Prof. Si gm, Freud
Kleine Schriften
Fünfte Folge
SAMMLUNG KLEINER SCHRIFTEN
ZER
NEUROSENLEHRE
VON ,
PROF. De. SIGM. FREUD
FÜNFTE FOLGE '
19 2 2
INTERN. PSYCHOANALYTISCHER VERLAG GES. M. B H.
LEIPZIG WIEN ZÜRICH
Durch die AuBlieferungsstellen de«
Internationalen Psychoanalytischen Verlages
WIEN, i. Grünangergassä I,
LEIPZIG, Hospitalstraße 10,
ZÜRICH, Rämistraße 39 (Buchhaiidi. BIfimel),
LONDON W I, 45 New Cavendish Street,
können bezogen werden die afften Jahrgänge der
IMAGO
iiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiitiiiiiitiiiiiiimiiiiifiiiikliiiiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiUiiiii
Zeitschrift für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften.
I. Jahrgang (1912).
(Komplett nicht vorhanden.)
II. Jahrgang (1913).
(Komplett in 6 Heften, uneebunden oder in
Halbleinen band oder in Halbledcrband.)
Aus dem Inhalte: Andreas-Salome: Von»
frühen Gottesdienst. — Berny: Zur Hypothese
des sexuellen Ursprunges der Sprache. — Fe-
renczi: Aus der „Psychologie 1 - von Hermann
Lotze. — Freud: Das Motiv der Kästehenwahl.
— Hitschmann: Schopenhauer. — Jones:
Andrea dei Sartos Kunst. - 1 - Lorenz: Das
Titanenmotiv. — Pfister: Die Entscheidung der
künstlerischen Inspiration. — Reik: Über dou
zynischen Witz. — Sachs: Spitteier. — Sadger:
Über das Unbewußte und die Träume bei Hebbel.
— Spielrein: Die Schwiegermutter. — Weiß:
Vom Keim undKefrain, — Winterstein : Psycho¬
analytische Bemerkungen zur Geschichte der
Philosophie — usw.
HI. Jahrgang (1914).
(Komplett in 6 Heften, ungebnndon oder in
Halbleinenband oder in Halblederbaud.)
Aus dem Inhalte: Andreas-Sa!om€: Zum
Typus Weib. — Blüher : Über Gattenwahl und
Ehe. — Brill: Die Psychopathologie der neuen
Tänze. — Eisler: Der Fisch als Sexunlsymbol.
— Giese: Sexualvorbiläer bei einfachen Ver¬
richtungen. — Jäkels: Der Wendepunkt ina
Leben Napoleons I. — Lorenz: Die Geschichte
des Bergmannes von Falun. — Sachs: Homers
jüngster Enkel. — Schroeder: Der sexuelle
Anteil an der Theologie der Mormonen. — Sil-
berer: Der Homunkulus. — Sperber: Von
Dantes unbewußtem Seelenleben — usw.
IV. Jahrgang (1915-1916).
(Komplett in 6 Heften, ungebunden oder iu
Halbleinenband oder in Halblederband.) .
Aus dem Inhalte: Ar;dreas-Sr.Iom£: „Anal“
und „Sexual“. — Freud: Einige Charakter¬
typen aus der psychoanalytischen Arbeit. —
Hitschmann: Ein Dichter und sein Vater. —
Hug-Hellmuth: Einige Beziehungen zwischen
Frotik und Mathematik. — Kaplan : Der tra¬
gische Held und der Verbrecher. — Lorenz:
Ödipus auf ELolono9. — Rank: Das Schauspiel
im „Hamlet“. — Sachs : Die Heimkehr der
Seele — usw.
V. Jahrgang (1917-1919).
(Komplett in ti Heften, ungebunden oder in
Halbleinenband oder in Halblederband.)
Aus dem Inhalte: Bardos: Zur Problematik
der Musik — Bernfeld: Zur Psychoanalyse der
Jugendbewegung. — Ferenczi: Zur Ps3'cho-
genese der Mechanik. — Freud: Das Unheim¬
liche. — Jekeis : Shakespeares „Macbeth“. —
Levy: Ist das Kainszeichen die Beschneidung?
— Pfeiffer: Äußerungen infantil- erotischer
Triebe im Spiel. — Rank: Homer. — Reik:
Das Kainszeichen. — Sachs: Der „Sturm“. —
Teller: Musikgenuß und Phantasie — usw.
VS. Jahrgang (1920).
(Komplett in 4 Heften, ungebunden oder in
Halbleinenband oder iu H&lblederband.)
Aus dem Inhalte; Abraham: Der Versöh¬
nungstag, — : Eisler: Übe* einen besonderen
Traumtyp. — Felszeghy: Panik und Pan-
Komplex. — Goya: Das Zersingen der Volks¬
lieder. — Levy: Die Kastration in der Bibel.
Lorenz: Der politische Mythus. — Pfister: Die
Entwicklung ’ des Apostels Paulus. — Reik:
Ödipus und die Sphinx. — Winterstein: Dio
Nausika-aepißode in der Odyssee — usw.
VII. Jahrgang (1921).
(Komplett in 4 Hefton, ungebunden oder in
I Halbleinenband oder in Halblederband.)
Aus dem Inhalte • Delgado: Der Liebes-
reiz der - Augen. — Deutsch : Zur Psychologie
des Mißtrauens. —- Dukes: Psychoanalytische
Gesichtspunkte in der juridischen Auffassung der
„Schuld*. — Hellmuth: Vom „mittleren“ Kinde. *
— Kolnai: Über das Mystische.— Klein: Eine
Kinderentwicklung. — Pfister: Über die pri¬
märe Grundlage der höchsten Gefühle. — R6-
heim: Eidolon. — Teller: Die Wechselbezie¬
hungen von psychischem Konflikt und körper¬
lichem Leiden bei Schiller. — Wiilterstein: Der
Sammler. — Van derWolk: Zur Psychoanalyse
des Rauchopfers — uaw.
VIII. Jahrgang (1922).
(Im Erscheinen.)
VON
PROF. De. SIGM. FREUD
FÜNFTE FOLGE
INTERN. PSYCHOANALYTISCHER VERLAG GES. M. B. H.,
LEIPZIG WIEN ZÜRICH
Alle Rechte,
insbesondere die der Übersetzung in fremde Sprachen Vorbehalten.
Copyright 1922 by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag“ Ges. m. b. H.
Wien I.
>
Pru«k- imd Verlagshaus Karl Prochaska in Tgchechisch-Teschen.
I
INHALTSVERZEICHNIS
/■
Seite
I. Aus der Geschichte einer infantilen Neurose*). 1
II. Zur Vorgeschichte der analytischen Technik.141
III. Wege der psychoanalytischen Therapie...146
IV. Über die Psychogenese eines Falles von weiblicher Homosexualität . . 159
V. „Ein Kind wird geschlagen“ .195
VI. Das Unheimliche.. 229
*) Diese Arbeit, die die „Vierte Folge“ der „Sammlung kleiner
Schriften zur Neurosenlehre“ (1. Auflage 1918) abschloß, wurde in der
zweiten Auflage (1922) der „Vierten Folge“ — mit Rücksicht auf die Hand,
lichkeit des Bandes — weggelassen und daher in vorliegende „Fünfte Folge“
herübergenommen.
I.
AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN
NEUROSE*)
I. VORBEMERKUNGEN.
Der Krankheitsfall, über welchen ich hier — wiederum
nur in fragmentarischer Weise — berichten werde, ist durch
eine Anzahl von Eigentümlichkeiten ausgezeichnet, welche zu
ihrer Hervorhebung vor der Darstellung auffordern. Er betrifft
einen jungen Mann, welcher in seinem achtzehnten Jahr nach
einer gonorrhoischen Infektion als krank zusammenbrach und
gänzlich abhängig und existenzunfähig war, als er mehrere
*) Diese Krankengeschichte ist kurz nach Abschluß der .Behandlung
im Winter 1914/15 niedergeschrieben worden unter dem damals frischen
Eindruck der Umdentungen, welche C. 0. Jung und Alf. Adler au den
psychoanalytischen Ergebnissen vornehmen wollten. Sie knüpft also an
den im „Jahrbuch der Psychoanalyse“ VI, 1911 veröffentlichten Aufsatz:
Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung an und ergänzt die dort
enthaltene, im wesentlichen persönliche, Polemik durch objektive Würdigung
des analytischen Materials. Sie war ursprünglich für den nächsten Band
des • Jahrbuches bestimmt, aber da sich das Erscheinen desselben durch
die Hemmungen des großen Krieges ins Unbestimmbare verzögerte, ent¬
schloß ich mich, sie dieser von einem neuen Verleger veranstalteten Samm¬
lung anzu sch ließen. Manches, was in ihr zum erstenmal hätte ausge¬
sprochen werden sollen, hatte ich unterdes in meinen „Vorlesungen zur
Einführung in die Psychoanalyse 1916/17“ behandeln müssen. Der Text der
ersten Niederschrift hat keine Abänderungen v m irgend welchem Belang
erfahren; Zusätze sind durch eckige Klammern kenntlich gemacht.
Freud, Neurosen lehre. V
1
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
2
Jahre später in psychoanalytische Behandlung trat. Das Jahr¬
zehnt seiner Jugend vor dem Zeitpunkt der Erkrankung hatte
er in annähernd normaler Weise durchlebt und seine Mittel¬
schulstudien ohne viel Störung erledigt. Aber seine früheren
Jahre waren von einer schweren neurotischen Störung be-
>T>
herrscht gewesen, welche knapp vor seinem vierten Geburtstag
als Angsthysterie (Tierphobie) begann, sicli dahn in eine
Zwangsneurose mit religiösem Inhalt umsetzte und mit ihren
Ausläufern bis in sein achtes Jahr hineinreichte.
Nur diese infantile Neurose wird der Gegenstand meiner
Mitteilungen sein. Trotz der 'direkten Aufforderung des Pa¬
tienten habe ich es abgelehnt, die vollständige Geschichte
seiner Erkrankung, Behandlung und Herstellung zu schreiben,
weil ich diese Aufgabe als technisch undurchführbar und
sozial unzulässig erkannte. Damit fällt auch die Möglichkeit
weg, den Zusammenhang zwischen seiner infantilen und seiner
späteren definitiven Erkrankung aufzuzeigen. Ich kann von
dieser letzteren nur angeben, daß der Kranke ihretwegen lange
Zeit in deutschen Sanatorien zugebracht hat und damals von
der zuständigsten Stelle als ein Fall von „manisch-depressivem
Irresein“ klassifiziert worden ist. Diese Diagnose traf sicher¬
lich für den Vater des Patienten zu, dessen an Tätigkeit und
Interessen reiches Leben durch wiederholte Anfälle von schwe¬
rer Depression gestört worden war. An dem Sohne selbst habe
ich bei mehrjähriger Beobachtung keinen Stimmungswandel
beobachten können, der an Intensität und nach den Bedin¬
gungen seines Auftretens über die ersichtliche psychische
Situation hinausgegangen wäre. Ich habe mir die Vorstellung
gebildet, daß dieser Fall sowie Adele andere, die von der kli¬
nischen Psychiatrie mit mannigfaltigen und wechselnden
Diagnosen belegt werden, als Folge/ustand nach einer spontan
I. AU? DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE.
3
abgelaufenen, mit Defekt ausgeheilten, Zwangsneurose aufzu-
fassen ist.
Meine Beschreibung wird also von einer infantilen Neurose
handeln, die nicht während ihres Bestandes, sondern erst fünf¬
zehn Jahre nach ihrem Ablauf analysiert worden ist. Diese
Situation hat ihre Vorzüge ebensowohl wie ihre Nachteile
im Vergleiche mit der anderen. Die Analyse, die man am
neurotischen Kind selbst vollzieht, wird von vornherein ver¬
trauenswürdiger erscheinen, aber sie kann nicht sehr inhalts¬
reich sein; man muß dem Kind zuviel Worte und Gedanken
leihen und. wdrd vielleicht doch die tiefsten Schichten un¬
durchdringlich für aas Bewußtsein finden. Die Analyse der
Kindheitserkrankung durch das Medium der Erinnerung bei
dem Erwachsenen und geistig Gereiften ist von diesen Ein¬
schränkungen frei; aber man wird die Verzerrung und Zu¬
richtung in Rechnung bringen, welcher die eigene Vergangen¬
heit beim Rückblick aus späterer Zeit unterworfen ist. Der
erste Fall gibt vielleicht die überzeugenderen Resultate, der
zweite ist der bei weitem lehrreichere.
Auf alle Fälle darf man aber behaupten, daß Analysen
von kindlichen Neurosen ein besonders hohes theoretisches
Interesse beanspruchen können. Sie leisten für das richtige
Verständnis der Neurosen Erwachsener ungefähr soviel wie die
Kinderträume für die Träume der Erwachsenen. Nicht etwa
daß sie leichter zu durchschauen oder ärmer an Elementen
wären; die Schwierigkeit der Einfühlung ins kindliche Seelen¬
leben macht sie sogar zu einem besonders harten Stück Ar¬
beit für den Arzt. Aber es sind doch in ihnen so viele der spä¬
teren Auflagerungen weggefallen, daß das Wesentliche der
Neurose unverkennbar hervortritt. Der Widerstand gegen die
Ergebnisse der Psychoanalyse hat bekanntlich in der gegen-
l*
4
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
wartigen Phase des Kampfes um die Psychoanalyse eine neue
Form angenommen. Man begnügte sich früher damit, den von
der Analyse behaupteten Tatsachen die Wirklichkeit zu be¬
streiten, wozu eine Vermeidung der Nachprüfung die beste
Technik schien. Dies Verfahren scheint sich nun langsam zu
erschöpfen ; man schlägt jetzt den anderen Weg ein, die Tat¬
sachen anzuerkennen, aber die Folgerungen, die sich ans ihnen
ergeben, durch Umdeutungon zu beseitigen, so daß man sich
der anstößigen Neuheiten doch wieder erwehrt hat. Das Stu¬
dium der kindlichen Neurosen erweist die volle Unzulänglich¬
keit dieser seichten oder gewaltsamen Umdeutungsversuche.
Es zeigt den überragenden Anteil der so gern verleugneten
libidinösen Triebkräfte an der Gestaltung der Neurose auf
und lallt die Abwesenheit fernliegender kultureller Ziel¬
strebungen erkennen, von denen das Kind noch nichts weiß,
imd dio ihm darum nichts bedeuten können.
Ein anderer Zug, welcher die hier mitzuteilende Analyse
der Aufmerksamkeit empfiehlt, hängt mit der Schwere der
Erkrankung und der Dauer ihrer Behandlung zusammen. Die
in kurzer Zeit zu einem günstigen Ausgang führenden Analysen
werden für das Selbstgefühl des Therapeuten wertvoll sein
und die ärztliche Bedeutung der Psychoanalyse dartun; für die
Förderung der wissenschaftlichen Erkenntnis bleiben sie meist
belanglos. Man lernt nichts' Neues aus ihnen. Sie sind ja nur
darum so rasch geglückt, weil man bereits alles wußte, was
zu ihrer Erledigung notwendig war. Neues kann man nur
aus Analysen erfahren, die besondere Schwierigkeiten bieten,
zu deren Überwindung man dann viel Zeit verbraucht. Nur
in diesen Fällen erreicht man es, in die tiefsten und primitiv¬
sten Schichten der seelischen Entwicklung herabzusteigen und
von dort die Lösungen für die Probleme der späteren Ge-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE.
5
staltungen zu holen. Man sagt sich dann, daß, streng ge¬
nommen, erst die Analyse, welche so weit .vorgedrungen ist,
diesen Namen verdient. Natürlich belehrt ein einzelner Fall
nicht über alles, was man wissen möchte. Richtiger gesagt,
er könnte alles lehren, wenn man nur im stände wäre, alles
aufzufassen und nicht durch die Ungeübtheit der eigenen
Wahrnehmung genötigt wäre, sich mit wenigem zu be¬
gnügen.
An solchen fruchtbringenden Schwierigkeiten ließ der hier
zu beschreibende Krankheitsfall nichts zu wünschen übrig.
Die ersten Jahre der Behandlung erzielten kaum eine Än¬
derung. Eine glückliche Konstellation fügte es, daß trotzdem
alle äußeren Verhältnisse die Fortsetzung des therapeutischen
Versuches ermöglichten. Ich kann mir leicht denken, daß bei
weniger günstigen Umständen die Behandlung nach einiger
Zeit aufgegeben worden wäre. Für den Standpunkt des Arztes
kann ich nur aussagen, daß er sich in solchem Falle ebenso
„zeitlos“ verhalten muß wie das Unbewußte selbst, wenn er
etwas erfahren und erzielen will. Das bringt er schließlich zu
stände, wenn er auf kurzsichtigen therapeutischen Ehrgeiz
zu verzichten vermag. Das Ausmaß von Geduld, Gefügigkeit,
Einsicht und Zutrauen, welches von Seiten des Kranken und
seiner Angehörigen erforderlich ist, wird man in wenigen
anderen Fällen erwarten dürfen. Der Analytiker darf sich
aber sagen, daß die Ergebnisse, welche er an einem Falle in
so langer Arbeit gewonnen hat, nun dazu verhelfen werden,
die Behandlungsdauer einer nächsten, ebenso schweren Er¬
krankung wesentlich zu verkürzen und so die Zeitlosigkeit
des Unbewußten fortschreitend zu überwinden, nachdem man
sich ihr ein erstes Mal unterworfen hat.
Der Tatient, mit dem ich mich hier beschäftige, blieb
SCHEUTEN ZUK-NEUROSENLEHBE. V.
6
lange Zeit hinter einer Einstellung von gefügiger Teilnahms¬
losigkeit unangreifbar verschanzt. Er hörte zu, verstand und
ließ sich nichts nahe kommen. Seine untadelige Intelligenz
war wie abgeschnitten von den triebhaften Kräften, welche
sein Benehmen in den wenigen ihm übrig gebliebenen Lebens-
rclationen beherrschten. Es bedurfte einer langen Erziehung,
um ihn zu bewegen, einen selbständigen Anteil an der Arbeit
zu nehmen, und als infolge dieser Bemühung die ersten Be¬
freiungen auf traten, stellte er sofort die Arbeit ein, um wei¬
tere Veränderungen zu verhüten und sich in der hergestell¬
ten Situation behaglich zu erhalten. Seine Scheu vor einer
selbständigen Existenz war so groß, daß sie alle Beschwerden
des Krankseins aufwog. Es fand sich ein einziger Weg, um
sie zu überwinden. Ich mußte warten, bis die Bindung an
meine Person stark genug geworden war, um ihr das Gleich¬
gewicht zu halten, dann spielte ich diesen einen Faktor gegen
den anderen aus. Ich bestimmte, nicht ohne mich durch gute
Anzeichen der Rechtzeitigkeit leiten zu lassen, daß die Be¬
handlung zu einem gewissen Termin abgeschlossen werden
müsse, gleichgültig, wie weit sie vorgeschritten sei. Diesen
Termin war ich einzuhalten entschlossen; der Patient glaubte
endlich an meinen Ernst. Unter dem unerbittlichen Druck
dieser Terminsetzung gab sein Widerstand, seine Fixierung
ans Kranksein nach,- und die Analyse lieferte nun in unver¬
hältnismäßig kurzer Zeit all das Material, welches die Lö¬
sung seiner Hemmungen und die Aufhebung seiner Symptome
ermöglichte. Aus dieser letzten Zeit der Arbeit, in welcher der
Widerstand zeitweise verschwunden war und der Kranke den
Eindruck einer sonst nur in der Hypnose erreichbaren Luzi-
dität machte, stammen auch alle die Aufklärungen, welche mir
das Verständnis seiner infantilen Neurose gestatteten.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE.
7
So illustrierte der Verlauf dieser Behandlung den von
der analytischen Technik längst gewürdigten Satz, daß die
Länge des Weges, welchen die Analyse mit dem Patienten
zurückzulegen hat, und die Fülle des Materials, welches auf
diesem Wege zu bewältigen ist, nicht in Betracht kommen
gegen den Widerstand, den man während der Arbeit antrifft,
und nur soweit in Betracht kommen, als sie dem Widerstande
notwendigerweise proportional sind. Es ist derselbe Vorgang,
wie wenn jetzt eine feindliche Armee Wochen und Monate
verbraucht, um eine Strecke Landes zu durchziehen, die sonst
in friedlichen Zeiten in wenigen Schnellzugsstunden durch¬
fahren wird, und die von der eigenen Armee kurz vorher in
einigen Tagen zurückgelegt wurde.
Eine dritte Eigentümlichkeit der hier zu beschreibenden
Analyse hat nur den Entschluß, sie mitzuteilen, weiterhin
erschwert. Die Ergebnisse derselben haben sich im ganzen mit
unserem bisherigen Wissen befriedigend gedeckt oder guten
Anschluß daran gefunden. Manche Einzelheiten sind mir aber
selbst so merkwürdig und unglaubwürdig erschienen, daß ich
Bedenken trug, bei anderen um Glauben für sie zu werben.
