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REICH: DER EINBRUCH DER SEXUALMORAL
WILHELM REICH
DER EINBRUCH
DER SEXUALMORAL
ZUR GESCHICHTE DER
SEXUELLEN ÖKONOMIE
ZWEITE ERGÄNZTE AUFLAGE
1936
VERLAG FÜR SEXUAL POLITIK. KOPENHAGEN, POSTBOX 827
Alle Rechte, insbesondere
die des Nachdruckes, vorbehalten.
Copyright 1935 by Verlag für Sexualpolitik.
Kopenhagen. ^ Druck; Universal
Trykkeriet, Kiabenhavn.
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
VORWORT ZUR I. AUFLAGE
Die vorliegende Untersuchung eines Abschnitts aus der Geschichte
der sexuellen Ökonomie will ein Stück Grundlage einer zielbewussten
Sexualpolitik sein. Es ist notwendig, mit einer Übersicht einzuleiten,
die den Werdegang der Fragestellung, die diesem Buch zugrunde liegt,
verständlich macht.
Von der Sexuologie zur Psychiatrie und Psychoanalyse gelangt, ge-
wann ich den stärksten Eindruck von den Möglichkeiten der kausalen,
also theoretisch wohlfundierten psychoanalytischen Therapie der see-
lischen Leiden, die so vorteilhaft von den rein intuitiven oder gar
den oberflächlichen Persuasionsraethoden der alten Schulen abstach.
War auch die psychoanalytische Therapie weit hinter der Theorie der
Neurosen zurückgeblieben, so ergab sich doch bei der ersten Ver-
trautheit mit dem Stoff eine Fülle von Möglichkeiten zur Verein-
heitlichung von psychologischer Theorie und psychotherapeutischer
Praxis. Man wusste doch, dass man eine Neurose verstehen musste,
um heilen zu können, und konnte sich darauf stützen, auch wenn der
therapeutische Alltag einen sehr oft mit Missgeschick bei den Heilungs-
versuchen überhäufte. Bald zeigte es sich, und zwar in dem Masse,
wie die therapeutischen Fragen theoretisches Interesse weckten, dass
es keinen besseren Zugang zum Verständnis der noch reichlich un-
gelösten Fragen der Neurosenentstehung gibt als die konsequente Ver-"
folgung der Frage: Wie kann die kranke psychische Apparatur in eine
gesunde verwandelt werden? Die Beobachtung des lebendigen Pro-
zesses der Wandlung der psychischen Mechanismen im Verlaufe einer
Behandlung war unausgesetzt von der Frage begleitet, wodurch sich
der psychisch Gesunde vom psychisch Kranken unterscheidet. Sie ent-
hüllte weitere Einblicke in die Dynamik der psychischen Apparatur.
^L^.JJ?'?? ursprüngliche Formel: die Neurose ist ein Produkt einer |
missglückenden sexuellen Verdrängung, die erste Voraussetzung ihrer
Heilung ist daher die Aufhebung der Sexual Verdrängung und die
Befreiung der verdrängten sexuellen Ansprüche, führte zur nächsten
Frage: Was geschieht mit den befreiten Trieben? In der psychoana-
VI VORWORT
i:
lytischen Literatur gab es im ganzen zwei Antworten auf diese Frage:
1. Die bewusst gewordenea Sexualwünsche lassen sich beherrschen oder
verfallen der Verurteilung. 2. Die Sublimierung der Triebe ist ein
wichtiger therapeutischer Ausweg. Von der Notwendigkeit der direkten
sexuellen Befriedigung war nirgends die Rede. Im Laufe mehrerer j
Jahre, die reichlich Erfahrungen brachten, konnte man feststellen, J
dass die überwiegende Mehrzahl der Kranken nicht über die Subli-
mierungsfahigkeit verfügt, die zur Heilung einer seelischen Krankheit
notwendig ist. Die Beherrschung und Verurteilung befreiter infantiler b
Trieb ansprüche erwies sich immer dann bloss als frommer Wunsch, '
wenn das Sexualleben nicht in Ordnung kam, das heisst, wenn die
Behandlung dem Kranken nicht die Fähigkeit gegeben hatte, be-
friedigenden und regelmässigen Geschlechtsverkehr aufzunehmen. Es
stellte sich bald nicht nur heraus, dass es keine Neurose ohne genitale
Störu ngen und grobe Zeichen der sexuellen Stauung gibt, dass also
die seelische Erkrankung durch die Fixierung kindlicher Sexualposi-
tionen die normale genitale Organisation und dadurch einen ge-
ordneten sexuellen Haushalt nicht zustande kommen lässt; die Her-
stellung der vollen genitalen Organisation und der genitalen
Befriedigung erwies sich vielmehr als der wesentlichste und
unerlässliche heilende Faktor. Ist doch die genitale Befriedigung
allein imstande, im Gegensatz zu den nichtgenitalen sexuellen An-
trieben die sexuelle Stauung zu beheben und dadurch den neurotischen
Symptomen die Energiequelle zu entziehen. War man einmal so weit,
glaubte man schon, den Schlüssel zur sexuellen Ökonomie und damit
zur Therapie der Neurose gefunden zu haben, so belehrten einen die
weiteren Erfahrungen, dass man zwar die genitale Organisation auch
bei manchen sehr schweren Fällen herstellen konnte, dass sich aber die
Umgebung, in der der Kranke und nun Genesende lebte, sein er Heilung
widersetzte. Das geschah und geschieht in den verschiedensten For-
men. Das unverheiratete 17- oder 18jährige Mädchen war betreffs
Keuschheit aufs strengste bewacht, wenn sie einem bürgerlichen
Elternhause entstammte, oder die sozialen Verhältnisse waren so
desolat im Falle des proletarischen Mädchens (Wohnungsfrage, Emp-
fängnisverhütungsfrage, sehr oft streng moralische Einstellung auch
der proletarischen Eltern), dass der mühsam aus der Neurose sich
herausarbeitende Kranke vor den Schranken, die die Gesellschaft dem.
Sexualleben zieht, in die vielen Bequemlichkeiten seiner Neurose
zurückfliehen konnte. Er war an der sexuellen Versagung in der Kind-
heit gescheitert und konnte jetzt wegen der äusseren sexuellen Ver-
sagung nur mit Mühe oder gar nicht zur Genesung gelangen. Der Fall
lag kaum anders bei der unglücklich verheirateten Frau, die ökono-
misch vom Manne abhängig war oder Rücksicht auf Kinder zu neh-
men hatte. Bald stellte es sich auch heraus, wie schwer es für einen
in Heilung begriffenen neurotischen Menschen ist, einen geeigneten
Die Sexualmoral als Hiodernis der Psychotherapie Vtl
Partner zu finden. Die Potenzstörungen und sexuellen Rücksichtslo-
sigkeiten der Männer, die sexuellen Störungen und charakterlichen
Verbiegungen der Frauen, die als Partner im Sexualleben das Hei-
lungswerk der Behandlung vollenden soHten, wurden ein neues Pro-
blem. Es wurde klar: Die gleichen gesell sehaftlicben Bedingungen,
die seinerzeit im Kindesalter die Neurose geschaffen hatten, wider-
setzten sich jetzt beiin Erwachsenen, wenn auch in anderer Form,
seiner Genesung. Dazu kam die zuerst merkwürdig anmutende Kritik,
die meine Behauptung, ohne die Herstellung eines befriedigenden Ge-
schlechtslebens gäbe es keine Gesundung von einer Neurose, bei den
Kollegen hervorrief. Man wehrte sich dagegen, schob die Sublimierung
oder die Notwendigkeit der Resignation auf sexuelles Glück als wesent-
lichen Faktor in den Vordergrund, kurz, man spürte immer mehr:
Hier wirkte die gesellschaftliche Schranke. Und die Vernachlässigung
dieses Problemgebietes in der bisherigen Fachliteratur schien sich an-
gesichts der Vordringlichkeit der klinischen Tatsachen aus den glei-
chen Motiven zu erklären: Die kons equ en te kausale The-
rapie der Neurosen forderte in d e^n^TlTeFrn eTs t en
Fällen Ü berwindung der gesetzten gesellschaf t-
Uchen Moral seitens des Patienten. Davor schreckte man
zurück. Und die wiederholte, jahrelang fortgeführte Kontrolle der
therapeutischen Formel brachte imm er wie der das Ergebnis : die Neu-
rose i st ein Produkt der Sexualverdrängung und der Stauung der
sexuellen Energie, ihre Heilung setzt Aufhebung der Verdrängung und'
gesundes Geschlechtsleben voraus; und alles, worauf man im gesell-
schaftlichen Leben sliess, widersprach der praktischen Durchführung
dieser strengen Forme!.
Dazu kam die Schwierigkeit, dass die überwiegende Mehrzahl der
Menschen unserer Kulturkreise mit sexuellen und neurotischen Stö-
rungen verseucht ist; und da die einzige kausale Therapie, die Psy-
choanalyse, sehr lange Zeiträume beansprucht, ergab sich die Frage
der Neurosenprophylaxe von selbst. Es hatte wenig Sinn, der indi-
viduellen Therapie die ganze Aufmerksamkeit zu schenken; man
musste sich nur wundern, dass die Frage der Neurosenprophylaxe
nicht einmal angeschnitten war, und wenn dies gelegentlich der Fall
war, mit allgemeinen Redensarten erledigt wurde. Es kam also auf
die Frage an: Wie sind Neurosen zu verhüten? Die offizielle Psycho-
pathologie hielt nach wie vor, trotz Freud, an der Erstrangigkeit der
hereditären Ätiologie fest. Dass diese falsche und fruchtlose An-
schauung soziologisch begründet ist in der Notwendigkeit der bürger-
lichen Wissenschaft, insbesondere der Hereditäts lehre, von den Aus-
senweltbedingungen abzulenken, wurde durch das Studium der Marx-
schen Soziologie später vollends klar.
Zu Marx führte ein gerader W eg, nachdem man einmal die sexuel-
len Daseinsbedingungen des Menschen als Verursacher der Neurosen
VIII VORWORT
in der Kindheit und als die erschwerenden Faktoren der Heilung später
erkann t hatte. Das Problem zerfiel in einige getrennte Fragestellun-
gen. Freud hatte im Konflikt des Kindes mit den Eltern, insbeson-
dere in seinen sexuellen Anteilen, im Ödipuskomplex, das Kernelement
der Ätiologie der Neurosen erkannt. Warum wirkte die Familie in
dieser Weise? Die Neurose entsteht aus dem Konflikt zwischen Sexua-
»Htat und versagender Aussenwelt. Die Sexual Verdrängung kommt also
I ^.^_^^'" Gesellschaft. Die Familie und die ganze Erziehung setzt die
^ Sexualverdrängung mit allen Mitteln durch. Warum geschieht das?
Welche gesellschaftliche Funktion hat die Familien-
erziehung und die vo n ih r bewirkte Sexualverdrän-
gung?
Freud behauptete, die Sexualverdrängung sei die wichtigste Vor-
aussetzung der kulturellen Entwicklung; Kultur baue sich auf ver-
drängter Sexualität auf. Eine Zeitlung könnte man sich damit zu-
frieden geben, aber man konnte auf die Dauer nicht übersehen, dass
der sexuell kranke Mensch und der Neurotiker in kultureller Hinsicht
lange nicht an den sexuell freien, gesunden und befriedigten heran-
reicht. Von der Klassenfrage war man noch weit entfernt. Aber die
Behandlung von Arbeitern und Angestellten am psychoanalytischen
Ambulatorium brachte die so völlig verschiedene Welt des Proletariats
näher, ein sexuelles und materielles Leben, das sonderbar abwich von
der Umgebung, die man in der Behandlung der gut zahlenden Privat-
patienten kennen lernte: andere sexuelle Anschauungen und doch
daneben die gleichen, die man beim Bürger fand. Vot allem verblüffte
die den Proletarier ebenso wie den Bürger sexuell und auch sonst
zerrütt^ndjLj'amilienerzichung. Und die Psychoanalyse hatte bisher
so wenig, und wenn, so völlig unzureichende und müde Kritik, an
dieser Erziehung geübt. Die tägliche Erfahrung aber zeigte, dass die
Psychoanalyse das schärfste Instrument zur Kritik der Sexualerzie-
hung war. Warum wurde es nicht benützt? E^ konnte nicht stimmen,
dass diese Erziehung, dieses Zerbrechen der kindlichen Sexualität,
dieses Elend der Pubertäts jähre, die sexuelle Unterdrückung in der
Ehe, mit einem Worte, dass alle Erscheinungen der Gesellschaft, die
die Sexualverdrängung in den einzelnen Menschen durchsetzen und
eine Volksseuche schufen, Vorbedingung der kulturellen Entwicklung
sein sollten. Am psychoanalytischen Ambulatorium und an der psy-
chiatrischen Klinik bekam man die seelischen Störungen en masse
zu Gesicht. War man nicht durch den Beruf einseitig eingestellt wor-
den? Man begann, die nähere und weitere Umgebung, in der man
lebte, abzusuchen, überall, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen,
die gleiche Verzerrung des Sexuallebens, die gleiche Seuche der Neu-
rosen in verschiedensten Abwandlungen, hier als Hemmung der Ak-
tivität eines talentierten Menschen, dort als Ehegezänk, an anderer
Stelle als Charakterverbiegung, und überall Sexual Störungen, Symp-
Neurosenseuche und Familienerziehung ix
tom- und Gharakterneurosen, auch bei Menschen, hei denen man sie
nie vermutet hätte. |;jieaj_d hatte recht mit seiner Behauptung, dass
er die ganze Menschheit zum Patienten hahe. Er halte die Neurose
klinisch verstehen gelehrt, aber keine Konsequenzen gezogen. Aus
welchem gesellschaftlichen Grunde also wurden die Menschen zu
Neurotikern gemacht? War es immer so gewesen?
Es dauerte geraume Zeit, bis sich der Satz: die Sexual Verdrängung
kommt aus der Gesellschaft, nach Ablehnung des Freudschen: sie
gehört zur kulturellen Entwicklung der Gesellschaft, zur weiteren
Frage ausbaute : »Welches Interesse hat die Gesell-
schaft an der Sexualverdrängung?«: Die Soziologie gab
keine Antwort ausser dem stereotypen »Kultur braucht Sittlichkeit«.
Bei Marx und Engels eröffnete sich endlich eine Fülle von Ein-
blicken in das Getriebe unseres materiellen Seins und man musste
zunächst staunen, dass man Mittel- und Hochschule absolviert hatte,
ohne je davon gehört zu haben. Später begriff man es ja.
Klasseninteresse und Klassenkampf bestimmen also unser gegen-
wärtiges Dasein, auch die Philosophie, auch die Wissenschaft; hinter
ihrer »Objektivität« wirkt Klasseninteresse. Die Moral ist ein jeweils
entstehendes und vergehendes gesellschaftliches Produkt und steht
im Klassenstaat im Dienste der herrschenden Klasse. Engels' »Ur-
spr pfig..j der Familie« führte in die Ethnologie. Die Moral hat sich
also aus bestimmten anderen Formen entwickelt und die Familie
stand nicht, wie behauptet wurde, am Ursprung der Zivilisation.
Morgan befriedigte durch seine historischen Neuentdeckungen. Aber
seine Befunde und die gesamte Konzeption der Marx-Enge Isschen
Theorie widersprachen »Totem und Tabu« in der Grundauffassung des
gesellschaftlichen Prozesses. Klaxx_ behauptete, dass die materiellen
Daseinsfaedingungen ^fortlaufend die Wandlung der moralischen An-
schauungen bestimmen, was sich aus jedem Alitagserlebnis klar be-
stätigte. Freud leitete die Moral aus einem einmaligen Geschehnis
aus dem Urvatermord ab, dort sollte das Schuldgefühl in die Welt
gekommen sein; dieses Ereignis sollte die Herkunft der Sexualver-
drängung erklären. Er erklärte zwar die Sexualverdrängung au s einem
gesellschaftlichen Ereignis, aber dieses Ereignis war nicht aus den
Seinsbedingungen abgeleitet, sondern nur aus der gewalttätigen Eifer-
sucht des Urvaters. Diese Frage erwies sich als der kardinale Punkt
der gesamten Fragestellung. Sie blieb in engster Verbindung mit dem
praktischen Interesse an der Neurosenprophylaxe. Wenn Freud ^
recht hatte, wenn die [Sexualunterdrückung und Tr iebeinschränkung i
zur Entwicklung der Zivilisation und Kultur überhaupt gehörtenj I
wenn weiter, woran kein Zweifel war,|die Sexualunterdrückung die J
Neurosen en masse schuf.^so stand die Angelegenheit der Neurosen-
prophylaxe hoffnungslos. Wenn aber die Ma rx sehe Soziologie ■)
recht behielt, dass die Moral_sich_nnt_der ökonomischen Ordnung ^
X VORWORT
wandelt, wenn Morgan und Engels eine richtige Darstellung der |
Geschichte der Familie gegeben hatten, so musste sich Ja die Moral
wieder einmal wandeln und damit konnte auch die Frage der Neuro- (
senprophylaxe und im weiteren auch die Frage der sexuellen Verelen- [
düng zu einer Lösung kommen. Konnte — , musste aber nicht, denn
es blieb fraglich, ob die weitere Wandlung der Moral eine den Anfor-
derungen der sexuellen Ökonomie entsprechende sein würde.
Man musste, um sich über die Soziologie der Perversionen, der
Störungen, der sexuellen Dissozialität zu unterrichten, das reale :
Sexualerleben des Primitiven kennenlernen. Die sexuologische und ^
ethnologische Literatur gab eine Überfülle an Berichten; es stand fest,
manche primitiven Völker lebten anders, andere aber sollten die glei- ^
chen moralischen Anschauungen, besonders betreffs Ehemoral, wie '
unsere Kulturkreise haben. Es ergab sich keine Lösung, denn die Be-
richte widersprachen einander, waren verzerrt durch moralische Wer-
tungen oder sie offenbarten den lebhaften Wunsch der Autoren,
unsere moralischen Satzungen zu rechtfertigen, sei es, dass die einen,
wie etwa Westermarck, die Ewigkeit der Familien- und Eheord-
nung zu beweisen versuchten, sei es, dass die anderen unseren »Fort-
schritt« über das »wilde« Stadium und die »Zügellosigkeit« priesen
(Ploss u. a,). Aber daneben gab es lyrische Berichte über das
sexuelle Paradies der Primitiven gleichzeitig mit dem Jammern der
wissenschaftlichen und ethischen Literatur über den Niedergang der
Moral unserer Zeit. Die Eindrücke waren zunächst nur verwirrend.
Fest stand nur, dass das Gros der ethnologischen Literatur moralisch
befangen war, dass die Primitiven, jedenfalls manche von ihnen, an-
dere Anschauungen hatten und die Sexualität anders erlebten, und
dass das Proletariat neben der bürgerlichen Sexualmoral ebenfalls
eigene, von den bürgerlichen verschiedene Ansichten produzierte.
Es lag gewiss nahe, genaue Ken ntnis von der Umwälzung der
sexuellen Ideologien in dem Arbeiter- und Bauernstaat Sowjetrussland
erlangen zu wollen. Die bürgerliche Presse jeder Art tobte über den
Untergang der Kultur und der Moral durch die soziale Revolution. Der
Wortlaut der sowjetislischen Sexualgesetzgebung verblüffte dagegen
durch seine Selbstverständlichkeit und Einfachheit, durch seinen
kompletten Gegensatz zur bürgerlichen Sexualgesetzgebung und durch
den Mangel jedes Respekts vor den bisher meist behüteten »Errungen-
schaften der Kultur« und der »sittlichen Natur« des Menschen. Ab-
treibung freigegeben, ja legalisiert, staatlich befürsorgte Empfängnis-
verhütung, sexuelle Aufklärung der Jugend, Abschaffung des Be-
griffs »unehelich«, praktische Aufhebung der Ehe, Aufhebung der
Strafe für Inzest, Beseitigung der Prostitution, wirkliche Gleichstel-
lung der Frau und vieles andere, welches klar zeigte: Die Moral
wandelte sich, und zwar im Sinne der Sexualbeja-
h^ n g, also der völligen Um kehru ng des bisherige n . Aber die bürger-
Wandlung der Sexualnioral und Widersprüche XI
liehe Presse und Wissenschaft rasten weiter wegen des »Niederganges
der Kultur«. Hatte also Freud mit seinem Satze doch recht? Ein
Besuch in der Sowjetunion lehrte auf den ersten Blicli, dass nicht nur
von Untergang der Kultur lieine Rede war, sondern dass sich merk-
würdigerweise drüben eine moralische Atmosphäre liundgab, die zu-
nächst asketisch anmutete. Keine sexuelle Aufdringlichkeit auf der
Strasse, alles zurückhaltend, ernst, die Prostitution zwar noch vor-
handen, aber im Stadtbild nicht zu bemerken, hier und dort am Abend
Pärchen auf den Bänken, aber lange nicht wie in Wien oder Berlin.
In den geselligen Zusammenkünften Mangel sexueller Anspielungen!
und Zoten, die unsere verschiedenartigen Zirkel kennzeichnen. Dazu i
sonderbare Anekdoten: W^agt es ein Mann, eine Frau nach Art un-
serer Gegenden auf das Gesäss zu schlagen oder in die Wange zu
kneifen, so kann er leicht, wenn er Parteiangehöriger ist, vor das Par-
teigericht kommen; aber die Frage, ob man sexueller Partner sein
wolle, werde immer mehr offen und unumwunden gestellt; sexuelle
Gemeinschaft ohne Kniffe, Sexualität der Frau Selbstverständlichkeit.
Eine Bekannte im achten Monat der Schwangerschaft, aber noch nie
hat sie jemand nach dem Vater des Kindes gefragt. Eine Familie
nimmt einen Gast auf, der Raum reicht nicht aus, worauf die sech-
zehnjährige Tochter vor den Eltern offen und freimütig sagt: »Ich
werde zu X. (ihrem Freund) schlafen gehen.« Zwei Komsomolzen
melden sich beim Alimentenamt mit der Bitte, beide zur Zahlung zu
verpflichten, denn sie hätten beide mit dem Mädel geschlafen und
kämen also beide als Väter in Betracht. In den Kliniken für Geburts-
hilfe offizielle Schwangerschaftsunterbrechung. Im Kulturpark ganz
öffentlich, jedem Jugendlichen zugänglich, Tabellen und Bildtafeln
über Zeugung, Geburt, Schwangerschaftsverhütung und Geschlechts-
krankheiten. Daneben bei den alten bürgerlichen Ärzten die gleiche
Sexualscheu wie bei uns, die Sexuologie noch vielfach in Händen von
moralisierenden und sexual psycho logisch ungebildeten Urologen und
Physiologen. Widersprüche, aber die Gesamtheit verändert, und zwar
sexualbejahend, mit selbstverständlicher Einstellung zu diesen Fragen,
nur in manchen Kreisen der Akademiker und älteren Staatsfunktio-
näre die alte Art bis zur pfäffischen Ehemoral. Eine deutliche Ver-
änderung, noch weit entfernt von endgültigen Formen, aber klar die
ökonomischen Umrisse einer künftigen sexuellen Hygiene der Massen
offenbarend in den grandiosen wirtschaftlichen Anstrengungen, die
Gesamtheit der Gesellschaftsmitglieder durch Steigerung des Lohnes
und durch Verkürzung der Arbeitszeit sowie durch kulturelle Massen-
bildung und Kampf gegen die Religion auf ein hohes kulturelles (
Niveau zu heben.^) Trotz dieser Wandlung im objektiven sexuellen Sein
1) (1934.) Dieser Prozess sticss seither auf schwere Hindernisse und machte teil-
weise einer Rückentwicklung zu bürgerlichen Regelungsversuchen Platz. Die
Behandlung der sowjctistischen Scxualöhonomie ist einer kommendeo ausführ-
lichen Untersuchung vorbehalten.
XII VORWORT
wurde der Mangel einer entsprechenden Sexualtheorie deutlich spür-
bar. Die Psychoanalyse wurde wegen ihrer falschen soziologischen
Extratouren und wegen mancher reaktionären Publikation von Ana-
lytikern abgelehnt; sie hatte ja auch von den grossen Umwälzungen,
die hier vor sich gingen, keine Kenntnis genommen. In den letzten
Jahren hatte ferner innerhalb der Psychoanalyse ein deutlicher Rück-
zug von der strengen und umwälzenden Libidotheorie stattgefunden.
Mit Freuds ersten Arbeiten über das Ich und den Destruktionstrieb
setzte eine Flut von Versuchen ein, die Neurosentheorie zu cntsexua-
lisieren und in die Terminologie der Theorie vom Todestrieb zu über-
setzen; es entstanden auch Theorien, die den Ursprung des Leidens
in einem biologischen »Willen zum Leiden«, im Strafbedürfnis und
im Todestrieb, suchten, statt in den äusseren Bedingungen des Daseins.
Man konnte als überzeugter psychoanalytischer Kliniker diesen Um-
schwung nicht mitmachen, weil die Klinik klar dagegen sprach und
die Marxsche Soziologie das Verständnis dieses Umschwungs ermög-
lichte: Die Psychoanalyse, ursprünglich eine revolutionäre Sexual-
Jheorieund Psychologie des Unbewussten, begann sich, was die Sexual-
theorie anlangt, den bürgerlichen Daseinsbedin gungen anzupassen und
£^|tJ>.Hrg^^ich gesellschaftsfähig zu werden.
Man konnte nicht behaupten, dass man in der Sowjetunion den
revolutionären Charakter der psychoanalytischen Sexualtheorie er-
kannt hatte oder dass man sie wegen ihrer Verbürgerlichung ablehnte,
aber die letzte erschwerte zumindest ihre Anerkennung. Die verschie-
denen marxistischen Kritiker der Psychoanalyse übersahen, abgesehen
von ihrer sachlichen Unorientiertheit. den Wandel in der Theoriebil-
dung der Psychoanalyse, der sie aus einer angefeindeten in eine den
Burger begeisternde Disziplin verwandelte. So wie die marxistischen
Gegner mit der Ablehnung der soziologischen Exkurse der Psychoana-
lyse auch ihre klinische Psychologie verwarfen, so bejahten marxisti-
sche Freunde die psychoanalytische Soziologie, weil ihnen die klini-
sche Psychologie einleuchtete. Da es ausser der psychoanalytischen
Sexualtheorie, die abgelehnt wird, keine befriedigende Lehre von der
Sexualität gibt, vollzieht sich die Wandlung des Sexuallebens in der
Sowjetunion weit unbewusster, von subjektiver Lenkung weit weniger
beeinflusst, als etwa die Wandlung in anderen Fragen des kulturellen
Seins. Wie klar und zielbewusst vollzieht sich dagegen die Vernichtung
der Religion durch naturwissenschaftliche Aufklärung der Massen und
durch die aufblühende Technik, die in den Händen der Werktätigen
liegt! Auf Grund der ärztlichen Erfahrungen war klar, dass die
sexuelle Erziehung in Kindheit und Jugend ohne die analytisch ent-
deckten Tatsachen einen schweren Stand haben würde. Dabei fiel
auf, dass die sexuell freiere Atmosphäre es manchen massgebenden
Stellen ermöglicht hatte, viele von den Tatsachen zu sehen, die die
Psychoanalyse entdeckt hatte, etwa die Umsetzung sexueller Energie
e;
Erste scxualpolitische Erfahrungen XIH
in Arbeitsinteresse (Subliniierung — »Pereklutschenie«) ; auch die
Tatsache der kindlichen Sexualität war hier und dort bekannt, aber
die Psychoanalyse wurde abgelehnt. In der Diskussion nach einem
Vortrage am neuropsychologischen Institut in Moskau sagte ein hoher
Funktionär des Volksgesundheitsamles, dass man auf eine brauch-
bare Theorie der Prophylaxe der Neurosen warte. Ich musste leider
feststellen, dass es eine solche noch nicht gibt. Es stand aber fest,
dass sie erarbeitet werden muss, und zwar medizinisch ebenso wie
soziologisch.
Mit den ermutigenden und belebenden Eindrücken aus der Sowjet-
union zurückgekehrt, ging ich an die Aufgabe heran, den aktuellen
politischen Sinn der Sexualunterdrückung im Kapitalismus durch
praktische Arbeit im engen Kontakt mit der proletarischen Bewegung
festzustellen. Bald ergab sich, dass die Elie- und Familieninstitution
der fixe Punkt jst,jun_den^ichji^rjvlaj^enkanipr auf sexuell em Ge-
biet, vorwiegend nöcli unterirdisch, dreht und an dem die bürger:
Jiche_Sgxual Wissensc haft u nd Soxualreform scheitert. Eine~Skizze
dieser Frage und ihrer Lösung wurde in einer Schrift »Geschlechts-
reife, Enthaltsamkeit, Ehemoral. Eine Kritik der bürgerlichen Sexual-
reform« (Münsterverlag 1930), entworfen. Das für die künftigen
sexualsoziologischen Arbeiten vielleicht wesentlichste Ergebnis der
politischen Arbeit war, dass die Sexualunterdrückung eines der kar-
dinalen ideologischen Mittel der herrschenden Klasse zur Unterjo-
chung der werktätigen Bevölkerung ist, und dass die Frage der sexuel-
len Not der Massen nur von der proletarischen Massenbewegung selbst
gelöst werden kann, und zwar im Rahmen des revolutionären
Kampfes gegen die wirtschaftliche Ausbeulung. Weniger erfreulich
war die Überlegung, dass die endgültige Aufhebung der Wirkungen
jahrtausendealter Sexualunterdrückung und die Einrichtung eines
befriedigenden, die Neurosenseuche auITiebenden Sexuallebens der
Massen erst dann möglich sein würden, wenn die sozialistische Wirt-
schaft in der Welt hergestellt, gefestigt und die materielle Versorgung
der Bevölkerung gewährleistet sein wird.
War so der Rahmen für die weitere Arbeit geschaffen, so musste
man sich auf eine schwierige theoretische Arbeit an den Grundlagen
der sexuellen Ökonomie vorbereiten. Sie durfte keinen Augenblick
den Kontakt mit der Klinik und der proletarischen Bewegung verlie-
ren, sollte sie nicht Gefahr laufen, in leerem Herumtheoretisieren zu
versanden. Man musste ja auch mit der Verwurzelung der Sexual-
unterdrückung in den unterdrückten Massen selbst rechnen und hatte
noch keinen richtigen Überblick über die Reaktionsart der verschie-
denen Schichten der Bevölkerung auf die Anfrollung dieser Frage,
zumal der Kernpunkt des Problems unzweifelhaft auf dem Gebiete
der Ehe und Familie und des Sexuallebens der Kinder und Jugend-
lichen lag. Die mehrjährige Erfahrung durch Arbeit auf sexualpoliti-
XIV VORWORT
schein Gebiet und in eigens dazu gegründeten Sexualberatungsstellen
überzeugte davon, dass die Massen auf Antwort in dieser Frage ebenso
brennend warten wie in der des unmittelbaren nialeriellen Lebens.
Gegenwärtig überzieht sich Deutschland mit einer jungen, aber ent-
schlossen sexualpolitischen Bewegung unter revolutionärer Führung.
Der V ersuch, die Frage der Sexualstörungen und Neurosen histo-
risch zu klären, wäre fast daran gescheitert, dass die bisherige eth-
nologische Literatur auf die inneren Erlebnisweisen, auf den Charak-
ter der Sexualbefriedigung und auf die Frage der Neurosen keine
Rücksicht genommen hatte. Wollte man sich etwa auf Bücher in der
Art der »indischen Liebeskunst« von R. Schmidt stützen, so stellte sich
bald heraus, dass sie unbrauchbar waren, weil sie Ratschläge und_
keine Beschreibung des Sexuallebens der fremden Völker gaben, auch
auf die Zusammenhänge des Sexuallebens mit der Wirtschaft keine
Rücksicht nahmen. Die übrige Literatur, die diese Zusammenhange
darzustellen suchte, wie bei Cunow, Müller-Lyer und anderen,
verharrte bei der Betrachtung der äusseren Formen der Ehe und Fa-
milie, drang nicht bis zur sexuellen Funktion und zum realen Sexual-
erleben vor. überdies konnte man sich vertrauensvoll doch nur auf
die Morgan-Engelssche Theorie stützen. Da erregten die Forscliungen
M a 1 i n o w s k i s, des englischen Ethnologen, die Aufmerksam keit
dadurch, dass sie den Zusammenliang der Sexualformen und der Wirt-
schaft mit denen des sexuellen Lebens bei mutterrechtlichen Primi-
tiven herstellten und das lange erwartete und gesuchte Material über
das reale Sexualerleben mit Einbeziehung der Neurosenfrage brachten.
Seine Entdeckungen übertrafen alle Erwartungen.
Auf Grund dieses neuen Materials, das als direkte Fortsetzung der
Morgan-Engelsschen Forschungen imponierte, konnte man
es wagen, an die ethnologische Seite des Problems der sexuellen Öko-
nomie heranzugeben. Die Ergebnisse bringt die vorliegende Schrift.
Ich hoffe, dass mir in Details keine groben ethnologischen Schnitzer
unterlaufen sind. Sollte dies doch der Fall sein, so kann ich nur er-
suchen zu bedenken, dass ich nichts anders tun konnte, als mich auf
die erreichbare ethnologische Literatur zu stützen, da mir die Mög-
lichkeit persönlicher ethnologischer Forschung, bisher wenigstens^
nicht gegeben war. Ich hätte eine solche Möglichkeit mit Freuden er-
griffen. Überdies kann ich nicht verhehlen, dass ich, vorausgesetzt,
dass meine historische Grund au ffassung der sexuellen Ökonomie
richtig ist, einige Fehler in Details nicht gar zu tragisch nehmen
könnte, da mich das Studium der ethnologischen Literatur überzeugt
hat, dass Fachwissen nicht vor groben Irrtümern in Fragen des Ge-
schlechtslebens schützt.
Berlin, im September 193L
Wilhelm Reich.
VORWORT ZUR IL AUFLAGE
Die seit dem Erscheinen der ersten Auflage verflossene Zeit brachte
zu den hier vertretenen Anschauungen zwei wichtige Bestätigungen:
erstens die familienpolitischen Massnahmen des Nationalsozialismus
in Deutschland, die sich der patriarchalischen Ideologie des Faschis-
mus und seiner Art, sich gesellschaftlich zu reproduzieren, restlos ein-
fügen; ich behandelte sie in einer mittlerweile erschienenen Schrift
»Massenpsychologie des Faschismus« (Verlag für Sexualpolitik, Kopen-
hagen 1934, II. Aufl.) ; zweitens die Ergebnisse der flofte im 'sehen
Expedition, die die Theorie vom Einbruch der Scxualmoral in die
primitive Kultur auf eine breitere empirische Basis stellen, als es
bisher möglich war; sie tun es freilich ohne den Willen Roheims,
ja gegen seine eigene theoretische Grundposition. Dies nachzuweisen^
ist die Aufgabe des »Nachtrags«.
Im übrigen erscheint die Schrift wenig verändert.
Im November 1934.
Wilhelm Reich.
ERSTER TEIL
DIE HERKUNFT
DER SEXUALVERDRÄNGUNG
I. KAPITEL
^ DIE SEXUELLE ÖKONOMIE IN DER
MUTTERREGHTLIGHEN GESELLSCHAFT
Vor kurzem erschien von dem englischen Professor der Ethnologie,
Bronislav Malinowski, der mehrere Jahre auf den Trobriand-
Inseln in Nordwest-Melanesien die mutterrechtlichc Organisation der
Trobriander studiert hatte.ein ausführlicher Bericht über das Sexual-
leben dieser Primitiven^).
Wir verdanken diesem Autor nicht nur die erste derartige, sondern
auch die gründlichste Beschreibung der sexuellen Verhältnisse im
Zusammenhang mit den wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen,
die wir im zweiten Kapitel wiedergeben werden. Wo Malinowski
nicht ausdrücklich zitiert ist, liegen die Ergebnisse meiner eigenen
Analyse vor, die sich auf seine Forschungen stützen. Diese ermögli-
chen uns, den ethnologischen Beweis für einige Gesetze der
sexuellen Ökonomie zu führen.
Die sexuelle Misere in der privalwirtschaftlich-patriarchalischen
Gesellschaft ist eine Folge der zu ihr gehörigen Sexual Verneinung und
-Unterdrückung, welche zunächst sexuelle Stauungen bei allen ihr
junterworfenen Individuen und auf diesem Wege Neurosen, Perver-
sionen und Sexualverbrechen erzeugt. Daher muss eine Gesellschaft,
die kein Interesse an der Sexualunterdrückung hat, oder historisch
betrachtet, solange und insofern sie es nicht hat, frei sein von sexueller
Misere. Wir können dann sagen, die Mitglieder dieser Gesellschaft
leben sexuell ökonomisch, was keine Wertung, sondern den
Tatbestand meint, dass sie einen geordneten sexuellen Ener-
giehaushalt haben.
Wir werden dann zu untersuchen haben, wie sich das Sexual-
1) »Das Sexualleben der Wilden in Nordwest-Melanesien«, Grethlein, 1930. Von
dem gleichen Autor erschienen noch folgende hier benützte Werke: »Sex and
Repression in Savage Society« (1927) und »Crime and Custom in Savage
Society (1926), beide Kegan, London.
»Der ungeordnete und sozusageu launenhafte Verkehr dieser frühen Jahre
festigt sich im Heranwachsen zu dauerhafteren Beziehungen, die sich später zu
festen Verhältnissen entwickeln.« (S. 38).
»Die Freiheit und Unabhängigkeit des Kindes erstreckt sich auch auf das
sexuelle Gebiet. Zunächst einmal höreu und sehen die Kinder vieles vom Ge-
schlechtslehen der Älteren. Da das Haus der Eltern nicht die Möglichkeit bietet,
sich abzuschl Jessen, hat das Kind Gelegenheit, aus eigener Anschauung sich über
den Geschlechtsakt zu informieren. Es wurde mir mitgeteilt, dass Kinder durch
keinerlei besondere Vorkehrungen daran verhindert werden, den geschlechtlichen
Vergnijgungen ihrer Eltern zuzuschauen. Das Kind wird nur ausgezankt und an-
gewiesen, den Kopf unter die Malte zu stecken.« {S. 40).
Diese Mahnung hat nicht das geringste mit Sexual Verneinung zu
tun, sondern bedeutet bloss eine Massnahme zur Fernhaltung einer
Störung der Koitierenden. Die Kinder können sich gegenseitig be-
schauen und sonst sexuell spielen, soviel sie wollen. Hervorzuheben
ist. dass trotz oder besser gerade wegen der sexuellen Freiheit in der
Kindheit Voyeurtum als Perversion nicht vorkommt. Daraus können
alle Ängstlichen lernen, wenn sie nicht schon durch die psychoanalyti-
sche Erforschung der Perversionsentstehung überzeugt wurden, dass
Freiheit des sexuellen Partialtriebes in der Kindheit nicht an sich,
sondern erst unter der Bedingung sonstiger Sexual Verdrängung zur
Perversion führt. Weiter:
»Knabeo und Mädchen haben reichlich Gelegenheit, sich von Ihren Gefährten
IQ erotischen Dingen unterweisen zu lassen. Die Kinder weihen sich gegenseitig
in die Geheimnisse des Geschlechtslebens ein auf durchaus praktische Art und
Weise und in sehr frühem Alter. Lange, ehe sie imstande sind, den Geschlechtsakt
wirklich auszuführen, beginnt ihr frühzeitiges Liebeslchcn. In ihren Spielen und
Zeitvertreiben befriedigen sie ihre Neugier nach Aussehen und Funktion der Ge-
schlechtsorgane und erleben dabei, wie es den Anschein hat, ein gewisses Lust-
gefühl. Abtasten der Geschlechtsorgane und leichte Perversionen, wie etwa orale
Reizung der Organe, sind typische Arten dieser Vergnügungen. Es heisst, dasa
kleine Mädchen und Knaben häufig von ihren etwas älteren Geschwistern ein-
geweiht werden, die sie bei ihren eigenen Liebeständeleien zuschauen lassen.
4 Die sexuelle Ockonomie in der mutterrechtlichen Gesellschaft
leben ordnet und nehmen hier vorweg, dass es sich durch die
sexuelle Triebbefriedigung reguliert und nicht durch mo-
ralische Normen. Wir sind darauf vorbereitet, in der sexuellen Lebens-
weise der Trobriander ungefähr das gerade Gegenteil von der der
Mitglieder unserer Gesellschaft vorzufinden: ungestörtes Sexualleben
der Kinder und der heranwachsenden Jugend und volle Befriedigungs-
fähigkeit der genital Herangereiften, das heisst orgastische Potenz
der Masse der Individuen.
1. DAS SEXUALLEBEN DER KINDER BEI DEN i
TROBRIANDERN
Beginnen wir mit der Kindheit und hören wir Malinowski
selbst. Die Eingeborenen haben ihre ersten geschlechtlichen Erlebnisse t
in sehr frühem Alter.
i
Das Geschlechtsleben des Kindes
Allein von dem Grad ihrer Neugier, ihrer Reife und ihres ,Temperainentes' oder
ihrer Sinnlichkeit hängt es ab, wie sehr oder wie wenig sie sich geschlechtlichem
Zeitvertreib hingeben, denn sie sind durch keinerlei elterliche Autorität gezügelt
und durch keinen Sittenkodex gebunden, abgesehen von dem besunderen Stam-
mes -Tabu,
Die Erwachsenen, ja, sogar die Eltern, verhalten sich gegenüber solch kind-
licher Hemmungslosigkeit entweder völlig gleichgültig oder durchaus wohlwollend
— sie finden es natürlich und sehen nicht ein, warum sie einschreiten sollten.
Meistens bekunden sie eine Art nachsichtiges, belustigtes Interesse und erörtern
die Liebesaffären ihrer Kinder im leichten Scherzton. Oft habe Ich im wohl-
^'ollcndeu Geplauder Aussprüche wie etwa die folgenden gehört: ,Die und die —
(ein kleines Mädchen) hat schon Verkehr gehabt mit dem und dem — (einem
kleinen Jungen)'; und wenn es sich gerade so trifft, wird etwa hinzugefügt, es
sei ihre erste Erfahrung. Wird der Liebhaber gewechselt oder spielt sieh sonst
ein kleines Liebesdrama in der Welt der Kleinen ab, so erörtert man es halb
ernst, halb scherzend. Der kindliche Geschlechtsakt, oder was ihn ersetzen muss,
wird als unschuldiges Vergnügen betrachtet. ,Sie spielen eben kagta (Geschlechts-
verkehr haben)'. ,Sie schenken sich gegenseitig eine Kokosnuss, ein kleines Stück
Betelnuss, ein paar Perlen oder einige Früchte aus dem Busch, und dann ver-
stecken sie sich und kayta.' Doch gilt es als ungehörig, wenn die Kinder ihre
Liebesgeschichten im Hause betreiben, es hat vielmehr stets im Busch zu ge-
schehen.« (S. 41.)
Alle Reigenspiele, die von Kindern beiderlei Geschlechts auf dem Dorfplatz
gespielt werden, haben einen mehr oder weniger ausgesprochenen geschlecht-
lichen Beigeschmack.« (S. 42.)
Für unser Thema ist nicht sehr wesentlich, dass die Trobriander-
kinder sexuell spielen; denn das tun die allermeisten Kinder unserer
Kulturkreise besonders in den ausgebeuteten Klassen auch (mit
Ausnahme der bereits schwer neurotisch Gehemmten) ; aber wie es
beim Geschlechtsverkehr nicht darauf ankommt, dass man es tut,
sondern mit welcher inneren Einstellung und in welcher sozialen
Umgebung, ist es wichtig, wie die Erzieher und Eltern sich zu den
Kindern, ihren sexuellen Spielen und ihrer natürlichen MotilitälB't«j£^i/*;..t
überhaupt verhalten. Das bestimmt ja erst letzten Endes den sexual-
ökonomischen Wert dieser Sexualbetätigangen. Wir heben dies her-
vor, weil dieser Gesichtspunkt nirgends sonst gilt in der sexuologischen
Literatur, die nur die Tatsache des stattfindenden Spiels registriert
— oder übersieht. Erst die psychoanalytische Betrachtung der Öko-
nomie der Sexualfunktion lehrte, den Akt als solchen als minder
Tsichtig zu betrachten, gegenüber der psychischen bewussten und un-
hewussten Einstellung, die ihn begleitet^). Und diese Einstellung ist,
von der biologischen Seite der Sexualfunktion betrachtet, von vorn-
herein durch den Lustmechanismus eindeutig positiv; erst die
Haltung der sozialen Umgebung entscheidet darüber, ob sich diese
ursprünglich positive Einstellung erhalten kann oder ob sie Schuld-
gefühlen und sexueller Angst weichen muss, die die Gesellschaft auf
verschiedenartige Weise in das Geschlechtsleben hineinträgt. ■
Bei den Trobriandern, das steht nun fest, haben die Eltern nicht
nur keine störende, sondern vielmehr eine wohlwollend freundliche
1) Vgl. hierzu meine Darstellung der orgastischen Potenz in nDie Funktion des
. Orgasmus«, Int. Psa. Verlag 1927.
6
Die sexuelle Oekonomie in der mutterrechtUchcn Gesellschaft
Einstellung, so dass wir sagen können: Mit Ausnahme des engen
Kreises, in dem das Inzestverbot gilt, besteht keine sexualver-
neinende Moral, vielmehr entwickelt sich ein eindeutig bejahen-
des Ich und, wie wir auch später sehen werden, ein sexualbe-
jahendes Ichideal ='). Da die Sexualität frei ist, kann das Inzest-
verbot nicht als Sexualeinschränkung angesehen werden. Bleiben doch
der Sexualität in sexualökonomischer Hinsicht überreichlich Befrie-
digungsmöglichkeiten. Man kann nicht von Einschränkung der Be-
friedigung des Nahrungstriebes sprechen, wenn einem Menschen ver-
boten wird, grüne Bohnen und Hammelfleisch zu essen, er aber jedes
andere Gemüse und Fleisch ohne Einschränkung gcniessen kann. Das
heben wir gegenüber den vielen Behauptungen von den Einschrän-
kungen des Trieblebens bei den Primitiven hervor. Diese Einschrän-
kungen haben keine Ökonomisch-dynamische Bedeutung. Zur öko-
nomischen und dynamischen Überwertigkeit des Inzestwunsches wie
auch aller anderen Triebregungen gehört doch eine Überbesetzung mit
Interesse, die sich einzig und allein aus sonstiger, allgemeiner
Triebeinschränkung ergibt. So erklärt es sich, dass dem Primitiven
das Inzest verbot ganz bewusst ist, und nicht verdrängt werden
muss, weil sich der Inzest wünsch nicht besonders abhebt von an-,
deren Wünschen, solange diese befriedigt werden.
Jeder Trobrianderjunge weiss, dass er seine Schwester nicht als
geschlechtliches Wesen betrachten darf. Die bewusste Vermeidung
jedes engeren Kontaktes spricht für die Bewusstheit der sexuellen
Regungen gegenüber der Schwester. Wäre das Sexualleben auch sonst
verboten, sein Inzestbegehren würde sich infolge des örtlichen und
familiären Kontaktes mit der Schwester sofort dermassen steigern,
2) (1934.) So geringfügig der Unterschied zwischen blosser Duldung und Bejahung
des kindlichen und puberilcn Geschlechtslebens Susscrlich erscheinen mag,
für die psychische Strukturbildung im Zögling ist er entscheidend. Man muss
die heute in kleinen Kreisen übliche duldende Einstellung der Erzieher als
vollgültige Sexualverneinung ansprechen. Nicht nur empfindet das Kind die
Duldung als das Nichtbestrafcn von etwas im Grunde Verbotenen; ^ss blosse
f Dulden oder »Gestatten« des sexuellen Spiels bietet kein Gegengewicht gegen
■ den übermächtigen Druck der gesellschaftlichen Atmosphäre. Die ausdrück-,
liehe und unmissverständliehe Bejahung des kindlichen Geschlechtslebens sei-
tens der Erzieher dagegen vermag auch dann die Grundlage scxualbejahcnder
Ichstruktur-Bestandteile zu werden, wenn sie die gesellschaftlichen Einflüsse
; nicht zu entkräften vermag. Diese Anschauung will als Kritik des Verhaltens
I derjenigen Psychoanalytiker gelten, die den wichtigen Schritt vom Dulden zum
' Bejahen nicht zu machen -wagen. Die Auskunft, man müsse es den Kindern
überlassen, ist nichts als eine Entlastung von Verantwortung. Setzt man in
der Kinder-, Jugendlichen- oder Erwachsenen-Analyse kein Gegengewicht gegen
die gesellschaftlichen Einflüsse, dann bleibt die Behebung der Sexualver-
drängung theoretisch. So wenig man etwas nicht organisch Gewolltes auf-
' drängen darf, so unerlässlich ist die Unterstützung von Tendenzen im Kinde
oder Kranken, die in der Richtung der sexuellen Ökonomie wirken. Zwischen
Duldung der Geschlechtlichkeit und ihrer Bejahung wirk t die gesellschaft liche
iSexual seh ranke. Sexualität bej"aKcD_heisst die Sexua lschr"anke überschreiten^
Autoritätslose Erziehung ■ ■ ' '''
dass eine tiefe Verdrängung des Begehrens notwendig würde, das dann
eine krankhafte Lösung suchen müsste. Diese Tatbestände sind we-
sentlich für die Beurteilung der Intensität des Inzestwunsches
bei unseren Kindern. Sie ergibt sich bis zu einem unbestimmt hohen
Grade neben der natürlichen Bindung an Eltern und Geschwister
wesentlich aus der kompletten Versagung anderweitiger Sexual-
heziehungen und, gewiss nicht in letzter Linie, aus der sexuellen Bin-
dung der Eltern an die Kinder; diese ist ihrerseits wieder mitbestimmt
durch die sexuelle Unbefriedigtheit der Erwachsenen.
Es ist bezeichnend für die trobriandrische Erziehung, dass auch
sonst das Verhalten der Eltern zu den Kindern jener autoritären Note
entbehrt, die unseren Erziehungsmassnahmen anhaftet. Und wir kom-
men zu einem vollen Begreifen der innigen Beziehungen zwischen
Sexual Verneinung und -Unterdrückung und sonstiger patriarchalischer
Erziehung, wenn wir ihr Gegenteil bei den Trobriandern wie folgt
schildern hö.ren:
»Kinder geniesscn auf deo Trobriand-Inseln beträchtliche Freiheit und Un-
abhängigkeit. Früh lösen sie sich los von der Bevormundung ihrer Eltern, die
übrigens nie sehr streng gehandhabt wird. Manche Kinder gehorchen ihren titern
bereitwillig, doch das hangt nur vom persönlichen Charakter heider Parteien aü:
eine regelrechte Disziplin, ein System häuslichen Zwanges ist ganz ausgcscniosben.
Oft war ich bei Eingeborenen zu Besuch und habe irgendein FamilieneneDnis
miterlebt, etwa einen Streit zwischen Eltern und Kind; da wurde dann aem
Kind dieses oder jenes gesagt, meist, als ob eine Gunst von ihm erbeten ^urae,
obschon man zuweilen das Verlangen sogar durch Androhung von Gewalt unxer-
stützte. Entweder schmeichelten oder schalton die Eltern, oder sie stellten inr
Verlangen an das Kind wie an einen Gleichgestellten. Nie geben Trobri-
andereltern ihrem Kind einen einfachen Befehl in der hr-
wartungnatürlicbenGehorsams.
Die Leute werden manchmal böse auf ihre Kinder und schlagen sie in einem
Anfall von Wut; doch ebenso häufig habe ich ein Kind zornig auf Vater oder
Mutter losschlagen sehen. Ein solcher Angriff wird entweder mit gutmütigem
Lächeln hingenommen, oder der Schlag wird ärgerlich zurückgegeben; jedoch der
Gedanke an klare Vergeltung oder zwangsläufige Bestrafung ist dem Eingeborenen
nicht nur fremd, sondern direkt zuwider. Ein paarmal habe ich nach einer ** ™"
kundigen kindlichen Missetat zu verstehen gegeben, dass es für künftige falle
besser sei, das Kind zu schlagen oder sonstwie kalten Blutes zu l^^^*"" . f*/ , j "^^
dieser Gedanke erschien meinen Freunden unnatürlich und unsi
und wurde mit einer gewissen Empfindlichkeit z ^^ ^ückg c w le .
Diese Freiheit gibt den Kindern Spielraum zur Bildung einer eis
kleinen Gemeinschaft, einer unabhängigen Gruppe, in die sie ^^ -^
selbst mit vier oder fünf Jahren hineinwachsen und wo sie bis zur r ^
verbleiben. Wie es ihnen gerade in den Sinn kommt, verbringen sie de s
bei den Eltern oder gesellen sich zu ihren Spielgefährten in ihrer l^ein ^^^^
publik. Diese Gemeinschaft innerhalb einer Gemeinschaft handelt ^^,, jjtjv-
dem Willen ihrer Mitglieder und steht den Älteren oft in einer '^•"'^ ° ' ' etwas
Opposition gegenüber. Wenn die Kinder sich in den Kopf setz .^_^ ^^
Bestimmtes auszuführen, etwa einen Tagesausflug zu machen, so ^'° . j, ^j^
wachsenen, ja, auch der Häuptling, nicht imstande, sie daran zu hin ^^^^^^
ich oft beobachtet habe. Bei meinen ethnographischen Arbeiten »°.^" jjrgkt von
ich mir meine Informationen über Kinder und ihre Angelegenheiten ^ ^ ^ ^^^
ihnen selbst holen. Ihr ifei s t i ge s Eigentumsrecht an ^Vannt- sie
kindlichen Tätigkeiten wurde durchaus an e r k_ Spiele
konnten mich auch sehr gut belehren und mir die Schwierigkeiten ■
und Unternehmungen erklären.« (Alle Sperrungen vom Ref.) (S. öOt^v->
i^^"**^'' lg' Die sexuelle Oekonomie in der mutterrcchtlichen Gesellschaft
So wie in der patriarchalischen (feudalen und bürgerlichen) Ge-
sellschaft die autoritäre Unterdrückung des Kindes der Herstellung
einer zweckentsprechenden Untertanenslruktur dient, entsprechend
der Organisation der Gesellschaft überhaupt, die sich in den kind-
lichen Strukturen selbst ständig repruduziert^so wie hier die Eltern
Vollzugsorgane der herrschenden Ordnung sind und die Familie deren
Ideologiefabrik ist, reproduziert sich auch die muttcrrcchtliche Ge-
sellschaft, soweit sie noch klar ausgeprägt ist, ideologisch, indem sie
"3^ seelischen Gestaltung des Kindes freien Lauf lässt, die sich mit
den sozialen Ideologien dieser Gesellschaft bereits in der Kinderkom-
■'i^ltw.iM^ mune erfüllt. Und so wie in der privatwirtschaftlichen Gesellschaft
die Sexualunterdrückung der Boden für die psychische Hemmung
überhaupt wird, so wird in der mutterrechtlich-kommunistischen die
sexuelle Freiheit die Grundlage der charakterlichen Freiheit, die ge-
rade eine libidinös gut fundierte soziale Bindung an die Mitglieder
der Gesellschaft garantiert. Diese Tatbestände beweisen die Möglich-
keit der Selbststeuerung des sexuellen Gemeinschaftslebens durch
Triebbefriedigung (im Gegensatz zur moralischen Regulierung).
2. DAS SEXUALLEBEN DER JUGENDLICHEN
Gehen wir nun über zum Sexualleben der trobriandrischen Jugend-
liehen. Wir sehen wohl sexuelle Konflikte und bis zu einem gewissen
Grade seelisches Leiden, das den Schwierigkeiten mancher Liebes-
beziehung entspringt, aber wir vermissen jede Art äusserer Einschrän-
kung, wir sehen keine »Pubertätsneurosen«, keine Selbstmorde, keine
Askese »um der Kultur willen«.
»Wächst der Koabe oder das Mädchen heran, so wird sein (oder ihr) Ge-
schlechtsleben von grosserem Ernst erfüllt. Es ist nicht mehr blosses Kinder-
spiel, sondern nimmt einen hervorragenden Platz unter den LebcnsinteresseD ein.
Was früher eine unbeständige Beziehung war, die im Austiiusch erotischer Be-
tastungen oder in einem unreifen Geschlechtsakt gipfelte, wird jetzt zur nach-
haltig beschäftigenden Leidenschaft, zur Angelegenheit ernsten Strebens, Der
Jugendliche erscheint nun endgültig einer bestimmten Person zugetan, wünscht
sie zu besitzen, arbeitet vorsätzlich auf dieses Ziel hin, sucht seine Wünsche
durch magische und andere Mittel durchzusetzen und freut sich schliesslich der
Erfüllung. Ich habe es erlebt, dass junge Leute dieses Alters aus unglücklicher
Liebe tatsächlich krank und elend wurden. Dieses Altersstadiuna unterscheidet
sich auch vom vorhergehenden dadurch, dass nun eine entschieden persönliche
Vorliebe ins Spiel kommt und damit die Neigung zu Bindungen von längerer
Dauer. Der junge Mann möchte sich die Treue und ausschliessliche
Zuneigung der Geliebten erhalten, wenigstens für einige Zeit. Doch ist diese
Neigung bis jetzt keineswegs so stark, dass der Gedanke an eine
einzige ausschliessliche L i e b e s be zi e h u n g aufkäme; Jugend-
liche denken noch nicht entfernt ans Heiraten. Der junge Mann oder das junge
Mädchen will erst noch viele andere Erlebnisse haben; er oder
sie freut sich noch der vollkommenen Freiheit und empfindet keinerlei Wunsch,
Verpflichtungen auf sich zu nehmen. Wenn ihn auch die Vorstellung freuen mag,
dass seine Partnerin ihm treu ist, fühlt sich doch der jugendliche Liebende nicht
verpflichtet, diese Treue zu erwidern . . .
Der Sexualleben der Jugendlichen 9
Diese Altersgruppe führt ein glüchliches, freies, arkadisches Leben voller!
Freude und Lustbarkeit ...
Viele Tabus sind für sie noch nicht recht bindend; die Last der Magie liegtj
noch nicht auf ihren Schultern . , .
. . - Abgesehen davon, dass junge Leute dieses Alters ihre Liebesgeschichten
ernster und intensiver betreiben, suchen sie auch den Schauplatz ihrer Liebes-
abenteuer zu erweitern und vielfältiger zu gestalten. Beide Geschlechter arran-
gieren Picknicks und Ausflüge und verbinden so den Geschlechtsverkehr mit
der Freude an neuartigen Erlebnissen in schöner Landschaft. Sie knüpfen auch
geschlechtliche Beziehungen ausserhalb ihrer eigenen Dorfgemeinschaft an; findet
nämlich irgendwo eine jener rituellen Feiern statt, bei denen nach Sitte und
Brauch volle Ungebundenheit herrscht, so machen sie sich dorthin auf, meist
entweder eine Gruppe junger Männer oder eine Schar junger Mädchen, denn in
solchen Fällen ist immer nur für das eine Geschlecht Gelegenheit zur Zügel-
losigbeit gegeben.« (S, 46 f.)
Psychoanalytische Ethnologen versuchten, aus den Pubertätsritea
mancher primitiven Organisationen die These abzuleiten, dass auch
bei diesen die puberile Betätigung mit Strafen belegt werde, genau
so wie bei uns, nur mit dem Unterschiede, dass die Strafe der Auf-
nahme des Geschlechtsverkehrs vorangehe. Es ist begreiflich, dass.
das Studium der ethnologischen Literatur gegen alle Deutungen miss-
trauisch machen muss, denen die Absicht, unsere Verhältnisse ethno-
logisch zu rechtfertigen, allzu deutlich anhaftet, und die bedenkenlos
Deutungen, die für Erscheinungen gelten, die in unseren Produktions-
verhältnissen wurzeln, auf Tatbestände anderer sozialer Organisatio-
nen anwenden. Damit will ich noch nichts gegen die Richtigkeit dieser
Theorien aussagen. Aber sie werden für uns erst dann Bedeutung_
gewinnen, wenn man wird zeigen können, welche wirtschaftlichen
Interessen hier bereits eingreifen und das gesamte Sexualleben um-
gestalten^ Dass solche Strafen für die Sexualität der Jugendlichen in
der Triebstruktur des Menschen (Ambivalenz, Hass, Eifersucht etc.)
■wurzeln, scheint ganz unwahrscheinlich, wenn man die sexuelle
Ökonomie h-istorisch betrachtet. Denn da sich Organisatio-
nen, wie etwa die trobriandrische, finden, in denen nicht nur nichts
von Strafen, sonder vielmehr ausgesprochene sexuelle Fürsorge (das
bukumatula, die Jugendweihen und -feste und anderes) festzustellen
ist, müssten uns die Vertreter und Verfechter der einseitig biologisch-
psychologischen Auffassung erst erklären, warum in dieser Organisa-
tion sexuelle Herrschsucht und andere negierende Eigenschaften, die
angeblich angelegt sind, fehlen. Wir sagen, dass diese Erscheinungen
bereits Folge des Eingriffs ökonomischer Interessen in die rein na-
türliche Sexual befriedigung sind und wir sind gerade dabei, dies zu
beweisen.
Kehren wir zum Thema zurück. Die Sexualbejahung geht bis zur
gesellschaftlichen Befürsorgung:
»Brauch und Sitte dieses Stammes kommen diesem Bedürfnis entgegen und
bieten Unterkunft und Abgeschlossenheit in Gestalt des bukamatala, des bereits
erwähnten Ledigenhauses. Hier wohnen eine beschränkte Anzahl von Paaren,
zwei, drei oder vier, auf längere oder kürzere Zeit in vorübergehender Gemein-
10 Die sexuelle Oekonomic in der mutterrechtlichcn Gesellschaft
Schaft. Gelegentlich bietet das bukumatula auch jüDgercn Paaren Obdach, wenn
sie sich auf ein paar Stunden ungestört dem Liebesgenuss hingeben wollen , . .
Augenblicklich gibt es fünf Junggesellenheime in Omaraktma und vier im Nach-
bardorf Kasana'i. Ihre Zahl hat sich infolge des Einflusses der Missionare stark
verringert. Aus Angst, der Missionar könne ihn durch Aussondern biosssteilen,
ihn verwarnen oder gegen ihn predigen, errichtet mancher Eigentümer eines
bukumatula dieses jetzt im äusseren Ring, wo es -weniger auffällig ist. Meine
Gewährsleute haben mir erzählt, dass es noch vor zehn Jahren fünfzehn Ledigen-
häuser in beiden Dörfern gab, und meine ältesten IJekannten erinnern sich der
Zeit, da es etwa dreissig waren. Dieser Rückgang ist natürlich zum Teil in der
ungeheuren Bevölkerungsabnahme begründet, und nur zum andern Teil in der
Tatsache, dass heutzutage manche Junggesellen bei ihren Elfern wohnen, manche
in Witwenhäusem und noch andere in Missionsstationen. Doch was auch der
Grund sei — es braucht kaum gesagt zu werden, dass dieser Stand der Dinge
wahre Geschlecfttsmoral nicht fördert ... Es ist mir erzählt worden, dass zu-
weilen ein Mann für seine Tochter ein Haus als bukumatuhi gebaut habe, und
dass in alten Zeiten auch Mädchen Ledigenhäuser zu besitzen und zu bewohnen
pflegten; jedoch ist mir kein tatsächliches Beispiel dieser Art bekannt ge-
worden.« (S. 51 ff.)
»Der ulatile (Jüngling) hat entweder sein eigenes Lager in einem Junggesellen-
haus, oder es steht ihm die Benutzung einer Hütte frei, die einem seiner un-
verheirateten Verwandten gehört. Auch gibt es in einer bestimmten Art von
Yamshans einen leeren, abgeschlossenen Raum, wo sich die jungen Leute manchmal
kleine , Kosewinkel' einrichten, die Raum für zwei bieten. Aus trockenen Blättern
und Matten machen sie ein Bett zurecht und schaffen sich so eine gemütliche
.garconniere', wo sie ihre Angebetete empfangen und ein paar glückliche Stunden
mit ihr verbringen können. Solche Einrichtungen sind natürlich nötig, da der
Liebesverkehr aus einem Spiel zu einer Leidenschaft geworden ist. Doch noch
immer nicht trifft sich das Paar regelmässig im Junggcsellenhaus (bukumatula),
wo man zusammenlebt und Nacht für Nacht dasselbe Lager teilt. Sowohl das
Mädchen als auch der Jüngling ziehen heimlichere und weniger bindende Zu-
sammenkünfte vor; noch suchen sie eine dauernde Beziehung zu vermeiden, die
vielleicht ihre Freiheit unnötig einschränken würde, wenn sie allgemein bekannt
-wäre. Deshalb ist ihnen meistens ein kleines Nest im sokwaypa (geschlossenes
Yamshaus) oder die zeitweilige Gastfreundschaft eines Junggesellenhauses lieber.«
<S. 48 L)
Diese Befürsorgung in der Lokalfrage ist der trefflichste Aus-
druck für die gesellschaftliche Sexualbejahung, die über das blosse
Gewährenlassen weit hinausgeht. Und ebenso entspricht das Nicht-
künunern beziehungsweise die aktive Behinderung der Jugendlichen
in der bürgerlichen Gesellschaft, auch in Hinsicht auf die örtlichkeit
des Geschlechtsverkehrs, vollkommen der zu ihr gehörigen Sexual-
verneinung. Hat die Befürsorgung wesentlichen Einfluss auf die
sexuelle Gesundheit der primitiven Jugendlichen, so hat die Behin-
derung eine Verkrüppelung und Verrohung des Geschlechtslebens zur
Folge, das durch diese Massnahme ja doch nicht verhindert wird, nur
dass statt ruhiger hygienischer Stätten Hausfluren und Zaunecken
dem hastigen und ängstlichen Geschlechtsverkehr dienen. Und die
»Kultur«, auf die wir von den ängstlichen Gemütern immer wieder
verwiesen werden? Man vergleiche das Bordelleben unserer klein-
bürgerlichen Jugend mit folgenden Tatsachen:
»Das Wort ,Gruppenkonkubinat' würde zu Missverständnissen führen; wir
haben es hier zwar mit einer Anzahl von Paaren zu tun, die einem gemein-
samen Hause schlafen, doch jedes Paar streng für sich — nicht mit jungen
Das JuQggesellenhaus ll
Leuten, die alle unterschiedslos miteinander leben; nie werden die Partnei'
ausgetauscht, und ,wildern' oder .eefälligsein' kommt nicht vor. Im Gegenteil,
inuerhalb des bukumatala wird ein besonderer Ehrenkodex beobachtet, der jedem
Bewohner auferlegt, geschlechtliche Rechte innerhalb des Hauses viel sorgsamer
zu achten als ausserhalb. Falls jemand gegen diesen Ehrenkodex verstiesse,
Würde man von ihm das WoH kaylasi gebrauchen, was soviel heisst wie ,sich
geschlechtlich vergehen'.« (S. 53.)
»Im bakumatu{a (Junggesellenhaus) herrscht strenge Zucht. Nie geben sich
die Bewohner orgiastischen Vergnügungen hin, und es gilt für höchst ungehörig,
ein anderes Paar bei seinem Liebesspiel zu beobachten. Meine jungen Freunde
erzählten mir, dass man entweder warte, bis die andern alle eingeschlafen seien,
oder dass alle Paare eines Hauses übereinkämen, die andern nicht zu beachten.
