat, und ist der Ansicht, dass der Mucosus imstande ist, spora- 
dische Falle wie kleine Epidemien von Meningitis cerebrospinalis her- 
vorzurufen. Weitere Beobachtungen fiber den Streptococcus mucosus 
teilen Heim 7 ), Neumann 8 ) und Proscheska 9 ) mit. Prognostisch 
sind Streptococcus mucosus-Meningitiden sehr ungQnstig. Mischinfek- 
tion von Mucosus und Pneumokokken kommt gelegentlich vor 
(Schottmuller 10 )). 


1) Archives gen. de med. 1890. 

2) Deutsche militar. Zeitsckrif't. 

3) Munch. med. Woehenschr. 1903. 

4) Zieglers Beitriige zur patholog. Anatomic. 1890. Bd. S. 

5) Deutsche militar. Zeitselirift. 

0) Miinch. med. Woehenschr. 1905. 

7) Zeitselirift f. Hygiene. Bd. 50. 

8) Zentralblatt f. Bakt. Bd. 57. 

9) Deutsches Arch. f. kliu. Med. Bd. 70. 

10) Miinch. med. Woehenschr. 1'5. 


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Der bakteriologlsche Befund bei Meningitis cerebrospiwilis usw. 437 

Der haufigste Erreger der Meningitis cerebrospinalis ist offenbar 
der Tuberkelbacillus. Die tuberkulose HirnhautentzQndung, die klinisch 
haufig mit der epidemischen Genickstarre verwechselt wurde, hat stets 
die Bedeutung einer sekundaren Erkrankung. Die primare Tuberku- 
lose hat meistens ihren Sitz in den Lungen, der Pleura, in verkasten 
Bronchial- und Mesenterialdriisen, am Knochen und in den Gelenken, 
seltener im Hoden, Nebenhoden, Ovarien und Tuben. Wird ein tuber- 
kuloser Herd bei der Obduktion nicht gefunden, so kann er sich irgend- 
wo versteckt halten; leicht kann eine kleine verkaste Lymphdruse 
(Bronchialdrflse) ubersehen werden. In anderen Fallen findet man ge- 
gelegentlich einen kariosen Herd im Mittelohr, Warzenfortsatz oder 
Keilbein. Die primare Tuberkulose kann langst ausgebeilt sein, in 
verkalkten Herden bleiben die Tuberkelbazillen oft lange Zeit lebens- 
fahig und konnen noch nach Jahren wieder verschleppt werden und 
dann eine Cerebrospinalmeningitis hervorrufen. Der Tuberkelbacillus 
und dessen Virus kann eine solche entweder auf hamatogenem (z. B. 
haufig Eiubruch eines tuberkulosen Herdes in eine Lungenvene) oder 
auf lymphogenem Wege (haufig Einbruch in den Ductus thoracicus) 
oder endlich per contiguitatem (u. a. kann eine Wirbelkaries auf die 
Ruckenmarkshaute ubergehen) erzeugen. Striimpell 1 ) glaubt, dass 
das Gift gelegentlich in den Lymphscheiden der Nerven zum Arach- 
noidalsack des Rtickenmarks und von hier zur Gehirnbasis gelangt. 
Die Meningealtuberkulose im Gefassgebiet der Hirnarterien deutet auf 
eine embolische Entstehung hin. Bald sehen wir eine miliare Tuber¬ 
kulose, die in etwa der Halfte der Falie die Meningen mitbefiillt, bald 
nur eine Leptomeningitis entstehen. 

Wie fur Meningococcus Weichselbaum, so scheint auch ftir den 
Tuberkelbacillus das kindliche Gehirn besonders empfanglich zu sein. 
Bei der Tuberkulose wird am haufigsten die Basis des Gehirns zwischen 
Chiasma und Medulla oblongata ergriffen. Das haufig grungelbe Ex- 
sudat, das von kleinen Knotchen durchsetzt ist, findet sich ferner in 
der Fossa Sylvii, zumal in der Umgebung der Gefasse. Im Rucken- 
mark ist die Aracbnoidea getriibt, die Pia verdickt, die vorderen 
Rfickenmarkshaute sind meist weniger befallen als die hinteren. 

Die Tuberkelbazillen in den Meningen sind bereits kurz nach der 
Entdeckung des Tuberkelbacillus durch Koch gefunden. Lichtheim 2 ) 
fand dieselben 1893 zuerst intra vitam in der Spinalfiussigkeit. Wah- 
rend dieselben anfangs nur ausnahmsweise in derselben gefunden 


1) Lehrbuch. 

2) Deutsche med. Wochenschr. 1S93. 46. 


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48S 


XXI. Haschk-Kluxder 


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wurden, werden dieselben jetzt von vielen Klinikeru (Lenhartz) fast 
regelmassig nachgewiesen. 

Die Prognose der tuberkulosen Meningitis ist durckaus infaust, 
wenngleich vereinzelte Falle vou Heilung Henkel 1 ), Jansen 2 ) be- 
scbrieben habeu. Doch sind hier wohl die akuten Meningitiden in 
ein chronisches Stadium iibergegangen. So berichten auch Rilliet u. 
Barth ez 3 * ) von einem Fall, bei dem 2 durch ein paar Jahre von ein- 
ander getrennte Erkrankungen an tubrk. Meningitis auftraten and bei 
der Sektion frische und alte Herde gefunden wurden. Von ahnlichen 
Fallen berichten Pollitzer und Henoch. 1 ) 

Mischinfektioneu vou Tuberkelbazillen mit Streptokokken, mit 
Wei chse 1 baumschen Meningokokken (Kirchner 5 * * * ), S ch o tt m ii 11 e r'} 
u. a.) und auch mit Pneumokokken sind gelegentlich beobachtet. 

Bei den auderen Infektionskrankheiten, wie Influenza, Typhus, 
Diphtherie, Erysipel, Maseru, Scharlach usw., treten zwar Symptome, 
die auf eine Atfektion des Zentraluervensystems schliessen lassen, nicht 
allzu selten auf, trotzdem gehort es zu deu Seltenheiten, dass die In- 
fektionserreger intra vitam in der SpiualHiissigkeit oder in mensa in 
den Meningen nachgewiesen werden. 