Ich habe den Patienten zur strengsten Kritik seiner Erinne¬
rungen aufgefordert, aber er fand nichts Unwahrscheinliches
an seinen Aussagen und hielt an ihnen fest. Die Leser mögen
wenigstens überzeugt sein, daß ich selbst nur berichte, was
mir als unabhängiges Erlebnis, unbeeinflußt durch meine Er¬
wartung, entgegengetreten ist. So blieb mir denn nichts übrig,
als mich des weisen Wortes zu erinnern, es gebe mehr Dinge
zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich
träumen läßt. Wer es verstünde, seine lnitgebrachten Über¬
zeugungen noch gründlicher auszuschali.cn, könnte gewiß noch
mehr von solchen Dingen entdecken.
O
8
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
II. ÜBERSICHT DES MILIEUS UND DER
KRANKENGESCHICHTE.
Ich kann die Geschichte meines Patienten weder rein
historisch noch rein pragmatisch schreiben, kann weder eine
Behandlungs- noch eine Krankengeschichte geben, sondern
werde mich genötigt sehen, die beiden Darstellungsweisen
miteinander zu kombinieren. Es hat sich bekanntlich kein
Weg gefunden, um die aus der Analyse resultierende Über¬
zeugung in der Wiedergabe derselben irgendwie unterzubringen.
Erschöpfende protokollarische Aufnahmen der Vorgänge in
den Analysenstunden würden .sicherlich nichts dazu leisten;
ihre Anfertigung ist auch durch die Technik der Behandlung
ausgeschlossen. Man publiziert also solche Analysen nicht, um
Überzeugung bei denen hervorzurufen, die sich bisher abwei¬
send und ungläubig verhalten haben. Man erwartet nur solchen
Forschern etwas Neues zu bringen, die sich durch eigene Er¬
fahrungen an Kranken bereits Überzeugungen erworben haben.
Ich werde d amit beginnen, die Welt des Kindes zu schil¬
dern und von seiner Kindheitsgeschichte mitzuteilen, was ohne
Anstrengung zu erfahren war, und mehrere Jahre hindurch
nicht vollständiger und nicht durchsichtiger wurde.
Jung verheiratete Eltern, die noch eine glückliche Ehe
führen, auf welche bald ihre Erkrankungen die ersten Schat¬
ten werfen, die Unterleibskrankheiten der Mutter und die
ersten Verstimmungsanfälle des Vaters, die seine Abwesen¬
heit vom Hause zur Folge hatten. Die Krankheit des Vaters
lernt der Patient natürlich erst sehr viel später verstehen,
die Kränklichkeit der Mutter wird ihm schon in frühen Kinder¬
jahren bekannt. Sie gab sich darum verhältnismäßig wenig
mit den Kindern ab. Eines Tages, vielleicht in seinem sech¬
sten Jahr, hört er, von der Mutter au der Hand geführt, die
I AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE.
9
Klagen der Mutter an den Arzt mit an, den sie vom Hause weg
begleitet, und prägt sich ihre Worte ein, um sie später für
sich selbst zu verwenden. Er ist nicht das einzige Ivind; vor ihm
steht eine um zwei Jahre ältere Schwester, lebhaft, begabt, und
voreilig schlimm, der eine große Rolle in seinem Leben zufällt.
Eine Kinderfrau betreut ihn, soweit er sich zurückerinnert,
ein ungebildetes altes Weib aus dem Volke, von unermüdlicher
Zärtlichkeit für ihn. Er ist ihr der Ersatz für einen eigenen
früh verstorbenen Sohn. Die Familie-' lebt auf einem Land¬
gut, welches im Sommer mit einem anderen vertauscht wird.
Die große Stadt ist von beiden Gütern nicht weit. Es ist
ein Abschnitt in seiner Kindheit, wie die Eltern die Güter
verkaufen und in die Stadt ziehen. Nahe Verwandte halten
sich oft für lange Zeiten auf diesem oder jenem Gut auf,
E rüder des Vaters, Schwestern der Mutter und deren Kinder,
die Großeltern von Mutterseite. Im Sommer pflegen die El¬
tern auf einige Wochen zu verreisen. Eine Deckerinnerung
zeigt ihm, wie er mit seiner Kinderfrau dem Wagen nach¬
schaut, der Vater, Mutter und Schwester entführt, und darauf
friedlich ins Haus zurückgeht. Er muß damals sehr klein ge¬
wesen sein.*) Im nächsten Sommer wurde die Schwester zu
Hause gelassen und eine englische Gouvernante aufgenommen,
der die Oberaufsicht über die Kinder zufiel.
In späteren Jahren war ihm viel von seiner Kindheit er¬
zählt worden.**) Vieles wußte er selbst, aber natürlich ohne
*) 2 1 / ä Jahre. Fast, alle Zeiten liehen sich später mit Sicherheit
bestimmen.
**) Mitteilungen solcher Art darf man in der Regel als Material
von uneingeschränkter Glaubwürdigkeit verwerten. Es läge nahe, die Lücken
in der Erinnerung des Patienten durch Erkundigungen bei den. älteren
Familienmitgliedern mühelos auszufüllen, allein ich kann nicht entschieden
genug von solcher Technik abraten. Was die Angehörigen über Befragen
10
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
zeitlichen oder inhaltlichen Zusammenhang. Eine dieser Über¬
lieferungen, die aus Anlaß seiner späteren Erkrankung un-
gezähltemale vor ihm wiederholt worden war, macht uns mit
dem Problem bekannt, dessen Lösung uns beschäftigen wird.
Er soll, zuerst ein sehr sanftes, gefügiges und eher ruhiges
Kind gewesen sein, so daß man zu sagen pflegte, er hätte das
Mädchen werden sollen und die ältere Schwester der Bub.
Aber einmal, als die Eltern von der Sommerreise zurückkamen,
fanden sie ihn verwandelt. Er war unzufrieden, reizbar, heftig
geworden, fand sich durch jeden Anlaß gekränkt, tobte dann
und schrie wie ein Wilder, so daß die Eltern, als der Zustand
andauerte, die Besorgnis äußerten, es werde nicht möglich
sein, ihn später einmal in die Schule zu schicken. Es war
der Sommer, in dem die englische Gouvernante anwesend war,
die sich als eine närrische, unverträgliche, übrigens dem Trunk
ergebene Person erwies. Die Mutter war darum geneigt, die
Charakterveränderung des Knaben mit der Einwirkung dieser
Engländerin zusammenzubringen, und nahm an, sie habe ihn
durch ihre Behandlung gereizt. Die scharfsichtige Großmutter,
die den Sommer mit den Kindern geteilt hatte, vertrat die An¬
sicht, daß die Reizbarkeit des Knaben durch die Zwistigkeiten
zwischen der Engländerin und der Kinderfrau liervorgerufen
sei. Die Engländerin hatte die Kinderfrau wiederholt eine Hexe
geheißen, sie gezwungen, das Zimmer zu verlassen; der Kleine
hatte offen die Partei seiner geliebten „Nauja“ genommen und
der Gouvernante seinen Haß bezeigt. Wie dem sein mochte,
und Aufforderung erzählen, unterliegt allen kritischen Bedenken, die in
Betracht kommen können. Man bedauert es regelmäßig, sich von diesen
Auskünften abhängig gemacht zu haben, hat dabei das Vertrauen in die
Analyse gestört und eine andere Instanz über sie gesetzt. Was überhaupt
erinnert werden kann, kommt im weiteren Verlauf clor Analyse zum
V orschein.
1. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 11
die Engländerin wurde bald nach der Rückkehr der Eltern
weggeschickt, ohne daß sich am unleidlichen Wesen des Kin¬
des etwas änderte.
Die Erinnerung an diese schlimme Zeit ist bei dem Pa¬
tienten erhalten geblieben. Er meint, die erste seiner Szenen
habe er gemacht, als er einmal zu Weihnachten nicht doppelt
beschenkt wurde, wie ihm gebührt hätte, weil der Weihnachts¬
tag gleichzeitig sein Geburtstag war. Mit seinen Ansprüchen
und Empfindlichkeiten verschonte er auch die geliebte Nanja
nicht, ja quälte vielleicht sie am unerbittlichsten. Aber diese
Phase clcr Charakterverändcruiig- ist in seiner Erinnerung un¬
lösbar verknüpft mit vielen anderen sonderbaren und krank¬
haften Erscheinungen, die er zeitlich nicht anzuoi’dnen weiß.
Er wirft all das, was jetzt berichtet werden soll, was unmög¬
lich gleichzeitig gewesen sein kann und voll inhaltlichen
Widerspruchs ist, in einen und denselben Zeitraum, den er
„noch auf dem ersten Gut 1 ' benennt. Mit fünf Jahren, glaubt
er, hätten sie dieses Gut verlassen. Er weiß also zu erzählen,
daß er an einer Angst gelitten, welche sich seine Schwester
zu nutze machte, um ihn zu quälen. Es gab ein gewisses
Bilderbuch, in dem ein Wolf dargestellt war, aufrecht stehend
und ausschreitend. Wenn er dieses Bild zu Gesicht bekam,
fing er an wie rasend zu schreien, er fürchtete sich, der Wolf
werde kommen und ihn auffressen. Die Schwester wußte es
aber immer so einzurichten, daß er dieses Bild sehen mußte,
und ergötzte sich an seinem Schrecken. Er fürchtete sich indes
auch vor anderen Tieren, großen und kleinen. Einmal jagte
er einem schönen großen Schmetterling mit gelb gestreiften
Flügeln, die in Zipfel ausliefen, nach, um ihn zu fangen. (Es
war wohl ein „Admiral“). Plötzlich faßte ihn entsetzliche Angst
vor dem Tier, er gab die Verfolgung schreiend auf. Auch vor
12
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Käfern und Raupen hatte er Augst und Abscheu. Doch wußte
er sich zu erinnern, daß er um dieselbe Zeit Käfer gequält
und Raupen zerschnitten; auch Pferde waren ihm unheim¬
lich. Wenn ein Pferd geschlagen wurde, schrie er auf und
mußte deswegen eii yn al den Zirkus verlassen. Anderemale
liebte er es selbst, Pferde zu schlagen. Ob diese entgegen¬
gesetzten Arten des Verhaltens gegen Tiere wirklich gleich¬
zeitig in Kraft gewesen, oder ob sie einander nicht vielmehr
abgelöst hatten, dann aber, in welcher Folge und wann, das
ließ seine Erinnerung nicht entscheiden. Er konnte auch nicht
sagen, ob seine schlimme Zeit durch eine Phase von Krank¬
heit ersetzt worden war oder sich durch diese hindurch fort¬
gesetzt hatte. Jedenfalls war man durch seine nun folgen¬
den Mitteilungen zur Annahme berechtigt, daß er in jenen
Kinderjahren eine sehr gut kenntliche Erkrankung an Zwangs¬
neurose durchgemacht hatte. Er erzählte, er sei eine lange
Zeit hindurch sehr fromm gewesen. Vor dem Einschlafen
mußte er lange beten und eine unendliche Reihe von Kreuzen
schlagen. Er pflegte auch abends mit einem Sessel, auf den
er stieg, die Runde vor allen Heiligenbildern zu machen, die
im Zimmer hingen, und jedes einzelne andächtig zu küssen. Zu
diesem frommen Zeremoniell stimmte es dami sehr schlecht —
oder vielleicht doch ganz gut —, daß er sich an gottesläster¬
liche Gedanken erinnerte, die ihm wie eine Eingebung des
Teufels in den Sinn kamen. Er mußte denken: Gott — Schwein
oder Gott — Kot. Irgend einmal auf einer Reise in einen deut¬
schen Badeort war er von dem Zwang gequält, an die heilige
Dreieinigkeit zu denken, wenn er drei Häufchen Pferdemist
oder anderen Kot auf der Straße liegen sah. Damals befolgte
er auch ein eigentümliches Zeremoniell, wenn er Leute sah,
die ihm leid taten, Bettler, Krüppel, Greise. Er mußte ge-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 13
räuschvoll ausatmen, um nicht so zu werden wie sie, unter
gewissen anderen Bedingungen auch den Atem kräftig ein¬
ziehen. Es lag mir natürlich nahe anzunehmen, daß diese deut¬
lich zwangsneurotischen Symptome einer etwas späteren Zeit
und Entwicklungsstufe angehörten als die Zeichen von Angst
und die grausamen Handlungen gegen Tiere.
Die reiferen Jahre des Patienten waren durch ein sehr
Ungünstiges Verhältnis zu seinem Vater bestimmt, der da¬
mals nach wiederholten Anfällen von Depression die krank¬
haften Seiten seines Charakters nicht verbergen konnte. In
den ersten Kinderjahren war dies Verhältnis ein sehr zärt¬
liches gewesen, wie die Erinnerung des Sohnes bewahrt hatte.
Der Vater hatte ihn sehr lieb und spielte gerne mit ihm. Er
war von klein auf stolz auf den Vater und äußerte nur, er
wolle so ein Herr werden wie der. Die Nanja hatte ihm
gesagt, die Schwester sei das Kind der Mutter, er aber das
des Vaters, womit er sehr zufrieden war. Zu Ausgang der
Kindheit war eine Entfremdung zwischen ihm und dem Vater
eingetreten. Der Vater zog die Schwester unzweifelhaft vor,
und er war sehr gekränkt darüber. Später wurde die Angst
vor dem Vater dominierend.
Gegen das achte Jahre etwa verschwanden alle die Er¬
scheinungen, die der Patient der mit der Schlimmheit be¬
ginnenden Lebensphase zurechnet. Sie verschwanden nicht
mit einem Schlage, sondern kehrten einigemale wieder, wi¬
chen aber endlich, wie der Kranke meint, dem Einfluß der
Lehrer und Erzieher, die dann an die Stelle der weiblichen
Pflegepersonen traten. Dies also sind im knappsten Umriß
die Eätsel, deren Lösung der Analyse aufgegeben wurde:
Woher rührte die plötzliche Charakterveränderung des Kna¬
ben, was bedeutete seine Phobie und seine Perversitäten, wie
14
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
kam er zu seiner zwanghaften Frömmigkeit und wie hängen
alle diese Phänomene zusammen ? Ich erinnere nochmals daran,
daß unsere therapeutische Arl>eit einer späteren rezenten
neurotischen Erkrankung galt, und daß Aufschlüsse über jene
früheren Probleme sich nur ergeben konnten, wenn der Ver¬
lauf der Analyse für eine Zeit von der Gegenwart, abführte,
um uns zu dem Umweg durch die kindliche Urzeit zu nötigen.
III. DIE VERFÜHRUNG UND IHRE NÄCHSTEN FOLGEN.
Die nächste Vermutung richtete sich begreiflicherweise
gegen die englische Gouvernante, während deren Anwesenheit
die Veränderung des Knaben aufgetreten war. Es waren zwei
an sich unverständliche Deckerinnerungen erhalten, die sich
auf sie bezogen. Sie hatte einmal, als sie vorausging, zu den
Nacbkommenden gesagt : Schauen Sie doch auf mein Schwänz¬
chen! Ein andermal war ihr auf einer Fahrt der Hut weg-
ereflogen zur großen Befriedigung der Geschwister. Das deutete
auf den Kastrationskomplex hin und gestattete etwa die Kon¬
struktion, eine von ihr an den Knaben gerichtete Drohung
hätte zur Entstehung seines abnormen Benehmens viel bei¬
getragen. Es ist ganz ungefährlich, solche Konstruktionen
der Analysierten mitzuteilen, sie schaden der Analyse nie¬
mals, wenn sie irrig sind, und man spricht sie doch nicht
aus, wenn man nicht Aussicht hat, irgend eine Annäherung
au die Wirklichkeit durch sie zu erreichen. Als nächste Wir¬
kung dieser Aufstellung traten Träume auf, deren Deutung
nicht vollkommen gelang, die aber immer um -denselben In¬
halt zu spielen schienen. Es handelte sich in ihnen, soweit
man sie verstehen konnte, um aggressive Handlungen des
Knaben gegen die Schwester oder gegen die Gouvernante und
um energische Zurechtweisungen und Züchtigungen dafür. Als
X. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 15
liätte er . . . nach dem Bad . . . die Schwester entblößen . . .
ihr die Hüllen ... oder Schleier . . . abreißen wollen und
ähnliches. Es gelang aber nicht, aus der Deutung einen sicheren
Inhalt zu gewinnen, und als inan den Eindruck empfangen
hatte, es werde in diesen Träumen das nämliche Material in
immer wieder wechselnder Weise verarbeitet, war die Auf¬
fassung dieser angeblichen Reminiszenzen gesichert. Es konnte
sich nur um Phantasien handeln, die der Träumer irgend ein¬
mal, wahrscheinlich in den Pubertätsjahren, über seine Kind¬
heit gemacht hatte und die jetzt in so schwer kenntlicher
Eorrn wiederaufgetaucht waren.
Ihr Verständnis ergab sich mit einem Schlage, als der
Patient sich plötzlich der Tatsache besann, die Schwester
habe ihn ja, „als er noch sehr klein war, auf dem ersten Gut“,
zu sexuellen Tätlichkeiten verführt. Zunächst kam die Er¬
innerung, daß sie auf dem Abort, den die Kinder häufig ge¬
meinsam benützten, die Aufforderung vorgebracht: Wollen
wir uns den Popo zeigen, und dem Wort auch die Tat habe
folgen lassen. Späterhin stellte sich das Wesentlichere der
Verführung mit allen Einzelheiten der Zeit und der Lokalität
ein. Es war im Frühjahr, zu einer Zeit, da der Vater abwesend
war; die Kinder spielten auf dem Boden in einem Raum, -wäh¬
rend im benachbarten die Mutter arbeitete. Die Schwester
hatte nach seinem Glied gegriffen, damit gespielt und dabei
unbegreifliche Dinge über die Nanja wie zur Erklärung ge¬
sagt. Die Nanja tue dasselbe mit allen Leuten, z. B. mit dem
Gärtner, sic stelle ihn auf den Kopf und greife dann nach
seinen Genitalien.
Damit "war das Verständnis der vorhin erratenen Phan¬
tasien gegeben. Sie sollten die Erinnerung an einen Vorgang,
welcher später dem männlichen Selbstgefühl des Patienten
16
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
anstößig erschien, verlöschen, und erreichten dieses Ziel, in¬
dem sie einen Wunschgegensatz an Stelle der historischen
Wahrheit, setzten. Nach diesen Phantasien hatte nicht er die
passive Eolle gegen die Schwester gespielt, sondern im Gegen¬
teile, er war aggressiv gewesen, hatte die Schwester entblößt
sehen wollen, war zurückgewiesen und bestraft worden und
darum in die Wut geraten, von der die häusliche Tradition
soviel erzählte. Zweckmäßig war es auch, die Gouvernante
in diese Dichtung zu verweben, der nun einmal von Mutter
und Großmutter die Hauptschuld an seinen Wutanfällen zuge-
t.eilt wurde. Diese Phantasien entsprachen also genau der
Sagenbildung, durch welche eine später große und stolze
Nation die Kleinheit und das Mißgeschick ihrer Anfänge zu
verhüllen sucht.
In Wirklichkeit, konnte die Gouvernante an der Ver¬
führung und ihren Folgen nur einen sehr entlegenen Anteil
haben. Die Szenen mit der Schwester fanden im Frühjahr
des nämlichen Jahres statt, in dessen Hochsommermonaten
die Engländerin als Ersatz der abwesenden Eltern cintrat.
Die Feindseligkeit des Knaben gegen die Gouvernante kam
vielmehr auf eine andere Weise zu Stande. Indem sie die
Kinderfrau beschimpfte und als Hexe verleumdete, trat sie
bei ihm in die Fußstapfen der Schwester, die zuerst jene un¬
geheuerlichen Dinge von der Kinderfrau erzählt hatte, und
gestattete ihm so, an ihr die Abneigung zum Vorschein zu
bringen, die sich infolge der Verführung, wie wir hören wer¬
den, gegen die Schwester entwickelt hatte.
Die Verführung durch die Schwester war aber gewiß keine
Phantasie. Ihre Glaubwürdigkeit wurde durch eine niemals
vergessene Mitteilung aus späteren, reifen Jahren erhöht. Ein
um mehr als ein Jahrzehnt älterer Vetter hatte ihm in einem
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 17
Gespräch über die Schwester gesagt, er erinnere sich sehr __
wohl daran, was fürjvörwitzig sinnliches Ding sie gewesen sei. /
Als Kind von vier oder fünf Jahren habe sie sich einmal
auf seinen Schoß gesetzt und ihm die Hose geöffnet, um
nach seinem Glied zu greifen.
Ich möchte jetzt die Kindergeschichte meines Patienten
unterbrechen, um von dieser Schwester, ihrer Entwicklung,
weiteren Schicksalen und von ihrem Einfluß auf ihn zu spre¬
chen. Sie war zwei Jahre älter als er und ihm immer voraus
geblieben. Als Kind bubenhaft unbändig, schlug sie dann eine
glänzende intellektuePe Entwicklung ein, zeichnete sich, durch
scharfen realistischen Verstand 'aus, bevorzugte die Natur¬
wissenschaften in ihren Studien, produzierte aber auch Ge¬
dichte, die der Vater hoch einschätzte. Ihren zahlreichen
ersten Bewerbern war sie geistig sehr überlegen, pflegte sich
über sie lustig zu machen. In den ersten Zwanzigerjahren
aber begann sie verstimmt zu werden, klagte, daß sie nicht
schön genug sei, und zog sich von allem Umgang zurück.