Ich habe bei dem durchschnittlichen jungen Mann auch nicht die leiseste Spur
eines Voyeurinteresses gefunden und auch keinerlei Neigung zu Exhibitionismus,
Im Gegenteil, wenn ich die verschiedenen Stellungen und die Technik des Ge-
schlechtsaktes erörterte, wurde mir ganz von selbst mitgeteilt, dass es besonders
unauffällige Arten der Ausführung gäbe, 'damit man die anderen Leute im
bukumatula nicht aufweckt,'« (S. 53/54.)
Das jugendliche Paar ist durch keinerlei Gesetz oder Sitte anein-
ander gehunden; sie werden nur durch die persönUche Zuneigung
und die geschlechthche Leidenschaft zusammengehalten und können
sich nach Belieben trennen. Wir hörten auch, dass dieses Verhältnis
keinerlei Besitzanspruch in sich schli^st, jedem stellt der Verkehr
mit anderen Partnern inshesondere anlässlich der Ernte- und Mond-
feste frei. Es kommt zwar zu Äusserungen von Eifersucht, aber bei
gewissen Gelegenheiten ist sogar dies »unsittlich«, so etwa, wenn die
jungen Mädchen anlässlich eines Trauerfalles die trauernden Männer
durch Geschlechtsverkehr trösten. Trotz alledem, oder vom Stand-
punkt der sexuellen Ökonomie gerade deshalb, sind die Beziehungen
auch häufig (ohne äusseren oder inneren Zwang) dauernder, inniger
und befriedigender als diejenigen, die unsere sexuell verkrüppelte
Jugend zustandebringt.
Die Interessengemeinschaft der jungen Paare bezieht sich nur auf
das Geschlechtliche. Niemals nehmen sie gemeinsame Mahlzeiten ein,
die, wie wir später hören werden, geradezu zum Symbol der richtigen
Ehe werden.
Wir sehen, wie wenig die hochtrabend^ wissenschaftlichen Kate-
gorien der »Monogamie«, »Polygamie«,"^PoIyandrie«, »Promiskuität«
mit diesen nur von der sexuellen Bedürfnisbefriedigung gelenkten und
geregelten Sexualbeziehungen zu tun haben. Diese Paare sind eben-
sowohl monogam wie gelegentlich polygam, bei Festen sogar pro-
miskue; doch die Klassifizierungen sagen nichts aus in dieser GeseU- |
Schaft und bekommen erst ihren Sinn und Gehalt als *
Prinzipien unserer moralischen Regulierungsbe-
strebungen, nicht mehr. Auch bei uns decken sie keinen Tatbe-
stand. Auch bei uns sind die sexuellen Beziehungen verschiedenstartig.
Der Unterschied zum; Primitiven — das sei besonders hervorgehoben,
weil es unsere sexualökonomische Betrachtungsweise von jeder an-
deren in jeder Beziehung trennt — liegt nicht darin, dass jene po-
12 Die sexuelle Oekonomie in der mutterrechtlichen Gesellschaft
lygam oder promiskue und wir monogam leben; es lässt sich auch
keine monogame Forderung aus dem monogamen Leben der Primi-
tiven, wie manche Sexual forscher und Ethnologen versuchen, ableiten,
aiAHtumjUiV. sondern er ist einzig und allein ausgedrückt in der sozialen Ord-
nung des Geschlechtslebens und in der verschieden -
"artigen Erlebnisweise, die von jener abhängt. Der Sexualap-
parat an sich ist mit allen seinen Konsequenzen hier wie dort gleich
angelegt, abgesehen von Unterschieden der Rasse und der phylogene-
tischen Einwirkung jahrtausendealter Sexualverdrängung (Schwä-
chung des somatischen Sexualapparates?). Und das macht das Kopf-
zerbrechen unserer Sexualforscher aus, dass er ihre Kategorien der
verschiedenen »-gamien« nicht kennt, sondern nur das Ziel der Sexual-
befriedigung. Die Hauptfrage ist dann nur, ob die konkrete Gesell-
schaftsordnung diese Funktion anerkennen will u nd kann oder nicht.
Das aber ist rein soziologisch begründet.
1) »Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral« (Münstervcrlag, Wien 1930).
I
Mit dem Alter werden die Dauerbeziehungen immer fester und
länger, was, ganz wie wir es an anderer Stelle*) ausgeführt haben,
der allmählich pl atzgreifenden Absättigung der sinnlichen Bedürf-
nisse nach der Pubertät zuzuschreiben ist, die nunmehr die zärtlichen |
Neigungen mehr hervortreten lässt. Gäbe es keine Eheinslitution, auch ;
diese Beziehungen würden nicht ewig dauern, sondern im Laufe der i
Zeit anderen Platz machen. So aber läuft die festere Dauerbeziehung ■
Jn eine Ehe aus. Zunächst wird eine »Probezeit« eingeschaltet, die dem ,
jungen Paar sowohl Zeit lässt zur Prüfung ihrer Zuneigung und Be-
ständigkeit, als auch den Eltern zu der eigentlichen Prozedur, den
wirtschaftlichen Vorbereitungen.
An diesem Punkte treffen die Scxualbedürfnisse
zus a m m e n m',1 1 b esti mmt en wir ts ch aftlichen I n-
teressen. ~~ ~~^ ~
3. DIE SEXUELLEN FESTLICHKEITEN
Die hohe Sexualkultur der Trobriander kommt besonders in den
verschiedenen Veranstaltungen zum Ausdruck, die keinem anderen
Zwecke als dem des sexuellen Spiels mit darauffolgender Befriedigung
der Genitalität dienen. Sie unterscheiden sich von ähnlichen Ver-
anstaltungen der Jugend in der bürgerlichen Gesellschaft erstens
durch den Wegfall der Verhüllung des eigentlichen Zweckes, zweitens
durch den Mangel der Ableugnung und inneren Ablehnung oder äusse-
ren Hemmung der Endbefriedigung und drittens durch den Wegfall der
Sexualangst und der Schuldgefühle, die die sexuelle Befriedigung
unserer Jugend zersetzen, sofern sie sich die Endbefriedigung ge-
stattet. »Die endgültige Erfüllung seiner (des Jugendlichen) eroti-
i
A
Die sexuellen Festlichkeiten 13
sehen Wünsche ist nicht vom Zufall abhängig, sondern er nimmt sie
einfach vorweg. Alle Sitten, Bräuche und Einrichtungen verlangen
einfaches, unmittelbares Drauflosgehen.« (I. c. S. 221.)
Ein weiterer wesentlicher Unterschied ist der Wegfall jeder Art
von Sentimentalität in den Geschlechlsbeziehungen, doch entbehrt das
Sexualleben der trobriandrischen Jugend nicht einer gewissen Roman-
tik. Das wirft ein Licht auf das Wesen der von der bürgerlichen
Romanüteratur hochgezüchteten und von den Verlegern zu Pro-
fitzwecken ausgenützten sexuellen Sentimentalität: Sie setzt die Hem-
mung der Endbefriedigung voraus, bedeutet eine ins Unendliche
ientrückte Erfüllung der orgastischen Befriedigung und die ewige
Sehnsucht nach ihr, deren unzureichender Ersatz sie ist. »Die Wer-
bung des Trobrianders kennt keine Umwege; er erstrebt auch nicht
reiche persönliche Beziehungen, wobei geschlechtlicher Besitz nur eine
Folgeerscheinung bedeuten würde. Ganz einfach und unverblümt
erbittet er eine Zusammenkunft mit der offen bekannten Absicht
geschlechtlicher Befriedigung. Wird die Bitte erfüllt, so ist damit
jede romantische Einstellung, jede Sehnsucht nach dem: Unerreich-
baren und Geheimnisvollen hinfällig. Wird der Freier abgewiesen,
so bleibt nicht viel Raum für eine Tragödie, denn seit seiner Kindheit
ist er gewohnt, seine sexuellen Wünsche von irgendeinem Mädchen
durchkreuzt zu sehen, und er weiss bereits: das sicherste und
schnellste Mittel gegen diese Art Missgeschick ist eine neue Liebes-
geschichte.« (S. 223.)
Wir sehen also, dass die Neigung zu langdauernder unglücklicher
Verliebtheit bei vollentfalleter Genitalität wegfällt, und verstehen
jetzt besser diese für unsere Jugendlichen typische Neigung als Folge
einer tJberschätzung des Sexualobjekts, die durch die Hemmung der
Endbefriedigung zustande kommt. Unsere berühmten Jugendforscher
stellen allerdings »statistisch« fest, dass die sexuelle Sentimentalität
und die schlechten Gedichte im »Wesen der Pubertät« liegen. Gewiss,
im Wesen der Pubertät unser er Puberilen, die unter zermürbenden
Bedingungen aufwachsen.
Bei diesen Primitiven und auch bei anderen, soweit sie nicht be-
reits Opfer der Entwicklung des Privateigentums oder der weissen
Missionare wurden, ist es anders: »Die geschilderten Tatsachen zeigen
uns, dass innerhalb gewisser Grenzen jeder ein grosses Mass an Frei-
heit und vielerlei Gelegenheit zu geschlechtlichen Erlebnissen hat.
Nicht nur braucht kein Mensch unter unbefriedigten Trieben zu leiden,
sondern jedem stehen auch reiche Auswahl und vielerlei Gelegenheiten
offen.« (S. 168.)
Die Frau ist im Sexualleben nicht anders gestellt als der Mann:
*In Sachen der Liebe fühlt sich die trobriandische Frau dem Mann
keineswegs untergeordnet, und sie steht ihm auch an Unternehmungs-
lust urfd Selbstbehauptungs kraft nicht nach. Das alatile hat sein
14
Die sexuelle Ockonomic in der mutterrechtlichen Gesellschaft
Gegenstück im kaiuyausi, dem Liebesausflug der Mädchen nach den
anderen Dörfern.« (S. 191.)
Über das ulalile werden wir später in anderem Zusammenhange
berichten und geben hier nur den Bericht des katuyausi wieder:
»Die fratuyausi- Teilnehmerinnen sind ruhig sitzengeblieben, als ginge sie das
Ganze nicht viel an. Die Jünglinge und älteren Männer stehen ihnen gegenüber
und unterhalten sich anscheinend ßleichßültig miteinander. Nach einer Weile
kommt es zwischen den beiden Parteien zum Austausch von Scherzen und
Neckereien. Die liurschen nähern sich den Mädchen, und die feierliche Wah!
beginnt. Die Sitte verlangt, dass die Initiative von den Gastgebern ausgeht und
■dass jeder Gast jedes Angebot annimmt. Aber natürlich fehlt es nicht an be-
st immlen Vorlieben zwischen den angesehenen Mitgliedern jeder Gruppe; diese
Wünsche sind auch bekannt, so dass etwa ein unbedeutender Bursche nicht
wagen würde, dem Vergnügen seines stärkeren, alleren und einflussreicheren
Kameraden im Wege zu stehen; ia Wahrheit beruht also die Wahl auf früheren
Neigungen und Liebeleien. Jeder Bursehe bietet dann dem Mädchen seiner Wahl
ein kleines Geschenk an — ■ einen Kamm, eine Halskette, einen Nasenpflock,
ein Büschel Betelnüsse. Nimmt sie die Gabe an, so nimmt sie damit auch den
Burschen als Liebhaber für diese Nacht an. Kennt der Bursche das Mädchen gut,
so gibt er ihr selbst ein Geschenk: kennt er sie noch nicht, oder ist er zu
Schüchtern, so bittet er einen älteren Mann um seine Vermittlung: dieser über-
reicht dem Mäddicn die Gahc mit den Worten: .kam va otu' (va olu = Besuchs-
geschenk, Lockgabe), ,Soundso schenkt es dir; du bist seine Liebste.' Ganz selten
nur wird ein solches Geschenk von einem Mädchen zurückgewiesen oder ignoriert;
sie würde den jungen Mann dadurch schwer kränken und beleidigen.
Nachdem sich so die Paare gefunden haben, gehen sie meistens alle zu-
sammen an eine Stelle im Wald und verbringen den grössten Teil der Nacht
mit Betelkauen, Singen und Rauchen, wobei die Paare immer zusammenbleiben.
Ab und zu schlägt sich ein Bursche mit seinem Mädchen seitwärts in die Büsche,
ohne dass irgendjemand darauf achtet. Es kommt auch vor, dass ein junger
Mann seine Liebste auffordert, den Rest der Nacht mit ihm in einem hukumalala
im Dorf zu verbringen ; doch das ist meist mit Schwierigkeiten verbunden.
> Katuyausi sowohl als ulalile sind durch strengen Anstand und das Fehlen jedes
orgiastischen Elementes gekennzeichnet. In den südlichen Dörfern geht es bei
diesen Gelegenheiten zweifellos weniger zurückhaltend zu als im Norden, doch
auch im Süden sind katuyausi und ulatile streng unterschieden von orgiastischen
Bräuchen wie kamalibiu oder der Sitte des yausa.« (S. 193.)
Ausser dem ulatile der Jünglinge und dem katuyausi der Mädchen
herrscht, zwar nicht bei dem von Malinowski durchforschten
Stamm, wohl aber bei den südlichen und nördlichen Ortsgemein-
schaften noch der Brauch des sogenannten kagasa, bei dem
»vollkommen zügelloses Sichgchenlassen die Regel sei; der Geschlechtsakt
würde Öffentlich auf dem Dorfplatz ausgeführt; verheiratete Leute beteiligten
sich an der Orgie, Mann und Fran benähmen sich ohne jede Hemmung, sogar
in Rufweite voneinander; die ZügeRosigkeit ginge so weit, dass geschlechtliche
Vereinigung sogar vor den Augen des (der) luleia (Schwester, wenn der Mann
spricht; Bruder, wenn die Frau spricht), stattfindet — also vor den Augen
derjenigen Personen, auf die sich die strengsten Tabus beziehen, die auch stets
eingehalten werden. Die Zuverlässigkeit dieser Angaben wird dadurch bestätigt,
dass mir in Gesprächen über andere A-ctöösu- Formen im Norden wiederholt ver-
sichert wurde, dass im Süden alles viel orgiastischer vor sich gehe; so bildeten
zum Beispiel beim Tauzichen-fcoyasa im Süden Männer und Frauen stets ent-
Kegengesetzte Parteien; die Sieger verhöhnten feierlich die Besiegten mit dem
typisch kreischenden Geheul (kalugogoua), dann stürzten sie sich über die am
Boden liegenden Gegner, und der Geschlechtsakt Würde in der Öffentlichkeit
Ausgeführt. Einmal besprach ich die Sache mit einer aus nördlichen und süd-
Liebesaus f lüge der Mädchen
1&
liehen Eingeborenen gemischten Gesellschaft, und beide Parteien bekräftigten
mir kategorisch, dass es sich -wirklich so verhalte.« (S. 184.)
Warum dieser Brauch bei den Trobriandern unterging, lässt sich
aus den Berichten Malinowskis nicht ermitteln. Ist es die fortge-
schrittenere Entwicklung der Besitzinteressen des beginnenden Vater-
rechts, oder sind es andere historische Gründe? Wir wissen es nicht.
Doch wird berichtet, dass in nicht lange zurückliegenden Zeiten, als
noch die einzigen Fremden, die zu den Trobriand-Inseln kamen, die
Teilnehmer der sogenannten Tw/a-Expeditionen [Handelsverkehr zwi-
schen den Inseln) waren, der Brauch herrschte, dass Mädchen aui
dem Dorfe die Fremden am Strand besuchten, nachdem der Güter-
austausch stattgefunden hatte. Es galt als ein durch die Sitte ge-
heiligtes Recht, dass die Mädchen aus dem Dorfe mit den Fremden
schliefen; deswegen durften die eigenen Liebhaber sie nicht tadeln
und keine Eifersucht zeigen. Wie immer diese Sitte auszudeuten ist,
sei es als t)berrest alter Frauenraubzüge fremder Stämme, sei es als
Urform exogamer Liebesbeziehungen, das Wesenthche daran ist für
unser Thema das geordnete Gemeinschaftsleben trotz des Wegfalls
der Sexualmoral.
4. DIE ORGASTISCHE POTENZ DER PRIMITIVEN
Wenn wir von solchen Einrichtungen wie ulatile- und kataijaiisi-
Expeditionen hören, sind wir wie von etwas Fremdartigem berührt,
das sich mit Kultur und Zivilisation nicht verträgt, ja sie geradezu
ausschliesst. Dabei entwickeln unsere Kulturgenossen eine sonder-
bare Neugierde, von solchen Einrichtungen zu hören, die »Sehnsucht
nach dem paradiesischen Urzustand« macht sich bemerkbar. Es lässt
sich leicht zeigen, dass wir dabei einer Täuschung verfallen, dass wir
uns nicht nach den u/afiVe-Expeditionen sehnen, sondern nach der
sexuellen Erlebnisfähigkeit der Primitiven. Denn u/a(i7e-Ex^
peditionen und katuyaasi gibt es bei uns genug. Die gemeinsamen
Bordell aus flu ge der Studenten, die Wanderungen der Jugend, die zu
sexuellen Betätigungen führen, die Maskenbälle und Redouten der
Bourgeoisie und des Kleinbürgertums, die Tänze und das »Fensterin«
der Bauern unterscheiden sich bis auf einen wesentlichen Punkt
im Prinzip nicht von den sexuellen Festen der Primitiven; aber der
eine unterscheidende Punkt ist der einzig ausschlaggebende. Unsere_
Sexualfeste enden mit Katzenjammer aus der unerfüllten, ja vor sich
gelbst meist verschleierten und mit bürgerlicher Heuchelei und »Ehr-
barkeit« verdeckten Erwartung sexueller Befriedigung. Diese Ein-
richtungen der Primitiven haben sich bis in unsere Zeit, wenn auch,
in anderer Form, fortgesetzt,_sie_VMJ^oren nur ihrensexualökononii-
schen Wert, statt zu befriedigen, steigern sie bloss die sexuelle Span-
^
16 Die sexuelle Oekonomie in der mutterrechtlichen Gesellschaft
nung. Wir haben ja auch die Jugendweihefeste beibehalten, aber mit
Testloser Verschleierung ihres ursprünglichen Sinnes und mit ihrer
Verkehrung ins Gegenteil: statt Einleitung des Geschlechtslebens, Ein-
leitung verschärften kirchlichen Einflusses zu seiner Unterdrückung.
Es wird in unseren Kulturkreisen sicher nicht weniger Geschlechts-
verkehr gepflogen als in den primitiven; die Promiskuität der männ-
lichen Jugend ist sicher ausgesprochener. Die eheliche Untreue ist
infolge des strengeren ökonomischen und moralischen Druckes und
infolge der Sexual Störungen sicher verbreiteter als bei den »Wilden«.
Und wenn auf der einen Seite die moralische Heuchelei uns einreden
will, dass wir uns von den »Wilden« durch die Sittlichkeit unter-
scheiden, auf die wir das Monopol besitzen, so wird auf der anderen
gegen die »Verwilderung der Sitten« Sturm gelaufen, vom Papst bis
zum Hakenkreuzstudenten und bürgerlichen Sexuologen. Und doch
liegt ein sehr einfacher Tatbestand vor: Die Primitiven haben
ihre volle sexuelle Er lebni s f aHTgXe^il, die »Zivil i-
s^i orten« können zu keiner Sexualbefriedigung ge-
langen, weil ihre Sejxualstruktur durch die infolge
der E rziehu ng erworbenen moralischen Hemmungen
neu ro tis ch ze rsetzt ist. Statistische Stichproben ergaben,
dass durchschnittlich etwa 90 Prozent der Frauen und etwa 60 Pro-
zent der Männer seelisch krank, sexualgestört und befriedigungs-
unfähig sind^). Wenn wir so den Grundmechanisnms des ungeord-
neten Haushalts der Sexualität unserer Gesellschaftsmitglieder er-
fassen, so bleibt zu beweisen, dass die Primitiven keine Störungen der
Sexual funktion haben und die orgastische Befriedigung beim Akt die
Regel ist.
Es ist Malinowskis grosses Verdienst, hier zuerst Tatbeslände
über das Sexualleben der Primitiven erhoben zu haben, wie man sie
sonst in der Literatur, die nur die äusseren Formen des Geschlechts-
aktes registriert, nie vorfindet.
Wir können also auf Grund dieses Berichtes folgende Beweise
dafür vorbringen, dass der Trobriander und die Trobrianderin or-
gastisch potent sind:
Zunächst sind die Trobriander überzeugt, »dass der weisse Mann
den Geschlechtsakt nicht wirksam auszuführen vermöge« (S. 239),
das heisst, dass er die Frau nicht zum Orgasmus zu bringen vermag;
»tatsächlich finden die Eingeborenen, dass der weisse Mann es viel
zu schnei! zum Orgasmus kommen lässt.« (S. 240.) Hier haben wir
eine klare Bestätigung erstens dafür, dass der Trobriander genau
weiss, was die richtige Befriedigung ist, zweitens, dass die Weissen
(was ich an anderer Stelle als die für den von der Sexualmoral be-
troffenen bürgerlichen Mann typische »physiologische ejaculatio prae-
X) Vgl. meine Arbeit »Die seelischen Erkrankungen als soziales Problem« in
»Der sozialistische Arzt«, 1931.
Die orgastische Potenz der Primitiven 17
cox« bezeichnete), im Verhältnis zu dem von moralischen Hemmungen
unbeschwerten Primitiven zu früh zum Orgasmus kommen. Dass es
sicli dabei nicht um Rassenunterschiede handelt, beweist der Tatbe-
sland, dass solche chronische, nicht als krankhaft empfundene Ver-
frühung des Samenergusses durch psychoanalytische Beseitigung der
erworbenen Sexualhemmungen behebbar ist. Die Verfrühung des
Samenergusses bei der überwiegenden Mehrzahl der Männer unserer
Kulturkreise bedeutet gleichzeitig eine beträchtliche Herabsetzung der
Sexualbefriedigung, denn die volle Befriedigung setzt eine längere
Friktionszeit zur Konzentration aller freien Libido am Genitalapparat
voraus^) .
Beweisend ist ferner für die orgastische Potenz der Frauen bei
den Trobriandern, dass sie in der Bezeichnung keinen Unterschied aus-
drücken zwischen dem Orgasmus der Frau und dem des Mannes:
Beide werden mit dem Ausdruck ipipisi momona bezeichnet, das heisst,
»die Samenflüssigkeit fliosst aus. Momona bedeutet gleichzeitig den
männlichen und weiblichen Ausfluss.« (S. 240.) Ferner ist selbst-
verständlich, dass der Mann wartet, bis die Frau zur Befriedigung
kommt.
Auch aus persönlichen Berichten dieser Primitiven geht ihre sexu-
elle Erlebnis fähigkeit eindeutig hervor. Wir lassen einen solchen
Bericht folgen:
»Wenn ich mit Dabugera schlafe, umarme ich sie, umschlinge ich sie mit
meinem ganzen Körper, wir reiben unsere Nasen aneinander. Wir saugen einer
des anderen Unterlippe, so dass wir in leidenschaftliche Erregung geraten wir
saugen einer des anderen Zunge an, wir beissen uns in die Nasen, wir beissen
nns in das Kinn, wir beissen in die Wangen und streicheln zärtlich über
Achselhöhle und Weichen. Dann sagt sie wohl: ,0, mein Liebster, es juckt sehr
. . . stosse weiter, mein ganzer Leib schmilzt . . . vor Lust . . . stosse heftig zu,
stossc schnell zu, damit der Saft ausströme . . . tritt weiter, ich habe ein so
angenehmes Gefühl dabei!« (S. 241 f.)
Man vergleiche mit diesem, Wissen der Primitiven die Theorien
mancher unserer Sexualforscher, dass die Befriedigung nicht unhe-
dingt zur Natur der Frauen gehöre, oder dass die Natur es so ein-
gerichtet habe, dass die Frauen, nur um keine Schmerzen bei der
Geburt zu haben, in der Scheide unempfindlich seien, und ähnliche
»wissenschaftliche« Ergüsse moralisch befangener Hirne.
Die Mehrzahl unserer Frauen ist unfähig zu der bestimmten Art
von rhythmischer Beckenbewegung beim Akt, die den eigenen Orgasmus
herbeiführt und die Befriedigung des Mannes erhöht, eine Aktion,
die von den Prostituierten bewusst und kalt durchgeführt wird, um
dem Manne Erregung zumindest vorzutäuschen. Um diese Bewegung
besser auszuführen, also um grössere Befriedigung zu erzielen, üben
die Primitiven den Geschlechtsakt in Hockstellung aus und spotten
1) »Die Punktion des Orgasmus«. Int. Psa. Verlag (Kap. »Die orgastische Potenz*).
3
18 Die sexuelle Oekonoraie in der muUerrechtliclien Gesellschaft
Über die Koitusstellung des Europäers, die die Frau bei der Gegenbe-
wegung behindert. »Den Eingeborenen gilt die Hockstellung als vor-
teilhafter, einmal weil der Mann sich freier bewegen kann als beim
Knien, dann aber auch, weil die Frau weniger behindert ist bei ihren
Gegenbewegungen .... Mancher Weisse hat mir von dem vielleicht
einzigen Wort der Eingeborenensprache erzählt, das er gelernt habe
kulilabala (»bewege dich weiter horizontal«); es wurde ihm während
des Geschlechtsaktes mit einiger Heftigkeit immer wieder zugerufen.c
Und wie wenig sonst Berichte von Missionaren und befangenen
Ethnographen, die ihre Kenntnisse nicht von den Eingeborenen selbst
beziehen wie Malinowski, für die Beurteilung der Sexualität der
Frauen der Primitiven wert sind, beweisen die Klagen weisser Männer,
dass die eingeborenen Frauen schwer zu erregen seien. Bei uns
schliesst man von der Geschlechtskälte der Frauen nicht auf die
Impotenz der Männer und auf die gesellschaftliche Sexualunter-
drückung, sondern auf die »von der Natur angelegte Geschlechtskälte
oder sexuelle Bedürfnislosigkeit der Frau«; und aus solchen Berichten
von weissen Männern mit verbildeter Sexualität lässt sich leicht sogar
der »ethnologische Beweis« dafür schöpfen.
Zur Herstellung der orgastischen Potenz gehört auch eine ent-
sprechende Sexualerziehung. Bei den Trobriandern üben sich der
Körper und der seelische Apparat von früh auf, wie wir bereits ge-
hört haben, in der natürlichen Technik des Lustgewinns beim Akt,
die ihnen die spätere Erlernung einer künstlichen »Liebes«-Techmk
erspart. Aber es gibt primitive Völker, bei denen der Unterricht im
Sexualakt durch die Frauen eine grosse Rolle spielt. Es wäre wichtig
festzustellen, ob dieser aktive Unterricht durch die Erwachsenen nicht
bereits eine Reaktion auf Schädigungen der Sesual-
struktur dieser Primitiven durch das Eingreifen patriarchalischer
Unterdrückung der kindlichen Sexualität ist, ob er nicht ein Nach-
helfen bedeutet in den ersten Stufen des Patriarchats, das zwar an
der Keuschheit der Mädchen, aber nicht an der Sexualstörung der
Frauen interessiert ist. So berichtet
Angus über die Zeremonie des »Chcnsanwalia bei den Azimba ia Zentral-
afrika (Zeitschrift für Ethnologie, 1898, S. 479): »Bei den ersten Zeichen der ersten
Menstruation führt die Mutter das Judrc Mädchen in eine abgelesene Grashütte,
wo dasselbe die Tatsachen des Geschlechtsverkehrs und die verschiedenen
Stellungen, in denen sich die Koliubitation ausführen lässt, von Frauen lernt.
Zur Erweiterung der Vagina wird ein Hörn in dieselbe eingeführt und durch
eine Bandage befestigt. Nach dem Ablauf der Menstruation führen Frauen vor
dem Mädchen einen Tanz auf. Das Mädchen sitzt im Kreise der Täns'.erinncD
auf der Erde; kein Mann darf zusehen. Das Mädchen muss dann miraisch die
Vollziehung des Koitus vorführen; sodann wird es durch Gesänge über das
Geschlechtsleben und die Pflichten einer Ehefrau unterrichtet; sie erfährt auch,
dass sie während ihrer Menstruation tabu ist und solange ein Büschel Gras vor
der Vulva trasen soll. Die Gesänge lehren auch die Pflichten der ehelichen
Treue der Schwangerschaft, die Künste, durch die sie ihren Mann anziehen
kann um ilire Macht über ihn zu behalten. Diese Belehrung gilt als etwas Selbst-
verständliches, keineswegs Unanständiges; die Frauen dieses Stammes
Die sexuelle Gesundheit der Frauen 19
sind meist Ic e u s c h.« (Zitiert nach Havellock-Ellis: »Geschlecht
und Gesellschaft«. I. B. S. 368.)
Ferner: »In Abessinien und auf Zansibar werden die jungen Mädcheo in
Beckenbewegungen eingeübt, welche den Genuss der Kohubitation erhöhen sollen;
diese sog. ,duk-diik' nicht zu kennen, gilt für eine Schande. Auch die Swaheli
kultivieren Übungen in Hüft- und Gcsässbewcgungen. Die Übung geschieht in
Gruppen von 60 bis 80 Frauen, nackt, manchmal acht Stunden täglich. Zuschauer
werden nicht zu({elassen. Zache hat diesen Tanz näher besclirieben. (Zeit-
schrift für Ethnologie, 1899, S. 72.) (Ebenda S. 368.) Diese Trainierung der
jungen Mädchen dauert fast ein Vierteljahr, worauf sie festlich geputzt nach
Hause zurückkehren, .\hnliche Gebräuche sollen auch in den ostindischen Kolonien
der Holländer und anderwärts im Schwang sein.«
Dieser Bericht enthält gewiss Übertreibungen, aber an der Tatsache
des sesuellen Unterrichts brauchen wir nicht zu zweifeln. Dass diese .
Frauen keusch leben oder in strenger ehelicher Treue, deutet auf ]
fortgeschrittenes Patriarchat hin, und unsere Vermutung, dass es
sich um Versuche handelt, die gestörte Sexualität der Frauen wieder
herzusteilen, ge\sinnl an Wahrscheinlichkeit.
5. KEINE NEUROSEN — KEINE PERVERSIONEN
Bei sexualökonomischem Leben der überwiegenden Mehrheit einer
Gesellschaft kann es — so folgt aus der psychoanalytischen Sexual-
theorie und Neurosenlehre, wenn man sie konsequent zu Ende denkt, ,
keine ^Neurosen geben, weil diese Folgeerscheinungen behinderten ^<Jv-
Genitallebens sind.^) Und weiter folgt aus unseren soziologischen Un-
tersuchungen über die Herkunft und Wirkung der sexualverneinenden
Moral, dass sie es ist, die die Sexualverdrängung, dadurch die sexu-
elle Stauung setzt und mit deren Hilfe die alltäglichen seelischen Kon-
flikte zu neurotischen gestaltet. Aus der psychoanalytischen Erfor-
.schung der Perversionen geht ebenfalls hervor, dass sie letzten Endes
Ergebnisse der Abdrängung der sexuellen Energie von ihrem normalen
genitalen Ziel sind; durch diese Hemmung der Genitalität werden
alle prägenitalcn Ansprüche mit Energie überbesetzt, so dass sie unter
bestimmten Bedingungen als ^ Perversionen zum Vorschein kommen.
Und die Fixierung an einem kindlichen Triebziel, die die psychoana-
lytische Theorie als ihre Grundlage ansieht, ist selbst nichts anderes
als die Folge der Hemmung des natürlichen genitalen Liebeslebens j
der Kinder und der Jugendlichen durch die scxualverneinende Sexual- J
Ordnung, deren Vollzugsorgane die Eltern sind. •
1) (1934.) Für diese Anscliauung trage ich die Verantwortung allein; Freud und
seine Schule lehnen sie ah und wehren sich dagegen; sie wollen sie nicht im
Namen der Psychoanalyse vertreten sehen. Ich muss Freud darin beistimmen:
Diese Grundauffassung der Sexualökonomie ergab sich erst, als die orgastische
Funktion der Genitalität entdeckt war und in das psychoanalytische Lehrge-
bäude eingefügt wurde. Dadurch veränderte sich jedoch die Anschauung von
der Ökonomie der seelischen Erkrankungen wesentlich. Gerade dies hedingte
die Kluft, die die sexualökonomische Theorie von der heutigen psychoanalyti-
schen Neurosenlehre trennt.
Da die sexualmoralische Erziehung aber erst mit dem Interesse
am Privateigentum in die Geschichte der Menschen eintritt und sich
mit ihm entwickelt, sind die Neurosen Erscheinungen der patriar-
^chahschen, priVäteigentümlichen Gesellschaftsordnung.
Nun liefern uns Malinowskis Beobachtungen und seine ver-
gleichenden Untersuchungen den unwiderleglichen Beweis für diese
Zusammenhänge in ebenso klarer Weise, wie sie uns von der Möglich-
keit der Selbststeuerung des Geschlechtslebens durch die Sexualbe-
friedigung überzeugen.
Malinowski hatte Gelegenheit, neben der beschriebenen noch
überwiegend mutterrechtlichen Gesellschaft der Trobriander eine
Gesellschaft von Primitiven südlich von den Trobriand-Inseln auf
den Amphletts zu beobachten. Dieses Volk ist, schreibt Malinowski,
den Trobriandern sehr ähnlich in Rasse, Bräuchen und Sprache,
unterscheidet sich aber von diesen beträchtlich in ihrer sozialen Or-
ganisation; sie weisen bereits strikte sexuelle Moral in bezug auf
vorehelichen Geschlechtsverkehr auf, den sie verurteilen, und sie
haben keine Institutionen wie die Trobriander, die das Geschlechts-
leben fördern; bezeichnend ist, dass ihr Familienleben bedeutend mehr
gebunden ist. Obwohl noch mutterrechtlich organisiert, haben sie
eine weit stärkere patriarchalische Autorität entwickelt und »dies,
kombiniert mit der sexuellen Unterdrückung, bedingt ein Bild des
kindlichen Lebens, das dem unseren sehr ähnlich ist.« Malinow-
ski schreibt: »Bei den Trobriandern. die ich sehr genau kenne, könnte
ich keinen einzigen Mann und keine Frau nennen, die hysterisch oder
auch nur neurästhenisch waren. Nervöse Tics, Zwangshandlungen
oder Zwangsgedanken waren nicht zu finden.« Es kommen gelegent-
lich Kretinismus, Idiotie und Sprachstörungen vor; ferner gelegent-
liche Ausbrüche von Zorn und Gewalt. Dies alles wird von den Ein-
geborenen schwarzer Magie zugeschrieben. Dagegen glauben die
Trobriander, dass es auf den Ämphlett-Inseln eine andere Art
»schwarzer Magie« gibt, die verschiedene Formen von Zwangsakten,
-gedanken und nervösen Symptomen erzeugt: ». . . während meines
Aufenthaltes auf der Amphlett-Insei war mein erster und stärkster
Eindruck, dass das eine Gemeinschaft von Neuras thenikern ist . . .
Von den offenen, freudigen, herzlichen und zugänglichen Trobriandern
kommend, war es erstaunlich, sich in einer Gemeinschaft zu finden,
die jedem neuen Ankömmhng misstraute, ungeduldig war bei der
Arbeit, arrogant in ihrem Auftreten. Die Frauen rannten weg, als
ich landete und hielten sich die ganze Zeit über verborgen . . . Ich
fand sofort eine Reihe von Leuten von Nervosität crfasst (affected
with nervousness)«^).
1) Malinowski: »Sex und Repression in Savage Society« (S. 86 f.), London,
kegan 1927.
2) Ebenda (S. 88).
Patriarchalische und matriarchalische Primitive 21
Noch interessanter und für unsere ganze Auffassung des Zusam-
menhanges zwischen sozialer Organisation, sexueller Ökonomie und
Neurosen, massgebend ist, was Maiinowski von den Mailu, einem
die südliche Küste von New-Guinea bewohnenden Volksstanim be-
richtet, der bereits völlig patriarchalisch organisiert ist: ». . . sie
haben eine ausgesprochen väterliche Autorität in der Familie und
strikte Vorschriften verdrängender Sexualmoral. Unter diesen Pri-
mitiven fand ich eine Reihe von Neurasthenikern, die sich deshalb
als unfruchtbar erwiesen zu ethnographischen Forschungen und In-
formationen.« (1. c. S. 89.) Und weiter: »Es trifft für die Trobriander
völlig zu, dass dort das freie Sexualleben keinerlei Homosexualität
aufkommen lässt. Es flammte auf den Trobriand-Inscln auf nur
durch den Einfluss des weissen Mannes, spezieller seiner Moral. Die
Knaben und Mädchen in der Missionsstation lebten in gesonderten
und streng isolierten Häusern, .... mussten einander helfen, so gut
sie konnten, seitdem das, was jeder Trobriander als sein gutes Recht
und als seine Pflicht betrachtet, ihnen versagt wurde. Sehr sorgfältige
Untersuchungen der Stämme mit und solcher ohne Missionare bei
den Eingeborenen zeigen, dass die Homosexualität die Regel bei den-
jenigen ist, denen die Moral des weissen Mannes aufgezwungen wurde
auf eine derartig unrationale und unwissenschaftliche Weise.«
Hier wirkt bereits die ökonomische Expansion der kapitalistischen
Wirtschaft, die die Missionare vorausschickt, um die Eingeborenen zu
präparieren mit Moral, Alkohol, Religion und anderen »Gütern der
Kultur«, zu deren Verteidigung und Rechtfertigung dann das Bürger-
tum die besten und genialsten seiner Forscher heranzuziehen versteht.
Wir müssen aber auch feststellen, dass die Eigenentwicklung der ma-
triarchalischen Gesellschaft mit Notwendigkeit, wenn auch unvergleich-
lich langsamer und milder, zu qualitativ gleichen Erscheinungen der ^
Sexualmoral führt. Die Missionare und sonstigen weissen Räuber j
beschleunigen bloss diesen Prozess und erfüllen ihn mit der Grausam- j
keit des impotenten und besitzgierigen »Kulturträgers«. »
Fügen wir noch an, was Maiinowski in seinen Werken über
das Geschlechtsleben der Trobriander über Perversionen berichtet:
s- Widernatürliche Unzucht« kommt nicht vor. Erscheinungen wie
Sodomie, Homosexualität, Fetischismus, Exhibitionismus und Mastur-
bation gelten den Eingeborenen nur als armselige Ersatzmittel für
den natürlichen Geschlechtsakt und deshalb als schlecht und nur
eines Toren würdig. Besonders kränkend für seine Eitelkeit wäre
die Voraussetzung, er müsse wohl unfähig sein, seine Triebe auf na-
türlichem Wege genussreich zu befriedigen, da er zu solchen Ersatz-
mitteln greife. Der Trobriander verachtet Perversionen, wie er einen
Menschen verachtet, der geringe oder unreine Dinge verzehrt statt
guter reiner Nahrung.
22
Die sexuelle OekoDomie in der mutterrechüichen Gesellschaft
»Im folgenden gebe ich einige typische Bemerkungen zum Thema »Perver-
sionen« wieder: »Kein Mann und keine Frau in unserm Dorfe tut es.« »Niemand
durchbohrt gern Exkrement.« »Kein Menseh hat seinen Hund lieber als seine
Frau.« »Nur ein Idiot (tonagawa) würde das tun.« »Nur ein ionaaaiva onaniert. Es
ist eine grosse Schande; wir wissen dann, dass keine Frau mit ihm koitieren will;
wir wissen: ein Mann, der das tut, kann keine Frau erwischen.« Alle Aussagen
der EiDgeborenen betouen das Unbefriedigende des Ersatzes, des Notbehelfs, und
sie folgern daraus sowohl die bedauernswerte Armseligheit des Betreffeuden,
als auch sein sexuelles Manko. Es wird etwa Orato'u als Beispiel angeführt,
der Dorfnarr von Omarakana, der verkrüppelt ist und nicht richtig sprechen
kann, oder verschiedene Albinos oder ein paar besonders bässliche Frauen; die
mögen sich vielleicht der einen oder anderen I'erversion hingclicn, sagen die
Eingeborenen, doch nie ein normaler Mann oder eine normale Frau . . - Wird
Inversion definiert als eine Beziehung in der Detumesxenz, die regelmässig durch
Berührung mit einem gleichgeschlechtlichen Körper herbeigeführt wird, so sind
die Männerfreundschatten auf den Trobriandinscln nicht homosexuell, und In-
vertiertheit kommt überfiaupt nicht häufig vor. Denn wie gesagt, gilt diese
Betätigung wirklich als schlecht und unrein, weil sie mit Ausscheidungen in
Berührung bringt, die dem Eingeborenen wahrhaft Ekel einflössen. Und wäh-
rend die üblichen Zeichen der Zuneigung zwischen Angehörigen desselben Ge-
schlechts durchaus gebilligt werden, würde jede erotische Zärtlichkeit, wie Kratzen,
Wimpern- Abbeissen oder Berührung mit den Lippen die Eingeborenen empören.«
(Malinowski, Das Geschlechtsleben der Wilden, S. 336 ff.)
Der Trobriander enUvickelt also einen genitalen Stolz und dement-
sprecliendes Ehrgefühl (sexualbejahendes Ich ideal), das
ihn zu einer trefflichen Einschätzung der eigentlichen Natur der
Perversion befähigt. Unsere sexualverncinende gesellschaftliche At-
mosphäre hat es zuwege gebracht, dass die besten unserer Sexiial-
forscher diesen einfachen Zusammenhang zwischen der Störung der
Potenz durch die Gesellschaftso rdnung und den EeEyeEsioiieiL_alS.
Ersatzbefriedigungen der Genitalitüt nicht erkannten. »In mancher
Hinsicht sind seine Regelungen biologisch besser begründet und ge-
sünder als unsere eigenen, in anderer Hinsicht feiner und scharf-
sinniger, und in noch anderer Hinsicht ein wirksamer Schutz für Ehe
^ und Familie,« (1. c. S. 315) schreibt Malinowski.
r Nur die ersten zwei Feststellungen sind richtig: Das Sexualleben
\ dieser Primitiven ist natürlich, sexualökonomisch geregelt; auf dieser
Grundlage entwickelt sich eine hohe Sexualkultur. Aber den an-
geblichen Schutz für Ehe und FamiUe, den das bedeuten soll, trägt
Malinowski, der sich trotz seiner eigenen Forschungen von der
biologischen Auffassung der Familie nicht freigemacht hat, in die
Tatsachen hinein.
»Die Formen der Zügellosigkeit, wie sie auf den Trobriand-Inseln
vorkommen, passen so gut in das Gefüge von Individualehe, Familie,
Clan und örtlicher Gruppe und erfüllen gewisse Aufgaben so durchaus
zweckmässig, dass nichts Wichtiges und Unverständliches durch Hin-
weise auf hypothetische frühere Zustände wegzuerklären bleibt. Diese
Formen existieren noch heule, weil sie Seite an Seite mit Ehe und
Familie, ja zum Besten von Ehe und FamiUe gute Dienste leisten;
und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass in der Vergangenheit
\
Verachtung der Geschlechtsverirrungeo 23
andere Ursachen für ihr Bestehen massgebend waren als in der Gegen- »
wart.« (Geschlechtsleben der Wilden, S. 385.) Wir werden an Ma-
linowskis eigenen Berichten zeigen können, dass das szügellose«,
biologisch regulierte Sexualleben der Trobriander doch in Wider-
spruch zu ihrer Ehe und Familie steht, und dass uns, wenn wir schon
unbedingt Partei ergreifen wollen für die »Zügellosigkeit« o li n e
Neurosen und Perversionen oder für Ehe und Familie mit Perver-
sionen und Neurosen und sexuellem Elend, nichts übrig bleibt, als
uns für eines von beiden zu entscheiden.
»Ob diese einander ergänzenden Perversionen im Gesclilechtslcben der Ein-
geborenen eine grosse Rolle spielen, vermag ich nicht zu sagen. Die grausamen
Formen der Zärtlichkeit — Kratzen, Beissen, Spucken — , die der Mann mehr
noch als eine Frau über sich ergehen lassen muss, beweisen, dass sie als Element
der Erotik im Liebesspiel der Eingeborenen nicht unbekannt sind. Andererseits
ist Geisselung als erotischer Brauch gänzlich unbekannt, und die Vorstellung,
dass Grausamkeit an sich ■ — ob nun aktiv begangen oder passiv hingenommen —
eine wohltuende Detumeszenz herbeiführen könnte, erscheint den Eingeborenen
nicht nur unverständlich, sondern lächerlich. Ich möchte daher annehmen, dass
diese Perversionen in ihrer ausgesprochenen Form nicht existieren . . .
Fellatio wird beim vertraulichen Liebesspiel wahrscheinlich geübt. Ich habe
meine Kenntnisse ausschliesslich von Männern bezogen, und da wurde mir gesagt,
dass ein Mann niemals die weiblichen Genitalien in dieser Art berühren würde;
gleichzeitig aber versicherte man mir Penilinctus werde in ausgedehntem Mass
geübt. Ich bin jedoch von der Wahrheit dieser männlichen Darstellungsweise
keineswegs überzeugt. Der Ausdruck ikfiniimuiaai kalu momona, .den Ausfluss
aus den Genitalien auflecken', bezeichnet beide Formen der Fellatio (1. c. S. 340).
Masturbation ist ein anerkannter Vorgang, auf den oft im Scherz angespielt
wird. Die Kingeborenen behaupten Jedoch, nur ein Idiot täte so was, oder ein
unglücklicher Albino oder ein Mann, der nicht richtig sprechen könnte: mit
anderen Worten: nur jemand, der bei den Frauen nichts erreichen kann. Mastur-
bation gilt daher als unfein und eines Mannes nicht würdig, doch mehr im
spasshatten Sinne; jedenfalls wird sie sehr milde beurteilt. Genau dieselbe
Haltung wird gegenüber der weiblichen Masturbation eingenommen.
. . . Exhibitionismus gilt bei den Eingeborenen als wahrhaft verächtlich und
widerlich,
. . . Wenn man die Seitenpfade des Geschlechtstriebes behandelt, so lässt
sich keine strenge Grenze ziehen zwischen gewissen Praktiken — wie Fellatio
und leidenschaftlichen überschwenglichen Liebkosungen — als vorbereitenden
geschlechtlichen Zärtlichkeiten einerseits und als Selbstzweck, das heisst als
endgültige Perversion andererseits. Entscheidend ist, oh sie nur als Teil des
Liebesspiels zum normalen Koitus führen oder an sich schon genügen, die
Detumeszenz herbeizuführen. In diesem Zusammenhang sollte man nicht ver-
gessen, dass die nervöse Reizbarkeit der Eingeborenen viel geringer ist als unsere
eigene; ihre erotische Phantasie ist verhältnismässig träge; geschlechtliche Er-
regung und Tumcszcnz wird nicht nur durch Anblick, Geruch oder Berührung
der Geschlechtsorgane erreicht; um beim Mann oder Weib Orgasmus berbei-
zuführen, ist stärkere körperliehe Berührung, vorbereitendes Liebesspiel und vor
allem direkte Reihung der Schleimhäute nötig. Es ist daher anzunehmen, dass
bei den Eingeborenen das vorbereitende Liebesspiel weniger leicht zum Selbst-
zweck wird, also sich zu Perversionen entwickelt, als bei leichter erregbaren
Völkern. a (S. 341.) — »Szenen, wie sie nach Einbruch der Dunkelheit und schon
vorher in jedem europäischen Park häufig zu sehen sind, wären in einem
TrobrJanderdorf ganz ausgeschlossen.« (S. 343.) — »Die ganze Einstellung der
Trobriander gegenüber geschlechtlichen Exzessen zeigt, dass sie Zurückhaltung,
Würde und Erfolg hoch einschätzen und bewundern; nicht nur, weil es einem
Menschen wohl ansteht, sondern ■weil es beweist, dass er es nicht nötig hat,
den Draufgänger zu spielen. Das sittliche Gebot, bei der Werbung Gewalttätigkeit,
24
Die sexuelle Oekonomio iu der mutterrechtlichen (Je Seilschaft
\
drängendes Ungestüm und Überredungskünste aus dem Spiel zu lassen, liegt in
der starken Überzeugung hegründet, dass solche Mittel schimpflich seien; denn
wahrer Wert und wahre Würde licKt dai-in, dass man begehrt wird, dass man
durch persönliche Vorzüge, durch Schönheit und Magie erobert.« (I. c. S. 351.)
Wir sehen, die moralischen Wertungen des Trobrianders sind von
den unsrigen prinzipiell verschieden. Bei uns wird aus allgemeiner
Sexual Verneinung gewertet, der Trobriandcr wertet aus einer posi-
tiven Einstellung zum genitalen Geschlechtsleben in trefflicher Er-
fühlung der Krankhaftigkeit oder Defektuosität der Perversionen.
»Wenn eine Frau keine Männer hat, die zu ihr kommen, und sie
seihst die Initiative ergreift und zu einem Manne geht, nennen wir
sie eine Hure.« »Es liegt auf der Hand«, schreibt Malinowski
mit Recht, »dass solche Frauen deshalb moralisch verurteilt werden,
weil erotische Erfolglosigkeit als Schande gilt.« (S. 350.) Das ist
zwar auch bei uns der Fall, aber diese Wertung bleibt geheim, hat
keine offizielle Geltung. Die bürgerliche Anschauung von Zucht und
Sitte wertet nicht negativ, weil Erfolglosigkeit, sondern im Gegenteil,
weil sexuelles Verlangen a usserhalb und i n gewissen Schichten auch_
innerhalb der Ehe als Schande gilt. Die Konsequenzen dieser beiden
1 verschiedenen Wertungen, der sexualökonomischen und der morali-
I sehen, sind nicht geringfügig: Jene treibt zu Vollenlfallung von ge-
'nitaler Tüchtigkeit, körperlicher Schönheit und Anziehung an; diese
■ bedingt das Gegenteil, Verkrüppelung der Sexualität, Verbergen des
■ Körpers und Verunstaltung (vgl. die Kirche als Feind des weiblichen
l Turnens).
Nehmen wir ein anderes Beispiel der sexualökonomischen Wertung
des Trobrianders. Er verurteilt sexuelle Lüsternheit und Geilheit, die
typischen Produkte der Sexualunlerdrückung. »Die Unfähigkeit,
seinen Trieb zu beherrsclien«, berichtet Malinowski, »welche zu
fortgesetzter, aggressiver geschlechtlicher Betätigung führt, wird an
Mann und Frau als verächtlich angesehen.« (S. 350.) Es handelt
sich offenbar um eine Ungenauigkeit des Ausdrucks. Der Trobriander
wird nicht die Unfähigkeit, sich zu beherrschen, sondern die Grund-
lage der pathologischen Sexualaggression, die gestörte Befriedigbar-
keit ablehnen. Das geht aus der Gesamteinstellung des Trobrianders,
der ja täglich verkehren kann und keine genitalen Hemlmungen kennt,
eindeutig hervor.
Hier muss eine wichtige Tatsache vermerkt werden: Der durch
eine Psychoanalyse geheilte Neurotiker oder Perverse, der vorher
lüstern, sexuell aggressiv oder unersättlich war, weil seine Befriedig-
barkeit gestört war, beginnt nach der Behandlung, in dem Masse wie
seine Genitalität vom moralischen Druck befreit wird und er von
der Sexual Verneinung zur Sexualbejahung fortschreitet, ähnliche Züge
der natürlichen Zurückhaltung, der Auswahl des Partners nach sexu-
alökonomischen Gesichtspunkten, der Ablehnung des Verkehrs mit
SexualökoQomischc uad scxualmoralische Wertung 2&
Prostituierten, der Onanie und selbständiger perverser Akte liervor-
zukehren wie der von vornherein sexualökonomisch organisierte
Trobriander, Wir dürfen daher sagen, dass der Wegfall der morali-
schen Hemmung die sexualökonomische Regulierung des Liebeslebens
zur Geltung kommen lässt, während die Sexualm oral das gerade Ge-
genteil des Beabsichtigten erzielt.
Wir werden im nächsten Abschnitt die Veränderungen im Sinne
der europäischen und amerikanischen Moral zu behandeln haben, die
die Entwicklung des Patriarchats in diese sexualökonomisch regulierte
Gesellschaft wie einen Keil hineintreibt. Und wir werden sehen, dass
mit dem Vordringen der Sexualmoral und in gleichem Schritt mit ihr
sich die Erscheinungen unserer Kulturkreise deutlich ausbilden, so
vor allem in Verbindung mit all dem, was mit der Eheinstitution und
ilirer wirtschaftlichen Grundlage zu tun hat.
m
•^ -v^.
II. KAPITEL
DIE ÖKONOMISCHEN UND SEXUELLEN
WIDERSPRÜCHE DER TROBRIANDER
1. DIE MUTTERREGHTLIGHE ORGANISATION UND
DAS AUFSTEIGENDE PATRIARGHAT
Die von Malinowski durchforschte mutterrechllichc Organisa-
tion der Trobriander in Nordwest-Melanesien ist ganz besonders ge-
eignet, Licht auf die so dunkle Entstehungsgeschichte der sexual-
verneinenden Moral und ihren Zusammenhang mit dem Beginn der
Klassenteilung zu werfen, und dies aus folgendem Grunde.
Malinowski betont an verschiedenen Stellen seines Berichtes,
dass sich bei den Trobriandern sehr merkwürdige Widersprüche er-
geben zwischen der mütterlichen Erbfolge und der mütterlichen Clan-
Einteilung einerseits und der Rolle, die der Mann, sei es als Bruder
der Mutter, sei es als Gatte in dieser Gesellschaft spielt. Wir wollen
zuerst das Material zusammentragen, um daraus später unsere
Schlüsse zu ziehen, und nehmen nur vorweg, dass es sich um Wider-
sprüche zwischen (noch) mutterrechllicher und (schon) beginnender
vaterrechtlicher Organisation handelt. Hören wir zunächst Mali-
nowskis Bericht über die wirtschaftliche und soziale Organisation
der Trobriander, die er immer wieder und mit Recht als die Grund-
lage der sexuellen Verhältnisse bezeichnet^).
Der Trobri and- Archipel liegt im Nordosten von Neu-Guinea und
besteht aus einer Gruppe flacher Koralleninseln, die eine weite La-
gune umrahmen. Die Landflächen sind sehr fruclitbar und die Lagunen
fischreich. Die Bewohner der einzelnen Inseln stehen in Handels-
verkehr miteinander, ebenso die Küstenbewohner mit den Bewohnern
des Innern der Inseln. Ackerbau und Fischfang sind die wirtschaft-
lichen Grundelemente. Es herrscht reger Tauschhandel an Garten-
1) Die Dächstfoigende Beschreibung entnehmen wir »Crime and Custom in Savage
Society«, S. 1 bis 39.
Urkommunismus und Tauschverkehr 27
fruchten gegen Fische und umgekehrt. Die Produktion ist gesell-
schaftUch, ebenso die Produktenverteilung. Malinowski, der sich
vom Begriff des Kommunismus eine falsche Vorstellung macht, be-
streitet, dass die Wirtschaftsordnung der Trobriander irgendwie mit
dem Ausdruck »Urkommunismus« erfasst werden könnte, doch geht
aus seiner genauen Beschreibung etwa der Besitzverhältnisse an
Kanus der kommunistische Charakter eindeutig hervor. In jedem
Kanu findet sich zwar nur ein Mann, der der rechtmässige Besitzer
(»rightfui owner«) ist; aber alle Männer, die ein Kanu bedienen,
gehören in der Regel einem Unterclan an; sie sind aneinander durch
bestimmte Verpflichtungen gebunden: Wenn die Gemeinschaft
fischen geht, kann der Eigentümer sein Kanu nicht verweigern. M a-
1 i n o w s k i spricht an verschiedenen Stellen von ausgesprochenem
Besitz und erwähnt dabei gerade das Kanu. Wir sehen aber an der
genannten Verpflichtung, dass dieser »Besitz« nichts mit unserem
Eigentum an Produktionsmitteln zu tun hat, dass es sich vielmehr prak-
tisch um Gemeineigentum handelt. Wenn der »Eigentümer« nicht selbst
ausfahren kann, muss er entweder das Kanu überlassen oder einen
Vertreter schicken. Jeder Mann aus einer Kanugruppe hat einen be-
stimmten Platz und eine bestimmte Aufgabe und ist verpflichtet, teil-
zunehmen. Jeder bekommt auch seinen Teil von den gefangenen Fi-
schen. Malinowski erwähnt an keiner Stelle, dass der »Besitza
des Kanus besondere Vorrechte einräumt. Die Bezeichnung »toli«
(Eigentümer) drückt nur einen Wert aus, bedeutet nur eine Aus-
zeichnung, »selbst wenn sie keinen Anspruch auf ausschliessliche
Benützung des Gegenstandes erteilt.« (»Geschlechtsleben« S. 17.)
»Thus Ihe ownership and use of thc canoe consists of a series of
definile obligations and duties uniting a group of pcople into a wor-
king team.« (»Crime and Custom«, S. 18.)
Sowohl der »Besitzer« wie die übrigen Gruppenmitglieder sind
berechtigt, ihre Rechte an irgendeinen Verwandten oder Freund ab-
zutreten. Dies geschieht oft, aber immer gegen irgendein Entgelt.
Malinowski spricht sich streng gegen die Auffassung dieser Ver-
hältnisse als kommunistischer aus und sagt, man könnte mit dem
gleichen Rechte eine moderne joint-stock Company als Kommunismus
bezeichnen. Daraus geht seine Unkenntnis der kapitalistischen Wirl-
schaftsverhältnisse hervor, die Nichtunterscheidung zwischen gesell-
schaftlicher und privater Aneignung der gesellschaftlich erarbeiteten
Produkte. Ihm schwebt die typisch bürgerliche Vorstellung von Kom-
munismus vor als einer Organisation, in der der einzelne keinerlei
Rechte hat, wo kein Selbstinteresse besteht. Er beurteilt von diesem
Standpunkt die trobriandrische Gesellschaft und kritisiert die Be-
schreibungen der Urgesellschaft in Ausdrücken wie » Kommunismus«,
»Clansolidarität« etc. Elr stellt demgegenüber kritisch fest, dass ein
bestimmtes System herrscht von Arbeitsteilung und gegenseitigen
28
Die ökonomischen und sexuellen Widerspiücliü der Trohriandcr
Verpflichtungen, in das ein bindendes Pflichtgefühl und die Erkennt-
nis der Notwendigkeit der Zusammenarbeit Seite an Seite mit Selbst-
interesse (»self-intcrest«) und Pri\ilegien eingreifen. Was Mali-
nowski über den Kanubesitz berichtet, entspricht aber vollkommen
den jnarxis tischen Beschreibungen des Urkommunismus. Der Be-
sitzer des Kanus (»the master of the canoe«), der gleichzeitig der
Führer der Gruppe ist, hat vor allem den Bau eines neuen Kanu zu
finanzieren (es herrscht Naturalwirtschaft), wenn das alte abge-
braucht ist, und er hat es in gutem Zustande zu erhalten, wobei ihm
die übrigen MitgUeder der Kanugruppc helfen. So bleiben die
Mitglieder in ständiger wechselseitiger Verpflichtung. Jeder Mit-
besitzer (»Joint owner«) hat das Recht auf einen bestimmten Platz
und die Privilegien, die damit verbunden sind. Er hat dafür seinen
Posten auszufüllen und bekommt einen bestimmten Titel (»Eigen-
tümer«, »Beobachter der Fische«, »Netzhalter« etc.). Wir finden
also Gemeinbesitz, Arbeitsteilung, Vergesellschaftung der Arbeit und
der Arbeit entsprechende Verteilung der Produkte: Urkommu-
n i s m u s^) .
Je zwei Dörfer stehen gewöhnlich im Tauschhandel miteinander.
Ein Teil der Fische wird behalten, der Überschuss wird gegen Über-
schüsse an Gar tenf rächten eines zweiten Dorfes ausgetauscht. Jeder
Fischer ist streng verpflichtet, seine Schuld an den Gartenfruchtpart-
ner zu begleichen, wenn er von ihm Gartenfrüchte bekam, und um-
gekehrt. Kein Partner kann das verweigern, keiner kann es auf-
schieben.
Das gesamte Rechtssystem, schreibt Malinowski (»Crime and
Custom«, S. 25) beruht auf der »Symmetrie aller sozialen Transaktio-
nen«, auf der Gegenseitigkeit der Dienste, so dass der Austausch ein
System soziologischer Bindung ökonomischer Natur herstellt. Dieses
Prinzip der Gegenseitigkeit ersetzt die gesellschaftliche^Sanktion für
jede Regel. Zwei Parteien, die Dienste und Funktionen austauschen,
überwachen gegenseitig genau das Mass der Erfüllung und die anstän-
dige Hallung beim Austausch. Dieses wohlgeordnete Prinzip des Ge-
bens und Nehmens (»well-assessed give and take«) bedingt eine freie
und leichte Art der Erledigung der Geschäfte.
Hier müssen wir die Schilderung der ökonomischen Grundlagen
1) (1934.) Ohne auf den Unterschied zwischen Kesitztiim und Eigentum streng
juristisch einzugehen, sei nur festgestellt, dass »Besitz« und »Eigentum« sich
nicht decken. Es ist wahrscheinlich, dass der »rechtmässige Besitzer« des
Kanus über seine Pfeife verfügen kann, weil sie sein persönliches Eigentum
ist; das trifft für das Kanu nicht zu. Der heutige Kommunismus will ja
nicht das Eigentum überhaupt abschaffen, sondern nur die Produktionsmittel
aus dem Privateigentum in gesellschaftlichen Besitz überführen. In diesem
Sinne hätten die Geseilschaft oder deren Repräsentant kein Hecht, mit den
landwirtschaftlichen Machinen, die sie besitzen, zu tun, was sie wollen, sie
besässen sie nur wie der Kanubesitzer sein Kann besitzt: sie hätten die Sorge
dafür zu tragen und wären dafür verantwortlich.
Die Stellung des Vaters und Mutterbruders 29
abbrechen. Wir werden auf die ökonomische und soziale Struktur
anlässlich des Heiratsgutes noch genau einzugehen haben.
Der wichtigste Faktor im Recbtssystem , der Trob riand er ist die
Vorstellung, dass einzig und allein die Mutter den Leib d7s Kindes
aufbaue und dass der Mann in keiner Weise zu seijner Entstehung
beitrage. Das Kind bestehe aus der gleichen Substanz wie die Mutter,
habe aber mit dem Vater kehierlei leibliche Verbindung; die Rolle des
Mannes bei der Zeugung ist unbekannt. Infolgedessen folgen Clan-
einteilung und Inzesttabus nur der mütterlichen Linie. Alle Blutsver-
wandten mütterlicherseits bilden einen Clan, diese Clans sind in Un-
terclans eingeteilt, die sich durch nähere und entferntere Blutsver-
wandtschaft unterscheiden.
»Die Untercians sind mindestens ebenso wichtig wie die Clans, denn die
Angehörigen desselben ITnterclans sind wirklich blutsverwandt, vom gleichen
Rang und bilden die lokale Einheit der trohriandrischcn Gesellschaft. Jede
lokale Dorfgemeinschaft besteht nur aus Menschen, die einem einzigen Unter-
clan angehören; sie haben gemeinsame Ansprüche auf den Grund und Boden
des Dorfes, auf das umgebende Gartenland und auf eine Anzahl lokaler Vor-
rechte. Grossdörfer bestehen aus mehreren lokalen Einheiten, doch jede Ein-
heit hat ihren zusammenhängenden Grund und Boden im Dorf und angrenzend
ein grosses Stück Gartenland.«; (»Das Geschlechtsleben der Wilden«, S. 354.)
Für die Angehörigen des Unterclans herrscht strengstes, für die
des Clans etwas gemildertes Inzesttabu. Die Angehörigen eines Unter-
clans betrachten sich als wirkliche Blutsverwandte, während sie die
Angehörigen eines anderen, jedoch zum gleichen Clan gehörigen Un-
terclans bloss oberflächlich, mehr bildlich als Blutsverwandte ansehen.
Im Ganzen gibt es vier Clans nach ihrer totemistischen Einteilung.
Nach der Meinung der Eingeborenen ist die Clanzugehörigkeit ebenso
angeboren wie körperliche Eigenschaften. , ■«♦■ItMtcXL
Der Bruder der Mutter hat zu ihren Kindern eine ganz andere
Stellung als ihr Gatte, deren eigentlicher Vater. Der Mutterbruder ist j
das eigentliche Oberhaupt der Familie in der matriarchalischen Ge-
sellschaft. Er ist der »Vormund« der Kinder seiner Schwester, lehrt
sie, wenn sie herangewachsen sind, die magischen Künste und die
Ideale des Clans, er wird von ihnen respektiert und ist das Vorbild
der heranreifenden Knaben, die ihn später einmal beerben sollen.
Er hat gleichzeitig für seine Schwester zu sorgen und ist derjenige,
der das Heiratsgut zu liefern hat. Ihr Gatte hat eher die Stellung
eines geschätzten Freundes, der sich liebevoll der Kinder seiner
Freundin annimmt als ihr erwachsener Kamerad und Gespiele. Aus
diesen Beziehungen ergibt sich, dass die Kinder zu ihren Vätern (die-
ser Begriff ist für die trobriandrische Gesellschaft rein sozial zu den-
ken) nicht die Einstellung wie bei uns entwickeln; sie betrachten
i hn a ls Freund, nicht als Autorität. Diese fällt, wie erwähnt, dem/
mütterlichen Onkel zu.
Diesem rein mutterrechtlichen Prinzip steht nun ein anderes ent-
30 Die Ökonomischen und sexuellen Widersprüche der TrobrianUer
gegen, das, zumindest in seinen sozialen Zügen, bereits die Bezeich-
nung eines valerrechtlichen verdient. Die entsprechenden Einrichtun-
gen sind folgende: Zunächst ist die Ehe patrilokal, das heisst, die
Ehefrau folgt dem Manne in sein Dorf. Nur der Sohn des Häuptlings
heiratet »matrilokal«, was, wie wir später hören werden, einen be-
sonderen ökonomischen Grund hat. Es herrscht bereits ausgesproche-
nes Besitzinteresse des Mannes, ebenso Hegt die eigentliche Funktion
der Macht bei ihm, wenn sie auch aus der Mutterlinie hervorgeht.
Hier gerät das ursprüngliche Mutterrecht mit dem beginnenden Vaterj^
recht in Konflikt. Malin owski spricht zwar von Einrichtungen,
»die dem Stammesgesetz und seinen multerrechtlichen Forderungen
ebenso gerecht werden wie den Ansprüchen der Vaterliebe, die dem
Sohn alle möglichen Vorteile zuwenden möchte« (1. c. S. 70), aber
es wird bald klar werden, dass diese »Vaterliehe« mit ihren Rechten
und Ansprüchen bereits klares Ökonomisches Vaterrecht in seinen
erslen Stufen darstellt. Die Dorfgemeinschaft hat auch einen Häupt-
ling, mehrere Dorfgemeinschaften haben einen übergeordneten Häupt-
ling, der viele Vorrechte geniesst. Doch ist die Frau
»ausgeschlossen von der Ausübung der Macht, vom LandbesitE und vielen an-
deren öffentlichen Vorrechten; daraus folgt, dass sie keinen Platz bei der
Stammesversammliing und keine Stimme hei den öffentlichen Beratungen hat,
die in Verbindung mit Gartenbestellung, Fischfang, Jagd, überseeischen Ex-
peditionen, Krieg, rituellem Handel, FesUichkeiten und Tänzen abgehalten wer-
den.« CS. 26/27.)