Pfuhl'X 9 * 11 ) hat zuerst den Influenzabacillus in dem Meuingeal- 
eiter gefunden und berichtet spater von 12 Fallen, in denen er den 
Influenzabacillus bei Meningitis beobachtet haben will. Ihm folgen 
Mitteilungen von Nauwerek '"), Haecke "), Slawyk 12 ), Ghon 13 ) u. 
E. Frankel M ). 

Can tan i 13 ) spritzte Kanincben Intluenzareinkulturen in die Ge- 
liirnsubstanz und erzeugte bei ihnen eine Meningitis mit Krampfen und 
Tiiihmungserscheinungen. 


1) Deutsche nied. Woclienselir. 1900. 

2) Miinch. nied. Woclienselir. 1S90. 

oi Notlmagels Hatidhuch. 1-1. 

-II Notlmagels Handhvich 1-1. 

5) a) fieri. nied. Gesellselialt 31. V. 19o5; hi llerl. klin. Woclienselir. 1905; 
e) Klin. Jahrh. 1900. 

ti .Miinch. nied. Worhcnsehr. 1 

7; Deutsche nied. Woclienselir. 1-S92. 

si Zeitschrift 1‘. Hygiene. ISuT. 

9i Militiirzeitsehrift 1S95. 

l"i Deutsche nied. Woehenschr. 1^95. 

11) Munch. nied. Woclienselir. 1^97. 

12' Zcitschr. !'. Ilycdcne 1907. 

13i Deutsche nied. Woclienselir. 1902. 

1-1 Zeit-ehr. f. Hvgienc Ives. 

15 Zeitsehriit f. Hygiene. ]sU<;, 


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Der bakteriolognche Be fund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 439 


Pfuhl 1 , 2 , 3 ) (s. o.) berichtet fiber Mischinfektionen der Influenzaba¬ 
zillen tnit Staphylokokken und Streptokokken und Frankel schen 
Pneumokokken. Die Eingangspforte sind offenbar die oberen Luftwege, 
die weitere Verscbleppung der Keime erfolgt wohl hauptsachlich per 
continuitatem und auf den Lymphwegen, indem die Bazillen von der 
Xasenschleimhaut in den Nasenrachenraum und von dort durch die 
Lamina cribrosa ins Gehirn iiberwandern, und in einzelnen Fallen 
durch die Blutbahn. Pfuhl fand die Influenzabazillen bei Meningitis 
im Gehirn in den Lymph- und Blutgefassen und im Protoplasma der 
Ganglienzollen, im verlangerten Mark, im Epithel und Lumen des 
Zentralkanals, in den Lungenalveolen, Bronchialschleim, Pankreas, 
Leber, Harnkaniilchen, Lymplidriisen. Walter 4 ), Kamen 5 ), Peucker 6 ) 
berichteten iiber ahnliche Falle. Letzterer von einer Mischinfektion 
mit Staphylokokken. Slawyk”) fand die Influenzabazillen bei einer 
unter dem Bilde der Meningitis verlaufenden Allgemeininfektion, ausser- 
dem iu einzelnen Gelenken. Feruer seien die bei einer Allgemeininfek¬ 
tion, gelegentlieh auchnur bei InHuenzameningitis auftretenden schweren 
ulcerosen hamorrhagischon Magen- und Darmerscheinungen erwiihnt. 

Schottmfiller s ) teilt einen Fall von Meningitis mit, die durch 
den Pseudoinfluenzabaeillus hervorgerufen wird, der nur auf hamoglobin- 
haltigem Nahrboden wuchs und bedeutend grosser war als der ln- 
fluenzabacillus. 

Die ersten Beobachtungen iiberTyphusbazillen im Meningeneiter und 
im Rtickenmark sind bereits Mitte der 80 er Jahre gemacht. Cursch- 
raann' 1 ) berichtet 1S86 von einem unter den Erseheinungen von Landry- 
scher Paralyse verlaufenden Typhus. Mikroskopisch und kulturell wies 
er im Rtickenmark und Gehirn den Typhusbacillus nach. XachCursch- 
mann folgen weitere Beobachtungen von Neumann u. Schafer 1 "), 
Freyhan 11 ) Kamen 1 -). Kfihnau 13 ), Hoffmann 11 ), Boden 1 '). 

1) Deutsche med. Wochenschr. lSf‘2. 

2) Zeitsclirift f. Hygiene 181)7. 

3) Militarzeitschrift Dim. 

4) Deutsche tiled. Wochenschr. W»». 

5i Wiener med. Wochenschr. IShti. 

•i Prager med. Wochenschr. 11.Ml. 

7) Zeitsclirift f. Hygiene 1MM. 

5) Deutsche med. Wochensi'hr. ItMj. 

0) Nothnagel. Der rnterleihstyphus. 

ID) Virchows Arcliiv. Iss7. Bd. loo. 

ID Deutsche med. Wochenschr. 1'sss. 

12 1 Zentralhlat; f. linkt. IS'.m. Bd. 7. 

13: Berl. klin. Wochenschr. ls>,. 

14) Deutsche med. Wochenschr. W,t7. 

17)) Ref. Miinch. med. Wochcnsc-iir. Is'M. 


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XXL Hasche-Klunder 


Intra vitam wies zuerst Jemma 1 ) in der Lumbalflfissigkeit Typhus- 
bazillen nach. Ihnen folgten weitere Untersuchungen von Lewko- 
witz 2 ), Schfitze 3 ). Schiitze berichtet von einem Fall von Menin¬ 
gitis, bei dem am 8. Tage durch das Auffinden von Typhusbazillen 
in der Lumbalflfissigkeit die Diagnose gestellt wurde, wahrend erst die 
fur Typhus cbarakteristischen Symptome (Roseolen, Stuhl, Milzschwel- 
lung) viel spater auftraten. In einem 2. Falle wurden Typhusbazillen 
in der Spinalflussigkeit nachgewiesen, ohne dass meningitische Er- 
scheinungen vorhanden waren. Lenbartz u. Schottmfiller 4 ) be- 
richten von 2 Fallen von eitriger Meningitis, in denen intra vitam in 
der Lumbalfliissigkeit und im Blut Typhusbazillen nachgewiesen wurden, 
wahrend sonst bei der spateren Sektion krankhafte typhose Erschei- 
nungen nicht gefunden wurden. 