Auf eine Keise in Begleitung einer befreundeten älteren Dame
geschickt, erzählte sie nach ihrer Heimkehr ganz unwahr¬
scheinliche Dinge, wie sie von ihrer Begleiterin mißhandelt
worden sei, blieb aber an die vorgebliche Peinigerin offen¬
bar fixiert. Auf einer zweiten Reise bald nachher vergiftete
sie sich und starb fern vom Hause. Wahrscheinlich entsprach
ihre Affektion dem Beginne einer Dementia praecox. Sie war
eine der Zeugen für die ansehnliche neuropathische Heredität
in der Familie, keineswegs aber die einzige. Ein Onkel, Vater¬
bruder, starb nach langen Jahren einer Sonderlingsexistenz
unter Zeichen, die auf eine schwere Zwangsneurose schließen
lassen; eine gute Anzahl von Seiten verwandten war und ist
mit leichteren nervösen Störungen behaftet.
Freud, Neurosenlelire. V.
2
18
SCHRITTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Für unseren Patienten war die Schwester in der Kindheit
— von der Verführung zunächst abgesehen — ein unbequemer
Konkurrent um die Geltung bei den Eltern, dessen schonungs¬
los gezeigte Überlegenheit er sehr drückend empfand. Er nei¬
dete ihr dann besonders den Respekt, den der Vater vor ihren
geistigen Fähigkeiten und intellektuellen Leistungen be¬
zeugte, während er, seit seiner Zwangsneurose intellektuell
gehemmt, sich mit einer geringen Einschätzung begnügen
mußte. Von seinem vierzehnten Jahr an begann das Ver¬
hältnis der Geschwister sich zu bessern; ähnliche geistige An¬
lage und gemeinsame Opposition gegen die Eltern führten
sie so weit zusammen, daß sie wie die besten Kameraden mit¬
einander verkehrten. In der stürmischen sexuellen Erregtheit
seiner Pubertätszeit wagte er es, eine intime körperliche An¬
näherung bei ihr zu suchen: Als sie ihn ebenso entschieden
als geschickt abgewiesen hatte, wandte er sich von ihr sofort
zu einem kleinen Bauernmädchen, das im Hause bedienst et
war und den gleichen Namen wie die Schwester trug. Er hatte
damit einen für seine heterosexuelle Objektwahl bestimmenden
Schritt vollzogen, denn alle die Mädchen, in die er sich dann
später, oft unter den deutlichsten Anzeichen des Zwanges, ver¬
liebte, waren gleichfalls dienende Personen, deren Bildung
und Intelligenz weit hinter der seinigen zurückstehen mußten.
Waren alle diese Liebesobjekte Ersatzpersonell für die ihm
versagte Schwester, so ist nicht abzuweisen, daß eine
Tendenz zur Erniedrigung der Schwester, zur Aufhebung
ihrer intellektuellen Überlegenheit, die ihn einst so be¬
drückt hatte, dabei die Entscheidung über seine Objektwahl
bekam.
Motiven dieser Art, die dem Willen zur Macht,
dem Behauptungstrieb des Individuums entstammen, hat Alf.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 19
Adler wie alles andere so auch das sexuelle Verhalten der
Menschen untergeordnet. Ich bin, ohne die Geltung solcher
Macht- und Vorrechtsmotive je zu leugnen, nie davon über¬
zeugt gewesen, daß sie die ihnen zugeschriebene dominierende
und ausschließliche Eolle spielen können. Hätte ich die
Analyse meines Patienten nicht bis zu Ende geführt, so hätte
ich die Beobachtung dieses Palles zum Anlaß nehmen müssen,
um eine Korrektur meines Vorurteils im Sinne von Adler
vorzunehmen. Unerwarteterweise brachte der 'Schluß dieser
Analyse neues Material, aus dem sich wiederum ergab, daß
diese Machtmotive (in- unserem Palle die Erniedrigungs¬
tendenz) die Objektwahl nur im Sinne eines Beitrags und
einer Rationalisierung bestimmt hatten, während die eigcnt
liehe, tiefere Determinierung mir gestattete, an meinen frü¬
heren Überzeugungen festzuhalten.*)
Als die Nachricht vom Tode der Schwester anlangte,
erzählte der Patient, empfand er kaum eine Andeutung von
Schmerz. Er zwang sich zu Zeichen von Trauer und konnte
sich in aller Kühle darüber freuen, daß er jetzt der alleinige
Erbe des Vermögens geworden sei. Er befand sich schon seit
mehreren Jahren in seiner rezenten Krankheit, als sich dies
zutrug. Ich gestehe aber, daß diese eine Mitteilung mich in
der diagnostischen Beurteilung des Palles für eine ganze Weile
unsicher machte. Es war zwar anzunehmen, daß der Schmerz
über den Verlust des geliebtesten Mitglieds seiner Pamilie
eine Ausdruckshemmung durch die fortwirkende Eifersucht
gegen sie und durch die Einmengung der unbewußt gewor¬
denen inzestuösen Verliebtheit erfahren würde, aber auf einen
Ersatz für den unterbliebenen Schmerzausbruch vermochte ich
nicht zu verzichten. Ein ‘solcher fand sich endlich in einer
‘) S. unten S. 684,
2*
20
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
anderen, ihm unverständlich gebliebenen Gefühlsäußerung.
Wenige Monate nach dem Tode der Schwester machte er
selbst eine Reise in die Gegend, wo sie gestorben war, suchte
dort das Grab eines großen Dichters auf, der damals sein
Ideal war, und vergoß heiße Tränen auf diesem Grabe. Dies
war eine auch ihn befremdende Reaktion, denn er wußte,
daß mehr als zwei Menschenalter seit dem Tode des verehrton
Dichters dahingegangen waren. Er verstand sie erst, als er
sich erinnerte, daß der Vater die Gedichte der verstorbenen
Schwester mit denen des großen Poeten in Vergleich zu brin¬
gen pflegte. Einen anderen Hinweis auf die richtige Auf¬
fassung dieser scheinbar an den Dichter gerichteten Hul¬
digung hatte er mir durch einen Irrtum in seiner Erzählung
gegeben, den ich an dieser Stelle hervorziehen konnte. Er
hatte vorher wiederholt angegeben, daß sich die Schwester
erschossen habe, und mußte dann berichtigen, daß sic Gift
genommen hatte. Der Poet aber war in einem Pistolenduell
erschossen worden.
Ich kehre nun zur Geschichte des Bruders zurück, die
ich aber von hier ein Stück weit pragmatisch darstellen muß.
Als das Alter des Knaben zur Zeit, da die Schwester ihre Ver¬
führungsaktionen begann, stellte sich ß 1 ^—3 ! / 2 Jahre heraus.
Es geschah, wie gesagt, im Frühjahr desselben Jahres, in
dessen Sommer die englische Gouvernante auftrat, in dessen
Herbst die Eltern ihn bei ihrer Rückkehr so gründlich ver¬
wandelt fanden. Es liegt nun sehr nahe, diese Wandlung mit
der unterdes stattgehabten Erweckung seiner Sexualtätig¬
keit in Zusammenhang zu bringen.
Wie reagierte der Knabe auf die Verlockungen der äl¬
teren Schwester? Die Antwort lautet: mit Ablehnung, aber
die Ablehnung galt der Person, nicht der Sache. Die Schwe-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE.
21
ster war ilim als Sexualobjekt nicht genehm, wahrscheinlich,
weil sein Verhältnis zu ihr bereits durch den Wettbewerb um
die Liebe der Eltern im feindseligen Sinne bestimmt war - .
Er wich ihr aus und ihre Werbungen nahmen auch bald ein
Ende. Aber er suchte an ihrer Statt eine andere, geliebtere
Person zu gewinnen, und die Mitteilungen der Schwester selbst,
die sich auf das Vorbild der Nanja berufen hatte, lenkten
seine Wahl auf diese. Er begann also vor der Nanja mit
seinem Glied zu spielen, was, wie in so vielen anderen Fällen,
wenn die Kinder die Onanie nicht verbergen, als Verführungs¬
versuch aufgefaßt werden muß. Die Nanja enttäuschte ihn,
sie machte ein ernstes Gesicht und erklärte, das sei nicht
gut. Kinder, die das täten, bekämen an der Stelle eine
„ Wunde“.
Die Wirkung dieser Mitteilung, die einer Drohung gleich¬
kam, ist nach verschiedenen Richtungen zu verfolgen. Seine
Anhänglichkeit an die Nanja wurde dadurch gelockert. Er
hätte böse auf sie werden können; später, als seine Wut-
anfälie einsetzten, zeigte es sich auch, daß er wirklich gegen
sie erbittert war. Allein es war für ihn charakteristisch, daß
er jede Libidoposition, die er aufgeben sollte, zunächst hart¬
näckig gegen das 'Neue verteidigte. Als die Gouvernante auf
dem Schauplatz erschien und die Nanja beschimpfte, aus dem
Zimmer jagte, ihre Autorität vernichten wollte, übertrieb er
vielmehr seine Liebe zu der Bedrohten und benahm sich ab¬
weisend und trotzig gegen die angreifende Gouvernante.
Nichtsdestoweniger begann er im geheimen ein anderes Sexual¬
objekt zu suchen. Die Verführung hatte ihm das passive
Sexualziel gegeben, an den Genitalien berührt zu werden;
wir werden hören, bei wem er dies erreichen wollte, und
welche Wege ihn zu dieser Wahl führten.
22
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Es entspricht ganz unseren Erwartungen, wenn wir hö¬
ren, daß mit seinen ersten genitalen Erregungen seine Sexual¬
forschung einsetzte, und daß er bald auf das Problem der
Kastration geriet. Er konnte in dieser Zeit zwei Mädchen,
seine Schwester und ihre Freundin, beim Urinieren beobachten.
Sein Scharfsinn hätte ihm schon bei diesem Anblicke den
Sachverhalt verstehen lassen können, allein er benahm sich
dabei, wie wir es von anderen männlichen Kindern wissen.
Er lehnte die Idee, daß er hier die von der Nanja angedrohte
Wunde bestätigt sehe, ab, und gab sich die Erklärung, das
sei der „vordere Popo“ der Mädchen. Das Thema der Ka¬
stration war mit dieser Entscheidung nicht abgetan; aus
allem, was er hörte, entnahm er neue Hindeutungen darauf.
Als den Kindern einmal gefärbte Zuckers taugen verteilt wur¬
den, erklärte die Gouvernante, die zu wüsten Phantasien ge¬
neigt war, es seien Stücke von zerschnittenen Schlangen. Von
da aus erinnerte er sich, daß der Vater einmal auf einem
Spazierweg eine Schlange getroffen und sie mit seinem Stock
in Stücke zerschlagen habe. Er hörte die Geschichte (aus
Reineke Fuchs) vorlesen, wie der Wolf im Winter Fische fan¬
gen wollte und seinen Schwanz als Köder benützte, wobei
der Schwanz im Eis abbrach. Er erfuhr die verschiedenen
Namen, mit denen man je nach der Intaktheit ihres Geschlechts
die Pferde bezeichnet. Er war also mit Gedanken an die Ka¬
stration beschäftigt, aber er hatte noch keinen Glauben daran
und keine Angst davor. Andere Sexualprobleme erstanden ihm
aus den Märchen, die ihm um diese Zeit bekannt wurden.
Im „Rotkäppchen“ und in den „Sieben Geißlein“ wurden die
Kinder aus dem Leib des Wolfes herausgeholt. War der Wolf
also ein weibliches Wesen oder konnten auch Männer Kinder
im Leib haben? Das war um diese Zeit noch nicht entschieden.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 23
Übrigens kannte er zur Zeit dieser Forschung noch keine
Angst vor dem Wolf.
Eine der Mitteilungen des Patienten wird- uns den Weg
zum Verständnis der Charakterveränderung bahnen, die wäh¬
rend der Abwesenheit der Eltern im entfernteren Anschluß
am die Verführung bei ihm hervortrat. Er erzählt, daß er
nach der Abweisung und Drohung der Nanja die Onanie sehr
bald aufgab. Das beginnende Sexualleben unter der
Leitung der Genitalzone war also einer äußeren
Hemmung erlegen und durch deren Einfluß auf
eine frühere Phase prägenitaler Organisation zu¬
rückgeworfen worden. Infolge der Unterdrückung der
Onanie nahm das Sexualleben des Knaben sadistisch-analen
Charakter an. Er wurde reizbar und quälerisch, befriedigte sich
in solcher Weise an Tieren und Menschen. Sein Hauptobjekt
war die geliebte Nanja, die er zu peinigen verstand, bis sie
in Tränen ausbrach. So rächte er sich an ihr für die erfah¬
rene Abweisung und befriedigte gleichzeitig sein sexuelles
Gelüste in der der regressiven Phase entsprechenden Form.
Er begann Grausamkeit gegen kleine Tiere zu üben, Fliegen
zu fangen, um ihnen die Flügel auszureißen, Käfer zu zer¬
treten; in seiner Phantasie liebte er es, auch große Tiere,
Pferde, zu- schlagen. Das waren also durchwegs aktive,
sadistische Betätigungen; von den analen Regungen dieser
Zeit wird in einem späteren Zusammenhänge die Rede sein.
Es ist sehr wertvoll, daß in der Erinnerung des Patien¬
ten auch gleichzeitige Phantasien ganz anderer Art auftauchten,
des Inhalts, daß Knaben gezüchtigt und geschlagen wurden,
besonders auf den Penis geschlagen; und für "wen diese an¬
onymen Objekte als Prügelknaben dienten, läßt sich leicht
aus anderen Phantasien erraten, die sich ausmalten, wie der
24
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Thronfolger in einen engen Kauin cfngesperrt und geschlagen
wird. Der Thronfolger war offenbar er selbst; der Sadismus
hätte sich also in der Phantasie gegen die eigene Person ge¬
wendet und war in Masochismus umgeschlagen. Das Detail,
daß das Geschlechtsglied selbst die Züchtigung empfing, läßt
den Schluß zu, daß bei dieser Umwandlung bereits ein Schuld¬
bewußtsein beteiligt war, welches sich auf die Onanie berief.
Es blieb in der Analyse kein Zweifel, daß diese passiven
Strebungen gleichzeitig oder sehr bald nach den aktiv-sadi¬
stischen aufgetreten waren.*) Dies entspricht der ungewöhn¬
lich deutlichen, intensiven und anhaltenden Am b ivalenz des
Kranken, die sich hier zum erstenmal in der gleichmäßigen
Ausbildung der gegensätzlichen Partialtriebpaare äußerte.
Dieses Verhalten blieb für ihn auch in der Folge ebenso cha¬
rakteristisch wie der weitere Zug, daß eigentlich keine der
jemals geschaffenen Libidopositionen durch eine spätere völlig
aufgehoben wurde. Sie blieb vielmehr neben allen anderen
bestehen und gestattete ihm ein unausgesetztes Schwanken,
welches sich mit dem Erwerb eines fixierten Charakters un¬
vereinbar erwies.
Die masochistischen Strebungen des Knaben leiten zu
einem anderen Punkt über, dessen Erwähnung ich mir auf¬
gespart habe, weil er erst durch die Analyse der nächstfolgen¬
den Phase seiner Entwicklung sichergestellt werden kann.
Ich erwähnte schon, daß er nach der Abweisung durch die
Kanja seine libidinöse Erwartung von ihr löste und eine
andere Person als Sexualobjekt in Aussicht nahm. Diese
Person war der damals abwesende Vater. Zu dieser
*) Unter passiven Strebungen verstehe ich solche mit passivem
Sexualziel, habe aber dabei nicht etwa eine Trieb Verwandlung, sondern
nur eine Zielverwandlung im Auge.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 25
Wahl wurde er gewiß durch ein Zusammentreffen von Mo¬
menten geführt, auch durch zufällige wie die Erinnerung an
die Zerstückelung der Schlange; vor allem aber erneuerte
er damit seine erste und ursprünglichste Objekt wähl, die sich
dem Narzißmus des kleinen Kindes entsprechend auf dem
Wege der Identifizierung vollzogen hatte. Wir haben schon
gehört, daß der Vater sein bewundertes Vorbild gewesen war,
daß er, gefragt, was er werden wollte, zu antworten pflegte:
ein Herr wie der Vater. Dies Ident ifizierungsobjekt seiner ak¬
tiven Strömung wurde nun das Sexualobjekt einer passiven
Strömung in der sadistisch-analen Phase. Es macht den Ein¬
druck, als hätte ihn die Verführung durch die Schwester
in die passive Rolle gedrängt und ihm ein passives Sexual¬
ziel gegeben. Unter dem fortwirkenden Einfluß dieses Er¬
lebnisses beschrieb er nun den Weg von der Schwester über
die Nanja zum Vater, von der passiven Einstellung zum Weib
bis zu d>er zum Manne und Latte dabei doch die Anknüpfung
an seine frühere spontane Entwicklungsphase gefunden. Der
Vater war jetzt wieder sein Objekt, die Identifizierung war
der höheren Entwicklung entsprechend durch Objektwahl ab¬
gelöst, die Verwandlung der aktiven in eine passive Ein¬
stellung war der Erfolg und das Zeichen der dazwischen vor¬
gefallenen Verführung. Eine aktive Einstellung gegen den
übermächtigen Vater in der sadistischen Phase wäre natür¬
lich nicht so leicht durchführbar gewesen. Als der Vater im
Spätsommer oder Herbst zurückkam, bekamen seine Wutanfälle
und Tobszenen eine neue Verwendung. Gegen die Nanja hatten
sie aktiv-sadistischen Zwecken gedient; gegen den Vater ver¬
folgten sie masochistische Absichten. Er wollte durch die
Vorführung seiner Schlimmheit Züchtigung und Schläge von
seiten des Vaters erzwingen, sich so bei ihm die erwünschte
26
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
masochistische Sexualbefriedigung holen. Seine Schreianfälle
waren also geradezu Yerführungsversuche. Der Motivierung
des Masochismus entsprechend hätte er bei solcher Züchtigung
auch die Befriedigung seines Schuldgefühls gefunden. Eine
Erinnerung hat ihm laufbewahrt, wie er während einer sol¬
chen Szene von Schlimmheit sein Schreien verstärkt, sobald
der Vater zu ihm kommt. Der Vater schlägt ihn aber nicht,
sondern sucht ihn zu beschwichtigen, indem er mit dun Pol¬
stern des Bettcliens vor ihm Ball spielt.
Ich weiß nicht, wie oft die Eltern und Erzieher angesichts
der unerklärlichen Schlimmheit des Kindes Anlaß hätten, sich
dieses typischen Zusammenhanges zu erinnern. Das Kind, das
sich so unbändig benimmt, legt ein Geständnis ab und will
Strafe provozieren. Es sucht in der Züchtigung gleichzeitig
die Beschwichtigung seines Schuldbewußtseins und die Be¬
friedigung seiner masochistischen Sexualstrebung.
Die weitere Klärung unseres Krankheitsfalles verdanken
wir nun der mit großer Bestimmtheit auftretenden Erinnerung,
daß alle Angstsymptome erst von einem gewissen Vorfall an
zu den Zeichen der Charakteränderung hinzugetreten seien.
Vorher habe es keine Angst gegeben und unmittelbar nach
dem Vorfall habe sich die Angst in quälender Form geäußert.
Der Zeitpunkt dieser Wandlung läßt sich mit Sicherheit an¬
geben, es war knapp vor dem vierten Geburtstag. Die Kinder¬
zeit, mit der wir uns beschäftigen wollten, zerlegt sich dank
diesem Anhaltspunkte in zwei Phasen, eine erste der Schlimm¬
heit und Perversität von der Verführung mit 3 J / 4 Jahren bis
zum vierten Geburtstag, und eine längere darauffolgende, in
der die Zeichen der Neurose vorherrschen. Der Vorfall aber,
der diese Scheidung gestattet, war kein äußeres Trauma, son¬
dern ein Traum, aus dem er mit Angst erwachte.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 27
IV. DER TRAUM UND DIE URSZENE.
Ich habe diesen Traum wegen seines Gehalts an Märchen¬
stoffen bereits an anderer Stelle publiziert*) und werde zu¬
nächst das dort Mitgeteilte wiederholen:
,Ich habe geträumt, daß es Nacht ist und ich
in meinem Bett liege, (mein Bett stand mit dem
Fußende gegen das Fenster, vor dem Fenster b e-
fand sich eine R.cihe alter Nußbäume. Ich weiß,
es war Winter, als ich träumte und Nachtzeit).
Plötzlich geht das Fenster von selbst auf, und
ich sehe mit großem Schrecken, daß auf d e m
großen Nußbaum vor dem Fenster ein paar weiße
Wölfe sitzen. Es waren sechs oder sieben Stück.