Wir sehen hier bereits so deutliche Anzeichen des Vaterrechts,
dass wir Malinowskis Anschauung, es handle sich bloss um »An-
sprüche der Vaterliebe«, nicht zustimmen können. Dass es sich um
die eindringende vatcrrechtUche Herrschaft handelt, lässl sich aus
dem Brauch des Heiratsgutes ökonomisch klar ableiten. Doch zu-
nächst wollen wir uns die Stellung d es Häup tlings näher ansehen.
»Bemerken swerterweise ist die Quelle der Macht in erster Linie wirtschaft-
licher Art; der Häuptling kann viele seiner Funktionen als volIiiehcDde Gewalt
nur deshalb ausüben und gewisse Ansprüche nur deshalb erheben, weil er der
reichste Mann des Dorfes ist. Er hat das Recht auf Ehrenbezeugung, Gehor-
sam und Dienstleistungen; er kann von seinen Untertanen die Teilnahme an,
Kriegen, Expeditionen und Festlichkeiten verlangen; doch für alles muss er
kräftig zahlen. Er muss grosse Feste geben und alle Unternelimungen finan-
zieren, indem er die Teilnehmer speist und die Hauptbeteiligten entlohnt.
Macht auf den Trobriand-Inseln ist im wesentlichen plutokratisch. Nicht
weniger merkwürdig und unerwartet ist ein anderer Wesenszug dieses Regie-
runtrssy.stcras: obwohl der Häuptling ein grosses Einkommen braucht, ist doch
nichts dergleichen mit seinem Amte verbunden; die Bewohner seines Gebietes
zahlen keine wesentlichen Tribute an ihn, wie sonst Untertanen ihrem Herr-
scher. Die kleinen alljährlichen Gaben oder Tribute an besonderen Lecker-
jjisgeß der erste gefangene Fisch, das erste Gemüse, besondere Nüsse und
Früchte bilden durchaus keine Einnahmequelle; tatsächlich muss sie der
Häuptling nach ihrem vollen Wert bezahlen. Sein wirkliches Einkommen cr-
fliesst ihm ganz und gar aus der alljährlichen EhL-beisteuer; diese ist jedoch
"in seinem Fall sehr gross, denn er hat viele Frauen, und jede von ihnen wird
f
Das Heiratsgut als Zerstörer der rautterrechllichcn Gesellschaft 31
viel reichlicher ausgesteuert, als wenn sie einen einfachen Manu geheiratet
hätte.« (S. 95.)
Nur der Häuptling hat das Recht zur Polygamie. Wir wissen
nun, dass es in der ethnologischen Forschung zwei Hauptrichtungen
gibt, die zueinander in Gegensatz treten. Die eine ist die, welche in
der mutterrechtlichen Organisation die ursprüngliche Form der . . . ., .
menschlichen Gesellschaft überhaupt erblickt, aus der sich im Laufe T f*^"**"*«^
der wirtschaftlichen Entwicklung die Organisation des Patriarchats (^y
und der Polygamie heraus entwickelte. Die Hauptverfechter dieser
Anschauung sind Morgan und Engels. Die andere Richtung ver- -^' "
tritt den Standpunkt, dass sich die heutige Organisation^derJFamilie, N^
nämlich die vaterreehtüche, bereits in der Urzeit, und zwar als Ur-
sprungsorganisation in Form der polygamen Urhorde unter der Lei- (n\
tung eines starken Männchens, herstellte. Ihr schloss sich auch ^^
Freud an. Wir wollen hier das Für und Wider dieser beiden mch-'"^'^"f''f^*^f^
tungen noch nicht diskutieren und erwähnen sie an dieser Stelle nur^
weil wir in der Organisation der Trobriander die beiden Organisations-
formen ineinander verflochten finden. Es muss nur noch vermerkt
werden, dass die Vertreter des Mutterrechts als ursprünglicher Orga-
nisation das soziologisch-ökonomische Moment, die Vertreter der Va-
lerrechtstheorie mehr die biologisch-psychologische Prozesshaftigkeit
in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und Familie betonen.
Nun lässt sich aus den Forschungen Malinows k is eindeutig
nachweisen, wie sich bei den Trobriandern der Prozcss der Ver-
schiebung der sozialen, wirtschaftlichen und ideologischen Ver-
hältnisse vom Mutterrecht zum Vaterrecht hin vollzieht.
Wir haben hier Gelegenheit, einen Vorgang unmittelbar zu beobachten,
den man sonst aus logischer Überlegung und durcb Vergleich reiner
mutterrechtlicher und reiner vaterrechtlicher Organisation abzuleiten
versucht.
Ehe wir jedoch diesen Prozess verfolgen, ist es notwendig, fest-
zuhalten, was für Verschiebungen zu sehen sind:
LDer Übergang der Macht von der Frau auf den Mann. Dabei wächst t^4,juiU.il'
die Mach tver Schiebung vertikal nach der Rangeinteilung. Der '^' ' ^
Häuptling hat gegenüber den Bürgern die grösste Macht, seine
Frauen haben die geringsten Rechte. ' \
2. Der Übergang vom freien Sexualleben zur Ehebindung. . r
3. Der Übergang von der Sesualbejahung zur Sexual Verneinung, von -«**j«,..*«7^i*«|*'
der vorehelichen Bejahung der Sexualbetätigung zur Forderung
nach vorehelicher Askese, und schliesslich das Wesentlichste,
4. die fortschreitende Teilung der Gesellschaft in ausbeutende obere ^ -^
und ausgebeutete untere Gruppen. , tJTT
Wir beobachten also bloss den Prozess der Überleitung der Macht,
nicht aber seinen Beginn. Wohl aber können wir das Einsetzen der
?2
Die Ökonomischen und sexucllea Widersprüche der Trobriander
Sexualverneinung und die Klassenteilung schon in den ersten An-
sätzen verfolgen.
Der zentrale Mechanismus dieses ganz en Verschiebu.ngs Prozesses
ist der Ri tus de sHeiratsfiu t es.
2. DAS HEIRATSGUT ALS ZERSTÖRER DER MUTTER-
RECHTLICHEN GESELLSCHAFT
a) Die Eheschliessung
Die Eheschliessung selbst ist völlig unzeremoniell. Ist eine Dauer-
beziehung herangereift, so genügt häufiges gemeinsames Auftreten
der Partner in der Öffentlichkeit zur Bekundung ihres Willens, eine
Ehe einzugehen. Auch die Ehetrennungen sind unkompliziert; jedem
Gatten steht das Recht frei, den andern zu verlassen, wenn er nicht
mehr in der Gemeinschaft bleiben will. Wir haben es hier mit der
von Morgan zuerst beschriebenen lockeren »Paarungsehe« zu
tun, die eine Vorstufe unserer dauermonogamen Ehe bildet. Doch
wir werden bald sehen, dass der Mann weit grösseres Interesse sowohl
an der Eheschliessung wie auch an der Aufrechterhaltung der__Ejic
hat als die Frau.
»Die Scheidungsförmlichkeiten sind ebenso einfach wie die Ehcschliessung-
Die Frau verlässt das Haus ihres Manaes mit allem, was ihr gehört, und zieht
in die Hütte ihrer Mutter oder ihrer nächsten mütterlichen Verwandten. Dort
bleibt sie und wartet ab, w^as ■weiter geschieht; unterdessen, gccicsst sie volle
geschlechtliche Freiheit, In den meisten Fällen wird der Mann versuchen, sie
zurückzuholen. Er schickt gewisse Freunde mit » Friede nsgabena: für seine
Gattin und die Leute, bei denen sie wohnt. Manchmal werden die Geschenke
zunächst zurückgewiesen; dann werden die Gesandten wieder und wieder ge-
schickt. Nimmt die Frau die Gaben an, so muss sie zu ihrem Gatten zurück-
kehren, die Scheidung hat ein Ende, und die Ehe ist wieder hergestellt. Ist
es ihr aber ernst, ist sie entschlossen, nicht zu ihm zurückzukommen, so werden
die Geschenke überhaupt nicht angenommen; dann muss sich der Mann ein-
richten, so gut er eben kann — das heisst, er muss sich nach einem anderen
Mädchen umsehen. Die Auflösung der Ehe zieht keine Rückgal)e der ursprünglich
ausgetauschten Ehegaben nach sich.« (S. 106.)
Solange die Ehe dauert, bindet das Eheband »fest und aus-
schliesslich«. Diese Bindung wird durch Gesetz, Moral und Sitte auf-
rechterhalten, wobei die Widerspiegelung der ökonomischen Interessen
deutlich hervortritt.
Mit der Ehe begegnen wir zum ersten Male moralischen For-
derungen und Erscheinungen ebenso wie den typischen Folgen der
Ehemoral, die uns nicht mehr so fremd und sonderbar anmuten
wie das voreheliche Leben, uns vielmehr sehr vertraut vorkommen.
Die Bindungen sind fester, Treue wird gefordert, Untreue wird be-
straft. Eifersucht und Ehebruch beunruhigen das Geschlechtsleben
jetzt am stärksten. »Jeder Bruch der ehelichen Treue wird auf den
Eheliche Sexuateinschränkunß SS
Trobriand-Inseln ebenso streng verdammt wie durch christliche
Lehre und europäisches Gesetz; strenger könnte selbst die puritani-
sche öffentliche Meinung nicht sein.« (S. 84.) Klingt das nicht nach
dem Mcnsclien angeborener ehelicher Moral? Wir werden uns nicht >
irreleiten lassen und vielmehr aus dem Vergleich mit katholischer
Kirche und amerikanischem Puritanismus auf qualitativ ähnliche /
Ursachen schUessen. <c
Zunächst noch einige charakteristische Kennzeichen der ein-
setzenden Sexualverneinung. Keinerlei Hinweis auf die geschlecht-
lichen Beziehungen der Gatten oder ihr früheres Liebesleben ist
erlaubt, eine Übertretung dieser Sitte gilt als unanständig. Die erste
Periode nach der Eheschliessung ist durch Enthaltsamkeit gekenn-
zeichnet. »Obwohl für dieses Stadium kein ausgesprochenes ge-
schlechtliches Tabu besteht, denken die Neuvermählten in der Zeit,
die unseren Flitterwochen entspricht, wahrscheinlich viel weniger an
Liebesdinge als vor der Heirat. Folgende Aussage ist mir zu Ohren
gekommen; ,Wir schämen uns im Hause unserer Mutter und unseres
Vaters. Im bakumatala hat ein Mann mit seiner Liebsten Verkehr,
ehe sie heiraten. Nachher schlafen sie zusammen auf einem Lager
im elterlichen Haus, aber sie legen ihre Kleider nicht ab.' Das junge
Paar fühlt sich in der neuen Situation verlegen und bedrückt. Die
erste Zeit nach der Eheschliessung ist eine natürliche Periode der
Enthaltsamkeit.« (S. 80/81.) War vorher das gemeinsame Essen eine
unmögliche, ja unanständige Handlung, so wird jetzt gerade das ge-
meinsame Essen zum Symbol der Ehe; dadurch wird die Heirats-
absicht oder die stattgehabte Heirat kundgetan. Strenge Schicklich-
kcitsvorschriften setzen ein. Die Gatten dürfen keine Geste zeigen,
die zärtliche Beziehungen zwischen ihnen verraten könnte. (S. 81.)
Die verheiratete Frau darf am Versteckenspielen nicht teilnehmen, ^
das gerade der Jugend beste Gelegenheit zum Geschlechtsverkehr
bietet. Es ist, als ob die Sitte wüsste, dass das, was mit der Ehe 1
zum Sexualleben hinzutritt, nicht nur nichts m eh rmit Sexu alität zu 1
tun hat, sondern vielmehr gegen sie auftritt. ~
»Interessant und überraschend ist der Gegensatz zwischen dem freien und
unbefangenen Verkehr, der gewohnlich zwischen einem Mann und seiner Frau
herrscht, und den strengen Schieklichkeitsvorschriften in geschlechtlichen
Dingen; peinlich vermeiden Elieleute jede Geste, die zärtliche Beziehungen
zwischen ihnen verraten könnte. Nie fassen sie sich im Gehen bei den Händen
oder legen die Arme umeinander, was kaffpapa heisst und Liebenden und
Freunden gleichen Geschlechts erlaubt ist. Eines Tages, als ich mit einem ver-
heirateten Paare ging, schlug ich dem Manne vor, seine Frau zu stützen, denn
sie hatte einen schlimmen Fuss und hinkte stark. Beide läclielten und blickten
sehr verlegen zu Boden, offenbar tief beschämt durch meinen unschicklieheu
Vorschlag. Gewöhnlich geht ein Ehepaar hintereinander im Gänsemarsch. In
der Öffentlichkeit und bei Festen trennun sie sich meist; die Frau schliesst
sich einer Gruppe anderer Frauen an, der Mann hält sich zu den Männern.
Nie wird man auf den Trobriand-Inseln Mann und Frau zärtliche Blicke, liebevolles
Lächeln oder verliebte Neckereien austauschen sehen.« (S. 82.)
34 Die ökonomischen und sexuellen Widersprüche der Trobriander
I v:
sWenn das junge Paar seine cieene Wohnung besitzt, so teilen sie dieselbe
Schlafbank oder auch nicht, je nachdem; es scheiot dafür keine Regel zu geben.
Einige meiner eingeborenen Gewährsleute berichteten mir. Verheiratete schliefen
zunächst immer im selben Bett, später aber trennten sie sich und kämen nur
zum Geschlechtsverkehr zusammen. Ich argwöhne jedoch, doKS diese Auskunft
/^eher ein Stückchen zynischer LcbensphJlosophie darstellt, als eine Aussage über
Brauch und Sitte.« <S. 81.)
-^ Interessant genug, dass mit der Ehe zynische Betrachtung einsetzt.
Weiter:
». . . es ist ganz ausgeschlossen, von irgend jemand direkte Auskünfte über
sein eigenes Ehclcben zu erhalten, denn in diesen Dingen muss eine sehr
strenge Etikette beachtet werden. In Gesprächen mit einem Ehemann muss auch
die leiseste Anspielung auf solche Dinge unterbleiben; auch keinerlei Hinweis
auf die gemeinsame geschlechtliche Vergangenheit des Paares oder auf die frühe-
ren LJebesgeschichten der Frau mit anderen Männern ist erlaubt. Es wäre eine
unverzeihliche Verletzung der Etikette, würde man einem Manne gegenüber,
sei es auch nur unbewusst oder nur beiläufig, das hübsche Äussere seiner Frau
erwähnen. Der Mann würde fortgehen und sich lauge Zeit nicht wieder sehen
lassen. Als ärgster Fluch und unverzeihliche Beschimpfung gelten dem Trobriander
die Worte: ■x-Kivog um kwawa« (beschlafc deine Frau). Sie haben Mord, Ver-
hexung und Selbstmord zur Folge.« (S. 81.)
Wir sehen hier eine Etikette einsetzen, die wie eine zwangsartige
Vermeidung anmutet. Das lässt, wenn man den Widerspruch
zwischen, dem freien Sexualleben vor der Ehe und der gebundenen
Geschlechtlichkeit in der Ehe berücksichtigt, nur die eine Deutung
zu, dass hier gewisse Interessen eingreifen, die die Sexualfrciheit
, beschränken und zu ihrer Stütze bereits bestimmte der psychischen
Abwehr (Verdrängung) ähnliche seelische Haltungen mobilisieren.
Malinowski vrsucht zwar an einigen Stellen seines Werkes, die
Ehen im allgemeinen als harmonisch hinzustellen, aber seine Berichte
über einige Fälle von tragischen Selbstmorden von Ehefrauen und über
eheliche Konflikte sowie der Schleier, der sich hier über die Ehe-
situation breitet, verraten uns, dass die ehelichen Verhältnisse bereits
. alle Widersprüche wie bei uns zu entwickeln beginnen: die zwischen
j den sexuellen Interessen, die auf begrenzte Dauer der Beziehung,
und den ökonomischen, die auf UnlÖsbarkeit zielen.
Malinows ki erörtert eingehend die Frage, welche Gründe beim
einzelnen für die Ehe Schliessung massgebend sind. Das Geschlechts-
leben war bisher völlig frei und befriedigt, mit d er El he setzen sc hwe re
Hemmungen der Geschlechtlichkeit und grosse Verpflichtunge n _ein.
Malinowski zählt mehrere Gründe auf:
1. Der Trobriander bezieht erst dann die volle soziale Stellung in der
Gemeinschaft, wenn er verheiratet ist.
2. Die Sitte verpflichtet moralisch zur Eheschliessung.
Beim Manne, »der die erste Jugend hinter sich hat, kommt der
ganz natürliche Wunsch nach dem eigenen Heim' und Haushalt«
hinzu; verlockend seien auch die Dienste, die die Frau dem Gatten
leistet.
c
t
I
1
\
L.
Gründe für die Eheschlics^juog 35
4. »Die Frau hat keinen wirtschaftlichen Anlass zur Heirat und
gewinnt weniger als der Mann an Bequemlichkeit und gesell-
schaftlichem Ansehen; sie wird in der Hauptsache durch per-
söaliche Neigung und den Wunsch nach ehelich geborenen
Kindern zur Heirat bestimmt.«
Hier ist eine Reihe von moralischen und biologischen Gründen für
die Eheschliessung angeführt; keine von ihnen erklärt jedoch die
Tatsache der Eheinstitution. Es handelt sich vielmehr um seelische
Interessen und moralische Haltungen, die durch die soziale Eheinsti-
tution erst geschaffen werden, um Verankerungen dieser Institution
in der psychischen Struktur der Individuen. Denn die Anerkennung
der vollen sozialen Stellung wäre auch ohne Elie denkbar; die Sitte
selbst bedarf einer soziologischen Erklärung; die Frau könnte ihre
persönlichen Neigungen auch ohne Ehe befriedigen, da doch ausser
der Ehe die sexuelle Dauerbeziehung existiert; und schliesslich leitet
sich das Interesse an gerade ehelich geborenen Kindern selbst erst
aus den Interessen an der Eheinstitution ab. Wir glauben daher,
dass wir nicht wie Malinowski das wirtschaftliche Interesse des
Mannes in einer Reihe mit den anderen anführen dürfen, sondern
ihm die letzten Endes entscheidend begründende Rolle nicht nur an
der Eheschliessung, sondern auch an der Herstellung und Erhaltung
de r Elieinslitution zuschreiben müssen; denn
»ein (anderer) sehr wichtiger Grund zur Heirat ist vom Standpunkt des
Maones aus der wirtschaftliche Vorteil. Die Ehcschlicasung bringt einen be-
trächtlichen jahrlichen Tribut an Nahrungsmitteln mit sich, der dem Ehemann
von der Familie der Frau geleistet wird. Diese Verpflichtung ist vielleicht der
wichtigste Faktor im ganzen sozialen Getriehe der trobriandrischen Gesellschaft.
Hierauf beruht — infolge seines Vorrechts auf Polygamie — die Autorität des
Häuptlings und sein Vcmiögon, alle rituellen Veranstaltungen und Feste zu
finanzieren. So sieht sich ein Mann zur Heirat gezwungen, vor allem, wenn
er Rang und Ansehen genicsst; denn abgesehen von der Festigung seiner wirt-
schaftliehen Lage durch das Einlvommen. das er von dei- Familie der Frau
empfängt, erringt er sich auch seine volle soziale Stellung erst dann, wenn er
dem Stand der tooavaygile beitritt.« (S. 59.)
Verfolgen wir den »wichtigsten Faktor im ganzen sozialen Getriebe
der trobriandrischen Gesellschaft« weiter. Er wird uns manche Rätsel
nicht nur dieser Gesellschaft, sondern der Herkunft der Sexualmoral
und der Klassenteilung überhaupt lösen.
b) Die »einzig gesetzliche« Ehe
Der Ehemann erwirbt also durch seine Heirat wirtschaftliche An-
sprüche an seine männlichen angeheirateten Verwandten, die «im
Austausch für ihre Leistungen eine gesetzliche Autorität über die
Frau und ihre Kinder behalten«. {1. c. S. 94.) Wir würden mit
Rücksicht auf den durch den Ritus des Heiratsgutes in Gang ge-
setzten Prozess sagen, »noch eine Zeitlang behalten«. Stellen wir
die Tatsachen zusammen.
36
Die ökonomischen und sexuellen Widersprüche der Trobriacder
Die Familie des Mädchens hat bis zu seiner Verheiratung kein
Interesse an seinen geschlechtlichen Beziehungen genommen. Es
durfte tun und lassen, was es wollte. Die Heirat aber, »für die Familie
(des Mädchens) eine dauernde Quelle beträchtlicher Anspannung
und Plackerei«, wird von seinen Verwandten eifrig besprochen, aber
sie sind von jeder Einflussnahme auf die ehelichen Pläne ausge-
schlossen. Das Interesse kreist um die Heiratsgabe.
Der Brauch der Heiratsgabe ist sehr kompliziert. Gabe und Gegen-
gabe, die zunächst zwischen den Eltern der Heiratskandidaten aus-
getauscht werden, machen einem regelmässig zu liefernden,
alljährlichen Tribut der Verwandten, insbesondere
der Brüder der Frau an den Gatten und seine Familie
nach der Heirat, für die ganze Dauer der Ehe, Platz.
Die Gegengaben, die nunmehr von der Familie des Galten an die
seiner Frau geleistet werden, sind Höflichkeitsakte, reichen im Werte
gar nicht an die Heiratsgaben der Familie der Frau heran. Das
Heiratsgut besteht hauptsächlich aus Gartenfrüchten. Die Höhe der
Abgabe ist je nach dem Rang der Beteiligten verschieden, doch be-
trägt sie in einem Durchschnittshaushalt etwa die Hälfte des Ver-
brauchs. Jedermann behält einen Teil der Gartenerzeugnisse für sich,
das übrige bekommen die weiblichen Verwandten und ihre Gatten.
' Die Heiratsgabe — betont Malinowski — ist aber »das haupt-
, sächlichste und ansehnlichste Erzeugnis der Gartenarbeit.« (S. 90.)
1 Ideologisch repräsentiert sich der Heiratstribut als »der höchste Stolz
der trohrianders, als Meistergärtner zu gelten«, und um dies zu er-
reichen, macht er ungeheure Anstrengungen und bestellt ein möglichst
grosses Stück Gartenland. Es zeigt sich, schreibt Malinowski,
»dass sie nicht nur beträchtlichen Einfluss auf die Institution der Ehe
selbst, sondern auf die gesamte Wirtschaft und Verfassung des Stammes aus-
i üM. Vom Standpunkt des Empfängers aus ergibt sieh, dass jeder bei der Wahl
seiner Lebensgefährtin sich von den eigenen Bedürfnissen und von der Mitgift
seiner zukünftigen Frau leiten lassen muss, denn er wird nicht nur von seioem
eigenen Fleiss und seiner eigenen Arbeitskraft abhängig sein, sondern auch
von" der Arbeitskraft seiner angeheirateten Verwandten. Ein Mitgiftjäger wird
ein Mädchen zu gewinnen suchen, welches die einzige Schwester mehrerer Brü-
der ist, deren blosses Vorhandensein den Eifer eines ähnlich gesinnten Europäers
sofort dämpfen würde. Nur ein Mann, der sich vor Armut nicht 7.u scheuen
braucht, wird ein Mädchen werben, das mehrere Scliwestern und nur einen
einzigen Bruder hat. Wenn die Frau ihrem Manne Söhne gebiert und diese
heranwachsen, kommt er sozusagen zu selbstgcfertigten, angeheirateten Verwandten
denn in einer mutterrechtliehen Gesellschaft gehören natürlich Kinder zu
den angeheirateten Verwandten; ihre erste Plicht ist es, für den elter-
lichen Haushalt mit zu sorgen. In der Regel erhält der Ehemann.
den grössten Teil der Mitgift seiner Frau von einem einzigen ihrer Angehörigen;
handelt es sich jedoch um einen Häuptling oder sonst einen angesehenen Mann,
so tun sich viele zusammen, damit ein passendes Geschenk zustande kommt,
obwohl nur einer dem Namen nach verantwortlich ist. Doch selbst ein gewöhn-
licher Bürger erhält nelwn dem nrigubu vom Hauptspender eine Anzahl kleiner
Geschenke von anderen Verwandten seiner Frau, kouisi oder taglapela genannt.
Alle werden sie zur Erntezeit überbracht und bestehen meist aus mehreren Korben
voH Yams oder anderer Gemüse.
Der Heirat st ribnt
37
Ein Ehemann cmpfänfft von seinen angeheirateten Verwandten auch sonst
jiUerlei Dienste, je nachdem es die Gelegenheit verlangt, Sie njüssen ihm Hilfe
leisten, wenn ti- ein Haus oder ein Kanu baut, wenn er auf Fistrhfang geht
oder an einer öffentlichen Festlichkeit teilnimmt. Ist er krank, so müssen
sie Iici ihm wachen, um böse Zauberer fern ku halten, oder ihn an einen an-
deren Ort tragen, von dem er Gesundung hofft. Bei Fehden und anderen Not-
fällen kann er unter bestimmten Umständen über ihre Dienste verfügen. Nach
seinem Tode schliesslich fällt ihnen der Hauptanteil an den Besfattungsfeier-
lichkeiten zu. Nur von Zeit 7U Zeit nuiss der Ehemann die jährlichen Dienst-
leistungen seiner angeheirateten Verwandten durch eine Gegengabe an Wert-
sachen entgelten.« (S. 92.)
Das Tabu, welches^ den Brüdern der Frau, auf die die Last des
Heiratsgutes fällt, verbietet, sich in die Heiratsangelegenheiten der
Schwestern zu misclien, dient nur der Versclileicrung und Rationali-
sierung der tatsächlichen materiellen Interessen des Gatten und seiner
Familie. Kurz zusammengefasst sind die Tatbestände die; Da der
Bruder der jungen Ehefrau sowie alle ihre Verwandten, also der ganze
mütterliche Clan, für den Gatten zu sorgen haben, verschiebt sich
das Gern ein vermögen des Clans der Frau in den des Galten. Da dieser
aber selbst auch Bruder ist und seinerseits für die Gatten seiner
Schwestern zu sorgen hat, folgt eine ständige Verschiebung der er-
arbeiteten Früchte von einem Clan zum anderen. Das hätte weiter
keine Bedeutung, denn da die Frauen aus dem Clan des Ehemannes
wieder Männer aus dem anderen Clan heiraten, fliesst ja das Heirats-
gut wieder zurück. Die Sache wird aber dadurch kompliziert, dass
die_ Clans verschiedene Rangstufen haben, und dass der Häuptling,
der immer dem obersten Clan angehört, das Recht der Polygamie hat.
Dadurch verschiebt sich der Strom der Heiratsgaben, der sich sonst
durch Kreuzheiraten aus verschiedenen Clans ausgliche, einseitig
nach der Seite des Häuptlings des einen Clans und seiner Familie.
Ehe wir zum vollen Verständnis dieser Verschiebung als eines An^
Satzes zur Teilung in Klassen von Profitierenden und Ausgebeuteten
gelangen, müssen wir uns an Diagrammen klarmachen, wie sich aus
den verschiedenen Vorteilen oder Nachteilen, die bestimmte Heiraten
bieten, die Anschauungen über deren »Gesetzlichkeit« oder »Unge-
setzlichkeit« ableiten.
Die einzige Eheschliessung, die als die »eigentlich gesetzli-
che« angesehen wird, ist die sogenannte Kreuz-Vetter-Basen-
Heirat, das heisst, die Heirat zwischen dem Sohn des
Bruders und der Tochter seiner Schwester. Wir wollen
nun, Malinowskis Bericht über das Heiratsgut folgend, die Tat-
bestände am Häuptling demonstrieren, bei dem sie am klarsten her-
vortreten. Zunächst ein einfaches Schema einer Kreuz- Vetter-Basen-
Heiral :
38
Die ökonomischen und sexuellen Witiersprüche der Trobri ander
Häuptling
Häupt-Schwester
Haupt- Haupt- Haupt- Häupt-
, Tochter Sohn Nichte Neffe
Fig. 1: Schema der »ßesetzlichen« (I) und der »ungesetzlichona Ehe (II) nach
MaliQOwski; I — Kreuz-Vcttcr-Bascn-Heirat.
Wir sehen im Schemu, dass im Gegensatz zu dieser »gesetzlichen«
Heirat die zwischen der Häuptlingstochter und dem Sohn der Schwe-
ster des Häuptlings »nicht gern gesehen wird«. An den folgenden
Diagrammen wollen wir schematisch darstellen, welche wirtschaft-
lichen Motive bei diesen Beurteilungen entscheiden. Dabei dient als
Grundlage der wiedergegebene Bericht Malinowskis über den
Ritus des Heiratsgutes.
Häuptlinqsfrauen
/ ^\ \
Häuptling
Häupt-Sdiwester Schwestergatte
Häupl-
Sohn
Ehe
Häupi.-
Nichte
Häupt-
Neffe
Fifi 2- Schema der Vorteile des Häuptlings bei Kreuz-Vetter-Basen-Heirnt : sie
bringt 'das Heiratsguf, das er seinem Sehwaficr liefert, zu ihm zurück und
ermöglicht dcrui-t eine Akkumulation von Gütern.
OckonuniiHche Funktion der Kreuz-Vetter-Basen-Heirat 39
Wir sehen am zweiten Diagramm, wenn wir den Pfeilstriehen
folgen, deutlich, dass nur eine Kreuz- Vetter-Basen-Heirat eine Akku-
mulation von Besitz und Gartenerzeugnissen beim Häuptling ermög-
liclit. Er bezieht durch seine Frauen von ihren Brüdern Heiratsgut,
das er zu einem grossen Teil an den Gatten seiner Schwester weiter-
geben muss. Heiratet nun seine Nichte seinen Sohn, so
kehrt das Heiratsgut wieder zu ihm zurück, denn so-
wohl sein Neffe (Schwestersohn und Erbe) als auch die Eltern der
Nichte, also ihr Vater, der Schwager des Häuptlings, müssen Heirats-
trihut an seinen Sohn alljährlich und so lange liefern, wie die
Ehe besteht. Da aber der Sohn für den Haushalt der Mutter, an dem
ja der Vater teilhat, sorgen muss, geniesst er die wirtschaftlichen
Rechte seines Sohnes mit.
Sein eigentlicher gesetzlicher Erbe ist der Schwestersohn, auf den
nach seinem Tode Vermögen und Würde übergehen. Zwischen Vater
und Sohn besteht nur eine Freundschaf tsheziehung; er hat als Vater
das Recht, seinem Sohn gewisse Vorrechte zu verschaffen, doch nur
solange er lebt. Nur auf eine Art ist er in der Lage, seinem Sohn
eine dauernde Stellung im Dorf zu verschaffen mit vollem Recht für
sich und seine Abkömmlinge; nur auf eine Art kann er ihm den
Besitz aller Zuwendungen auf Lebzeiten sichern, wenn er ihm nämlich
die Tochter seiner Schwester zur Frau gibt. Dadurch erwirbt der
Sohn das Recht, nach seinem Belieben iin, Dorf zu wohnen und an
Stammesangelegenheiten und Magie teilzunehmen. Er nimmt also
nach dem Tode des Häuptlings dieselbe Stellung ein wie zu seinen
Lebzeiten, eine Stellung, die er zu Gunsten des rechtmässigen Erben,
des Sohnes der Häuptlingsschwester hätte aufgeben müssen^), wenn
er nicht die Nichte des Häuptlings geheiratet hätte.
Da der Häuptling seinem Sohn zu Lebzeiten so viel Zuwendungen ]
machen kann, wie er will, sichert er ihm durch diese Heirat ihren
dauernden Besitz. Der eigentliche Erbe ist durch strenges Tabu ge- •
bunden, sich nicht in die Heiratsangelegenheiten seiner Schwester zu
mischen, er hat also keinen Einfluss auf diesen ihn benachteiligenden
Vorgang. Wenn M a I i n o w s k i (S. 72) schreibt, dass dadurch
zwischen dem Häuptlingssohn und dem rechtmässigen Erben, dem
i) Für die Kreuz-Vettep-Basep-Heirat läge ja eine analytische Deutung
■r^'.ii! Das Inzestverbot zwischen Bruder und Schwester wird durch die Heirat
ihrer Kinder wieder aufgehoben auf dem Wege der Identifizierung des Bruders
mit seinem Sohn, seiner Schwester mit ihrer Tochter. Und die Auskunft der
Primitiven klingt sehr verführerisch im Sinne dieser Deutung:
»Um das Prinzip der Exogamie näher zu erläutern, wird zum Beispiel
manchmal gesagt, »die Heirat zwischen Bruder und Schnrester sei schlecht«
(»Bruder und Schwester« in der erweiterten Bedeutung: alle mütterlicher-
seits verwandten hidividucn entgegengesetzten Geschlechts aus derselben
Generation). »Eine tabula (Kreuz-Base) zu heiraten ist recht; die wahre
tabula (Kreuz-Base ersten Grades) ist die richtige Frau für uns.« (S. 74),
aber die ■wirtschaftlichen Interessen sind so eindeutig, dass wir dem psycho-
logischen Moment dabei höchstens eine sekundäre Rolle zuschreiben können.
40
Die ökonoinischca und scxuellcD Widersprüche der Trobriander
Häuptlingsneffen, eine Verbindung hergestellt wird, die die »häufig
zwischen ihnen bestehende Rivalität aufhebt«, so dürfte es sich um
einen Irrtum handeln, denn durch diese Heirat gerät ja der recht-
mässige Erbe in Tributabhängigkeit vom Häuptlingssohn. Hören wir
Malinowski selbst:
>i
»Das mutterrechüichc Prinzip wird durch die schärfsten Vorschriften des
Stamm esgesetzes aufrecht erhalten. Diese Vorschriften fordern unwei(?erlich, dass
ein Kind zur Familie, zum Unterclan und zum Clan seiner Familie gehört. Ein
wenig milder, doch noch immer sehr streng ist die Zugehörigkeil zu einer Dorf-
gemeioschaft und das Amt des Zauberers geregelt. Diese Vorschriften bestimmen
auch, dass alle Ländereien, Vorrechte und materiellen Güter sich in der Mutter-
linie vererben. Doch hier gestatten eine Reihe von Bräuchen und Sitten, wenn
nicht eine Umgehung, doch 'ivenigstens eine Milderung des Stammesgesetzes. Nach
diesen Bräuchen kann ein Vater für seine eigene Lebenszeit
seinem Sohn das Bürgerreclit in seinem Dorfe verleihen
und ihm die Nutzniessung eines Kanus, Land, rituelle Vor-
rechte und Magie zuwenden. Durch Kreuz-Vettcr-Basen-
Heirat in Verbindung mit matrilokalcm Wohnsitz kann er
sogar alle diese Dinge seinem Sohne auf Lebzeiten sichern.
Wir müssen uns jetzt noch einen Tvichtigen Unterschied bei der Übertragung
von Vorrechten und materiellen Gütern merken, je nachdem es sich um seine
Übertragung vom muttcrseitigen Onkel an den Neffen oder vom Vater an den
Sohn handelt. Ein Trobriandor muss bei seinem Tode all seine Besitztümer und
Ämter entweder seinem jüngeren Bruder oder seinem Neffen hinterlassen. Doch
meistens wünscht der jüngere Mann schon zu des älteren Lebzeiten einige dieser
Dinge zu besitzen, und es ist Sitte, dass der Onkel mütterlicherseits einen Teil
seiner Güter oder seiner Magic schon bei Lebzeiten abtritt. Doch in solchen
Fällen muss der Neffe dafür z a h 1 e n, unter Umständen sogar recht
kräftig. Diese Zahlung heisst mit einem Fachausdruck pokala. Gibt jemand
aber einen Teil dieser Dinge an seinen Sohn ab, so geschieht
es aus freiem Willen und völlig unentgeltlich. Ein Neffe
mütterlicherseits oder ein jüngerer Bruder hat also das Recht, seinen Anteil zu
fordern und bekommt ihn auch, wenn er die erste Anzahlung auf das pokala
leistet. Der Sohn ist auf seines Vater guten Willen angewiesen, wobei er sich
ja meistens mit ihm sehr gut steht; er bekommt alle Gaben umsonst. Der eine
also, dem das Recht auf die Güter zusteht, muss dafür zahlen, während der andere,
der keinerlei gesetzliche Ansprüche hat, sie umsonst bekommt. Natürlich muss
er sie, wenigstens zum Teil, beim Tode seines Vaters zurückgeben; doch den
Nutzen und den Genuss an den materiellen Gütern hat er gehabt, und die Magie
kann er nicht zurückgeben.
Die Eingehorenen erklären diesen anormalen Zustand der Dinge mit der
Vorliebe des Vaters für seine Kinder, die sie wiederum von seiner Beziehung
zur Mutter herleiten. Die Geschenke, die er den Kindern gewährt, sind nach der
Meinung der Eingeborenen eine Belohnung für den Geschlechtsverkehr, den ihm
seine Frau gewährt.« (S. 149/150.)
Wir sehen also, dass die Kreuz-Vetter-Basen-Heirat nicht so sehr,
wie Malinowski öfters hervorhebt, »ein Kompromiss zwischen
den schlecht ausgeglichenen Prinzipien des Mutterrechts und der
Vater liebe« ist, als im Gegenteil eine Einrichtung, die das Vater-
recht fortschreitend festigt. Gelangt der Häuptling zu immer grösserer
Macht so genügt nur noch ein Schritt, nämlich die gesetzliche Über-
tragung des Erbrechts von der mütterlichen auf die väterliche Linie,
vom Schwestersohn auf den eigenen Sohn, und das Vaterrecht steht
vollendet vor uns. Bei den in der Erbfolge noch mutterrechtlich or-
Die sschlechtes Ehe
41
ganisierten Trobriandern sehen wir ja schon, welche Vorrechte der-
Häuptling seinem: Sohn zu Lebzeiten einräumen kann, wie er die
■Überleitung von Gütern und Macht auf seine Linie durch die Kreuz-
Vetter-Basen-Heirat durchsetzt.
Nur an einer Stelle deutet Malinowski die Durchsetzung der
vaterrechtlichen Prinzipien, nicht nur der »Vater! i ehe«, an,
indem er schreibt:
»Auf dem anscheinend ungünstigen Doden des strengen Mutterrechts erwachsen
nun gewisse Anschauungen, Vorstellungen und Bräuche, welche das Bollwerk
Mutterrecht durch extrem vaterrechtliche Prinzipien untergraben, trotzdem
leibliche Band zwischen Vater und Kind geleugnet wird, trotzdem jeder Anteil
an der Zeugung dem Vater abgesprochen wird.« (S. 145, >
chsen .^
Iwerk Wf
jedes }H
Wir wollen auch noch an zwei weiteren Diagrammen veranschauli-
chen, dass es im wesentlichen wirtschaftliche Gründe sind, die etwa
die Heirat zwischen der Tochter des Häuptlings und seiner Schwester
Sohn als »nicht gut« oder >nicht anständig« erscheinen lassen.
Häuptlingsfrauen
Haupt-Schwester Sdiwestergatte
Häupt-
Sohn
Haupt-
NefFe
Haupt 'h
Nichte
« fremder
Gat+e
Flg. 3: Schema der wirtschaftlichen Nachteile für den Häuptling bei beliebiger
Heirat der Nichte. (Pfeilstriche deuten den Gang des Heiratsgutes an.)
In Figur 3 ist angenommen, dass die Nichte einen beliebigen Mann
heiratet. Jn diesem Falle sehen wir, den Pfeilstrichen folgend, dass
der Häuptling nicht akkumulieren kann, weil er sowohl durch seine
Schwester seinem Schwager und dessen Familie, als auch durch seinen
Neffen, dem er Güter vererbt, dem fremden Gatten seiner Nichte
seinen Besitz übermittelt. Er hat nicht nur grosse persönliche Lasten
durch den ersten Vorgang zu seinen Lebzeiten, sondern sein Besitz.
wechselt auch nach seinem Tode den Clan, indem sein Neffe Heirats-
gut an den clanfremden Mann seiner Nichte zu liefern hat.
4,2
Die ükonomi sehen und sexuellen Widersprüche der Trobriander
Häuptlingsfrauen^
VoskOV
Häuptling Haupt- Schwester Sdiwestergatte
Häupt.-Söhne Haupt- ^^' Häupi:
Tochter Neffe
Häüpt.-'^'^'' fremder
Nichfe Gatte
Fig. 4: Die »schlechte« Ehe (zwischen Huuptlingstochter und
Häuptlingsneffcn) ; auch das Vermögen der HäupllinKssöhne kommt
aus der Häuptlingslinie hinaus.
In Figur 4 sehen wir den für ihn noch schlimmeren Fall, dass
nämlich ausser diesen zwei Besitz Verschiebungen auch noch seine
Söhne, denen er Zuwendungen machte, solange er lebte, durch seine
Tochter seinen Neffen bereichern. Die Bereicherung des Neffen hat
für ihn aber, im Gegensatz zu der des Sohnes, keinerlei Vorteile, weil
der Neffe zu seinem Haushalt nichts beisteuern muss. Daraus erklärt
sich das gespannte Verhältnis zwischen dem Onkel und seinem Neffen,
und das liebevolle zwischen Vater und Sohn, auf das Malinowski
.immer wieder zurückkommt.
3. AUSBEUTUNG UND IHRE IDEOLOGISCHE
VERANKERUNG
Wir haben gesehen, wie die Einrichtung des Heiratsgutes die Macht-
verhältnisse zugunsten des Vaters und Häuptlings verschiebt, wie aus
der urkommunistischen mutierrechtlichen Organisation und den bluts-
verwandten Clans das Vaterrecht und mit ihm die patriarchatische
polygame Familie herauswächst. Für den Häuptling ergeben sich kraft
seiner Macht (und infolge seiner Verpflichtungen) Möglichkeiten und
Rechte, wie etwa das der Polygamie und Ansätze zu feudaler Kom-
mandogewalt über die tributpflichtigen Brüder seiner Frauen und
deren sonstige Verwandte. Hören wir Malinowski über den
Häuptling Otnarakana:
»Das Dorfoberhaupt von Omarakano, zugleich Häuptling von Kiriinina, ist
der Höchste an Rang und Macht, Einfluss und Ruhro. Das ihm tributpflichtige
Gebiet, jetzt durch die Weissen eingeschränkt und durch das Verschwinden mehre-
Die Geburt der Klassciitcilunt,'
rcr Dörfer verkrüppelt, erstreckte sich einst über die ganze Nordhälfte der Insel
und umfasste etwa fünf Dutzend Gemeinschaften, Dörfer und Teile von Uorfern,
die ihm bis zu sechzig Frauen eintrugen. Jede von ihnen brachte ihm e"i ^<^
trächtliches Jahreseinkommen an Yams; ihre Familie musstc jedes Jahr ein oder
zwei Yamhäuser füllen, die etwa fünfzig bis sechzig Doppelzentner fassfcn. Der
Häuptling erhielt auf diese Art etwa 3000 bis 3500 Doppelzentner Yams pro Jahr.
Die ihm so zur Verfügung stehende Menge ist durcha.us hinreichend, um riesige
Festlichkeiten zu veranstalten, Handwerker für die Ausführung liostbarer Schmuck-
sachen zu bezahlen, Kriege und überseeische Fahrten zu finanzieren, gefährliche
Zauberer und Miirder zu dingen — kurz alles zu tun, was man von einem Mäch-
tigen erwarten kann.« (S, 96.)
»Polygamie (uUagatva) wird von der Sitte allen Männern von höherem Rang
■oder grossem Ansehen zugestanden, zum Beispiel berühmten Zauberern. In ge-
wissen Fällen ist ein Mann infolge seiner sozialen Stellung sogar fienöügt und
verpflichtet, mehrere Frauen zu haben. Das gilt für jeden Häuptling, das heisst
für jedes Dorfoberhaupt von hohem Rang, der die Herrschaft über einen mehr
oder weniger ausgedehnten Bezirk hat. Um seine Macht auszuüben und die
Verpflichtungen seiner Stellung zu erfüllen, muss er reich sein, und das ist
bei den sozialen Verhältnissen auf den Trobriand-Inseln nur durch Vielweiberei
möglich.« (S. 97.) M^
Mit der bei solcher Entwicklung notwendig folgenden Verschiebung
der Erbfolge von der mütterlichen auf die väterliche Linie, ist das
Mutterrecht ausgelöscht, der Lauf der Entwicklung der Gesellschaft
zun\ System des Feudalismus und der Sklaverei ist nichLjU^l^^-i^ii
zuhalten. Denn sind einmal die Güter und mit ihnen die Macht in
der Hand des Häuptlings und seiner Familie konzentriert, so bedarf
es nur noch eines gewissen Fortschritts in der Entwicklung der Pro-
duktionsmittel, um die Situation herzustellen, die Marx an den-
Beginn der Klassengesellschaft setzte: Die fortschreitende ArbeUs-
leilung führt zur Erzeugung von Tauschwaren, aber die ProduktionS;
Inittel in der Hand des Häuptlings und seiner Familie, oder zumindest
seine Macht, sie sich jederzeit auzueignen, kennzeichnen die Geburt
der definitiven Klassenteilung in Besitzer von Produktionsmitteln und
Besitzer von Arbeitskraft. Ihre embryonalen Vorstufen haben wir bei
der Betrachtung des Rechtssystems der Trobriander klar vor uns ge-
sehen: ein horizontales und ein vertikales »Ausbeutungs-
verhältnis«; horizontal die Ausbeutung der Frauenbrüder durch die
Galten, vertikal durch stufenförmige Zuspitzung der Macht in den
»ranghöheren«, oberen Clans die Ausbeutung der Männer durch den
Häuptling mittels der angeheirateten Frauen. Diesem Ausbeutungs-
Verhältnis parallel läuft eine Verschiebung der Macht von der mütter-
fichen auf die väterliche Linie.
Malinowski schreibt, dass
»sich die umständliche Wirtschaftsform der Eingehorenen als mächtiger
Antrieb zu sachlichen Höchstleistungen erweist. Würde der Eingeborene nur
gerade soviel arbeiten, dass er seine unmittelbaren Bedürfnisse befriedigen
könnte, würde er nur von rein wirtschaftlichen Erwägungen ausgehen, so
liätte er keine Veranlasung, einen überschus.s zu produzieren, den er ja nicht
kapitalisieren kann. Tief wurzelnde Triebfedern, wie Ehrgeiz, Ehre und mora-
lische Pflicht, haben ihn ein relativ hohes Niveau an I.^istungsfähigkeil und
Organisation erreichen lassen, dass es ihm erlaubt, in Zeiten der Dürre und
44
Die ökonomischen und sexuellen Widersprüche der Trobriander
des Mangels gerade genug zn erzeugen, um die schlimmen Zeiten überstehen zu
köuiiCD.«^ (S. 94.)
Die stets aktuelle wirkliche Triebfeder ist das primitive Aus-
_beutungs Verhältnis durch das Heiratssystem. Der Elirgeiz, die Ehrp
und die moralische Pflicht sind selbst bereits Ergebnisse dieses Pro-
duklionsverhältnisses zwischen Bruder und Seliwestergatfen, ideologi-
sche Verankerungen des bereits drückenden ökonomischen Systems,
das sich durch das Heiratssyslem hält und ständig um sich greift.
Wir können nicht verstehen, weshalb M a 1 i n o w s k i nach dem
von ihm selbst Beschriebenen zu dem Schluss kommt, dass der
Trobriander keine Veranlassung hat, von rein wirtschaftlichen
Erwägungen auszugehen.
^uch die Trauerriten, die M a I i n o w s k i genau beschreibt, lehren,
dass dieses Produktionsverhältnis zwischen dem mütterlichen und
dem väterlichen Clan bereits die ideologischen Keime des Hasses
zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern herstellt. Stirbt nämiicli der
Gatte, so sind nicht, wie zu erwarten wäre, seine Blutsverwandten,
sondern die seiner Frau, insbesondere deren Brüder, zu extremen
Äusserungen der Trauer verpflichtet. Die Totenfeier — schreibt
Malinowski —
1
»die rituellen Handlungen am zweimal geöffneten Grabe und über den be-
grabenen sterblichen Resten des Toten und alles, was mit seinen Reliquien
vorgenommen wird, ist nichts weiter als ein gcscUschaflliches Spiel, bei dem
die verschiedenen Gruppen, in die sein Tod die Dorfgemeinschaft gespalten
hat, gegeneinander spielen. (S. 108.) Die Sippe darf auch in Kleidung oder
Schmuck keine Trauer verraten, obwohl sie ihren Kummer nicht zu verbergen
braucht, sondern durch Weinen ausdrücken kann. Dieser Vorschrift liegt der
Gedanke zugrunde, dass die mutterseitigen Verwandten in eigener Person ge-
troffen sind, dass jeder einzelne leidet, weil ihr ganzer Unter-CIon durch den
Verlust eines Mitgliedes verstümmelt worden ist. »Als wenn ein Glied ab-
geschnitten oder ein Ast von einen Baume geschlagen wäre.« Obwohl sie also
ihren Kummer nicht zu verstecken brauchen, dürfen sie doch nicht damit
paradieren. Dies Vermeiden jeder äusseriichen Trauer erstreckt sich auf die
wirklichen Verwandten und darüber hinaus auf alle Mitglieder des Unter-
Clans, ja auf alle Clan-Angehörigen des Verstorbenen. (S. 109.) . . . Völlig an-
ders geartet ist nach der Auffassung der Eingeborenen die Beziehung der
Witwe, der Kinder und angeheirateten Verwandten zu dem Toten und seinem
Leichnam. Die geltende Moral verlangt, dass sie leiden und sich durch den Tod
beraubt fühlen. Doch dabei leiden sie uicht direkt; sie trauern nicht um eioco
Verlust, der ihren eigenen Unter-Clan und somit ihre eigene Person trifft. Ihr
Leid ist nicht spontan wie das Leid der veyola (Verwandten mütterlicherseits),
sondern eine beinahe künstliche Pflicht, die sich aus erworbenen Verpflich-
tungen herleitet- Deshalb müssen sie ihren Kummer sichtbar ausdrücken, zur
Schau tragen und durch äussere Zeichen bezeugen. Täten sie das nicht, so
würden sie die überlebenden Mitglieder vom Unter-Clan des Verstorbenen
schwer verletzen. So entwickelt sich eine interessante Situation, die zu einem
höchst seltsamen Scbauspicl Anlass gibt: Wenige Stunden nach dem Tode eines
angesehenen Mannes wimmelt das ganze Dorf von Leuten mit geschorenen
Köpfen und dick mit Russ beschmierten Körpern, die wie verzweifelte Teufel
heulen. Diese Leute sind nicht mit dem Toten verwandt und haben eigentlich
keinen Verlust erlitten. Im Gegensatz dazu zeigt sich eine andere Gruppe in
der gewöhnlichen Tracht, äusserlich ruhig und gefasst und benimmt sich, als-
ob nichts geschehen wäre. Diese gehören zum Unter-Clan des Verstorbenen^
Die Trauerriten 45
sie sind die eigentlichen Leidtragenden, So erzielen Tradition und Sitte durch
abwegige Schlussfolgerungen das gerade Gegenteil von dem, was wir — und
wohl fast jeder Beobachter aus einem anderen Kulturkreis — als natürlieh
und naheliegend erwarten würden. ... In dieser Gruppe und vielleicht auch
bei den Söhnen könnte ein geschulter Beobachter ein interessantes Hin und
Her zwischen Vorgespiegeltem, bloss gespieltem Leid und wirklichen], auf-
richtigem Kummer wahrnehmen. (S. 110.) . . . Nach der zweiten Exhumierung
wird die Leiche begraben, die Totenwache ist beendet, und die Menge zer-
streut sich; doch für die Witwe, die all die Zeit über nicht von der Seite ihres
Gatten gewichen ist, die weder gegessen noch getrunken, noch auch nur eine
Minute in ihrer Wehklage innegehalten hat, ist die Erlösung noch immer nicht
gekommen. Im Gegenteil, sie begibt sich in einen kleinen Käfig, der in ihrem
Haus erbaut worden ist, und bleibt monatelang darinnen unter Beobachtung
strengster Tabus. Sie darf nicht aus dem Käfig liorauN; sie darf nur im
Flüsterton sprechen; sie darf Speise und Trank nie mit den Händen berühren,
sondern muss warten, bis sie gefüttert wird; sie bleibt im Dunkeln eingesperrt,
ohne Licht und frische Luft; ihr Körper wird dick mit Russ und Fett be-
schmiert, das lange Zeit nicht abgewaschen werden darf. Alle ihre IJedürfnisse
muss sie im Käfig verrichten, die Exkremente müssen von ihren Verwandten
herausgeschafft werden. So lebt sie monatelang in einem niedrigen, stickigen,
stockdunkeln Raum, so klein, dass ihre ausgestreckten Hände heinahe gleich-
zeitig die Wände berühren; oft ist der Käfig voller Menschen, die ihr bei-
stehen oder sie trösten; es herrscht eine unbeschreibliche Atmosphäre von
menschlicher Ausdünstung, angesammeltem Dreck, Rauch und stehengebliebe-
nem Essen. Auch steht die Witwe unter mehr oder weniger scharfer Kontrolle
und Beobachtung durch die mutterseitigen Verwandten ihres Mannes, welche
die Trauer mit all ihren Entbehrungen als ein ihnen zustehendes Recht be-
trachten. Naht sich das Ende der Witwenschaft, die je nach der gesellschaft-
liehen Stellung des Mannes sechs Monate bis zwei Jahre dauert, so erleichtern
die Angehörigen des verstorbenen Gatten nach und nach das Los der Trauern-
den. Nahrung wird ihr in den Mund gesteckt nach einem bestimmten Ritual,
das ihr Erlaubnis gibt, wieder mit den eigenen Händen zu essen. Dann wird
ihr feierlich gestattet, zu reden; schliesslich wird sie vom Tabu der Ein-
sperrung erlöst und — immer mit dem gehörigen Zeremoniell — aufgefordert,
ihren Käfig zu verlassen. Bei der endgültigen feierlichen Freilassung durch
die weibliche veyoJa des Verstorbenen wird die Witwe gewaschen und gesalbt
und mit einem neuen, leuchtend dreifarbigen Hastrock bekleidet. Dadurch
wird sie wieder heiratsfähig. (S. 114.) . . . Der Witwe jedoch und ihren Ver-
wandten kommt CS zu, Kummer zu zeigen und alle Leichendienste zu erweisen —
dadurch betont die Tradition die Stärke und Dauer der ehelichen Bande. (S. 115.)
... In erster Linie handelt es sieh um eine Pflicht gegen den Toten und seineu
Unter-Clan, um eine streng vorgesehrieben moralische Pflicht, deren Erfüllung
von Öffentlichkeit und Sippe eifrig überwacht wird. ^Unsere Tränen — sie
sind für die Verwandten unseres Vaters zu sehen,« erklärte mir einer der Leid-
tragenden ganz einfach und geradezu. In zweiter Linie wird der Welt damit
ijewiesen, dass Frau und Kinder des Toten wirklieh gut zu ihm waren und ihn
in seiner Krankheit treulich gepflegt haben. Schliesslich — und das ist sehr
wichtig — wird dadurch jeder Verdacht beseitigt, als könnten sie etwa an
seinem Tod durch schwarze Magie mitschuldig sein. Um dieses letzte befrem-
dende Motiv zu verstehen, muss man sich die ausserordentlich grosse Furcht
vor bösen Zauberkünsten klar machen, den stets regen Argwohn und das un-
gewöhnliche Misstrauen gegen alle und jeden, sobald Magic im Spiele ist. Die
Trobriander — wie übrigens alle Völker ihres Kulturnivcaus — sehen aus-
nahmslos in jedem Todesfall einen Akt böser Zauberei, es sei denn, dass der
Tod durch Selbstmord oder einen wahrnehmbaren Unfall, wie Vergiftung oder
Speerstich, verursacht wurde. Es kennzeichnet ihre Anschauungen über Ban-
de der Ehe und Vaterschaft, die sie für künstlich und in
der Not unzuverlässig halten, dass der Hauptv erdacht
der Zauberei stets auf Frau und Kinder fällt. Wahre Teil-
nahme am Wohlergehen eines Mannes und wahre Zuneigung findet sich nach
dem überlieferten Vorstellungssystem nur bei der Sippe seiner Mutter, die auch
Jkaum^m^ den /Verdacht' gerät, irgendwelche Ajischlage gegen ihn zu führe n. Seine
46
Die ökonomischen und sexuellen Wiilcrsprüche der Trobri ander
II
Frau und seine Kinder sind bloss Fremde, und die Sitte leugnet jede wirkliche
Interessengemeinschaft zwischen ihnen.« (S. llfi.)
Die psychoanalytische Forschung hat aul'gedeckt, dass, wer seine
Trauer nach einem Verstorbenen besonders aufdringlich zur Schau
trägt, einen verbotenen und verdrängten Hass gegen ihn zu ijber-
U -winden und durch das Gegenteil zu überdecken hat. Wir sehen, die
1 Trobriander sind misstrauisch gegeneinander, wo sie im Ausbeutungs-
verhältnis zueinander stehen, und sie wissen die künstliche Natur der
Ehe richtig einzuschätzen. Der Clan der Frau war ausgebeutet und
wurde durch den Tod des Gatten von Lasten befreit, hätte al so G rund
zu jubeln. Die Clanmitglieder hatten, unbewusst oder bewusst, Hass
j gegen den Tributnehmer aufgestapelt und müssen nun, von der Sipp-
schaft des Gatten argwöhnisch beobachtet, zeigen, dass sie nicht
hassten wegen der zu tragenden Lasten, sondern dass sie es freiwillig.
_und gerne taten. Für die Blutsverwandten des Verstorbenen bestanden
keinerlei materielle Verpflichtungen, sie haben daher auch keinen
Hass kompensatorisch zu übertönen, sie dürfen natürlich trauern.
Wir sehen hier nioraüsche Bräuche unmittelbar aus dem Pro-
duktion sverhaltnis entstehen, erkennen aber noch eine andere _ihrer
Funktionen, die ideologische Festigung der_ ö konojni.-
schen Situation, aus der sie hervorgehen. Diese Rückwir-
kung der Ideologie, die in den psychischen Strukturen der Unter-
drückten durch Veränderung ihres Trieblebens verankert wird, auf
die Ökonomische Situation und ihre soziologisch reaktionäre Funk-
tion, die materielle Unterdrückung der gleichen Individuen zu ver-
ewigen und ihre Rebellion zu verhindern, sind ihnen ganz unbewusst.
Wir dürfen erwarten, dass diese Funktion der Ideologie gesetzniässig
überall dort anzutreffen sein wird, wo eine Ideologie einem Aus-
beulungsverhältnis entspricht. Mit dieser Frage werden wir uns im
II. Teil noch beschäftigen.
Da auf dieser Organisationsstufe der Gesellschaft das Interesse
an der Eheinstitution als zentralem Mechanismus der Ausbeutung
bereits mächtig ist, muss die Witwe sich die furchtbarsten Ent-
behrungen lange Zeit hindurch auferlegen; sie wird von den Ver-
wandten des Gatten argwöhnisch bewacht, die zu bestimmen haben,
■wie lange sie die Trauerriten über sich ergehen lassen muss. Wir
verstehen dies aus der Tatsache, dass sie durch den Gatten mächtige
Einschränkung ihrer Sexualität erfuhr und ihn daher ebenfalls hassen
musstc. Ehe sie ihre volle Freiheit gemessen darf, nnuss sie leidend
beweisen, dass sie ihn geliebt und nicht schwarze Magie an ihm
geübt hat. Toui eonimc chez nous.
•» I
III. KAPITEL
DER EINBRUCH DER SEXUALFEINDLIGHEN
MORAL
1. VOREHELICHE KEUSCHHEIT
Bis auf eine einzige Ausnahme ist das Geschlechtsleben der Tro-
briander vor der Eheschliessung nicht nur völlig frei von Kindheit
auf, sondern vielmehr gesellschaftlich befürsorgt (vgl. Kap. I). Und
diese eine Ausnahme betrifft jene Kinder, die
zu einer Kreuz-Vetter-Basen-Heirat hestimmt sind;
für sie vvird von der gesellschaftlichen Sitte voreheliche Keuschheit
und Fernhaltung von. den sonst üblichen und eifrig betriebenen
sexuellen Betätigungen gefordert. Malinowski registriert bloss
diese Tatsache unter dem Titel »Feierliche Bräuche beim Kinderver-
löbnis«, ohne sie in irgend einen Zusammenhang zu bringen.
Bei meiner Untersuchung über die soziologische Funktion der
Unterdrückung der kindlichen und jugendlichen Sexualität^) ergaben
sich aus den Beziehungen zwischen Privateigentum, Elieinstitution
und Askeseforderung für die Jugend Zusammenhänge, die sich durch
die Funde Malinowskis nicht nur bestätigen, sondern sogar im
Entstehen kundgeben. Ich wiederhole hier kurz die Ergebnisse der
genannten Untersuchung:
Die bürgerliche Jugendforschung behauptet, wo immer sie mit
dem Problem der jugendlichen Askese in Berührung kommt, dass
diese den Ansprüchen der »Kultur« diene, dass Kultur und Zivili-
sation ohne enthaltsames Leben der Jugend nicht denkbar seien. Es
war naheliegend, nachdem man durch marxistische Schulung geübt
wurde, die Fragen nicht abstrakt, sondern konkret zu fassen, an-
zunehmen, dass nicht die Kultur überhaupt, sondern nur eine be-
stimmte Form der Kultur, eben die bürgerliche und vielleicht noch
*) »Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral. Eine Kritik der bürgerlichen
Sexualreform.« (Münster-Verlag, Wien 1930.)
48
Der Einbruch der sexualfcindlichea Moral
die privalwirtschaftiiche im allgemeinen, die Askese der Jugend oder
zumindest die Forderung danacli als einen ihrer integrierenden Be-
standteile beinhaltet. Aher wie Hess sich die Askeseforderung in das
soziologische Geschehen einordnen?
Zunächst war nur klar, dass der Kapita lismus an der Ehdnsti;
tution aus einem bestimmten Grunde inleres^ert ist. Sie bildet den
sozial en^chut z der entrecht e t en Frau und der Kinder, fixiert und
s^chiitzt ökonoinisch das Erbrecht der Besitzenden auf der väterlichen
Linie u iidrTst™ii^er di es , was ihre politisch e Funktion in der bür-
gerlichen Gesellschaft ergibt, das Rü ckgrat tlor bürgcrüchen_[deoIo-
giefabrik, der \-aterrcchtlichen Famflie. Das sagt noch nichts über
dre~X'sEesefor(rerung aus. Denn warum sollten die Jugendlichen nicht
ihren psycho-physiologischen Notwendigkeiten gemäss leben, wenn
sie nur später in der Ehe den Forderungen des Patriarchats folgten?
Die Lösung des Problems wurde durch die psychoanalytische Klinik
.angebahnt: Es zeigt sich nämlich, dass Menschen, die, sei es durch
besondere Schicksale, sei es durch eine psychoanalytische Kur, zur
vollen Entfaltung ihrer genitalen Bedürfnisse gelangen, unfähig wer-
den, sich dem monogamen Gebot des Privateigentums: »ein Partner,
und dieser lebenslänglich«, zu fügen. Dagegen ergibt der Vergleich
■mit den sexuell verkrüppelten und daher braven kleinbürgerlichen
Ehefrauen, die der Moral folgen können, ferner die relative Leichtig-
keit, mit der sexuell gestörte Männer die Monogamie durchführen, dass
1. die Schädigung der genitalen Sexualität ehefä_hig
m a^chtr""'"""" " ————-*-"-
2. die volle Entfaltung der Sexualität durch be-
friedigendes Sexualleben vor der Ehe zwar nicht Mo-
nogamie auf gewisse Zeit, wohl aber die Fähigkeit zur Mo-
nogamie im kirchlichen und bürgerliehen Sinne zerstört.
Der Sinn der Askeseforderung für die Jugend und der Sexual-
unterdrückung in der frühen Kindheit ist also objektiv-gesell-
schaftlich, ungeachtet der subjektiven Rationalisierungen, die
Herstellung der Ehefähigkeit. Das wird j a auch in
manchen antibolschewistischen Schriften der Kirche und des of-
fenen reaktionären Bürgertums unverliüllt ausgesprochen.
Wir vernachlässigen hier die Widersprüche, die sich daraus für
die Elle ergeben^), und halten nur diesen einen Tatbestand fest: Das
Privateigentum an Produktionsmitteln ist an der Eheinstitution in-
teressiert; diese wieder erfordert zu ihrem Bestände die Forderung
undslrengste Durchführung der kindlichen und jugendlichen Askese.
Dies, und nicht, wie die bürgerliche Sexualforscbung behauptet, die
Rücksicht auf die »Kultur«, ist der wahre Grund der Forderung, i
Gegenüber der mit langweiliger Beharrlichkeit vorgebrachten Beru-t
1) Vgl. ebenda das Kap. sDcr Widerspruch der Eheinstitution«.
Voreheliche Askese und Ehefähigkeit 49
f fung auf den gesundheitlichen Schaden des puberilen Geschlechtsver-
kehrs war klinisch nicht schwer zu beweisen, dass die Forderung
praktisch nie durchgeführt wird, dass ja die konfliktuöse Onanie weit
, mehr schädigt, als der Geschlechtsverkehr in der Pubertät je im-
t Stande wäre, und dass es nur auf die Schuldgefühle und die Sexual-
1 angst ankommt, die den Jugendlichen verhindern, sein Sexualleben
zu leben, ihn impotent, befriedigungsunfähig und daher schliesslich
bewusst sexuell anspruchslos machen. Dass dabei etwa 60 Prozent
der Männer und 90 Prozent der Frauen an nervösen und sexuellen 1
Störungen erkranken, ist zwar von der Sexualordnung nicht beab- 1
I sichtigt, gehört aber spezifisch zu ihrem System, das unter den bür- '
■ gerlichen Sexualfor scher n seine Verfechter findet. Auch die psychoa-
nalytische Jugendforschung ist bisher diesem Irrtum verfallen, trotz
.der klaren Tatsachen, die eine klare Sprache sprachen.
Eine Statistik über die Beziehungen zwischen dem zeitlichen Be-
ginn des Geschlechtsverkehrs und der ehelichen Treue, die in Moskau
von B arasch angestellt wurde, ergab eine Bestätigung; Von denen,
die nach dem 21. Lebensjahre den Geschlechtsverkehr aufnahmen,
waren nur 17,2 Prozent untreu; von denen, die zwischen dem 17.
und 21. Lebensjahr geschlechtlich verkehrten, bereits 47,6 Prozent,
und schliesslich ergab sich bei Beginn des Geschlechtsverkehrs vor
dem 17. Lebensjahr ein Satz von 61,6 Prozent ehelicher Untreue^).