Eine andere Eingangspforte als der Mund durfte bei Typhus kaum 
in Betracht kommen. Von der Darmwand und seinen lymphatischen 
Apparaten, in der sie, wie oben erwahnt, Veranderungen nicht unbe- 
dingt hervorzurufen brauchen, verbreiten sich die Mikroorganismen in 
die Lymphdrfisen und gelangen durch das Lymphgefasssystem in die 
Blutbahn. 

Mischinfektionen von Typhus- mit anderen Bazillen bei eitriger 
Meningitis sind nicht haufig. Eisenlohr, Boden 6 ) beobachteten Bac¬ 
terium typhi gemeinsam mit Staphylokokken. Curschmann 6 ) be¬ 
richtet fiber einen Fall von tuberkuloser und typhoser Meningitis, tjber 
das Vorkommen von Typhusbazillen gemeinsam mit Streptokokken 
und Staphylokokken habe ich in der Literatur Angaben nicht gefunden. 
Ein dem Typhusbacillus ahnliches, aber weder mit demselben noch mit 
dem Bact. coli identisches Bacterium fanden bei primarer Meningitis 
Neumann u. Schafer 7 ). 

Die anatomisch-pathologischen Veranderungen, die das Bact. typhi 
am Gehirn und den Ruckenmarkshauten hervorruft, sind im ganzen 
dieselben wie bei den anderen eitrigen Meningitiden, auf die an anderer 
Stelle ich noch zuriickkommen werde. 

Hintze 8 ) beschreibt eine typhose hamorrhagische Pachy- und 
Leptomeningitis. Vincent 9 ) und viele andere beobachteten die bei 

1 ) Zeutralblatt f. innere Med. 1898. 

2) Jahrbuch f. Kinderheilkunde. 1902. 

3) Berl. klin. Woehenschr. 1905- 

4) Nothnairels Handbueh. Bd. 3. Heft 4. 

5 ) Ref. Munch, med. Woehenschr. 1899. 

6 ) Not linage 1, Der Unterleibstyphus. 

1 ) Vircliows Archiv 1SS7. Bd. 109. 

8 ) Zeutralblatt f. Bakt. Bd. 14. 

9) Virchows Archiv. Bd. 130. 


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Der bakteriologische Betund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 491 


allgemeiner Sepsis gelegentlich auftretenden Erscheinungen und fanden 
den Typhusbacillus ausser im Gehirn und Ruckenmark im Abszess- 
eiter, Mesenterialdrtisen, Milz, Leber, Niere, Knocbenmark, Herzblut, 
Herzklappen, Knocben, Gelenken usw., Bo den 1 ) in den Yentrikeln. 

Daruber, dass der Diphtberiebacillus eine eitrige Meningitis hervor- 
ruft, fehlen Mitteilungen. Nur Morell u. Wolff 2 ) wollen bei einem 
4 V* Monate alten Kinde mit tuberkuloser Meningitis aus der Lumbal- 
fliissigkeit intra vitam den Diphtheriebacillus gezucbtet haben, ohne 
dass diphtheriscbe Erscheinungen beobachtet waren. 

Proschaska 3 ) berichtet von einer Gonokokkensepsis, bei der er 
eine eitrige Leptomeningitis beobachtete und aus dem Eiter den Gono¬ 
coccus zuchtete. Meningitiden bei Gonorrhoe sind ferner yon Engel- 
Reinjers u. Polozoff 4 ) beschrieben. 

Als Erreger Ton Masern und Scharlacb sind gelegentlich Strepto- 
kokken angesprochen, doch ist ein Nachweis hieruber nicht erbracbt; 
da Angina bezw. Diphtherie meist im Anfangsstadium Ton Scharlach 
Torbanden ist, ausserdem eine Streptokokkensepsis mit Meningitis ge¬ 
legentlich nach Tonsillenerkrankungen auftreten, so wird man das ge- 
legentliche Yorkommen Ton Meningitis cerebrospinalis streptococcica 
im Yerlauf Ton Scharlach nicht leugnen konnen. Menzer 5 ) fand 
in der Lumbalflfissigkeit frei und intracellular liegende Diplokokken, 
die den Meningokokken ahnlich waren und Ketten bildeten (Strepto¬ 
coccus mucosus?). Der Kranke war im Anschluss an Scharlach- 
diphtherie an einem Ohrleiden erkrankt, das eine typische Cerebro- 
spinalmeningitis herTorrief. 

tjber Meningitis cerebrospinalis, Terursacht durch den Rotz, be¬ 
richtet Tedescho 6 ). 

Albrecht und Ghon 7 ) und die deutsche Pestkommission be- 
richten fiber das Vorkommen Ton Meningitis bei Bubonenpest und 
fanden im Meningeneiter den Pestbacillus. 

Der Bacillus pneumoniae ist als Erreger einer Meningitis nur bei 
allgemeiner Sepsis beobachtet. Die primare Erkrankung war eine 
Bronchopneumonie, in anderen Fallen eine eitrige Otitis, Rhinitis 


1 ) Ref. Miinch. med. Woehenschr. 1899. 

2) Journ. of Americ. Assoc. 1907. 20. 

3) Deutsches Arcliiv f. klin. Med. Bd. 7. 

4) Ref. in Baumgartens Jahrbiichern. 1892. 

5) Berl. klin. Woehenschr. 1901. 11. 

6 ) Virchows Arcliiv. Bd. 130. 

7) Zitiert nach Kolle und Wassermann, Handbuch. 


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XXI. Hasche-KlCnoer 


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Oder Tonsillitis (Lenhartz 1 ), Weichselbaum 2 ), Dmochowski 3 ), 
Canon 4 ). 

Neben Meningitis fand sich auch eitrige Pericarditis, Pleuritis, 
Gelenkeiterungen. Lenhartz 5 ) fand intra vitarn massenhaft Pneu- 
moniebazillen im Blut. Houl und Pesina 6 7 ) fanden neben dem Bacillus 
pneumoniae noch den Bacillus pyoceaneus. 