Die Wölfe waren ganz weiß und sahen eher aus
wie Füchse oder Schäferhunde, denn sie hatten
große Schwänze wie Füchse und ihre Ohren wa¬
ren aufgestellt wie bei den Hunden, wenn sie auf
etwas passen. Unter großer Angst, offenbar von
den Wölfen auf gefressen zu werden, schrie ich
auf und erwachte. Meine Kinderfrau eilte zu meinem Bebt,
um nachzusehen, was mit mir geschehen war. Es dauerte eine
ganze Weile, bis ich überzeugt war, es sei nur ein Traum ge¬
wesen, so natürlich und deutlich war mir das Bild vorge¬
kommen, wie das Fenster auf geht und die Wölfe auf dem
Baume sitzen. Endlich beruhigte ich mich, fühlte mich wie
von einer Gefahr befreit und schlief wieder ein.“
„Die einzige Aktion im Traume war das Aufgehen des
Fensters, denn die Wölfe saßen ganz ruhig ohne jede Be¬
wegung auf den Ästen des Baumes, rechts und links vom
*) Märchenstoffe iu Träumen. Int. Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse,
]!<1. I, 1913. (Diese Sammlung VIII.)
28
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Stamm und schauten mich an. Es sah so aus, als ob sie ihre
ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet hätten. — Ich
glaube, dies war mein erster Angsttraum. Ich war damals
drei, vier, höchstens fünf Jahre alt. Bis in mein elftes oder
zwölftes Jahr hatte ich von da an immer Angst, etwas Schreck¬
liches im Traume zu sehen.“
Er gibt dann noch eine Zeichnung des Baumes mit den
Wölfen, die seine Beschreibung bestätigt (Eig. 1). Die Analyse j
des Traumes fördert nachstehendes Material zu Tage.
Er hat diesen Traum immer in Beziehung zu der Er¬
innerung gebracht, daß er in diesen Jahren der Kindheit eine
ganz ungeheuerliche Angst vor dem Bild eines Wolfes in
einem Märchenbuche zeigte. Die ältere, ihm recht überlegene
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 29
Schwester pflegte ihn zu necken, indem sie ihm unter irgend
einem Vorwand gerade dieses Bild vorhielt, worauf er ent¬
setzt zu schreien begann. Auf diesem Bild stand der Wolf
aufrecht, mit einem Fuß ausschreitend, die Tatzen ausge¬
streckt und die Ohren aufgestellt. Er meint, dieses Bild habe
als Illustration zum Märchen von B otkäppchen gehört.
Warum sind die Wölfe weiß 1 ? Das läßt ihn an die Schafe
denken, von denen große Herden in der Nähe des Gutes ge¬
halten wurden. Der Vater nahm ihn gelegentlich mit, diese
Herden zu besuchen, und er war dann jedesmal sehr stolz
und selig. Später — nach eingezogenen Erkundigungen kann
es leicht kurz vor der Zeit dieses Traumes gewesen sein. —
brach unter diesen Schafen eine Seuche aus. Der Vater ließ
einen T a s t e u r schüler kommen, der die Tiere impfte, aber
sie starben nach der Impfung noch zahlreicher als vorhin.
Wie kommen die Wölfe auf den Baum? Dazu fällt ihm
eine Geschichte ein, die er den Großvater erzählen gehört.
Er kann sich nicht erinnern, ob vor oder nach dem Traum,
aber ihr Inhalt spricht entschieden für das erstere. Die Ge¬
schichte lautet: Ein Schneider sitzt in seinem Zimmer bei
der Arbeit, da öffnet sich das Fenster und ein Wolf springt
herein. Der Schneider schlägt mit der Elle nach ihm — - nein,
verbessert er sich, packt ihn beim Schwanz und reißt ihm
diesen aus, so daß der Wolf erschreckt davonrennt. Eine Weile
später geht der Schneider in den Wald und sieht plötzlich
ein Budel Wölfe herankommen, vor denen er sich auf einen
Baum flüchtet. Die Wölfe sind zunächst ratlos, aber der ver¬
stümmelte, der unter ihnen ist und sich am Schneider rä¬
chen will, macht den Vorschlag, daß einer auf den anderen
steigen soll, bis der letzte den Schneider erreicht hat. Ei
selbst — es ist ein kräftiger Alter — will die Basis dieser
30 _SC HRI FTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Pyramide machen. Die Wölfe tun so, aber der Schneider hat
den gezüchtigten Besucher erkannt und ruft plötzlich wie
damals: Packt den Grauen beim Schwanz. Der schwanzlose
Wolf erschrickt bei dieser Erinnerung, läuft davon und die
anderen purzeln alle herab.
In dieser Erzählung findet sich der Baum vor, auf dem
im Traum die Wölfe sitzen-. Sie enthält aber auch eine un¬
zweideutige Anknüpfung an den Kastrationskomplex. Der
alte Wolf ist vom Schneider um den Schwanz gebracht wor¬
den. Die Fuchsschwänze der Wölfe im Traum sind wohl Kom¬
pensationen dieser Schwanzlosigkeit.
Warum sind es sechs oder sieben Wölfe? Diese Frage
schien nicht zu beantworten, bis ich den Zweifel aufwarf,
ob sich sein Angstbild auf das Rotkäppchenmärchen bezogen
haben könne. Dies Märchen gibt nur Anlaß zu zwei Illu¬
strationen, zur Begegnung des Rotkäppchens mit dem Wolf
im Walde und zur Szene, wo der Wolf mit der Haube der
Großmutter im Bette liegt. Es müsse sich also ein anderes
Märchen hinter der Erinnerung an das Bild verbergen. Er¬
fand dann bald, daß es nur die Geschichte vom Wolf und
den sieben Geißlein sein könne. Hier findet sich die
Siebenzahl, aber auch die sechs, denn der Wolf frißt nur sechs
Geißlein auf. das siebente versteckt sich im Uhrkasten. Auch
das Weiß kommt in dieser Geschichte vor, denn der Wolf
läßt sich beim Bäcker die Pfote weiß machen, nachdem ihn
die Geißlein bei seinem ersten Besuch an der grauen Pfote
erkannt haben. Beide Märchen haben übrigens viel Gemein¬
sames. In beiden findet sich das Äuffressen, das Bauchauf-
schneiden, die Herausbeförderung der gefressenen Personen,
deren Ersatz durch schwere Steine, und endlich kommt in
beiden der böse Wolf um. Im Märchen von den Geißlein kommt
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 31
auch noch der Baum vor. 'Der Wolf legt sich nach der Mahl¬
zeit unter einen Baum und schnarcht.
Ich werde mich mit diesem Träum wegen eines beson¬
deren Umstandes noch an anderer Stelle beschäftigen müssen
und ihn dann eingehender deuten und würdigen. Es ist ja
ein erster aus der Kindheit erinnerter Angsttraum, dessen
Inhalt im Zusammenhang mit anderen Träumen, die bald
nachher erfolgten, und mit gewissen Begebenheiten in der
Kinderzeit des Träumers ein Interesse von ganz besonderer
Art wachruft. Hier beschränken wir uns auf die Beziehung
des Traumes zu zwei Märchen, die viel Gemeinsames haben,
zum „Rotkäppchen“ und zum „Wolf und die sieben Geißlein“.
Der Eindruck dieser Märchen äußerte sich bei dem kind¬
lichen Träumer in einer richtigen Tierphobie, die sich von
anderen ähnlichen Eällen nur dadurch auszeichnete, daß das
Angsttier nicht ein der Wahrnehmung leicht zugängliches
Objekt war (wie etwa Pferd und Hund), sondern nur aus
Erzählung und Bilderbuch gekannt.
Ich werde ein andermal auseinandersetzen, welche Er¬
klärung diese Tierphobien haben und welche Bedeutung ihnen
zukommt. Yorgreifend bemerke ich nur, daß diese Erklärung
sehr zu dem Hauptcharakter stimmt, welche die Neurose
des Träumers in späteren Lebenszeiten erkennen ließ. Die
Angst vor dem Vater war das stärkste Motiv seiner Erkran¬
kung gewesen, und die ambivalente Einstellung zu jedem
Vaterersatz beherrschte sein Leben wie sein Verhalten in der
Behandlung.
Wenn der Wolf bei meinem Patienten nur der erste Vater¬
ersatz war, so fragt es sich, ob die Märchen vom Wolf, der
die Geißlein auffrißt, und vom Ratkäppchen etwas anderes
als die infantile Angst vor dem Vater zum geheimen Inhalt
32
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
haben.*) Der Vater meines Patienten hatte übrigens die Eigen¬
tümlichkeit des „zärtlichen Schimpfens“, die so viele
Personen im Umgang mit ihren Kindern zeigen, und die
scherzhafte Drohung: „Ich fress’ dich auf“ mag in den ersten
•Jahren, als der später strenge Vater mit dem Söhnlein zu
spielen und zu kosen pflegte, mehr als einmal geäußert wor¬
den sein. Eine meiner Patienten erzählte mir, daß ihre bei¬
den Kinder den Großvater nie lieb gewinnen konnten, weil
er sie in seinem zärtlichen Spiel zu schrecken pflegte, er
werde ihnen den Bauch aufschneiden. —
Lassen wir nun all das bei seite, was in diesem Aufsatze
der Verwertung des Traumes vorgreift, und kehren wir zu
seiner nächsten Deutung zurück. Ich will bemerken, daß diese
Deutung eine Aufgabe war, deren Lösung sich durch mehrere
Jahre hinzog. Der Patient hatte den Traum sehr frühzeitig
mitgeteilt und sehr bald meine Überzeugung angenommen,
daß hinter ihm die Verursachung seiner infantilen Neurose
verborgen sei. Wir kamen im Laufe der Behandlung oft auf
den Traum zurück, a.ber erst in den letzten Monaten der Kur
gelang es, ihn ganz zu verstehen, und zwar dank der spon¬
tanen Arbeit des Patienten. Er hatte immer hervorgehoben,
daß zwei Momente des Traumes den größten Eindruck auf
ihn gemacht hätten, erstens die völlige Ruhe und Unbeweg¬
lichkeit der Wölfe und zweitens die gespannte Aufmerksamkeit,
mit der sie alle auf ihn schauten. Auch das nachhaltige Wirk-
liclilaeit.s'gefühl, in das der Traum auslief, erschien ihm
beachtenswert.
An dies letztere wollen wir anknüpfen. Wir wissen aus
*) Vgl. die von O. Rank hervorgehobene Ähnlichkeit dieser beiden
Märchen mit dem Mythus von Kronos. (Völkerpsychologische Parallelen zu
den infantilen Sexualtheorien; Zentralblatt f. Psychoanalyse, II, 8.)
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 33
den Erfahrungen der Traumdeutung, daß diesem Wirklich¬
keitsgefühl 1 eine bestimmte Bedeutung zukommt. Es ver¬
sichert uns, daß etwas in dem latenten Material des Traumes
den Anspruch a,uf Wirklichkeit in der Erinnerung erhebt, also
daß der Traum sich auf eine Begebenheit bezieht, die wirk¬
lich vorgefallen und nicht bloß phantasiert worden ist. Na¬
türlich kann es sich nur um die Wirklichkeit von etwas Un¬
bekanntem handeln; die Überzeugung z. B., daß der Gro߬
vater wirklich die Geschichte vom Schneider und vom Wolf
erzählt, oder daß ihm wirklich die Märchen vom Rotkäppchen
und von den sieben Geißlein vorgelesen worden waren, könnte
sich niemals durch das den Traum überdauernde Wirklieh-
keitsgefühl ersetzen. Der Traum schien auf eine Begebenheit
hinzudeuten, deren Realität so recht im Gegensatz zur Ir¬
realität der Märchen betont wird.
Wenn eine solche unbekannte, d. h. zur Zeit des Traumes
bereits vergessene Szene hinter dem Inhalt des Traumes an¬
zunehmen war, so mußte sie sehr früh vorgefallen sein. Der
Träumer sagt ja: ich war, als ich den Traum hatte, drei,
vier, höchstens fünf Jahre alt. Wir können hinzufügen: und
wurde durch den Traum an etwas erinnert, was einer noch
früheren Zeit angehört haben mußte.
Zum Inhalt dieser Szene mußte führen, was der Träumer
aus dem manifesten Trauminhalt hervorhob, die Momente
des aufmerksamen Schauens und der Bewegungslosigkeit. Wir
erwarten natürlich, daß dies Material das unbekannte Ma¬
terial der Szene in irgend einer Entstellung wiederbringt,
vielleicht sogar- in der Entstellung zur Gegensätzlichkeit.
Aus dem Rohstoff, welchen die erste Analyse mit dem
Patienten ergeben hatte, waren gleichfalls mehrere Schlüsse
zu ziehen, die in dem gesuchten Zusammenhang einzufügen
Freud, Neurosenlehre. V.
3
34
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
waren. Hinter der Erwähnung der Schafzucht waren die Be¬
lege für seine Sexualfors chang zu suchen, deren Interessen
er bei seinen Besuchen mit dem Vater befriedigen konnte,
aber auch Andeutungen von Todesangst mußten dabei sein,
denn die Schafe waren ja zum größten Teil an der Seuche
gestorben. Was im Traum das vordringlichste war, die Wölfe
auf dem. Baume, führte direkt zur Erzählung des Großvaters,
an welcher kaum etwas anderes als die Anknüpfung an das
Kastrationsthema das Fesselnde und d.en Traum Anregende
gewesen sein konnte.
Wir halten aus der ersten unvollständigen Analyse des
Traumes ferner erschlossen, daß der Wolf ein Vaterersatz
sei, so daß dieser erste Angsttraum jene Angst vor dem Vater
zum Vorschein gebracht Jiätte, welche von nun n.n sein Le¬
ben. beherrschen sollte. Dieser Schluß selbst war allerdings
noch nicht verbindlich. Wenn wir aber als Ergebnis der vor¬
läufigen Analyse, zusammenstellen, was sich aus dem vom
Träumer gelieferten Material ableitet, so liegen uns etwa fol¬
gende Bruchstücke zur Rekonstruktion vor:
Eine wirkliche Begebenheit — aus s ehr frü-
her Zeit — Schemen — Unbewegtheit — Sexua.l-
p r o b 1 e m o — Kas t r a 1 ion — d e r "Vater — et w a s
Schreckliches.
Eines Tages begann der Patient die Deutung des Trau¬
mes fortzusetzen. Die Stelle des Traumes,- meinte er, in der
es heißt: Plötzlich geht das Fenster von selbst auf, ist durch
die Beziehung zum Fenster, an dem der Schneider sitzt, und
durch das der Wolf ins Zimmer kommt, nicht ganz aufge¬
klärt. Es muß die Bedeutung haben: die Augen gehen plötz¬
lich auf. Also ich schlafe und erwache plötzlich, dabei sehe
ich etwas: den Baum mit den Wölfen. Dagegen war nichts
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 35
einzuwenden, aber es ließ weitere Ausnützung zu. Er war er¬
wacht und hatte etwas zu sehen bekommen. Das aufmerk¬
same Schauen, das im Traum den Wölfen zugeschrieben wird,
ist vielmehr auf ihn zu schieben. Da hatte an einem ent¬
scheidenden Punkte eine Verkehrung stattgefunden, die sich
übrigens durch eine andere Verkehrung im manifesten Traum¬
inhalt anzeigt. Es war ja auch eine Verkehrung, weim die
Wölfe auf dem Baum saßen, während sie sich in der Er¬
zählung des Großvaters unten befanden und nicht auf den
Baum steigen konnten.
Wenn nun auch das andere vom Träumer betonte Moment
durch eine Verkehrung oder Umkehrung entstellt wäre? Dann
müßte es anstatt Bewegungslosigkeit (die Wölfe sitzen re¬
gungslos da, schauen auf ihn, aber rühren sich nicht) heißen:
heftigste Bewegung. Er ist also plötzlich erwacht und hat
eine Szene von heftiger Bewegtheit vor sich gesehen, auf die
er mit gespannter Aufmerksamkeit schaute. In dem einen
Falle bestünde die Entstellung in einer Vertauschung von
Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität, angeschaut
werden anstatt anschauen, im anderen Falle in einer Ver¬
wandlung ins Gegenteil: Ruhe anstatt Bewegtheit.
Einen weiteren Fortschritt im Verständnis des Trau¬
mes brachte ein andermal der plötzlich auf tauchende Ein¬
fall: Der Baum ist der Weihnachtsbaum. Jetzt wußte er, der
Traum war kurz vor Weihnachten in der Weihnachtserwar¬
tung geträumt worden. Da der Weihnachtstag auch sein Ge¬
burtstag war, ließ sich der Zeitpunkt des Traumes und der
von ihm ausgehenden Wandlung nün mit Sicherheit fest¬
stellen. Es war knapp vor seinem vierten Geburtstag. Er war
also eingeschlafen in der gespannten Erwartung des Tages,
der ihm eine doppelte Beschenkuug bringen, sollte. Wir wis-
3*
36
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
sen, daß das Kind unter solchen Verhältnissen leicht die Er¬
füllung seiner Wünsche im Traum antizipiert. Es war also
schon Weihnacht im Traume, der Inhalt des Traumes zeigte
ihm seine Bescherung, am Baume hingen die für ihn be¬
stimmten Geschenke. Aber anstatt der Geschenke waren es
— Wölfe geworden, und der Traum endigte damit, daß er
Angst bekam, vom Wolf (wahrscheinlich vom Vater) ge¬
fressen zu werden, und seine Zuflucht zur Kinderfrau nahm.
Die Kenntnis seiner Sexualentwicklung vor dem Traum macht
es uns möglich, die Lücke im Traume auszufüllen und die
Verwandlung der Befriedigung in Angst aufzuklären. Unter
den traumbildenden Wünschen muß sich als der stärkste, der
nach der sexuellen Befriedigung geregt haben, die er damals
vom Vater ersehnte. Der Stärke dieses Wunsches gelang es,
die längst vergessene Erinnerungsspur einer Szene aufzu¬
frischen, die ihm zeigen konnte, wie die Sexualbefriedigung
durch den Väter aussah, und das Ergebnis war Schreck, Ent¬
setzen vor der Erfüllung dieses Wunsches, Verdrängung der
Regung, die sich durch diesen Wunsch dargestellt hatte, und
darum Flucht vom Vater weg zur ungefährlicheren Kinderfrau.
Die Bedeutung dieses Weihnachtstermins war in der an¬
geblichen Erinnerung erhalten geblieben, daß er den ersten
Wutanfall bekommen, weil er von den Weihnachtsgeschenken
unbefriedigt gewesen war. Die Erinnerung zog Richtiges und
Falsches zusammen, sie konnte nicht ohne Abänderung Recht
haben, denn nach den oft wiederholten Aussagen der Eltern
war seine Schlimmheit bereits nach deren Rückkehr im Herbst
und nicht erst zu Weihnachten aufgefallen, aber das Wesent¬
liche der Beziehungen zwischen mangelnder Liebes befriedi-
gung, Wut und Weihnachtszeit war in der Erinnerung fest¬
gehalten worden.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 37
Welches Bild konnte aber die nächtlicherweise wirkende
sexuelle Sehnsucht heraufbeschworen haben, das im Stande
war, so intensiv von der gewünschten Erfüllung abzuschrecken ?
Dieses Bild mußte nach dem Material der Analyse eine Be¬
dingung erfüllen, es mußte geeignet sein, die Überzeugung
von der Existenz der Kastration zu begründen. Die Kastra-
tiousangst wurde dann der Motor der Affektverwandlung.
Hier kommt nun die Stelle, an der ich die Anlehnung
an den Verlauf der Analyse verlassen muß. Ich fürchte, es
wird auch die Steile sein, an der der (Haube der Leser mich
verlassen wird.
Was in jener Nacht aus dem Chaos der unbewußten Ein¬
drucksspuren aktiviert wurde, war das Bild eines Koitus zwi¬
schen den Eltern unter nicht ganz gewöhnlichen und für die
Beobachtung besonders günstigen Umständen. Es gelang all¬
mählich, für alle Fragen, die sich an diese Szene knüpfen
konnten, befriedigende Antworten zu erhalten, indem jener
erste Traum im Verlauf der Kur in ungezählten Abänderungen
und Neuauflagen wiederkehrte, zu denen die Analyse die ge¬
wünschten Aufklärungen lieferte. So stellte sich zunächst das
Alter des Kindes bei der Beobachtung heraus, etwa l 1 / 2
Jahre.*) Er litt'damals an Malaria, deren Anfall täglich zu
bestimmter Stunde wiederkehrte.**) Von seinem zehnten Jahr
an war er zeitweise Stimmungen von Depression unterworfen, die
am Nachmittag einsetzten und um die fünfte Stunde ihre Höhe
erreioüten. Dieses Symptom bestand noch zur Zeit der ana¬
lytischen Behandlung. Die wiederkehrende Depression er-
*) Daneben käme mit weit geringerer Wahrscheinlichkeit, eigent¬
lich kaum haltbar das Alter von Jahr in Betracht.