Gegen die theoretischen Ableitungen und gegen die Statistik könnte
die moralisch befangene Sexualforschung noch allerhand Einwände
ins Feld führen. ^ie_ Tatsache aber, dass in der sonst sexuell freien
trobriandrischen Gesellschaft die Forderung nach kindlicher und
jugendlicher Enthaltsamkeit gerade dort einsetzt, wo das materielle
Interesse sich am deutlichsten ausprägt, nämlich mit der Kreuz-Vetter-
Basen-Heirat, enthüllt unwiderleglich den ökonomischen Hintergrund
der Askeseforderung und zerstört endgültig die Floskel von der kul-
turellen Rücksicht ebenso, wie das Geschlechtsleben der trobriandri-
schen Jugend die Phrase von der gesundheitlichen Schädigung durch »
Geschlechtsverkehr widerlegt. Niemand kann behaupten, dass die
Trobriander nicht einen bereits sehr hohen Grad der Gartenbaukultur
erreichten, und doch sind sie durch das Sexualleben ihrer Jugend
nicht daran gehindert worden. Der Nachweis, dass die Schäden beim
Geschlechtsverkehr im Pubertätsalter aus den gesellschaftliehen Be-
hinderungen des Geschlechtslebens (erzieherische Sexualverkrüppe-
iung, Wohnungsnot, Elternhaus etc.), aus den Widersprüchen des
sexuellen mit dem. wirtschaftlichen Sein entspringen und nicht ir-
gendwelchen natürlichen Gegebenheiten, wurde zu einem Teil bereits
in »Geschlechtsreife etc.« geführt.
Kehren wir nun zu Malinowskis Bericht über den Einbruch
1) Barasch: »Sex Life of the Workers of Moskau«, Journal of Social Hygiene.
(Vol. XII. Nr. T), Mai 1926.)
50
Der Einbruch der sexualfeindlichen Moral
der Askeseforderung zurück. Der materiell interessierte Mutterbru-
der ergreift immer die Initiative zur Herstellung einer Kreuz-Vetter-
Basen-Heirat. Er stellt, sobald ihm ein Sohn geboren wird, an seine
Schwester das Ansuchen, sie möchte diesem ihre Tochter oder eine
Enkelin zur Frau bestimmen. Doch wird auf einen Altersunterschied
von etwa zwei bis drei Jahren Rücksicht genommen,
»Oder aber der Vater des Knaben wartet zunächst; wenn innerhalb eines
Zeitraumes von zehn Jahren seine Schwester eine Tochter gebiert, so fordert
er dieses Kind als zukünftige Schwiegertochter; die Schwester darf sein An-
suchen abschlagen. Bald nachdem die erste Abmachung getroffen ist, muss der
Mann dem Vater (lama) der kleinen Braut ein vayuit'a (Wertgegensland) brin-
gen, eine polierte Axtschneide oder einen Muschelzierat. »Dies ist das katap-
ivot/na kapo'ala für dein Kind«, sagt er und fügt noch hinzu, er bringe dieses
Geschenk, »damit sie nicht mit anderen Männern schläft;
nicht katuyausi (L i e b e s au s f 1 ü g c) macht und nicht im
bukumat ula schläft. Sic darf nur im Hause ihrer Mutter
schlafen.« (Vom Ref. gesperrt.) Bald darauf überbringt die Familie des
Mädchens dem Vater des Knaben drei Geschenke, die aus Nahrungsmitteln
bestehen; sie sind von gleicher Beschaffenheit wie die drei ersten Gahen bei
einer gewöhnlichen Kheschliessung und werden mit demselben Namen bezeichnet:
Kuiuaila, jiepe'i und Itaykaboma. (S. 77.)
Doch bis es glücklich so weit ist, dass die beiden verheiratet sind, gilt es
einen nicht ganz leichten Kurs zu steuern. Obwohl niemand im Ernst er-
wartet, dass die beiden jungen Leute keusch und einander treu bleiben, muss
doch der Schein gewahrt werden. Eine allzu offensichtliche Verletzung der
Pflichten gegen den anderen Verlobten würde von der betreffenden Seite übel
vermerkt werden und übertreibend als »Ehebruch« bezeichnet werden. Es
gilt für das Mädchen als grosse Schande, wenn ihr Verlobter ein Verbältnia
mit einer anderen hat, und sie ihrerseits darf das bakumatula nicht zu ihrem
dauernden Aufenthalt machen^ weder in Gesellschaft ihres Verlobten, noch
irgendeines anderen; ebensowenig darf sie sich am katuyausi. den anerkann-
termasscn geschlechtlichen Ausflügen in andere Dörfer, beteiligen. Beide Teile
müssen ihre Liebesgeschichten diskret und sub rosa abmachen. Das ist für sie
natürlich weder leicht noch angenehm, und sie wandeln den geraden Pfad
äusserlichen Dekorums nur unter hartem Druck. Der junge Mann weiss, was
für ihn auf dem Spiele steht, und benimmt sich deshalb so vorsichtig, wie er
es nur über sich gewinnt. Auch steht der Sohn bis zu einem gewissen Grade
unter der Kontrolle seines Vaters, der zugleich auch über seine zukünftige
Schwiegertochter, als Onkel mütterlicherseits eine gewisse ,'Vutorität hat. Ein
Mann, der seinen Sohn und seine Nichte miteinander verlobt hatte, erklärte
mir die Sache folgcndcrmassen: »Sie hat Angst, sie könnte sterben (durch
bösen Zauber) oder ich könnte sie schlagen.« Eine Mutter ist natürlich sehr
besorgt und tut, was sie kann, die Pflichtvergessenheit ihrer Tochter zu ver-
tuschen und als geringfügig hinzustellen.« (S. 78.)
Mit der Unterdrückung setzt, wie wir sehen, das Heimlichtun ein,
der schwere Druck der neuen Moral, die in so krassem Widerspruch
steht zur sonstigen freien Sexualorganisation, bringt es zuwege, dass
ein Trobriandermädchcn in einer Gesellschaft, in der das Schlagen
der Kinder eine Schande ist, Angst entwickelt, für geschlechtliche
Vergehen geschlagen zu werden, und die Mütter dieser Töchter be-
ginnen das Gehaben unserer Mütter zu entwickeln. Um es noch ein-
mal zu bringen, damit kein Missverständnis aufkomme: »Dieser
letzte Vorgang {dass nämlich der Vater des Mädchens den Eltern des
Knaben einen ansehnlichen Tribut an Voj/isknollen als Heiratsgeschenk
*
Oekonomische BegrilnduDg der Askeseforderung 51
bringt) ist sehr interessant, denn er bedeutet eine Umkehrung dessen, i
was sich in der vorhergehenden Generation abgespielt hat. Der Vater |
des Knaben, zugleich der Bruder der Mutter des Mädchens, hat den 5
Eltern des Mädchens Jahr für Jahr eine Ernlegabe zu entrichten;
diese Geschenkreihe hatte er zur Zeit, da seine Schwester heiratete,
durch eine Vilakuria-Gahe eröffnet. Jetzt erhält er zugunsten seines
kleinen Sohnes eine Vilakaria-Gahe vom Gatten seiner Schwester, der
als Vertreter . . . seiner Söhne handelt, also als Vertreter der . . .
Brüder der zukünftigen jungen Frau, denn diese müssen später, wenn
dereinst der junge Haushalt gegründet ist, ihrer Schwester alljährliche
ansehnliche Erntegaben bringen.« (»Geschlechtsleben der Wilden«,
S. 77.) Und da die Söhne auch für den Haushalt der Mutter zu sorgen
haben, ist der Ring des Rückflutens der Erntegaben zum Ausgangs-
punkt geschlossen, und damit ist der Boden für die Sexualunter-
drückung geschaffen. Wir haben im ersten Kapitel gesehen, wie sie sich
bei einiger Entfaltung im Patriarchat als neurosenerzeugender Faktor
auswirkt.
2. DIE GRAUSAMEN PUBERTÄTSRITEN
Freud hat den Pubertätsritus der Beschneidung und der geni-
talen Verstümmelung bei den Primitiven unserem Verständnis nahe
ZU bringen -versucht. Die Entfernung der Vorhaut bei den Knaben,
die Exzision der Klitoris und der Schamlippen bei vielen Völkern,
wie es von Bryk in seinem Buche »Negereros« geschildert und von
Krische zusammengestellt wurde (Ägypter, Nubier, Abessinier, Su-
danesen, ferner bei Negerstämmen in Westafrika, bei den Susus, Bam-
buc, Mandingo, bei den Massai und Wakussi in Ostafrika und ande-
ren), sollen nach Krische nicht nur für vaterrechtliche Organisa-
tionen typisch sein, als Zeichen der Brutalisierung der Sexualität
und im Sinne der Freud sehen Deutung als vorweggenommene Be-
strafung für sexuelle Handlung, sondern sie sollen auch bei den
Kamtschadalen verbreitet gewesen und bei den mutterrecbtlichen
Malaien des ostindischen Archipels gefunden worden sein. Nach
Bachofen bestand diese Sitte auch bei den »mutterrechtlich ein-
gestellten Ägyptern«^). Bryk schreibt von den afrikanischen Bantu-
stämmen:
»Diese Besehusiidung, die sich auf die Klitoris beschränkt, setzt dem tolleu
Treiben der Mädchen Schranken. Aus Gemeingut wird es Privacigcntum (der
beschriebene aCrikanisdie Negerstaram ist bereits zur Gänze patriarchalisch.
Anm, d. Ref.) . . . Die praktische Bedeutung liegt zunächst darin, das gene-
sende junge Mädcheti* der Zudringlichkeit der jungen Leute auf längere Zeit
zu entziehen. Das Primäre des Zweckes liegt jedoch vor allem darin, durch
1) Nach Krische »Das Rätsel der MutterrechtsgeseHschaft«, München 1927,
S. 231.
5*
52
Der Einbruch der sexualfeiudlichcD Moral
Extirpation des für die Ubido sexuaUs empfindlichsten Organs . . - seine Geil-
heit zu zügeln, um ihr auf diese Weise die seiner Natur widerstrebende Mono-
gamie aufzudrängen.« (»Neüereros.« S. SB.)
Däss die genitalen Zeremonien, die als Pubertlitsriten mit Ver-
stümmelung der Genitalien und Schmerzzufügung verbunden sind,
einen Kampf der Gesellschaft gegen die Sexualität der Jugendlichen
bedeuten, kann nicht bezweifelt werden. Es fragt sich nur, welchen
Sinn dieser Ritus in soziologisch-ökonomischer Hinsicht hat, wie er
sichln die Entwicklung der Sexualmoral und Sexualunterdrückung
geschichtlich einordnen lässt. Es ist unwahrscheinlich, dass der Ritus
aus der Urzeit des freien uneingeschränkten Liebeslebens herstammt.
Er muss also geworden sein. Für die primitiven väterlichen
Organisationen ist er fast typisch. Aus der Zusammenstellung von
Krisch e geht hervor, dass er auch bei mutterrechtUchen zu finden
ist. Wie ist das mit ihrer sexualbejahenden Organisation in Einklang
zu bringen?
Wir müssen nun zweierlei beachten: Erstens ist dieser Ritus bei
mutterreclitlich organisierten Stämmen nicht häufig, und die Ägypter,
bei denen er gefunden wurde, waren bloss (noch) »mutter rechtlich
eingestellt« ; zweitens dürfen wir uns nicht unhistorisch Mutterrecht
und Vaterrecht scharf voneinander abgegrenzt vorstellen. Wo immer
Mutterrecht in Vaterrecht überging, bedurfte es langer Zeiträume der
(Oberleitung aller ökonomischen und sozialen Institutionen und Ge-
bräuche. Und wenn wir die sexualÖkonomischc Funktion der Puber-
iätsverstümmelung als primitive Methode zur Unterdrückung der
jugendlichen Sexualität hinzunehmen, müssen wir schüessen, dass
diese Massnahme in der Übergangszeit entstanden ist, sich im
Laufe der Wandlung von der Sexualbejahung zur Sexualunter-
drüekung als dam'als ökonomisch notwendige Massnahme hergestellt
hat. Wann und in welchem Zusammenhange? Dazu können wir nur
eine Vermutung vorbringen, da das Material hier ganz unzulänglich
ist; allerdings eine Vermutung, die sich in unsere Geschichte der
Sexualmoral zwanglos einfügt und in voller Überinstimmung ist mit
unseren psychoanalytischen Kenntnissen von der sexuellen Apparatur.
i , Solange die ökonomisch so wichtige Kreuz-Vetter-Basen-Hcirat
noch nicht voll entwickelt war und daher für die Masse der Jugendlichen
noch nicht Keuschheit gefordert wurde, genügte der moralische Druck.
Mit dem Umsichgreifen der Keuschheitsforderung mussten die Jugend-
lichen immer mehr sexuell rebellieren, und da die Keuschheits-
forderung sich durchsetzen musste, sollte nicht das ganze System
der »gesetzlichen« Ehen gefährdet werden, da doch voreheliche Ge-
schlechts freiheit eheunfähig macht, waren schärfere Massnahmen
notwendig. Die Exzision der Klitoris beim Mädchen hat den Zweck
gewaltsamer Herabsetzung der sexuellen Erregbarkeit. Die Beschnei-
dung hat also letzten Endes eine ökonomische Funktion, die sich in
Die Funktion der genitalen Verstümmelung 53
Form von Sitte und Brauch verankert und gleichzeitig verschleiert.
Die Prozeduren, die der Jugendliche zu erdulden hat, sind nicht vor-
■weggenommene Bestrafungen für die sexuelle Betätigung, keine
feRacheaktionen« der Erwachsenen, sondern rationell wohlbegründete
Massnahmen der herrschenden Gruppe zunächst zur gewaltsamen
Unterdrückung der in diesem Stadium der Entwicklung der Wirt-
schaft nachteiligen puberilen Sexualität. Das spätere reifere Patriar-
chat arbeitet raffinierter und erfolgreielier: Es führt den Kampf
gegen die kindliche Sexualität ein und schädigt von vornherein ,
die sexuelle Struktur im Sinne der orgastischen Impotenz, nicht ohne
sich dabei gleichzeitig unbeabsichtigt die Neurosen, Perversionen und
Sexualverbrechen auf den Hals zu laden. In diesen ökonomischen
Interessen des keimenden Patriarchats wurzelt historisch die Kastra-
lionsangst, die Freud beim bürgerlichen Menschen entdeckt hat.
Und die gleichen Motive, die seinerseits die Grundlage für den Ka- ^_
strationskomplex der Menschen schufen, erhalten ihn heute im
Kapitalismus: die patriarchalisch-privatwirtschaftlichen Interessen an i
der monogamen Dauerehe, als deren Durchführungsorgane die Eltern l
— ganz unbewusst — fungieren.
.-M-i-^c^.;).--— ■M'v^'^
IV. KAPITEL
URKOMMUNISMUS — MUTTERRECHT
PRIVATEIGENTUM — VATERRECHT
1. ZUSAMMENFASSUNG
Wir haben bei den Trobriandern das Vaterrecht aus dem, Mut-
terrecht herauswachsen gesehen und wir erkannten im^^Uuelljen
Heira tsgut den Grundmechanismus der Verwandlung der einen ge-
sellschaftliehen l)rganisation in die andere. Wir sahen die urkom;^
munistische mütterliche Gens immer mehr in ökonomische, ideolo-
gisch verschleierte Abhängigkeit vom patriarchalisch werdenden
'^.Häuptling und seiner Familie geraten. Haben wir es hier mit einem
allgemeinen oder zumindest weitverbreiteten Typus der urzeitlichen
Transformation zum Patriarchat und zur Klassenteilung zu tun, oder
trifft er nur für die Trobriander und einige wenige andere Stämme
zu? Diese Frage ist gar nicht leicht endgültig zu beantworten. So
genaue und ausgiebige Berichte wie die Malinowskis liegen
sonst nicht vor. Entweder fehlt die durch die psychoanalytische Be-
trachtung geschärfte Methode des Ethnologen, das Sexualleben zu
studieren, oder aber es fehlen die deskriptiven Zusammenhänge zwi-
schen Sexualform und Wirtschaftsform, so dass sich keine befriedi-
genden Schlüsse ziehen lassen. Sehr viele Ethnologen stehen ja auch
auf dem Standpunkt der Priorität des Patriarchats, was einen ent-
wicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkt von vornherein ausschliesst.
Ja, in den meisten Berichten fehlt jeder Hinweis darauf, ob die
beobachteten Stämme vaterrcchtüch oder mutterrechtlich, urkom-
munistisch oder privateigentümlich organisiert sind. Es sind nur
wenige Ethnologen zu nennen, deren Untersuchungen einen Blick
in die historische Entwicklung der Urgesellschaft gestalten. Unter
diesen Autoren hat in erster Linie Lewis Morgan M. dem dann
1) »Die UrgescHschart«. (Dietz, 1908, II. Aufl.)
Widersprüche der Vaterrechtstheorie 55
Engels in seinem Buche über den »Ursprung der Familie« folgte,
den Standpunkt des ursprünglichen Mutterrechts vertreten. Vor ihnen
wies schon Bachofen') nach, dass das Mutterrecht allgemein die
ursprüngliche Organisalionsform war, denn sie repräsentiert das '
eigentliche Naturrecht, während das Patriarchat bereits kompli-
zierte gesellschaftsgeschichtliche Einflüsse zur Voraussetzung haJL- /
Das Material ihrer Gegner, der Vertreter der Ursprünglichkeit
der Vaterfolge und des Patriarchats, ist immer vieldeutig, entbehrt
der Geschlossenheit der Mutter-Naturrechts-Theorie und beweist
auch dann nichts, wenn man bei sehr primitiven Stämmen bereits
Vaterrecht feststellt. Denn aus dieser Feststellung allein erfliesst
noch nicht der Beweis der Ursprünglichkeit der gegenwärtigen Or-
ganisation. Wenn zum Beispiel die auf niedrigster Stufe sichenden
Pygmäen vaterrechtlich organisiert sind=), so weist bereits ihre Mo-
nogamie in der Sexualorganisation und das festorganisierte Inzestver-
bot auf eine lange historische Entwicklung hin, und erst die genaue
Durchforschung ihrer Sagen und Mythen könnte hier Aufschluss
^eben.
Dass das Mutterrecht sich aus einem ursprünglichen Patriarchat Z.
entwickelt haben sollte, ist kaum wahrscheinlich. Bedenken wir,
dass das Mutterrecht durch Urkommunismus und weitestgehende
Sexua lfreiheit, das Vaterrecht dagegen, wo immei^ wir es antreffen,
durch Privatbesitz, Frauen Versklavung und der unsrigen bereits
ahnliche Sexuaiunterdrückung gekennzeichnet ist, dass also das erste
dem natürlichen Zustand weit näher steht als das zweite, so müssten
wir gewaltsam eine Umkefarung der Entwicklung im rückläufi-
gen Sinne annehmen, wenn wir das Mutterrecht aus dem Vaterrecht
ableiten wollten, eine Verwandlung einer hochkomplizierten Orga-
hisation in eine primitivere, natürlichere. Dabei geht jeder Grundsatz
einer historischen Betrachtung verloren.
Und die dritte Möglichkeit, dass es neben einem ursprünglichen ''i.
Mutterrecht ein ursprüngliches Vaterrecht gegeben habe, ist nicht
weniger unwahrscheinlich; denn während sich das Mutterrecht aus
der natürlichen Gen erations folge erklärt, mit der Tatsache des In-
zestes und des primitiven Kommunismus in der Urzeit in vollem Ein-
klang steht, bedarf es zur Annahme des ursprünglichen Vaterrechts
sehr komplizierter und gewaltsamer Hypothesen: Man stützt sich
bei dieser Annahme meist auf die Stärke des Männchens, seine Eifer-
sucht den anderen, jüngeren oder schwächeren (?) Männchen gegen-
über und zieht Analogien aus dem Tierleben heran, wo es eine »väter-
liche« Leithorde gebe. Wir haben hier folgende Schwierigkeiten: Die
(Annahme der Eifersucht schliesst die unwiderlegliche Tatsache des
1) »Das Mutterrecht« (1861).
-) Vergl. ß o h c i m : »llrformeii imd Wandlungen der Ehes in Marcuses
»Ehebuch«, S. 33 f.
56 Urkommunismus — Mutterrecht; Privateigentum — Vaterrecht
Inzestes in der Urzeit und ebenso die des wirtschaftlichen Urkom-
^munismus aus; denn wenn es ein starkes eifersüchtiges Männchen
" in einer Horde gibt, das alle Weibchen für sich in Anspruch nimmt
und die anderen Männchen ausschliesst oder verjagt, so muss es
immer so gewesen sein, sonst hat das Ganze keinen Sinn; die aus-
geschlossenen und immer kämpfenden Männer können auch keine
Mitarbeit in der primitiven Wirtschaft leisten, denn dabei kämen sie
mit den Frauen in engen Kontakt; sie könnten ebensowenig die
Früchte mitgeniessen. Ganz unmöglich aber erscheint die Vorstellung^
dass der Urvater auf die Dauer eine Gruppe von nicht weniger kräf-
tigen Männern fernhielt. Die einzige hypothetische Grundlage dieser
Auffassung ist die supponierte Eifersucht des führenden Mannes und
I das notabene seltene Vorkommen von Tierhorden (wilde Pferde, Hir-
sche, Affen), bei denen es einen »Führer« gibt. Diese immer wieder
aus dem Tierreich herangezogenen, biologischen Beweise verschwin-
den aber gegenüber der Tatsache, dass die Millionen anderer Tierarten
erwiesenerraassen, mit Ausnehme gelegentlicher Paarungen für die
Zeit der Brut, geschlechtlich ungeregelt leben; trotzdem müssen sie
immer wieder zur Stützung der patriarchalisclien Ideologie herhalten.
( Die patriarchalischen Auffassungen der Urgeschichte haben auch
logischerweise zu der Annahme geführt, dass die Monogamie bzw.
das heutige Vorrecht des Mannes auf mehrere Frauen, die Eifersucht,
die Unterdrückung der Frau usw. biologisch begründet seien. Nehmen
wir noch hinzu, dass diese Auffassung der Rechtfertigung unserer
patriarchalischen Organisation dient und ein Stück Grundlage der
faschistischen Sexualideologie bildet, während die mutter rechtliche
zeigt, dass sich alles wandelt und dass es auch anders geht, so können
wir kaum schwanken, welche Auffassung wir zu der unsrigen machen.
Vor allem leistet die mutterrechtliche Theorie für die Klärung von
gesellschaftlichen Tatbeständen und Prozessen viel, während die
vaterrechtliche nur verewigt, was sich im ständigen Flusse der Ver-
änderung befindet. Stellen wir uns also auf den Boden des allmäh-
lichen Überganges vom allgemeinen Mutterrecht zum Vaterrecht, so
befinden wir uns im Einklang mit einer grossen Reilie beobachteter
Tatsachen, können auf gewaltsame Auslegungen verzichten und ge-
winnen viel für die Geschichte der Sexualformen und der sexuellen
Ökonomie. ,
Krische hat das einschlägige ethnologische Material^) über die
weite Verbreitung sowohl historischen als auch aktuellen Mutter-
rechts neuerdings zusammengestellt. Es bleibt die schwierige Auf-
gabe, an einzelnen primitiven Organisationen die Entwicklung des
Vaterrechts aus dem Mutterrecht in ihrer historischen Mechanik zu
beweisen, wie wir es für die Trobriander taten. Mutterrecht wurde
also festgestellt:
1) »Das Rätsel der Mutterrechtseesell.scliaft«, München 1927.
Ehe als primitives ProduktionsverhältDis 57
l.bei den ackerbauenden Indianern Nordamerikas, den Missouristäm-
men, den Irokesen, den Huronen, den Algonkinstammen, den
Muskogee, Choktas und Cherokesen, den Natchez, den Pueblos; bei
den Naturvölkern Südamerikas, den Tupi, Karaiben und Aruak;
2. im Osten bei den malaischen Stämmen, den Nikobaresen, den Pa-
lauinsulanern, bei den Stämmen auf Formosa; es gibt mutterrtt,ut-
liche Urstämme in China und in Indien (die Garos, Pani-Kooch
und Kulu) ;
3. bei den alten Kulturvölkern, in Athen, Sparta, Megara, Kreta, Lem-
nos, Lesbos, Samothrake, Elis, Mantinea, Lydien, Kyrien usw.; in
Rom, ferner bei den Chinesen, Arabern, Tibetanern, aber auch bei
den Kelten, Slaven u. s. f. . ^,^W^. .. /IWfc«*^.
Eine grundlegende Theorie über die Verbindung von wirtschaft-
jichem Urkommunismus und Mutterrecht liegt nur bei Morgan
vor, der sie als allgemein vorkommenden Urzustand zuerst erwiesen
_hat.. Roh ei ml) gab eine Zusammenstellung der urkommunistisch
organisierten Stämme, jedoch ohne Inbeziehungsetzung der Wirt-
schaftsformen zu ihrer Organisation der Geschlechterfolge. Die ge-
meinsamen Tatbestände sind; Gemeineigentum an Boden und Hütten,
gemeinsame Arbeit und Produkten Verteilung, Privateigentum nur an
Werkzeugen, Schmuck, Kleidungsstücken usw., so bei den Kuli, den
Lengua-Indianern, den Eskimos, den Ureinwohnern von Brasilien, den
Bakairi, in Australien ganz allgemein, in Tasmanien, bei den Koman-
chen, Siouxindianern, den indochinesischen Völkern, auf den Salomon-
inseln. Doch sind manchmal die Jagdgebiete fremder Stämme
streng abgeteilt; Übertretung der Grenze führt zum Krieg.
Eine der Feststellungen Roh ei ms leitet zu unserem Kernpro-
blem, dem Mechanismus des Heiratsgutes über. Roheim behauptet^
dass das Eigentum bei vielen Stämmen einer erotischen Bindung
gleichkomme, und führt als Beweis an, dass die Gattinnen bei be-
stimmten Zeremonien an der gleichen Stelle auftreten, an der sich
das Landeigentum befindet. (I. c. S. 20.) Wenn zutrifft, dass das
Heiratsgut durch die Gattin in den Besitz des Gatten und seines Clans
übergeht - — da es sich doch immer um exogamc Clans handelt — ,
so begreifen wir den Ritus der erotisierenden Symbolik: Das Ei-
gentum wird mif Hilfe von geschlechtlichen Inter-
essen übertragen. Roheim erwähnt von verschiedenen Stäm-
men, bei denen Urkommunismus herrscht, dass der Besitzer zu sei-
tem »Eigentum« mehr in einem formalen und zeremoniellen als in
einem praktischen Verhältnis steht. (1. e. S. 16.) Das gleiche hörten
wir von Malinowski über den Privatbesitz an Kanus bei den Tro-
briandern.
1) Höh e im: »Die Urrormen und der Ursprung des Eigentums«. (Archiv
für Ethnographie, Bd. 28, H. I/II.)
68
Urkommunismus — Mutlerrecht; Privateigentum — Vaterrecht
Diese und ähnliche Feststellungen ethnologischer Forscher, die
sich mit den Tatbeständen bei den Trobriandern decken, gestatten,
dem Heiratsgut als dem Grundmechanismus der Überleitung vom.
Mutter recht zum' Väterrecht, vom genülen Urkommunismus zur An-
häufung von Reichtum in einer Familie, daher auch von der ursprüng-
Uchen Sexualbejähung zur Sexualunterdrückung, eine allgemeinere
Bedeutung zuzuschreiben. Doch werden künftige Forschungen bei
anderen Stämmen und Naturvölkern, die diesen Gesichtspunkt mit
einbeziehen, zu ergehen haben, wie weit dieser Ritus verbreitet isft
und mutterrechtliche Organisationen in vaterrechlliche verwandelt.
Sollte dies allgemein zutreffen, so hätten wir in der Elicschliessung
und im Heiratsgut einen soziologischen Mechanismus vor uns, der in
der Urgesellschaft beim Beginn der Klassenteilung ebenso ein Aus-
1 beulungsverhältnis zwischen Ausbeutendem und Ausgebeutetem
] lierstellt, wie der des Kaufs der Ware »Arbeitskraft« den Mechanis-
j mus der kapitalistischen Akkumulation in unserer Gesellschaft bildet.
2. DAS HEIRATSGUT ALS VORSTUFE DER WARE
Wenn die sexual verneinende Moral, die an die Stelle der ur-
sprünglichen sexualökonomischen Regelung des Geschlechtslebens
tritt, bestimmten wirtschaftlichen Interessen entspringt, so müssen
wir uns ein Stück weit mit der Natur dieser wirtschaftlichen Wand-
lung befassen. Diese Wandlung ist eine doppelte: erstens der Fort-
schritt der Produktionstechnik, der zu immer grösseren Reichtümern
_in der Gesellschaft führt, und zweitens die mit ihm zusammenhän.-
i^*^. ^ende Teilung der Arbeit, die die Erzeugung von Waren an die Stelle
der Erzeugung von zu eigenem Gebrauch bestimmten Produkten setzt.
, »Die Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft und die entsprechende
/ Beschränkung der Individuen auf besondere Berufssphären entwickelt sich wie
-die Teilung der Arbeit innerhalb der Manufaktur von entgegengesetzten Ausgangs-
/J* J ^f^Xti punkten. Innerhalb einer Familie, weiterentwickelt eines Slammes, entspringt
r ^^^*^- eine naturwüchsige Teilung der Arbeit aus den Geschlechts- und AUersverschieden-
" üeiten, also auf rein physiologischer Grundlage, die mit der Ausdehnung des
"Gemeinwesens, der Zunahme der Bevölkerung und namentlich dem Konflikt"
zwischen verschiedenen Stämmen und der Unterjochung eines Stammes durch den
anderen ihr Material auswertet Andererseits entspringt . . . der Produkten-
austausch an den Punkten, wo verschiedene Familien, Stämme, Gemeinwesen in
Berührung miteinander kommen, denn nicht Privalpersonen, sondern Familien,
Stämme usw. treten sich in den Anfängen der Kultur selbständig gegenüber.
Verschiedene Gemeinwesen finden verschiedene Produktionsmittel und verschiedene
Lebensmitte! in ihrer Nalurumgcbung vor. Ihre Produktionsweise, Lebensweise
und Produkte sind daher verschieden. Es ist diese naturwüchsige Verschiedenheit,
die bei der gegenseitigen Berührung der Gemeinwesen den Austausch ihrer Pro-
dukte und daher die allmähliche Verwandlung dieser Produkte in Waren her-
vorruft . . . Üer Austausch schafft nicht den Austausch der Produktionssphären,
sondern setzt die unterschiedenen in Beziehung und verwandelt sie so in mehr
oder minder von einander abhängige Zweige einer Gesamtproduktion. Hier entsteht
die gesellschaftliche Teilung der Arbeit durch den Austausch ursprünglich ver-
schiedener, von einander unabhängiger Produktioassparen. D och wo di e phys io-
Heiratsgut als Vorstnfe der Ware
59
logisc he Teilung der Arbeit den Ausgangspunkt bildet, lösen sich die besondereo
"U^äDe eihFs unmittelbar zusammenEehorigen Gänzen' von einander ab, zersetzen
sich, zii" welchem Zersetzungsprozess der Warenaustausch mit fremden Gemein-
-wesen den }lauptanstoss gibt, und verselbständigen sich bis zu dem Punkt, wo
der Zusammenhang der verschiedenen Arbeiter durch den Austausch der Produkte
als Waren vermittelt wird. Es ist in dem einen Fall Vemnselbständigung der
früher Selbständigen, in dem anderen Verselbständigung der früher Unselbstän-
digen.« (Marx: »Kapital«. Kautskys Volksausgabe, V!I. Aufl., Bd. I. S. 298 f.)
Wir haben also zu unterscheiden zwischen dem Austausch i n -
nerhalb des Stammes und dem Austausch zwischen fremden
Gemeinschaften oder Stämmen. Der Austausch innerhalb des Stam-
mes, der die Verselbständigung der Unselbständigen und die Vemn-
selbständigung der Selbständigen herbeiführt, erscheint bei den Tro-
briandcrn in primitivster Form als Austausch von Heiratsgut an.
Gartenfrüchten. Es geht aus Malinowskis Bericht nicht hervor,
ob es sich um verschiedene Produkte der Gartenarbeit, also
bereits um richtigen Warenaustausch handelt. Seine Keimform
erblicken wir darin, dass der Trobriander einen Teil seiner Erzeugnisse
als Gebrauchswert für sich und seine Familie, einen anderen, und
zwar den grösseren Teil, als Heiratsgut produziert. Wir hätten somit
im_Heiratsgut eine Vorstufe der Ware vor uns. die sich aus dem
primitivsten Produktionsverhältnis, dem zwischen dem Bruder und
dem Gatten der Frau herausbildet. Wir werden später sehen, dass die
Marxsche Annahme, der Warenaustausch beginne mit dem Zu-
sammentreffen fremder Stämme, zu Recht besteht, wenn wir hören
werden, dass dieser Austausch innerhalb des Stammes von Clan
zu Clan ursprünglich auf den Zusammenstoss zweier Ur-Clans zu-
rückgebt. Es ist aber klar und darf nicht übersehen werden, dass wir
es nicht mit »Ware« im vollen Sinne zu tun haben, sondern mit ihrer
Vorstufe, dem Heiratsgut, das mit Notwendigkeit zuerst zur Anhäu-
fung von Reichtümern in einer Familie und dann zum voll entwickelten
Warenaustausch führt.
3. DIE HERAUSBILDUNG DER PATRIARCHALISCHEN
GROSSFAMILIE UND DER KLASSEN
Das nächste Ergebnis des Heiralsgutsmechanismus Ist die Her-
ausbildung der patriarchalischen Grossfamilie, wie sie von Morgan,
Engels, Cunowi), Lippert, Mül lor-Lyer^) und anderen be-
schrieben wurde.
Cunow schreibt;
»Je schärfer die patriarchalische Grossfamilie sich herausbildet, in '^
ausgesprocheneren Gegensatz gelangt sie jedoch zu der Totemgenosseuscha
1) Cunow Heinrich : »Zur Urgeschichte der Ehe und Familien. (Ergänzungshcft
der Neuen Zeit, Dietz. Nr. U, 1912/13.)
2) MüUer-Lyer: »Die Familie«, 2. Aufl., München 1918.
60
Urkommunismus — Mutterrecht; Privateigentum — Vaterrccht
■v^nU.
~r
Gens. Die Hausväter eignen sich eine der Funktionen
nach der anderen an, <lic früher der Gcntilßcnossen-
schaft zustanden. Aus de^ Gemeineigentum der Totem genossün seh aft
an Grund und Boden löst sich als Sonderbesitz das Landeigentum der Gross-
^milie heraus, während zugleich die früheren ErhansprücJie der Giiutilgenos-
sen auf den Nachlass eines Verstorbenen immer mehr zugunsten der Haus-
halt smitglieder, vertreten durch deren Oberhaupt, den Familienpatriarchen,
eingeschränkt werden. Ferner übernimmt letzterer mehr und mehr die früher
von der Gesamtheit der Totemgenossen ausgeübten richterlichen Funktionen.
Andererseits führt die Kntstehung einer Adclskaste aus den Totemhäupt-
lingen, die beginnende Scheidung der früher gleichberechtigten Gentilgenos-
"sen in Reiche und Arme (je nach ihrer Zugehörigkeit zu reichen und armen
Grossfamilien), die Herausbildung besonderer Berufe und die Einführung von
Kriegsgefangenen und gekauften Sklaven aus fremden Stämmen mehr und mehr
zur Zersetzung und schliesslich zur Sprengung der alteu gcschlechtsgenossen-
schaftlichen Verfassung. Die alte verwandtschaftliche auf Bluts-
banden heruhende Organisation wirtt durch eine auf Klas-
senunterschiede beruhende herrschaftliche oder staat-
liche Organisation ersetzt.« (1. c. S. 45.)
Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Geschlechts-
fornien und den sie bedingenden Wirtschaftsformen ist für die Ur-
gesellschaft von Engels wie folgt formuliert worden:
»Je weniger Arbeit noch entwickelt ist, je beschränkter die Menge ihrer
Erzeugnisse, also auch der Reichtum der Gesellschaft, desto überwiegender
erscheint die Gesellschaftsordnung beherrscht durch Geschlechtsbande. Unter
dieser, auf Geschlechtsbande begründeten Gliederung der Gesellschaft ent-
wickelt sich indes die Produktivität der Arbeit mehr und mehr, mit ihr Privat-
eigentum und Austausch, Uutersehiede des Reichtums, Verwertbarkeit fremder
Arbeitskraft und damit die Grundlage von Klassengegensätzen: neue soziale Ele-
mente, die im Laufe von Generationen sich abmühen, die alte Gesellschaftsver-
fassung den neuen Zuständen anzupassen, bis endlicli die Unvereinbarkeit beider
eine vollständige Umwäl/.ung herbeiführt. Die alle, auf Gcschlechtsverbänden
beruhende Gesellschaft wird gesprengt im Zusammensloss der neu entwickelten
gesellschaftlichen Klassen; au ihre Stelle tritt eine neue Gesellschaft, ziisam-
mengefasst im Staat, dessen Untereinheiten nicht mehr Geschlechtsverbände,
sondern Ortsverbände sind, eine Gesellschaft, in der die Familienordnung ganz
von der EigentumsordnunK belicrrscht wird, und in der sich nun jene Klassen-
gegensätze und Klassenkämpfe frei entfalten, aus denen der Inhalt aller _biSr
^herigen geschriebenen Geschichte entsteht.« (I. c. S, VlIL)
Wenn sich mit der Produktivität der Arbeit und dem Austausch
von Reichtümern auch Unterschiede des Reichtums, Verwertbarkeit
fremder Arbeitskraft und damit die Grundlage von Klassengegen-
sätzen entwickeln, so erklärt erst die ökonomische Funktion des
Heiratsgutes, w i e sich diese Verschiebung vollzieht.
Auch sonst werden bei den Autoren entweder die Verschiebungen
der Rechte zugunsten des Häuptlings ohne Kommentar oder aber mit
irgendeiner Hypothese festgestellt. So schreibt Müller-Lycr, dass
nach Anwachsen des Reichtums die vorwiegend als Händler, Hand-
werker und Techniker auftretenden Männer es so einzurichten ver-
standen, dass das Eigentum, das sie durch Arbeit, Handel oder im
Kriege erwarben, ihr Privateigentum wurde. Dadurch und durch die
Einfü hrung der vorteilhaften Sitte, die Frau ihrer Sippe abzukaufen,
sei das Mutterrecht zugunsten des Vaterrechts ausgehöhlt worden.
Die gesellschaftliche Funktion des Heiratsguies 61
Die Reihenfolge sei aber die gewesen, dass zuerst Reichtum entstand,
der in die Hände des Mannes gelangte; der führte zur Kaufehe, wo-
durch die Frau die Magd des Mannes wurde. Die Mutterfolge machte
dem Vaterrecht, die Muttersippe der Vatersippe Platz. An die Stelle
■der Sippenfolge trat die Familienfolge. Diese Hypothese ermangelt
des Nachweises, wie der Reichtum in die Hände des Mannes gelangen,
konnte; sie gibt keinen historischen Prozessmechanismus an.
Morgan schreibt:
»Als man aofing, grössere Reichtünier zu produzieren, und als das Verlangen,
'diese auf die Kinder zu übertragen, die Abstammungsfolge von der weiblichen
auf die männliche Linie hatte übergehen lassen, war zum erstenmal eine materielle
Grundlage für die väterliche Gewalt gegeben.« (1. c. S. 397.)
Aber das Verlangen, die Reichtümer den Kindern zu übermitteln,
bedarf selbst einer Erklärung. Der Prozess bei den Trobriandern zeigt,
dass dieses Verlangen selbst zunächst aus den materiellen Inter-
essen des Häuptlings oder Vaters zu erklären ist, der sich für seine
Leistungen an den Gatten seiner Schwester anderweitig schadlos hal-
ten muss- Das kann er, wie wir hörten, nur durch die Kreuz-Vetter-
Basen-Heirat, die das Heiratsgut wieder zu ihm zurückbringt. Mor-
gan schreibt weiter (I. c. S. 403), dass das Anwachsen des Reich-
tums und das Verlangen nach Übertragung desselben auf die Kinder
die Triebfeder war, welche die Monogamie schuf. Das trifft restlos zu,
nur ist das Verlangen nach der Erbfolge auf der väterlichen Linie be-
reits selbst Produkt des materiellen Übergewichts des Häuptlings, das
sich mit Hilfe seines Rechtes auf Polygamie und der Kreuz-Vetter-
Basen-Heirat ständig in die Höhe treibt. Die Entwicklung zur Skla-
verei der unteren Bürger geht von diesem Übergewicht aus.
Das allgemeine Anwachsen des Reichtums selbst erklärt sich zu-
nächst aus der fortschreitenden Entwicklung der primitiven Technik
der Produktion von Lebensmitteln. Es erklärt an sich noch nicht die
Anhäufung dieses Reichtums in einer Familie und das Entstehen von
_zwei Klassen, einer immer mehr verarmenden und einer sich ständig
bereichernden, der Mutter-Clans einerseits, der Häuptlingsfamilie an-
dererseits. Denn die «rkommunistische Gesellschaft hätte, denken
wir die Exogamie und den Heirats mechanismus einen Augenblick weg,
immer mehr Reichtümer erarbeitet, ohne Akkumulation dieser Güter
in der Hand des Häuptlings und seiner Familie. Erst die Übertragung
des Heiratstributs in Form von Arbeitsprodukten auf Grund des Bru-
der-Gatten- Verhältnis s es und die Rangeinteilung der Clans führen zu
dieser Scheidung.
Aber nicht sofort, sondern nach verschiedenen Wandlungen in
den Produktionsverhältnissen, die der ersten Einführung des Tribut-
mechanismus folgen und die wir in einem Ausschnitt später noch
behandeln werden. Erst wenn die Produktion eine gewisse Höhe er-
62
Urkommunismus — Mutterrecht; Privateigentum — Vaterrecht
.VI.
reicht hat, erst wenn der Gebrauchsgegenstand »die unmittelbaren
Bedürfnisse seines Besitzers übcrschiessendes Quantum von Ge-
brauchswert« wird (Marx »Kapital« I. S. 50), wird er zum Tausch-
wert, zur Ware.
»Dinge sind an und für sich dem Menschen äusscrlich und daher veräusser-
lich. Damit die VeräusscruniJ wechselseitig, brauchen McDscheo nur stillschwei-
gend sich als Privateigentümer jener veräusserlichcn Dinge und eben dadurch
als vooeinander unabhängige Personen gegenüber/utreten.« (Ebenda S. 50.)
Wir sehen bei den Trobriandern, dass alle Brüder ausser den zu
ihrem eigenen Lehen notwendigen Dingen Überschüsse produzieren
müssen, wärend der Häuptling diese Überschüsse zum grössten Teil
anhäuft. Er ist der erste, der sich als Privateigentümer zu fühlen
beginnt und als solcher einerseits den übrigen Stammesgenossen,
andererseits einem anderen Häuptling gegenübertritt. Zu dem ganzen
Prozess trägt der Tauschverkehr mit fremden Stämmen sehr viel bei,
er wird schliesslich zu einer wichtigen Triebfeder des Akkumulations-
bedürfnisses, das seinerseits wieder das Interesse an den »gesetzlichen«:
Heiraten steigert.
»Solch Verhältnis wechselseitiger Fremdheit existiert jedoch nicht für die
Glieder eines naturwüchsigen Gemeinwesens, habe es nur die Form einer pa-
triarchalischen Familie, einer altindischen Gemeinde, eines Inkastaates usw. Der
Warenaustausch beginnt, wo die Gemeinwesen aufliörcn, an den Punkten des
Konfliktes mit fremden Gemeinwesen oder Gliedern fremder Gemeinwesen.«:
(Marx, »Kapital« I. S. &0.)
Hier liegt ein scheinba'-er Widerspruch vor. Marx ging von der
Voraussetzung aus, dass die Kommunen ursprünglich geschlossene,
naturwüchsige Gemeinwesen waren. Wenn wir aber bereits i n diesen
Stämmen primitivste Austauschverhältnisse finden, so lässt sich
daraus der Schluss ziehen, dass auch diese Stämme nicht natur-
wüchsig waren, sondern aus Zusammenschlüssen fremder natur-
wüchsiger Gemeinwesen hervorgingen. Und diese Vermutung trifft
zu. Die Stämme sind zusammengesetzte Gebilde, und
bei ihrer Zusammensetzung entstand die Vorstufe
des Austausches von Waren, das Heiratsgut. Doch
dazu bedarf es noch einiger ethnologischer Beweisführung. (Vgl.
Kap. VI.)
Wir sehen aber schon jetzt, wie richtig Engels die Zusammen-
hänge ahnte, wenn er schrieb, dass der Ursprung der Klassenteilung
der Gegensatz zwischen Mann und Frau ist. Gehört doch wirklich
die Frau dem ausgebeuteten, der Mann dem ausbeutenden Clan an,
und das Heiratsgut setzt alle die Prozesse in Gang, die die Frau ver-
sklaven und ihre Familie, die mütterliche Gens, unter die Macht des
Häuptlings bringen. Als Gruppen gefasst sind also die ersten
Klassen der mütterliche und der väterliche Clan, und
vertikal alle mütterlichen Clans zusammen einer-
seits, die Familie des Häuptlings andererseits.
Ursprung der KlassenteiluDg 63'
Am Übergang vom Mutterrecht zum Vaterrecht erhält der Mann
das Heirat ssut. Ist das Patriarchat voll entwickelt, sind alle Vor-
rechte und die Erbfolge auf die Linie des Mannes und seiner Söhne
übergegangen, so verliert das Heiratsgut in der Richtung Frau zum
Mann seinen Sinn und die Verhältnisse kehren sich um: Der Mann,
der eine Frau heiraten will, muss sie nunmehr bei ihrem Vater durch
Arbeit oder Arbeitsprodukte erkaufen. Da nunmehr die Frau selbst
unter der patriarchalischen Gewalt im ökonomischen Interesse ihres
Vaters ein Wertgegenstand wird, beginnt der Frauenkauf, der für das
primitive Stadium des Patriarchats typisch ist, und mit ihm das
Ausheiraten aus der eigenen Gens in die des Gatten fy>enuptio gentis«.
bei den Römern). Das Heiratsgut der Übergangszeit zum Patriarchat
kehrt dann auf seiner höheren Stufe, im Bürgertum, wieder in Form
der. »Mitgift« der Frau. Dieser Wechsel vom Frauenkauf zum Män-
nerkauf bedarf aber einer besonderen Erklärung, die hier nicht ge-
geben werden kann. Der Frauenraub der Urzeit ist nicht die unmit-
telbare Vorstufe des Frauenkaufs, sondern gehört einer viel früheren
Periode der Entwicklung an, die durch das Aufeinandertreffen frem-
der, noch endogamer Urhorden charakterisiert ist. (Vgl. das VI. Ka-
pitel.)
'S" — ■' '
V. KAPITEL
BESTÄTIGUNG DER MORGAN-ENGELS-
SGHEN THEORIE UND KORREKTUREN
Wir haben uns früher mit den drei ethnologischen Grundauffas-
sungen der Geschiciite der UrgeselTschaft (1. Valerrecht geht aus
Mutterrecht hervor; 2. Mutterrecht ist Spätbildung oder accidentiell;
3. Vaterrecht und Mutterrecht stehen ursprüngUch nebeneinander)
in groben Zügen auseinandergesetzt, um uns eine Grundanschauung
für den Entwiclilungsprozess bei den Trobriandern zu bilden. ■ Wir
sehen, dass dieser nur der Mutterfolge-Vaterrechts-Theorie entspricht.
Nun haben wir auf die Theorie von Morgan und Engels genau
einzugehen, denn nicht nur werden ihre Entdeckungen und Auffas-
sungen von den Zus ammenhängen zwischen Mutterrecht, l^atriar-
chat, Entwic klung der" Familie und des Privateigentums durch die
Forschungen Malinowskis (bis auf einzelne notwendige Korrek-
turen) glänzend bestätigt, sondern sie werden durch die Entdeckung
des Heiratsgutes bei den Trob riandern und" seine hier "ausgeführte
gesel lschaftswandelnde ökonomische Funktion zu einer geschlossenen
Auffassung der^rgescliichte, gegen die die sonst üblichen und so
widerspruchsvollen Theorien heute noch weniger aufkommen können
als zur Zeit der Aufstellung der M o rgan-Engel s sehen Thesen.
So wie der psychoanalytische Ethnologe Roheim zwar selbst den
ökonomischen Urkommunismus feststellt, aber der schwankenden
Hypothese von der vaterrechtlichen Urhorde zuliebe, die um jeden
Preis gehalten wird, auf die Zusammenhänge mit der Entwicklung
der Sexualformen nicht eingeht, so übersieht Mia linows ki die
Konsequenzen seiner Entdeckungen und ihre Übereinstimmung mit
denen von Morgan.
Beim Vergleich der Forschungsergebnisse Malinowskis mit
denen von Morgan und den Aufstellungen von Engels begegnen
-wir bei sonst verblüffender Übereinstimmung einer grossen Schwie-
Die Morgan-Engelssche Theorie 6&
rigkeit; Weder bei^Morgan noch bei Engels findet sich, bis auf
einige Andeutungen, die in diesem: Sinne ausgelegt werden können,'
eine B eschreibung oder auch nur Erwähnung eines Heiratsgutes des
Mutterb rude rs (des Clans derFrau) an den_ Schwestergatten^fdie^
Familie jes Gatten) . Da wir bei den Trobriandern in üini "den zen-
tralen ökonomischen Mech anismus der gesell schaftUchen Transfor-
mation vom Mutterrecht zum Vaterrecht erkannten, der Übergang
des Matriarchats zum Patriarchat sonst aber von Morgan ganz
allgemein gefunden wurde, von Engels sogar bis in kleinste Details
analog dem bei den Trobriandern, gibt es nur zwei Möglichkeiten: ent-
weder ist dieser Mechanismus nur für die trobriandrische Gesellschaft
gültig und kommt sonst nicht vor, oder aber er ist allgemeingültig
und wurde übersehen. Die Sache ist wichtig genug. Denn _ist_das
Heiratsgut wie bei den Trobr iandern das erste keimbafle Produk-
tionsverhältnis, das die Klas senBTBuhg und "die sexual feindliche Moral
in Gang "setztj so kommt^ aieser Tatsache kerne~geringe Bedeutung
zu, sowohl für das Verständ nis der Urgeschichte al s auch fiir die en (j-
gültige Festigung der Mutterrech tstheörl ei
1. ZUSAMMENFASSUNG DER MORGAN -ENGELSSCHEN
FUNDE
Fassen wir nun, ehe wir die Verbindung zwischen den Funden
Malinowskis und unseren Aufstellungen einerseits, der M o r -
gan -Engels sehen Theorie andererseits herstellen, kurz ihre Grund-
auffassung zusammen.
Morgan, der den grösseren Teil seines Lebens bei den ameri-
kanischen Irokesen verbrachte, machte zum ersten Male die Ent-
deckung von der Entwicklung der heutigen Familienform ans einigen
Vorstufen der Familie, ferner stellte er die universelle Organisation
der Primitiven in Gentes (= Clans) mit ursprünglicher Erbfolge der
mütterlichen Linie ( natürliche Mutterfolge oder »Mutterrecht«) fest.
Vor ihm hatte schon B a cho fen 1861 aus de r griechi schen_- und
römischen Älythologie seine Lehre des ursprünglichen »Mut terre chts«
_^g?I^it?.t- I^ie B ach ofen sehe Lehre postuliert: '
I. schrankenlosen Geschlechtsverkehr in der Urzeit, den sogenannten
Hetairi smus ;
2. unsichere Vaterschaft, daher Ab stammungs folge in der Multer-
linie ;
3. bevorzugte Stellung der Frauen (Gynaikokratie) ;
4. Übergang zur Einzelehe durch Verletzung eines uralten Religions-
geboles, dass alle Männer auf ein und dieselbe Frau Anspruch
haben; diese Verletzung wurde erkauft durch eine zeitweilige be-
schränkte Preisgebung der Frau (»heilige Prostitution«).
Engels vermerkt mit Recht, dass die Bachofensche Ablei-
«6
Bestätigung der Morgan -Engelsschen Theorie usw.
'*^duAli^ailcl*^/>
tung des Vaterrechts aus dem Mutterrecht zwar historisch richtig,
aber, insofern sie diesen Übergang aus einer Entwicklung der religiö-
sen Vorstellungen begreift, falsch ist.
Im Gegensatz zu dem englischen Forscher Mac Leuna n, der
1886 seine »Studies in Ancient History« veröffentlichte, wo er zwei
Urformen der menschlichen Organisation, »exogame« und »endogame«
Stämme unterschied, jand^lo r g a n die Irokese n organisiert in
endogame Stämme, die sich aus exogamen Gentes zusam-
mensetzen. In diesen mutterrechtUch organ isierten G entes , innerh alb
derer Paarimgen atj^geschlossen waren, erb lickte Morgan die
Ürformi, aus der sich dann später die vaterr echtlich organisierten.
Gentes der Römer und Griechen entwickelten. Überall, wo die Gens
gefunden wurde, konnten entweder auch mutterrechtliche Organi-
sationen oder aber Spuren einer solchen nachgewiesen werden. So bei
den Australnegern, von denen etwa die am Mount Gambier in einem
Stamm, bestehend aus zwei Gentes oder Clans (kroki und kumite)
organisiert lebten; bei den Kamilaroi am Darlingfluss in Neusüd-
wales (ursprünglich 2, später 6 Clans); bei den Irokesen und allen
übrigen amerikanischen Indianern. Mac Leuna n, der den Unter-
schied zwischen Clan und Stamm nicht erfasst hatte, fand die Gen-
til Organisation bei den Kalmücken, Tscherkessen und Samojeden, in
Indien bei den Warelis, Magais, Munnipuris; Kovalewski fand sie
bei den Pschaven, Schefzuren, Svancten und anderen kaukasischen
Völkern; ferner bei den Kelten und Germanen (organisiert nach
Caesar »ffentibas cognationibusquei.) ; in Schottland und Irland be-
standen sie noch bis zum 18. Jahrhundert; neben Morgan stellte
sie speziell auch Arthur Wright bei den Senekairokesen fest. Die
Griedien^n d Römer treten in die Geschichte allerdings mit bereits
vaterreehtlich_organis ierten Gentes (gens, gen os) ein, die sich zu_
Phratrien und Stämmen vereinigen und erst ailmählich der griechi-
schen^i^a^jjyetjassuug mit Einzelfanii lie Platz ma chen. Nach Beda
fand sich bei den Pikten Gentilorganisation mit weiblicher Erbfolge.
Engels leitet die fora (= gens) bei den Langobarden und Burgun-
dern von faran = wandern ab, was völlig übereinstimmt mit der
nomadisierenden Lehensweise der (naturrechtlichen und blutsver-
wandten) Urhorde.
Nehmen wir noch alle früher aufgezählten Stämme hinzu, bei
denen nach Rohe im Urkommunismus festgeslcUt ist, und überlegen
wir, dass wirtschaftlicher Urkommunismus auf die Dauer engere Fa-
milienorganisation ausschliesst. vielmehr immer mit Gentilorganisa-
tion zusammenfällt; ist ferner erwiesen, dass die Exogamie immer
den ganzen Clan, niemals einzelne Familien betrifft, so fügt sich uns
ein Bild universeller ursprünglicher Gentilorganisation mit Mutter-
folge, Urkommunismus, Exogamie in der Gens, Endogamie im Stamm,
zusammen, das die Vorstellung von der, sei es monogamen, sei es
Die Entwicklung der Familie nach Morgan 67
polygamen Einzelfamilie als Ursprungsorganisation, auch wenn wir
andere Momente vorläufig vernachlässigen, ganz hinfällig macht.
Parallel der Entwicklung von der Urhorde über die organisierte
mütterliche Gens, dann die Vaterrechtliche Gens, patriarchalische
Grossfamilie zum Patriarchat geht nach Morgan die von der Blut-
verwandtschaftsfamilie (die Elterngeneration, die Brüder-
Schwester-Generation und deren Kinder, jede untereinander in Ge-
schlechtsverkehr stehend) über die Pu nai u af amilie (Brüder
und Schwestern vom Geschlechtsverkehr ausgeschlossen, aber meh-
rere Schwestern haben mehrere nicht demselben Clan angehörige
Brüder zu Gatten ) und die Paarungsfamilie, wie wir sie bei den
Trobriandern noch vorfinden (Einzelpaarung auf beschränkte Zeit),
schliesslich zur dauermonogamen Familie des endgültigen Patriar-
chats.
Jede der drei von Morgan unterschiedenen Stufen der mensch-
lichen Entwicklung, Wildheit, Barbarei und Zivilisation, entspricht
verschiedenen Stufen der Familie: Blutsverwandtschaftsfamilie —
Wildheit, Punalua- und Paarungsfamilie — Barbarei, monogame Fa-
milie — Patriarchat — Zivilisation. Wenn Bachofen von Sumpf-
zeugung spricht und Cäsar von den Briten schreibt: »Sie haben ihre
Frauen je zehn und zwölf gemeinsam unter sich, und zwar meist
Brüder mit Brüdern und Eltern mit Kindern«, »so erklärt sich dies«,
schreibt Engels, »am besten aus der Punaluaf amilie.«
Die P olygamie des Häuptlings, die von der bürgerlichen Forschung
an den Beginn der menschlichen Entwicklung gesetzt wlr^, ist also
eine ^il d ung des späten, bereits i m Überga ng zu m Patriarchat sich
beweg e nden Matriarchats . Diese Stufe ist bei den Trobriandern
festzustellen. Ihr entspricht die Paarung^sfamilie .
Bis auf das Heiratsgut wurde überall, wo die Gentilorganisation
eingehend durchforscht wurde, folgende übereinstimmende Struktur
festgestellt, die sich mit der bei den Trobriandern völlig deckt:
1. Zwei (Australneger) bis zu acht (Irokesen) Gentes oder Clans
mutterrechtlich oder vaterrechtlich (je nach der Entwicklungs-
stufe der ökonomischen Organisation) zu Stämmen vereinigt.
2. Gens oder Stamm durch Sprache, Gebräuche und Mythologie ge-
schieden. (Nur selten sind es Stämme, die sich unterscheiden. Bei
den Trobriandern hören wir: Ein Clan, eine Absianimung,
eine Magie, ein Garten, ein Rang usw.)
3. Häuptlingssohn von der Elrbfolge ausgeschlossen, wohl aber ist der
Schwestersohn oder der jüngere Bruder (etwa bei den Seneka-
indianern nach Morgan) der richtige Erbe der Würde und des
Besitzes.
4. Der Häuptling des Stammes (an einigen Stellen heisst es: der Gens)
ist in rein mutterrechtlichen Organisationen absetzbar; er hat das
Becht zur Polygamie; die Wählbarkeit des Häuptlings aus ver-
Bestätigung der Morgan- Engelsschen Theorie usw.
schiedenen Gentes weicht allmählich der Sitte der Wahl aus ein
und derselben Gens, um schliesslich in erbliche Usurpation der
Häuptlingswürde überzugehen (Fortschritt zur patriarchalischen
Gewalt).
So ging nach Morgan bei den Irokesen zunächst die Häuptling s-
würde , indem sie in der gleichen Gens verblieb, auf den Schwestersohn
oder auf den jüngeren Bruder über. »Ging bei den Griechen unter
der Herrschaft des Vaterrechts« schreibt E n g e 1 s (!. c. S. 101), »das
Amt des Basileus (militärischen Häuptlings) in der Regel auf den
Sohn . . . über, so ist das nur ein Beweis, dass die Söhne hier die
Wahrscheinlichkeit der Nachfolge durch Volkswahl für sich hatten,
keineswegs aber der Beweis rechtskräftiger Nachfolge ohne Volks-
wahl.« Dies sei, meint Engels mit Recht, bei den Irokesen und
Griechen die erste Anlage zu besonderen Adelsfamilien innerhalb der
Gens und bei den Griechen überdies die Anlage einer künftigen erb-
lichen Führerschaft, der Monarchie gewesen. Diesen Prozess kön-
nen wir bei den Trobriandern ganz so, wie ihn Engels schildert, in
seinem Ablauf verfolgen: D er H äuptling versucht durch verschie-
de nste Mittel (Zu^en.dungen an den Sohn, solange er lebt, matrilo-
kaie Heirat für seinen Sohn, Schliessung einer Kreuz- Veite r-Basen-
Heir al) , seinen rechtlichen Erben, den Schwestersohn inimer^nehr
auszuschliessen und seinen eigenen Sohn an dessen Stelle zu rücken.
Das Moti v hierfür sind die materiellen Vorteile, die der Häuptling
aus der bevorzugten Stellung seines Sohnes für sich selbst geniesst;
hat der Sohn doch für den Haushalt seiner Mutter zu sorgen, und
d as vom Häupt ling an seine Schwester gclieferteHeiratsgut kehrt auf
diese Weise zu i hm z urück.
Zunächst ist der Häupljling nu r in absetzbarer Funktion , wie
bei den Griechen, er hat nur die~Fuhrerschaft, aber keinerlei Regie-
rungsgewalt; es liegt nach einem Ausdruck von Marx bloss eine
»mi litäris che Demokratie« vor. Haben sich aber in seiner Familie
Reichtümer und mit ihnen Machtmöfilichkeiten angehäuft, so erfolgt
als nächste Stufe der eigentliche Übergang zum Patriarchat durch
/I die väterliche Erbfolge: Häuptling — Häuptlingss obn. Wenn also
Engels schreibt, dass zuerst das Vaterrecht mit Vererbung des
Vermögens an die Kinder die Reichtumsanhäufung in der Familie
begünstigt, dann Verfassungsänderung im Sinne der ersten Ansätze
zu erblichem Adel und Versklavung der eigenen Stammes- und Gen-
tilgcnossen herbeiführt (I. c. S. 103 f.), so bedarf diese Auffassung
einer Korrektur, die wir aus den Tatbeständen bei den Trobriandern
^ableiten. Die TributpfUchtigkeit der Stammesgenossen gegenüber
dem H äuptling ist vor dem Patriarchat da; sie führt erst zur Reich-
tums anhäufung in der Familie des Häuplings und mit dieser zur
Herstellung des Patriarchats. Der Mechanismus der Tributpflichtig-
Iteit ist das Heiralsgut des Bruders der Frau an deren Mann be-
Übergang zum Patriarchat
6»
ziehungsweise der Brüder der Frauen des Häuptlings aus verschie-
denen Clans einerseits, der Söhne seiner Schwestern, also seiner Er-
ben, an ihre Schwestern, wenn diese seine Söhne durcli Kreuz-Vetter-
Basen-Heirat ehelichen, andererseits; dadurch werden der eine Clan
dem andern, und alle niederen Clans zusammen dem des Häuptlings
und schliesslich seiner Familie Untertan. Der Heiratstrihut existiert
auf dieser Stufe allerdings noch ohne irgendwelche staatsähnliche
Methode der Sanktionierung, Kommt ein Gentilgenosse seiner Ver-
pflichtung nicht nach, so gibt es keine Eintreibung, keine Strafe, er
verliert bloss an Ansehen. Die Tributle istung ist nur durch die
Sitte gewährleist et. Erst auf der S tuf e des endgültigen Patriarchats
tritt die gesetzliche Sanktionierung auf in Form dcr~Erntrcibungi ersl
hier kann m an von Versklavung spr^xhen. So spricht Tacitus von
den »Sklaven« der Deutschen, »die nur Abgaben leisten«. So wie bei
den Trobriandern jeder Bürger bemüht ist, dem Häuptling recht
ehrenvolle Heiratsgeschenke zu machen, so lebten die Gensvorsteher
der. Deutschen, die principes, schon zum Teil von den »Ehrenge-
schenken« der Stammesgenossen.
Tacitus hebt die beson ders enge Beziehung z ^vischen dem Mut-
terbruder und seinem Neffen bei den Deutschen hervor. Wenn zum
Beispiel Geiseln geFördert wurden, so galt der Weife { Sohn der
Schwester), der Gentilgenosse war, mehr als der Sohn, der einer an-
deren Gens angehörte. Aus diesen Übereinstimmungen mit den so
genau durchforschten Trobriandern lassen sich ziemlich sichere
Schlüsse auf das Vorhandensein auch anderer dort nicht erwähnter
Einrichtungen schliessen, so etwa auf das Vorhandensein des Hei-
ratsgutes oder einer ihm verwandten Einrichtung. Solange nichts
Gegenteiliges vorliegt, ist bei der so genauen Übereinstimmung der
Gentilorganisation bei den meisten genauer beobachteten Stämmen
eine solche Annahme nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten.
Tragen wir aber nun alle die verstreuten Andeutungen zusam-
men, die sich zunächst bei Morgan und Engels sowie in der Zu-
sammenstellung von Krische finden, so erhärtet sich die Annahme»
dass das Heiratsgut nicht nur bei den Trobriandern vorliegt.
I
2. VORKOMMEN DES HEIRATSGUTES IN DER
GENTILGESELLSCHAFT
Engels berichtet von der irischen Gens (»Sept«), dass der Bo-
den bis zur Verwandlung des Clanlandes in eine Domäne des eng-
lischen Königs Gemeineigentum der Gens war, »soweit er nicht be-
reits von den Häuptlingen in ihre Privatdomäne verwandelt worden
war«. Das zeigt uns zunächst einen doppelgleisigen Entwicklungs-
prozess zum Patriarchat und zur Versklavung der Gentilgenossen:
einen, der von aussen, von fremden Stämmen oder Völkern herange-
70
Bestätigung der Morgan -EngelsscheD Theorie usw.
tragen wird, und einen, der von innen heraus wirkt. Aber wie ent-
steht dieser letzte? Wir sind hei der Lückenhaftigkeit des Materials
genötigt, gleichsinnige Einrichtungen zusammenzutragen, auch wenn
sie sich hei verschiedenen Stämmen finden, sofern nur die Gentilorga-
nisation und das Bruder-Scliwestcr-Schwestersohn-Vcrhältnis für alle
festgestellt sind. Und das trifft zu. So bestand bei den walisischen
Kelten noch im 11. Jahrhundert die Paarungsehe, wie sie von Ma-
linowski im 20. Jahrhundert bei den Trobriandern vorgefunden
wurde. Kam eine Ehe zur Scheidung, so teilte die Frau das Ver-
mögen, der Mann wühlte seinen Teil. Löste der Mann die Ehe, so
musste er der Frau ihre Mitgift und einiges andere zurückgehen.
War CS die Frau, die die Ehe löste, so erhielt sie weniger. Bei den
Trobriandern hört mit der Trennung der Ehe die Lieferung des Hei-
ratsgutes auf. Der Mann und seine Familie, nicht aber die der Frau,
sind also an der Erhaltung der Ehe interessiert. Da nun bei den
Kelten die Frau die Mitgift bringt, wobei nicht erwähnt ist, ob es
sich um eine einmalige Gabe oder tim dauernde Verpflichtung ihrer
Familie handelt, dürfen wir auf die Institution des Heiratsgutes der
Gens der Frau an die des Mannes schliessen.
Von den multerrechtlich organisierten Nikobaresen-Inscln im in-
dischen Ozean südlich von den Andamanen, berichtet Voge! laut
Krisclie (1. c. S. 63.): »I)ie Weiher werden sehr geachtet, und die
Mädchen haben das Rechl.unliebsame Bewerber abzuweisen.« Das
I kann natürlich nur der Fall sein, wenn die Frau die materiellen Vor-
I teile der Ehe für den MttnTi bringt.^ Im lieginnenden Vaterrecht, wo
die Frau gekauft wird, steht ihr ein solches Hecht nicht mehr zu.
Weiter: »Die Weiber geniessen volle Freiheit, wandeln wie die Männer
frei umher und besitzen als Mutter die Achtung und Liebe ihrer Kin-
der.« »Die Nachrichten Vogels«, schreibt Krische, »dass die
Mädchen eine Mitgift erhalten, ist wohl so zu verstehen, dass die
jungen Paare von der Muttersippe Schweine, Kokosnüsse und Pan-
danussbäume zugewiesen erhalten.« (1. c. S. 63.) Also ein eindeutiges
Heiratsgut der Gens der Frau an die Familie des Mannes.