Uber das Vorkommen von Bacillus coli communis bei eitriger 
Meningitis als Teilerscheinung allgemeiner Pyamie berichten Stern’) 
und Scherer. 8 ) 

Als Ausgangspunkt der Sepsis wurden Mittelohr, Gallenwege, Pro¬ 
cessus vermiformis — Nabeleiterung (in 2 Fallen) gefunden. 

Noeggerath 9 ) fand einen Bacillus coli immobilis capsulatus bei 
eitriger Meningitis eines Sauglings, die erst im Yerlauf von 2 l / 2 Mo- 
naten zum Tode fuhrte. In dem durch Lumbalpunktion gewonnenen 
dicken Eiter fand er einen unbeweglichen Kapselbacillus, der Indol 
bildete und dem Bact. lactis aerogenes ahnlich sah. 

Eine durch das ebengenannte Bacterium hervorgerufene Menin¬ 
gitis teilt Beitzke 10 ) mit. Es handelt sich um ein kongenital syphi- 
litisches Kind, das unter dem Bilde der Septikamie zugrunde ging. 
Das Bact. lactis aerogenes wurde aus dem Meningitiseiter gezlichtet. 
Scheib 11 ) hatte bereits vorher denselben Mikroorganismus als Erreger 
einer Gehirnentzlindung nach Mittelohreiterung gefunden. 

Moser 12 ) demonstrierte auf dem Kongress der Gesellschaft fur 
innere Medizin 1905 ein anaerobes Bacterium, das eine eitrige Menin¬ 
gitis verursacht hatte. 

tiber einen Fall von akuter eitriger Meningitis mit sturmischem 
Anfangsstadium, in welchem die mikroskopische Untersucbung und 
das Kulturverfahren der Lumbalfliissigkeit als Erreger den Micrococcus 
tetragenes albus (in Reinkultur gewonnen) feststellten,berichtetPende 13 ). 


1 ) Nothnagels Handbucb. Bd. 3. Heft 4. 

2) Monatsschrift f. Ohrenheilkunde 1887. 

3) Zentralblatt f. Bakt. 1892. 

4) Deutsche med. Wochenschr. 1893. 

r») Nothnagels Handbuch. Bd. 3. Heft 4. 

(ii Zitiert nach Kolle und Wassermaun, Handbuch. 

7) Deutsche med. Wochenschrift 1893. 

8 'i Jahrbuch f. Kinderheilkunde 1902. 

9) Munch. med. Wochenschr. 1907. 017. 

10 ) Zentralblstt f. Bakt. Bd. 37. 4. 

11) Frag. med. Wochenschr. 1900. 2.1. 

12 1 Verhandlungen des 10. Kongresses fur die Ges. fiir innere Medizin 1901. 

13) Munch, med. Wochenschr. 1900. S. 2208. 


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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 493 


Eossel *)und Berka 1 2 ) fanden bei einer eitrigen Meningitis im An¬ 
schluss an Otitis media den Bacillus pyoceaneus. Von Ohon und 
Mttller 3 ) wurde derselbe Mikroorganismus bei einer Meningitis eines 
Sauglings nach einer Nabeleiterung gefunden. 

Hitschmann und Lindentbal 4 ) beobachteten eine nach Schadel- 
fraktur entstandene Meningitis, deren Erreger der Frankelsche Gas- 
bacillus war. 

Endlich sei bier noch der Cerebrospinalmeningitiden Erwahnung 
getan, die durch Streptokokken und Staphylokokken hervorgerufen 
werden. Dass der Streptococcus mucosus, der von einzelnen noch 
iramer fGr eine Varietat des Diplococcus pneumoniae gehalten wird, 
sporadisch und zuweilen auch epidemisch eine Meningitis cerebro¬ 
spinalis hervorrufen kano, babe ich bereits erwahnt Die anderen 
Streptokokken und Staphylokokken durften, wenn tlberhaupt, nur in 
den allerseltensten Fallen primar ein Meningitis erzeugen. Ip man- 
chen der publizierten Falle wird wobl der primare Herd nicht gefunden 
sein. Schafer und Neumann 5 ) wollen den Streptococcus pyo¬ 
genes als Erreger einer primaren Meningitis beobachtet haben. 

Sekundar finden sich hingegen Streptococcus pyogenes sowie 
Staphylococcus pyogenes aureus vereinzelt, auch citreus und albus 
relativ oft und zwar am haufigsten bei otogener Meningitis, ferner 
bei Meningitis als Komplikation von Erysipelas faciei, Tonsillitis, Pneu- 
monie, die abscediert hat (Lenhartz 6 ), Netter 7 ), Kirchner 8 )), end¬ 
lich die Meningitis als Komplikation von allgemeiner Sepsis. In den 
meisten Fallen dringen die Mikroorganismen von der ausseren Haut 
(besonders die Staphylokokken bei Furunkel, Schrunden, Karbunkel, 
Trauma), von den Schleimhauteu der Rachenhohle (Angina, Diph¬ 
theric, Tonsillarabszess) und von dem weiblichen Geschlechtskanal 
(Streptokokken) ein. Vielfach erfolgt ein unmittelbarer Einbruch in 
eine Vene, haufig werden die Keime auf thrombophlebitischem Wege 
weiter verschleppt. Der Mischinfektion von Strepto- und Staphylo¬ 
kokken mit anderen Meningitiserregern habe ich bereits Erwah¬ 
nung getan. 

Wahrend die tuberkulose Meningitis an den Knotchen leicht er- 


1) Zeitschr. f. Hygiene. Bd. 36. 

2) Wiener klin. Wochensehr. 1003. 

3) Zitiert nach Kolle-Wassermann, Handbnch. 

4) Sitzungsberiekt der kaiserl. Akademie der Wissenschaft in Wien. 1S99. 

5) Virchows Archiv 1887. Bd. 109. 

6) Nothnagels Handbuch. Bd. 3. Heft 4. 

7) Extrait des Archives g£n<$rales de med. 1SS7. 

8) Berl. klin. Wochensehr. 1893. 