**) Vgl. die späteren Umbildungen dieses Moments in der Zwangs¬
neurose. In den Träumen während der Ivur Ersetzung durch einen heftigen
Wind.
38
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
setzte den damaligen Fieber- oder Mattigkeitsanfall; die
fünfte Stunde war entweder die Zeit der Fieberhöhe oder
die der Koitusbeobachtung, wenn nicht beide Zeiten zusammen-
fallen.*) Er befand stich wahrscheinlich gerade dieses Krank¬
seins wegen im Zimmer der Eltern. Diese auch durch direkte
Tradition erhärtete Erkrankung legt uns nahe, den Vorfall
in den Sommer zu verlegen und damit für den am Weih¬
nachtstag Geborenen ein Alter von n + ll/ 2 Jahr anzunehmen.
Er hatte also im Zimmer der Eltern in seinem Bettchen ge¬
schlafen und erwachte, etwli infolge des steigenden Fiebers,
am Nachmittag, vielleicht um die später durch Depression
ausgezeichnete fünfte Stunde. Es stimmt zur Annahme oines
heißen Sommertages, wenn sich die Eltern halb entkleidet**)
zu einem Nachmittagsschläfchen zurückgezogen hatten. Als er
erwachte, wurde er Zeuge eines dreimal wiederholten***) Coi¬
tus a tergo, konnte das Genitale der Mutter wie das Glied
des Vaters sehen und verstand den Vorgang wie dessen Be¬
deutung. f) Endlich störte er den Verkehr der Eltern auf eine
Weise, von der späterhin die Rede sein wird.
*) Man bringe damit zusammen, daß der Patient zu seinem Traum
nur f ü nf Wölfe gezeichnet hat, obwohl der Text des Traumes von ü oder 7
sprich!
**) In weißer Wäsche, die weißen Wölfe.
***■) -yVolier dreimal? Er stellte plötzlich einmal die Behauptung auf,
daß ich dieses Detail durch Deutung eruiert hätte. Das traf nicht zu.
Es war ein spontaner, weiterer Kritik entzogener Einfall, den er nach
seiner Gewohnheit mir zuschob und ihn durch diese Projektion vertrauens¬
würdig machte.
f) Ich meine, er verstand ihn zur Zeit dos Traumes mit 4 Jahren,
nicht zur Zeit der Beobachtung. Mit l 1 / 2 Jahren holte er sich die Ein¬
drücke, deren nachträgliches Verständnis ihm zur Zeit des Traumes durch
seine Entwicklung, seine sexuellen Erregungen und seine Sexualforscliung
ermöglicht wurde.
1. AUS -DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. ",9
Im Grunde ist es nichts Außerordentliches, macht
nicht den Eindruck des Produkts einer ausschweifenden Phan¬
tasie, daß ein junges, erst wenige Jahre verheiratetes Ehepaar
an einen Nachmittagsschlaf zu heißer Sommerszeit einen zärt¬
lichen Verkehr anschließt und sich dabei über die Gegen¬
wart des D/b Jahre alten, in seinem Bettehen schlafenden
Knäbleins hinaussetzt. Ich meine vielmehr, es wäre etwas
durchaus Banales, Alltägliches, und auch die erschlossene
Stellung heim Koitus kann an diesem Urteil nichts ändern.
Besonders da aus dem Beweismaterial nicht hervorgeht, daß
der Koitus jedesmal in der Stellung von rückwärts vollzogen
wurde. Ein einziges Mal hätte ja hingereicht, um dem Zu¬
schauer die Gelegenheit zu Beobachtungen zu geben, die
durch eine andere Lage der Liebenden erschwert oder aus¬
geschlossen wären. Der Inhalt dieser Szene selbst kann also
kein Argument gegen ihre Glaubwürdigkeit sein. Das Beden¬
ken der Unwalirscheinlichkeit wird sich gegen drei andere
Punkte richten: dagegen, daß ein Kind in dem zarten Alter
von G /2 Jahren im stände sein sollte, die Wahrnehmungen
eines so komplizierten Vorganges aufzunehmen und sie so
getreu in seinem Unbewußten zu bewahren, zweitens da¬
gegen, daß eine nachträgliche zum Verständnis vordringende
Bearbeitung der so empfangenen Eindrücke zu 4 Jahren mög¬
lich ist, und endlich, daß es durch irgend ein Verfahren ge¬
lingen sollte, die Einzelheiten einer solchen Szene, unter sol¬
chen Umständen erlebt und verstanden, in zusammenhängen¬
der und überzeugender Weise bewußt zu machen.*)
*) Man kann sich die erste dieser Schwierigkeiten nicht durch die
Annahme erleichtern, das Kind sei zur Zeit der Beobachtung doch wahr¬
scheinlich um ein Jahr älter gewesen, also 2 l / 2 Jahre alt, zu welcher Zeit
es eventuell vollkommen sprachfähig sein mag. Für meinen Patienten
war eine solche Zeitversoliiobung durch alle Nebonumständo seines Falles
40
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Ich werde diese und andere Bedenken später sorgfältig
prüfen, versichere dem Leser, daß ich nicht weniger kritisch
als er gegen die Annahme einer solchen Beobachtung des Kin¬
des'eingestellt bin, und bitte ihn, sich mit mir zum vorläu¬
figen Glauben an die Realität dieser Szene zu entschließen.
Zunächst wollen wir das Studium der Beziehungen dieser
,,Urszene“ zum Traum, zu den Symptomen und zur Lebens¬
geschichte des Patienten fort setzen. Wir werden gesondert
verfolgen, welche Wirkungen vom wesentlichen Inhalt dei
Szene und von einem ihrer visuellen Eindrücke ausgegangen sind.
Unter letzterem meine ich die Stellungen, welche er die
Eltern einnehmen sah, die aufrechte des Mannes und die tier¬
ähnlich gebückte der Frau. Wir haben schon gehört, daß ihn
in der Angstzeit die Schwester mit dem Bild im Märchen¬
buch zu schrecken pflegte, anf dem der Wolf aufrecht dar¬
gestellt war, einen Fuß vorgesetzt, die Tatzen ausgestreckt
und die Ohren aufges'tellt. Er ließ sich während der Kur die
Mühe nicht verdrießen, in Antiquar laden nachzuspüren, bis
er das Märchenbilderbucli seiner Kindheit wiedergefunden
hatte, und erkannte sein Schreckbild in einer Illustration
zur Geschichte vom „Wolf und den sieben Geißlein“. Er
meinte, die Stellung des Wolfes auf diesem Bild hätte ihn
ajn die des Vaters während der konstruierten Urszene er¬
innern können. Dieses Bild wurde jedenfalls zum Ausgangs¬
punkt weiterer Angstwirkungen. Als er in seinem siebenten
oder achten Jahr einmal die Ankündigung erhielt, morgen
fast ausgeschlossen. Übrigens wolle ma.n in Betracht ziehen, daJJ solche
Szenen von Beobachtung des elterlichen Koitus in der Analyse keines¬
wegs selten aufgedeckt werden. Ihre Bedingung ist aber gerade, daß sie
in die früheste Kinderzeit fallen. Je älter das Kind ist, desto sorgfältiger
werden auf einem gewissen sozialen Niveau die Eltern dem Kinde die
Gelegenheit zu solcher Beobachtung versagen.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 41
werde ein neuer Lehrer zu ihm kommen, träumte er in der
nächstfolgenden Nacht von diesem Lehrer als Löwen, der
sich laut brüllend in der Stellung des Wolfes auf jenem Bilde
'seinem Bette näherte, und erwachte wiederum mit Angst.
Die Wolfsphobie war damals bereits überwunden, er hatte
darum die Freiheit, sich ein neues Angsttier zu wählen, und
anerkannte in diesem späten Traum den Lehrer als Vater-
ersatz. Jeder seiner Lehrer spielte in seinen späteren Kinder¬
jahren die gleiche Vater rolle und wurde mit dem Vatcr-
einfluß zum Guten wie zum Bösen ausgestattet.
Das Schicksal schenkte ihm einen sonderbaren Anlaß,
seine Wolfsphobie in der Gymnasialzeit aufzufrischen und die
Relation, die ihr zu Grunde lag, zum Ausgang schwerer Hem¬
mungen zu machen. Der Lehrer, der den lateinischen Unter¬
richt seiner Klasse leitete', hieß Wolf. Er war von Anfang
an vor ihm eingeschüchtert, zog sich einmal eine schwere
Beschimpfung von ihm zu, weil er in einer lateinischen Über¬
setzung einen dummen Fehler begangen hatte, und wurde von
da im eine lähmende Angst vor diesem Lehrer nicht mehr los,
die sich bald auf andere LehrCr übertrug. Aber die Gelegen¬
heit, bei der er in der Übersetzung strauchelte, war auch nicht
beziehungslos, Er hatte das lateinische Wort „filiüs“ zu über¬
setzen und tat es mit dem französischen „fils“ anstatt mit
dem entsprechenden Wort der Muttersprache. Der Wolf war
eben noch immer der Vater.*)
*) Nach dieser Beschimpfung durch den Lehrer-IVolf, erfuhr ier
als die allgemeine Meinung der Kollegen, daß der Lehrer zur Beschwich¬
tigung — Geld von ihm erwarte. Darauf werden wir später zuriiekkommen.
— Ich kann mir vorstellen, welche Erleiphterung es für eine rationali¬
stische Betrachtung einer solchen Kindergeschichte bedeuten würde, wenn
sich annehmen ließe, die ganze Angst vor dem Wolf sei in Wirklichkeit
von dem Latoinlehrer gleichen Namens ausgegangen, in die Kindheit
42
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Das erste der „passageren Symptome“,*) welches der Pa¬
tient in der Behandlung produzierte, .ging noch auf die Wolfs¬
phobie und auf das Märchen von den sieben Geißlein zurück,
In dem Zimmer, wo die ersten Sitzungen abgehalten, wurden,
befand sich eine große Wandkastenuhr gegenüber vom Pa¬
tienten, der abgewandt von mir auf einem Divan lag. Es fiel
mir auf, daß er von Zeit- zu Zeit das Gesicht zu mir kehrte,
mich sehr freundlich, wie begütigend ansah und dann den
Blick von mir zur Uhr wendete. Ich meinte damals, er gebe
so ein Zeichen seiner Sehnsucht nach Beendigung der Stunde.
Lange Zeit später erinnerte mich der Patient an dieses Ge¬
bärdenspiel und gab mir dessen Erklärung, indem er daran
erinnerte, cla-ß das jüngste der sieben Geißlein ein Versteck
im Kasten der Wanduhr fände, während die sechs Geschwister
vom Wolf gefressen würden. Er wollte also damals sagen: Sei
gut mit mir. Muß ich mich vor dir fürchten? Wirst du mich
auf fressen? Soll ich mich wie das .jüngste Geißleiu im Wand¬
kasten vor dir verstecken?
Der Wolf, vor dem er sich fürchtete, war unzweifelhaft
der Vater, aber diu Wolfsangst war an die Bedingung der
aufrechten Stellung gebunden. Seine Erinnerung behauptete
mit großer E-estimmheit, daß Bilder vom Wolf, der auf allen
Vieren gehe oder wie im Kotkäppchenmärchen im Bett liege,
ihn nicht geschreckt hätten. Nicht mindere Bedeutung zog
die Stellung auf sich, die er nach unserer Konstruktion der
Urszene das Weib batte einnehmen sehen; diese Bedeutung
zu rückprojiziert worden und hätte in Anlehnung an die Märchenillustration
die Phantasie der ( rs/.eno verursacht. Allein das ist unhaltbar; die zeitliche
Priorität der Wolfsphobie und deren Verlegung in die Kindheitsjahre
auf dem ersten Gut ist allzusicher bezeugt. Und der Traum mit 4 .Talircn?
*) F oi'enczi, Über pas'sagere Symptombildungon während der
Analyse. Zentralbl. f. Psychoanalyse, II. Jhg. 11112, ft. 5Sft ff.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 43
blieb aber auf das sexuelle Gebiet beschränkt. Die auffälligste
Erscheinung seines Licbeslebens nach der "Reife waren An¬
fälle von zwanghafter sinnlicher Verliebtheit, die in rätsel¬
hafter Folge auftraten und wieder verschwanden, eine riesige
Energie bei ihm auch in Zeiten sonstiger Hemmung entfessel¬
ten und seiner Beherrschung ganz entzogen waren. Ich muß
die volle Würdigung dieser Zwangslieben wegen eines beson¬
ders wertvollen Zusammenhanges noch aufschieben, aber ich
kann hier anführen, daß sie an eine bestimmte, seinem Be¬
wußtsein verborgene Bedingung geknüpft waren, die sich erst
in der Kur erkennen ließ. Das Weib mußte die Stellung ein¬
genommen haben, die wir der Mutter in der Urszene zu¬
schreiben. Große, auffällige Hinterbacken empfand er von der
Pubertät an als den stärksten Reiz des Weibes; ein anderer
Koitus als der von rückwärts bereitete ihm kaum Genuß. Die
kritische Erwägung ist zwar berechtigt, hier einzuwenden,
daß solche sexuelle Bevorzugung der hinteren Körperpartien
ein allgemeiner Charakter der zur Zwangsneurose neigenden
Personen sei und nicht zur Ableitung von einem‘besonderen
Eindruck der Kinderzrit berechtige. Sie gehöre in das Gefüge der
anal-erotischen Veranlagung und zu jenen archaischen Zügen,
welche diese Konstitution auszcichnen. Man darf die Begat¬
tung von rückwärts — more ferarum — doch wohl als die phylo¬
genetisch ältere Form auffassen. Wir werden auch auf diesen
Punkt in späterer Diskussion zuriiekkommen, wenn wir da.s Ma¬
terial für seine unbewußte Liel esbedingungnacligetragenhatcn.
Setzen wir nun in der Erörterung der Beziehungen zwi¬
schen Traum und Urszene fort. Nach unseren bisherigen Er¬
wartungen sollte der Traum dem Kind, das sich auf die Er¬
füllung seiner Wünsche zu Weihnachten freut, dies Bild der
Sexual befriediguug durch den Vater vorführen, wie er es in
44
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. Y.
jener Urszene gesehen hatte, als Vorbild der eigenen Befrie¬
digung, die er vom Vaier ersehnt. Anstatt dieses Bildes tritt
a,ber das Material der Geschichte auf, die der Großvater kurz
vorher erzählt hatte: Der Baum, die Wölfe, die Schwanzlosig¬
keit in der Form der Überkompensation in den buschigen
Schwänzen der angeblichen Wölfe. Hier fehlt uns ein Zu¬
sammenhang, eine Assoziationsbrücke, die von dem Inhalt der
Urszene zu dem der Wolfsgeschichte hinüberleitet. Diese Ver¬
bindung wird wiederum durch die Stellung und nur durch
diese gegeben. Der schwanzlose Wolf fordert in der
Erzählung des Großvaters die anderen auf, auf ihn zu stei¬
gen. Durch dieses Detail wurde die Erinnerung an das Bild
der Urszene geweckt, auf diesem Weg konnte das .Material
der Urszene durch das der Wolfsgeschichte vertreten werden,
dabei gleichzeitig die Zweizahl der Eltern in erwünschter
Weise durch die Mehrzahl der Wölfe ersetzt. Eine nächste
Wandlung erfuhr der Trauminhalt, indem das Material der
Wolfsgeschichte sich dem Inhalt des Märchens von den sieben
Geißlein ahfjaßte, die Siebenzahi von ihm entlehnte.*)
Die Materialwandlung: Urszene — Wolfsgeschichte —
Märchen von den sieben Geißiein — ist die Spiegelung des
Gedankenfortschritts während der Traumbildung: Sehnsucht
nach sexueller Befriedigung durch den Vater — Einsicht in
die daran geknüpfte Bedingung der Kastration — Angst vor
dem Vater. Ich meine, der Angsttraum des vierjährigen Kna¬
ben ist erst jetzt restlos aufgeklärt.**)
*) 6 oder 7 heißt es im Traum. 6 ist die Anzahl der gefressenen
Kinder, das siebente rettet sich in den Uhrkasten. Es bleibt strenges Ge¬
setz der Traumdeutung, daß jede Einzelheit ihre Aufklärung finde.
**) Nachdem uns die Synthese dieses Traumes gelungen ist. will ich
versuchen, die Beziehungen des manifesten Trauminhaltes zu den latenten.
Traumgedanken übersichtlich darzustellen.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 45
Über die pathogene Wirkung der Urszene und die Ver¬
änderung, welche deren Erweckung in seiner Sexualentwick-
lung hervorruft, kann ich' mich nach allem, was bisher schon
berührt wurde, kurz fassen. Wir werden nur diejenige Wir¬
kung verfolgen, welcher der Traum Ausdruck gibt. Später
werden wir uns klar machen müssen, daß nicht etwa eine
einzige Sexualströmung von der Urszene ausgegangen ist, son-
Es ist Nacht, ich liege in meinem Bette. Das letztere
ist der Beginn der Reproduktion der Urszene. ,.Es ist Nacht“ ist Entstellung
für: ich hatte geschlafen. Die Bemerkung: Ich weiß, es war Winter, als
ich träumte, und Nachtzeit, bezieht sich auf die Erinnerung an den Traum,
gehört nicht zu seinem Inhalt. Sie ist richtig; es war eine der Nächte
vor dem Geburtstag rösp. Weihnachtstag.
Plötzlich geht das Fenster von selbst auf. Zu über¬
setzen: Plötzlich erwache ich von selbst, Erinnerung der Urszene. Der
Einfluß der Wolfsgeschichte, in der der Wolf durchs Fenster hereinspringt,
macht sich modifizierend geltend und ve-rwandelt den direkten in einen
bildlichen Ausdruck. Gleichzeitig dient die Einführung des Fensters dazu,
um den folgenden Trauminhalt in der Gegenwart unterzubringen. Am
Weihnachtsabend geht die Türe plötzlich auf, und man sieht den Baum
mit den Geschenken vor sich. Hier macht sich also der Einfluß der
aktuellen Weihnachtserwaxt.ung geltend, welche die sexuelle Befriedigung
miteinschließt.
Der große Nußbaum, Vertreter des Christbaumes, also ak¬
tuell; überdies der Baum aus der 'Wolfsgeschichte, auf den sich der ver¬
folgte Schneider flüchtet, unter dem die. Wölfe lauern. Der hohe Baum
ist auch, wie ich mich oft überzeugen konnte, ein Symbol der Beobachtung,
dos Voyeurtums. Wenn man auf dem Baume sitzt, kann man alles
sehen, was unten vorgeht, und wird selbst nicht gesehen. Vgl. die bekannte
Geschichte des Boccaccio und ähnliche Schnurren.
Die IV ö 1 f e. Ihre Zahl: sechs oder sieben. In der Wolfs-
gescliichbe ist es ein Rudel ohne angegebene Zahl. Die Zahlbestimmung
zeigt den Einfluß des Märchens von den sieben Geißlein, von denen sechs
gefressen werden. Die Ersetzung der Zweizahl in der Urszene durch eine
Mehrzahl, welche in der Urszene absurd wäre, ist dem Widerstand als
Entstellungsmittel willkommen. In der zum Traum gefertigten Zeichnung
46
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
dem eine ganze Reihe von solchen, geradezu eine Aufsplit¬
terung des Sexuallebens. Ferner werden wir uns Vorhalten,
daß die Aktivierung dieser Szene (ich vermeide absichtlich
dais Wort: Erinnerung) dieselbe Wirkung hat, als ob sie ein
rezentes Erlebnis wäre. Die Szene wirkt nachträglich und hat
unterdes, in dem Intervall zwischen l x / 2 und 4 Jahren, nichts
von ihrer Frische eingebüßt. Vielleicht finden wir im wei-
hat der Träumer die 5 zum Ausdruck gebracht, die wahrscheinlich die An¬
gabe: es war Nacht korrigiert.
Sie sitzen auf dem Baum. Sie ersetzen zunächst die am Baum
hängenden Weihnachtsgeschenke. Sie sind aber auch auf den Baum ver¬
setzt, weil das heißen kann, sie schauen. In der Geschichte des Gro߬
vaters lagern sie unten um den Baum. Ihr Verhältnis zum Baum ist also
im Traum umgekehrt worden, woraus zu schließen ist, daß im Traum¬
inhalt noch andere Umkehrungen des latenten Materials Vorkommen.
Sie schauen ihn mit gespannter Aufmerksamkeit
am Dieser Zug ist ganz aus der Urszene, auf Kosten einer totalen Ver¬
kehrung in den Traum gekommen.
Sie sind ganz weiß. Dieser an sich unwesentliche, in der Er¬
zählung des Träumers stark betonte Zug, verdankt seine Intensität einer
ausgiebigen Verschmelzung von Elementen aus allen Schichten des Ma¬
terials, und vereinigt dann nebensächliche Details der anderen Traum¬
quellen mit einem bedeutsameren Stück der Urszene.' Diese letztere
Determinierung entstammt wohl der Weiße der Bett- und Leibwäsche der
Eltern, dazu, das Weiß der Schafherden, der Schäferhunde als Anspielung
auf seine Sexualforschungen an Tieren, das Weiß in dem Märchen von den
sieben Geißlein, in dem die Mutter an der Weiße ihrer Hand erkannt wird.