Wie weitgehend die Gentilorganisationen bei den verschiedensten
Völkern sogar in Details übereinstimtmen, was Schlüsse auf das
Vorkommen des Heiratsgutes auch dort zuljisst, wo es nicht erwähnt
oder nur unklar angedeutet ist, zeigt der Bericht von R a t z e 1,
Grosse und Cunow über die mutterrechtlichen Mortlock-Insulaner
auf den Karolinen-Inseln. Dort ist es ganz wie bei den Trobriandern
schimpflich, zu zeigen, dass der Mann im vertrauten Verhältnis zu
seiner Frau steht. Es besteht ferner ganz wie bei den Trobriandern
die Einrichtung des von R a t z e l so genannten »Männervereinshauses«
(Bai, ohne Zweifel dasselbe, wie das bukumatula der Trobriander), in
das die Mädchen in der Reifezeit übersiedeln, ferner mülterlichc Erb-
folge.
Vorkommen des Heiratsgutes in der Gentilgesellschaft 71
Von den Garos auf dem nördlich von Birma (Ostindien) sich
erstreckenden Assam berichtet 1 e Bon, dass früher die höchste
Gewalt in jeder Sippe von einer Frau ausgeübt wurde. Jetzt sei es
der »Laskar«, ein Mann, »der gewöhnlich aus den reichsten Sklaven-
besitzern ausgewählt wird, aber stets der Zustimmung der Frauen
bedarf und ihren Ratschlägen unterworfen bleibt.« Also deutlicher
Übergang zum Patriarchat: Reicher Häuptling — aber noch Stimm-
gewalt der Frauen. Bei den Garos besteht nun nach Ratzel die
Einrichtung, dass die Eltern der Braut den Heiratsvertrag abschliessen,
was nur zwei mögliche Deutungen zulässt: Entweder wird die Braut
vom Mann gekauft, dann he rrscht bereits patriarchalische Kauf ehe,
oder aber die Eltern der Frau interessieren sich~füf ihre Heirat wie
bei den Trobriandern, weil sie sich mit der Heirat zu Abgaben an
den Mann verpflichten. Jedenfalls liegt der Heiratsgutmechanismus
vor, der, nach den sonstigen Einrichtungen zu schliessen, von dem der
Trobriandcr kaum wesentlich abweichen dürfte. Aber wir wollen das
nicht endgültig behaupten.
Sehr wichtig für unsere Beweisführung vom weitverbreiteten Vor-
kommen des Heiratsgutsmechanismus ist eine Stelle bei E n g e 1 3
über die g riechische Gens: »Z ur Zeit, wo die Griechen in die Ge-
schichte eintreten, stehen sie an der Schwelle der Zivilisation; zwi-
schen ihnen und den amerikanischen Stämmen, von denen oben die
Rede war, liegen zwei ganz grosse Entwicklungsperioden . . . die Gens
der Griechen ist daher auch keineswegs mehr die archaische der Iro-
kesen, der Stempel der Gruppenehe fiingt an, sich bedeutend zu ver-
wischen. Das Mutterrecht ist dem Vaterrecht gewichen . . . Da nach
der Einführung des Vaterrechts das Vermögen einer reichen Erbin
durch die Heirat an ihren Mann, also in eine andere Gens gekommen
wäre, durchbrach man die Grundlage alles Gentilrechts, und erlaubte
nicht nur, sondern gebot in diesem Falle, dass das Mädchen innerimlb '^
der Gens heiratete, um dieser das Vermögen zu erhalten.« {1 c. S. 92.)
Das ist nicht misszuverstehen : Die Frau brachte also eine Mitgift
in die Ehe, und da ihr Mann zur Zeit des vollen Mutterrechts einer
anderen Gens angehörte, wurde das Vermögen aus der Gens der Frau
in die des Mannes übertragen. Erst das Vaterrecht hat die Macht,
nachdem es durch den Heiratsgutmechanismus entstanden war, diesen
Prozess, der nunmehr zu seinem eigenen Schaden sich auswirken
musste, wie früher zu seinem Vorteil, im Mechanismus unschädlich
zu machen mittels Durchbrechung der Clan-Exogamie. Wir sahen,
dass neben dieser Möglichkeil bei anderen bereits vaterrechtlichen
Stämmen sich der Brauch herausbildet, dass der Mann sich die Frau
kauft, wodurch sich das Heiratsgut in seiner Richtung umkehrt und
die Frau endgültig versklavt: Sie bringt ihrem Vater durch ihre Heirat
materielle Vorteile.
72 Bestätigung der Morgaa - Engelsschen Theorie usw.
3. DIE HEIRATSKLASSEN DER AUSTRALNEGER
Bei den Trobriandern haben wir die Institution der geselzliclien
jEbe in Form_j3er Kreuz- Vetter-Basen Heirat angetroffen, die bei die-
sem Stamme ein Mittel ist zur Wettmachung der Last des Heiratstri-
butes des Bruders (und seines Clans) an den Gatten seiner Schwester
(und dessen Familie) : Sein Sohn muss seine Nichte (Schwcstcrtoch-
ter) heiraten, damit das Heiralsgut zu ihm wenigstens teilweise zu-
rückkehre. Wir sahen ferner, dass diese Eheeinrichtung, ursprünglich
als Tributwettmachung, beim Häuptling, der das Vorrecht der Po-
lygamie besitzt, in einen Mechanismus der Akkumulation von Gütern
in seiner keimhaft patriarchalischen Familie umschlägt. Es liegt nicht
me hr blo ss ein Entl astu ngsmechanismus für ihn, sofern er Bru-
der ist, sondern bereits mehr, ein Bereich erung smechanismus
vor, soweit er selbst Vater und beginnender Patriarch ist. Wir dürfen
"nun, wenn wir bei irgend einem anderen Stamm die Kreuz-Vetter-
Basen-Heirat antreffen, darauf schliessen, dass sie auch hier zuerst
die Funktion der Entlastung von Tribut erfüllt, um dann später in
einen Bereicherungsmechanismus umzuschlagen.
Die Kreuz- Veiter-Basen-Heiratsinstitution lässt sich nun lückenlos
aus den von Morgan in der »Urgesellschaft« beschriebenen Heirats-
klassen der australischen Kamilaroi erschliessen. Es bedurfte vieler
Bemühungen, ehe es gelang, das so sonderbare und komplizierte Sy-
stem der australischen Heiratsklassen al^ einfachen Ausdruck der
allgemeinen Institution der »gesetzlichen« Kreuz-Vetter-Basen-Heirat
festzustellen. Ist aber dies einmal geglückt, so besteht bei der son-
stigen Ähnlichkeit der Organisation der Australier mit der der Tro-
briander kein Zweifel, dass auch das Heiratsgut in irgendeiner Form
von Clan zu Clan existiert. Sonst hat die ganze komplizierte Heirats-
klassenordnung keinen Sinn.
Wir geben zuerst Morgans Schilderung wieder. Die Kamilaroi
sind in sechs Gentes eingeteilt, die sich betreffs der Heirat in zwei
Abteilungen gliedern:
I. 1. Inguaneidechse (Duh), 2. Känguruh (Murriira), 3. Opossum
(Mute).
II. 4. Emu (Dinoun), 5. Wasserhuhn (Bilha), 6. Schwarzschlange
(Nurai).
Ursprünglich war es den drei Gentes nicht gestattet, untereinander
zu heiraten, weil sie Aufteilungen einer Ur-Gens waren. Es gab
also ^rsj)rüng!iclv nur zwei Gentes. Wir würden die späteren nicht
Gentes sondern Phratrien nach dem Muster der griechischen nennen.
Neben der Einteilung in zwei Ur-Gentes und sechs in zwei Gruppen
geteilte Tochter-Gentes besteht noch eine Einteilung in Heirats kl assen.
Jede der Ur-Gentes enthält vier Heiratsklassen, also zusammen acht.
Die HeiratsklasseD der Australneger 75^
und zwar nach Geschlechtern geteilt vier männliche und vier weibliche..
Die acht Klassen sind:
Männlich: Weiblich:
1. IppaiV^ /**■ 'PP^'^
2. KumboV^:^ 2. Buta
3. Murri i-/" ■ ^ 3. Mata
4. Kubbi»/ -^4. Kapota
Jede männliche und jede -weibliche Heiratsklasse (1, 2. 3 und 4)
enthält die entsprechenden Brüder und Schwestern gesondert. Also
sind Ippai und Ippata, Kumbo und Buta, Murri und Mata, Kubbi und
Kapota jeweils Brüder und Schwestern und dürfen einander nicht
heiraten. Aber auch sonst dürfen sie nicht beliebig heiraten, was
durchaus der Clanorganisation widerspricht, nach der jeder aus Clan
A jeden aus Clan B heiraten dürfte. Paarungen sind nur gestattet
zwischen :
Ippai und Kapota
Kumbo und Mata
Murri und Buta
Kubbi und Ippata
Dreiviertel ist also ausgeschlossen {darunter ein Viertel der Brüder
bzw. Schwestern), und nur ein Viertel steht der Objektwah! frei.
Das System wird noch komplizierter: Während die Kinder, da Mutter-
folge herrscht, in der mütterlichen Gens verbleiben, gehen sie —
innerhalb dieser Gens — in eine andere Heiratsklasse als die ihrer
Mutter über, und zwar:
Männlich Weiblich Männlich Weiblich
Ippai heiratet Kapota. Ihre Kinder sind Murri und Mata
Kumbo heiratet Mata. Ihre Kinder sind Kubbi und Kapota
Murri heiratet Buta. Ihre Kinder sind Ippai und Ippata
Kubbi beiratet Ippata. Ihre Kinder sind Kumbo und Buta
Bei der Verfolgung der Abstammung finden wir, dass in der
weiblichen Linie Kapota immer die Mutter von Mata, und Mata
wiederum die Mutter einer Kapota ist; ebenso ist Ippata die Mutter
von Buta und diese wieder immer die Mutter einer Ippata. Bei den
männhchen Klassen ist es ebenso.
Die Kamilaroi leiten die zwei ursprünglichen Gentes von. zwei Ur-
müttern ab. Der Zusammenhang jedes Kindes mit einer bestimmten
Gens wird auch durch das Heiratsgesetz dargetan. Klassen und Ur-
Gentes verhalten sich wie folgt:
Ur-Gens I (Iguan, Känguruh, Opossum), eine Urmutter.
Klassen: Murri, Mata, Kubbi und Kapota.
74 Bestätigung der Morgan - Engelsschen Theorie usw.
Ur-Gens II (Emu, Wasserhuhn, Schwarzschlange), eine Urmutter.
Klassen: Kumbo, Buta, Ippai und Ippala.
Die Gens bleibt also erhalten, indem sie alle Kinder ihrer weibli-
chen Mitglieder in ihrer Mitgliedschaft umfasst. Morgan schreibt,
es seVsehr wahrscheinlich, dass ursprünglich nur zwei männliche und
Äwei weibliche Klassen aufgestellt waren, die sich später in acht
Klassen aufteilten. Wir werden dieser Annahme Morgans zustim-
men können, wenn wir unsere Hypothese der Herkunft der Exogamie
vorbringen werden. Aber aus der Tatsache, dass die drei Unler-Gentes
jeweils in den Klassen, die sie enthalten, übereinstimmen, geht hervor,
dass sie ursprünglich einheitliche Gentes waren. Die Unterteilung in
acht Gentes muss einen Sinn haben, vne die ganze Heiratsordnung,
die Morgan nur beschreibt, ohne sie zu erklären. Er meint bloss,
das Klassensystem sei ursprünglicher als die Gens-Einteilung; die
letztere sei ein Spätprodukt, das jenes erdrosselt. Diese Erklärung
Morgans folgt notw^endig aus seiner Voraussetzung, die Gentes und
das Heiratsverbot innerhalb der Gens seien als Wirkungen »natürU-
cher Auslese« entstanden. Wir können nachweisen, dass es rein öko-
nomische Motive waren^die die Unterteilung der Heiratsklassen her-
beiführten, ebenso wie es andere Umstände waren, die die Teilungen
in vier Klassen bedingten. Die Einteilung in acht Heiratsklassen,
mithin die weitere Einschränkung der Paarungsmöglichkeit auf ein
Viertel der andersgeschlechtlichen Stammesgenossen, erfolgte zur
Durchführung der ökonomisch entlastende n Kreiiz_-yettgr^Sasgll:liei:
1 J^s-Ordnung. Wir werden sehen, dass das, wovon sie entlasten sollte,
nämlich v o n der' T ributiei st ung b ei de r Heirat, bei der E inteÜungJn
1 vier K lassen entstand.
Verfolgen wir genau die Abstammungsfoigc ujid die Heiratsordnung
gleichzeitig, so ergibt sich, dass i mi m e r nur die Söh n e der
Brüder die Töch ter der S ch w c s ter n heir aten, nie die
Töchter der Brüder die Söhne der Schwestern; und auch keine andere
Möglichkeit ist freigestellt. Also das vollendetste System der Krcuz-
Vetter-Basen-Heirat, die nur einen Sinn haben kann, den gleichen
wie bei den Trobriandern: Tributentlastung, überprüfen wir diese
Feststelhing zunächst an einer Tabelle, die wir aus den Morgan-
schen Beschreibungen ableiten. (Siehe nebenstehend.)
Nehmen wir nun die einzelnen Klassen vor, so sehen wir, dass eine
Butafrau nicht nur die Tochter der Ippata ist; sie ist gleichzeitig
die Schwestertochter des Ippai und kann nur einen Murri heiraten,
der gleichzeitig der Gruppensohn ihres Mutterbruders ist. Wir sehen
auch . dass Murri einer der drei Untergentes der Urgens I angehört,
während seine Base, die Buta, Urgens II angehört wie ihre Mutter
und ihr Mutterbruder. Ebenso gehört Ippata, die ihren Vetter { Mutter-
brudersohn) Kubi heiratet, mit ihrer Mutter Buta und ihrem Mutter-
bruder Kumbo zur gleichen Urgens. Das gleiche gilt für jede Kapota
Die Hciratsklassen der Australncger 75
und jede Matafrau. Wo immer -wir eine Heiratslclass e in ihr er
Paarungsbezichung zu einer anderen aufsuchen, es ist stets der Bru-
dersohn, der die Schwestertochter heiratjtt und umgekehrt. Nach
diesem Klassensystem ist eine andere als die Kreuz- Vetter-Basen-
Heirat ausgeschlossen. Über den öltonomischen Sinn sprechen wir im
nächsten Kapitel.
Söhne d. Brüder Tochter d Schwestern
^ Kreuz-Vetter -B asen-Heirat O
\ Brüder Schwestern
<V - Hp
Jt \ KrV.-B.-H. /
O^-V - - -/—^
Ippai / \ .Ä. Kappote
Aubbi Kappbfa
/ \
* \
» \
Pb_ Kreuz-Vg er -Basen-Meirat T
Kumbo Mala
Fig. 5: Schema der australischen Heiratsklassen als Ordnung
der Kreuz -Vetter-Basen-Heiraten.
76 Bestätigung der Morgan - EnKelsschen Theorie usw.
Wenn dem Heiratsgut so grosse Bedeutung zukommt, sind wir
sehr interessiert an der fiRschicht e seiner Eatstehung . Die Periode
der nocli lockeren ehelichen Bindunj^'en, der Paarungsehen, scheint
eindeutig der ökonomischen Institution des Heiratsgutes zugeordnet.
Aber die Paarungsehe war nicht von Anfang an da, und das Heiratsgut
muss sich aus primitiveren Formen, aus einer Art Tributleistung
herausgebildet haben. Aber wer leistete diesen Tribut und an wen?
Was konnte die urwüchsige inzestuöse Horde, die die Vaterschaft
nicht kennen konnte, weil die Paarungen nicht normiert waren und
besonders weil die Kenntnis der Rolle des Vaters unbekannt war (wie
noch heute bei den Trobriandern). erschüttert haben, dass sie eine
für sie so folgenschwere Einrichtung traf? Wir sehen hei den
Trobriandern und vielen andern Völkern die Einrichtung des Tributs,
von Clan, zu Clan oder von Stamm zu Stamm. Innerhalb eines und
desselbe n urk ommunistisch lebenden Clans hat ein Tribut, welcher
Form immer, keinen Sinn und kommt auch nicht vor. Wir treffen
ihn aber in Form des Heiratsgutes innerhalb eines Stammes von Clan
zu Clan, einen Clan den anderen und schliesslich alle Clans der
Häuptlingsfamilie tributpflichtig machend. Was bedeutet das? Wir
wissen vorläufig nicht mehr, als dass diese ökonomische Einrichtung
mit der Exogamie der Clans zusammenhängt, und sind, wenn wir
weitere Aufschlüsse erfahren wollen, genötigt, auf den Ursprung der
Exogamie der Clans, was gleichbedeutend ist mit dem Verbot des
Inzestes unter den Abkömmlingen ein und derselben Ur-Mutter, ein-
zugehen. Wir würden ein solches Unternehmen vermeiden, wenn uns
nicht bestimmte, zunächst sehr sonderbare, bei genauerer Betrachtung
aber zusammenpassende Tatbestände dazu veranlassten.
VI. KAPITEL
DIE HERKUNFT DER CLANEINTEILUNG
UND DES INZESTVERßOTS
1. ÜBERRESTE AUS DER URZEIT
Es ist bisher von den meisten Forschern der Urgeschichte der
menschlichen. Gesellschaft erkannt worden, dass Claneinteilung und
Inzestverbüt im Clan die Kernprobleme der urzeitlichen Entwicklung
sind. Hierzu sind eine Reihe von m,ehr oder minder glaubwürdigen
Hypothesen aufgestellt worden, von denen uns die von Morgan-
Engels und Freud später eingehend beschäftigen werden. Sie
sind meist durch den Versuch gekennzeichnet, die Verhältnisse der
Urzeit entweder aus supponierten wirtschaftlichen Verhältnissen jener
fernen Zeiten oder aus der Natur des menschlichen Trieblebens
abzuleiten. Freud hat in den Inzest verboten als erster die
Redaktion auf ursprüngliche Inzest wü nsch e erkannt. Aus den
aktuellen Tatbeständen bei den Trobriandern lässt sich nun,
dank den genauen Ermittlungen M a 1 i n o w s k i s, zwanglos eine
Hypothese ableiten, die eine Reihe von Fragen löst. Wir hätten es
unterlassen, eine neue Hypothese zu bauen, wenn nicht eben einige
aktuelle Einrichtungen bei den Trobriandern in ihrem Zusammen-
hange als Überreste der Urzeit imponierten, die eine Rekonstruktion,
gestatten.
Eine Hypothese, die die Herkunft des Inzestverbotes plausibel
erklären soll, muss die Bedingung erfüllen, materialistisch zu sein,
d. h. das Verbot aus Notwendigkeit der Daseinsweise abzuleiten, eine
Reihe von Fragen zwanglos zu lösen und mit der aktuellen Organisa-
tion nicht in Widerspruch zu stehen, sondern im wesentlichen ihre
historische Vorstufe nachzubilden. Es müssen also die Grundelemente
der Hypothese in der aktuellen Situation noch auffindbar sein.
Unsere Annahme kann mit dem Anspruch auf Ailgemeingültigkeit
erst dann auftreten, wenn es sich erweisen sollte, dass sie auch den
Schlüssel zu anderen als den hier erörterten Fragen liefert.
78 Die Herkunft der Claneinteilunfi und des Inzestverbots
Wir leiten sie aus folgenden Tatbeständen bei denTrobriandaacyhb:
1. Der Bruder der Frau ist ih^jwijrjtU^er^Vei^rger undirfig»». -I)
mund« i hrer Kinder . Nur die sexuelle Beziehung fehlt, .01. : -., -i
'als vollwertigen Gatten anzusprechen. Er gehört demseHs^wChai
an wie sie. (Das ist überall der Fall, wo Clanorganisation herrscht.)
2. Er hat an den Mann, der ein Fremder ist und in sexueller Beziehung
zur Schwester steht, Heiratstribut zu entrichten.
3. Der Gatte gehört einem fremden Clan an und hat nur Vorteile aus
der sexuellen Verbindung mit der Schwester des versorgenden
Bruders.
4. Die Gesellschaft der Trobriander ist in vier Clans eingeteilt, die
exogam sind; diese Clans haben eine verschiedene Ranghöhe, es
gibt vornehmere und weniger vornehme Clans.
5. Es besteht eine Sage, dass die Urmutter aus einem Loche gekom-
men sei, zwei Kinder, einen Bruder und eine Schwester, zur Welt
brachte, die miteinander in Inzest lebten. Für die Herkunft der
Clans besteht ein Mythus, der besagt: »In der Regel (ist) ursprüng-
lich nur ein einziges Paar aus jedem solchen Loch hervorgekom-
men; ein Bruder und eine Schwester: sie, um die Fortpflanzung
zu eröffnen, er, um die Schwester zu beschützen und zu versorgen.
Die Begel_ist_also: ^nClan, ein Dorf, ein Anteil Gartenland,
Si5_System Garten- undFischfangmagie.^i n Geschwisterahnen-
j)aar, ein Rang, eine A bstammung.« aTcT^g:)
Die Sage überliefert uns das Bild einer von einem Bruder-Schwester-
Paar sich ableitenden, urkommunistisch und inzestuös organisierten
menschlichen Gesellschaft. Diese Gruppe ist der spätere Clan. Nun
muss gegenwärtig der Bruder, der ja bis auf die sexuelle Be-
ziehung, der eigentliche Gatte der Schwester auch heute noch ist,
sich wirtschaftlich ihrem fremden Gatten verpflichten.
Was hat diese doppelte Verpflichtung, den Verzieht auf die
Schwester in sexueller Hinsicht und den Tribut an ihren Gatten her-
beigeführt? Überlegen wir ein Stück weiter: Der Gatte entstammt
einem fremden Clan, der ebenso wie der des Bruders alle Anzeichen
2- einer ursprünglichnach dem Mutterrecht (Mutterfolge) organisierten
selbständigen Horde an sich trägt. Setzen wir nun das erste Stück
unserer Hypothese ein, dass die Clans nicht, wie allgemein ange-
nommen wird, aus einer Teilung der Urgesellschaft durch Exogamie
hervorgegangen sind, sondern umgekehrt, d.as_s__d^.r_ejn e. Clan,
die ursprünglich in sich geschlossene U rh ord_e,^ d em
i^ a'nderen Cl an, deV eben s o in sich g e s c h I o s _s^n„w a r .
^as Inzestverbot^a"üTe"rlegt oder richtige r, die B_.e -
"g'attung in de^reigen^n Gruppe untersa gt hat. Die
CTansT' später "vereint, wären also ursprünglich getrennte Urhorden
gewesen. Warum hat der eine Clan dem anderen dieses Verbot
auferlegt?
,^'.. Die Herliuoft des Inzestverbots TS-
^ - ' i~ i f- — — . — ■ ■ .__
„■"Eiwöi'. {en wir weiter, dass die Urhorden nicht ansässig waren, son-
^i:f> -1 und, besonders wenn natürliche Katastrophen irgendwel-
licht wesentHcher Art eintraten, zum' Nomadisieren gezwun-
. v.i^ 1. In diesem Falle mussten die jungen Männer auf Beute aus-
gehen, abstinent leben und wochcn-, vielleicht monatelang herumwan-
dern. Wenn nun eine solche Horde jagender Männer auf einen
fremden Stamm stiess, der friedlich lebte, musste zweierlei eintreten.
Die fremden Männer eigneten sich die Beute der Männer der ange-
troffenen Gruppe an, erschlugen vermutlich im Kampf eine Reihe
von ihnen, raubten die Frauen, deren Schwestern, um mit ihnen,
durch die sexuelle Abstinenz besonders angestachelt, geschlechtlich !
zu verkehren. Blieben sie Sieger, so war es leicht, den Best der be-
siegten Männer zu versklaven, ihnen den Geschlechtsverkehr mit den
eigenen Schwestergattinnen zu untersagen und sie zur Arbeitsleistung^
in irgendeiner Form zu verpflichten.
Im Lauf der Jahrhunderte oder Jahrtausende, als die Menschen
an Zahl immer mehr zunahmen und die Wanderungen häufiger
wurden, mussten sich derlei Katastrophen immer öfter wiederkolen,
so dass Frauenraub und Tributauferlegung für deren Brude rgatten
zu einer Sitte werden konnte . Dieser Kampf der aufeinander-
stossenden Urhorden konnte nicht einseitig bleiben; die Revanche der
Überfallenen an den Sieg ern , wenn diese wieder abzogen {spätere
Blutrache der Clangenossen), oder übcrfallenwerden des Siegerclans
durch eine dritte Horde mit den gleichen Resultaten müssen eine
derartige Unsicherheit in die ursprünglich friedliche Urhordenorgani-
satiqn getragen haben, dass die g egenseitige Angst zu_cinem Zusam-
menschluss der Urhorden zu Stämmen niit_Bcibeha ltung der Mutter-
folge (Claneinteilung der Stämme) und zu einer friedlichen Sank-
tionierung dessen führte, was ursprünglich durch Gewalt erzwungen
wurde: zur Einführung der Wechselheirat aus einer Urhorde in die
andere. Das ursprüngliche Verbot des Geschlechtsverkehrs im eigenen
Clan von aussen durch die Sieger wurde im Laufe der Zeit zu
einer festen Sitte innerhalb der Clans. Doch der ursprüngliche
Zustand, dass die männlichen Angehörigen der Frauen, also ihre
vorzeitlichen Brüdergatten, diese wirtschaftlich versorgten, blieb, um
so mehr, als er dem anderen Clan Vorteile brachte.
Mit dem Zusammenscbluss der Horden (C l ans) zu Stäm men, mit
der Einführung der Wechs elheir at (Exog amie) und der Beibehaltung
der Art der wirtschaftlichen Versorgung der Frauen im Rahmen des
eigenen Clans, konnte die Ruhe in die menschliche Organisation
wiederkehren. Da aber die wirtschaftliche Versorgung doch auf
Gegenseitigkeit beruhte, hätte sich daraus keine weitere Folge ergeben,
wenn nicht dabei immer der eine Clan der ursprüngliche Sieger, der
andere der ursprünglich Besiegte gewesen wäre. So niuss aber der
Sieeerclan seine Position in einer bestimmten Form aufrechterhalten
^
80
Die Herkunft der ClaneiateiluDg und des Inzcstvcrbots
1.
2.
haben. Er durfte sich als der »höhere« ansehen und daraus gewisse
wirtsch aftliche V orrechte ableiten. Er konnte etwa bestimmen, dass
äSFXltester »Häuptling« oder Kriegsführer über beide Clans (Stam-
meshäuptling) wurde uad gewisse Vorrechte, etwa mehr Heiratsgut
oder Tribut genoss. Das Recht des HäuptUngs auf Polygamie braucht
also nicht ursprünglich zu sein, es kann vielmehr bereits eine Folge
des wirtschaftlichen Übergewichts sein, das sich mit dem Mehr an
Heiratsgut von selbst ergab. So leiten sich Häuptl ingsinstitution und
die Rantimn teilung der Clans zwanglos au s dem Verhältnis von Si^ggr
zu Besiegtcm_.ab .
Stellen wir das Ganze übersichtlich zusammen:
Zwei friedlich in einiger Entfernung voneinander lebende na-
turrechtlich und urkommunistisch sowie inzestuös organisierte
Urhorden.
WirtschaftUche oder natürliche Gründe (Wechsel des Jagd-
gebietes) bringen sie in Konflikt miteinander.
3. Die Männer der einen Urhorde, die während der Wanderung not-
gedrungen abstinent leben, überfallen die andere: Verbot des
Geschlechtsverkehrs im Überfallenen Clan (äussere, letzten
Endes wirtschaftliche Herkunft des Inzestverbots),
Tributauferlegung für die früheren Brüdergatten.
Revanche der Brüder, gegenseitige Vernichtung, Urkatastro-
phe: Einbruch der Gewalt in die bisher friedliehe Urgesell-
schaft, gegenseitige Angst der Männer der feindlichen Horden.
5. Wiedereinrichtung des Friedens durch Zusammenschluss und
»vertragliche« Regelung des bisherigen Zustandes: Einrichtung
von Wechselheiraten (Exogamie) mit Beibehaltung der
wirtschaftlichen Vorteile aus den dauernden sexuellen Verbin-
dungen (spätere Eheinstitution).
S. Aufrechterhaltung des Zeichens des Sieges des einen Clans über
den anderen in Form der Rangeinteilung und des ge-
meinsamien Häuptlings. Dies wird der Uranstoss der
Entwicklung vom Naturrecht über das Multerrecht zum Vater-
recht^ ) .
Wir sehen dann bei den Trobriandern die Urhorden friedlich zu
Stämmen vereint, aber in exogame Clans gespalten, Tribut der Brüder
an die Gatten, Polygamie der Häuptlinge als Spätfolge seines ur-
sprünglichen Machtübergewichts, und die ursprüngliche Mutterfolge
neben dem aufkeimenden Vaterrecht. Wie sich dann die Klas^^i:
teilung und die negative Sexualmoral daraus ableiten, haben wir ja
überprüfen wir nun die Tcagfähigkeit unserer Hypothese an wei-
terem Material und an weiteren Volksstämmen, ehe wir Einwände
4.
1) Das »Naturrecht« köonte der inzestuösen Urhordeßsituation, das Multerrecht
der exogamcn Clanorganisation zugeordnet werden.
Die Stämme — zusaramengcsetzte Gebilde 81
diskutieren und uns mit der Morgan -Engel sschen und der
Freud sehen Hypothese der Herkunft des Inzestverbotes ausein-
andersetzen.
Wir haben angenommen, dass die endogamen Stämme der Ur-
völker, die sich aus Clans oder Gentes, in Amerika ebenso wie in
Europa, in Australien wie in Indien und Afrika, zusammensetzen,
nicht durch Teilung von innen, sondern durch Zusammcnschluss
fremder, ursprünglich feindlicher Urhorden entstanden, die die
späteren Gentes darstellen, erschlossen dies aus den aktuellen Tat-
beständen bei den Trobriandern und leiteten daraus alles weitere ah.
a) Morgan und nach ihm Engels schlössen aus den Stein-
■werkzeugen des früheren Steinaltcrs, die in allen Kontinenten durch
Grabungen gefunden wurden, dass in der Wildheitsperiode der
Menschheit, als der Fischfang und das Feuer aufkamen, die Wande-
rungen ganz allgemein waren. Für diese Periode postulierte Morgan
noch die reine Blutverwandtschaftsfamilie, die im Inzest lebte. Jagd
und Menschenfresserei charakterisieren diese Stufe, auf der sich heute
noch viele Australier und Polynesier befinden. Das ist aber nicht so
wesentlich wie die Feststell ung^ vo n Morgan , dass die Gens kon-
stituiert ist als ein fester Kreis von Blutsverwandten weiblicher Linie,
die sich durch eigene, gemeinsame Einrichtungen gesellschaftlicher
und religiöser Natur von anderen Gentes desselben Stammes unter-
scheiden. Engels nahm, von seiner Anschauung der Aufteilung
der ursprünglichen Gentes in die Stammesorganisation ausgehend an,
dass es sich um eine »Festigung« durch besondere Bräuche der Gentes
handelt. Ist nicht wahrscheinlicher, dass die mythologische und
sonstige Eigenartigkeit der Gentes eher Ausdruck ihrer ursprüng-
lichen Geschlossenheit ist, als der Ausdruck einer späteren
Festigung einer innerhalb des Stamnües abgespaltenen Gruppe? Diese
Einheit der Gens drückt sich ja, wo immer wir sie antreffen, aus in
allen ihren Funktionen (mütterliche Erbfolge, gemeinsame Abstam-
mung, gemeinsamer Boden, Clansolidarität usw.), die sie von den
anderen Gentes des gleichen Stammes als Gruppe unterscheiden. Bei
den Trobriandern tritt der getrennte Ursprung der Gentes ebenso
klar hervor wie hei den Irokesen, Römern usw.
b) Morgan stellte bei den Irokesen acht Gentes fest, die sich
von verschiedenen Tieren ableiten. Es kann also der S t amm nich t
durch Teilung in Gent es, sondern nur durch Zusammcnschluss von
spl eb en entstand en _sein .
c) Wir beobachten den fortschreitenden^ Prozess der Verschmelzung
menschlicher Organisation sgrujipen bei den Indianern ebenso wie bei
de n Römern . Aus der Sage der »Gründung Roms geht hervor«,
schreibt Engels, »dass die erste Ansiedlung durch eine Anzahl
zu einem Stamm vereinigter latinischer Gentes (vom
82
Die Herkunft der Claneinteilung und des Inzestverbots
Ref. gesperrt) (der Sage nach hundert) erfolgte, denen sich bald ein
sabellischer Stamm, der ebenfalls hundert Gentes gezählt haben soll,
und endlich ein dritter . . . anschloss«. Engels erwähnt selbst
(1. c. 119.), dass »hier wenig mehr urwüchsig war ausser der Gens.
Die Stämme tragen an der Stirn den Stempel künstlicher Zusammen-
setzung, jedoch meist aus verwandten Elementen und nach dem Vor-
bild des alten gewachsenen, nicht gemachten Stammes«. Engels
versucht hier, die Teilungshypothese, die die Morgansehe Auffassung
der Herkunft der Exogamie aus der natürlichen Zuchtwahl stutzen
soll, aufrechtzuerhalten. Wir sehen aber, dass die bereits formierten
irokesischen Stämme sich so verhalten zur Zeil der Beobachtung
durch Morgan, wie wir es für die Clan-JUrhorden annehmen: nach
innen frjpdjjch. n ach aussen fe indlich; Kampf der
f eindli chen S^ämjne^sc hliesslich V ereinigung durcb
Fri edens s*c h I u s s zu_grösseren Formationen mit Tributaufcrle-
gung._ D as ^widerspricht der Teilungstheorie, die durch keinerlei ak-
tuelles Material gestützt ist und nur auf der Annahme fusst, dass
die Vermehrung der Volkszahl und die »natürliche Zuchtwahl« durch
Ausschluss der Blutsverwandten die innere Teilung mit Exogamie
bedingte. An anderer Stelle sagt Morgan selbst und Engels fügt
es in den Zusammenhang seiner Untersuchung ein, dass sich bei ver-
schiedenen indianischen Stämmen mit mehr als fünf oder sechs
Gentes drei oder vier zu einer besonderen Gruppe. »Brüderschaft«
oder Phratrie vereinigt findet. Also auch hier Zusammensc _hluss,^ieht
Teilung.
Für die ursprüngliche Natur der Gens spricht auch die genaue
Schildjer ung, die Morgan von ihrer Org anisation gibt: Wahl des
Saciiems (Friedensvorstehers) und des Häuptlings (Kricgsanführers)j
nie wird der Sohn des Häuptlings, der einer fremden Gens, angehört,
gewählt, sondern meist der Schwestersohn; Erbrecht innerhalb der_
Gens ; Verpflichtung zu gegenseitigem Schutz; Blutracheverpflichtung
aller Gentilgenossen, wenn einer der ihrigen von dem Angehörigen^
einer anderen Gens erschlagen wurde; hier treten also die Gentes in
Feindschaft zueinander; die Gens verfügt über bestimmte Namen, die
nur sie im Stamm gebrauchen darf; eigene religiöse Bräuche. Bei den
Seneka war Tradition, dass »Bär« und »Hirsch« die beiden ursprüng-
lichen Gentes waren, von denen die anderen abzweigen.
Wir hören auch von Morgan, dass die Stammesnamen mehr
zufällig entstanden als absichtlich gewählt erscheinen. Es kam häufig
vor, dass Stämme ihre Namen von fremden Stämmen erhielten; so
wurde den Deutschen der Name »Germanen« von den Kelten aufer-
legt.
Es bleibe weiteren Untersuchungen überlassen, festzustellen, m-
wieweit neben dem ursprünglicheji^Zusammej^chhiss^ von Urclans
auch eine'imiere Teilung zu Recht besteht. Bei den Trobriandern sehen
>~v
Samoanische Brautwerbung 83
wir z. B. den Stamm geteilt in Clans, die nicht blutsverwandt sind, die
Clans aber geteilt in entfernt blutsverwandte Unterclans.
d) Bei den Grieche n sind vornehmere und weniger vornehme
Gentes festgestellt worden, ganz wie bei den Trobriandern. Wäh-
rend unsere^Ableitung der Rangeinteilung aus dem Verhältnis von
ursprünglichem Sieger-Clan und besiegtem Clan das zwanglos er-
klärt, ist nicht zu verstehen, wie sich die Gens, die aus gleichberech-
tigten Genossen zusammengesetzt ist, in rangverschiedene Unterabtei-
lungen gegliedert haben sollte. Demzufolge müsste der spätere Stamm
die ursprüngliche Gens sein, was der ganzen Organisation wider-
spricht.
e) Den wichtigsten Beweis für die ursprüngliche Fremdheit des
Gentes erblicken wir neben der Tributpfüchtigkeit d er Br üder an die
Schwestergatten in den so sonderbaren Bräuchen der .Werbung der
Frauen durch die Männer, wie sie nicht nur bei den Trobriandern
in Form der ulatile- und der Tcafut/ausz-Expeditionen sich darstellen,
sondern auch bei anderen Stämmen vorkommen.
Hören wir die folgende Schilderung des Brauches, der die Braut-
werbung bei den Samoanern^) begleitet:
»Das LiebeswerbcQ eines samoaniscben Jünglings um seine Erkorene
und die Liebesncigung der letzteren schildert K u b a ry aus eigenen Beobachtun-
gen höchst anschaulich. In dem am Tage so ruhigen Samoa sammeln sich zum
Abend die jungen Leute beiderlei Geschlechts auf dem Malae. Ein junger Krieger
mit wohlgcpflegtcm Susseren steht bei einer Schar junger Madchen.« »Er steht
aufrecht und gestikuliert mit den erhobenen Armen derart, dass der ganze Kopf schüt-
telt. Er stampft mit dem Fusse, er tritt und zieht sich zurück,
er streckt den Arm hervor, als wäre er mit eiaem Si)ecr be-
waffnet, dann wieder schwingt er ihn im Kreise herum, als
sei er im Begriffe, mit einer Keule den Feind zu zcrs c hm c t-
1er n. Zweifellos ist er ein Krieger, der seinen schönen Zu-
böre rinnen seine Taten, seine Siege erzählt. Diese sind ganz
Ohr und Auge. Man sieht es, welch mächtigen Eindruck seine Erzählung auf
die jungen Mädchen macht, die ihm begeisterte Zurufe spenden. Darauf fordert
er einige Genossen zu einem gemeinsamen Gesänge auf. »Unser Erzähler ist der
Vorsänger, alle Anwesenden bilden den Chor; jedoch das Singen dauert nicht
lange.« »Der Krieger steht auf und stellt sich einer der schänsten Jungfrauen
gegenüber. Sie zögert; ja beinahe unwillig lässt sie sich von
ihren Freundinnen herzu drüngcn und von dem hübschen Tänzer
ins Freie hinausziehen.«
»Ein Zuckerrohrfcld ist des Nachts ein sicheres Versteck für zwei Liebende.
Niemand wird sie hier in der Zeit der Geister und Gespenster stören. Unser
Pärchen weiss es, und unbesorgt um einen Lauscher kann man sie sprechen hören.«
»Du wcisst, Lilomajiwa, dass meine Eltern dich hassen, uns bleibt nur die
,awanga' übrig.« Die awaitga, die Flucht, nrird verabredet, in der dritten Nacht
soll sie stattfinden. »Am Strande des nachbarlichen Dorfes herrscht Stille, aber
auf dem weissen Sande bewegen sich dunkle Gestalten. Ein toumalua, das ein-
beimische Reisekanoe, wird ins Wasser hineingeschoben. Die duniden Gestalten
sind versch'wundcn, ein aufrechtes, dreieckiges Segel entfaltet sich, und dem
Strande entlang gleitend, entschwindet es dem Blicke. Erst aus weiter Ferne
erreicht uns der gedämpfte Schall eines Tritonhornes, dieser Schall begleitet das
glückliche Liebespaar der Küste entlang, den aus dem Schlafe gestörten Einwoh-
1) PI o s s- Bart eis: »Brautwerbung und Brautstand.« »Das Weib im der
Natur- und Menschenkunde.* »Geschlecht und Gesellschaft.« Heft 12, S. 648.
7*
84 Die Herkunft der ClaneiDteilung und des Inzestverbots
nern etwas Besonderes anzeigend. Er eilt ihm voraus nach P a 1 a u I i, wo die Lie-
benden, den Zorn der Eltern vorüber lassen wollen.«
Am nächsten Morgen Aufruhr in beiden Dörfern. Die Freunde des Blücklichen
Bräutigams durchschreiten ihr Dorf und rufen aus: AwangaU Awanqall Die
schöne Tanetasi und der tapfere LHoma) aü a sind aivangal! aurangaHa
Die stolzen Eltern der Braut hören mit verbissener Wut die öffentliche Ausru-
fung, die das Schicksal ihrer Tochter besiegelt. Während einiger Zeit böses Blut
auf allen Seiten, Die alten Väter meiden sich, die jungen Männer betrachten ihre
Keulen und Speere, die hauptsächlichste Rolle Spielen aber die Jungen.« »Nach
ein paar Wochen legt sich alles, und die Ellern schicken ihrer Tochter eine
weisse Matte als Zeichen der Verzeihung. Das Paar, das sich bis jetzt noch
fremd blieb, liommt zurück. Es wird die »/eininan« vorgenommen, und die weisse
Matte, mit Spuren der Würdigkeit der Braut, wird gegen einen Teil der Aus-
steuer ausgetauscht. Der andere wird bei der ersten Niederkunft ausgehändigt.«
,Heiratet das Paar nicht aus Liebe, oder stehen keine Schwierigkeiten bevor, wird
alles von den Verwandten geordnet. Früher war die ,nu}anga' (die Brautflucht)
in Samoa an der Tagesordnung.«
Sehen wir von den dichterischen Anwandlungen des Berichterstat-
ters ab. Dass es sich bei der Brautwerbung nicht um eine ernste
aktuelle Situation handelt, ist klar. Es werden Rollen verteilt ge-
spielt, die Dörfer stehen einander spielerisch feindselig gegenüber.
Wären das nicht historische Bräuche, sondern aktuelle Gcwaltmass-
nahmen, wären die Etlern wirklich böse, die Sache ginge anders aus.
So aber läuft alles friedlich ab. Früher war die Brautflucht an der
Tagesordnung. Wir dürfen sagen: in der Urzeit als realer Raub (Auf-
treten des Bewerbers als wilder Krieger), später als Sitte, die sich
immer mehr verliert, wie ein häufiger Traum, der eine reale trauma-
tische Situation wiederbringt, schliesslich verebbt.
Jetzt wollen wir auch Malinowskis Bericht über die ulatile
Expedition der trobriandrischen Jünglinge nachtragen. Die Nach-
klänge des urzeitlichen Frauenraubes treten unzweideutig hervor:
»Es gibt zwei Arten der iiin(i7e-Expeditionen, für die das Wort als Fachaus-
druck gilt. Die erste ergibt sich als Notwendigkeit, wenn ein Liebender sein
Liebchen in ihrem eigenen Dorfe besuchen muss. Wenn bei einer der vorerwähn-
ten Gelegenheiten zivei Leutchen aus verschiedenen Dorfgemeinschaften grosses
Wohlgefallen aneinander gefunden haben, so verabreden sie eine Zusammen-
kunft, In der Regel hat der junge Mann einen guten Freund im Dorfe des
Mädchens; dadurch wird die Sache erleichtert, denn dieser Freund kann ihm
helfen. Die gute Sitte verlangt, dass der Liebhaber sich für das Stelldichein her-
ausputzt; das zwingt ihn zu einer gewissen Heimlichkeit. So benutzt er nicht
die Hauptstrasse, sondern schleicht sieh verstohlen durch den Busch. »Wie ein
Zauberer geht er; hält an und lauscht; geht seitwärts und bricht durch das
Dschungel; keiner darf ihn sehen.« So vergleicht einer meiner Gewälirsleute ein
solches ulatile mit den heimlichen Expeditionen böser Zauberer l), die auf ihren
nächtlichen Gängen von niemandem gesehen werden dürfen.
1) In den bösen Geistern und fremden Zauberern, die im Gcmütsleben und in
"der Mythologie der Primitiven eine so grosse Rolle spielen, sind unschwer
die gewalttätigen fremden Einbrecher wiederzuerkennen. In der Vorstellungs-
welt der Menschen, die nie einen Fremden gesehen, nie an deren Existenz-
möglichkeit gedacht hatten, mussten sich diese als übernatürliche Wesen
präsentieren, ebenso wie die Weissen nach der Entdeckung Amerikas von
den Eingeborenen zunächst als Götter verehrt wurden^ che sie ihre durchaus
irdisch-kapitalistische Natur offenbarten.
Der Brauch des gaasa 85
Nähert er sich dem Dorfe, so muss er besonders vorsichtig sein. In seinem
eigenen Dorf würde die Entdeckung solch vorübergehender Affäre nur die Eifer-
sucht der offiziellen Liebsten erregen und einen nicht sehr tiefgehenden Zanli
hervorrufen. Doch wird ein Wilderer der Liebe im fremden Dorf betroffen, so
kann er unter Umständen ernstlich misshandelt werden, und zwar nicht nur vom
eifersüchtigen Liebhaber, sondern auch von all den anderen Burschen, Auch
könnte er dadurch sein Liebchen den Vorwürfen des regelrechten Liebhabers
aussetzen. Vor allem wird deshalb alles so heimlich betrie-
ben, weil die Sitte diese Spielregel vorschreibt. Meistens
verabreden sich die beiden im Urwald nahe beim Dorf des Mädchens. Manchmal
zeigt das Mädchen dem Burschen den Weg zum Stelldichein durch ein kleines
Feuer, oder sie vereinbaren, den Ruf eines Vogels nachzuahmen; zuweilen be-
zeichnet sie den Weg zum Treffpunkt im Urwald, indem sie ein bestimmtes Mu-
ster in die Blätter einreisst oder Blätter auf den Weg legt.
Manchmal bescbliesst eine ganze Gruppe junger Männer in corpore eine re-
gelrechte a/fl(i7e-Expedition zu unicrnehmen. Auch hier ist Heimlichkeit von-
nöten, denn obwohl solche Unternehmungen ein Brauch, in gewisser
Weise sogar ein gutes Recht sind, so bedeuten sie doch einen Über-
griff auf die Rechte zweier anderer Gruppen; sowohl die rechtmässigen Liebsten
der ufoii7e-B urschen als auch die jungen Männer im anderen Dorf kommen dabei
schlecht weg. Würden sieh die Abenteurer von einer dieser beiden Parteien
erwischen lassen, so könnten sie leicht eine Flut von Schimpfworten zu hören
kriegen oder gar Prügel besehen; denn auf den Trobriand-Inseln können die
Mädchen ihre Rechte mit der Faust verteidigen, und die jungen Männer jeder
Dorfgemeinschaft betrachten ihre Frauensleute als ihr eigenstes Jagdgebiet. Des-
halb stehlen sich die Abenteurer meist am Abend fort, wenn es schon finster
ist, und legen ihren Schmuck erst an, wenn sie das Dorf hinter sieh haben. Doch
sind sie erst einmal auf der Landstrasse, so treten sie höchst geräuschvoll und
herausfordernd auf, denn es gehört sich bei einer solchen Gelegenheit! Es gibt
sogar besonders schlüpfrige Lieder, lo uwa genannt, nach deren Takt die Burschen
dahinwandern.« (1. c. S. 187 f,)
Dabei werden Lieder gesungen, sunj Beispiel:
»Hoho! Ich erwache aus dem Schlaf, ich höre das festliche Schlagen der
Trommeln, erklingend von Tanzmusik; sie locken Frauen herbei in Festkleidern,
festliche Röcke über den Hüften. Mit einem Lied auf den Lippen, seine kleine
Trommel in der Hand, die Zähne geschwärzt, schreitet im Rhytmus .Tokivina'
im Dorf ,Wavivi', er schreitet im TanzrhjtJunus durchs Dorf ,Wavivi'. (S. 190.)
In alten Zeiten wurden solche Lieder auch gesungen, um kundzutun, dass
die Betreffenden sich nicht auf dem Kriegspfad oder einer Zauberexpedition
befanden, oder sich sonstwie mit bösen Absichten trugen. In der Nähe des Zieles
verhalten sich die jungen Männer still, denn sie dürfen von den Burschen des
Dorfes nicht gesehen werden. Die Mädchen wissen natürlich, wann der Zug
sich nähert, denn alles ist im voraus genau vereinbart worden. Wer im fremden
Dorf am besten Bescheid weiss, schleicht sich heran und gibt das verabredete
Zeichen. Eine nach der anderen schlüpfen die Mädchen aus den Häusern und
treffen sich im Busch. Manchmal warten die Mädchen schon auf die Burschen
an einem vorher vereinbarten Treffpunkt. Wird eine solche verliehte Versammlung
entdeckt, so kann eine Rauferei die Folge sein, die in früheren Zeiten sogar
manchmal zum Krieg zwischen zwei Dorfgemeinschaften führte. ii (1. c. S, 191) f->
Wir sehen einige Widersprüche: Einerseits sind solche »Liebes-
expeditionen« ein Brauch, ja, in gewissem Sinne «ein gutes Recht«,
andererseits kommt es dabei gelegentlich zu ernsten Prügeleien zwi-
schen den uZafi/e-Jünglingen und den einheimischen Burschen. Die-
sen Widerspruch verstehen wir im Zusammenhang mit den früher
erörterten Grundeinrichtungen der Trobriander als Überrest aus der
Urzeit, in der die Männer einer Urhorde in eine andere einbrachen.
Wir begegnen hier einem Stück natürlicher Eifersucht neben vol- |
85 Die Herkunft der Claneinteilung und des Inzestverbots
1er gesellschaftlicher Förderung der Einrichtung der Liebesausflüge;
auch das Heimlichtun erscheint mehr wie ein Brauch, der sich aus
Raubzügen der Urzeit herleitet, als ein real begründetes Verfahren.
Jetzt ist es am Platze, eine Mitteilung Malinowskis über einen
sehr sonderbaren Brauch einzuschalten, der auf den südlichen Tro-
briand-Inseln heute noch herrscht:
»Für die Frauen aus den Dörfern Okayaulo, Bwaga, Kiimilabwaga, Louya
und Bwadüla und aus den Dörfern aus Vakuta verbindet sich mit dem Gemem-
schaftsjäten ein seltsames Vorrecht. Erspähen nämlich die jätenden Fraueu cmen
Fremden, der in Sehweite vorübergeht, so gibt ihnen die Sitte das Recht, diesen
Mann zu überfallen — ein Kecht, das immer mit Eifer und Tatkraft wahrgenommen
wird. Der Mann ist Freiwild für die Frauen; geschlechtliche Gewalttätigkeit,
unzüchtige Grausamkeit, widerwärtige Beschmutzung, grobe Behandlung — alles
muHS er über sich ergehen lassen. Zuerst wird ihm das Sehamblatt abgerissen
und zerfetzt. Dann versuchen die Frauen, durch Masturbation und exhibitionisti-
sche Praktiken bei ihrem Opfer eine Erektion hervorzurufen; ist das gewünschte
Ergebnis erreicht, so kauert sich eine von ihnen über ihn und führt seinen Penis
in ihre Vagina ein. Nach der ersten Ejakulation wird er unter Umständen von
einer zweiten Frau ebenso behandelt, aber Ärgeres kommt noch. Einige Frauen
entleeren ihre Exkremente und ihren Harn über seinen ganzen Körper, wobei sie
besonders das Gesicht beschmutzen, so sehr sie nur irgend können. »Ein Mano
speit und speit«, berichtete mir ein mitleidiger Gewährsmann. Manchmal reiben
diese Furien ihre Genitalien gegen Nase und Mund ihres Opfers und benutzen
seine Finger und Zehen, ja. jeden vorstehenden Körperteil zu ihren lasziven
Zwecken. Die Eingeborenen aus dem Norden belustigen sich über diese Sitte,
die sie verachten oder zu verachten vorgeben. Hit Vorliebe gehen sie auf alle
Einzelheiten ein und unterstützen ihre Schilderungen noch durch darstellerische
Gebärden, Gewährsleute aus dem Süden bestätigen diese Berichte in allen wesent-
lichen Punkten. Sie schämten sich keineswegs dieser Sitte, betrachteten sie
vielmehr als Zeichen für die ungebrochene Kraft der Gegend und schoben allen
etwaigen Schimpf den Fremden, also den Opfern, zu. Ein Gewährsmann aus der
dortigen Gegend berichtete mir, dass die Frauen beim yausa — so heisst^ '^'J^!'^''
Brauch — ihre Eaströcke abwürfen und nackt, wie eine Schar ,ton tauvaa' (böse
Geister) auf den Mann losstürzen. Er erzählte auch, dass dem Mann das Haar
vom Kopf gerissen, dass er gefoltert und geschlagen würde, bis er zu scliwach
sei, um aufzustehen und davonzulaufen. Zugleich erfuhr ich, wie anders die-
jenigen, die ihn üben, solch einen Brauch schilderten, als diejenigen, die ihn
nicht haben. Von den Ansässigen wurde die Sitte offensichtlich als beschämender
und barbarischer Brauch lächerlich gemacht. Die Besucher aus dem Süden
jedoch, von denen manche aus Okayaulo und Bwadela, also aus der Heimat des
yausa stammten, waren in einer späteren Unterhaltung durchaus anderer Ansicht
und zeigten nicht die geringste Verlegenheit. Sie erzählten voll Stolz, dass kein
Fremder sich um jene Zeiten in ihre Gegend wage, dass nur sie selbst frei
umhergehen könnten, dass ihre Frauen die besten Jäterinnen und die mäch-
tigsten Leute auf der ganzen Insel seien.« (»Geschlechtsleben«, S- 195 f.)
Dieser Brauch imponiert als ein Rest der Notwehr der Frauen
aus der Urzeit, die im Laufe der Zeit sich gegen die Eindringlinge aus
fremden Stämmen zu wehren lernten. Die Art ihrer Rache spiegelt
wider, was ihnen widerfuhr, sie nehmen am Manne vorweg, was sie
vön^Fm bef ürchtenTSie vergewaltigen ihn. Frieden nach in-
nen, Gewaltnach aussen — , das war die Situation der Urzeit.
_Zusamjn cnschluss der fpindiichen Horden zu ei nem fried lichen
Stamm mit Sonderung in Clans war die Lösung; sie bedeutete Wie-
derherstellung der Ruhe. Aber die SEuren . de^Jiewalt blieben_Äa
Heiratsgut bei den Papuas u. a. 87
Form der Rangeinteilung der Clans und des Heiratstributs. Sie waren
bestimmt, zu neuer Gewalt zu führen^).
Stellen wir noch rasch einige andere Völkerstämme zusammen,
bei denen die typischen Gebräuche des Heiratsgutes, des gemeinsamen
Essens als Symbol des wirtschaftlichen Zusammenschlusses bei der
Ehescliliessung und der zeremoniellen Entführung der Frau vorkom-
men. Dass wir aus allen Orten, hier das eine, dort das andere Detail
aus dem Komplex von Riten berichtet bekommen, den wir bei den
Trobriandern in voller Funktion sehen, ermutigt uns zur Annahme,
dass wohl die meisten Völker der Erde das gleiche Schicksal des
Kampfes feindlicher Horden mit nachfolgendem friedliclien Zusam-
menschluss durchgemacht haben. Die Ubiquität des Inzestverbotes
und der Eheinstitution verliert dadurch viel von ihrer Rätselhaftig-i
keit.
Max Ebert gibt in seinem »Reallexikon der Vorgeschichte«
(Bd. 5) eine Zusammenstellung ethnologischer Tatsachen, der wir
folgendes entnehmen:
»iQ ganz Südwest-Asien besteht der Ritus des gemcinsanien Essens der
Paare aus einem Napf bei der Eheschliessung. (Zitat nach Skeat und Blagden, I.
S. 54 und II. S. 56. Ebert, Reallexikon, S. 248.)
" Alte Geschichten der Tschuktschen erzählen die »Entführung« von Mädchen
durch Männer anderer Stämme, durch Geister, Adler, Wale, Raben usw. Es kam
früher aber auch vor, dass ein paar junge Leute sich zusammentaten und ein
junges Mädchen raubten, ihr Hände und Füsse banden und sie zum Hause eines
Mannes brachten, der sie als Gattin wünschte. Nicht nur die Männer fremder
Familien, sondern sogar die Verwandten und Vettern taten oft so, wenn sie
durch den Vater oder durch das Mädchen zurückgewiesen worden waren. Nach
einer solchen Entführung empfingen die Eltern gewöhnlich eine andere Frau
aus der Familie des Entführers als Entgelt für ihre Tochter, Heiraten durch
Flucht, wenn die Eltern ihre Zustimmung verweigern, kommen nur selten vor.
(Czaplicka, S. 72 ff.)
— Bei den Kamtschadalen muss ebenfalls die Frau durch Dienstleistungen
des Mannes abverdient werden . . . Hat er die Erlaubnis erhalten, seine Braut
zu nehmen, so findet erst eine Zeremonie statt, bei der er sich gewaltsam ihrer
bemächtigen muss. Alle Frauen des Dorfes suchen sie vor ihm zu beschützen.
Dabei ist sie in mehrere schwere Gewänder gekleidet, die fest um sie gebunden
sind, so dass sie wie eine ausgestopfte Figur aussieht. Die Zeremonie besteht
nun darin, dass er ihr die Kleider vom Leibe reissen und dann mit der Hand
ihre Genitalien berühren muss. Dabei verteidigen sie die übrigen Frauen.
(Ebert, 1. c. 251.)
Auf den Andamanen-Inseln werden unter den dortigen Jägcrstämracn die
Heiraten durch die älteren Männer und Frauen veranstaltet.
. . . Mitunter versprechen die Eltern schon ihre kleinen Kinder . . . Die
Eltern übernehmen auch sonst die Veranstaltung der Heirat für ihre Kinder.
Doch sprechen die Eltern des jungen Mannes nicht selbst mit der Familie eines
Mädchens, sondern ersuchen einen oder mehrere ihrer Freunde, als Vermittler
aufzutreten. Von dem Augenblick an, da die Möglichkeit einer Verbindung ins
Auge gefasst ist, vermeiden die Eltern des Mannes, mit denen des Mädchens z«
1) In seinem Buch »Psychoanalyse primitiver Kulturen« beschreibt Rohejm den
Verteilungsritus bei den Papuas im Duaugebiet. Er stimmt nicht nur we-
sentlich mit dem von Malinowski beschriebenen übereio, sondern ergänzt
in den Roheimschen Berichten unsere Kenntnis von den psychischen Kon-
flikten, die die Abgabe des Heiratsgutes begleiten.
88 Die Herkunft der ClaneinteilunK und des Inzestverbots
sprechen, und jede Nachricht unter ihnen wird durch dritte Personen vermittelt.
Auf diese Weise senden sie einander auch Nahrungsmittel und andere Gegeo-
stände zu. Der Empfänger eines solchen Geschenkes beeilt sich stets, eine Ge-
gengabe von gleichem Wert zu leisten. Kommt die Heirat zustande, so treten
die Eltern beider Partner in eine besondere Beziehung, die bestimmte Pflichten
mit sich bringt. In der Zeit zwischen dem Eintritt der Reife und der Ver-
heiratung leben die jungen Männer auf den Andamanen-Inseln in einem Jung-
gesellenhaus . . . (Brown, S. 73, zitiert nach Ebert, 1. c. 253.)
— Die Koita und Motusstämme des südlichen Neu-Guinea haben gleiche
voreheliche Bräuche, wie die Trobriander, gleiche Werbung und Hochzeitssitten.
(Selißmann, S. 76 ff.) - . . Geschenke werden von Seiten beider Familien auf
Jahre hinaus gemacht, namentlich Speisegaben. (1. c, 253.)
— Bei den Tillamook an der Küste von Oregon im nordwestlichen Amerika
. . . Seine Verwandten sammelten Nahrung aller Art und leisteten noch Beiträge
an Geld für den Kauf des Mädchens. Die Verwandten des Mädchens sagten
bestimmte Geschenke für dieses zu . . . Nach der Hochzeitsfeier wurden die
Leute mit Beeren, Fischen und Fleisch bewirtet, und hierauf verteilte der
Brautvater unter die Verwandten des jungen Mannes noch weitere Speisen, die
sie nach Hause mitnahmen. (1. c. S. 255.)
— Unter den Chukmas des südöstlichen Indiens müssen bei der Hochzeits-
zeremonie des gemeinsamen Essens sowohl der Bräutigam wie die Braut sich
schüchtern zeigen, (Lewin, S. 187, sitiert Ebert, 1. c, 258.) (Wir erinnern
an die Befangenheit der Jung vermählten bei den Trobriandern.)
■ — Noch heute wird bei den Wahhabi-Stämmen des Njed, des Gebirgsplateaus
im Innern von Arabien der Zusammenhang unter ihnen nur durch Heiraten
aufrechterhalten, die zwischen Geschwisterkindern ersten Grades . . . geschlossen
werden. (Worlds Work, 1923, E. A. Powell.)
— Bei den Malit-Eskimos der Beringstrasse finden häufig Heiraten zwischen
Vettern und Basen ersten Grades . . . statt mit dem Gedanken, dass in einem
Fall die Frau dem Manne näher steht. Im Falle der Not, meint man, würde
sonst die Frau den Mann bestehlen und der Mann verhungern. So aber sorgt
sie für ihn, (Nelson, S. 291, »The Eskimos ahout Bcringsstrect«, 1899.)
— Kreuz-Vetter-Basen-Heirat kommt vor bei den Wa-Yao, Ba-Ila, Ba-Kaonda
und Gilyaken (Sanderson, 1920, S. 74, »The Relationship-Sjstems of the Wagonda
and Wahenda Tribes«, Journ. anthr. inst. 53, 1923, und »Relationship among
the Wa-Yao«, Journ. anthr., 1920.)
2. DIE MORGAN-ENGELSSCHE HYPOTHESE DER
EXOGAMIE
Um das Verbot der Heirat in der eigenen Gens zu erklären, nahm
Morgan und nach ihm Engels an, dass sich in dem Gesetz der
Exogamie oder des Inzestverbots das »Prinzip der natürlichen
Zuchtwahl« ausgewirkt habe. Das Verbot der Ehe sogar zwischen
Kollateralgeschwistern bildet nach Morgan »eine treffliche Iliu-
stration davon, wie das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl wirkt«.
Engels fügt hinzu; »Keine Frage, dass Stämme, bei denen die In-
zucht durch diesen Fortschritt beschränkt wurde, sich rascher und
voller entwickeln mussten als die, bei denen Geschwisterehe Regel und
Gebot blieb. Und wie gewaltig die Wirkung dieses Fortschritts emp-
funden wurde, beweist die aus ihm unmittelbar entsprungene Einrich-
tung der Gens, die die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung der
meisten, wo nicht aller Barbarenvöiker der Erde bildet . . .« (»Ur-
sprung der Familie« S. 21.) Und bei der Besprechung der Einteilung
Erklärung des Inzestverbotüs 89
der Kamilaroi in Heiratsklassen, nach der Geschwisterkinder mütter-
licherseits nicht Mann und Frau sein können, wohl aber Gcschwistcr-
enkel, bemerkt Engels: »Man sieht eben, der Drang nach Verhin-
derung der Inzucht macht sich abermals geltend, aber ganz natur-
wüchsig tastend, ohne klares Bewusstsein des Ziels.« {S. 28.)
Sowohl M DJ' g an -wie auch Engels erklären also di^ Einteilung
des Stammes in Gentes aus der Spaltung eines ursprünglich blutsver-
wandten Stammes. Beide Autoren standen damals unter dem Ein ^
iluss der jungen Darwinschen The orie der nati kli^hen Auslesp , in die
sie die Ausschaltung des Inzestes "embezogenTTSiese Aui'fassung iässt
sich heute nicht mehr aufrechterhalten, aus folgenden Gründen:
1. Die Schädlichkeit der Inzucht ist nirgends nachgewiesen. Die
sowjetrussische Sexualgesetzgebung hat sich daher mit Recht, als sie
die Bestrafung des Inzestes aufliob, auf den Standpunkt gestellt, dass
dieses Gesetz keinen Sinn habe, wenn die Inzucht unschädlich ist. Die
Inzucht hat mit der natürlich en Ausle se nur insofern zu tun, als sich_j,
krankhafte Anklagen summieren, wenn Bruder und Schwester krank
sind. Das ist aber nicht anders, auch wenn zwei nicht blutsverwandte^,.
Menschen Kinder zeugen, wenn sie die gleiche krankhafte Anlage f
haben. Da ferner die moderne medizinische Forschung den Bereich
der Heredität immer mehr zugunsten der sozialen Ursachen weitver-
breiteter Krankheiten, wie etwa der Tuberkulose, einschränkt, verliert
jenes Prinzip in gleichem Masse an Geltung.
2. Die Annahme Morgans und Engels setzt voraus, dass der
Urmensc h die Rolle der Vater schaft bei der Zeugung kannte und die
supponierlen Schäden des Inzestes für die Nachkommenschai^t beur-
teilen und in richtige Beziehung setzen konnte. Das erste kann nicht
der Fall gewesen sein, und Morgan selbst ist ja an anderer Stelle
der Meinung, die sich durch Malinowskis Forschungen bestätigt,
dass bei der damaligen Ungeregeltheit des Geschlechtslebens die Va-
terschaft unbekannt sein m u s s t e. Ferner besteht zu Recht, dass die
Menschen auf der Stufe der Wildheit jahrtausendelang im Inzest
lebten, ohne dass der geringste Anhaltspunkt für eine Schädigung vor-
liegt. Für die A nnahme, dass sich die Stämme nach der Einführung
der Exogamie besser entwickelten, besteht kein Beweis, und selbst
wenn dies der Fall war, so kann als Erklärung die vorteilhafte Wir-
kung dei^Mischung zweier verschiedener Stämme nach dem Friedens-
schluss dienen, die eine technische oder kulturelle Vorwärtsentwick-
lung bedingt haben mag.
3. Als wichtigster Einw and gegen ^ie These der Herkunft der Exo-
gamie aus dem Prinzip d e r natürlichen Zuchtw ahl ko mmt in Betra cht,
dass ja die Urstämme. wenn sie_sichjn Gentes geteilt haben soUten,
die Blutsverwandtschaft nicht aus ser W ell schaffen konnten. Denn
wie weit sich auch ein solcher Stamm in der Kinder- und Gcschwister-
folge verzweigt haben mag, sie stammten ja doch alle von bluts-
■90 Die Herkunft der Claneinteilung und des Inzestverbots
t verwandten Urgeschwisterpaaren ab. Dies haben Morgan und En-
gels übersehen. Daraus folgt aber, dass man selbst zur Aufrechter-
haltung der Hypothese der natürlichen Zuchtwahl die Vermischung
zweier nicht blutsverwandter, also völlig fremder Urgentes
annehmen muss. Demnach wäre also die Gens früher dagewesen als
der Stamm, was unsere Auffassung von dem Zusammenschluss von
Gentes zu Stämmen von einer neuen Seite stützt.