Deutsche Zeitsckrift f. Nervenlieilkunde. 37. Bd. 32 


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XXI. Hasche-Klundee 


kennbar ist und vor allem die Basis zwischen Chiasma und Medulla 
sowie die Rolandschen Furchen befallt, breitet die eitrige Meningitis, 
die durch die anderen Bakterien hervorgerufen wird, sicb gleichmassig 
liber Basis und Scheitel vom hinteren bis zum vorderen Pol aus. 
Makroskopisch findet sich zwischen Dura und Pia in den Arachnoidal- 
raumen und Maschen ein eitriges Exsudat, das in der Nahe der gros- 
seren Gefasse besonders stark ausgepragt ist. Am Ruckenmark nimmt 
es hauptsachlich die hinteren Abschnitte der Peripherie ein. Die Pia 
zeigt starke Hyperamie, ist mit Blutpunkten durchsetzt. Die Ventrikel- 
fliissigkeit ist viel trttber als bei der tuberkulosen Entziindung; das 
Ependym ist haufig mit Eiter bedeckt, das Gehirn ist gelegentlich mit 
kleinen Abszessen durchsetzt. Die mikroskopische Untersuchung der 
Cerebrospinalflussigkeit weist im Gegensatz zu der tuherkulosen Leuko- 
cyten in den Exsudatmassen auf. 

Welche gerichtsarztliche Bedeutung haben nun die bakteriologi- 
schen Befunde bei Meningitis ccrebrospinalis ? 

Eine Cerebrospinalmeningitis erlangt eine forensische Bedeutung, 
wenn dieselbe sich mittelbar oder unmittelbar an ein Trauma an- 
schliesst, das gewaltsam, durch einen Unfall, durch eine Operation u. 
dergL herbeigefuhrt sein kann. Meistenteils ist die traumatische Me¬ 
ningitis die Folge einer Wundinfektion. 

Zunachst kann bei einer Schadelyerletzung mit gleichzeitiger Ver- 
letzungder ausseren Weichteile direkteine Kommunikation des Schadel- 
innern mit der Aussenwelt hergestellt werden, so dass eine direkte Ein- 
gangspforte fur Infektionskeime gegeben ist. Zweitens sieht man 
gelegentlich infolge einer Wunde eine allgemeine Sepsis und dann 
metastatisch eine Gehimentzfindung auftreten. 

Entsteht eine Meningitis infolge Wundinfektion, so sind ihre Er- 
reger in der liberaus grossten Zahl der Streptococcos und Staphylo¬ 
coccus (aureus, albus, citreus). Ist durch die Yerletzung eine Kom¬ 
munikation der Schadelhohle mit der Aussenwelt hergestellt und eine 
Infektion eingetreten, so dfirften fur den Gerichtsarzt kaum Schwierig- 
keiten entstehen. Denn wenn auch die Befunde der Pia an sich im 
grossen und ganzen keinen bestimmten Anhalt fur die Diagnose einer 
traumatischen Meningitis geben, so gewinnen sie doch ausschlag- 
gebende Bedeutung, wenn neben ihnen noch im Leben entstandene 
Verletzungen des Schadeldachs oder der Weichteile bestehen und der 
Nachweis gefiibrt werden kann, dass die Veranderungen der Pia zu 
diesem in ursachlichem Zusammenhang stehen. Die Einwanderung 
pathogener Infektionstrager erfolgt meistens durch den freien Zutritt 
der Luft, in anderen Fallen durch einen mit Keimen beladenen ein- 
dringenden Fremdkorper. Auch isolierte Kontinuitatstrennungen der 


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Der bakteriologiache Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 495 

Schadelweichteile ohne Verletzung der Knochen, ja haufig recht un- 
bedeutende oberflachliche Qaetachwunden konnen das Zustandekommen 
einer traumatischen Meningitis gelegentlich bewirken, da zwischen den 
Weichteilen und dem Schadelinnem infolgeder Lymph- und Blntbabnen 
(Santorinische Emissarien, Diploerenen) zablreiche Kommunikations- 
wege bestehen, die den Eitererregem den Eingang gewahren. Bei 
Zerreissung eines Blutgefasses femer bilden sich Thromben, die infek- 
tioses Material zuweilen aufnehmen und spater zerfallen und im Gefass- 
system fortgeschleppt werden, oder sie setzen sich fiber die Sinus der 
Dura hinaus in die Venen der weichen Hirnhaute fort und rufen eine 
Entzfindung derselben bervor. Auch hier wird es dem Gerichtsarzt 
meist obne weiteres gelingen, die Bahnen, welche die Infektionserreger 
vom Trauma bis zur Schadelhohle genommen haben, aufzufinden. 

Tritt mebr oder weniger unmittelbar im Anschluss an ein Trauma 
eine Sepsis und als Komplikation eine Meningitis auf, so dfirfte eben- 
falls der Nachweis des ursachlichen Zusammenbanges zwischen Me¬ 
ningitis und Verletzung nicht schwer fallen. Meist wird man ohne 
weiteres im Blut und Meningeneiter Bakterien nachweisen konnen. 
Andebs hingegen liegen die Verhaltnisse dann, wenn zwischen Trauma 
und meningitischer Erkrankung ein Zeitraum von mehreren Wochen 
liegt und wahrend derselben das Allgemeinbefinden wesentliche Sto- 
rungen nicht geboten hat. In der Regel wird man nattirlich in einem 
solchen Falle einen Zusammenhang zwischen Trauma und Erkrankung 
ablehnen. Dass jedoch auch noch Wochen nach einer Verletzung eine 
Gehirnentzfindung bestehen kann, beweist u. a. der folgende Fall 1 , 2 ), den 
ich wahrend meiner Assistentenzeit am Eppendorfer Krankenhause 
(Abteilung Oberarzt Dr. Nonne) zu beobachten und begutachteu Ge- 
legenheit hatte. 