Wir werden später die weiße Wäsche auch als Todesandeutung verstehen.
Sie sitzen regungslos da. Hiemit wird dem auffälligsten
Inhalt der beobachteten Szene widersprochen, der Bewegtheit, welche durch
die Stellung, zu der sie führt, die Verbindung zwischen Urszene und
Wolfsgeschichte herstellt.
Sie haben Schwänze wie Eüchse. Dies soll einem Ergebnis
widersprechen, welches aus der Einwirkung der Urszene auf die Wolfs¬
geschichte gewonnen wurde und als der wichtigste Schluß der Sexual¬
forschung anzuerkennen ist: Es gibt also wirklich eine Kastration. Del
X. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 47
terea noch einen Anhaltspunkt dafür, daß sie bestimmte Wir¬
kungen bereits zur Zeit ihrer Wahrnehmung, also von 1 1 / 2
Jahren an, geübt hat.
Wenn sieh der Patient in diei Situation der Urszene ver¬
tiefte, förderte er folgende Selbstwahrnehmungen zu Tage:
Er habe vorher angenommen, der beobachtete Vorgang sei ein
gewalttätiger Akt, allein dazu stimmte das vergnügte Ge-
Schreck, mit. dem dies Denkergebnis aufgenommen wird, bricht sich endlich
im Traum Balm und erzeugt dessen Schluß.
Die Angst, von den Wölfen aufgefressen zu werden.
Sie erschien dem Träumer als nicht durch den Trauminhalt motiviert. Er
sagte, ich hätte mich nicht fürchten müssen, denn die Wölfe sahen eher
aus wie Füchse oder Hunde, sie fuhren auch nicht auf mich los, wie um
mich zu beißen, sondern waren sehr ruhig und gar nicht schrecklich. Wir
erkennen, daß die Traumarbeit sich eine Weile bemüht hat, die peinlichen
Inhalte durch Verwandlung ins Gegenteil unschädlich zu machen. (Sie be¬
wegen sich nicht, sie haben ja die schönsten Schwänze.) Bis endlich dieses
Mittel versagt und die Angst losbricht. Sie findet ihren Ausdruck mit
Hilfe des Märchens, in dem die Geißlein-Kinder vom Wolf-Vater
gefressen werden. Möglicherweise hat dieser Märchenin na,1t selbst an
scherzhafte Drohungen des Vaters, wenn er mit dem Kinde spielte, er¬
innert, so daß die Angst, vom W T olf gefressen zu werden, ebensowohl
Reminiszenz wie Verschiebungsersatz sein könnte.
Die Wunschmotive dieses Traumes sind liandgreifliche; zu den ober¬
flächlichen Tagoswünschen, Weihnachten mit seinen Geschenken möge
schon da sein (Ungeduldstraum), gesellt sich der tiefere, um diese Zeit
permanente Wunsch nach der Sexualbefriedigung durch den Vater, der
sich zunächst durch den W'unsch, das wiederzusehen, was damals so fes¬
selnd war, ersetzt. Dann verläuft der psychische Vorgang von der Er¬
füllung dieses Wunsches in der herauf b.schworenen Ur 5 zene bis zu der
jetzt unvermeidlich gewordenen Ablehnung des Wunsches und der
Verdrängung.
Die Breite und Ausführlichkeit der Darstellung, zu der ich durch
das Bemühen genötigt bin, dem Leser irgend ein Äquivalent für die Beweis¬
kraft einer selbstdurchgefiihrten Analyse zu bieten, mag ihn gleichzeitig
davon abbringen, die Publikation von Analysen zu verlangen, die sich
über mehrere Jahre erstreckt haben.
48
SCHRITTEN ZUR NEUROSENLEHRE. Y.
sicht nicht, das er die Mutter machen sah; er mußte er¬
kennen, daß es sich um eine Befriedigung handle. *) Das we¬
sentliche Neue, das ihm die Beobachtung des Verkehrs der
Eltern brachte, war die Überzeugung von der Wirklichkeit
der Kastration, deren Möglichkeit seine Gedanken schon vor¬
her beschäftigt hatte. (Der Anblick der beiden urinierenden
Mädchen, die Drohung der Nanja, die Deutung der Gouver¬
nante von den Zuckerstangen, die Erinnerung, daß der Va¬
ter eine Schlange in Stücke geschlagen.) Denn jetzt sah er
mit eigenen Augen die Wunde, von der die Nanja gesprochen
hatte, lind verstand, da.ß ihr Vorhandensein eine Bedingung
des Verkehrs mit dem Vater war. Er konnte sie nicht mehr
*) Der Aussage des Patienten, tragen wir vielleicht am ehesten
Rechnung, wenn wir annehmen, daß der Gegenstand seiner Beobachtung
zuerst ein Koitus in normaler Stellung gewesen ist, der den Eindruck eines
sadistischen Aktes erwecken muß. Erst nach diesem sei die Stellung ge¬
wechselt worden, so daß er Gelegenheit zu anderen Beobachtungen und
Urteilen gewann. Allein diese Annahme ist nicht gesichert worden, scheint
mir auch nicht unentbehrlich. Wir wollen über die abkiirzende Dar¬
stellung des Testes die wirkliche Situation nicht außer Äuge lassen, daß
der Analysierte im Alter nach 25 Jahren Eindrücken und Regungen aus
seinem vierten Jahr Worte verleiht, die er damals nicht gefunden hätte.
Vernachlässigt man diese Bemerkung, so kann man es leicht komisch und
unglaubwürdig finden, daß ein vierjähriges Kind solcher fachlicher Urteile
und gelehrter Gedanken fähig sein sollte. Es ist dies einfach ein zweiter
Fall von Nachträglichkeit. Das Kind empfängt mit 1 J / 2 Jahren
einen Eindruck, auf den ps nicht genügend reagieren kann, versteht ihn
erst, wird von ihm ergriffen bei der Wiederbelebung des Eindrucks mit
vier Jahren, und kann erst zwei Dezennien später in der Analyse mit
bewußter Denktätigkeit erfassen, was damals in ihm vorgegangen. Der
Analysierte setzt sich dann mit Recht über die drei Zeitphasen hinweg
und setzt sein gegenwärtiges Ich in die längstvergangeno Situation ein.
Wir folgen ihm darin, denn bei korrekter Selbstbeobachtung und Deutung
muß der Effekt so ausfallen, als ob man die Distanz zwischen der zweiten
und der dritten Zeitphase vernachlässigen könnte. Auch haben wir kein
anderes Mittel, die Vorgänge in der zweiten Phase zu beschreiben.
J. AUS PER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 49
wie bei der Beobachtung der kleinen Mädchen mit dem Popo
verwechseln.*)
Der Ausgang des Traumes war Angst, von der er sich
nicht eher beruhigte, als bis er seine Nanja bei sich hatte.
Er flüchtete sich also zu ihr vom Vater weg. Die Angst war
eine Ablehnung des Wunsches nach Sexualbefriedigung durch
den Va.ter, welches Streben ihm den Traum eingegeben hatte.
Ihr Ausdruck: vom Wolf gefressen zu werden, war nur eine
— wie wir hören werden: regressive — Umsetzung des Wun¬
sches, vom Vater koitiert, d. li. so befriedigt zu werden wie
die Mutter. Sein letztes Sexualziel, die passive Einstellung
zum Vater, war einer Verdrängung erlegen, die Angst vor
dem Vater in Gestalt der Wolfsphobie an ihre Stelle getreten.
Und die treibende Kraft dieser Verdrängung ? Dem gan¬
zen Sachverhalt nach konnte es nur die narzißtische Genital¬
libido sein, die sich als Sorge um sein männliches Glied gegen
eine Befriedigung sträubte, für die der Verzicht auf dieses
Glied Bedingung schien. Aus dem bedrohten Narzißmus
schöpfte er die Männlichkeit, mit der er sich gegen die pas¬
sive Einstellung zum Vater wehrte.
Wir werden jetzt darauf aufmerksam, daß wir an die¬
sem Punkte der Darstellung imsere Terminologie ändern müs¬
sen. Er hatte während des Traumes eine neue Phase seiner
Sexualorganisation erreicht. Die sexuellen Gegensätze waren
ihm bisher aktiv und passiv gewesen. Sein Sexualziel war
seit der Verführung ein passives, am Genitale berührt zu wer¬
den, dann wandelte es sich durch Regression auf die frühere
Stufe der sadistisch-analen Organisation in das masochistische,
gezüchtigt, gestraft zu werden. Es war ihm gleichgültig, ob
*) Wie er sicli mit diesem Anteil des Problems weiter auseinander¬
setzte, werden wir später bei der Verfolgung seiner Analerotik erfahren.
Freud, Neurosenlehre. V.
4
50
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
er dieses Ziel beim Mann oder beim Weib erreichen sollte.
Er war ohne Rücksicht auf den Geschlechtsunterschied von
der Nanja zum Vater gewandert, hatte von der Nanja ver¬
langt, am Glied berührt zu werden, vom Vater die Züchti¬
gung provozieren wollen. Das Genitale kam dabei außer Be¬
tracht; in der Phantasie, auf den Penis geschlagen zu wer¬
den, äußerte sich noch der durch die Regression verdeckte
Zusammenhang.' Nun führte ihn die Aktivierung der Ur-
szene im Traum zur genitalen Organisation zurück. Er ent¬
deckte die Vagina und die biologische Bedeutung von männ¬
lich und weiblich. Er verstand jetzt, aktiv sei gleich männ¬
lich, passiv aber weiblich. Sein passives Sexualziel hätte sich
jetzt in ein weibliches verwandeln, den Ausdruck annehmen
müssen: vom Vater koitiert zu werden, anstatt: von ihm auf
das Genitale oder auf den Popo geschlagen zu werden. Dieses
feminine Ziel verfiel nun der Verdrängung und mußte sich
durch die Angst vor dem Wolf ersetzen lassen.
Wir müssen die Diskussion seiner Sexualentwicklung hier
unterbrechen, bis aus späteren Stadien seiner Geschichte neues
Licht auf diese früheren zurückfällt. Zur Würdigung der
Wolfsphobie fügen wir noch hinzu, daß Vater und Mutter,
beide, zu Wölfen wurden. Die Mutter spielte ja den ka¬
strierten Wolf, der die anderen auf sich aufsteigen ließ, der
Vater den aufsteigenden. Seine Angst bezog sich aber, wie
wir ihn versichern gehört haben, nur auf den stehenden Wolf,
also auf den Vater. Ferner muß uns auffallen, daß die Angst,
in die der Traum ausging, ein Vorbild in der Erzählung des
Großvaters hatte. In dieser wird ja der kastrierte Wolf, der
die anderen auf sich hat steigen lassen, von Angst befallen,
sowie er an die Tatsache seiner Schwanzlosigkeit erinnert
wird. Es scheint also, daß er sich während des Traum-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 51
Vorganges mit der kastrierten Mutter identifizierte und sich
nun gegen dieses Ergebnis sträubte. In hoffentlich zutreffen¬
der Übersetzung: Wenn du vom Yater befriedigt werden willst,
mußt du dir wie die Mutter die Kastration gefallen lassen;
das will ich aber nicht. Also ein deutlicher Protest der
Männlichkeit! Machen wir uns übrigens klar, daß die Sexual¬
entwicklung des Falles, den wir hier verfolgen, für unsere
Forschung den größten Nachteil hat, daß sie keine ungestörte
ist. Sie wird zuerst durch die Verführung entscheidend be¬
einflußt und nun durch die Szene der Koitusbeobachtung
abgelenkt, die nachträglich wie eine zweite Verführung
wirkt.
V. EINIGE DISKUSSIONEN.
Eisbär und Walfisch, hat man gesagt, können nicht mit¬
einander Krieg führen, weil sie, ein jeder auf sein Element
beschränkt, nicht zueinander kommen. Ebenso unmöglich wird
es mir, mit' Arbeitern auf dem Gebiet der Psychologie oder
der Neurotik zu diskutieren, die die Vorraussetzungen der
Psychoanalyse nicht anerkennen und ihre Ergebnisse für
Artefakte halten. Daneben hat sich aber in den letzten Jah¬
ren eine Opposition von Anderen entwickelt, die, nach ihrem
eigenen Vermeinen wenigstens, auf dem Boden der Analyse
stehen, die Technik und Resultate derselben nicht bestreiten
und sich nur für berechtigt halten, aus dem nämlichen Ma¬
terial andere Folgerungen abzuleiten und es anderen Auf¬
fassungen zu unterziehen.
Theoretischer Widerspruch ist aber zumeist unfruchtbar.
Sowie man begonnen hat, sich von dem Material, aus dem
man schöpfen soll, zu entfernen, läuft man Gefahr, sich an
seinen Behauptungen zu berauschen und endlich Meinungen
4*
52
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEIIRE. V.
za vertreten, denen jede Beobachtung widersprochen .hätte. Es
scheint mir darum ungleich zweckmäßiger, abweichende Auf¬
fassungen dadurch zu bekämpfen, daß man sie an einzelnen
Bällen und Problemen, erprobt.
Ich habe oben (S. 39) ausgeführt, es werde gewiß für
unwahrscheinlich gehalten werden, „daß ein Kind in dem
zarten Alter von l 1 / 2 Jahren im stände sein sollte, die Wahr¬
nehmungen eines so komplizierten Vorganges in sich aufzu¬
nehmen und sie so getreu in seinem Unbewußten zu bewahren,
zweitens, daß eine nachträglich zum Verständnis vordringende
Bearbeitung dieses Materials zu vier Jahren möglich ist, und
endlich, daß es durch irgend ein Verfahren gelingen sollte, die
Einzelheiten einer solchen Szene, unter solchen Umständen
erlebt und verstanden, in zusammenhängender und über¬
zeugender Weise bewußt zu machen“.
Die letzte Frage ist eine rein faktische. Wer sich die
Mühe nimmt, die Analyse mittels der vorgezeichneten Tech¬
nik in solche Tiefen zu treiben, wird sich überzeugen, daß
es sehr wohl möglich ist; wer es unterläßt und in irgend
einer höheren Schicht die Analyse unterbricht, hat sich des
Urteils darüber begeben. Aber die Auffassung des von der
Tiefenanalyse’ Erreichten ist damit nicht entschieden.
Die beiden anderen Bedenken stützen sich auf eine Gering-
schätzung der frühinfantilen Eindrücke, denen so nachhaltige
Wirkungen nicht zugetraut werden. Sie wollen die Verursachung
der Neurosen fast ausschließlich in den ernsthaften Konflik¬
ten des späteren Lebens suchen, und nehmen an, die Be¬
deutsamkeit der Kindheit werde uns in der Analyse nur durch
die Neigung der Neurotiker vorgespiegelt, ihre gegenwärtigen
Interessen in Reminiszenzen imd Symbolen der frühen Ver¬
gangenheit- auszudrücken. Mit solcher Einschätzung des in-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 53
fantilen Moments fiele manches weg, was zu den intimsten
Eigentümlichkeiten der Analyse gehört hat, freilich auch
vieles, was ihr Widerstände schafft und das Zutrauen der
Außenstehenden entfremdet.
Wir stellen also zur Diskussion die Auffassung ein, solche
frühinfantile Szenen, wie sie eine erschöpfende Analyse der
Neurosen, z. B. unseres Falles liefert, seien nicht Reproduk¬
tionen realer Begebenheiten, denen man Einfluß auf die Ge¬
staltung des späteren Lebens und auf die Symptombildung
zuschreiben dürfe, sondern Phantasiebildungen, die der Zeit
der Reife ihre Anregung entnehmen, zur gewissermaßen sym¬
bolischen Vertretung realer Wünsche und Interessen be¬
stimmt sind, und die einer regressiven Tendenz, einer Ab¬
wendung von den Aufgaben der Gegenwart ihre Entstehung
verdanken. Wenn dem so ist, dann kann man sich natürlich
alle die befremdenden Zumutungen an das Seelenleben und
die intellektuelle Leistung von Kindern im unmündigsten
Alter ersparen.
Dieser Auffassung kommt außer dem uns allen gemein¬
samen Wunsch nach -Rationalisierung und Vereinfachung der
schwierigen Aufgabe mancherlei Tatsächliches entgegen. Auch
kann man im vorhinein ein Bedenken aus dem Wege räu¬
men, welches sich gerade beim praktischen Analytiker er¬
heben könnte. Man muß zugestehen, wenn die bes]irochene
Auffassung dieser infantilen Szenen die richtige ist, dann
wird an der Ausübung der Analyse zunächst nichts geändert.
Hat der Neurotiker einmal die üble Eigentümlichkeit, sein
Interesse von der Gegenwart abzuwenden und es an solche
regressive Ersatzbildungen seiner Phantasie zu heften, so
kann man gar nichts anderes tun, als ihm auf seinen Wegen
zu folgen und ihm diese unbewußten Produktionen zum Be-
54
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
wußtsein zu bringen, denn sie sind, von ihrem realen Unwert
ganz abzusehen, für uns höchst wertvoll als die derzeitigen
Träger und Besitzer des Interesses, welches wir frei machen
wollen, um es auf die Aufgaben der Gegenwart zu lenken.
Die Analyse müßte genau ebenso verlaufen wie jene, die im
naiven Zutrauen solche Phantasien für wahr nimmt. Erst am
Ende der Analyse, nach der Aufdeckung dieser Phantasien,
käme der Unterschied. Man würde dann dem Kranken sagen:
„Nun gut ; Ihre Neurose ist so verlaufen, als ob Sie in Ihren
Kinderjahren solche Eindrücke empfangen und fortgesponnen
hätten. Sie sehen wohl ein, daß dies nicht möglich ist. Es
waren Produkte Ihrer Phantasietätigkeit zur Ablenkung von
realen Aufgaben, die Ihnen bevorstanden. Nun lassen Sie uns
nachforschen, welches diese Aufgaben waren, und welche Ver¬
bindungswege zwischen diesen und Ihren Phantasien bestan¬
den haben.“ Ein zweiter, dem realen Leben zugewendeter Ab¬
schnitt der Behandlung würde nach dieser Erledigung der
infantilen Phantasien einsetzen können.
Eine Abkürzung dieses Weges, also eine Abänderung der
bisher geübten psychoanalytischen Kur, wäre technisch un¬
zulässig. Wenn man dem Kranken diese Phantasien nicht in
ihrem vollen Umfange bewußt macht, kann man ihm die
Verfügung über das an sie gebundene Interesse nicht geben.
Wenn man ihn von ihnen ablenkt, sobald man ihre Existenz
und allgemeine Umrisse ahnt, unterstützt man nur das Werk
der Verdrängung, durch das sie für alle Bemühungen des Kran¬
ken unantastbar geworden sind. Wenn man sie ihm früh¬
zeitig entwertet, etwa indem man ihm eröffnet, es werde sich
nur um Phantasien handeln, die ja keine reale Bedeutung
haben, wird man nie seine Mitwirkung bereit finden, um sie
dem Bewußtsein zuzuführen. Die analytische Technik dürfte
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 55
also bei korrektem Vorgehen keine Änderung erfahren, wie
immer man diese Infantilszenen einschätzt.
Ich habe erwähnt, daß die Auffassung dieser Szenen als
regressiver Phantasien, manche tatsächliche Momente zu ihrer
Unterstützung anrufen kann. Vor allem das eine: Diese In¬
fantilszenen werden in der Kur — soweit meine Erfahrung
bis jetzt reicht — nicht als Erinnerungen reproduziert, sie sind
Ergebnisse der Konstruktion. Gewiß wird manchem der Streit
schon durch dieses eine Zugeständnis entschieden scheinen.
Ich möchte nicht mißverstanden werden. Jeder Analytiker
weiß und hat es ungezählte Male erfahren, daß in einer ge¬
lungenen Kur der Patient eine ganze Anzahl spontaner Er¬
innerungen aus seinen Kinderjahren mitteilt, an deren Auf¬
tauchen — vielleicht erstmaligem Auftauchen — der Arzt sich
völlig unschuldig fühlt, indem er durch keinerlei Konstruk¬
tionsversuch dem Kranken einen ähnlichen Inhalt nahe gelegt
hat. Diese vorher unbewußten Erinnerungen müssen nicht
einmal immer wahr sein; sie können es sein, aber sie sind
oft gegen die Wahrheit entstellt, mit phantasierten Elementen
durchsetzt, ganz ähnlich wie die spontan erhalten gebliebenen
sogenannten Deckerinnerungen. Ich will nur sagen: Szenen,
wie die bei meinem Patienten,, aus so früher Zeit und mit
solchem Inhalt, die dann eine so außerordentliche Bedeutung
für die Geschichte des Palles beanspruchen, werden in der
Eegel nicht als Erinnerungen reproduziert, sondern müssen
schrittweise und mühselig aus einer Summe von Andeutungen
erraten — konstruiert — werden. Es reicht auch für das
Argument hin, wenn ich zugebe, daß solche Szenen bei den
Fällen von Zwangsneurose nicht als Erinnerung bewußt wer¬
den, oder wenn ich die Angabe auf den einen Pall, den wir
hier studieren, beschränke.