I Wir hätten somit die Herkunft des Inzestverbots und seine Wei-
I teren tw icklung soziol ogi sch statt biologisch erklä rt. Die kom-
plizierten Einteilungen in Heiratsklassen bei den Kamilaroi zuerst in
vier, dann in acht, zu deren Erklärung Morgan die natürliche Aus-
lese heranzog und aus der er die Punaluaeinrichtung erklären wollte,
löst sich mit unserer soziologischen Erklärung wie folgt auf:
Ursprünglich bestanden vier Heir atsklassen, zwei männliche und
zwei weibliche, die nur kreuzweise heiraten konnten. Später ent-
standen durch weit ere E inteilung acht Klassen. Wir verstanden die
letzte Teilung auTder allgemeinen Einführung der Kreuz- Vetter-Basen-
Heirat, die die Tributleistung wettmachen sollte, ganz wie bei
den Trobriandern. Es muss also einmal die Tributleistung entstanden
und mit einer bestimmten Heiratsordnung nicht nur verbunden ge-
wesen sein, sondern diese vielmehr erst bedingt haben. Die Vicrklas-
scneinteilung folgte mit Selbstverständlichkeit aus der Einteilung
zweier Urgentes in je eine Frauen- (Schwestern-) und eine Männer-
(Brüder-) Klasse, die nach dem Friedensschluss und dem Zusammen-
schluss der Gentes kreuzweise heirateten (gegenseitige Exogaraie).
Die Punaluafamilie war also die erste Stufe der Famihe nach dem
Zusammenschluss wie die Blutverwandtschaftsfamilic die letzte vor
dem Zusammentreffen der zwei Gentes. Die Brüder hatten an die
Gatten Heiratsgut oder jedenfalls mit der Paarung zusammenhängende
Gaben zu leisten. Der Siegerstamm halte sich dabei nach unserer Vor-
aussetzung irgendwelche Vorteile sichergestellt, etwa besondere Lei-
stungen an den gemeinsamen Häuptling oder Kriegsführer, der bei
den Trobriandern dem »vornehmsten« Clan angehört. Das bedeutete
für den ursprünglich unterlegenen Clan eine einseitige Belastung. Aus
dieser muss dann das Bedürfnis nach Entlastung hervorgegangen
sein, wie sie nur durch eine K reuz-Ve tter-Basen - Hei rat gewährleistet
ist. Diesem Bedürfnis entsprang also die weitere Teilung in acht
Klassen, die das vollendete System der kompensierenden Paarungen
darstellt. Das übrige ist in Dunkel gehüllt. Wir sahen aber bei den
Trobriandern, dass sie das übergewicht des Häuptlings nicht aufhob,
ja vielleicht gab sie erst recht den Anstoss teilweiser Wettmachung
der Einbusse, die die Acht-Klassen- Einteilung für ihn bedeutete. Die
Bestätigung oder Widerlegung dieser Annahme bleibe weiteren For-
schungen überlassen.
Widerlegung der biologischen Auffassung des Inzestverbots 91
3. DIE FREUDSCHE HYPOTHESE VOM URVATERMORD
Bei seiner Rekonstruktion der Urgeschichte stützt sich Freud
auf die Darwinsche Anschauung, dass es unter den Affen Fa-
milien gibt, die für sich allein leben und deren Leitmännchen keine
anderen Männchen neben sich duldet. Der »Urvater«, der nach dem
Vorbild dieses Leitaffen gedacht ist, vertrieb, so lautet die Freud-
sche Konzeption, jedesmal die herangereiften Söhne. Die vertriebenen
Brüder rotteten sich nun einmal zusammen, erschlugen den Vater,
verzehrten ihn und machten so der Urvaterhorde ein Ende. Hier
benützte Freud die Beobachtung Atkinsons, nach der es häufig
vorkommen soll, dass die Leithengste einer Pferdeherde mit anderen
herumschweifenden Hengsten in Konflikt geraten. Doch zitiert
Freud die Ansicht Atkinsons, nach der die Organisation der
Horde infolge des darauffolgenden Streites der Söhne zerfällt, wo-
durch keine neue Organisation Zustandekommen kann. Fxeud
meint demgegenüber, dass gerade durch die Erschlagung des Urvaters ^ \ /
vieles seinen Anfang nahm: »die sozialen Organisationen, die sittU- • ,
chen. Einschränkungen und die Religion«. (»Totem und Tabu«, Ges.
Seh. B. X, S. 172.) Um diese Folgen, nämlich den Ursprung der
Religion und der gesellschaftlichen Ordnung aus dem Urvatermord
glaubwürdig zu finden, braucht man, meint Freud, »nur anzu-
nehmen, dass die sich zusammenrottende Brüderschar von denselben
■widersprechenden Gefühlen gegen den Vater beherrscht war, die wir
als Inhalt der Ambivalenz des Vatcrkomplexes bei jedem unserer
Kinder und unserer Neurotiker nachweisen können. Sie hassten den
Vater, der ihrem Machtbedürfnis und ihren sexuellen Ansprüchen so
mächtig im Wege stand, aber sie liebten und bewunderten ihn auch.
Nachdem sie ihn beseitigt, ihren Hass befriedigt und ihren Wunsch
nach Identifizierung mit ihm durchgesetzt hatten, mussten sich die da-
bei überwältigten zärtlichen Regungen zur Geltung bringen. Es geschah 2. '
in der Form der Reue . . . Was der Tote früher durch seine Existenz ^
verhindert hatte, das verboten sie jetzt selbst in der psychischen v,
Situation des uns aus den Psychoanalysen so wohlbekannten nach- '"■ .
fraglichen Gehorsams. »Sie widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung
des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten, und verzichteten
auf deren Früchte, indem sie sich die freigewordenen Frauen ver-
sagten. So schufen si e aus dem Schuldbewusstsein des Sohnes die
beiden fundamentalen Tabu de s TÖtcmismus« (I. c. S. 173), das
Verbot des Inzests u nd dcFTötung aesHT otemticres. Das
TötemTier wurde von Freud also als »natürlicher und nächst-
liegender Ersatz des Vaters« aufgefasst.
Auf dieser Hypothese des Urvatermordes fussten eine Reihe von
Aufstellungen sowohl Freuds selbst, als auch insbsondere die
ganze seither von Roheim, ReiU und anderen seiner Schüler
92 Die Herkunft der ClaneiDteilung und des Inzeslverbots
entwickelte psychoanalytische Ethnologie. Da unsere Auffassungen,
die hier entwickelt wurden, dieser Hypothese widersprechen, ist es
notwendig, näher auf ihre Grundeleinente einzugehen.
Sie scheint ja eine geschlossene Auffassung der urgeschichtlichcn
Entwicklung zu geben und leuchtet zunächst ein, weil sie wohlbe-
kannte und hundertfach erprobte klinische Erkenntnisse aus der
analytischen Praxis auf die Urzeit anwendet und scheinbar mühelos
die zwei wesentlichsten Fragen, den Totemismus und die Herkunft
des Inzestverbots erklärt. Dennoch enthält sie einige Voraussetzv-Mgen,
die nicht zutreffen.
1. Die erste Voraussetzung ist, dass die Urhordc aus einem
erwachsenen kräftigen Manne als Vater der ganzen Gruppe und
mehreren Frauen, Gattinnen und Töchtern und mehreren Söhnen
bestand. Wenn der Urvater, seine Existenz angenommen, immer
wieder die Söhne, wenn sie herangewachsen waren, verjagte — und
das kann nicht einmal und an einem Orte geschehen sein, sondern
muss sich oft, an allen Orten der Welt in typischer Weise und durch
Jahrhunderte oder Jahrtausende zugetragen haben — dann ist nicht
zu verstehen, w'ie die Urhorden sich fortpflanzen, den Kampf mit
der Natur bestehen und Kultur bilden konnten .Ferner: Wann er-
folgte die Verjagung? Der Geschlechtsverkehr setzt doch bei den
Primitiven sehr früh, lange vor der Pubertät ein! Wurden also
die koitierenden Kinder männlichen Geschlechts verjagt? Diese Auf-
fassung kann nicht stimmen.
\-^ Beruft man sich, wie j^oheim, auf die Sagen von einem in der
V. Urzeit getöteten Vater, so darf nicht übersehen werden, dass die
v^ spätere Vatergruppe ja ursprünglich, was aus der Claneinteilun^
• deutlich hervorgeht, Fr e^m d c waren, mit denen die spätere Söhne-
gruppe jm Kampf stand, aber nicht wegen des Sohnverhältnisses,
sondern wegen der ursprünglichen Feindseligkeiten der fremden
Horden. Das hat nichts mit Inzest zu tun. Der Ödipuskomplex konnte
er st entstehen nach der Vereinigung der Horden, erst nach, der
Heranbildung festgefügter Familien .
2. Dazu kommt die Voraussetzung, dass die Söhne sich den Ge-
schlechtsverkehr mit den Müttern und Schwestern versagten; also
waren diese ohne Männer und jene nach wie vor ohne Frauen. Wie
kam es, dass die Gruppe nicht ausstarb? Will man aber die Auskunft
herhalten lassen, dass die Männer sich Frauen aus anderen Gruppen
holten, so gerät man bei der dünnen Besiedlung der Erde in jenen
frühen Zeiten der Menschheitsgeschichte in nebelhafte Spekulationen.
Dieser Weg führt also in die Irre.
3. Weitere Voraussetzungen, die nicht fehlen dürfen, wenn man
die Hypothese aufrecht erhalten will, sind die natürliche ge-
walttätige Eifersucht der Männchen und die biologische Ambivalenz
der Gefühle. Wenn man aber die weit verbreiteten sexuellen Feste
Die Frcudsche Hypothese vom Urvatermord 93
der Primitiven, besonders die Berichte Malinowskis über das
Sexualleben der Trobriander, wo die Eifersucht ausgeschaltet ist, der
Tatsache gegenüberstellt, dass sich die gewalltätige Eifersucht im
Sinne unserer heutigen^ Gesellschaft erst mit der Ehebindung ein-^
stellte, als ökonomische Interessen die natürliche Eifersucht zum ge-
walttätigen Besitzanspruch gestalteten, wenn man ferner bedenkt,
da ss die E he eine_spä te A kquisition- der menschliche n Ge sellschaft
ist, so wird die Annahme einer Eifersucht des wilden Menschen, wie
sie von Freud postuliert wird, zweifelhaft. Und die Ambivalenz
der Gefühle ist auf ihre soziale Bedingtheit (Einschränkung der
sexuellen Befriedigung, daher Auftreten von hasserfüllter Stellung
zur versagenden Welt: Ambivalenz) erst zu prüfen. Die psychoana-
lytische Erfahrung an seelisch Kranken lehrt eindeutig, dass die
Ambivalenz zwar vielleicht in irgend einer Eigenschaft der
Triebapparatur als Anlage vorhanden ist, aber das, was wir vor
uns am Kranken sehen, ist historisch geworden durch die
Einschränkung seiner sexuellen Bedürfnisse, die in
der Urgesellschaft fehlt. Die Ambivalenz ist also im wesentlich en
sozial bedi ngt, hängt in Form und Intensität von der Art der
libidinösen Bedürfnisbefri edigung a^'und kann Jäher, als sozi ales
Produkt, "nicht die Urgrundlagc der menschlichen Kult ur sein . Wir
haben ja auch an den Trauerriten bei den Trobriandern gesehen,
wie ein bestimmtes, historisches Produktionsverhältnis Ambivalenz
der Gefühle erzeugt. Stünden die Verwandten der Frau zum Gatten
in keinem Ausbeutungsverhältnis, sie hätten keinen Grund ambivalent
zu sein und ihren Hass durch strenge Trauerriten zu verbergen. Und
wenn die Ambivalenz das Seelenleben des Menschen des 20. Jahr-
liunderts beherrscht, so muss man fragen, aus welchen sozialen
Gründen, und darf das nicht ohne weiteres auf den Primitiven über-,
tragen, der unter anderen Bedingungen aufwächst und lebt. Man darf"
überzeugt sein, dass das Kind des Trobrianders keine falschen
Sexualtheorien entwickelt, weil es die Wahrheit kennt, dass es ausser
dem Inzestwunsch keine Sexualität verdrängt, weil es sie befriedigen
darf, und dass die kleinen Mädchen keinen Penisneid und keine
Männlichkeitskomplexe fixieren, weil die gesellschaftliche Atmos-
phäre dem Knaben keine Vorzugsstellung einräumt wie bei uns.
Das setzt ja erst ein mit der patriarchalischen Gewalt und dem
Erbrecht in männlicher Linie. Wir leugnen also nicht die analyti-
schen Funde, aber wir fassen sie nicht biologisch sondern historisch
geworden auf und versuchen, sie mnchtige Beziehungzur Geschich te
der G esellschaft zu bringen.
4. Auf der Hypothese von der natürlichen Ambivalenz der
Gefühle baut sich die andere auf, dass sich die Sohne den Inzest
.aus Schuldgefühl versagten. Daraus soll die Moral hervorgegangen
sein. Das ist eine petitio principii. Denn es wird das vorausgesetzt,
94 Die Herkunft der Claneinteilung und des InzestvcrLots
was erst erklärt werden soll. Das Sc liuldgefühl ist ja bereits der
Ausdruck einer moralischen Reaktion^ ann daher d as Entstehen der
Moral nicht erklären.
Freud fasst die religiöse Idee vom Sündcnfall, von dem Jesus
die Menschheit befreien wollte, als den Ausdruck einer urgcschicht-
Hchen Mordtat auf. Der biblische Mj-thus von Adam und Eva sowie
die ganze katholische Ideologie der Erbsünde enthüllen sich dagegen
im wesentlichen als Mythus eines sexuellen Vergehens, als Vorstellung
einer Versündigung gegen ein sexuelles Verbot. Das schliesst nicht
aus, dass dieses sexuelle Vergehen von einer Mordtat begleitet war..
Und unsere Ableitung des Inzestverbots enthält ja implicife den ge-
sc hichtlichen Urm ord beim^usammenstoss fremder Urhorden. Dabei
entstanden fraglos die ersten moralischen Satzungen . Sie entstanden
"^er^a us sexue llen Ver boten, die nichts m it dem Ödipuskomplex zu
tun haben; denn dieser ist historisch .jünger als di e Scxualunler-
drückung; und — wie wir bereits ausführten — die spätere Väter-
gruppe war ursprünglich eine Horde fremder Männer, so dass die
Vorstellung vom Urvatermord einer Vermischung von zwei zeitlich
äü sein anderliegenden Tatbeständen entspricht: einem blutigen Kampf
mit Männern, die nicht die Väter waren, aus deren Clan aber die
späteren wirklichen Väter hervorgingen, die nicht gemordet wurden.
5. Die Freud sehe Hypothese lässt die Möglichkeit stattgehabten
Inzestes in der Urzeit gar nicht zu. Nun ist aber der Inzest als
jahrtausendelang dauernde Regel mythologisch und durch direkte
Beobachtung nachgewiesen. Auch die Unkenntnis der Vaterschaft,
die sich zwanglos aus der sexuellen Lebensweise der Urvölker ableitet,
widerspricht dem Kern der Freud sehen Anschauung^).
6. Die Freud sehe Konzeption steht in Widerspruch zu den
typischen Sagen von der Herkunft der Clans von zwei oder mehreren
Urmüttern oder Ur-Bruder-Schwester Paaren. Sie basiert auf der
Annahme des Sohn-Mutter-Inzestes, in Wirklichkeit war aber der
Bruder-Schwester-Inzest das Entscheidende. Die Bestätigung für die
Existenz eines Urvaters, die Roheim bringen wollte, gründet sich
immer auf das Vorhandensein eines Totcmticrs. Es wäre aber erst
zu beweisen, dass das Totemtier den Urvater Ursprung liclr
1) Man konnte mit einigem Recht einwenden, dass die Unkenntnis der Vater-
schaft zwar im Zustand der Promisiiuität, nicht alier in dem dci- monogamen
Paarungsche einleuchte. Es wäre auch nicht schwer, aus dem Verhalten der
Trobriander zur Frage der Vaterschaft auf eine Verdrängunff des Wissens
um die Rolle der Vaterschaft zu schlicsseu. Die Annahme oiucr solchen Ver-
drängung widerspricht nicht der Tatsache der Unwissenheit im Zustand der
Promiskuität, Es ist wohl denkbar, müsstc abur erst genau durchforscht
werden, dass die affektive Ablehnung der clanfremden Männer nach dem
^usammenschluss der Horden, so intensiv war und so weit ging, dass man
ihre Vaterschaft nicht anerkennen wollte. Es kommt auch in Frage, dass
I die Anerkennung dieser Vaterschaft das mutterrechtliche System der Clan-
l Sippschaft schwer zu erschüttern geeignet war,
Unzutreffende Voraussetzungen der Freudschen Hypothese
95-
darstellt. Weder die Deutung der inzestuös begehrten Schwester als
Ersatzes der Mutter, noch die Deutung des Totems als ursprünglichen
Vaterersatzes sind ohne historischen Zusammenhang beweiskräftig.
7. Nach Freud ist das Inzestverbot familiär zu denken; das
Inzestverbot beherrscht ^ber^den ganzen Clan; da die Familie sich
erst viel später~bildete, ist die Einschränkung nach Familienzuge-
hörigkeit im Sinne von Vater-Mutter-Kindcr Spätprodukt und daher
für die Urgeschichte nebensächlich.
Zusammenfassend müssen wir sagen, dass die Freud sehe Hypo-
these so grundlegenden Einrichtungen der primitiven Organisation
widerspricht (zwei inzestuöse Ur-Clans, Inzestverbot innerhalb des
Clans, Promiskuität und Inzest im Urzustand, Ursprünglichkeit der
Organisation nach Mutterfolge usw.), so sehr die historische Ent-
wicklung der Familie in ihrem Zusammenhang mit der Entwicklung
der Wirtschaft vernachlässigt, dass sie schwer zu halten ist.
Unsere Ausführungen erklären das Verbot, das Totemtier zu essen
und weiter im Inzest zu leben, aus dem historischen Ereignis des
Verbots, das für das Jagdgebiet charakteristische Tier zu jagen und
zu essen und die eigenen Frauen zu besitzen, ein Verbot, das nicht
innerhalb der Gens entstand, sonde r n v on aussen her^von einer
siegreicherr'GriTppe^ "emer anderen Hörde~"aui'erlegt wurde. In ge-
wissen Festlichkeiten der Primitiven, bei denen unterschiedsloser
Geschlechtsverkehr gepflogen und das Totemtier gegessen wird,
erblicken wir eine Sanktionierung des Durchbruches jener alten
Regeln zwischen zv^ei Horden, den Ausdruck einer Sehnsucht nach
der friedlicheren und von keiner VerpfUchtung als der zur Ver-
sorgung des eigenen Clans getragenen Organisation der inzestuösen
Urhorde. Diese Festlichkeiten durchbrechen ja insbesondere die
Schranken der primitiven Paarungsehe und gelegentlich auch des
Inzestverbots, also relative Spätbildungen der menschlichen Gesell-
schaft. Freuds Anschauung, dass diese Festlichkeiten der Totem-,
mahlzeit den Urvatermord darstellen, widerspricht auch von seinem i
Standpunkt der Tatsache der Durchbrechung der Inzestschranke bei l
solchen Festen. Gestatten sich etw a die Männer auf der viel höheren
Organisationsstufe das, was sie sich auf einer Stufe der kultur lose n tj
Wildheit versagten? Hatten si e damals als Wilde mehr Schuldgefühl \
als heute? Und wenn, warum?
Es ist denkbar, dass weitere Forschungen die Sagen vom Urvater-
mord auf die Zusannnenstösse fremder Urhorden beziehen werden.
Das Totemtier bekam sekundär die Funktion eines Sinnbildes ..lUn^,
der Urmutter und später in der patriarchalischen Organisation des
Patriarchen. Wir meinen also, dass die Freu d sehe Konzeption des
TÖtems als des ersten Ansatzes einer religiösen Vorstellung zu Recht
besteht, aber nicht als ideelle Ursache der Religion . überhaupt,
sondern als"^SpiegeluneJvatastrQ2haler wirtschaftlicher und sozialer
IS'^-
96
Die Herkunft der ClaoeintciluD); und des Inzestverbots
i
Vorgänge in der Urgesellschaft, an der sich dann im Zusammenhang
mit dem Dr ang, Naturvorgänge zu erklären, religiöse Vorstellungen
Üldcn konnten. Wenn der Mensch im patriarchalischen Zeitaller Gott
nach dem Vorbilde des Vaters schuf, so muss er ihn früher nach
dem Vorbilde seines Jagdtieres, das ihn doch sehr beschäftigt haben
muss, oder der Urmutter gebildet haben. Wenn man Malinowski
aufmerksam liest, wird man feststellen, dass der Totemismus an
Bedeutung lange nicht an andere, sexuelle und wirtschaftliche In-
stitutionen heranreicht. Und schliesslich kann die Wertigkeit
einer Einrichtung nicht ausser acht gelassen werden, wenn man sie
einordnen will in das Verständnis der Urorganisation. Jetzt steht
die Aufgabe bevor, de n Totemismus vom Standpunkt der Mutter -
rechtstheorie von Grund auf neu zu studieren, wobei die bisher auf-
gedeckten unbewussten Bedeutungen der verschiedenen religiösen
Vorstellungen und Bräuche nicht zu entbehren sein werden. Unsere
Kritik wendet sich gegen die bisherige Methode der psyclioanalyti-
schen Religionsforschung, vom latenten Sinn eines religiösen Phäno-
mens einfach auf seine Entstehung zu schliessen, Sinn und Genese
gleichzusetzen. Sowie wir den aktuell irrationalen Sinn eines hy-
sterischen Symptoms genetisch nur begreifen, wenn wir ihn historisch
in die Entwicklungsgeschichte des Symptoms an einer bestimmten
Stelle einordnen können, wo das jetzt Irrationale durchaus rational
war, so müssen wir den latenten Sinn einer mythologischen oder
religiösen Vorstellung in den historischen Zusammenhang des g§^
seilschaftlichen Prozesses einordnen, d. h. den Sinn der religiösen
Idee aus seiner ökonomisch-sozialen Genese und Funktion begreifen.
Der Sinn einer vorgefundenen Totemvorstellung kann also wohl die
Vatervorstellung sein, während ihr Ursprung ein Jagdtier sein kann,
das erst sekundär zum symbolischen Ersatz des Vaters oder der
Mutter wurde. Das geht aus der historischen Wandlung der Funktion
des Häuptlings notwendig hervor.
Freud sah bei der Betrachtung der Urgeschichte, wie die meisten
Ethnologen, nur die vom Standpunkt der Mutterrechtstheorie
zunächst verwirrende Tatsache, dass alle, auch die primitivsten
Organisationen einen Häuptling aufweisen und bereits Familien
enthalten. Dadurch wurde die andere Tatsache verdunkelt, dass der
Häuptling kein Herrscher und Patriarch in unserm Sinne ist, wo
nicht bereits ausgesprochenes Patriarchat vorliegt, und dass die
Familie in den Anfängen der Geschichte nicht in Widerspruch tritt
zur Organisation in geschlossene Gentes. Die Familienorganisation
innerhalb der Gens verdunkelte diese vor den Augen der meisten
Forscher, weil sie sich von der Theorie der UrsprüngUchkeit
unserer heutigen Familie nicht befreien konnten und daher un-
historisch dachten. So wie der »H ä uptling« ursprünglich sich mit
der Mntterfolge gut verträfit. um aber später in Gegensatz zu ihr zu
Kritik der Methode der psythoaDslytischen Religionsforschung 97
treten, indem er zum Patriarchen wird, so verträgt sich auch die
allmählich gewordene Familienorganisation des monogamen Typus j
mit der Clanorganisation. um schliesslich ebenfalls, Ha nd i n Hand j
mit der Wandlung der Funktion des Häuptlings, in Gegensatz zur_'
Clanorganisation, und zwar als ihr Zerstörer zu geraten. Das Igno-
rieren der M organ-Engel s sehen Theorie, die sich durch Mali-
nowski so glänzend in den Hauptpunkten bestätigt, hat einen
aktuellen, soziologischen Sinn; Hält man an der Ursprünglich keit des Ü
Patriarchats und seiner Familienrorm fest, so war die Moral, dem |j
Menschen wesenseigen, immer da.
Die Mor ganschen Entdeckungen zeigen aber alles in ständiger
Entwicklung und Veränderung. Die negative Sexualmora! ist also
einmal in der Urgesellschaft eingebrochen und wird einmal in der
mensc hlichen Gesellschaft verschwindjen . ;Was tritt aber an ihre
Stelle?
ZWEITER TEIL
DAS PROBLEM
DER SEXUALÖKONOMIE
8-
t •
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A)
DAS PROBLEM DER GESELLSCHAFT-
LICHEN SEXUALÖKONOMIE
1. ZUSAMMENFASSENDER GESCHICHTLICHER
ÜBERBLICK
Die ausgeprägten Phasen der gese llschaftLichen Ent wicklung von
der gentilen Urgesellschaft bis zum heutigen kapitalistischen Staat
weisen zwei ineinandergreif ende ^rozei^ auf^ Der eine Prozess ver-
läufT^ln wirFs^aftlichen Urkommunismus bis zum kapitalistischen
Staat im Sinne einer Entwicklung der Produktionsmittel, einer Aus-
breitung und Zunahme der Produktion und mit ihr der menschlichen
Be dürfnisse , und schliesslich im Sinne der Konzentralion des Eigen-
tüms an den Produktionsmitteln in den Händen einer gesellschaft-
lichen Oberschicht, der Kapitalisten. Der andere hingegen verläuft
von der natürlichen geschlechtlichen Freiheit und der gentilen Bluts- , .
verwandtschaftsfamilie bis zur Ideologie der au sserehe liehen Askese
und der lebenslangen monogame Ehen, also im Sine einer ständigen
Einengung. _Verdrängung u nd Verzerr ung der genitalen Geschlecht-
lichkeit. Geht man aber von den Endpunkten der gesellschaftlichen
Entwicklung, von der heutigen Organisation der Wirtschaft und der
Geschlechtlichkeit aus und verfolgt man sie rückwärts» so kommt
man schliesslich zu einem Punkt, an dem die wirtschaftliche und
die sexuelle Organisation ineinanderfliessen, nämlich zum Ursprung
des Privateigentums und der Klassenteilung aus de"n~geschrec&tlichen
Organisationsformen der gentilen Gesellschaft, die im Laufe der Ent-
wicklung eine Anhäufung der urkommunistisch produzierten Güter
in der Familie des Häuptlings ermöglichten. Wir haben gesehen, dass
damals in den Uranfängen der heutigen Privatwirtschaft, als sich
die ersten Ansprüche der Habgier und des Besitzinteresses regten,
auch die ersten Gegensätze innerhalb der menschlichen Gemeinschaft
entstanden, über die E^ngeU mit Recht schreibt*) : »Der^ er^te
1) Engels: »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates.«
102 Das Problem der Sexualökonotaie
Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit
^dcr Entwicklung des Antagonismus zwischen Mann und Weib in der
Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weibli-
chen Geschlechts durch das männliche (jetzt können wir sagen: des
,1 Clans der Frau durch den des Gatten, d. R.)- Die Einzelehe "war
ein grosser geschichtlicher Fortschritt, aber zugleich eröffnete sie
neben der Sklaverei und dem Privateigentum jene bis heute dauernde
Epoche, in der jeder Fortschritt zugleich ein relativer Rückschritt,
in dem das Wohl und die Entwicklung des einen sich durchsetzt
durch das Wehe und die Zurückdrängung des anderen. Sie ist die
Zellenform der zivilisierten Gesellschaft, an der wir schon die Natur
der i n die ser sich voll entfaltenden Gegensätze studieren können.«
(1. c. S. 52). Und weiter (S. 54/55): »So haben wir in der Einzel-
familie, in den Fällen, die ihrer geschichtlichen Entstehung treu
bleiben und den durch die ausschliessliche Herrschaft des Mannes
ausgesprochenen Widerstreit von Mann und Weib klar zur Er-
scheinung bringen, ein Bild im Kleinen derselben Gegensätze und
Widersprüche, in denen sich die seit Eintritt der Zivilisation in
Klassen gespaltene Gesellschaft bewegt, ohne sie aufzulösen oder
überwinden zu können.« _ _.
Dem Fortschritt der Produktion ging also ein Niedergang der
Sexualkultur parallel. Die natürliche Sittlichkeit der in Geschlechts- ,
freiheit lebenden mutterrcchtlichcn Primitiven stand unendlich höher |
I
als die Moral des privatwirtschaftlichen Zeitalters, was sich vor ,!
allem im Wegfall der sexuellen Dissozialität (Vergewaltigungen, {
Sexualmorde usw.) kundgibt. Alles Reden über kulturellen und silt- !
liehen Fortschritt bleibt Gerede, solange dieser Gegensatz in der |
gesellschaftlichen Entwicklung nicht erkannt wird, solange der
»Wilde« als das Vorbild des »kulturlosen«, daher zu verneinenden
Geschlechtswesens gilt. Man beurteilt seine Sexualkultur vom Stand-
punkt der privatwirtschaftlichen Moral, die »kulturell« mit »rein«
{= »asexuell«) gleichsetzt (vgl. die faschistische Rasselheorie). Ist
die Monogamie ein Fortschritt oder Rückschritt gewesen? Das^ ist
eine unhistorische, undialektische, abstrakt wertende Fragestel-
lung. Mit der Entwicklung der Produktionsmittel entstand die Aus-
beutung. Ist nun die Ausbeutung ein »Fortschritt« oder ein »Rück-
schritt« gewesen? Man versuche, die Frage in dieser Form zu beant-
worten, und wird fehlgehen. Wir haben nach den Entwicklungsten-
denzen der Gesellschaft zu fragen und können dabei nur feststellen,
ob diese Tendenzen im Sinne einer Vertiefung oder der Beseitigung
des Leidens sich auswirken werden. Im zweiten Falle greift der sub-
jektive Faktor der revolutionären Theorie helfend in das Rad der
Geschichte und dreht es rascher vorwärts.
Die Monogamie entsta nd aus der Konzentration von R eich tümern
in einer Hand, aus denTTJedurfnis.' wie^Tni"ge~l"s" schreibt, »diese
Niedergang der Sexualkultur 103
Reichtümer den Kindern dieses Mannes und keines anderen zu
vererben«. So begrü n d ete"sTcE~ciie Forderung der Monogamie für die
Frau. Verfolgt man aber die Entwicklung der menschlichen Gesell-
schaft weiter zurück, hinaus über den Punkt des gemeinsamen Ur-
sprungs von Reichtum in einer Hand und Einehe, so gelangt man zu
gesellschaftlichen Organisationen, die in erster Linie charakterisiert
und beherrscht sind durch das Geschlechtsleben, während die Pro-
duktion noch fast völlig unentwickelt ist und sich auf Gemeinwirt- '
schaff, auf primitivem Kommunismus aufbaut^). Diese Organisation
wird durch einen Prozess gestört, der in ständig fortschrei-
tender Einengung und Unterdrückung der genitalen
Freiheit besteht. Seine erste Erscheinung ist das Verbot des
Geschlechtsverkehrs im eigenen Clan, der Summe aller mütterlicher-
seits" Blutsverwandten. Dieser^^Pl- o z ess (f er Sexualunter-
d r ü c k~u ng ist seinem Beginne nach älter als der des
Klassengegensatzes zwischen Mann und Weib, er führt
diesen Antagonismus erst herbei. Spuren der Urgeschichte, die man
in der Mythologie auffindet, weisen auf Etem entar k at astrophen hin,
die die wirtschaftliche Existe nz der Ur menschen bedrohten und
^esellschäftiiche BewegungeiTaüsIöstcn, aus denen sich der erste An-
stoss zur Sexualeinschränkung in Form des Inzestverbots herleitete'').
Die fortschreitende Tabuieru ng und Ein schränkung ^j^Genitalität
Tief Hand^ in_jjandjnit der ' Ausbreitung materieller In teressen he-
stTiTimter^Gruppen in der Urgesellsc haft. Der Prozess bei den Tro-
briandern zeigt, däss es die In ter es seii_de^ Familie des Häuptlings
geg enüber dem Clan sind. In der Urzeit schufen prinzipiell nicht
anders als heute die materiellen Bedingungen des gesellschaftlichen
Daseins bestimmte gesetzliche und moralische Einrichtungen wie etwa
das Inzestverbol innerhalb des Clans, die Heiratsordnung usw., die
sich dann, indem sie jedes Individuum dieser Gesellschaft ideologisch
durchsetzten, in ihnen reproduzierten. (Vgl. letzten Abschnitt.)
Halten wir an der Morgan sehen Einteilung der Entwicklung
der menschlichen Gesellschaft in Wildhe it, Barbar ei und Zivilisation i^CUAjtU.
fest, so liegt der entscheidende Wendepunkt vom Urkommunismus '"^--^y^^---'
zur Entwicklung des Privateigentums und des Akkumulations- ""TT" ^"^^
intcresses am Übergang von der Wildheit zur Barbarei. Dieser Wende- '^■'^^Av^
punkt ist hauptsächlich charakterisiert durch den Untergang der v^ ")f Q^y*
1) Engels: »Der Ursprung der Familie usw.« S. 8. »Je weniger die Arbeit '^ V>V^yv*»-A Wj
noch entwickelt ist, je beschränkter die Menge ihrer Erzeugnisse, also auch
der Reichtum der Gesellschaft, desto überwiegender erscheint die Gesell-
schaftsordnung bestimmt durch die Geschlechtsbande.«
2) Ich kann die Richtigkeit der H ö r b i g c r sehen »Glazialkosmogonie« nicht
fachlich beurteilen. Seine Erkläruog der bei den meisten Völkern der Erde
in irgendeiner Form festgestellten Sintflutsagen, die er auf reale kosmische
Katastrophen zurückführt, verdienen aber entschieden unsere Beachtung.
Sie werfen ein völlig neues Licht auf die Eigenart der Daseinshcdingungen
der urm CD schlichen Gesellschaft,
1(04- Das Problem der SexualökoDomie
mutterrechtlichen Gesellschaft und die Evolution der patriarchali-
schen Jjewajt. Die menschliche Geschichte vor diesem Zeitpunkt
beträgt zeitlich ein Vielfaches der relativ kurzen Spanne, v^relche die
nachfolgende Periode der privatwirtschafllichcn Entwicklung umfasst.
Wenn seither die wirtschaftlichen Interessen einer Klasse von Be-
sitzern der Produktionsmittel und die gegenteiligen Interessen einer
Klasse von Unterdrückten das soziale Leben erfüllen, so waren es
vorher geschlechtliche Interessen; wenn nachher ^Privatwir^chaft
md K lassenteilung^die gesellschaftliche Struktur bestimmten, so
vorher die Geschlechtsgenossenschaft^), wodurch natürfich die Grund-
tatsache nicht berührt wird, dass auch vor her die jjrimitiven
Produk tionsverhältnisse die Basis waren, auf der sich die vor-
nehmlich geschlechtiich interessierte Gesellschaft aufbauen konnte.
Die Interessen der Individuen waren nicht nur hauptsächlich ge-
schlechtlich gerichtet und — befriedigt; auch die materiellen
Bedürfnisse waren gering. Das Besitz inte resse tind di e Habg ier s tei-
gerten sic h in dem Masse, wie die sexuellen Interess en~~ün.te rdrii^kt
werd en mussten. In einer bestimmten Phase der menschlichen Ge-
schichte ^rächten materielle Lebensbedingungen (zuerst Zusammen-
sehluss der Ürhorden, später der übergrosse Druck des Heiratsgutes)
die Sexualeinschränkung und dann die Sexualverdrängung in, G ang,
wodurch seelische Interessen für eine besj^immte Art wirtschaft-
li cher Evol ution, eben die privatwirtschaftlich e, frei wur-
den. Diese Interes sen waren Habgier und Akkumulati onsbedürfni s.
Sie ent standen au f Kosten der genitalen Interessen") .
Wir stehen vor der für die Geschichte der sexuellen Ökonomie
entscheidenden Frage, ob die Sexualeinschränkung zur Entwicklung
der menschlichen Gesellschaft überhaupt gehört oder nur zu einer
bestimmten ökonomischen und sozialen Stufe dieser Entwicklung.
Jenes wird von Freud und den meisten seiner Schüler, aber auch
von manchen Marxisten (z. B. Salkind) angenommen. Wir leugnen
auf Grund dieser Untersuchung die Zuordnung der Sexualunter-
drüekung zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft überhaupt.
1) »Man wird sehr bald wahrnehmen, dass in den Anfangsstufen der Wildheit
Manner- und Weibergerucinschaft innerhalb vorgeschriebener Grenzen der
Kern des gesellschaftlichen Systems war. Die ehelichen Rechte und Privi-
legien, die innerhalb einer Gruppe sieh bildeten, wurhsen aus zu einem
wundersamen System, welches die Grundlage wurde, auf der die Gesellschaft
^sich konstituierte.« {Morgan: »Die Urgesellschaft«. S. 41.)
2) Es ist also unrichtig, wenn psychoanalytische Ethnologen die Kulturen solcher
Primitiven auf ihre Triebkonstellation zurückführeu, etwa von analsadisti-
scher Kultur sprechen. In Wirklichkeit wurden die veränderten Triebstruk-
turen erst durch den fiesellschaftlichen Prozess geschaffen, indem er zuerst
die Genitalität einschränkte und dadurch sekundär eine Verstärkung der
nicht genitalen Partialtricbe bedingte. Das Akkumulationsbcdürfnis ist also
zunächst rein wirtschaftlich bedingt, bedient sich aber dann, indem es sich
in der psychischen Struktur verankert, der durch die Sexualcinschränkung
hervorgetriebenen Analität.
Sexual Unterdrückung als historische Erscheinung 105
nicht nur, weil wir darin eine mechanistische, undialeklische, pralv-
tisch aus der Gegenwart und historisch aus der Geschichte der Mensch-
heit zu widerlegende Auffassung erkennen, sondern auch, weil uns
die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsordnung
und Sexualordnung anders unterrichtet hat.
Indem die bisherige psychoanalytische Forschung den Kulturpro-
zess primär auf Triebkonflikten statt auf gesellschaftlichen Prozessen
basiert sah, verdunkelte sie auf ihrem eigenen Forschungsgebiet ein
Problem von einer noch nicht abzuschätzenden Tragweite. Wenn wir
den Triebkonflikl aus dem Zusammcnprall von primitivem Bedürfnis ;
(Hunger, Sexualbedürfnis) und Daseinsbedingung (Wirtschaft, Na- )
tureinflüsse, Technik) ableiten, so werden wir nicht nur der über-
wiegenden Rolle des sozialen Seins gerecht, wir erfassen vielmehr
gleichzeitig das Problem der Beziehung zwischen gesellschaftli ch-
ökonomischer Basis und ideologischem überbau und bekommen einen
Zugang sowohl "zur konservativen wie auch zur revolutionären Rolle
des ideologischen Prozesses einer Gesellschaft. Dieser Frage ist in
prinzipieller Hinsicht der letzte Abschnitt gewidmet.
Doch zunächst müssen wir noch einige Aufmerksamkeit der Rolle
des subjektiven Faktors in der Geschichte der Bedürfnisbefriedigung
schenken.
2. BEDÜRFNISBEFRIEDIGUNG
UND GESELLSCHAFTLICHE REALITÄT
Enge ls hat die Beteiligung der Sexualität am Aufbau und an
der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft früh geahnt. Wenn
sich seine diesbezüglichen Auffassungen nicht recht durchsetzen
konnten, so deshalb, weil die Engels sehe Auffassung der Sexualität
an der Funktion der Sexual 1 u s t vorbeiging, indem sie nur die Fort"
üDanzungsfunktion in Betracht zog, und weiter, weil ihm der Pro- '
zess der Sexualverdrängung mit dessen ökonomischem Hinter-
grund nach dem damaligen Stand des Wissens unbekannt sein musste.
Engels, der die Sexualität als geschichtsbildenden Faktor in die
materialistische Geschichtsauffassung einreihen wollte, schrieb im
Vor wort zu seinem Werk iiber den » Ursprung der Familie«:
»Nach der materialistischen Auffassung ist das in letzter Instanz bestim-
mende Moment in der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des un-
mittelbaren Lebens. Diese ist aber selbst wieder doppelter Art. Einerseits die
Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung
und den dazu erforderlichen Werkzeugen; anderseits die Erzeugung von Menschen
seihst, die Fortpflanzung der Gattung. Die gesellschaftlichen Einrithtutigen, unter
denen die Menschen einer bestimmten Geschichtsepoche und eines bestimmten
Landes leben, werden bedingt durcli beide Arten der Produktion: durch die
Entwicklung einerseits der Arbeil, andererseits der Familie.« (L c, S. VIIL)
Diese Ansicht kann nun korrigiert werden. Die Menschen stehen V
mit zwei physiologischen Grundbedürfnissen zum Zwecke ihrer Be-
106 Das Problem der Sexiialökonomie
friedigung in Wechselbeziehung zueinander, mit dem Nahrung s-
Jrieb und dem Sexualbedürfnis. Die Art und Weise, in der
die Gesellschaft die Befriedigung der lebenswichtigen Bedürfnisse
bewerkstelligt, ist in der Marxschen Soziologie erschöpfend behandelt.
Da der Nahrungstrieb keine Abwandlung erfahren kann wie der
Sexualtrieb, sondern nur besser oder schlechter befriedigt werden
kann, spielt er im Detailaufbau der seelischen Apparatur keine so
grosse Rolle wie der letztere.
Marx, unterscheidet im »Kapital« (Kautskys Volksausgabe, B. I.,
S. 3.) bei der Erörterung der Bedürfnisse, deren Befriedigung die Pro-
duktion dient, solche, die dem »Magen«, und solche, die der »Phan-
tasie« entspringen. Nun sind die von Marx so bezeichneten Bedürf-
nisse der »Phantasie«, wie die psychoanalytische Forschung nach-
wies, nichts anderes als die Umsetzungen und Entwicklungsabkömm-
linge der wandelbaren sexuellen Antriebe.
Diese treten als subjektive Faktoren*) in der Geschichte der
Mensehen und der Gesellschaft niemals als Bedürfnis nach Fortpflan-
zung, sondern als Bedürfnis, sexuelle Spannungen, die durch innere
Sekretion und äussere Reize bedingt sind, zu erledigen, als Verlan-
gen nach sexueller Befriedigung auf. Die Erzeugung von
Nachkommen, die Engels in seinem Buche »Der Ursprung der Fa-
milie« der Erzeugung von Nahrungsmitteln gegenüberstellt, erfolgt
objektiv, aber nicht subjektiv wie die Produktion von Lebensmitteln
zum Zwecke der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses. Sie ist also
keine Parallele zur Produktion von Lebensmitteln. Sie tritt ja als
Funktion erst sehr spät, nach der Geschlechtsreife auf, während die
eigentliche Parallele zur Befriedigung des Nahrungstriehes, die Funk-
tion der Sexualbefriedigung, zugleich mit dem Nahrungstrieb unmit-
telbar nach der Geburt in Erscheinung tritt. Nur in diesem subjek-
tiven Sinne als Bedürfnis zur Erledigung einer Spannung, die als
sexuelle Lust erlebt wird, einschliesslich ihrer suhlimierten Abwand-
lungen (Erfindergeist, technisches Interesse, wissenschaftliche For-
schung) dürfen wir die Sexualität analog dem Hunger als bewegendes
Moment in die Geschichte einführen.
SQ_wie _der Nahrungstrieb si ch sub jektiv als Hunger und objektiv
als »Tendenz« zur Erhaltung des Individuums präsentiert, so der
Sexualtrieb subjektiv als Bedürfnis nach entspannender Scxualbe-
friedigung und objektiv als »Tendenz« zur Erhaltung der Art. Diese
»objektiven Tendenzen« sind aber keine konkreten Gegebenheiten,
sondern bloss Annahmen. E s gibt in Wirklichkeit ebensowenig eine
1) (1934) Unter »subjektivem Faktor« versteht heute die politische Psychologie
im •wesentlichen die durchschnittliche psychische Struktur der Mensclicu einer
konkrcteu Gesellschaft. Diese Struktur selbst bestimmt sich durch die libidi-
nösen Kräfte, die sie bedingen. (Vgl. hierzu Parell: »Was ist Klassen-
bewusstsein?« Verl. f. Sex-Pol. 1934.
<C
Das Sexualbedürfßis als geschichtlicher Faktor 107
Tendenz zur Erhaltung der Art wie eine solche zur Erhaltung des
Individuums. Beide Arten der Erhaltung sind Tatliestände, zu deren
Erklärung man »objektive Tendenzen« heranzieht, wahrend sie in
Wirklichkeit gesichert sind durch Einrichtungen_der physiologischen
Apparatur: Die Spannung im Magen, die sich psychisch als Hunger
kundgibt, treibt (»Trieb«) zum Essen und erhält so das Individuum;
die Spannung in den Sexualorganen, insbesondere im Genitale, die
sich psychisch als Sexualverlangen (Verlangen nach Befriedigung-
Verlangen nach Lust) kundgibt, treibt zur sexuellen Betätigung im
Geschlechtsakt und erhält so auch die Art. Dadurch yerüert aber^ie
Annahme einer »objektiven Tendenz« ihren Sinn. Weder im Falle
des Hungers noch der Sexualbefriedigung denkt das Indi\iduum an
Selbst- bzw. Arterhaltung. Wir haben daher zu fragen;
1. Wie sind die natürlichen Abläufe der Befriedigung des Hungers
und der Sexualität? (Nahrungsphysiologie, Sexualphysiologie und
Sexualpsychologie.)
2. Wie ist die Gesellschaft strukturiert? Gewährleistet sie die Befrie-
digung dieser Grundbedürlnisse oder nicht, fordert oder hemmt
sie sie? (Soziologische Behandlung der Bedürfnisse.)
3. Wenn die Gesellschaft die Befriedigung dieser Bedürfnisse hemmt,
statt sie zu fördern, aus welchen Gründen tut sie es, weiche Klasse
oder Schicht hat ein Interesse daran? (Politische Ökonomie und
Soziologie.)
Und so, wie wir von einer Ökonomie des Nahrungshaushaltes
sprechen können, von der Art und Weise, in der die Gesellschaft die
Befriedigung des Nahrungstriebes aller ihrer Mitglieder hesorgt, müs-
sen wir von der ö kohom ie""d e*r"SVx'u a lität sprechen, als der^
Art, in der die Gesellschaft die Befriedigung des
Sexualbedürfnilsses regelt, fördert oder hemmt.
Es gibt einen geordneten und einen ungeordneten Stoffwechsel (Haus-
halt des Nahrungstriebes), ebenso gibt es einen geordneten oder
ungeordneten sexuellen Haushalt der Individuen.
Das hängt davon ab, wie sich die Gesellschaft mit ihren Institutionen
zu dieser Befriedigung stellt. Für die kapital istische Gesellschaf t trifft
zu, dass sie die Mehrheit ihrer Mitglieder zwingt, in ungeordnetem,
unökonomischem Nahrungshaushalt zu leben, aber ebenso in einem
unökonomischen sexuellen Haushalt. Es besteht die Aufgabe, zu un-
tersuchen, warum und mit welchen ihrer Institutionen die Gesellschaft
die Bedürfnisse des Hungers und der Sexualität in verschiedenen
Epochen verschieden ordnet. Für den gestörten Nahrungshaushalt
der JJehrzahl unserer GeseUschaftsmitglieder haben wir seit Marx
eine erschöpfende soziologische Erklärung: die Klasseneinteilung und
die Ausb eutung. Es sind aber wieder nur bestimmte Produktionsver-
hältnisse und ihnen entsprechende Interessen der herrschenden Klas-
108 Das Problem der Sexualökonomie
sen, die den ungeordneten Sexiialhaushalt, die gestörte sexuelle Öko-
nomie der Mehrheit der Mitglieder der Klassengesellschaft mit allen
ihren Folgen bedingen.
Wir müssen demnach die sexuelle Ökonomie des Individuums
von der sexuellen Ökonomie, die die Gesellschaft einrichtet, unter-
scheiden. Jene hängt, von den konstitutionellen Unterschieden der
einzelnen Individuen abgesehen, in der Hauptsache von der sexuellen
Ökonomie der Gesellschaft ab. Geordneten und ungeordneten sexuel-
len Haushalt beurteilen wir klinisch nach dem Mass an Spannungs-
ausgleich, der die psychische Apparatur der durchschnittlichen Indi-
viduen charakterisiert; ferner nach den Versuclien, die diese Appa-
ratur unternimmt, einen Spannungsausgleich herbeizuführen. An
anderer Stelle habe ich versucht, diese Kennzeichen anzugeben^):
Genitale Befriedigung im Sinne der orgastischen Potenz und freiströ-
mende Arbeitsleistung (Sublimierung) kennzeichnen den geordneten,
j sexuelle Ersatzbefriedigungen, neurotische Symptome und krampf-
j hafte Arbeitsleistung (Leistung nach dem Vorgang der Reaktionsbil-
j|dung) kennzeichnen den ungeordneten sexuellen Haushalt.
Die gesellschaftliche Ordnung des sozialen Seins bestimmt nun
Quantität und Qualität des Spannungsausgleichs der psychischen
Apparaturen. Mangelt es an gesellschaftlichen Möglichkeiten zur
sexuellen Befriedigung und Sublimierung, ist die psychische Appara-
tur durch Einflüsse der Erziehung derart verbogen, das sie bereit-
stehende Möglichkeiten nicht auszunützen vermag (Neurose), ist das
Mass an Zufuhr unlustvoller Reize infolge Not und Entbehrung zu
gross, so arbeitet der psychische Apparat mit Ersatzmechanismen,
die den Zweck des Spannungsausgleichs um jeden Preis verfolgen.
Das Ergebnis sind dann Neurosen. Perversion en, pathologische Cha-
rakterveränderungen, die dissozialen Erscheinungen des Sexuallehens
und nicht zuletzt die Arbeitsstörungen.
Gegenüber den vielen ökonomistischen Auffassungen des gesell-
schaftlichen Prozesses, die die Kategorie »gesellschaftliche Basis« mit
Technik und Natur, also den materiellen Lebensbedingungen allein
gleichsetzen und die Bedürfnisse dem »Überbau der Gesellschaft« zu-
rechnen, muss mit aller Eindringlichkeit betont werden, dass eine
solche Auffassung als platter Ökonomismus nichts mit Marxismus
zu tun hat. Einer Untersuchung über die Ideologie des Faschismus
entsprechend, muss ich hier daran erinnern, dass Marx die Grund-
bedürfnisse d^ »Basis« zurechnet. Zwar werden Bedürfnisse durct
den Fortschritt der Produktion ständig verändert und neu erzeugt;
das ändert aber nichts an der kardinalen Tatsache, dass sowohl die
Grundbedürfnisse von vornherein wie die erzeugten Bedürfnisse se-
1) »Der genitale und der neurotische Charakter« (Intero. Zeitschrift für Psyclio-
analyse 1929). Vfil. auch »Die Funktion des Orgasmus« (Intern. Psychoanaljt..
Verlag 1927) und »Charakteranalysc« (Verl. f. Sex-l'ol. Kopenhagen. 1933).
Geordneter und ungeordneter sexueller Haushalt 109
kundär Basis-El emontc sind, als subjektive Faktoren der Geschichte.
Marx schreibt in der »deutschen Ideologie« (I.Teil); »Die Vorausset- ^~
Zungen, mit denen wir beginnen, sind keine willkürlichen, keine Dog- 1%^^
men, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der ■ '
Einbildung abstrahieren kann. Es si nd die wi r kH c hen In divi-
duen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbe-
dingungen sowohl die vorgefundenen wie die durch
ihre Aktion erzeugten.« Das Sexualbedürfnis ist also^ wenn
es auch durch de n gesellschaftlichen Pr ozess verän dert wird, ein Ele-
ment der » Basis «, denn es macht e in ganz wesentliches Stück des.
»wirklichen Individuums« aus u nd bestimmt ganz entscheidend seine
»Aktionen«. Die Triehpsychologie und -physiologic erforscht also
Basiselemente in ilirer Wechselbeziehung mit anderen Basiselementen
und gesellschaftlicher Ideologie beim einzelnen vergesell-
schafteten Menschen. Das Sexualbedürfnis (als Subjekt und
Objekt der Geschichte) aus der Soziologie ausschalten, bedeutet eben-
soviel, wie wenn man das Nahrungs-, Kleidungs- und Wohnbedürfnis
ausschalten wollte. Nimmt man noch liinzu, dass die Produktivkraft
»Arbeitskraft« im wesentlichen umgewandelte Sexualenergie ist, so
bedarf es keiner breiten Ausführungen zum Beweise der Dringlichkeit
der sexuellen Ökonomie,
Es bleibt die Aufgab e, zu einer Charakterologie und Theorie der
Arbeitsökonomie auf Grund der sexuellen Ökonomie zu gelangen und
der Pädagogik klare Ziele zu setzen. Diese Aufgabe wird nur von
einer Gesellschaft geleistet werden können, die die Planwirtschaft
zum Zvrecke geordneter Bedürfnisbefriedigung aller Gesellschafts-
mitglieder verwirklicht haben wird. In der kapitalistischen Gesell- ■
Schaft ist in Anbetracht der sexualmoralisch "befangenen und von 1
Privatwirtschaft liehen Interessen durchsetzten Wissenschaft nicht
einmal an eine theoretische Klärung dieser Probleme zu denken.
Da die sexuelle Misere eine Folgeerscheinung der privatwirtsehaft-
lieh begründeten normativen Regelung des Geschlechtslebens ist, so
treffen wir sie immer dort an, wo die Rücksichten auf dauermono-
game Ehe das Geschlechtsleben bestimmen, also immer in der Klas-
sengesellschaft. Das Verhältnis der sexuellen Unterdrückung zu der
des unmittelbaren materiellen Lebens der Bevölkerung (Nahrung,
Wohnung, Kulturbedürfnisse), ist wie folgt bestimmt. Während^ die
materielle Not nur die beherrschte Klasse erfasst,_ist die sexueUe^Not
eine alle Schichten der klassengesells chaft umfassende Erschein ung,
die aber in den materiellen Gesetzen de r Klassenge sellschaft wurzelt.
Diese Gesetze geben auch der sexuellen T'Jot bei'deV materiell unter-
drückten Klasse eine andere Form als bei den besitzenden Schichten.
Die materielle Not des Hungers und der Wohnverhältnisse steigert
nicht nur die sexuelle Verelendung im Proletariat, sie nimmt ihm
neben den strengen Sexualgesetzcn die Möglichkeil, die Misere durch
110 Das Problem der Sexual Ökonomie
ernstliche Hilfe zu mildern, deren Inanspruchnahme den Besitzenden
uneingeschränkt offensteht. Stellen wir nun die Frage, w arum die.
kapitalistische Gesellschaft die Befriedigung des Sexualbedürfnisses
(analog der Frage nach der Befriedigung des Hungers) so und nicht
anders regelt, indem sie sie nämlich versagt, in bestimmte Formen,
etwa in den Rahmen der monogamen Ehe jiresst, bis zu einem be-
stimmten Alter sogar völlig unterdrückt, wie etwa in der Kindlieit und
TÜngend, so finden wir bestimmte ökonomi sche Interessen dieser
Gesellschaft. Wir sehen dann, dass es nur die privatwirtschaftliche
Gesellschaft ist, die ein Interesse an der Sexualunterdrückung hat, die
sie zur Aufrechterhaltung von zwei ihrer wesentliclislcn luslitulioncn,
der dauermonogamen'Sie und patriarchalischen Familie braucht. Dass
sie dabei schwere sexuelle Leiden, Neurosen, Perversionen, Sexual-
morde usw. und dadurch beträchtliche Einschränkungen der indivi-
duellen Arbeitsleistungen erzielt, ist Nebenprodukt, nicht absichtlich
von der Ordnung gewollt, aber von ihr unabtrennbar. Die so er-
zeugten seelischen Störungen sind der Ausdruck
gestörter sexueller Ökonomie^). Es ist klar: solange die
Dynamik der seelischen Erkrankungen und der Charakterbildung und
ihr Znsammenhang mit der Sexualität nicht bekannt war, konnte auch
die Frage nach der Geschichte der sexuellen Ökonomie nicht gestellt
werden. Freuds klinische Entdeckungen niussten dazu erst vor-
liegen und sie erwuchsen ja selbst auf dem Boden der kapitalistischen
Sexual Ordnung, welche Neurosen und mit ihnen die Methode zu ihrer
Erforschung und Behandlung schuf.
Diese Sexualordn ung hat aber nicht immer bestanden, sie hat sich
aus anderen Formen entwickelt, die früheren Stufen der gesellschaft-
lichen Entwicklung zugeordnet waren. Wenn die jeweilige Sexual-
ordnung auch bedeutsamen Einfluss auf die Entwicklung der Gesell-
schaft und insbesondere ihrer geistigen Produktion nahm, so ist sie
doch selbst immer das Ergebnis einer bestimmten gesellschaftlichen
jOrdnung der Produktion und Ver teilung von Lebensrni tteln gewesen.
In der Geschichte der Menschhei t schlug in einem be stimmten Ver-
hältnis zu den wirt schaftlichen Interessen der Gesells chaft die Sexual-
ordnung aus einer ihrem Wesen nach bejahenden, also die
sexuelle Ökonomie der Menschen fördernden, in eine sexualver-
neinende und unterdrückende, die sexuell unökonomi-
sche Lebe nsweise der Menschen bedingcjide. Ordnung um . Dieses
historische Ereignis vollzog sich in voller Abhängigkeit von der Un-
wandlung der mutterrechtlichen in die vaterrechtliche, der urkom.-
1) Vgl. hierzu »Die Funktion des Orgasmus.« (Int. Psa. Verlag 1927.) »Die
seelischen Leiden als soziales Problem.« (»Der sozialistische Arzt,« 1931 )
and »Die Sexualnot der werktätigen Massen und die Schwierigkeiten der
sexuellen Beratung« (in »Sexualnot und Sexualreforra«, Verhandlungen des
IV. Kongresses der Weltliga für Scxualreform in Wien, 1930), ferner »Charak-
tcranalyse« (Verl. f. Sex-Pol. Kopenhagen. 1933).
Sexualität als Klasscnfrage 111
mun isti sehen in die privatwirtschaftliche Gesellschaft. Die natur-
wüchsige Geseilschaft kannte keine SexiiaTuhterd rückung, so wenig
wie sonst eine natürliche Organisation von Lebewesen. Erst die Pri-
vatwirtschaft und das keimende Patriarchat schufen all die Ökonomi-
schen Interessen, die seither die gesellschaftliche Basis für die sexual-
verneinende Moral und die durch sie gestörte sexuelle Ökonomie der
Menschen abgeben. A us den fortlaufende n und sich entwickelnden^
Phasen der Privat- und Warenwirtschaft schöpft die negative Sexual-
moral ständig ihre Daseinslierechtigung, aber auch ihre W iclers'pruche.
Sie etabliert sich schliesslich im Kapitalismus als ausgesprochen
reaktionärer Faktor, wird einer der Hauptpfcilcr der Kirche, bringt^
die unterdrückten Klassen auch sexuell in eine bestimmte Abhängig-
keit vom Kapital und seiner Ordnung und schafft, indem sie die
gesamte Erziehung in und ausserhalb der Familie und die gesamte
Sexualforschung beeinflusst, bei den Massenindividuen von Kindheit
auf seelische Strukturen völlig im Sinne der Interessen der herr-
schenden Klasse. Sie interessiert uns daher nicht nur akademisch-
theoretisch, sondern in erster Linie praktisch vom Standpunkt der
proletarischen Revolution, der sie als hemmender F aktor entgegenwirkt.
Denn di e bürgerlic he Familie wird d urch die Sexualunterdrückung,
die sie leistet, auch um sich selbst ideologisch "zii "repröcluzierenT^ür
wichtigsten Ideologie fabrik des Kapitals. Sie wird aus diesem Grunde
von allen bürgerlichen Sozialpolitikern und Sexual- und Kulturfor-
schern als die Grundlage des Staates mit allen Mittehi verteidigt und
erschwert so die Erkenntnis ihrer reaktionären Rolle.
Die reaktionäre Wissenschaft erkennt diese Holle, die durch die
soziale Revolution aufgehoben wird, klarer^als "die bisherige revohi-
tionäre. Es geht um die konservative Bedeutung der Familicnbindung.
Hier nur ein Beispiel für viele: i
»Man geht wohl nicht fehl, wenn man als einen der Gründe, welcher die
bolschewistische Sexualstrafgesetz-»Rcforra« in die soeben gezeichneten Wege
trieb, das Bestreben bezeichnet, die ihnen so besonders unerwünschte Kraft der
elterlichen Autorität zu vernichten. Dadurch, dass dem unveränderlichen Gang
der Natur nach neue Menschen nur produziert werden können, indem sie als
zuerst ganz unmündige, körperlich -wie geistig hilflose Wesen ihren Eltern, voller-
wachsencn Menschen, gegeben werden, die den Kindern also mit unentrinnbarer
Notwendigkeit als höhere und stärkere Wesen, als »Autoritäten« gegen übertreten,
wird mit jeder neuen Menschwerdung in der Familie auch das Prinzip der
Autorität wieder erneuert. Es hat die teleologische Bedeutung, dass das unmündige
Kind doch schon sofort auch in seiner Unmündigkeit die Errungenschaften der
vorhergehenden Generationen sich aneigne, eben vertrauensvoll auf die Autorität
der Eltern sich stützend; diese wird damit zur ersten und tiefsten Grundlage
alles wirkliehen Kulturfortschritts, der nicht mit jeder Person neu beginnt,
sondern auf früheren Stufen stehend von ihm aus zu höheren Stufen weitersteigeu
soll. Diese intimste und stärkste Quelle der Autorität will der Bolschewismus
treffen und vernichten, indem er die Familie vernichtet«i).
II
1) Schmidt: »Der Ödipuskomplex der Psychoanalyse und die Ehegestaltung
des Bolschewismus.« »Nationalwirtschaft«, Blätter für organischen Wirt-
■ Schaftsaufbau. Berlin. (S. 20.)
112 Das Problem der Sexualökonomic
Die revolutionäre Bewegung, die seit auderthalh Jahrzehnten die
Welt aeuerdings erschüttert, vollendet den Prozess des Niedergangs
der patriarchalischen FamiUe, den der wirtschaftHchc Zersetzungs-
prozess des Kapitalismus eingeleitet hat. Der Zerfall der Familie geht
heute noch vorwiegend unbewusst vor sich als eines der Symptome
der Wandlung unserer gesellschaftlichen Organisation. Die bewusste
lind aktive Lenkung und Förderung dieses objektiven Zersetzungs-
prozesses wird erst möglich sein, wenn die soziologische Rolle der
Scxualunlerdrückung und der alle Individuen erfassenden Sexual-
verdrängung zur Gänze erkannj^ und in_ scxualpolitische Praxis um-
gesetzt sein wird.
Wenn die normative Ordnung des Geschlechtslebens durch E^e
un d Familie aus o bjektiven Gründen sich auflöst, so genügen die
Sclilagwörter »sexuelle Fr'eiheit«^ »Sexualität Tst Privatangelegenheit«
usw. nichts die sich von unserem WÖFlen unabhängig vollziehende,
von der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmte Neuordnung des
Sexuallebens zu begreifen und sie unserer bewussten Lenkung zu
unterwerfen. Chaos entsteht immer dann, wenn eine Gesellschaft den
geschichtlichen Prozess nicht begreift, dem sie gerade unterworfen
ist, und ihn daher nicht zu lenken vermag. Die mittelalterlichen
Ausstände schienen chaotisch, weil es damals keine Theorie des
Aufstandes gab. Für den soziologisch ungebildeten Bürger bedeutet
die soziale Revolution Chaos, weil er ihr Wesen nicht zu erfassen
vermag. Für den geschulten Revolutionär bedeutet der Bürgerkrieg
der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter den grandiosen Beginn einer
wirklichen Ordnung des materiellen' Lebens der Gesellschaft.
^^^.i."!?*: ^uf die normative Regelung des Geschlechtsiebens durch
Ehe und Familie? Der Bürger sagt warnend voller Schreck: das sexu-
elle Chaos. Die Geschichte der sexuellen Ökonomie lehrt aber, dass
die bisherige normative, Regelung, die überall Fiasko erlitt und das
sexuelle Chaos erst einführte, einer anderen Platz macht, die nicht
moralisch-negativ, sondern sexual-ökonomisch-positiv ist und dadurch
eine wirkliche Ordnung des Sexuallebens herbeiführt.' Das ist —
wohlgemerkt — nicht eine »Weltanschauungsfrage« sondern ge-
schichtlicher Prozess. Weltanschauungsfrage ist nur, ob man die
Geschichte richtig oder falsch sieht, ob man den Prozess erkennt oder
ängstlich zurückschrickt und sich hinter Theorien von der »e thi s^en
Natur des Menschen« und der »sittlichen Ordnung« versteckt.
Fassen wir die bisherigen Ergebnisse über die Gesetze der sexu-
ellen Ökonomie, wie sie sich aus den klinischen und soziologischen
Untersuchungen des Zusammenpralls von Triebbedürfnis und ge-
sellschaftlichem Prozess ergeben, zusammen:
1. Die raoraiisclie Regulierung deS Geschlechtsle-
b e n s durch die privatwirtschaftliche und bürgerliche Gesell-
schaft arbeitet mit Hilfe sexueller Hemmungen, die sie im Indi-
Sexualeinschränkung als reaktionärer Faktor 113
viduum von Kindheit auf verankert. Diese Hemmungen erzeugen
einen unlösbaren Widerspruch, indem sie einerseits durch die
Sexualverdrängung eine sexuelle Stauung bedingen und so die
sexuellen Bedürfnisse steigern, andererseits die Struktur der Person
im Sinne einer verminderten bis vollends gestörten Befriedigungs-
fähigkeit verändern. Aus diesem Widerspruch, der eine unaus-
gleichbare Differenz zwischen Bedürfnisspannung und Befricdig-
barkeit erzeugt, ergeben sich als energetische Ausgleichreak-
tionen die sexuellen Krankheilen, N eurose n, Perve rsionen und
unsozialen sexuellen Verhaltungsweisen.
2. Bei jedem Individuum setzt die Beseitigung dieser Widersprüche
die Beseitigung der moralischen Sexualhemmung voraus. An ihre
Stelle tritt die^^s^xjual ö konomi sehe Regulierung, die
Selbststeuerung des Geschlechtslebens durch die Sexualbefriedi-
gung, die die moralische Regulierung überflüssig macht. Das
erfolgt beim Einzelnen durch die psychotherapeutische Behebung
der Sexualverdrängung und die Herstellung der orgastischen
Potenz. Durch das sexuell ökonomische Geschlechtsleben wird
den asozialen und krankhaften Regungen die Energie entzogen.
3. Die sexuelle Befriedigung steht in keinem Gegensatz zur Subli-
rnierung sexueller Triebkräfte in der Arbeitsleistung; diese setzt
jene vielmehr voraus. Die Beziehung zwischen Sexual befriedigung
und Sublimierung ist keine mechanische (»je mehr Sexualunler-
drückung, desto mehr soziale Leistung«), sondern eine dialekti-
sche: Bis zu einem bestimmten Grade kann die sexuelle Energie
sublimiert werden; geht die Ablenkung zu weit, so schlägt die
Förderung der Sublimierung in ihr Gegenteilj^eine Störung der
Arbeitsfähigkeit, um.
4. Es gibt hohe Kulturen ohne Verdrängung der Sexualität, ins-
besondere der Genitalität, ja mit ausgesprochener Sexualbejahung
und Befürsorgung. Die Sexualverdrängung ist also nicht die
Voraussetzung der kulturell^n^^a^wicklung undl_deLW
Ordnung überhaupt.