Am Abend des 8. X. 1904 wurde der 55jfthrige Hilfsarbeiter E. R. 
mit der Diagnose Delirium tremens ins Eppendorfer Krankenkaus geschickt. 
Derselbe war frflher nie ernstlich krank, war 6tarker Potator (90 Pfg. 
Schnaps pro die). Am 13. IX. fiel ihm ein 20 Pfund schweres Gewicht 
auf den linken Unterschenkel und streifte seinen linken Fuss. Er war 
3 Tage krank zu Hause, nahm dann die Arbeit wieder auf und lief noch 
l&ngere Zeit mit einem Verband an der grossen Zeke umher. Am 27. IX. 
legte er sich wegen Schmerzen im Bein und Kreuz zu Bett, litt seit dem 
1 . X. an Rheumatismus in den Beineu und bekam 8. X. ein Delirium, das 
anfangs filr ein alkoholisches gehalten wurde. 

Status: Mittelgross, massig genahrt, von gelber Gesichtsfarbe, Wangen 
braunrOtlich gefarbt, allgemeiner Tremor, Schwcissausbruek am ganzen 

1 ) Hasche-Klunder, Zur Pathologic des Delirium tremens. Jalirbiicher 
der Hamburger Staatskraulcenanstalten. Bd. 9. 

2 ) Zipperling, Cher akute infektidse Wirbclentziindung (Spondylitis in- 
fectiosa). Ebendort. Bd. 10. 

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KOrper. Leicht benommen, verwirrt, desorientiert, psychomotorisch erregt 
wie ein Alkoholdelirant and mit den fttr Delirium tremens typischen Sinnes- 
tauschungen. Temperatur 38,8. Normale Reaktion der Pupillen, belegte, 
trockene, zitternde Zunge, gerfiteter Rachen. Geringe Nackensteifigkeit; 
Dnick- and Klopfempfindlichkeit der Wirbelsaule. Uber den Langen ist 
nichts Krankhaftes nachzuweisen, Ober der Herzspitze systolisches Blasen; 
kleiner frequenter, regelmassiger Puls; sonst innere Organe normal. Urin 
frei von E. und Z.; Druckempfindlichkeit der Oberarme und Oberschenkel; 
Sehnenreflexe sind infolge der aktiven Spannungen nicht auszulOsen; keine 
Paresen, Romberg, Ataxie, Dermographie. An der grossen Zehe eine an- 
scheinend einige Tage alte HautabschQrfung. 

4. X. Viel verwirrter, Nackensteifigkeit hat stark zugenommen; keine 
SchdttelfrOste. Temperatur 39,2, kein erhohter Spinaldruck. SpinalflQssig- 
keit getrQbt, enthalt zahlreiche Leukocyten. IOV 2 Uhr abends unter all- 
mahlich zunebmender Benommenheit Exitus letalis. 

5. X. Auf den am 4. X. entnommenen Blutplatten sind zahlreiche 
Staphylokokken gewachsen, ebenso von einem Ausstrich der SpinalflOssigkeit 

Klinische Diagnose: Meningitiscerebrospinalispnrnlenta; Staphylo- 
kokkamie. 

Sektion. Brust- und Bauchhflhle: Abgesehen von leichter Milz- 
schwellung und trtlber Nierenschnittflache nichts Besonderes. Gehirn: An 
der Basis, zumal an dem dem Clivus aufliegenden Teil, ist die Pia getrhbt, 
an der Medulla oblongata, dem Pons und den angrenzenden Partien des 
Kleinhirns von etwas stllzig-eitriger FlOssigkeit durchsetzt An den 
Pauken-, Nasen-und NebenhOhlen, die mittels Harkeschen Schnitts erOffnet 
werden, finden sich keine krankhaften Veranderungen; die Wirbelsaule wird 
median in sagittaler Richtung durcbsagt. Arachnoidea und Pia sind durch 
eitrige Massen verklebt, besonders im Lumbalteil. RQckenmarksubstanz 
ist weich. Die Spongiosa des 3. und 4. LendenwirbelkOrpers ist von gelb- 
lichen Eiterherden durchsetzt. An den Qbrigen Wirbeln sind makroskopisch 
keine Veranderungen zu sehen, nur der 12. Brustwirbel weist einen kleinen 
Eiterherd auf. Beide Mm. psoas sind in ihrem Ursprung eitrig infiltriert, 
zwischen den Muskelbauchen finden sich ausgedehnte Eiteransammlungen; 
die aus den osteomyelitischen Herden auf Agar angelegte Eulturen ergeben 
als Erreger den Staphylococcus aureus in Reinkultur. Die Sektion ergab 
Leptomeningitis purulenta cerebrospinalis, Osteomyelitis columnae verte- 
bralis; Intumescentia lienis. 

Ein makroskopisch nicht veranderter Wirbel sowie die mit Eiter durch- 
setzten Herde eines kranken Wirbels wurden von Dr. E. Fraenkel mikro- 
skopisch untersueht. Bei dem makroskopisch intakten Wirbel fanden sich 
mikroskopisch kleine Eiterzellen, in deren Zentrum dichte Kokkenhaufen 
lagen. In den Schnitten der eitrig durcksetzten Wirbel finden sich Qberaus 
zahlreiche Eiterzellen, denen dicht zusammenliegende Staphylokokkenhaufen 
beigemengt sind. 

Im vorliegenden Falle hat der Kranke bei dem Trauma am 13. 
IX. 1904 neben der Quetschung der 'grossen Zehe eine, wenn auch 
geringe Verletzung der Wirbelsaule erlitten, die denselben am Weiter- 
arbeiten nicht wesentlich hinderte. Als sich spater der Nagel der mit 
nichtsterilem Verbandmaterial umwickelten Zehe loste, ist oflFenbar die 


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Der bakteriologische Befund bei Meningitis cerebrospinalis usw. 497 

Invasion der Staphylokokken erfolgt, die sich imLumbalteil der Wirbel- 
saule, der durcb das Trauma betroffen wurde (gewissermassen dem 
Locus minoris resistentiae) ansiedelten und dort eine Osteomyelitis 
hervorriefen, die 14 Tage nach dem Unfall Schmerzen hervorrief. 
Von dem osteomyelitischen Herde sind, wie aus dem klinischen Ver- 
lauf und dem Sektionsbefunde hervorgebt, die Kokken in den Wirbel- 
kanal eingedrungen und baben die Meningitis cerebrospinalis erzeugt 
Die Deutung des Falles hatte auf grosse Schwierigkeiten gestossen, 
wenn der Tod einige Tage spater, nach Heilung des Zehendefektes, 
erfolgt ware und die Anamnese betr. der geringen Fussverletzung im 
Stich gelassen hatte. 