56
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Ich bin nun nicht der Meinung, daß diese Szenen not¬
wendigerweise Phantasien sein müßten, weil sie nicht als Er¬
innerungen wiederkommen. Es scheint mir durchaus der Er¬
innerung gleichwertig, daß sie sich — wie in unserem Falle
— durch Träume ersetzen, deren Analyse regelmäßig zu der¬
selben Szene zurückführt, die in unermüdlicher Umarbeitung
jedes Stück ihres Inhalts reproduzieren. Träumen ist ja auch
ein Erinnern, wenn auch unter den Bedingungen der Nacht¬
zeit und der Traumbildung. Durch diese Wiederkehr in Träu¬
men erkläre ich mir, daß sich bei den Patienten selbst all¬
mählich eine sichere Überzeugung von der Realität dieser Ur-
szenen bildet, eine Überzeugung, die der auf Erinnerung ge¬
gründeten in nichts nachsteht.*)
Die Gegner brauchen freilich den Kampf gegen diese Ar¬
gumente nicht als aussichtslos aufzugeben. Träume sind be¬
kanntlich lenkbar.**) Und die Überzeugung des Analysierten
kann ein Erfolg der Suggestion sein, für die immer noch eine
Rolle im Kräftespiel der analytischen Behandlung gesucht
wird. Der Psychotherapeut alten Schlages würde seinem Pa¬
tienten suggerieren, daß er gesund ist, seine Hemmungen über¬
wunden hat u. dgl. Der Psychoanalytiker aber, daß er als
Kind dies oder jenes Erlebnis gehabt hat, das er jetzt er¬
innern müsse, um gesund zu werden. Das wäre der Unterschied
zwischen beiden.
*) Wie frühzeitig ich mich mit diesem Problem beschäftigt habe,
mag eine Stelle ans der ersten Auflage meiner Traumdeutung 1900 be¬
weisen. Dort heißt es S. 126 zur Analyse der in einem Traum ver¬
kommenden Rede: Das ist nicht mehr zu haben, diese Rede stammt
von mir selbst; ich hatte ihr einige Tage vorher erklärt, „daß die ältesten
Kindererlebnisse nicht mehr als solche zu haben'sind, sondern durch
„Übertragungen“ lind Träume in der Analyse ersetzt werden“.
**) Der Mechanismus des Traumes kann nicht beeinflußt werden, aber
das Traummaterial läßt sich partiell kommandieren.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 57
Machen wir uns klar, daß dieser letzte Erklärungsversuch
der Gegner auf eine weit gründlichere Erledigung der Infan¬
tilszenen hinausläuft, als anfangs angekündigt wurde. Sie
sollten nicht Wirklichkeiten sein, sondern Phantasien. Nun
wird es offenbar: nicht Phantasien des Kranken, sondern des
Analytikers selbst, die er aus irgend welchen persönlichen
Komplexen dem Analysierten aufdrängt. Der Analytiker frei¬
lich, der diesen Vorwurf hört, wird sich zu seiner Beruhigung
vorführen, wie allmählich die Konstruktion dieser angeblich
von ihm eingegebenen Phantasie zu stände gekommen ist, wie
unabhängig sich doch deren Ausgestaltung in vielen Punkten
von der ärztlichen Anregung benommen hat, wie von einer
gewissen Phase der Behandlung an alles auf sie hin zu kon¬
vergieren schien, und wie nun in der Synthese die ver¬
schiedensten merkwürdigen Erfolge von ihr ausstrahlen, wie
die großen und die kleinsten Probleme und Sonderbarkeiten
der Krankengeschichte ihre Lösung üi der einen Annahme
fänden, und wird geltend machen, daß er sich nicht den
Scharfsinn zutraut, eine Begebenheit auszubecken, welche alle
diese Ansprüche in einem erfüllen kann. Aber auch dieses
Plaidoyer wird nicht auf den anderen Teil wirken, der die
Analyse nicht selbst erlebt hat. Raffinierte Selbsttäuschung
— wird es von der einen Seite lauten, Stumpfheit der Be¬
urteilung — von der anderen; eine Entscheidung wird nicht
zu fällen sein.
Wenden wir uns zu einem anderen Moment, welches die
gegnerische Auffassung der konstruierten Infantilszenen unter¬
stützt. Es ist folgendes: Alle die Prozesse, welche, zur Auf¬
klärung dieser fraglichen Bildungen als Phantasien heran¬
gezogen worden sind, bestehen wirklich und sind als be¬
deutungsvoll anzuerkennen. Die Abwendung des Interesses
58
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
von den Aufga,ben des realen Lebens,*) die Existenz von Phan¬
tasien als Ersatzbildungen für die unterlassenen Aktionen,
die regressive Tendenz, die sich in diesen Schöpfungen aus¬
spricht ■—- regressiv in mehr als einem Sinne, insofern gleich¬
zeitig ein Zurückweichen vor dem Leben und ein Zurück¬
greifen auf die Vergangenheit eintritt —, all das trifft zu
und läßt sich regelmäßig durch die Analyse bestätigen. Man
sollte meinen, es würde auch hinreichen, die in Eede stehen¬
den angeblichen frühinfantilen Reminiszenzen aufzuklären, und
diese Erklärung hätte nach den ökonomischen Prinzipien der
Wissenschaft das Vorrecht vor einer anderen, die ohne neue
und befremdliche Annahmen nicht ausreichen kann.
Ich gestatte mir, an dieser Stelle darauf aufmerksam zu
machen, daß die Widersprüche in der heutigen psychoanaly¬
tischen Literatur gewöhnlich nach dem Prinzip des Pars
pro t o t o angefertigt werden. Man greift aus einem hoch
zusammengesetzten Ensemble einen Anteil der wirksamen
Faktoren heraus, proklamiert diesen als die Wahrheit und
widerspricht nun zu dessen Gunsten dem anderen Anteil und
dem Ganzen. Sieht man etwa näher zu, welcher Gruppe dieser
Vorzug zugefallen ist, so findet man, e;s ist die, welche das
bereits anderswoher Bekannte enthält oder sich am ehesten
ihm anschließt. So bei Jung die Aktualität und die Regres¬
sion, bei Adler die egoistischen Motive. Znrückgelassen, als
Irrtum verworfen, wird aber gerade das, was an der Psycho¬
analyse neu ist uud ihr eigentümlich zukommt. Auf diesem
Wege lassen sich die revolutionären Vorstöße der unbequemen
Psychoanalyse am leichtesten zurückweisen.
Es ist nicht überflüssig hervorzuheben, daß keines der
*) Ich ziehe aus guten Gründen vor zu sagen: Die Abwendung der
T, i b i d o von den aktuellen Konflikten.-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 59
Momente, welche die gegnerische Auffassung zum Verständ¬
nis der Kindheitsszenen heranzieht, von Jung als Neuheit
gelehrt zu werden brauchte. Der aktuelle Konflikt, die Ab¬
wendung von der Realität, die Ersatzbefriedigung in der Phan¬
tasie, die Regression auf Material der Vergangenheit, dies
alles hat, und zwar in der nämlichen Zusammenfügung, viel¬
leicht mit geringer Abänderung der Terminologie, von jeher
einen integrierenden Bestandteil meiner eigenen Lehre ge¬
bildet. Es war nicht das Ganze derselben, nur der Anteil
der Verursachung, der von der Realität her zur Neurosen¬
bildung in regressiver Richtung einwirkt. Ich habe daneben
noch Raum gelassen für einen zweiten progredienten Ein¬
fluß, der von den Kindheitseindrücken her wirkt, der vom
Leben znrückweichenden Libido den Weg weist und die sonst
unerklärliche Regression auf die Kindheit verstehen läßt. So
wirken die beiden Momente nach meiner Auffassung bei der
Symptombildung zusammen, aber ein früheres Zusammen¬
wirken scheint mir ebenso bedeutungsvoll. Ich behaupte, daß
der Kindheitseinfluß sich bereits in der An¬
fangssituation der Neurosenbildung fühlbar
macht, indem er in entscheidender Weise mitbe¬
stimmt, ob und an welcher Stelle das Indivi¬
duum in der Bewältigung der realen Probleme
des Lebens versagt.
Im Streit steht also die Bedeutung des infantilen Mo¬
ments. Die Aufgabe geht dahin, einen Fall zu finden, der
diese Bedeutung, jedem Zweifel entzogen, erweisen kann. Ein
solcher ist aber der Krankheitsfall, den wir hier so ausführ¬
lich behandeln, der durch den Charakter ausgezeichnet ist,
daß der Neurose im späteren Leben eine Neurose in frühen
Jahren der Kindheit vorhergellt. Gerade darum habe ich ja
SCHEUTEN ZUR NEUROSEN LEHRE. V.
60
diesen Fall zur Mitteilung gewählt. Sollte jemand ihn
etwa darum, ablehnen wollen, weil ihm die Tie^hobie nicht
wichtig genug erscheint, um als selbständige Neurose, aner¬
kannt zu werden, so will ich ihn darauf verweisen, daß ohne
Intervall an diese Phobie ein Zwangszeremoniell, Zwangs¬
handlungen und Gedanken anschließen, von denen in den fol¬
genden Abschnitten dieser Schrift die Eede sein wird.
Eine neurotische Erkrankung im vierten und fünften Jahi
der Kindheit beweist vor allem, daß die infantilen Erlebnisse
für sich allein im stände sind, eine Neurose zu produzieren,
ohne daß es dazu der Flucht vor einer im Leben gestellten
Aufgabe bedürfte. Man wird ein wenden, daß auch an das
Kind unausgesetzt Aufgaben herantreten, denen es sich viel¬
leicht entziehen möchte. Das ist richtig, aber das Leben eines
Kindes vor der Schulzeit ist leicht zu übersehen, man kann
ja untersuchen, ob sich eine die Verursachung der Neurose
bestimmende „Aufgabe“ darin findet. Man entdeckt aber
nichts anderes als Triebregungen, deren .Befriedigung dem
Kind unmöglich, deren Bewältigung es nicht gewachsen ist,
und die Quellen, aus denen diese fließen.
Die enorme Verkürzung des Intervalls zwischen dem
Ausbruch der Neurose und der Zeit der in Kede stehenden
Kindheitserlebnisse läßt, wie zu erwarten stand, das regressive
Stück der Verursachung aufs äußerste einschrumpfen und
bringt den progredienten Anteil : derselben, den Einfluß frü¬
herer Eindrücke unverdeckt zum Vorschein. Von diesem Ver¬
hältnis wird diese Krankengeschichte, wie ich hoffe, ein deut¬
liches Bild geben. Auf die Frage nach der Natur der Ur-
szenen oder frühesten in der Analyse eruierten Kindheits¬
erlebnisse gibt die Kindheitsneurose noch aus anderen Grün¬
den eine entscheidende Antwort.
T. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 61
Nehmen, wir als unwidersprochene Voraussetzung an, daß
eine solche Urszene technisch richtig entwickelt worden sei,
daß sie unerläßlich sei zur zusammenfassenden Lösung aller
Rätsel, welche uns die Symptomatik der Kindheitserkran¬
kung auf gibt' daß alle Wirkungen von ihr ausstrahlen, wie
alle Fäden der Analyse zu ihr hingeführt haben, so ist es
mit Rücksicht auf ihren Inhalt unmöglich, daß sie etwas an¬
deres sei als die Reproduktion einer vom Kinde erlebten Reali¬
tät. Denn das Kind kann wie auch der Erwachsene Phan¬
tasien nur produzieren mit irgendwo erworbenem Material;
die Wege dieser Erwerbung sind dem Kinde zum Teil (wie
die Lektüre) verschlossen, der für die Erwerbung zu Gebote
stehende Zeitraum ist kurz und leicht nach solchen Quellen
zu durchforschen.
In unserem Falle enthält die Urszene das Bild des ge¬
schlechtlichen Verkehrs zwischen den Eltern in einer für
gewisse Beobachtungen besonders günstigen Stellung. Es
würde nun gar nichts für die Realität dieser Szene beweisen,
wenn wir sie bei einem - Kranken fänden, dessen Symptome,
also die Wirkungen der Szene, irgendwann in seinem späteren
Leben hervorgetreten wären. Ein solcher kann zu den ver¬
schiedensten Zeitpunkten des langen Intervalls die Eindrücke,
Vorstellungen und Kenntnisse erworben haben, die er dann in
ein Phantasiebild verwandelt, in seine Kindheit zurückproji¬
ziert und an seine Eltern heftet. Aber wenn die Wirkungen
einer solchen Szene im vierten und fünften Lebensjahr her¬
vortreten, so muß das Kind diese Szene in noch früherem
Alter mitangesehen haben. Dann bleiben aber alle die be¬
fremdenden Folgerungen aufrecht, die sich uns aus der Analyse
der infantilen Neurose ergeben haben. Es sei denn, es wolle
jemand annehmen, der Patient habe nicht nur diese Urszene
62
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
unbewußt phantasiert, sondern ebenso seine Cbarakterverän-
derung, seine Wolfsangst und seinen religiösen Zwang kon-
fabuliert, welcher Auskunft aber sein sonstiges nüchternes
Wesen und die direkte Tradition in seiner .Familie wider¬
sprechen würde. Es muß also dabei bleiben — ich sehe keine
andere Möglichkeit —, entweder ist die von seiner Kindheits¬
neurose ausgehende Analyse überhaupt ein Wahnwitz, oder
es' ist alles so richtig, wie ich es oben dargestellt habe.
Wir haben a.n einer früheren Stelle auch an der Zwei¬
deutigkeit Anstoß genommen, daß des Patienten Yorliebe für
die weiblichen Nates und für den Koitus in derjenigen Stel¬
lung, bei der diese besonders hervortreten, eine Ableitung
von dem beobachteten Koitus der Eltern zu fordern schien,
wahrend doch solche Bevorzugung ein allgemeiner Zug der
zur Zwangsneurose disponierten archaischen Konstitutionen
ist. Hier bietet sich eine nahe liegende Auskunft, die den
Widerspruch als Überdeterminierung löst. Die Person, an
welcher er diese Position beim Koitus beobachtet, war doch
sein leiblicher Vater, von dem er diese konstitutionelle Vor¬
liebe auch ererbt haben ko mite. Weder die spätere Krank¬
heit des Vater? noch die Familiengeschichte sprechen da¬
gegen; ein Vatersbruder ist, wie bereits erwähnt, in einem
Zustand gestorben, der als Ausgang eines schweren Zwangs¬
leidens aufgefaßt werden muß.
Wir erinnern uns in diesem Zusammenhänge, daß die
Schwester bei der Verführung des 3 1 / 2 jä-hrigen Knaben gegen
die brave alte Kinderfrau die sonderbare Verleumdung aus¬
gesprochen, sie stelle alle Leute auf den Kopf und greife
ihnen dann an die Genitalien.*) Es mußte sich uns da die Idee
aufdrängen, daß vielleicht auch die Schwester in ähnlich zar¬
tem Alter dieselbe Szene mitangesehen wie später der Bru-
•) Vgl. S. 592.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 63
der und sich daher die Anregung für das Auf-den-Kopf-stel-
Ien beim sexuellen Akt geholt hätte. Diese Annahme brächte
auch einen Hinweis auf eine Quelle ihrer eigenen sexuellen
Voreiligkeit.
[Ich hatte ursprünglich nicht die Absicht, die Diskus¬
sion über den Realwert der „Urszenen“ an dieser Stelle weiter
zu führen, aber da ich unterdes veranlaßt worden bin, dieses
Thema in meinen „ Vorlesungen zur Einführung in die Psycho¬
analyse“ in breiterem Zusammenhänge und nicht mehr in pole¬
mischer Absicht z\i behandeln, so wäre es irreführend, wollte
ich die Anwendung der dort bestimmenden Gesichtspunkte
auf den uns hier vorliegenden Fall unterlassen. Ich setze also
ergänzend und berichtigend fort: Es ist doch noch eine an¬
dere Auffassung der dem Traume zu Grunde liegenden Ur-
szene möglich, welche die vorhin getroffene Entscheidung um
ein gutes Stück ablenkt und uns mancher Schwierigkeiten
überhebt. Die Lehre, welche die Infantilszenen zu regres¬
siven Symbolen herabdrücken will, wird zwar auch bei dieser
Modifikation nichts gewinnen; sie scheint mir überhaupt
durch diese — wie durch jede andere — Analyse einer Kinder¬
neurose endgültig erledigt.
Ich meine nämlich, man kann sich den Sachverhalt auch
in folgender Art zurechtlegen. Auf die Annahme, daß das
Kind einen Koitus beobachtet, durch dessen Anblick es die
Überzeugung gewonnen, daß die Kastration mehr sein könne
als eine leere Drohung, können wir nicht verzichten; auch
läßt uns die Bedeutung, welche späterhin den Stellungen von
Mann und Weib für die Angstentwicklung und als Liebes-
bedingung zukommt, keine andere Wahl, als zu schließen, es
müsse ein Coitus a. tergo, more ferrarum gewesen sein. Aber
ein anderes Moment ist nicht so unersetzlich und mag fallen
64
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
gelassen werden. Es war vielleicht nicht ein Koitus der El¬
tern, sondern ein Tierkoitus, den das Kind beobachtet und
dann auf die Eltern geschoben, als ob es erschlossen hätte,
die Eltern machten es auch nicht anders.
Dieser Auffassung kommt vor allem zu gute, daß die
Wölfe des Traumes ja eigentlich Schäferhunde sind und auch
in der Zeichnung als solche erscheinen. Kurz vor dem Traum
war der Knabe wiederholt zu den Schafherden mitgenommen
worden, wo er solche große weiße Hunde sehen und sie wahr¬
scheinlich auch beim Koitus beobachten konnte/ Ich möchte
auch die Dreizahl, die der Träumer ohne jede weitere Moti¬
vierung hinstellte, hieher beziehen und annehmen, es sei ihm
im Gedächtnis geblieben, daß er drei solcher Beobachtungen
an den Schäferhunden gemacht. Was in der erwartungsvollen
Erregtheit seiner Traumnacht hinzukam, war. dann die Über¬
tragung des kürzlich gewonnenen Erinnerungsbildes mit
allen seinen Einzelheiten auf die Eltern, wodurch aber erst
jene mächtigen Affektwirkungen ermöglicht wurden. Es gab
jetzt ein nachträgliches Verständnis jener vielleicht vor we¬
nigen Wochen oder Monaten empfangenen Eindrücke, ein Vor¬
gang, wie ihn vielleicht jeder von uns an sich selbst erlebt
haben mag. Die Übertragung von den kodierenden Hunden
auf die Eltern vollzog sich nun nicht mittels eines an Worte
gebundenen Schluß Verfahrens, sondern indem eine reale Szene
vom Beisammensein der Eltern in der Erinnerung aufgesucht
wurde, welche sich mit der Koitussituation verschmelzen ließ.
Alle in der Traumanalyse behaupteten Details der Szene moch¬
ten genau reproduziert sein. Es war wirklich an einem
Sommernachmittag, während das Kind an Malaria litt, die
Eltern waren in weißer Kleidung beide anwesend, als das
Kind aus seinem Schlaf erwachte, aber —- die Szene war
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 65
harmlos. Das Übrige hatte der spätere Wunsch des Wi߬
begierigen, auch die Eltern bei ihrem Liebesverkehr zu be¬
lauschen, auf Grund seiner Erfahrungen an den Hunden hin¬
zugefügt, und nun entfaltete die so phantasierte Szene alle
xlie Wirkungen, die wir ihr nachgesagt haben, die nämlichen,
als ob sie durchaus real gewesen und nicht aus zwei Bestand¬
teilen, einem früheren indifferenten und einem späteren, höchst
eindrucksvollen, zusammengekleistert worden wäre.
Es ist sofort ersichtlich, um wieviel das Maß der uns
zugemuteten Glaubensleistung erleichtert wird. Wir brauchen
nicht mehr anzunehmen, daß die Eltern den Koitus in Gegen¬
wart des, wenn auch sehr jugendlichen, Kindes vollzogen
haben, was für viele von uns eine unliebsame Vorstellung ist.
Der Betrag der Nachträglichkeit wird sehr herabgesetzt; sie
bezieht sich jetzt nur auf einige Monate des vierten Lebens¬
jahres und greift überhaupt nicht in die dunkeln ersten Kind¬
heitsjahre zurück. An dem Verhalten des Kindes, welches von
den Hunden auf die Eltern überträgt und sich vor dem Wolf
anstatt vor dem Vater fürchtet, bleibt kaum etwas Befremd¬
liches. Es. befindet sich ja in der Entwicklungsphasc seiner
Weltanschauung, die in „Totem und Tabu“ als die Wieder¬
kehr des Totemismus gekennzeichnet worden ist. Die Lehre,
welche die Urszenen der Neurosen durch Zurückphantasieren
aus späteren Zeiten aufklären will, scheint in unserer Beob¬
achtung trotz des zarten Alters von vier Jahren bei unserem
Neurotiker eine starke Unterstützung zu finden. So jung er
ist, so hat er es doch zu stände gebracht, einen Eindruck
aus dem vierten Jahr durch ein phantasiertes Trauma mit
l 1 / 2 Jahren zu ersetzen; diese Regression erscheint aber weder
rätselhaft noch tendenziös. Die Szene, die herzustellen war,
mußte gewisse Bedingungen erfüllen, welche infolge der Le-
Freud, Nenrosenlehre. V.