5. Die sexualmoralische Regulierung des Geschlechtslebens und mit
ihr die Sexualverdrängung setzen ein mit dem Interesse am Pri-
vatbesitz im Anfang der Klassengesellschaft. Ehe und Familie
dienen diesem Interesse und mit Rücksicht auf diese Institutionen
erhebt sich die Forderung nach vorehelicher und ausserehelicher
Keuschheit.
6. Bei sexualbejahender gesellschaftlicher Organisation gibt es keine
Neurosen, keine Perversionen, keine sexuelle Dissozialität, keine
neurotischen Arbeitsstörungen in gesellschaftlich interessierendem
Masstab. (Das wäre der ethnologische Beweis, dass die Neurosen
Ausdruck gestörter sexueller Ökonomie sind.)
7. Die gesellschaftlich befürsorgte Sexualbefriedigung regelt die
jH Das Problem der Scxualökonoroie
sexuelle Sozialität automatisch, setzt aber Nichtvorhandensein
negativer Sexualmoral und sexualbejahende Erziehung von Kind-
heit an voraus.
8 Die sexualverneinende Moral, die sich aus der Ehe- und Familien-
* Situation ableitet, erzielt in gesellschaftlichem Masslabe das
Gegenteil des beabsichtigten. (Neurosen, Perversionen und sexu-
elle Dissozialität.)
9. Sexualbejahung und sexualökonomische Regulierung der Ge-
schlechtlichkeit charakterisieren die kommunistische Urgesell-
schaft- die Gesellschaft der Warenwirtschaft (Privateigentum —
Ehe - Familie) führt die sexualmora li sehe Regulierung
und mit ihr die Unterdrückung der kindlichen und jugendlichen
Sexualität ein. .
10. Der Wegfall der Warenwirtschaft beseitigt mit Notwendigkeit die
sexualmoralische Regulierung und setzt an ihre Stelle auf höherer,
naturwissenschaftlich und technisch gesicherter Ebene wieder
die sexualökonomisehe Regulierung und Befürsorgung des Ge-
schlechtslebens. Das wird zur Voraussetzung des Wegfalls der
seelischen Erkrankungen und der sexuellen Dissozialität der In-
dividuen, aber nicht zuletzt auch zur Grundlage ihrer geste igerten
intellektuellen Entwicklung.
3. PRODUKTION UND REPRODUKTION DER SEXUALMORAL
Wir haben bei der Ableitung einiger sexualmoralischer Grund-
elemente der Trobriander aus den ökonomischen Interessen des
Häuptlings und seiner Familie das Entstehen von sexuellen Ideolo-
gien unmittelbar verfolgen können. Es bleibe offen, ob diese Art der
Entstehung gesellsehaftliehcr Moral allgemein oder nur für bestimmte
Elemente zutrifft. Fassen wir den Prozess der sexuellen Ideologie-
bildung z usammen .
' Bis zum Eingreifen wirtschaftlicher Interessen wird das Sexual-
leben beherrscht von den natürlichen Regelungsgesetzen des Lust-
Unlust-Prinzips. Sie verdichten sich zu gesellsehaftlichen Sitten und
Gebräuchen, wie etwa zum ulalile und katuyausi, die nicht gegen
die sexuelle Befriedigung gerichtet sind, sondern im Gegenteil deren
Sicherung dienen. Die ersten Ansätze der sexualfeindlichen Moral
erscheinen als Forderung einer Gruppe in der Gesellschaft, in deren
Händen die wirtschaftliche und politische Macht liegt, an die übrigen
Mitglieder der Gesellschaft zum Zwecke der Sicherung und Steigerung
r*ri<HAi;#W., dieser Macht. Die Forderung des Nutzniessers wird also zur Moral
des NutzenspeiTaers." Die Produktionssphäre der Moral hegt
in einer Gruppe von Mächtigeren.
ZÜrAufrechterbaltung der Moral genügt aber nicht eine einmalige
•Id
* 11
'W^HuÜt.'^^wU« . v • ^w>W/4(^*v*/w Lm*Uu„
s.
Produktion und Reproduktion der Scxualmoral
11&
Forderung oder Gesetzgebung. Die ständige Einengung der Bedürfnis-
befriedigung durch äusseren Zwang hätte zur Folge, dass sich die
neue Moral immer wieder neu aufdrängen und durchsetzen müsste;
sie hätte bei jedem erwachsenen Mitglied der Gesellschaft dauernd
Widerstände zu überwinden und könnte sich so kaum halten. Sie
muss sich, um ihren ökonomischen Zweck ganz zu erfüllen, tiefer
verankern; sie muss in früher Kindheit einzuwirken beginnen, solange
die Widerstände des Ichs leicht zu überwinden sind, und sie muss
aus einem äusseren Anspruch der Gesellschaftsgruppe zu einer in-
neren Moral aller Gesellschaftsmitglieder werden. Auf welche Weise
geschieM das? I ndem sie d ie psychische Struktur der Massenindi-
viduen verändert. Diese Veränderung gehl in der Sexualsphäre vor
sich mit Hilfe sexueller Strafangst. Die Angst vor Strafe für sesuelle
Vergehen kann den sexuellen Antrieb nur dann auf die Dauer unter-
drücken, wenn sie ihn dem Bewusstsein entrückt, das heisst ver-
drängt, und Gegenkräfte gegen ihn mobilisiert und in der Persön-
lichkeit fest einbaut. Der Konflikt, der sich ursprünglich zwischen
einem sexuellen Ich und einer sexualfeindlichen Aussenwelt abspielte,
wird dadurch zu einem Konflikt zunächst zwischen einem Ich, wel-
ches Angst vor Strafe hat, und einem Ich, welches bewusst nach der
Sexual befriedigung verlangt, um schliesslich zu einem (vorüber-
gehend) stabilen Zustand eines moralischen Ichs überzugehen, das
eine verdrängte Sexualregung dauernd niederhält. Das früher lust-
bejahende Ich wurde selbst sexualablehnend, moralisch. Die g _e-
sel 1 seh a f 1 1 i ch e Moral hat sich im Individuum re-
produziert. Da das bei allen Individuen, die der gleichen sexual-
verneinenden ökonomischen Situation unterworfen sind, der Fall
ist, da diese so veränderten Individuen auf ihre Nachkommen bewusst
sich er nicht im Sinne ihrer verdrängten, sondern ihrer moralischen
Haltungen einwirken werden, da ferner die bestimmte ökonomische
Situa tion fortbesteht und die moralischen Forderungen der macht-
habenden Schicht ständig neu jjroduziert, so dass auch der äussere
gesellschaftliche Druck fortwirkt, ist die Sexualverneinung und
-Verdrängung dreifach gesichert und mit ihr sind es auc h d ie öJio.-
nomi schen I ntere ssen der Machthaber.
Produktion und Reproduktion der Moral sind also auseinander-
zuhalten, jene erfolgt in der herrschenden Gruppe als »kulturelle«
Forderung, diese in allen Gesellschaftsmitgliedcrn als individuelle
Moral. Die Beziehung der ökonomischen _ Basis zum ideologischen
Überbau ist also keine unmittelbare, sondern die Ideoiogiebildung
erfolgt durch viele Zwischengliede r hi ndurch, die wir etwas sche-
matisch wie folgt aufstellen können:
1. Bestimmte Entwicklung der Produktivkräfte und dementspre-
chende Produktionsverhältnisse.
u
/
9'
jjg Das Problem der Sexualökonomie
2. Bestimmte wirtschaftliche Interessen einer Gescllschaftsgruppe
oder Klasse.
3. Dementsprechende moralische Forderungen an die Gesellschafts-
mitglieder.
4. Einwirkung dieser Forderungen auf die Bedürfnisse der Massen-
individuen, Einschränkung der Bedürfnisbefriedigung, Erzeugung
sozialer Angst usw.
5. Ve_r_anker_ung der moralischen Forderungen der Gruppe in den
Masscnindivi'duen durch Verwandlung ihrer wandelbaren Be-
dürfnisse, durch Veränderungen ihrer psychischen Strukturen im
Sinne der neuen Moral: ständige Reproduktion durch Verinnerli-
chung der Forderungen.
6. Innerliche Akzeptierung der Moral durch die Massenindividuen;
individuelle Jdeologiebiidung, die bei der Summe der Massen-
individuen wieder zur" (reproduzierten) gesellschaftlichen Moral
wird.
Diese gesellschaftliche, in allen Individuen verankerte und sich
ständig reproduzierende gesellschaftliche Moral wirkt dann auf die
ökonomische Basis im konservativen Sinne zurück: Der Ausgebeutete
bejaht selbst die Wirtschaftsordnung, die seine Ausbeutung garantiert;
der sexuell Unterdrückte bejaht selbst die Sexualordnung, die seine
Befriedigung einschränkt und ihn krank macht, und er wehrt selbst
-eine andere Ordnung gefühlsmässig ab, die seinen Bedürfnissen
entspräche. So e rfüllt die_ Moral ihren soziologischiökono mischen
Zweck.
Betrachten wir das an einem heute sehr aktuellen Beispiel: Das
Kapital verteidigt die Aufrechterhaltung der Sexualverdrängung mit
allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln. Es hebt aus Gründen der
Sittlichkeit den Abtreibungsparagraphen nicht auf, obwohl es durch
ihn den ursprünglichen Zweck der Erzeugung von industriellen Re-
' servearmeen nicht mehr erreicht. Die Geburtenzahl geht in den
' kapitalistischen Ländern ständig zurück, aber für eine Reservearmee
ist anderweitig, die kapitalistische Rationalisierung, aufs Beste gesorgt.
Es bekämpft die Propaganda der Empfängnisverhütungsmittel und
engt die Funktion der Sexualität auf die Fortpflanzung ein; es stemmt
sich auch mit allen Kräften gegen eine Ehereform. Es unterdrückt
nach wie vor die jugendliche Sexualität mit Hilfe der Kirche, der
Schule, des Elternhauses und der Wohnungsnot. Es wird mit der
Prostitution und den Geschlechtskrankheiten nicht fertig, weil ihm
iidie »Sittlichkeit« der Frauen und Mädchen wichtiger ist.
Die gesellschaftliche Sexualverdrän gung ist^ nämlich ^„Reaktio-
närer Faktor von grossem Gewicht, auf ihre retardierende Wirkung
im gesellschaftlichen Prozess kann nicht verzichtet werden, denn:
1. Sie stützt als mächtige Kraft die Kirche, die sich mit Hilfe der
Produktion und Heproduktion der Sexualmoral ^''
Sexualangst und des sexuellen Schuldgefühls in den ausgebeuteten
Massen zutiefst verankert.
2. Sie stützt die Familien- und Eheordnung, welche zu ihrem Be-
stände Verkümmerung der Sexualität erfordert.
3. Sie macht die Kinder den Eltern und auf diese Weise später
die Erwachsenen der staatlichen Autorität und dem Kapital
hörig, indem sie in allen Masseiiindividuen autoritäre Ängst-
lichkeit erzeugt.
4. Sie lähmt die intellektuelle kritische Kraft der unterdrückten
Massen, denn die Sexual Verdrängung verbraucht viel psychische
Energie, die sonst intellektuell verarbeitet würde.
5. Sie schädigt bei vielen, sehr vielen, die psychische Agilität, macht
gehemmt und lähmt die au flehnenden Kräfte im m aterieiLunter::
drüc kten Individuum.
Das alles zusammengenommen bedeutet nichts anderes als die
ideologische Verankerung des herrschenden Wirt-
schaftssystems in den psychischen Strukturen der
Angehörigen der unterdrückten Klasse und dient so A-«*.«^*^,
der politischen Reaktion. Das_isL^r„soziolQSische Sinn der Sexual. i^m^^oj^
Unterdrückung im Kapitalismus: Es gehört nicht viel Bddnng, son- ^Jl^
dern nur ein wenig intellektueller Mut dazu, zu erkennen, dass die
kapitalistischen Mächte den Kolonialvölkern den christlichen Glauben,
die Kleidung und die »Sittlichkeit« nicht aus Besorgtheit um die
Kultur bringen, sondern weil sie in den einzelnen Individuen den
Geist des europäischen Kulis verankern, sie überdies mit Alkohol
schwächen und dienstbar machen wollen. Und diese Verankerung
des Kapitalismus in den psychischen Strukturen des Primitiven, die
Aufseher und Polizeiknüppcl sparen soll, gelingt am besten durch \
die Unterjochung der revolutionären Kraft, die befriedigter Sexua^ \
iität entspringt. ^ , , .. <
' Konnte man den soziologischen Sinn der Sexualverdrangung und J'-*w
ihre kapitalistische Funktion finden, so kann es nicht schwer sein, "•■
auch die Widersprüche zu entdecken, die sie erzeugt und die sie selbst -^-i-/A**as.
zerstören. Festigt nämlich die Sexualverdrängung auf der einen Seite
die Ehe- und Familieninstitution, so untergrabt sie sie gleichzeitig
durch die sexuelle Misere der Ehe ^^^ f^^^'^^'^^l^ dieser Grund-
lage entsteht. Macht sie die Jugend ^^^^^^^^/j'^^^^/^" ^r-ci.
senen botmässig, so erzeugt sie ^^^ ..^Z^''%Z^^ ll^^^^^
Rebellion der Jugend, die zu einem machtigen Hebel auch der sozialen
Bewegung wird, lenk sie bewusst ist iind den Anschluss an die pro.
fetlrlS Bewkmng findet, die den Kapitalismus untergräbt. Die
^fdeSrüche der Sexualunterdrückung suchen eine Losung in der
wiaersprucne ql kapitalistischen Lander ungefähr seit der
sexuellen Krise die d^^^P'^ „dem Masse erfasst. Sie schwankt
Jahrhundertwende m standig sicib viiwanKt
118 Das Problem der Sexual Ökonomie
in ihrer Intensität mit den wirtschaftlichen Krisen, von denen sie
auch unmittelbar abhängt. (Zunahme der Ehescheidungen in der
Wirtschaftsitrise.) Die Verschlechterung der materiellen Lage der
. Massen lockert nicht nur die familiären und ehelichen Fesseln der
Sexualität, sie treibt mit der Rebellion des Nahrungstriebes auch die
der sexuellen Bedürfnisse hervor. Das ist die einfache Erklärung
für die Theorie vom »Niedergang der Moral« in Krisenzeiten. Es
t ist bezeichnend, dass das Kapital und die Kirche in der wirtschaft-
i liehen Krise nicht nur den materiellen sondern auch den sexualreak-
'■ tionären Druck auf die Massen bis zum blutigen Terror verstärken.
Die Botschaft des Paptes über die christliche Ehe Ende 1930 gehört
in diesen Zusammenhang von materieller und sexueller Rebellion.
Ebenso etwa der gewaltsame Zusammenstoss der tschechischen Staats-
gewalt mit den Mitgliedern von proletarischen Wandervereinen im
Mai 1931, denen der Staatsanwatt das übernachten in Zelten ohne
Trauschein untersagt hatte. Der Zusammenstoss hatte viele Ver-
wundete gekostet. Hier enthüllte sich die Sexualreaktion krass und
zum ersten Male in dieser Form. Kein Zweifel, dass eine klassen-
mässige Sexualpolitik den derzeit noch vorwiegend latenten Konflikt
an die Oberfläche und im Rahmen der revolutionären Bewegung zur
Entscheidung treiben wird.
Die gesellschaftliche Sexualunterdrückung untergräbt sich also
selbst, indem sie eine sich ständig steigernde Divergenz erzeugt
zwischen sexueller Bedürfnisspannung und äusserer Befriedigungs-
möglichkeit sowohl wie innerer Befriedigungsfähigkeit. Dieser Pro-
zess wird beschleunigt durch die politische Aufklärungsarbeit der
revolutionären Parteien, die an einem anderen Punkte die Hörigkeit
der Massen lockern, aber auch durch die Zusammenfassung der
Massen in immer grössere Kollektivverhände, die den inneren Zu-
sammenbruch der Ehe- und Familienordnung von aussen ebenso
fördert, wie es die wirtschaftliche Zerstörung der Familie durch die
kapitalistische Rationalisierung des Produktionsprozesses besorgt.
Hier ergibt sich ein neuer Widerspruch zwischen der wirtschaftlichen
Auflösung der Familie in den Massen und der Notwendigkeit, vom
Standpunkt des Kapitals und der Kirche, an der Familien- und Ehe-
ideologie festzuhalten und sie in der neuen Generation immer neu
zu reproduzieren.
Erkennt die_politische Reaktion die Gewichtigkeit der reaktionären
Rülie der Sexualunterdrückung und^ richlet sie sich in ihren Mass-
nahmen danach, so muss die revolutionäre Partei die Bedeutung der
sexuellen Rebellion erkennen und für sie gegen die Kirche und das
' Kapital eintreten. Und die soziale Revolution, das lehrt die Sexual-
gesetzgebung der Sowjetunion, hebt die sexuelle Unterdrückung auf^).
1) Die in der Sowjetunion vorhandenen asketischen Strömungen bedürfen einer
eigenen Untersuchung.
Rückwirkung der Ideologie auf die ökonomische Basis 119
Sie tut es, weil die privatwirtschaftliche Grundlage der Sexualver-
drängung fortschreitend vernichtet wird. Ehe und Familie im privat-
wirtschaftlichen Sinne hören auf, gesellschaftlieh notwendige Insti-
tutionen zu sein. Mit der Ehe und der Familie verschwindet aber
auch der kardinale Mechanismus der Sexualverdrängung und der
Erziehung zur Autoritätsgefolgschaft. Die Sexu al yern ei nung
schlägt wieder in Sexualbejahung um.
Der kommunistische Urzustand kehrt auf höherer wirtschaftlicher
und kultureller Ebene als sexualökonomische Regelung der Be-
ziehungen der Geschlechter wieder. Er muss wiederkehren, da die
Motive, die diese Regülierungsart aufhoben, vergingen. Mag sich" aücfT
noch die alte Moral als »Ideologie ohne Basis« eine bestimmte Zeit
lang in der neuen Gesellschaft halten, sie kann sich in den Massen-
individuen nicht mehr reproduzieren, weil die Jugend weder gesell-
schaftlich, noch familiär oder materiell unterdrückt ist. Die Bewusst-
heit der soziologischen Notwendigkeit dieses Prozesses würde ihn
nur rascher und reibungsloser gestalten. Die Se xualwissenscha ft tritt
aus dem Dienst der Sexualunterdrückung in den der sexualökonomi-
schen Ordnung. Die Sexualpädagogik bekommt das positive Ziel der
sexualökonomischen Erziehung statt des bisherigen negativen der
moralischen Sexualunterdrückung. Dadurch verliert die Kirche ihren
letzten Halt in der psychischen Struktur der Massenindividuen. Die so-
zialistische Planwirtschaft erfüllt endlich die gesellschaftliche Funktion
der Vergesellschaftung der Menschen, die Befriedigung der durch die
Menschwerdung gesteigerten biologischen und der durch die Technik
entfalteten kulturellen Bedürfnisse zu sichern. Die geistigen Fähig-
keiten der Massenindividuen können nun auf Grund der gesellschaft-
lichen Befürsorgung der Bedürfnisbefriedigung unendlich gesteigert
werden. Damit erledigen sich die Prediger des objektiven Geistes und
der sittlichen Natur des Menschen in jeder Gestalt. Das Kulturgerede
weicht dem kulturellen und s exuellen Erwachen der^rj_die,^n_Reich-
tum der Gesellschaft schaffen.
Vor uns steht aber die weitere Aufgabe, das Gebiet der Sexual-
politik betreffs der neuen Widersprüche des sexuellen Lebens in der
Sowjetunion theoretisch und praktisch restlos aufzurollen.
1^
^
"-■>■■■■■-
ANHANG
11
■I
I
i
AJi,
ROHEIMS „PSYCHOANALYSE PRIMITIVER
KULTUREN'^
1. Roheims Methode der ethnologischen Forschung
Im Frühling 1929 unternalim der ungarische Ethnologe und
Psychoanalytiker Roheim mit Unterstützung der Prinzessin Marie
Bonaparte eine Expedition nach Australien und New-Guinea. Das
Ergebnis dieser mehrjährigen Expedition liegt nunmehr in einem vor-
läufigen Bericht, der einige Hundert Seiten umfasst, vor^). Die Er-
gebnisse seiner Forschungen, soweit sie nicht nur Beobachtungen
wiedergeben, sondern zur Theoriebildung fortschreiten, werden nur
verständlich, wenn man den Grundzug der Methode erfasst, die R.
anwandte, um, wie er beabsichtigte, der psychoanalytischen Ethnologie
»eine solide Basis« zu geben.
R.'s Motiv der Expedition war, wie er schreibt, diejenigen Theorien
zu entkräften, die an Hand mutterrechtiicher Organi sationen da s
allgemeine Vorkommen des »Ödipuskomplexes« leugnen. R. vrill also
die Allgeraeingültigkeit dieses Komplexes7"drhr^inen biologischen
Charakter beweisen. Und dies wird zur Urquelle seiner Fehler. Er
wendet sich gegen Maiinowskn), der auf Grund der Erforschung einer
mutterrechtlichen Gesellschaft den Standpunkt vertrat, dass der Kind-
Eltern-Konflikt, der von Freud in der patriarchalischen Gesellschaft
erforscht wurde, eine gänzlich verschiedene Struktur zeigt, wenn man
eine mutterrechtlichc Gesellschaft studiert.
Ob man dann die kindlichen Konflikte noch mit dem Ausdruck
»Ödipuskomplex« bezeichnet, wenn der eigentliche Erzieher nicht der
eigene Vater, sondern der Mutterbruder ist, und auch die übrigen
Verhältnisse andere sind, oder ob man von »Ödipuskomplex anderer
Form« spricht, ist eine Frage von sekundärer Bedeutung- R. hatte
aber den Vorsatz mit auf die Reise genommen, nachzuweisen, dass
der Ödipuskomplex, in der Form, wie Freud ihn in Europa fand, eine
1) Roheim: »Die Psychoanalyse primitiver Kulturen«, Imago, 1932, H, 3/4.
2) Professor für Ethnoloßit; an der »School of Economics«, London.
J24 Rohcims »Psyehoanalysi: primitivur Kulturen«
allgemeine biologische Tatsache sei. Auf Grund der Forschungen
Malinowskis hatte auch ich die biologische Natur des uns bekannten
typischen Kind-Eltern-Konflikles bestritten.
R. versucht nun, mit Hilfe der psychoanalytischen Deutungsiechnil<.
die Kultur der Primitiven zu ergründen, und er glaubt dies tun zu
können, indem er die Gesellschaft, ihre Kultur und Zivilisation mit
einem Individuum gleichsetzt. Dazu ist zu sagen: Die Untersuchung
einer gesellschaftlichen Organisation ist mit der psychoanalytischen
Deufungsmethode nicht zu führen, denn die Gesellschaft hat kernen
Trieb, kein Unbewusstes. kein Übcr-Ich, kein Seelenleben. Sie kon-
stituiert sich aus gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Men-
schen, die einen psychischen Apparat bestimmter Struktur besitzen.
Nur diese Struktur der Menschen kann psychoanalytisch untersucht
werden, und sofern die Ergebnisse dieser Untersuchung einen kollek-
tiven, typischen, also massenpsychologischen Tatbestand betreffen,
erklären sie auch die Struktur der betreffenden gesellschaftlichen
Ideologie. ^
Die Menschen bilden zwar die Gesellschaft und schaffen die gesell-
schaftlichen Inhalte des Lebens, aber sie schaffen sie nur unter
bestimmten äusseren Bedingungen (wirtschaftlichen, klimatischen,
geographischen etc.). sind also in ihren Willensäusserungcn be-
schränkt; darüber hinaus verselbständigen sich die von ihnen ge-
schaffenen gesellschaftlichen Beziehungen mit eigener, eben sozio-
logischer Gesetzlichkeit, denen die Menschen dann unterliegen. Die
Soziologie ist im wesentlichen die Lehre von den die Menschen beherr-
schenden, von ihnen unabhängigen Gesetzen des gesellschaftlichen
Seins, die ausserpsychisch, sozial-ökonomisch sind. Wer sie zugun-
sten der psychischen Kräfte übersieht, ist Psychologist; wer die
psychischen Strukturen der Menschen ausschaltet, muss Ökonomist
werden und dem metaphysischen Soziologismus verfallen.
R. leugnet nicht nur die grundlegende Funktion der sozial-ökono-
mischen Gesetze; seine Deutungstechnik ist von derart primitiver Art,,
ähnelt so sehr der »Kunst« der wildesten Analytiker, dass man ihn
auch als Psychoanalytiker ablehnen muss.
»So wie der Analytiker bei der therapeutischen Analyse durch
Deutung der Übertragung imstande ist, die ursprüngliche infantile
LibJdoorganisation zu rekonstruieren, so kann der ethnologisch for-
schende Analytiker aus den Übertragungsträumen (der Primitiven)
erkennen, wie die Libidoorganisation und der Charakter eines Volkes
beschaffen ist,« heisst es auf S. 308/309. Zunächst ist richtigzustellen,
dass wir die infantile Libidoorganisation unserer Analysanden nicht
durch Deutung rekonstruieren, wie Roheim es tut, sondern unsere
Deutung fasst bloss unbewusstes Material, das der Analysand bot.
zusammen und verleiht ihm die Sprache des Bewusstseins. Ohne
unbewusstes Material gibt es keine Deutung. Alles andere ist wilde
Ablehnung der Rohcimschen Deutungstechnik 125
Analyse. Zur Rekonstruktion der kindlichen Vorgeschichte ist die
wirkliche Reproduktion der Kindheit in Erinnerung und Aktion not-
wendig. R. analysiert die Träume des »Eingeborenen X, zugleich aber
eine menschliche Gesellschaft, nämlich die, der X. angehört«. (S. 317.)
Nehmen wir einen Augenblick an, dass es statthaft wäre, die Struktur
der Gesellschaft aus der Struktur der Träume zu erschliessen, statt
umgekehrt die Struktur der Träume aus der Struktur der Gesellschaft,
die die Triebstruktur des Individuums bestimmt; dazu würde doch
zu allererst die freie Assoziation gehören; aber nicht einmal dies
bringt der Primitive zustande, aus dessen Träumen R, die Möglich-
keit zu schöpfen glaubt, im Gegensatz zu den Soziologen, »die Formel
für den unbewussten Wunsch zu finden, durch den jede Gesellschafts-
struktur determiniert ist, ebenso wie jedem Traum und jeder Neurose
ein System solcher unbewusster Wünsche zugrundcliegt«. (S. 320.)
»Einen Primitiven aber kann man unmöglich zum freien Assoziieren,
bewegen, man kann nichts anderes tun als warten, bis er es einmal
unwillkürlich tut.« Wir können Roheim für den schlechten Dienst,
den er hier mit seiner »Methode der Kulturforschung« der Psycho-
analyse leistet, ganz und gar nicht dankbar sein. Wir mühen uns
in schwerer Arbeit ab, unsere Analysanden zur freien Assoziation
zu bringen, um ihre Kindheit zu rekonstruieren, und Roheim erschloss
aus einem Primitiven, der zur Assoziation nicht bereit war, eine ganze
Kultur.
»Man mag also ruhig von der Methode der freien Assoziation
Gebrauch machen, um ein vollständiges Bild der zu untersuchenden
Kultur zu erhalten,« um dann nur zu bestätigen, was schon vorher
angenommen war.
Machen wir uns einen Augenblick klar, wozu die ethnologische
Forschung dient und was sie will, um voll zu begreifen, was R. mit
seiner Methode unternahm. Die Menschen stehen dauernd im
Kampfe um günstigere Lebensformen, um bessere Naturbewältigung,
um ein wenig Klarheit über ihr gegenwärtiges Sein. Kennt man die
Geschichte der Vergangenheit, so hofft man, mit der Gegenwart besser
und leichter fertig werden zu können. Die alltägliche Praxis drängt
zur Forschung, um die neue Praxis besser zu leisten. Wir sind daran
interessiert, die alten Wirtschaftsformen und Familienformen zu
erforschen, um den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung, dem
wir unterworfen sind, zu verstehen, ein wenig zu lenken und schliess-
lich meistern zu können. R. ist über derartige Dinge erhaben: »Alle
Veröffentlichungen dieser Schule (»functional school«), mögen sie
nun Kanus betreffen, Heirat, Magie oder Handel, kommen, vrie es
uns scheinen will, umgekehrt zum gleichen Schluss, nämlich, dass
das in Rede stehende Phänomen das Strukturelement einer Ganzheit
ist, im sozialen Mechanismus eine wohldefinierte Funktion erfüllt
und mit anderen sozialen Phänomenen in Wechselwirkung steht. Von
126 Roheims »Psychoanalyse primitiver Kulturen«
Weisheiten so selbstverständlicher Art -werden wir schwerlich be-
friedigt sein.« R. kommt es natürlich auf den berühmten unbewuss-
ten Wunsch der Kultur an! Die ethnologischen Schulen leiden gewiss
an schweren Mängeln der Untersuchung. Sie kommen meist über die
reine Beschreibung nicht hinaus, sehen nur die wirtschaftlichen
Beziehungen, und diese nur psychologisüsch; sie können keinen
Prozess angeben, der die gesellschaftliche Entwicklung beherrscht;
sie sind auch weit entfernt von der sexual ökonomischen Fragestel-
lung, wie und mit welchen Mitteln sich das gesellschaftliche Sein
in psychische Struktur umsetzt und wie diese gewordene psychische
Struktur der Menschen auf die gesellschaftlichen Beziehungen, aus
denen sie hervorging, rückwirkt. Das wäre eine marxistische, dialek-
tisch-materialistische Fragestellung, die ihrem Denken ungewohnt
und ihrem Empfinden unbehaglich ist. Aber R. geht weit hinler diese
Leistung der Ethnologen zurück, er verwirrt die Erscheinungen,
mystifiziert sie, bemerkt das Oberflächlichste nicht, wie zum Beispiel
die gesellschaftliche Funktion des Mwadare als eines primitiven
Güteraustausches, der sich der Heiratsbeziehungen bedient: er sieht
nichts als Symbole und verrät dadurch wie jeder, der wilder Symbol-
deuter ist, seinen tiefen Zweifel selbst an den Wirklichkeiten des
seelischen Prozesses.
Man wird sagen, dass ich übertreibe. Ich bin im Interesse der
entscheidend wichtigen Rolle der Psychoanalyse in der soziologischen
Forschung bemüht, nicht zu übertreiben, im Gegenteil, aus den
Fehlern eines Fachethnologen wie R. zu lernen, welche Fehler man
vermeiden muss und wie wichtig methodologische Sauberkeit in der
Geschichtsforschung ist.
Ich will nun einen von Roheim analysierten Traum eines Primi-
tiven vorbringen und zu zeigen versuchen, was alles dieser Traum
enthüllt, wenn man nicht »Übertragungen deutet«, sondern zunächst
den Traum in seinem sozialen Milieu sieht.
Der christliche Häuptling von Loboda, Doketa, erzählt R. einen
Traum, aus dem die Kulturgeschichte auf der Normanby-lnscl er-
schlossen wird.
»Ich ging mit Gomadobu angeln. Wir fingen einen qaadovara und zogen ihn
heraus. Bei Bwaruada gingen wir an Land und schnitten den Fisch auf, und er
liochte, als die Kirchenglocken läuteten. Mr. Walker sagte: »Lasst Euren Fisch,
er wird auf Euch warten; geht erst zur Kirche, dann kommt zurück und esst«.
Dann kamen wir zurück und Gomadobu. schnitt den Fisch in Stücke. Ich erhielt
den Rumpf und sagte: »Gib ihn unseren Freunden«. Aber Gomadobu sagte: »Der
Rumpf ist Dein Teil, ich gebe ihn Dir, unsere Freunde werden ihren Teil spater
bekommen.«
R. versucht eine komplizierte Rekonstruktion der kindlichen
Vergangenheit Dokeias zu geben, dass er die Eltern beim Koitus
belauschte, den Vater töten wollte etc. etc. Es gibt keine Möglichkeit,.
Die typischen Konflikte der Primitiven 127
nachzuprüfen, ob R,s Deutungen richtig sind; im Zusammenhange
kuJturpolitischer Forschung ist das aber auch nicht wichtig. Man
lese S. 305—308 des Berichtes nach und wird feststellen, wie sehr
diese Ergebnisse zu bezweifeln wären, selbst wenn R. Doketa einer
regelrechten Analyse unterzogen hätte.
Versuchen wir den Traum aus dem Lebensmilieu und den aktuellen
Konflikten des Träumers zu verstehen. Wir sind bescheidener als-
R., denn wir raassen uns nicht einmal an, über das aktuelle und
leicht fassbare soziale Milieu hinaus in die kindlichen, individuellen
Konflikte Doketas einzudringen, der keine Einfälle bringt. Doch ist
bei Kenntnis der groben aktuellen Anlässe ein Verständnis der im
Traum erscheinenden aktuellen Konflikte möglich. Wir werden
sehen, dass wir im latenten Sinn des Traumes auch solche Elemente
finden, die kein Europäer aufbringt.
Malinowskis Forschungen, auf die ich meine ethnologische
Begründung der Sexualökonomie stütze, ergaben, dass der Primitive
unter zwei schweren typischen Konflikten leidet, die sich aus der
einsetzenden Änderung der sozialen Organisation ableiten; Kon-
flikten also, die einmal entstanden sein mussten und mit der weiteren
Veränderung der sozialen Organisation auch Inhalt und Form ändern
müssen. Der eine, wirtschaftliche Konflikt ist der Druck des-
Heiratstributs eines Clans auf den anderen, in dem ich eine Vor-
stufe der privatwirtschaftlichen Ausbeutungssituation zu erkennen
glaubte; R. beschreibt den Austausch des Heiratsgutes und auch den
seelischen Konflikt dabei sehr genau, ohne zu ahnen, was er be-
schreibt. Die jährlichen Heiratsabgaben erfolgen unter dem Scheine
allergrösster Freundschaft als Liebesgaben, sind aber begleitet von
wüsten rituellen Beschimpfungen des Gabenempfängers^}. Der zweite,
sexualökonomische Konflikt betrifft die Einschränkung der genitalen
In seinem Buch »Psychoanalyse primitiver Kulturen« beschreibt Roheim den
Verteilungsritus bei den Papuas im Duaugebiet. Er stimmt nicht aur wesent-
lich mit dem von Malinowski beschriebenen überein, soDdern ergänzt in den
Itoheimschen Bericliten unsere Kenntnis von den psychischen Konflikten, die
die Abgabe des Heiratsgutes begleiten,
»Es ist kein Zweifel«, schreibt Roheim, »dass die Güterverteilung (food
distribution) das führende Symptom der Papua-Zivilisation im Duaugcbiet
ist.« Das Mwadare ist ein Fest, das entweder von der Schwester des Mannes
seiner Frau oder von seiner Frau seiner Schwester gegeben wird. Es besteht
in einem kompliziert ausgebauten Zeremoniell der Oberreichuug von Produkten
des Gartenbaues. Hinter der formellen Überreichung wirkt der ganze dazu-
gehörige Clan mit. Seinem Wesen nach ist das Mwadare ein ritueller Güter-
austausch zweier verschiedener Totemgruppen, wobei die Schwester des Gatten
den einen, seine Frau den andern Clan repräsentiert. Offiziell dienen diese
Festlichkeiten der Güterühertragung der Manifestation des guten Willens der
zwei in Heiratsbeziehung zueinanderstehenden Clans. Die beiden Gruppen
überbieten einander an Hochherzigkeit, in Wiridichkeit dringt der gegenseitige
Argwohn und Mass aus jedem Detail der Zeremonie. Roheims Gewährsmann
sagte: »Mwadare Gidemusa seija«, d. h. Mwarare ist wie ein Krieg, bei dem
jeder Kampfer seinen besonderen Gegner hat. Wie schwer der Clan, der gerade
Tribut leistet, seine Pflicht empfindet, bezeugen die Gesänge, die die feierliche
128 Roheims »Psychoanalyse primitiver Kulturen«
1
Freiheit; diese Einschränkung vollendet sich bis zu einem bestimm-
ten Zeitpunkt sowohl durch die sich entwickelnde patriarchalische
Familienorganisation, als auch noch grausamer durch die Kirche,
die die hohe Sexualkultur der Primitiven bewusst ausrottet, um den
religiösen Glauben zu verankern. Der sexuelle Konflikt ist im Traume
klar zum Ausdruck gebracht, der wirtschaftliche ist nur angedeutet.
Ich weiss nicht, welche Rolle auf Loboda die Fischerei wirtschaft-
lich spielt. Mag sein, keine. Klar ist jedenfalls, dass die Wahl des
Penissymbols (Fisch) irgendwie begründet sein muss, und das ist
sie immer, auch bei uns, vorwiegend durch die soziale Bedingung.
Ein Primitiver wird wohl kaum einen Regenschirm oder Zeppelin als
Symbol des männlichen Organs benützen, auch keine Speckwurst, aber
viel häufiger als ein Zentraleuropäer den Fisch, besonders wenn
die Fischzucht die Ernährungsbasis ist. Das ist entscheidend; denn,
was R. unbekannt zu sein scheint, in den klinischen Analysen ist
nicht wichtig festzustellen, dass ein Symbol den Penis meint; das
ist einfach; wichtig aber ist zu erfahren, weshalb der Träumer
gerade dieses und kein anderes Symbol zur Darstellung wählte.
Hätte sich R. diese Frage vorgelegt, er hätte der Psychoanalyse
manche Blamage mit seinem Buch erspart. »Der Fisch kochte, als
die Kirchenglocken läuteten«. R. geht auf die »Kirchenglocken«, das
nächstliegende Erlebniselcment bei einem primitiven Volke, das
die antisexuelle Organisation der Kirche erst vor nicht langer Zeit
zu spüren bekam, gar nicht ein. Dennoch ist gerade dieses Element
im Traume das wichtigste, nicht nur um zu erfahren, wie die Kultur
Handlung begleiten. Während aller Ehrgeiz darauf gerichtet zu sein scheint,
nicht geizig zu erscheinen, ein besonders reichliches Mwadare zu leisten, kommt
in den Gesängen das gerade Gegenteil zum Ausdruck, der heisse Wunsch, die
Yamshütte solUc doch nicht so gross, die Yamshaufen sollten kleiner sein usw.
Ein Lied hat folgenden Text:
Boe Kotona
Held sein Nacken
Janoujama
Ich habe zurückgezogen
Janu hetu hetanani
Ich ziehe, um es kürzer zu machen
Ni ketaurina
Dieses Füllen (mit Vams)
Tuna heta siwenaja
Voll geht es über
IJa, ija, ijo, ijo.
Mit diesem Liede, das offen den Wunsch ausspricht, das Yamshaus sollte
kürzer (kleiner) sein, um es leichter füllen zu können, wird das Fest ein-
geleitet. Während das Yamshaus gefüllt wird, werden unausgesetzt Lieder
gesungen, die von Angst und Trauer handeln, von Katastrophen und Wünschen,
Kinder möchten nicht geboren werden, usw. Am Ende entsteht nach dem
Bericht Roheims, der Augenzeuge der Prozedur war, ein grosser Streit, alles
in Form von zeremoniellen Gesängen, in denen die zwei Parteien einander
schwere Vorwürfe zu machen scheinen, dass die Früchte nicht gut und nicht
Teichlich sind; Gegenvorwürtc folgen. :»Mwadare ist wie ein Krieg.«
Aggressionen gegen die weisse Kultur 129
des Landes aussieht, sondern auch wie sich die Einführung der
Kirche auf die Struktur der Eünwohner auswirkte. In diesem
Zusammenhange, und nur in diesem, begreifen wir ein Stück des
Traumes. Der Sinn ist: »Wenn unser Penis , kocht', dann läuten
gerade die Glocken,« d. h. »wenn wir sexueU erregt sind und uns
befriedigen wollen, ruft der Geistliche in die Kirche, hindert er
unsere Lust: ,geht erst zur Kirche'.« Das Kochen des Penis ist ein
Zeichen sexueller Erregung, verständlich imd sinnvoll nur in diesem
Zusammenhange. R. findet richtig heraus, dass er mit dem Geist-
lichen identifiziert wird, auch dass der Primitive Aggression gegen
ihn empfindet, aher, da er keine soziale Atmosphäre kennt, übersieht
er, dass diese Aggression eine Riesenbedeutung hat, dass er dem
Primitiven die ganze weisse Kultur verkörpert, die dieser hasst und
fürchtet zugleich. R. ist nur daran interessiert, dass der Primitive
»seine Aggression gegen sich selbst wendet« (offenkundig aus
Todestriebtendenzen!), »Er erzählt mir, dass er mir einige magische
Heilmittel vorenthalten habe.« Nein, der Primitive hat den Hass
gegen den Pfarrer ganz bewusst, er fürchtet R. (deshalb keine Asso-
ziationen zu den Träumen), und versucht ihn zu beschwindeln, indem
er ihn besänftigt, ihm ein Geständnis macht; er weiss nur zu gut,
dass die Weissen so sehr an den magischen Mittelchen interessiert
sind. Die will er sich nicht rauben lassen. In der Tiefe dürfte das
Ganze wieder auf die Angst vor der Strafe für sexuelles Tun zurück-
gehen. Doch wir wollen nicht Roheirasche Fehler machen und hier
lieber abbrechen.
Der zweite, wirtschaftliche Konflikt erscheint in dem Traum-
element, wo von der Teilung des Fisches (sicher neben der Kastra-
tionsbedeutung) die Rede ist. Dokeia berührt selbst, ohne dass R.
es ahnt, das Thema des Heiratsgutes, dessen soziologische Aufhellung
R. mir so sehr verübelt: »überdies weiss jeder, dass es hohe Zeit
wäre, das Sagari (Festverteilung von Yams) für Lobesenm (den Schwie-
gervater) zu bereiten. Aber er enthält es ihm vor, da er die Yams
seines eigenen Gartens für das Trauermahl seiner Schwester
braucht So lange wie möglich hält er mir gegenüber mit den
magischen Heilmitteln zurück, wie mit den Erzeugnissen seines
Gartens gegenüber seinem Schwiegervater. Im Traum ist dies durch
das Gegenteil dargestellt: Freigebig bietet er den besten Teil des
Fisches seinen Freunden an.« (S. 305—306.)
Die Verkehrung im Traum gibt nur eine Verkehrung im realen
Leben dieser Primitiven wieder, und dahinter eine gesellschaftliche
Tragödie: den ersten wirtschaftlichen Zwang der Menschlieit, die
Abgabe von Heiratsgut. Ich weiss nicht, da R. es nicht erwähnt,
ob der betreffende Stamm noch mutterrechtlich oder bereits vater-
rechtlich organisiert ist. Man möchte das letzte annehmen, sonst
hätte Doketa als Gatte nicht an den Schwiegervater zu liefern, son-
1D
130 Roheims »Psychoanalyse iirimitiver Kulturen«
dem bekäme selbst Heiratsgut von dem Bruder bezw. der Familie
seiner Frau wie bei den Trobriandern. Wir sehen also: Die soziale
Struktur der Gesellschaft ist in der psychischen Struktur des Primi-
tiuen dieser Gesellschaft in bestimmter Weise reproduziert, ebenso
das bereits herrschende moralisch-kirchliche System.
Da R. mit der Vorstellung von einem unabänderlichen, ewigen,
immer und überall in gleicher Weise formierten Kind-Eltern-Kon-
flikt auf die Expedition ging, erfuhr er nicht nur nichts über die
spezifischen Unterschiede zwischen der Struktur des Primitiven und
der unsrigen, was ja auch sehr lehrreich wäre, sondern er übersah
auch die wichügsten Bestandteile der sozialen Organisation. Die
individuellen Konflikte Dokelas sind ethnologisch uninteressant;
wichtig wären für eine differenzielle Psychologie der Massenstruktur
typische Differenzen. Hätte uns R. nur das gebracht, wir wären ihm
dankbar gewesen. Er aber meint:
>Nach meiner jetzigen Auffassung -wiril es dereinst auf Grundlage ähnlicher
Forschungen möglich sein, eine psychologische Klassifikation der Menschheit
aufzustellen und die einzelnen Völkerschaften nach Graden der Primitivität zu
ordnen.«
Das wird mit dieser Methode nicht nur nicht möglich sein, son-
dern wird die Psychoanalyse als Instrument der Ethnologie restlos
unbrauchbar machen: »Die Kultur entsteht aus der genitofugalen
Libidoströmung.« Es ist für den Soziologen interessant zu sehen,
wie jede derartige These verkehrt ist und in der Luft hängt. Wäre
die Psychoanalyse nicht ein glänzendes Instrument der Forschung,
würde nicht sogar R. ungewollt einen wichtigen neuen Gesichtspunkt
berühren, ohne es zu wssen, wir würden uns nicht abmühen, seine
Deutungen nachzuprüfen.
Im Winter 1926 besuchte Roheim mich, und wir diskutierten
einige Stunden lang über ethnologische Fragen. Wir verslanden uns
unter anderem in einem wesentlichen Punkte nicht. Wir sprachen
über die Symboldeutung und im Zusammenhange damit über die
analytische Deutung der Entstehung der Werkzeuge. Ich vertrat die
Anschauung, dass eine Axt zunächst aus rationalen Motiven geschaf-
fen würde, nämlich um Holz leichter zu spalten, dass sie dann
sekundär auch Symbolbedeutung gewinnen könne, aber nicht un-
bedingt müsse. Ein Baum oder ein Stock könne, müsse aber im
Traume nicht einen Phallus bedeuten. Falsche Handhabung der
Symboldeutung helfe nur den Gegnern der Psychoanalyse, ganz
besonders dort, wo es sich um gesellschaftliche, rationale Tätigkeit
handle Flugzeuge würden zur besseren Bewältigung von Zeit und
Metaphysische und materielle Psychoanalyse 131
Raum gebaut; dass sie zu phallischen Symbolen in Träumen "werden,
wäre nur individuell psychologisch -wichtig, nicht aber soziologisch.
Roheim dagegen war der Ansicht, dass eine Axt ein Penissymbol
sei, als solches geschaffen würde, dass das Rationale sekundär wäre,
und in Wirklichkeit wäre alle Produktion von Produktionsmitteln
nichts als Projektion unbewusster Symbolismen. Ich verdanke dieser
Unterredung eine fruchtbare Klärung der Beziehung des Rationalen
zum Irrationalen, die einige Jahre später erfolgte^). Aber gleichzeitig
wurde mir die unüberbrückbare Kluft zwischen metaphysischer und
materialistischer Psychoanalyse klar. Im Grunde geht auch heute'
der Kampf um die Frage ob eine Axt nur ein Penissymbol sei und
nichts als das, oder höchstens noch sekundär ein Produktionswerk-
zeug; oder ob das Motiv der Axierzeugung zunächst ein rationales
sei, nämlich ein Stück Welt zu bewältigen. Und hinter diesem Kampf
um »das Wesen der Axt« steht der erbitterte Kampf zweier Welt-
anschauungen, die nebeneinander nicht existieren können, von
denen nur eine richtig sein, dass heisst die Welt korrekt erfassen und
bewältigen kann. Es ist in der Konsequenz der Millionen Menschen-
opfer kostende Kampf zwi schen dialektisch-materialistischer, marxi-
stischer, naturwissenschaftliche r und metaphysischer , religiöser,
faschistischer, mystifizierender Weltanschauung. Es geht um die
Frage, ohjioheim Recht hat, wenn er seine Kritik an meiner ethno-
logischen Untersuchung^) in den Sat2 zusammenfasst: »Es ist nicht
so, wie Reich es meint, dass die Zivilisation (— der Kapitalismus)
aus irgendwelchen wirtschaftlichen Gründen entsteht und dann die
Neurose erzeugt, sondern umgekehrt; die kollektive Neurose erklärt»
bedingt, schafft soziale Organisation, Religion, Wirtschaft, Recht
und alles andere.« Und wober kommt die kollektive Neurose ? Qffen-
bar aus der Ewigkeit.
R. ist der Ansicht, die Kultur entstehe aus der »genitofugalen
Libidoströmung« .
An welchem Orte läuft die Libidoströmung der Kultur ab?
Was veranlasst diesen Ablauf?
Wann und wie nahm er seinen Anfang?
Was ist der Unterschied dieses Ablaufs bei den Trobriandern und
in Amerika?
Wenn die Antwort ausbleiben sollte, würde Roheim damit
zugeben, dass er nur Worte gebraucht hat. Denn ein so entscheiden-
der Satz in einer wissenschaftlichen Arbeit, die den Anspruch erhebt,
die Ethnologie auf eine neue Basis zu stellen, muss konkret begründet
werden können.
1) In »Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse« IL Auflage 1934 (Verlag
f. Sexualpol. )-
2) Roheim im Referat über »Der Einbruch der Sexualmoral«, (Int. Ztschr. f. Psa.
1934.)
Jtt*
132 Roheims »Psychoanalyse primitiver Kulturen«
Ich versuchte das, was Roheiin hier nebelhaft ahnt, uielleicht
ahnt, denn sein Buch verrät es nicht, konkret zu formulieren. Ich
meinte, dass zunächst, von Natur aus, keine Einschränkung des Ge-
schlechtslebens besteht, weil die natürliche Entwicklung derartiges
1 nicht bedingen kann.
Die Sexualeinschränkung, die eine rückläufige Bewegung, eine
vom Genitale wegstrebende Richtung in den Menschen hervorruft,
entsteht auf Grund gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse. Neue
■wirtschaftliche Interessen einer Gruppe, die allmählich hervortreten,
machen die Sexualeinschränkung der Kinder erstmalig zu einem
grossen Interesse der wirtschaftlichen Nutzniesser. Dadurch ver-
ändern sich allmählich die Menschen dieser Gesellschaft, sie werden
umstrukturiert-, die Sexualbejahung schlägt in Sexualverneinung um.
dadurch entsteht eine »genitofugale Richtung der Libido«, nämlich
Angst vor der Sexualität in den Menschen, nicht in der Kultur ,
fjnä die^glächien Menschen, die vorher aus "lEfer sexuellen una wirt-
schaftlichen Freiheit eine bestimmte Kultur geschaffen hatten, bilden
jetzt eine neue Kultur der Sexualverneinung mit allen Folgen, also
eine Ideologie und moralische Struktur, wo es keinen Platz für
irgendwelche Libidoströmungen gibt, weil weder die Gesellschaft noch
die Kultur einen Körper und ein vegetatives System hat, in dem
sich ähnliches abspielen könnte. Der gesellschaftliche Prozess hat
also die Menschen durch Umformung ihrer Sexualstruktur umgestal-
tet, und die derart umgebildeten Menschen formen nun ihrerseits
Wirtschaft und Kultur in anderer Weise, halten die Klassenteilung
und die Sexualeinschränkung aufrecht etc.
Es gibt also eine »rückläufige Bewegung in der Kultur«, sie ist
aber nur zu fassen und zu meistern, wenn man zunächst ihren
gesellschaftlich-wirtschaftlichen Grund und dann ihren psychischen
Mechanismus erfasst; dieser letztere ist präsentiert als eine Hemmung
der genitallibidinösen Kräfte der Menschen in der betreffenden Kul-
tur, die sie zwingt, entweder zu früheren Kulturforraen zurückzugrei-
fen oder andersartige, meist mystische Formen der kulturellen Ent-
wicklungshemmung auszubilden. (Vgl. den Mystizismus der national-
sozialistischen Ideologie.)
R. ist aber auch noch sehr stolz auf seine ethnologische Anwen-
dung der Psychoanalyse, die er nicht einmal beim Individuum be-
herrscht. Er bestreitet Malinowski das Recht, zu behaupten, die
Psychoanalyse in der Ethnologie angewendet zu haben. »Obwohl
Malinowski selber nicht beansprucht, Analytiker zu sein, könnten
doch einige seiner Behauptungen hinsichtlich der Analyse zu groben
Missverständnissen führen. So erwähnt er zum Beispiel, dass er,
■während er sich unter den Trobriandcrn aufhielt, von Prof. Seligmann
einige Werke Freuds erhalten habe und sich daraufhin daran gemacht
habe, die Riclitigkeit der Freudschen Traumthcoric an den Trobrian-
Roheims Übersteigerung der bürgerlichen Sexualauffassung 13S
dern zu erproben. Jemand, der zugesteht, bisher nie einen Traum
analysiert zu haben — und zwar aus dem einleuchtenden Grunde,
weil er nicht wusste, wie man das macht — , -will Freuds Theorien
nachprüfen!« Zur Ignoranz gesellt sich hier schlecht begründete
Unbescheidenheit. Ich trai Malinowski persönlich erst Dezember 1933,
kannte ihn bis dahin nur durch seine Werke. Wenn Malinowski
zugibt, keinen Traum analysiert zu haben, und Freuds Werke erst auf
den Trobriandinseln las, wenn Roheim sich dagegen rühmt, der lang-
erfahrene Psychoanalytiker zu sein und Träume glänzend deuten
zu können, dann spricht alles für Malinowski und gegen Roheim;
denn Malinowski hat das psychoanalytische Wissen so glänzend in
seinen Forschungen verwendet, Roheim dagegen derart katastrophal,
seit jeher, dass man beim Lesen Malinowskis wirklich grundsätzlich
Neues erfährt, durch R. aber nur verwirrt wird. Was das bedeutet,
werden wir noch sehen.
2. Wilde Deutung und daher groteske Überspitzung der üblichen
falschen Anschauungen
Die bürgerliche Sexual au ff assung sieht, sofern sie über die reine \ t
Tatsachenbeschreibung zur Bildung weltanschaulicher Thesen fort- \
schreitet, die Dinge so: Dcf Mann ist der geborene Herr der Frau; . -
die Kinder verdienen Prügel für ihre sexuellen Handlungen; der
Sadismus ist eine natürliche Eigenschaft des Mannes, der Masochismus
eine solche der Frau; diese ist im Geschlechtserleben passiv, jener
aktiv; die Eifersucht, die sich in Totschlag, Quälerei, Vergällung
des Lebens äussert, ist eine natürliche Erscheinung, die schon den
Protozoen eignet, sicher den Tieren ganz allgemein; die Sexualunter-
drückung in der Kindheit und Pubertät ist die selbstverständlichste
Sache der Welt, ebenso die daraus resultierende Neurose. R. versucht
nicht nur, die absolute Natur dieser Dinge ethnologisch zu bestätigen,
er übertreibt sie ins groteske. Für uns sind R.s Ansichten wichtig,
denn sie enthüllen die ganze Mentalität der sich objektiv gebärdenden,
in Wirklichkeit von schwersten Sexualheuimungen und reaktionären
Tendenzen zerfressenen bürgerlichen Wissenschaft gerade dadurch,
dass sie sonst mehr oder minder verhüllte, schwer durchschau bare
Trübungen der wissenschaftlichen Arbeit grell hervortreten lassen.
Lassen wir einige Proben dieser »objektiven« Wissenschaft an uns
vorbeiziehen.
Ich versuchte, die Herkunft der Kastrationsdrohung, die unsere
Kinder und Jugendlichen an Leib und Seele vernichtet, soziologisch
zu begründen, ohne in dieser Begründung, wie Roheim es tut, eine
Rechtfertigung zu suchen.
Bei den Pitchcntara deutet Roheim die Inzestphantasien aus Er-
zählungen und behauptet, was wir weder bestätigen, noch widerlegen
134 Roheims »Psychoanalyse primitiver Kulturen«
können, dass »die Onanie an unbewusste Inzestphantasien geknüpft
ist.« Er fährt selbst fort; »In Anbetracht dieser inzestuösen Onanie-
phantasien könnte man erwarten, etwas von Kastrationsdrohungen
zu erfahren, die sich gegen die Onanie richten. Aber das wäre irrig.
Niemand hat etwas gegen die Onanie der Kinder einzuwenden, und
ich habe oft gesehen, wie Tankai mit dem Glied ihres Sohnes Aldinga
spielte (wie es ja auch unsere Mütter, nur unbewusst, zu tun pflegen,
W. R.). Auch auf meine ausdrücklichen Fragen wurde das Vorkom-
men von Kastrationsdrohungen bestritten; trotzdem glaube ich, dass
diese Auskunft nicht stimmt, und dass meine Gewährsmänner ihre
Erinnerungen an Kastrationsdrohungen nur verdrängt hatten.« R.
kommt nicht auf die Idee, dass es tatsächlich eine psychische Struktur
ohne Kastrationsangst geben kann, weil er sie für biologisch hält.^)
Und wenn er später, um seine Position zu retten, hervorhebt, oft gehört
zu haben, wie Kinder einander mit dem Penisausreissen spielend
bedrohten, so bestätigt er nur eine Auffassung, die ich klinisch ver-
trete: dass es nämlich nicht darauf ankommt, ob eine Vorstellung an
sich vorhanden ist, sondern einzig darauf, ob sie energiebesetzt ist
und dadurch pathologisch wird. Das gilt auch für die Inzestvor-
steüung; sie gewinnt erst dann Bedeutung, wenn sie infolge allge-
meiner Sexualhemmung drängende Kraft bekommt.
Ich fand, dass, was heute nur angedroht und raffinierter vollzogen
wird, einmal wörtlich genommen durchgeführt wurde: Die puberilen
Beschneidungen verraten, da sie nicht allgemein vorkommen, bei den
mutterrechtlichen Stämmen fehlen, sich aber im Übergang zur vater-
rechtlichen Organisation bereits entwickeln, im Zusammenhange mit
der gleichzeitig einsetzenden Sexualeinschränkung der Puberilen und
dem Interesse an der monogamen Ehe von Seiten des Vaters der Frau,
ihre Funktion als eine Massregel zur Behinderung der puberilen
Sexualbetätigung. Dies der Kern der Funktion, dem sich beliebig viele
kultische, religiöse und andere Tendenzen beimischen mögen. R.
beschreibt nun die Infibulalion der Mädchen bei den bereits pa-
triarchalischen Somali. Man kann auf Seite 322 nachlesen, wie un-
erbittlich grausam die genitale Sexualität hier vernichtet wird; sein
Gewährsmann gibt selbst die Begründung dafür an: »Wenn wir diese
Sitte nicht hätten, so würden wir ja nie wissen, wen wir bekommen.
Denn die Mädchen laufen ja frei herum und machen, was sie wollen.
1) Um jedem Mis Verständnis vorzubeugen: Jedes Lebewesen hat Angst vor kör-
perlicher Beschädigung, ganz besonders vor solcher, die lustspendende Orgaoe
betrifft. In diesem Sinne ist die Kastrationsangst allgemein. Wenn wir aber
in der Psychoanalyse von Kastrationsangst sprechen, dann meinen wir etwas
anderes: nicht so sehr die real begründete Angst, die sich immer einstellt,
wenn das Genitale wirklich hedroht ist, sondern die neurotische, aktuell
unbegründete, historisch jedoch wohlbegründete Angst um das Glied. Die
erste wird nie Potenzstörungen bedingen, wohl aber regelmussig die letzte.
Bedeutung der puberilen Beschneidungen 135
In der Hochzeitsnacht muss der Gatte die Vagina (die vorher vernäht
würde) öffnen Diesen Koitus, der für die Frau schrecklich
schmerzhaft ist, muss man erzwingen Diese Schwäche des
Mannes (nämlich solches nicht zu können) gilt als grosse
Schande, als Eingeständnis der Impotenz.« Die Sexualökonomie weist
nach, dass die patriarchalischen Bräuche der Hoehzeitsnacht mit
natürlichem Sexualleben nichts zu tun haben, dass im Patriarchat
die Sexualität der Männer ein Beweis der Potenz, die Sexualität der
Frauen im Grunde eine Schande ist. Sie vermerkt, dass es bei den
mutterrechtlichen Völkern anders ist, und fragt nach den Ursachen
der Wandlung. R., dem überlegenen »psychoanalytischen« Ethnologen,
sind derartige Fragen zu »oberflächlich«, zu einfach; er hat es nur
mit der tiefen Wissenschaft zu tun. Hier die Ergebnisse:
»Wir sehen also,« schreibt R., »dass die Operation eine Verdopplune des
Jungfernhäutchens erzielt: ,Zwei Mal blutet die Frau, einmal, wenn der Gatte
die Vernähung mit dem Messer durchschneidet, das zweite Mal, wenn er das
Hymen mit dem Penis durchbohrt'. Man muss also annehmen, dass die Jungfrau
als Sexualobjekt eine besonders starke Bedeutung für den Somali hat, da er sich
die Jungfräulichkeit des Weibes durch einen Eingriff von so traumatischem
Charakter und mit dem Endziel der Verdopplung des Hymens zu erhalten sucht.«
Sehr richtig, nur vernichtet real derartige Behandlung des Weibes
ihre Sexualität ebenso restlos, wie sie Hass gegen den. Mann erzeugt.
R. fährt fort;
»Mir scheint daher die Annahme berechtigt, dass diese doppelt betonte Jung-
fernschaft der Braut eine doppelte Verneinung der Mutter bedeutet, eine Ver-
neinung der Gebärerin und der kastrierenden Königin.«
Wir fragen uns, wie wohl diese Verneinung der Mutterschaft (wir
vergessen keinen Augenblick, dass R. doch gesellschaftliche Prozesse
erschliessen will) mit dem überragenden Interesse an der unsexuellen
Mutterschaft des Patriarchats zusammenpasst, mit dem Interesse, die
Sexualität der Frauen zu töten, um aus ihnen besonders willige Ge-
bärerinnen zu machen. Wir wissen, wie dies in das Gefüge der Klas-
sengesellschaft, der Ausbeutung, der sexuellen Entrechtung hinein-
passt, wie sehr die patriarchalische Sexualideologie des Faschismus
auf diese Anschauungen zurückgreift. R. möge uns nun seinerseits
sagen, wo er diese Elrscheinung einordnen kann.
ifrWeon die Frauen sich an der Vagina eine Wunde beibringen wollen (M),
so deuten sie damit an, dass sie selbst die Vagina als Wunde empfinden, in der
das »Fleisch« des Mannes verwest. Um diese Angst gegenstandslos zu machen,
muss die Vagina verschwinden und der Penis der Frau ist die Klitoris, die
als Vorbereitung zum normalen Sexualleben abgeschnitten wird.«
Jetzt wissen wir, wie man eine Frau auf die Höhe ihrer Sexualität
bringt: durch Klitorisexcision !
»Für den Mann bedeutet die Infibulation also eigentlich eine volle Ver-
nichtung des Sexualobjekts: Durch die Vernähung verschwindet die Vagina, durch
die Klitorisabsch neidung der Frauenpenis.«
136 Roheims »Psychoanalyse primitiver Kulturen«
Wir dachten, R. meinte kurz vorher, dass der Mann sich das Sexual-
objekt erhalten wolle, und jetzt kommt das gerade Gegenteil ! Vielleicht
Ut^C.ihAmJj.i^eint Roheim, dass die Ambivalenz darin zum Ausdruck komme; er
7^ i I meint noch mehr: Sogar die phylogenetische und ontogenetische Ent-
wicklung verlangen die Operation.
»Ehe wir nun die Frage stellen, warum der Mann eine solche Vernichtung
des Sexualobjektes braucht, müssen wir den Versuch machen, die Operation von
dem Standpunlit der Frau aus zu verstehen. Es muss aber vor allem bemerkt
werden, dass die Operation eigentlich eine dramatisch abgekürzte Wiederholung
der phylo- und ontogenetischen Entwicklung ist. Die Frau soII(!) die Klitoris-
erogenität aufgeben und zur vaginalen Erogenität fortschreiten.«
Sic ! Wir beugen uns dieser tiefen Wissenschaft, die gänzlich
unpolitisch in die tiefsten Geheimnisse der Absichten der Phylo- und
der Ontogenie einzudringen vermochte. Ttoheim gelangt auch zu
zentralen Aussagen über die Sexualpsychologie der Frau :
»Man konnte demnach meinen, die Operation fördere die richtige Einstellung
der Frau im Sexualleben.«
R. hat sogar in gewissem Sinne Recht. Diese Operation fördert
in der Tat die »richtige« Einstellung der Frau im Sexualleben; es
fehlt nur noch ein Wort, worin der gesamte Unterschied der dia-
lektisch-materialistischen zur gleichgeschalteten Psychoanalyse in
dieser Frage enthalten ist: »— im Patriarchat.«
Obgleich nun R. auch über die Unterschiede zwischen Patriarchat
und Matriarchat erhaben ist und es nicht liebt, wenn man davon
spricht, ist doch die bescheidene Frage berechtigt: Wenn diese Opera-
tion eine Äusserung tiefster phylo- und ontogenetischer Gesetze ist,
weshalb merken wir nichts davon bei den Trobriandern? Oder haben
I diese eine andere Phylogenie als die Somali? Es ist im Prinzip die
gleiche Frage, die ich einmal Krische stellte, der behauptete, 6Ü %
der Frauen seien aus Vorsorge der Natur vaginal anästhetisch, damit
nämlich der Geburtsakt schmerzlos verlaufe. Die resllichesi 40 %
sind offenbar von der Natur übersehen worden!
rieh hatte beim Vergleich der mutterrechtlichen mit der valer-
rechtlichen Organisation und dem Übergang der ersten in die zweite
1 gefunden, dass sich mit den wirtschaftlichen Interessen einer werden-
\ den Oberschichte und der Unterdrückung des Geschlechtslebens der
I Kinder und Jugendlichen auch die sexuelle Erlebnisweisc der Gc-
\ samtheit verändert, dass Sexualstörungen und Neurosen auftreten,
' sadistische Haltungen im Geschlechtsleben beim Manne, Sexualab-
i lehnung bei den Frauen, wodurch wieder künstliche Massnahmen zur
! WiederhersteHung der zerstörten Sexualität notwendig werden. So
j bestätigte sich ethnologisch eine klinische Erfahrung, die die offi-
zielle klinische Psychoanalyse systematisch totschweigt, weil sie viele
Roheims Verteidiguag der sadistischen Einstellung 137
Anschauungen umwälzt, dass nämlich der Sadismus im Geschlechts-
leben seinen heute so breiten Raum erst dann einnimmt, wenn die
natürlichen genitalen Funktionen behindert oder gestört sind, kurz,
dass sich gehemmte Sexualität nicht nur in Angst, sondern auch in
Sadismus umsetzt, ihn vielleicht zum ersten Mal erzeugt. Eine für
die Neurosenpropliylaxe gewiss wichtige FestsLellung. Für R. ist'
ebenso wie für die meisten Analytiker der Sadismus eine natürliche
Haltung im Geschlechtlichen, also biologisch begründet. Infolgedessen
wird nicht nur die individuelle Entwicklung in starre biologische
Formeln gepresst, die jede Möglichkeit einer prophylaktischen Praxis
verrammeln, mehr, auch die Ethnologie niuss hier helfen. Statt sich
zu fragen, woher es kommen mag, dass es bei verschiedenen Völkern
so verschieden aussieht, dass der Sadismus in der Sexualität, wie R.
selbst berichtet, hier fehlt, dort so ausgeprägt ist, wird mit wissen-
schaftlicher Autorität verkündet:
»Wir wissen ja, dass die tiefste sadistische Einstellung mit dem ersten
Erscheinen der Zähne zusammenhängt und als Scxualziel das AuTessen des Part-
ners hat. Nun sehen wir bei diesem Volk, bei dem die allgemeine Einstellung des
Mannes der Frau gegenüber so stark vom Sadismus beeinflusst ist, dass für sie
die wichtigste Vorbereitung zum Geschlechtsverkehr eine tüchtige Mahlzeit, sym-
bolisch wohl das Aufessen der Frau ist.« (S. 329.)