Handelt es sicb also um die Frage, ob eine Cerebrospinalmenin- 
gitis mit einem Trauma zusammenhangt, und wird bei der Sektion die 
Eingangspforte der Infektionserreger nicht gefunden, so ist ausser der 
Erofinung der Nebenhohlen des Kopfes, auf die ich noch zuriick- 
kommen werde, eine Untersuchung der Wirbelsaule, bezw. der grossen 
Rohrenknocben unbedingt erforderlicb. 

Ein Trauma ist aber auch imstande, eine Cerebrospinalmeningitis 
hervorzurufen, ohne dass eine aussere Verletzung und Infektion der 
Wunde stattgefunden hat. 

Bei bestehenden eitrigen Prozessen in den der Schadelhohle be- 
nachbarten Nebenhohlen (Nasen-, Kiefer-, Stirn-, Rachen-, Augenhohle 
und Mittelohr) konnen durch eine innere Verletzung, wie unkomplizierter 
Schadelbruch, Kontusionen, Gebirnerschutterungen, bei denen haufig nur 
kleinere innere Blutungen, Blutextravasate entsteben, Verhaltnisse ge- 
schaffen werden, die entweder ein direktes tjbergreifen krankhafter 
Prozesse auf das Gehirn ermoglichen oder eine Verschleppung und 
Vermebrung von im Korper bereits vorhandenen Eitererregem hervor- 
rufen. Dieselben finden in den Blutextravasaten, Thromben einen 
gttnstigen Nahrboden. Es entstebt anfangs lokal eine Entzundung, 
die sich auf die weitere Umgebung bis zum Gehirn bin fortsetzen 
kann; Keime konnen ferner ins Gefasssystem gelangen und Ibsen im 
Gehirn metastatisch eine Enlziindung aus. Ferner kann ein gesunder 
Mensch in der Nase, im Rachen, Mund und Ohr pathogene Keime, wie 
Meningokokken, Pneumokokken, Influenzabazillen und dergl., beher- 
bergen. Das Trauma gibt dann den Anstoss zu ihrer Verbreitung 
und Entwicklung und bereitet ihnen im verletzten Korper einen ge- 
eigneten Angriffspunkt. Endlich ist die Moglichkeit gegeben, dass 
durcb ein Trauma ein Locus minoris resistentiae geschatfen wird, der, 
wenn das Individuum hinterher Infektionserreger in sich aufninnnt, 
die Entstehung einer Gebirnentzundung begiinstigt. 

Sind durch eine Kopfverletzung Fissuren im Schadelknochen ent- 


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standen, so ist auch, ohne dass eine Verletzung der ausseren Weich- 
teile stattgefunden bat, in vielen Fallen eine Kommunikation des 
Schadelinnern mit der ausseren Luft nnd ihren Infektionskeimen her- 
gestellt, da ja mit der Nasen-, Rachen- und Mundhohle durch Ein- 
nnd Ausatmung standig ein Austausch mit der ausseren Luft stattfindet. 

Um so verstandlicher ist es, dass bei bestehenden eitrigen Pro- 
zessen in der Nachbarschaft des Gehirns Infektionserreger durch die 
Fissuren in die Schadelhohle einwandem und dann eine Meningitis er- 
zeugen konnen. 

Hat bingegen eine Schadelfraktur nicht stattgefunden, so kann 
die Diagnose einer traumatischen Meningitis auf grosse Schwierigkeiten 
stossen. 

Bei einem Trauma, das eine GehirnentzQndung zur Folge hat, ist 
anzunehmen, dass eine Verletzung und mag sie auch noch so gering 
sein, stattgefunden hat, mag sie in einer ausseren Wunde, in einer 
Lasion der Schleimhaute, in einer Zerreissung kleiner Blutgefasse, in 
einem Auftreten von Blutextravasaten bestehen. Der Nachweis einer 
solchen kann allerdings gelegentlich nicht mehr moglich sein, da bei 
eingetretenem Exitus eine derartige Wunde haufig langst verheilt ist. 
Infolge dessen sind neben der Eintrittspforte der Infektionserreger auch 
die Wege nicht mehr aufzufindcn, auf denen die Eeime zum Gehim 
gelangten. Mit absoluter Sicherheit ist dann die Meningitis als aus- 
schliessliche Folge der stattgehabten Gewalteinwirkung nicht mehr zu 
bezeichnen, sondern man kann nur noch von einem mehr oder minder 
hohen Grad von Wahrscheinlichkeit reden. Denn die anatomischen 
Befunde von der Pia an sich bieten keinen Anhalt fur eine trauma- 
tische Meningitis. Die Schwere der Verletzung, der zeitliche Zwischen- 
raum zwischen Trauma und Entzundungserscheinungen, die Lokali- 
sation der Entzundung in Bezug auf den Angriffspunkt des Traumas, 
der bakteriologische Befund, sowie vor allem die klinischen Erschei- 
nungen sind .von grosser Wichtigkeit fur die Diagnose. Eine Com¬ 
motio cerebri ohne jede Verletzung wird kaum imstande sein, eine 
GehimentzQndung auszuldsen. Auf eine zeitliche Aufeinanderfolge 
von Gewalteinwirkung und Meningitis ist auch nicht immer ein allzu 
grosses Gewicht zu legen. Denn haufig ist das Trauma eine Folge 
der bereits bestehenden Erkranknng. Forensisch kommenhier vor allem 
jene Falle in Betracht, wo die Gehirnentzundung auf bestimmte Miss- 
handlungen, Ziichtigungen, wie Ohrfeigen, Balgereien, zurtickgefuhrt 
werden. Die auffallende Zerstreutheit, Gedankenlosigkeit, Unaufmerk- 
samkeit oder Tragkeit, die vom Lehrer getadelt wird, sind gelegentlich 
bereits die Vorlaufer der im Entstehen begriffenen Krankheit. Meistens 
wird man allerdings dann bei der Sektiou eine Erkrankung der Neben- 


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Der bakteriologische Behind bei Meningitis cerebrospinalis usw. 499 

hohlen des Schadels, eine tuberkulose oder epidemisclie Meningitis 
nachweisen konnen. 

Immerbin ist die Moglichkeit nicht yon der Hand zu weisen, dass 
auch nach einer verhaltnismassig leichten Yerletzung gelegentlich ein- 
mal eine Gehirnentzundung auftreten kann. 

Welches sind nun die BakterieD, die hauptsachlich als Erreger 
bei der traumatiscben Meningitis in Betracht kommen. 

Handelt es sich um eine Wundinfektion, mag diese nun eine All- 
gemeininfektion oder einen lokalen Prozess, der sicb auf die Meningen 
fortsetzt, bervorrufen, so sind die Erreger der Gehirnentzundung 
meistens Streptokokken oder Staphylokokken, in vereinzelten Fallen 
sind wobl auch der Pyocyaneus, der Gasbacillus und das Bacterium 
coli gefunden, wie denn iiberhaupt das Vorkommen anderer Mikro- 
organismen nicht geleugnet werden kann. 

In den anderen Fallen findet man bei einem sonst gesunden 
Organismus wohl am haufigsten den Frankelschen Pneumococcus. 
Wie bereits erwahnt, hat zuerst Weichselbaum 1 ) auf das Vorkommen 
des Pneumococcus in der Nase und ihren Nebenhohlen, sowie im 
Mittelohr hingewiesen und auf den Zusammenhang desselben mit den 
genuinen Meningitiden aufmerksam gemacht. Ortmann 2 ) teilte zu¬ 
erst einen Fall mit, in dem der Pneumococcus als Bewohner der 
Nasenhohle nach einer Kopfverletzung dem Triiger den Tod gebracht 
hatte. Netter 3 ) berichtet von einer Meningitis, hervorgerufen durch 
Pneumococcus, Streptococcus und Pyocyaneus im Anschluss an eine 
Schussverletzung des harten Gaumens. 

Auch den Meningococcus hat man nach stattgehabten Kopftrau- 
men als Erreger einer Gehirnentzundung gefunden. Marx 4 ), Schott- 
mttller 5 ), Goppert 6 ) teilen einige derartige einwandsfreie Falle 
mit, in denen eine Weichselbaumsche Meningitis wahrend einer 
Epidemie im Anschluss an eine Schadelfraktur entstanden ist. 

tber eine durch den Influenzabacillus verursachte traumatische 
Meningitis berichtet Curschmann 7 ). Er ist der Ansicht, dass die In- 
fektion mit Influenza auf dem Blutwege stattgefunden hat, und dass 
durch das Trauma, das mit einer Gehirnerschiitterung einherging, ein 
Locus minoris resistentiae geschaifen wurde, der den Mikroorganismen 

1) Fortschritte der Medizin 1887. 18. 19. 

2) Virchows Archiv 1890. 

3) Ref. Zentralbl. f. Bakt. 1890. S. 842. 

4) VierteljahrBschrift f. ger. Med. 1904. 

5) Deutsche med. Wochenschr. 190.1. 

6) Berl. kliu. Wochenschr. 1905. Klin. Jahrbuch 190(5. 15. 

7) Deutsche med. Wochenschr. 1904. 


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500 XXI. Hasche-Klunder, Bakteriolog. Befuod bei Meningitis cerebrospin. 

einen gttnstigen Boden zu ihrer Entwicklung bot. Uber ahnliche Falle 
von schwerer posttraumatischerlnfluenzameningitis berichten Freund 1 ) 
und Huismann 2 ). Im letzteren Falle wurde das Individuum erst 
16 Tage nach dem Schadelbruch infiziert. 

Am haufigsten sind wohl noch die Falle von posttraumatischer 
tuberkuloser Meningitis. In einem Yollkommen gesunden Organismus 
dtlrfte wohl durch das Trauma allein niemals eine tuberkulose Gehim- 
entzfindung erzeugt werden. Es milsste dann scbon sein, dass mit der 
Verletzung Tuberkelbazillen in die Wunde eindringen. In den anderen 
Fallen ist anzunehmen, dass die pathogenen Organismen bereits vor- 
ber im Korper, wenn auch nur in einem latenten, zur Zeit unschadlichen 
Zustande vorbanden waren, und dass das Trauma den Anstoss zu ihrer 
Verscbleppung oder Yermehrung gegeben hat. 

Gerichtsarztliche Bedeutung und zwar vor allem in strafrechtlicher 
Beziehung kann gelegentlich die Frage erlangen, ob das Trauma die 
einzige TJrsache der Meningitis, oder ob diese nicht vielmehr auf die 
spatere Wundbehandlung oder andere zufallig hinzukommende Um- 
stande zurfickzuffihren ist. Jn vielen Fallen wird eine Entscheidung 
dieser Frage nicht moglich sein. Denn selbst wenn pathogene Keime 
an dem Instrumente sich befinden, das die Verletzung verursachte, so 
ist die Moglicbkeit absolut nicht ausgeschlossen, dass dieselben erst 
nacb dem Trauma an demselben haften geblieben sind; es ist femer 
nicht unumganglich notwendig, dass gerade diese Keime die Krank- 
heitserreger sein mfissen; die Wunde kann auch hinterher infiziert sein. 

Wie diese Frage, so wird auch die Frage nach der traumatischen 
Meningitis fiberhaupt in einzelnen Fallen unentschieden bleiben mfissen. 
Eine genaue Krankengeschichte mit eingehenden Angaben fiber das 
Trauma, die ersten krankhaften Erscheinungen, den frfiheren Gesund- 
heitszustand des Yerletzten, sowie eine sorgfaltig ausgefuhrte Sektion, 
die auch die Nebenbohlen des Kopfes, der Wirbelsaule und eventuell 
die grossen Rohrenknochen beriicksichtigt, werden uns allerdings in 
den meisten Fallen in den Stand setzen, wenigstens eine Wahrschein- 
lichkeitsdiagnose zu stellen. 

1) Monatsschrift f. Unfnllheilkde. 1894. 

2) Deutsche hied. Woehensehr. 1899. 


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