Ich bin zwar kein Ethnologe, habe auch keine Expedition machen
können, aber ich meine, richtiger gesehen zu haben, wenn ich den
Esskult der Verheirateten, der bei den Unverheirateten nicht existiert,
zumindest bei den Trobriandern, damit in Zusammenhang brachte,
dass das gemeinsame Essen als Symbol der Ehe seinen Sinn aus der
wirtschaftlichen Gemeinschaft der Ehe bezieht; die wirtschaftlichen
Produktionsverhältnisse bei den Primitiven drücken sich ja überhaupt
weit mehr als bei uns sexuell aus.
Statt die Tatsache, dass »jeder Mann seine Frau schlägt« (S. 329)
als Problem soziologisch zu fassen, die Herkunft aufzudecken, weil
ja sicher das Schlagen des Geschlechtspartners weder eine allgemeine
Naturerfecheinung ist, noch auch bei den Menschen überall vorkommt,
verrät Roheim seine Erzreaktionäre Weltanschauung in folgenden
Sätzen:
»Im rein physischen Sinne scheint ihre Art, den Verkehr auszuführen, eine
mehr genitale zu sein als die des Europäers. Sie dringen tiefer ein, arbeiten
mit stärkeren physischen Reizen, ja man könnte mit einer Ideinen überlreibung
sagen, dass die Frau eigenilich nur befriedigt wird, wenn sie nach dem Gesclilechts-
uerkehr an einer Entzündung erkrankt.^s: (S. 330.)
Mit einer kleinen »Übertreibung« ? Ist dazu die Psychoanalyse
begründet, das Unbewusste entdeckt, die krankhafte sadistische
Auffassung des Koitus enthüllt worden, damit ein offizieller Vertreter
der Psychoanalyse den Mut aufbringt und die Borniertheit dazu,,
derartige Dinge autoritär zu behaupten?
138 Roheims »Psychoanalyse primitiver Kulturen«
Die liberalen Verfechter der »freien wissenschaftlichen Forschung«
■werden sich wahrscheinlich in diesem Falle neutral äussern und sagen,
sie könnten niemand hindern zu sagen, was er für richtig halle. Wir
wissen dagegen, dass sie Marxisten gegenüber ganz und gar nicht
liberal, sondern im Gegenteil höchst diktatorisch sind. Überdies darf
man die sog. Freiheit der wissenschaftlichen Forschung nicht mit
wissenschaftlichem Libertinismus verwechseln. Und wenn R., wie
mir berichtet wurde, über meine ethnologische Untersuchung wütend
. war, so interessiert uns weniger, was in ihm dabei persönlich vorging;
er wird aber geahnt und gefürchtet haben, dass eine Gesellschaft, in
der umgekehrt wie heute, wo die menschlichen Interessen im Dienste
derartiger Wissenschaftler stehen, die Wissenschaft im Dienste der
menschlichen Interessen arbeiten wird, kein Platz mehr für Liber-
tinismus dieser Sorte vorhanden sein kann.
3. Roheim widerlegt sich selbst und bestätigt den Einbrach der
Sexualmoral
Gelegentlich gibt Roheim Beobachtungen ungeschminkt und un-
verzerrt wieder; wo er dies tut, widerlegt er sich selbst und be-
stätigt die von mir vertretenen Anschauungen.
Schon die klinischen Einsichten in die Wirkung der realen Unter-
drückung des kindlichen Geschlechtslebens veranlassten mich, an der
biologischen Natur der sogenannten sexuellen Latenzzeit zu zvireifeln.
Es gibt Kinder in unseren Kulturkreisen, die eine beträchtliche
Herabminderung der sexuellen Agilität im Alter zwischen 7 und 12
Jahren vermissen lassen; wenn zurecht besteht, was die Klinik ergibt,
dass in diesem Alter bei anderen Kindern, die äusserlich weniger
sexuell erseheinen, unbewusst die sexuelle Dynamik unverändert
fortwirkt, so muss es mit dem von Freud als biologisch angenommenen
»zweizeitigen Ansatz des Geschlechtslebens«, der die Menschen von
den Tieren unterscheiden soll, eine andere Bewandtnis haben. Das
Fehlen der Latenzzeit an sich bei vielen Kindern sprach bereits gegen
die biologische Begründung; nahm man hinzu, dass dieses Fehlen
besonders typisch bei proletarischen Kindern, ihr Vorhandensein
besonders typisch bei kleinbürgerlichen oder sonst streng behüteten
Kindern ist, so durfte man schliessen, dass es die Erziehungseinflüsse
sind, die wir~fur das Auftreten der sexuellen Latenz verantwortlich
ziT^äcEen habend Nur die ethnologische Forschung konnte hier ein
abschliessendes Urteil gestatten. Malinowskis Erhebungen bestätigten
meine Anschauung von der gesellschaftlichen Herkunft der Latenzzeit,
denn bei den Trobrianderkindern, die — bis auf den Geschwisterin-
zest— sexuell uneingeschränkt leben, gibt es keine Unterbrechung oder
auch nur Herabminderung der sexuellen Agilität. Die Latenz kommt
also zustande durch den ersten grossen VerdränfiungssehubJm..l-iüs
Die sexuelle Latenzzeit des Kindes 139
5. Lebensjahr, der ein Erfolg der schweren genitalen Versagung der
Tondlichen Onanie und der kindlichen sexuellen Spiele in diesem.
Älter ist. Dadurch wurde die Freudsche Annahme, dass die Neurosen-
entstehung biologisch durch den »doppelten Ansatz des Geschlechts^
lebens« mitfaedingt wäre, erschüttert. Derart wurde auch die An-
nahme einer phylogenetischen Bereitschaft zur Sexualverdrängung
sehr in Frage gestellt. Einen konkreten Inhalt hatte sie ohnedies nie
gewinnen können; trotzdem war sie der Keim zu den in der englischen
psychoanalytischen Schule immer breiteren Raum einnehmenden
Anschauungen von der biologischen Natur der Sexualverdrängung,
die den Zugang zur Soziologie der Verdrängung verrammelte. Es ist
aber leicht einzusehen, dass die Frage nach der Natur der sexuellen
Latenz unserer Kinder und der Sexualverdrängung keine akademische,
sondern eine praktische im vollsten Sinne des Wortes ist. Sind beide
Erscheinungen im wesentlichen biologisch, dann gibt es keine Grund-
lage einer Neurosenprophylaxe, und auch die Therapie der Neurosen
erhält dadurch einen pessimistischen Aspekt; sind sie aber im wesent-
lichen gesellschaftsbedingt, dann ist die Frage der Neurosenprophylaxe
an die der gesellschaftlichen Sexualordnung geknüpft. Meine Unter-
suchung über den »Einbruc h der Sexualmoraj« ist im wesentlichen
eine theoretische Klärung und ethnologische Begründung der künf- ,
tigen Neurosenprophylaxe, von der man bis dahin in der Psycho-
analyse ebensowenig gehört hatte, wie von der sozialökonomischen
Begründung der Sexual Verdrängung.
R. teilt nun schlicht und einfach, ohne sich über die Tragweite
dessen klar zu sein, mit, dass sich die zeniralaustralischen Primitiuen > ^ '
von uns durch Fehlen der Latenzzeit fS. 300J unterscheiden. Ich bin '^"'^'^^^-'^
überzeugt, dass er trotzdem in seinem Glauben an die biologische
Natur dieser Erscheinung unerschüttert ist, denn er kann mit einer
anderen nichts anfangen, als seine Gesamtauffassung preisgeben.
Aus bestimmten klinischen Erscheinungen ergab sich nun des
weiteren ein Zweifel an der in der heutigen psychoanalytischen
Theorie vorherrschenden Auffassung, dass die Triebstruktur hereditär
f_estgelegt sei und somit die konstitutionelle Grundlage der Neurosen
darstelle. Nach dieser Auffassung bedeutet zum Beispiel eine quanti-
tativ besonders stark angelegte orale oder anale Sexualzone die
hereditäre Grundlage der Neigung zur Entwicklung einer depressiven
beziehungsweise zwangsneurotischen Erkrankung. Auch hier gab die
klinische Durchforschung der betreffenden seelischen Erkrankungen
den ersten Anlass zu berechtigtem Zweifel an der völligen Richtigkeit
dieser biologischen Ansicht. Es konnte zwar kein Zweifel daran
bestehen, dass es hereditär festgelegte Unterschiede in der Erregbarkeit
der verschiedenen erogenen Zonen gibt; aber ebensowenig konnte
daran gezweifelt werden, dass nicht die Anlage an sich entscheidet,
objlie betreffende Person einmal^erkrankt oder nicht, ,sm.;dern wieder
140 Roheims »Psychoanalyse primitiver Kulturen«
nur das Zusammenwirken von Anlage und Erleben, und zwar noch
anders als im Sinne der Freudschen »Ergänzungsreihe«, die Anlage,
kindliches Erleben und aktuelles Erleben bilden. Nach Freud wirken
Anlage und Erleben zusammen als einander ergänzende absolute
Grössen: Ist die neurotische Triebanlage stark, dann genügt ein ge-
ringeres pathogencs Erleben zur Herstellung der Neurose; ist jene
schwach, bedarf es intensiverer und gehäufter Erziehungseinflüsse.
Mir scheint die Beziehung eine solche veränderlicher Grössen, also
eine dialektische zu sein. Zunächst lässt sich zeigen, dass es Menschen
mit starker prägenitaler Veranlagung ohne neurotische Folgen gibt.
Ferner ergab die Beobachtung der Wandlung der Libidostrukturen in
der psychoanalytischen Behandlung die Abhängigkeit der verschiede-
nen erogenen Quellen von einander. Eine als starke anale Zone im-
ponierende Veranlagung kann verschwinden, wenn die betreffende
Erregung nach der Behebung der genitalen Verdrängung abgeführt
wird. Die Erregungen kommunizieren also mit einander und hängen
in erster Linie von der Ordnung des Ge^anifscxualhaushalts ab. Man
konnte ferner sehen, dass ein gutes Stück dessen, was man einer z. B.
analen Veranlagung zuschrieb, Folge der analerotischen Eigenart der
zwangskranken Mutter war. Wenn eine Mutter ihr Kind partout
schon mit Vz Jahre völlig rein haben will, dann wird sie sich später
leicht auf eine anale Disposition des an Zwangsneurose erkrankten
Kindes berufen. Es wurde weiters klar, dass die Intensität der ver-
schiedenen erogenen Zonen auch gesellschaftlich durch Art, Tempo
und Intensität der erzieherischen Massnahmen beeinflusst wird. Wenn
sich nun eine Gesellschaft fände, die das Kind bis zur Entwicklung
der genitalen Phase an der Mutterbrust saugen lässt, dann wäre zu
erwarten, dass solche Kinder keine analen Reaktionsbildungen und
auch keine Symptome analer Natur aufweisen werden, einfach, weil
sie keine anale Phase in unserem Sinne durchmachen. Die Tro-
briandcr sind trotzdem sehr reinlich; das beweist, dass die anale
Reinlichkeit nicht unbedingt eine reaktive Bildung wie bei uns zu !
sein braucht. Durch derartige Erfahrungen und Überlegungen geriet
manche Anschauung ins Wanken. Der wichtigste Schluss aus diesen
Tatsachen war, dass eine Erziehung, die sämtliche Kinder in ein
bestimmtes System von Versagung ohne Rücksicht auf die Veran-
lagung der Triebintensität presst. Zustände erzeugt, die als Ver-
anlagung imponieren, ohne es in Wirklichkeit zu sein. Ein Kind mit
geringerer allgemeiner Energieproduktion kann sich der gleichen i
Versagungssitaation leichter anpassen als ein Kind mit stärkerer.
Wenn dieses letzte dann »nervös« wird, schliessen von 100 Psychiatern I
100 auf »nervös-degenerative Veranlagung«. Eine stärkere Energie-
1 Produktion in einem biologischen System ist aber doch noch keine
nervöse Veranlagung. Hätte die psychische Energie der verschiedenen ^
Individuen der heranwachsenden Generation Spielraum genug, sich i
»Biologische Gegebenheit« oder Erziehungsergebnis
141
auszubalanzieren, wären sie nicht einer uniformen Ideologie und
Erziehung unterworfen, die stärkere Trieborganisation würde nicht
als »nervöse Veranlagung« in Erscheinung treten; es würde dann nur
das Kind mit der stärkeren Energieproduktion mehr tollen als ein
anderes mit einer geringeren und jede zweite Nacht sich selbst be-
friedigen statt wie das schwächere in jeder vierten. Wenn aber von
fünf Kindern in einer Familie alle gleich »brav«, ruhig, beherrscht
sein müssen, dann ist klar, dass die Reaktion der verschiedenen
Kinder eine verschiedene sein muss. Ich meine, diese Überlegung ist
einwandfrei und widerlegt eine Reihe von hereditären Annahmen.
Wi r leugne n also nicht die Heredität, bestimmen sie aber nur nach
dem Mass der "Energieproduktion im biologischen System. Dann
versteht man aber auch, dass gerade die Menschen, die von der
bornierten Erbwissenschaft als Psychopathen und moral insanity
angesprochen werden, sich der korrekten Psychoanalyse als die
energiegeladensten, intelligentesten, agilsten erweisen. Sie passen nur
nicht in diese Gesellschaft und haben es deshalb schwer. Wenn in
Hitler-Deutschland 15 jährige Mädchen, die einen Freund haben, als
Psychopathen zur Sterilisation verdammt sein werden, dann urteilt
man darüber anders von unserem als vom Roheimschen Standpunkt.
Ich wollte nur zeigen, welche Bedeutung derartige Auseinander-
setzungen für das Wohl und Wehe von Generationen haben. Deshalb
ist nicht gleichgültig, ob ein prominenter Vertreter der Psychoana-
lyse, deren soziologische Bedeutung gerade in ihrer sozialistischen
Grundtendenz liegt, falsche oder richtige Anschauungen von seiner
Forschungsreise heimbringt. R. fasst die Triebe absolut und die
Verdrängung biologisch gegeben auf. Das stützt, ob er will oder
nicht, die Gesetze über die Sterilisation von Psychopathen und
Schizophrenien, die eine verrottete Gesellschaftsordnung selbst erzeugt.
R. selbst aber berichtet, dass in den von ihm durchforschten primi-
tiven Kulturkreisen die analreaktiven Charakterzüge gänzlich fehlen
und ebenso die sado-masochistischen Perversionen. R. ist zweifellos
■ein eifriger Vertreter der Tlieorie von der ursprünglichen Natur der
sadistischen Aggression. Wie erklärt er ihr Fehlen bei ganzen Kul-
turkreisen? Da R. es für überflüssig hält, die ökonomisclien und
sozialen Strukturen der durchforschten Organisationen zu beschreiben
und zu erörtern, bleiben darüber hinaus seine positiven Feststellungen
ohne Wert. Malinowskis Ergebnisse dagegen gestatteten weitgehende
Einsichten, darunter die, dass die Entwicklung der natürlichen
Aggressivität zum Sadismus die gesellschaftliche Hemmung des
natürlichen genitalen Geschlechtslebens in der Masse der Menschen
dieser Kultur zur Voraussetzung hat; das betrifft sowohl die sadisti-
sche Umstrukturierung des Einzelmenschen als auch das Auftreten
sadistischer Sexualideologie. Der zentrale Mechanismus dieser gesell-
schaftlichen Entwicklung ist das Interesse an der Dauerche, die sich
%L^
142 Rohcims »Psychoanalyse primitiver Kulturenc
aus der lockeren Paarungsehe entwickelt. In ihr tritt zum ersten
Male das sadistische Verhalten des Mannes der Frau gegenüber auf,
das sonst nicht vorkommt, also nicht biologisch ist, wie R. meint.
4. Ist die kindliche Angsi sozial oder biologisch bedingt?
Dass die Angst, die unsere Kinder regelmässig zu entwickeln
pflegen, auf nicht bewältigten inneren Triebregungen beruht, ist heute
allgemein gekannt und anerkannt. Für die Frage der Neurosen-
phrophylaxe ist entscheidend wichtig, zu bestimmen, was für die;
Nichtbewältigung der Triebansprüche verantwortlich ist. Hier gehen
die Meinungen auseinander, und zwar in einer Weise, die kein »Sowohl-
als-auch«, sondern nur mehr ein »Entweder-oder« zulassen. Freud
führt die Angst auf die Reaktion des Ichs gegenüber äusseren oder
inneren Gefahren zurück und hält an der Anschauung fest, dass jede
Angst eine Wiederholung des traumatischen Geburtserlehnisses dar-
stelle. Die englische psychoanalytische Schule behauptet, die Angst
des Kleinkindes sei biologisch festgelegt in der Schwäche des kind-
lichen Ichs, das den mächtigen Triebregungen nicht gewachsen sei
und sich ihrer durch Verdrängung erwehren müsse. Wir fragen
dagegen: Wenn die Angst eine Wiederholu ng der Geburtsangst wäre;^
müsste sie ebenso alle Kinder, auch die der Trobriander, betreffen,
, wie wenn sie ein Ausdruck biologischer UnvoUkommenheit des Ichs
fwäre.y Wenn dies aber nicht zutrifft, dann ist die Frage wichtig,
was darüber entscheidet, ob das Ich des Kindes gegenüber seinen
Trieben zurückbleibt beziehungsweise die Geburtssituation reprodu-
ziert oder nicht. Freud gab seine These auf, dass Angst ^usdnick
/!iAw»i»>A*Ä^' ^^l?^"^"^*^"^ ^^''"^^ej^lSung sei. Ich führte diese Annahme konsequent
durch, denn nur sie allein ist sinnvoll und richtig; sie gestattet
nämlich die weitere These, dass es äussere Umstände und Erlebnisse
sein müssen, die die Verkehrung der Sexualerregung in Angst bedingen^
also soziale Faktoren. Das bedeutet eine Einbeziehung der gesell-
■^chaftlichen Sexualordnun g in die Neurosenlehre^ wahrend die früher
skizzierten Anschauungen sie nicht nur ausschliessen, sondern sich
vielmehr wie zum Zwecke der Vermeidung einer soziologischen Fra-
gestellung ad hoc aufgestellte Thesen darstellen. Meine Anschauung,
hat überdies den Vorzug, dass sie von der zentralen psychoanalyti-
schen These über den Konflikt: Bedürfnis- Welt, nicht abrückt
sondern sich ihr voll einordnet und sie weiter entwickelt.
Indem derart die biologische und die soziologische Anschauung,
einander gegenübertreten, stellen sich die weiteren Differenzen ein-
facher dar. Die biologistische Ansicht_^über die AngsJ fragt nicht
1) Vgl. hierzu meine Ansicht über die Geburtsangst in »Die Funktion des Or-
gasmus.«
Die Angst als Kernproblem der Neurose HS
nach der sozialen Herkunft oder Verschiedenheit kindlichen Erlebens
jit verschiedenen sozialen Organisationen; sie hat es dadurch
bequemer, aber sie weiss auch keine Antwort, wenn eine soziale Or-
ganisation entdeckt wird, in der die Kinder keine Angst haben. Man
merkt, dass derartige gesellschaftliche Organisationen uns die ent-
scheidenden Mittel an die Hand gehen, an die Frage der Neurosen-
verhütung, deren Kernfrage die kindliche Phobie ist, praktisch heran-
zutreten; sie verraten uns nämlich beim Vergleich mit unserer Or-
ganisation die Bedingungen, unter denen die kindliche Angst und mit
ihr der Kern der Neurosenbildung vermieden werden können, prin-
zipiell zunächst. D enn in der einen Fra ge sind sich wieder alle Ana-
lytiker einig, dass die Angst das Kernproblem der Neurose ist.
Roheim bestätigt meine Auffassung auch in der Frage der Angst
gegen seinen Willen. Er beschreibt nicht nur das Erleben der »furcht-
losen Söhne und Töchter der Wildnis«, sondern gibt ganz genau auch
die Beziehung der Angst des Kindes zu seinem Sexualleben wieder,-
ohne zu ahnen, wie wichtig diese Tatsachen sind.
»Wenn ich diese Kinder (bei den Arada, Luritjia, Pitcbentara und Jumu)
'furchtlos' nenne, so tue ich das ganz bewusst, obwohl ich weiss, dass sie streng
genommen auch nicht gänzlich frei von Angsterlebnissen sind.«
Gewiss doch nicht! Welches lebendige Wesen ist frei von Angst?
Es kommt aber doch auf die Unterscheidung von neurotischer und
realer Angst an! Wenn bestimmte Organisationen angstfreie Kinder
aufweisen, dann steht die Frage vor uns, was hinzukommt, dass die
Kinder der anderen Organisation durchwegs ängstlich und neurotisch
werden.
R. schildert ausführlich ein sexuelles Spiel, das Kinder völlig un-
verhüllt ausführten; es stellt im wesentlichen den Geschlechtsakt
dar. R. fragt nicht nach der relativen Offenheit, mit der die Kinder
das Spiel vor ihm demonstrieren; während er wieder den aus Europa
mitgeführten Ödipuskomplex in das Spiel hineinlegt, spielt sich fol-
gender Vorfall ab, der uns haargenau enthüllt, was die Sexual-
ökonomie festgestellt hat : Den Einbruch einer gesellschaftlichen
Einschränkung des Geschlechtslebens der Kinder und mit ihm eine
schwerwiegende Veränderung ihrer ganzen Struktur.
»Was nun feommt, ist eine zwingende, an Deutlichkeit nicht zu übertreffende
Darstellung des Ödipuskomplexes. Der kleine Junge nimmt eine Schlange und legt
sie dem Affen an die Brust. 'Die Schlange trinkt Milch'. Dann drängt er die
Schlange zwischen die Beine des Affen. 'Die Schlange koitiert mit dem Affen'. —
Ein Vorfall, der sich zwei Monate später zutrug, macht es vollkommen deutlich,
dass Depitarinja selber die Schlange ist, die mit der milch spendenden Frau, d. h.
der Mutter geschlechtlich verkehrt.«
Das ist gänzlich uninteressant. Dass auch die Kinder der Wildnis
mit ihren Müttern und Vätern koitieren wollen, ist selbstverständlich,.
y««t^-
144 Roheims »Psychoanalyse primitiver Kulturea«
wir zweifeln nicht daran. Wohl aber halten wir es für entscheidend
wichtig zu erfahren, ob sich die Hemmung dieses Wunsches auch
dann pathologisch auswirkt, wenn die Kinder sonst untereinander
völlige Freiheit haben; und die Sexualökonomie behauptet, dass die
pathogene Natur der Hemmung des Inzestwunsches ausbleibt, wenn
das Kind sonst uneingeschränkt ist, dass sie sich dagegen voll
entfaltet, wenn die Sexualhemmung allgemein ist. Das^also nicht der
Inzestwunsch an sich, sondern nur die Bedingungen, unter denen er
erlebt und erledigt wird, über die Gesundheit des Kindes entscheiden.
Für die kommunistische Kollekti verziehung der Kinder gibt es hin-
sichtlich Strukturbildung keine wichtigere Frage. R. fährt fort:
»Deparinija, sonst ein lebenslustiger Bursche, ist eines Tages sichtlich nieder-
geschlagen. Wir sind in Herrraannshurg und die Nachkommen der altjiranga
matina (totemistischen Ahnen) gehen in die Missionsschule. 'Waruta bist du so
traurig', frage ich ihn. Nach einigem Zögern entschlicsat er sich, mir den Grund
zu sagen. Ich Itenne ihn schon im voraus. Er ist von dem Missionar geschlagen
worden, weil er ein vierjähriges lUeines Mädchen geltüsst hat. Der Missionar hat
ihm dafür eine gewaltige Tracht Prügel verabreicht. Nach einer kleinen Pause
fängt er an zu spielen, indem er behauptet, die Schlange sei traurig. Dann lässt
er die Schlange an der Vagina der Ziege riechen- Darauf heisst es, die Schlange
heirate die Ziege.«
Würde der Forscher Roheim das brutale Verprügeln eines Kindes
für einen Kuss, den es einem Gespielen gab, nicht durchaus im Sinne
der »natürlichen Ordnung der Dinge« finden und im Interesse der
»notwendigen Zucht und Ordnung«, er könnte an einer solchen Er-
scheinung nicht vorbeigehen, ohne zu fragen: »Woher kommt es, dass
der Junge jetzt gerade die Ziege heiraten will? Ist das nicht eine
Verschiebung auf ein Tier, die durch die reale Versagung eines
natürlichen Interesses hervorgerufen und fixiert wurde?« R. aber
hat's wieder mit der Tiefenpsychologie:
»Was Deparintja die Schlange tun lässt, ist sein eigenes Vergehen er
hatte das kleine Mädchen auf das Genitale geküsst. Dafür haUe er auch die
Prügel bekommen. — Nun geht das Spie! weiter, und alle Spieltiere und Puppen
müssen an der Vagina und dem After des Affen riechen, der schon immer als
die Mutter aller dieser Wesen zu gelten hatte. Darauf lässt er eine grosse Gumrai-
puppe als Häuptling auftreten, und dieser Häuptling verprügelt alle anderen Puppen
und Tiere, weil sie die Ziege berocheu haben. Dabei ist zu bemerken, dass in Herr-
mannsburg der inkata das Haupt der Missionsstation ist Eine der vielen Aus-
■IVv- drucksformen, in denen sich der Ödipuskomplex in den Spielen manifestiert s
Uns interessiert etwas anderes! Gerade das, was R. jetzt so eifrig
übersieht, ist eine Bestätigung meiner Aufstellung. Bedeutet nicht
das von R. beschriebene Spiel eine reale Veränderung im geprügelten
Jungen? Ist das nicht der Beginn einer für die massenpsychologische
Entwicklung des ganzen Stammes folgenschweren Identifizierung des
Jungen mit dem Sendboten Gottes? Nimmt nicht der Junge gerade
etwas in sich auf, was er vorher ablehnte und bald anderen gegenüber
J
Umschlagen von Mutterrecht iq Vaterrecht 145
betätigen wird? Ist das nicht die von mir beschriebene Reproduktion
eines neuen gesellschaftlichen Systems in der Struktur der ihm untery
liegenden Menschen, ein kleines Stück zwar, aber ein vorbildliches?
R. schreibt in seiner »Kritik« des »Ejnbruch etc.«:
»Schliesslich sei noch an einigen Beispielen gezeigt, dass Reich Schluss-
folgerungen aus Annahmen zieht, welche den Tatsachen nicht entsprechen. Reich
schreibt S. 22; 'da die sexualmoralische Erziehung aber erst mit dem Interesse
an Privateigentum in die Geschichte der Menschen eintritt und sich mit ihm
entwickelt, sind die Neurosen Erscheinungen der patriarchalischen privateigen-
tümlichen Gesellschaftsordnung.' Bei der Weihe des Pitchcntaraknaben, die ich
mitgemacht habe, wurde mir erklärt, dass man ihn glimpOich behandelt hat
bei dem Hiramelwärtswerfen nicht zu hart geschlagen hat, weil er stets ein guter
Knabe war, den alten Männern gehorchte und sich nicht zu viel mit den Mädchen
zu schaffen machte. Die Pitchentara sind gewiss jene Menschen auf Erden die
man noch am ehesten als Kommunisten bezeichnen kann. Nebstbei bemerkt sind
sie weder matri- noch patrilinear organisiert, haben auch keine Promiskuität,
Elfersucht ist em Hauptmotiv ihrer Handlungen sowohl im Alltag wie in den
Märchen - aber hoffentlich würde nicht einmal Reich behaupten, dass es hier
Klassenherrschaft und Kapitalismus gibt,« (S. 557/558.)
Niemand hat je behauptet, dass die mutterrecht liehen Primitiven
Kommunisten sind, wohl aber, dass sie eine urkommunistische Ge-
sellschaftsform haben, was etwas anderes ist, als der Kommunismus ■
des XX. Jahrhunderts; sie unterscheidet sich sowohl in der Wirt-
schafts- wie in der Sexualorganisation von der patriarchalischen
Form. Es muss auch einen tibergang geben; ich unterschied auf
Grund des Vergleichs der beiden Grundorganisationen zweierlei Arten,
in denen sich das Patriarchat aus dem Mutterrecht entwickelt:
erstens die innere Entwicklung durch den Heiralsgutmechanismus,
den Tribut von Clan zu Clan, den R. selbst ahnungslos beschreibt] \
zweitens äussere Einflüsse, wie etwa Eroberung durch bereits vater- j
rechtliche Stämme oder Einbruch der weissen »Kultur«. Innerhalb
der mutterrechtlichen Organisation müssen sich somit die vater-
rechtlichen Ansätze allmählich in besonderen Formen vom übrigen
gesellschaftlichen Milieu abzeichnen. So etwa fällt zunächst nur ein
Teil der Kinder unter die Gewalt der Askese, nur ein Teil unter den
Druck der puberilen Sexualeinschränkung, nur ein Teü der Erwach-
senen unter den Zwang der dauermonogamen Ehe; diese keimhaften
Formen des Patriarchats wachsen ständig auf Kosten der multer-
Jrechtlichen. Ich glaubte auch den Punkt angeben zu können, w o das
Mutterrecht plötzlich in Vaterrecht umschlägt; das geschieht dann,
wenn die Erbfolge vom Nef fen des M utterbruders auf seinen Sohn
Übergebt. Aus Malinowskis Material geht dies eindeutig hervor,
während R. erklärt, es gäbe ein Volk, das weder mutterrechtlich noch
vater rechtlich organisiert sei. Hätte er sein Material von diesem
Gesichtspunkt überschaut, er hätte so unmögliches nicht behauptet.
Denn die genannten Völker müssen, da es nichts drittes gibt, eine der
beiden genannten Formen aufweisen oder aber sich im Übergange
befinden.
U
146 Roheims s Psychoanalyse primitiver Kulturen«
\kU:^
»Der Grad der UnverhüUtheit, mit dem (die Kinder) Departarinja, Nyiki,
Iliakurla und die anderen über den Koitus und sexuelle Perversionen sprechen,
ebenso die Ausschliesslichkeit und Deutlichkeit der Sexualbcdeutung ihrer Spiele
unterscheiden diese Kinder von Kindern unserer Rasse.* <S. 357.)
Es Steht fest, dass sich die von Roheim beobachteten Kinder genau
so verhalten, wie die von Malinowski beobachteten; das beweisen auch
die Berichte über ihre Spiele. Und als ob Roheim meine ethnologische
Auffassung, die zu der seinigen in diametralem Gegensatz steht, restlos
akzeptiert hätte und sie bestätigen wollte, schliesst er den Bericht
folgendermassen ab:
»Wir haben zwei Gruppen von Kindern studiert, die beide der gleichen Rasse
angehören: die Missionskinder gehen in die Schule und haben ein in mancher
Hinsicht verändertes Wesen angenommen, wenn sie auch noch in vielen Zügen
die richtigen Kinder der Wildnis geblieben sind. Die Buschkinder dagegen toben
herum, balgen sich und koitieren miteinander, ajier ich habe bei ihnen nie irgend-
etwas gesehen, was den sadistischen und masochistischcn Spielereien ähnlich
gewesen wäre, in denen sich Depitarinja erging. (Dep. ist der Junge, der vom
Missionar geprügelt wurde.) Er ist eben oft genug für ungehemmte Ausbrüche
seiner natürlichen TriebhaftiglTeit gezüchtigt worden, so dass sich ihm die Be-
tätigung dieser Triebe mit der Vorstellung des Qiiälcns oder tjcquältwerdens
verknüpft hat. Der Eingeborene hat ursprunglich zwar einen aggressiven, aber
keinen sadistischen Charakter. Er mag in einem Wutanfall ein Kind anbrüllen,
Ja sogar den Euinerang nach ihm werfen, aber er wird es kaum mit vorbedachter
Absicht bestrafen. So hat das Buschkind niemals Gelegenheit, ein sadistisches
Überich durch Introjektion zu erwerben, und wird niemals lernen, aus dem Spiel
vom Strafen und Gestraftwerden Lust zu ziehen.« (S. 363.)
Eine bessere Bestätigung der sexualökonomischen Auffassung
hätte ich mir kaum wünschen können. Was ist aus dem Gesagten zu
schliessen?
Dass der Sadismus ein gesellschaftliches Produkt ist, Folge der
Unterdrückung d er natürlichen kindlichen Liebesregunge n, das Re-
sultat einer muskulären Umlenkung libidinöser Energie;
dass die Erklärung dieser Erscheinung im gesellschaftlichen Ein-
bruch der sexualmoralischen Regulierung des Geschlechtslebens zu
suchen und zu finden ist;
dass die Neuro sen aus der patriarchalischen Veränderung der
soziale n Ordnung hervo rgehen und der Kapitalismus nicht eine Folge
der Neurose ist, wie Roheim meint;
dass sich da s Geschlechtsleben entsprechend natürlichen Gesetzen
von selbst, sexualökonomisch ordn et, we nn es nicht behindert wird;
dass mit dem Einbruch, der moralischen Regulierung auch ihr
dauerndes ideologisches Motiv, die Notwendigkeit der Triebbeherr-
schung, hergestellt wird in Gestalt unnatürlicher, sekundärer, asozialer
Triebe, wie etwa des Sadismus und Masochismus; das gilt für alle
perversen Regungen.
Die Ko nfusion in Roheims Anschauungen, die gleiche, _die in^
weniger grotesker Form überall dort die Psychoanalyse beherrscht^
wo_dienaturwi SS enschaf fliehen Entdeckungen der Psychoanalyse mit
der bürgerlichen Wel tanschamm^^jLejJPgj;;^^ Konflikt
Sadismus als »natürliche Kompooente des männlichen Geschlechtslebens« 147
geraten, geht klar daraus hervor, dass er auf der einen Seite das
Fehlen des Sadismus selbst behauptet und belegt, dann aber wieder
anlässlich der Be schreibung eines patriarchalischen Stammes der
Aranda berichtet: t
»Bei dieser Gescllschaftsordnutig kann ein Mann immerzu neue junge Frauen
bekommen, sei es durch rohe Gewalt, sei es durch sein Ansehen als Häuptling
Die sadistische Komponente der männlichen Sexualität kann also gut ab-
reagiert werden. Männer und Frauen verfügen über eine natürliche Grausamkeit «
(S. 371.)
Somit ist alles in Ordnung, auch bei uns! Der Sadismus ist eine
natürliche Komponente des männlichen Geschlechtslebens und der
ungarische Bojar darf weiter seine Frau prügeln, genau so wie bei
den Aranda, was dann der Kleinbürger, Bauer und Prolet nachahmt;
denn hier hat Roheim »gezeigt, was für ein glückliches, ungetrübtes
Sexualleben die Aranda führen; der Mann, jeder Zoll ein Mann, ist
Herr und Vater seiner Frau«. (S. 385.) Das ist keine Politik und
keine Weltanschauung, sondern »objektive Wissenschaft!« So denkt
die gesamte bürgerliche Wissenschaft. Aber diese Wissenschaft kann
nicht mehr das Recht der Objektivität für sich in Anspruch nehmen ■
und unsere Arbeit mit dem Vorwurf der politischen Befangenheit zu i
desavouieren versuchen.
5. Weshalb gewinnt Roheim Bedeutung?
Es ist schwierig in einer wissenschaftlichen Polemik die Sache
völlig von ihrem Vertreter zu trennen; wie \vir gesehen haben,
hängt eine wissenschaf tliche A nschauung nicht in der Luft, sondern
ist untrennbar verknüpft mit St ruktu r, Denkenjmd polijischpr Stel-
jung des betreffenden Wis sen schaf tier s . Ich halte es für richtig, an
jeder geeigneten Stelle zu betonen, dass es nicht darauf ankommt,
ob eine Wissenschaft einer Weltanschauung entspringt und durch sie
gefärbt ist; dass dies nicht anders sein kann, ist jedem Marxisten
klar; wohl aber ist entscheidend, mit welcher Weltanschauung sich
eine wissenschaftliche Tätigkeit jerbündet;'mitHei%~die' das Wissen7
die ganze Persönlichkeit des Forschers und oft auch seine Existenz
und sein Leben in den Dienst der Erforschung des Seins stellt, oder
mit der, die alles tut, buchstäblich alles, von der harmlosen falschen
Theoriebildung über den Boykott des Gegners und wissenschaftlichen
Raub an ihm bis zu reaktionären Taten und Manifesten, um zwar
den Nimbus der Wissenschaft für sich zu sichern, aber im übrigen
jedes Stückchen mühsam errungenen Wissens zu verschleiern, ab-
zubiegen, seine Konsequenz zu vermeiden. Roheim ist ein glänzendes
Beispiel solcher Art der Wissenschaft und ist deshalb wichtig. Aus
dieser Diskussion lassen sich klar die zukünftigen Aufgaben der
Sexualökonomie ablesen. -
Wir wollen sie kurz zusammenfassen:
II'
148 Roheims »Psi-choaaalysc primitiver Kulluren«
Die Aufrechterhaltung und weitere Fortführung der psychoana-
lytischeu Methode der Forschung ist derzeit eine der wichtigsten Auf-
gaben jedes Kulturforschcrs und -Politikers. Wir stehen vor der Auf-
gabe, eine Frage endgültig theoretisch und praktisch zu lösen, die
seit Jahrtausenden die Menschheit unbewusst und bewusst be-
herrscht: Kann es eine gesellschaftliche Ordnung, die ihre Funktion,
die Regelung der menschlichen Beziehungen und die Sicherung der
Bedürfnisbefriedigung, erf üllen soll, ohne Sex ualunterdriickung und
Sexaalverdrängung geben?
Die ganze bisherige Kulturforschung behauptet, dass es gesell-
schaftliche Ordnung bei Triebfreiheit nicht geben kann. Dagegen
behauptet und beweist die Sexualökonomie nicht nur, das es das
gibt und geben kann, sondern vielmehr, dass mit der sexualökono-
mischen Regulierung des Geschlechtslebens, welche restlose Sexual-
bejahung anstelle der Sexualverneinung zur ersten Voraussetzung
hat, sich zum ersten Male einige der grossen Fragen der Menschheit
lösen lassen werden, die heute ihr Leben bedrücken; dass mit dem
sexualökonomischen Geschlechtsleben der arbeitenden Bevölkerung
der Erde die soziale Demokratie und wirkliche Ma^se/ikultur erst
beginnen kann. Da existierende Widersprüche nach den Gesetzen
der Dialektik zu einer Lösung_drängen^und sie schliesslich auch imme.r
finden r^ö^känn de r Wide rspru ch zwischen Sexualität u nd Moral,
NÜtÜründ Kultur, Sexualleben und Arbeitsleist ung, Individuum u nd_
Kollektiv prinzipieU Tteme" AusnahmiTSiiden. ~
Hierher gehören folgende Detailfragen:
1. Die Sexuaiunterdrückung, unter der die Massen der Werktä-
tigen stehen und die sich als Religion, Aberglauben, Mystik jeder Art,
Denkhemmung, Autoritätsfurcht, blinder Gehorsam, Opferbereitschaft
für Ausbeuter, Unfähigkeit zur Kriegsdienstverweigerung etc. etc.
äussert, ist die mächtigste W affe der Besitzer der Produktionsmittel..
Das sexuelle Erwachen der breitesten Massen, das auch das Be-
jwusstsein ihrer wirtschaftlichen^ Unterjochung entbindet, bedeutet^
das endgültige Ende des Kapitals und seiner Herrschaft. "
2. Die gesellschaftliche Sexualunterdrückung schafft die seeUschen
Leiden, die eine Massenseuche bilden. Eine massenmässige Neurosen-
prophylaxe hat die Aufhebung der Sexualunterdrückung zur wich-
tigsten Voraussetzung.
3. Die Sexualhemmungen und -Störungen zerrütten die mensch-
liche Intelligenz, den menschlichen Mut und Realitätssinn, die mensch-
liche Arbeitskraft. Die Kluft zwischen der Leistungs/ähi£r/qe(f der
Menschen und ihren effektiven Leistungen und ArbeiAsinteressen ist
riesenhaft^ Eine Lösung der Frage der Produktivkraft »Arbeitskräfte
_ist_ohne_Sexualö ko"riomie unmöglich. Ist dies falsch, dann sind die
ganze psychoanalytische Sexualtheorie und die Orgasrauslehre falsch.
4. Der Fortbestand der Religion und der Mystik in jeder Form
Rückentwich] ung der ersten Ansätze einer sozialistischen Kultur
149
ist eine Frage des Fortbestandes der Sexualmoral und der Sexiial-
unterdrückung. Solange die sexualökonomische Regelung des Ge-
schlechtslebens nicht hergestellt ist, ist mit einer massenmässigen
Lösung dieser Fragen nicht zu rechnen.
5. Jedes gesellschaftliche S ystem reproduziert sich ideologisch iiL
der S t ruktur seiner Mitglieder, und die Struk turbi ldung ist im
wesent lichen e ine Frage der sexue llen Strukturier ung. In Sowj et-
russland, wo die Tendenz zur entsprechenden sexuellen Umstruk^
turierung in den Jahren 1918 bis 1923 deutlich, jedoch den Führern
der Revolution nicht bewussl, durchbrach, herrscht heute, und zwar
fortschreitend, ein Widerspruch zwischen der wirtschaftlichen Grund- li r r ^
läge des Sozialismus und der menschlichen Strukturhildung, der eine '^■■*-i'lv*
Rückentwicklung der ersten Ansätze zu einer sozialistischen Kulturj
zur Folge hat^).
Die Anpassung des Menschen an das sozialistische Wirt^hafts-
system muss dort im wesentlichen als missglückt bezeichnet werden.
Da sich aber jedes gesellschaftliche System entweder in den Menschen
r
_libidinös reproduzi ert oder aber, wenn e s das n icht tut, sich selbst
_gefährdet; da nur d ie Menschen, nicht aber die toten Produktiv-i!
Jträfte, da s tre ibende Material des gesellschaftlich en Prozesses sind
( was Marx genau wusste, wenn er seine Lehre auf dem Unterschied!
zwischen lebendiger und toter Produktivkraft basierte), ist die Frage
der S exualökonomie für die Sowjetunion un d jeden künftigen Ar- j
heiter- und Bauernstaat Yo n „lebens\yichtiger Bedeutung .
Diese der Erforschung harrenden Probleme rechtfertigen unseren
Willen zu unnachgiebiger, rücksichtsloser Kritik und ernster, kom-
promissloser Arbeit. Unser Weg ist mühsam und sozial heute gefähr-
lich, die Erreichung des Zieles deshalb sehr unsicher, die Wider-
stände gerade der m assgebenden und verantwortlichen Führer der
revolutionären Bewegung ebenso wie der Wissenschaft sindunggheuer.
Unsere Kenntnisse vom menschlichen Sehnen, von menschliche^
Struktur und ihren Widersprüchen, von den Hindernissen, den
inneren sowohl wie den äusseren, die der Erreichung der soziali-
stischen Gesellschaft im Wege stehen, befähigen uns besser als bloss
gefühlsmässiges Wollen, uns Schritt um Schritt durchzukämpfen.
Was heute unglaublich klingt, zu politischen Verfolgungen Anlass
gibt, auch im revolutionären Lager auf gefühlsmässige Widerstände
stösst, wird einmal zu den einfachsten Selbstverständlichkeiten ge-
hören. Wir »schwimmen gegen den Strom«, haben aber dabei
ehrfurchtgebietende Vorbilder. Dass wir hier und dort irren, ist
sicher. Dass wir eben im Begriff sind, die Geheimnisse einer mehrere
Jahrtausende alten Kulturbarbarei zu enthüllen und die sexuelle
Revolution der Zukunft praktisch zu beginnen, ebenso.
1) Eine genaue Begründung dieser Beliauptung ist in Vorbcreituug.
FREMDWÖRTERVERZEICHNIS
Aetiologie I Ursachen einer Krankheit
affektiv I erregt, gefühlsbewegt
Agilität / Behendigkeit
Akkumulation / Ansammlung, An-
häufung
Albinos ! Menschen ohne Hautfarb-
stoff
Ambivalenz / gleichzeitige Bejahung
und Verneinung, gleichzeitige Hass-
und LicbcseiustelluQg
Analität / Sexualität der Afterzone
Antagonismus / Gegensätzlichkeit
Akquisition / Errungenschaft
arkadisches Leben I glückliches Leben
Askese I Enthaltsamkeit
Biologie I Lehre vom Leben
Chaos I Unordnung, Verwirrung,
Durcheinander
Defekluosität / Fehlerhaftigkeit
Dekorum I Schein nach aussen
demonstrieren / aufzeigen
deskriptiv / beschreibend
Destruktionstrieb / Zerstörunstrieb
desolat / trostlos
Diagramm j Abriss, Zeichnung
dialektisch / in Gegensätzen sich ent-
wickelnd
Dissozialität / gesellschaftsfeindliche
Haltung
DiDergenz / Verschiedenheit, Ausein-
anderstreben
Domäne I Gebiet, Bezirk
Dynamik / Kräftewirkung
Ehrenkodex / Ehren Vorschrift
Ejakulation I Samenerguss
endogam I innerhalb des Stammes
heiratend
en masse / massenhaft
Epoche I Zeitabschnitt
etablieren I errichten, gründen
Ethnologie j Völkerkunde
Etikette I Vorschrift, Sitte
Evolution ! allmähliche Entwicklung
Exzision I Herausschneiden
Exhibitionismus / Drang sich zu ent-
blössen
Exhumierung / Leichenausgrabung
Exkrement / Auswurfsstoffe, Kot
Exogamismus / Heirat nur ausserhalb
des Clans
Expansion I Ausdehnung
Extirpation I Herausschneiden
Fellal'o I Saugen am männlichen Glied
feudal I lehensherrlich, adelig
Fiasko / Zusammenbruch, Misserfolg
Fixierung I Festhalten
Floskel I nichtssagende Redensart
Friktion ! Reibung
garconniere / Junggesellenwohnung
Genitalapparat / Geschlechtsapparat,
2eugungsorganc
Gens / Clan, Summe aller mütterlichen
Blutsverwandten
Gruppenkonkubinat / gruppen weises
geschlechtliches Zusammenleben
Heredität / Erblichkeit
Hygiene I Gesundheitspflege
Hypothese j unbewiesene Annahme
Hysterie I seelische Erkrankung l>e-
sondercr Art; besondere körperliche
Erkrankung auf seelisch-sexueller
Grundlage
Idiotie I Verblödung
impotent / sexuell unfähig
infantil / zurückgeblieben, kindlich
Iniliatioe / inangriffnahme einer
Handlung, Unternehmungsgeist
Iroliesen / Ureinwohner Amerikas
inttiitiu I gefühlsmässig erfassend
Invertiertheit I Homosexualität, Stre-
ben zum gleichen Geschlecht
Inkas I Ureinwohner Amerikas
Inzest I Verkehr mit Hlutsverwandten
Inzesttabu / Verbot des Verkehrs unter
Blutsverwandten.
Yamsknollen / Knollenfrucht der
Südseeinseln
kausal / ursächlich
Kohabitation / Geschlechtsakt
Kollektiüopposition. / gemeinsam«
Auflehnung einer Gruppe
kompensieren / wettmachen
Komplex / zusammenhängende, gt-
fuhlbetonte, unbewusste Vorstellun-
gen
Komsomolzen
der UdSSR.
konservatiu /
halten
Konzeption / Empfängnis
kosmisch / das Weltall betreffend
Kretinismus / kürperlich bedingte Ver-
blödung
Lagune I Niederung an cioer Küste
Libido I Energie des Geschlechtstrie-
bes
lyrisch / gefühlvoll
Magie l Zauber
Manifestation I Offenbarung
Manko / Mangel, Fehler
methodologisch j streng wissenschaft-
lich untersuchend
Monogamie / Einehe
Monopol I Alleinrecht
Motilität l Beweglichkeit
Motiv I Beweggrund
Mythos I Volkssagc
Mythologie / Lehre von den Volkssa-
gen
/ Jungkommunisten in
Bestehenden fest-
am
Neurasthenie I durch Sexualstörunfi
bedingte Erkrankung des Nervensy-
stems.
Nearose / seelische Erkraukung
Neurosenprophjjlaxe / Verhütung see-
lischer Erkrankungen
normativ 1 vorgeschrieben
Ödipuskomplex I Summe aller sexuel-
len Beziehungen der Kinder zu den
Eltern
orgastische Potenz / Fähigkeit zu vol-
ler sexueller Befriedigung
pathologisch / krankhaft
Pädagogik / Lehre von der Erziehung
Penilinclus I s. Fellatio
Penisneid j Neid der kleinen Mädchen
auf das männliche Glied
Persuasionsmetbode / Heilung durch
Überreden
Peruersion / Geschlechtsverirrung
pelitio principii j Vorwegnähme des
zu Beweisenden
Phratrie I Brüderschaft
phylogenetisch f durch die Entwick-
lung der Art bedingt
Physiologie / Lehre von den Körper-
funktionen
physiologische ejaculatio praecox I
vorzeitiger Samenerguss beim durch-
schnittlichen zivilisierten Manne
Picknick / gemeinsames Essen, zu dem
alle beisteuern
Polygamie / Vielweiberei
Plutokralie / Geldherrschaft
Polyandrie / Beziehung einer Frau
mit mehreren Männern
postulieren / Forderung aufstellen
Prinzip / Grundsatz
Priorität I Erstmaligkeit
Privileg / Vorrecht
Promiskuität j ungeordnete Ge-
schlechtsbeziehungen
Psychiatrie / Lehre von den Geistes-
störungen
Psychopathologie l Lehre von den
seelischen Krankheiten
Psychopathie / Seelenstörung
Psychotherapie / Seelenheilung
Pubertät j Geschlechtsreife
puritanisch / sittenstreng
real I wirklich, sachlich, dinglich
relativ / verhältnismässig
Reliquien I Überreste, die verehrt
werden
Resignation / Entsagung
retardieren / verlangsamen
Ritus I Zeremonie, herkömmliche
Weise oder Gebrauch
Rivalität / Nebenbuhlerschaft, Wett-
bewerb
Romantik / indi vi dualistisch- schwär-
merische Richtung in der Literatur
und Kunst
Sekretion / Absonderung, Ausscheidung
sekundär / an zweiter Stelle, unter-
geordnet
sexuelle Ökonomie / Haushalt der
sexuellen Energie
Sodomie I Geschleehtsbetätigung mit
Tieren
somatisch j körperlich
Soziologie I Gesellschaftswissenschaft
stereotyp / andauernd, unveränderlich,
gleichmässig auftretend
Struktur / Zusammensetzung, Aufbau,
Bauart
sublimieren / einen sexuellen Trieb
von einem sexuellen auf ein sozia-
les Ziel ablenken
suppanieren / annehmen
Symbolik / Sinnbildliehkcit
Symptom I Anzeichen einer Krank-
heit
tabu I unhcriihrbar, unverletzbar,
verboten
teleologisch / vom Ziel, nicht von der
Ursache bestimmt
Tendenz / Absicht, Richtung
Terminologie I Ausdrucks weise
Therapie / Heilungsmethode
These I Satzaufstellung
Toteintier I das heilige Tier der Pri-
mitiven
Tradition I Herkommen
Transformation I Umwandlung
Tribut I Abgabe, für die eine Ver-
pflichtung besteht
Triebiwnstellation I Triebzusammep-
setzung
Tumeszenz / sexuelle Spannungsstei-
gerung
Vbiquität l Allgegenwärtigkeit
unrationell I unzweckmässig
Urologe / Facharzt für Harnkrank-
heiten
V aterkomplex / Summe aller ver-
drängten Gefühlsbeziehungen zun»
Vater
Voyeurinteresse I sexuelle Lust am
Schauen
Vulva I weibliche Scham
\
,. 1
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort zur I. Auflage V
Die psychoanalytische Formel der Neurose — S. V; Die Scxualmoral als
Hindernis der Psychotherapie — S, VII; Die Frage der Neurosenverhütuns —
S. VII; Der Weg zu Marx — S. VII; Neurosenseiiche und Familienerziehung
— S. VIII; Die marxistische und die freudistische Auffassung der Moral — S. IX;
Die sowjetrussische Scxualgesetzgebung — S. V; Wandlung der Sexualmoral und
Widersprüche — S. XI; Stellung zur psychoanalytischen Scxualtheorie — S. XII;
Erste sexualpolitische Erfahrungen — S. Xlll.
Vorwort zur II. Auflage XV
ERSTER TEIL:
Die Herkunft der Sexualverdrängung
]. Kap.: Die sexuelle Oekonom, ie in der mutterrechtli- .
chen Gesellschaft S ^
1. Das Sexualleben der Kinder bei den TrobriandcrD 4
Verhalten der Eltern — S. 6; sexualökonomische Wertigkeit einer
Verhalten der Eltern — S- 5; sexualökonomische Wertigkeit einer sexu-
ellen Regung, bestimmt durch die gesellschaftliche Moral — S. 6;
Autoritätslose Erziehung — S. 7; Die Kinderkommune — S- 7.
2. Das Sexualleben der Jugendlichen 8:
Sexualbejahung und gesellschaftliche Befürsorgung — S. 9/10; Das
bukumatula — S. 11; Sexuelle Sozialität ohne Zwang — S. 11;
»Monogamie«, »Polygamie« usw. als Prinzipien moralischer Regu-
lierungsbestrebungen — S. 12.
3. Die sexuellen Festlichkeiten l*
Unterschiede der sexuellen Festlichkeiten bei den Trobriandern und bei
der bürgerlichen Jugend — S. 13; Liebes aus f lüge der Mädchen — S. 14;
Der Brauch des kayasa — S, 14.
4. Die orgastische Potenz der Primitiven 1&
Unterschiede gegenüber den bürgerlichen Sexualfesten — S. 15; Die ^
sexuelle Gesundheit der Frauen — S. 17; Die Sexualcrzichung der
Primitiven — S. 18; Sexuelle tJbungen zur Wettmachung sexueller
Schädigungen — S. 19.
5. Keine Neurosen — Keine Perversionen '*
Neurosen und Perversionen als Erscheinungen der palriarchalischen ^
Sexualunterdrückung — S. 20; Neurosen bei vaterrechtlichen Primi-
tiven — S. 21; Homosexualität als Ergebnis der Hissionstatigkeit —
S. 21; Die Verachtung der f.eschlechtsverirrungen durch den Primitiven
S. 22; Sadismus unbekannt — S. 23; Onanie als unvollkommener Ersatz
betrachtet — S. 23; Sexualökonomische und sexualmoralische Wertung
S. 24/25.
H. Kap. : Die ökonomischen und sexuellen Widersprüche
der Trobriander 26
1, Die mutterrechtliche Organisation und das auf-
steigende Patriarchat 2&
Die urkommunistische Wirtschaft — S. 27; Besitzrecht am Kanu —
S. 27; Urkommunismus und Tauschverkehr — S. 28; Claneinteilung
— S. 29; Die Stellung des Vaters und Mutterbruders — S. 29; Vater-
rechtliche Prinzipien — S. 30; Stellung des Häuptlings — S. 30/31.
2. Das Heiratsgüt als Zerstörer der mutterrecht-
lichen Gesellschaft 32
a) Die E h e s chl i es su n g 32
Die Paarungsehe — S. 32; eheliche Sexu alein schränkung — S. 33;
Gemeinsames Essen als Symhol der Ehe — S. 33; Gründe für die
Eheschliessung ■ — S. 35.
b)Die »einzig gesetzliche« Ehe 35
Das Heiratsgut — S. 36/37; Schema der »gesetzlichen« und der
»ungesetzlichen« Ehe — S. 38; Kreuz-Vetter-Basen-Heirat — S. 38/39;
Wirtschaftliche Vorteile bei Kreuz-Vetter-Basen-Heirat — S. 39;
Vorrechte des Häuptlingssohnes bei Kreuz-Vetter-Basen- Heirat —
S. 40; Häuptlingssohn und Häuptlingsneffe — S. 40; Nachteile für
den Häuptling bei beliebiger Heirat — S. 41; Die »schlechte Ehe«
— S. 42.
3. Ausbeutung und ihre ideologische Verankerung 42
Das Entstehen der patriarchalischen Grossfamilie - — S. 43; Heirats-
system und Ausbeutung — S. 44; Die Trauerriten — S. 44/45; Kom-
pensation des Hasses, Angst der Verwandten des Ausbeuters vor den
Ausgebeuteten — S. 45/46; Ideologische Verankerung der ökonomischen
Situation — S. 46,
III, Kap.: Der Einbruch der s e x u al f e i n d 1 i che n Moral 47
1, V o re h e 1 i c h e Keuschheit *'
Jugendliche Enthaltsamkeit als Forderung der »Kultur« — S. 47;
Schädigung der Genitalität und Ehefähigkeit — S. 48; Askeseforderung
für Jugendliche aus ökonomischen Motiven — S. 49/50.
2. Die grausamen P uh e r t ä t s ri t e n ■■ 51
Exzision der KHtoris — S, 51; Die Funktion der genitalen Ver-
stümmelung — S. 52; Kampf gegen die kindliche Sexualität — S. 53.
54
54
IV. Kap.: Urkommunismus — Mutterrecht; Privateigen-
tum — Vaterrecht
I.Zusammenfassung
Der Streit um die Priorität des Mutterrechts — S. 55; Widersprüche
der Vaterrechtstheorie — ■ S. 55; Vorkommen des Mutterreehts — S, 56;
Urkommunistisch organisierte Stämme — S. 57; Ehe als primitives
Produktionsverhältnis ^ S. 58.
2. Das Heiratsgut als Vorstufe der Ware 58
3. Die Herausbildung der patriarchalischen Gross-
familic und der Klassen 59
Das Heiratsgut zerstört die Gentilorganisation und stellt die Gross-
familie her — S. 60; Erklärung für die Konzentration der gesell-
schaftlichen Reichtümer in einer Hand — S. 61/62; Ursprung der
Klassenteilung — S. 63.
V. Kap, : Bestätigung der Morgan-Engelsschen Theorie
und Korrekturen 6*
1. Zusammenfassung der Morgan-Engelsschen Funde 65
Die Bachofen sehe Hypothese — S. 66; Mac Lennans Irrtum
— S. 66; Die Familienentwicklung nach Morgan — S. fi7; Struktur
der mutterrechtlichen Gentilorganisation — S. 67; Übergang zum
Patriarchat — S. 68/69.
2. Vorkommen des Heiratsgutes in der. Gentilgesell-
schaft 69
3. Die Heirat sklassen der Australneger 72
VI. Kap. : Die Herkunft der Claneinteilung und des In-
zeslverbotes 77
1. Überreste aus der Urzeit 77
Fünf bemerkenswerte Tatbestände — S. 78; Clan, dasselbe wie die ur-
sprüngliche Urhorde — S. 78; Inzestverbot von fremder Horde auferlegt
— . 79; Einrichtung der Wechselheirat — S. 79; Die Stämme sind
zusammengesetzte Gebilde — S. 81; Samoanischc Brautwerbung —
S. 83; Die ulatile - Expedition — S. 84; Der Brauch des yausa — S. 86; .^
Heiratsgut bei den Papuas und anderen Stämmen — S. 87. I
2. Die Morgan-Enfielssche Hypotliesc der Exogamie 88
Erklärung des Inzestverbots aus der »natürlichen Zuchtwahl« —
S. 88/89; Widerlegung dieser Hypothese — S. 89/90; ükonomische
Erklärung der Heiratsklassen bei den Kamüaroi — S. 90.
3. Die Freudsche Hypothese vom Urvatermord 91 *
Unzutreffende Voraussetzung der F r e u d sehen Hypothese — S. 92/95; ^.
Kritik der Methode der psychoanalytischen Rclig Jonsforschung —
S. 95/96 ; Wandlung der Beziehung zwischen Familie und Gens —
S. 96/97.
ZWEITER TEIL:
Das Problem der S c x u a i ö k o n o m i e 95 '
1. Zusammenfassender geschichtlicher Überblick ... 101
Wirtschaftlicher und sexueller Prozess — S. 101/102; Niedergang der
Sexualkulfur — S. 103; Sexualunterdrüekung und Klassengegensätze
von Mann und Frau — S. 103; Ursprung der Habgier — ■ S. 104;
Sexualunterdrüekung als historische Erscheinung — S. 105.
2, Bedürfnisbefriedigung und gesellschaftliciie Rea-
lität 105
Der Engelssche Versuch, die Sexualität einzureihen — - S. 105; Das
Sexualbedürfnis als geschichtlicher Faktor — ■ S. 107; Korrektur der
Annahme »objektiver« Art- und Selbsterhaltungstendcnzcn — S, 108;
geordneter und ungeordneter sexueller Haushalt — S. 109; Kritik des
»Ökonomismus« — S. 108; Sexualität als Klassenfrage — S. 109/111;
Umschlagen der Sexiialbejahung in Scxualverneinung ■ — S. 110; Sexual-
unterdrückung als reaktionärer Faktor — - S. 111; Auflösung der
normativen Ordnung des Geschlechtslebens — S. 112; Einige Gesetze
der Sexualökonomie — S. 112/114.
3.Produktion und Reproduktion der S c x u a l m o r a ! ... 11*
Verankerung der Moral — S. 114; Der Prozess der Ideologiübildung
— S. 115; Rückwirkung der Ideologie auf ihre ökonomische Basis —
S. 116; Die privatwirtschaftliche Funktion der Sexualverdrängung —
S. 116; Psychische Verankerung der ökonomischen Struktur der Gesell-
schaft — S. 117; Widersprüche der Sexualunterdrüekung — S. 118;
Aufhebung der Sexualverneinung durch die soziale Revolution —
S. 118/119.
ANHANG: '■
RoheiiDs »Psychoanalyse primitiver Kulturen« 123 ,
1. Roheims Methode der ethnologischen Forschung ... 123 ^
■ Ablehnung der Roheimschen Deutungstechnik - — S. 125; Die typischen
Konflikte der Primitiven — S. 127; Aggressionen gegen die weisse Kul-
tur — S. 129; Metaphysische und materielle Psychoanalyse — S. 131.
2. Wilde Deutung und daher groteske Überspitzung *
der üblichen falschen Anschauungen 133
Roheims Übersteigerung der bürgerlichen Sexualanffassung — S. 133;
Bedeutung der puberilen Beschneidungen — S. 135; Roheims Ver-
teidigung der sadistischen Einstellung ~ S. 137.
V
3. Rohcim widerlegt sich selbst und bestätigt den
Einbruch der Sexualmoral 138
Die sexuelle Latenzzeit des Kindes — S. 139; »Biologische Gegebenheit«
oder Erzichungscrgebnis — S. 141.
4. Ist die kindliche Angst sozial oder biologisch
bedingt 1*2
Die Angst als Keroprohlem der Neurose — S. 143; Umschlagen von
Mutterrecht in Vaterrecht — S. 145; Sadismus als »natürliche« Kom-
ponente des männlichen Geschlechtslebens« S. 147.
5. Weshalb gewinnt Roheim Bedeutung? 147
Rückentwicklung der ersten Ansätze einer sozialistischen Kultur —
S. 149.
FREMDWÖRTERVERZEICHNIS 159
..,^.
i
4
^£^
WILHELM REICH
CHARAKTER AN ALYSE
TECHNIK UND GRUNDLAGEN
FÜR STUDIERENDE UND PRAKTIZIERENDE ANALYTIKER
Oktav, 288 Seiten. In Leinen Kr. 12.80. Geheftet Kr. 11.25
^^^^^^^^^■^^H Aus dem Vorwort: ^^^^^^Bi^^^HB
Die technisch-therapeutischen Ausführungen und die dynamisch-öko-
nomischen Auffassungen des Charakters als Gesamtformation entstammen
überwiegend den reichlichen Erfahrungen und Diskussionen im Wiener
»Seminar für psychoanalytische Therapie« am obengenannten Institut, das
ich sechs Jahre hindurch unter tätiger Mithilfe einer Reihe arboitsfreudiger
junger Kollegen leitete. Ich muss bitten, auch jetzt weder Vollltommenheit
in der Darstellung der aufgeworfenen Probleme noch Vollständigkeit ihrer
Lösung zu erwarten. Wir sind auch heute wie vor neun Jahren von einer
umfassenden, systematischen psychoanalytischen Charakterologie noch weit
entfernt. Ich glaube nur, mit dieser Schrift die Entfernung um ein er-
hebliches Stück zu verringern.
Verlag für Sexualpolitik Kopenhagen, Postbox 827
ZEITSCHRirT rOR
POLITISCHE PSYCHOLOGIE
UND SEXUALÖKONOMIE
HERAUSGEBER: ERNST PARELL
Preiss
Einzelheft, 90 Seiten, Dan. Kr. 3.—. Doppelheft Dan. Kr. 4.50.
Abonnement: Für 6 auf einanderfolgende Hf. Dan. Kr. 12.—
Verlag für Sexualpolitik, Kopenhagen, Postbox 827
Postgiro: Kopenhagen 30302, Prag 7&790 (Jörg. Neergaard)
Wilhelm Reich Zweite Auflage.
Massenpsychologie des Faschismus
Zur SexualpoliHk der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik
In der -Neuen Weitbühne' schreibt Ludwig Marcuse u. a.
j Das Motiv zu dieser Untersuchung ist weder eine
sorglose Neugier, noch jene üble Rechtfertigungsmanie, die nach
jeder Niederlage immer beweist, dass kommen musste, was ge-
kommen ist. Reich sucht im Gegenteil das theoretische Funda-
ment für eine realistische, also wirksame Propaganda gegen
den FaKchismus. Er ist, wohl mit vollem Recht, der Ansicht,
dass der Marxismus in seiner heutigen theoretischen Gestalt eine
solche Propaganda nicht fundieren kanu. Was war denn bisher
das A und O seiner Attacke auf die gegnerischen Ideologien?
Politische Institutionen, religiöse Dogmen, moralische Begriffe
wurden als Einhüllung des wirtschaftlichen Interesses der
herrschenden Klasse »entlarvt«. Jetzt, da nun das Resultat
dieser jahrzehntelangen Entlarvungspädagogik sichtbar ge-
worden ist, hilft man sich zur Erklärung der Tatsache, dass
alle soziologische Aufklärung die Massen nicht gehindert hat,
zu Thyssen zu gehen, mit Vokabeln wie »Ablenkungsmanöver«,
»Folgen von Versailles«, a Hitler-Psychose«. Reich deutet auf
die Ergebnislosigkeit solcher Wortprägungen hin
Massen sind nicht durch Theorien zu überzeugen,
sondern nur durch den konkretesten Hinweis auf das Glück
und Unglück, das jeder Einzelne am eignen Leibe und eignen
Leben erfährt.«
Preis:
broschiert
Dan. Kr. 8.-.
gebunden
Dan. Kr. 9,-.
Wilhelm Reich 5.— 10. Tausend
Preis:
Der sexuelle Kampf der Jugend g;rDK^4:2i
Umfang 160 Seiten. Mit einem Fremd wörierverieichnis und vielen Abbildungen
NEUE LEHHER2EITUNG:
» Reich (gibt) eine gründliche Analyse der sozialen Wurzeln der Sesualnot
und zeigt, dass die sexuelle Befreiung nur von einer Sndcrung des wirtschaftlichen
und politischen Fundaments der Gesellschaft erwartet werden kann. Die Sprache
des Buches ist volkstümlich, so dass es besonders der proletarischen Jugend, für
die es geschrieben ist, als Wegweiser dienen wird. Wir empfehJen es aJ>er darüber
hinaus allen Lehrern und Erziehern a
VerBag für Sexualpolitik, Kopenliagen, Postbox 827
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