66
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. Y.
bensumstände des Träumers gerade nur in dieser frühen Zeit
zu finden wären, wie z. B. die eine, daß er sich im Schlaf¬
zimmer der Eltern im Bette befand.
Eür die Bichtigkeit der hier vorgeschlagenen Auffassung
wird es aber den meisten Lesern geradezu entscheidend
scheinen, was ich aus den analytischen Ergebnissen an an¬
deren Fällen hinzugeben kann. Die Szene einer Beobachtung
des Sexualverkehrs der Eltern in sehr früher Kindheit — sei
sie nun reale Erinnerung oder Phantasie — ist in den Analysen
neurotischer Menschenkinder wahrlich keine Seltenheit. Viel¬
leicht findet sie sich ebenso häufig bei den nicht neurotisch
Gewordenen. Vielleicht gehört sie zum regelmäßigen Bestand
ihres —• bewußten oder unbewußten — Erinnerungsschatzes.
So oft ich aber eine solche Szene durch Analyse entwickeln
konnte, zeigte sie dieselbe Eigentümlichkeit, die uns auch
bei unserem Patienten stutzig machte, sie bezog sich auf den
Coitus a tergo, der allein dem Zuschauer die Inspektion der
Genitalien ermöglicht. Da braucht man wohl nicht länger zu
bezweifeln, daß es sich nur um eine Phantasie handelt, die
vielleicht regelmäßig durch die Beobachtung des tierischen
Sexualverkehrs angeregt wird. Ja noch mehr; ich habe an¬
gedeutet, daß meine Darstellung der „Urszene“ unvollstän¬
dig geblieben ist, indem ich mir für später aufsparte mitzu¬
teilen, auf welche Weise das Kind den Verkehr der Eltern
stört. Ich muß jetzt hinzufügen, daß auch die Art dieser
Störung in allen Fällen die nämliche ist.
Ich kann mir denken, daß ich mich jetzt schweren Ver¬
dächtigungen von Seiten der Leser dieser Krankengeschichte
äusgesetzt habe. Wenn mir diese Argumente zu Gunsten einer
solchen Auffassung der „Urszene“ zu Gebote standen, wie
könnte ich es überhaupt verantworten, zuerst eine so absurd
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 67
erscheinende andere zu vertreten 7 Oder sollte ich im Inter¬
vall zwischen der ersten Niederschrift der Krankengeschichte
und diesem Zusatz jene neuen Erfahrungen gemacht haben,
die mich zur Abänderung meiner anfänglichen Auffassung
genötigt haben, und wollte dies aus irgend welchen Motiven
nicht eingestehen ? Ich gestehe dafür etwas anderes ein: daß ich
die Absicht habe, die Diskussion über den Realwert derUrszene
diesmal mit einem non liquet zu beschließen. Diese Kranken¬
geschichte ist noch nicht zu Ende; in ihrem weiteren Ver¬
lauf wird ein Moment auftauchen, welches die Sicherheit stört,
deren wir uns jetzt zu erfreuen glauben. Dann wird wohl nichts
anderes übrig bleiben als der Verweis auf die Stellen in meinen
„Vorlesungen“, in denen ich das Problem der Urphantasien
oder Urszenen behandelt habe.]
VI. DIE ZWANGSNEUROSE.
Zum drittenmal erfuhr er nun eine Beeinflussung, die
seine Entwicklung in entscheidender Weise abänderte. Als
er U /2 Jahre alt war und sein Zustand von Reizbarkeit und
Ängstlichkeit sich noch immer nicht gebessert hatte, entschloß
sich die Mutter, ihn mit der biblischen Geschichte bekannt
zu machen, in der Hoffnung, ihn so abzulenken und zu er¬
heben. Es gelang ihr auch; die Einführung der Religion machte
der bisherigen Phase ein Ende, brachte aber eine Ablösung
der Angstsymptome durch Zwangssymptome mit sich. Er hatte
bisher nicht, leicht einschlafon können, weil er fürchtete, ähn¬
lich schlechte Dinge zu träumen wie in jener Nacht vor Weih¬
nachten; er mußte jetzt vor dem Zubettgehen alle Heiligen¬
bilder im Zimmer küssen, Gebete hersagen und ungezählte
Kreuze über seine Person und sein Lager schlagen.
5*
68
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Seine Kindheit gliedert sich uns nun übersichtlich in
folgende Epochen: erstens die Vorzeit bis zur Verführung
(3 1 /., J.), "in welche die Urszene fällt, zweitens, die Zeit der
Charakter Veränderung bis zum Angsttraum (4 J.), drittens, die
der Tierphobie bis zur Einführung in die Religion (4 1 / 2 J.),
und von da an die der Zwangsneurose bis nach dem zehnten
-Jahr. Eine momentane und glatte Ersetzung einer Phase durch
die nächstfolgende liegt weder in der Natur der Verhältnisse,
noch in der unseres Patienten, für den im Gegenteil 1 die En
ha.ltung alles Vergangenen und die Koexistenz der verschieden¬
artigsten Strömungen charakteristisch waren. Die Schlimmheit
schwand nicht, als die Angst auftrat, und setzte sich lang¬
sam abnehmend in die Zeit der Frömmigkeit fort. Von der
Wolfsphobie ist aber in dieser letzten Phase nicht mehr die
Rede. Die Zwangsneurose verlief diskontinuierlich; der erste
Anfall war der längste und intensivste, andere traten zu acht
lind zu zehn Jahren auf, jedesmal nach Veranlassungen, die in
ersichtlicher Beziehung zum Inhalt der Neurose standen.
Die Mutter erzählte ihm die heilige Geschichte selbst und
ließ ihm außerdem durch die Nanja aus einem Buch, das mit
Illustrationen geschmückt war, darüber vorlesen. Das Haupt¬
gewicht bei der Mitteilung fiel natürlich auf die Passions-
geschicbte. Die Nanja, die sehr fromm und abergläubisch war,
gab ihre Erläuterungen dazu, mußte aber auch alle Einwen¬
dungen und Zweifel des kleinen Kritikers anhören. Wenn die
Kämpfe, die ihn nun zu erschüttern begannen, schließlich
in einen Sieg des Glaubens ausliefen, so war der Einfluß
der Nanja nicht unbeteiligt daran.
Was er mir als Erinnerung von seinen Reaktionen auf die
Einführung in die Religion mit teilte, traf zunächst auf
meinen entschiedenen Unglauben. Das konnten, meinte ich,
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 69
nicht clie Gedanken eines 4 1 / 2 —5jährigen Kindes sein; wahr¬
scheinlich schob er in diese frühe Vergangenheit zurück, was
aus dem Nachdenken des bald 30jährigen Erwachsenen ent¬
sprang.*) Allein der Patient wollte von dieser Korrektur nichts
wissen; es gelang nicht, ihn wie bei so vielen anderen Urteils¬
verschiedenheiten zwischen uns zu überführen; der Zu¬
sammenhang seiner erinnerten Gedanken mit seinen berich¬
teten Symptomen sowie deren Einfügung in seine sexuelle
Entwicklung nötigten mich schließlich, vielmehr ihm Glau¬
ben zu schenken. Ich sagte mir dann auch, daß gerade die
Kritik gegen die Lehren der Religion, die ich dem Kinde
nicht Zutrauen wollte, nur von einer verschwindenden Minder¬
zahl der Erwachsenen zu stunde gebracht wird.
Ich werde nun das Material seiner Erinnerungen Vor¬
bringen und erst dann nach einem Weg suchen, der zum
Verständnis desselben führt.
Der Eindruck, den er von der Erzählung der heiligen
Geschichte empfing, war, wie er berichtet, anfangs kein an¬
genehmer. Er sträubte sich zuerst gegen den Leidenscharak¬
ter der Person Christi, dann gegen den ganzen Zusammen¬
hang seiner Geschichte. Er richtete seine unzufriedene Kritik
gegen Gottvater. Wenn er allmächtig sei, so sei es seine
Schuld, daß die Menschen schlecht seien und andere quälen,
wofür sie dann in die Hölle kommen. Er hätte sie gut ma¬
chen sollen; er sei selbst verantwortlich für alles Schlechte
*) Ich machte auch wiederholt den Versuch, die Geschichte des
Kranken wenigstens um ein Jahr vorzuschieben, also die Verführung auf
4 x /r Jahre, den Traum auf den fünften Geburtstag usvv. zu verlegen. An
den Intervallen war ja nichts zu gewinnen, allein, der Patient blieb auch
hierin unbeugsam, ohne mich übrigens vom letzten Zweifel daran be¬
freien zu können. Für den Eindruck, den seine Geschichte macht, und
alle darau geknüpften Erörterungen und Folgerungen wäre ein solcher Auf¬
schub um ein Jahr offenbar gleichgültig.
70
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
und alle Qualen. Er nahm Anstoß an dem Gebot, die andere
Wange hinzuhalten, wenn man einen Schlag auf die eine
empfangen habe, daran, daß Christus am Kreuz gewünscht
habe, der Kelch solle an ihm vorübergehen, aber auch daran,
daß kein Wunder geschehen sei, um ihn als Gottes Sohn zu
erweisen. So war also sein Scharfsinn geweckt und wußte
mit unerbittlicher Strenge die Schwächen der heiligen Dich¬
tung auszuspüren.
Zu dieser rationalistischen Kritik gesellten sich aber sehr
bald Grübeleien und Zweifel, die uns die Mitarbeit geheimer
Regungen verraten können. Eine der ersten Fragen, die er
an die Kan ja richtete, war, ob Christus auch einen Hintern
gehabt habe. Die Nanja gab die Auskunft, er sei ein Gott ge¬
wesen und auch ein Mensch. Als Mensch habe er alles ge¬
habt und getan wie die anderen Menschen. Das befriedigte
ihn nun gar nicht, aber er wußte sich selbst zu trösten, in¬
dem er sich sagte, der Hintere sei ja nur die Fortsetzung
der Beine. Die kaum beschwichtigte Angst, die heilige Per¬
son erniedrigen zu müssen, flammte wieder auf, als ihm die
weitere Frage auftauchte, ob Christus auch geschissen habe.
Die Frage getraute er sich nicht, der frommen Nanja vorzu-
legen, aber er fand selbst eine Ausflucht, die sie ihm nicht
hätte besser zeigen können. Da Christus Wein aus dem Nichts
gemacht, hätte er auch das Essen'zu nichts machen und
sich so die Defäkation ersparen können.
Wir werden uns dem Verständnis dieser Grübeleien nähern,
wenn wir an ein vorhin besprochenes Stück seiner Sexual¬
entwicklung anknüpfen. Wir wissen, daß sich sein Sexual¬
leben seit der Zurückweisung durch die Nanja und die damit
verbundene Unterdrückung der beginnenden Genitalbetätigung
nach den Richtungen des Sadismus und Masochismus ent-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 71
wickelt hatte. Er quälte, mißhandelte kleine Tiere, phanta¬
sierte vom Schlagen der Pferde, (anderseits vom Geschlagen-
werden des Thronfolgers.*) Im Sadismus hielt er die uralte
Identifizierung mit dem Tater aufrecht, im Masochismus hatte
er sich diesen zum Sexualobjekt erkoren. Er befand sich voll
in einer Phase der prägenitalen Organisation, in welcher ich
die Disposition zur Zwangsneurose erblicke. Durch die Ein¬
wirkung jenes Traumes, der ihn unter den Einfluß der Ur-
szene brachte, hätte er den Fortschritt zur genitalen Organi¬
sation machen und seinen Masochismus gegen den Vater in
feminine Einstellung gegen ihn, in Homosexualität, verwan¬
deln können. Allein dieser Traum brachte den Fortschritt
nicht, er ging in Angst aus. Das Verhältnis zum Vater, das
von dem Sexualziel, von ihm gezüchtigt zu werden, zum näch¬
sten Ziel hätte führen sollen, vom Vater koitiert zu werden
wie ein Weib, wurde durch den Einspruch seiner narziß-
stischen Männlichkeit auf eine noch primitivere Stufe zurück¬
geworfen und unter Verschiebung auf einen Vaterersatz als
Angst, vom Wolf gefressen zu werden, abgespalten, aber keines¬
wegs auf diese Weise erledigt. Vielmehr können wir dem kom¬
pliziert erscheinenden Sachverhalt nur gerecht werden, wenn
wir an der Koexistenz der drei auf den Vater zielenden Sexual¬
strebungen festbalten. Er war vom Traume an im Unbewußten
homosexuell, in der Neurose auf dem Niveau des Kannibalis¬
mus; herrschend blieb die frühere masochistische Einstellung.
Alle drei Strömungen hatten passive Sexualziele; es war das¬
selbe Objekt, die nämliche Sexualregung, aber es hatte sich
eine Spaltung derselben nach drei verschiedenen Niveaus
herausgebildet.
Die Kenntnis der heiligen Geschichte gab* ihm nun die
*) Besonders von Schlägen auf den Penis. S. 601.
7 ‘2
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Möglichkeit, die vorherrschende masochistische Einstellung
zum Vater zu sublimieren. Er wurde Christus, was ihm durch
den gleichen Geburtstag besonders erleichtert war. Damit war
er etwas Großes geworden und auch — worauf vorläufig noch
nicht genug Akzent fiel — ein Mann. In dem Zweitel, ob
Christus einen Hintern haben kann, schimmert die. verdrängte
homosexuelle Einstellung durch, denn die Grübelei konnte,
nichts anderes bedeuten, als die Frage, ob er vom Vater ge¬
braucht. werden könne wie ein Weib, wie die Mutter in der
Urszene. Wenn wir zur Auflösung der anderen Zwangsideen
kommen, werden wir diese Deutung bestätigt finden. Der Ver¬
drängung der passiven Homosexualität entsprach nun das Be¬
denken, daß es schimpflich sei, die heilige Person mit sol¬
chen Zumutungen in Verbindung zu bringen. Man merkt, er
bemühte sich, seine neue Sublimierung von dem Zusatz frei¬
zuhalten, den sie aus den Quellen des Verdrängten bezog.
Aber es gelang ihm nicht.
Wir verstehen es noch nicht, warum er sich nun auch
gegen den passiven Charakter Christi uud gegen die Mi߬
handlung durch den Vater sträubte, und damit auch sein
bisheriges masochistisches Ideal; selbst in seiner Sublimierung,
zu verleugnen begann. Wir dürfen annehmen, daß dieser zweite
Konflikt dem Hervor treten der erniedrigenden Zwangsgedan¬
ken aus dem ersten Konflikt (zwischen herrschender maso¬
chistischer und verdrängter homosexueller Strömung) beson¬
ders günstig war, denn es ist nur natürlich, daß sich in einem
seelischen Konflikt alle Gegenstrebungen, wenn auch aus
den verschiedensten Quellen, miteinander summieren. Das
Motiv seines' Sträubens und somit der an der Religion ge¬
übten Kritik werden wir aus neuen Mitteilungen kennen
lernen.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 73
Aus den Mitteilungen über die lieilige Geschichte hatte
auch seine Sexualforschung Gewinn gezogen. Bisher hatte er
keinen Grund zur Annahme gehabt, daß die Kinder nur von
der Frau kommen. Im Gegenteile, die Nanja hatte ihn glau¬
ben lassen, er sei das Kind des Vaters, die Schwester das
der Mutter, und diese nähere Beziehung zum Vater war ihm
sehr wertvoll gewesen. Nun hörte er, daß Maria die Gottes¬
gebärerin hieß. Also kamen die Kinder von der Frau und
die Angabe der Nanja war nicht mehr zu halten. Ferner wurde
er durch die Erzählungen irre gemacht, wer eigentlich der
Vater Christi war. Er war geneigt, Josef dafür zu halten,
denn er hörte ja, daß sie immer mitsammen gelebt hatten,
aber die Nanja sagte: Josef war nur wie sein Vater, der
eigentliche Vater sei Gott gewesen. Daraus konnte er nichts
machen. Er verstand nur soviel, wenn man überhaupt darüber
diskutieren konnte, so war das Verhältnis zwischen Vater
und Sohn kein so inniges, wie er sich’s immer vorgestellt hatte.
Der Knabe fühlte gewissermaßen die Gefühlsambivalenz
gegen den Vater, die in allen Religionen niedergelegt ist,’
heraus und griff seine Religion wegen der Lockerung Rieses
Vaterverhältnisses an. Natürlich hörte seine Opposition bald
auf, ein Zweifel an der Wahrheit der Lehre zu sein, und
wandte sich dafür direkt gegen die Person Gottes. Gott hatte
seinen Sohn hart und grausam behandelt, aber er war nicht
besser gegen die Menschen. Er hatte seinen Sohn geopfert
und dasselbe von Abraham gefordert. Er begann Gott zu
fürchten.
Wenn er Christus war, so war der Vater Gott. Aber
der Gott, den ihm die Religion aufdrängte, war kein rich¬
tiger Ersatz für den Vater, den er geliebt hatte, und den er
sich nicht wollte rauben lassen. Die Liebe zu diesem Vater
74
SCHRIFTEN ZUE NEUROSENLEHRE. V.
schuf ihm seinen kritischen Scharfsinn. Er wehrte sich gegen
Gott, um am Vater festhalten zu können, verteidigte dabei
eigentlich den alten Vater gegen den neuen. Er hatte da ein
schwieriges Stück der Ablösung vom Vater zu vollbringen.
Es war also die alte, in frühester Zeit offenbar gewor¬
dene Liebe zu seinem Vater, der er die Energie zur Bekämpfung
Gottes und den Scharfsinn zur Kritik der Religion entnahm.
Aber anderseits war diese Feindseligkeit gegen den neuen
Gott auch kein ursprünglicher Akt, sie hatte ein Vorbild in
einer feindseligen Regung gegen den Vater, die unter dem
Einfluß des Angsttraumes entstanden war, und war im Grunde
nur ein Wiederaufleben derselben. Die beiden gegensätzlichen
Gefühlsregungen, die sein ganzes späteres Leben regieren soll¬
ten, trafen sich hier zum Ambivalenzkampfe beim Thema der
Religion. Was sich aus diesem Kampfe als Symptom ergab,
die blasphemischen Ideen, der Zwang, der ihn überfiel,
Gott—Dreck, Gott—Schwein zu denken, war darum auch ein
richtiges Kompromißergebnis, wie die Analyse dieser Ideen
im Zusammenhänge der Analerotik uns zeigen wird.
Einige andere Zwangssymptome von minder typischer Art
führen ebenso sicher auf den Vater, lassen aber auch den Zusam¬
menhang der Zwangsneurose mit den früheren Zufällen erkennen.
Zu dem Frömmigkeitszeremoniell, mit dem er am Ende
seine Gotteslästerungen sühnte, gehörte auch das Gebot,
unter gewissen Bedingungen in feierlicher Weise zu atmen.
Beim Kreuzeschlagen mußte er jedesmal tief einatmen oder
.stark aushauchen. Hauch ist in seiner Sprache gleich Geist.
Das war also die Rolle des Heiligen Geistes. Er mußte den
Heiligen Geist eina.tmen oder die bösen Geister, von denen
er gehört und gelesen hatte,*) ausatmen. Diesen bösen Gei-
*) Dies Symptom hatte sich, wie wir hören werden, mit dem sechsten
Jahr, als er lesen konnte, entwickelt.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 75
stern schrieb er auch die blasphemischen Gedanken zu, füi
die er sich soviel Buße auferlegen mußte. Er war abei
genötigt auszuhauchen, wenn er Bettler, Krüppel, häßliche,
alte, erbarmenswerte Leute sah, und diesen Zwang verstand
er nicht, mit den Geistern zusammenzubringen. Er gab
sich selbst nur die Rechenschaft, er tue es, um nicht zu
werden wie diese.
Dann brachte die Analyse im Anschluß an einen Traum:
die Aufklärung, daß das Ausatmen beim Anblick der be¬
dauernswerten Personen erst nach dem sechsten Jahre be¬
gonnen hatte und an den Vater anschloß. Er hatte den Vater
lange Monate nicht gesehen, als die Mutter einmal sagte.,
sie würde mit den Kindern in die Stadt fahren und ihnen
etwas zeigen, was sie sehr erfreuen würde. " Sie brachte sie
dann in ein Sanatorium, in dem sie den Vater wiedersahen:
er sah schlecht aus und tat- dem Sohne sehr leid. Der Vater
war also auch das Urbild all der Krüppel, Bettler und Armen,
vor denen er ausatmen mußte, wie' er sonst das Urbild der
Eratzen ist,'die man in Angstzuständen sieht, und der Kari¬
katuren, die man zum Hohne zeichnet. Wir werden noch an
anderer Stelle erfahren, daß diese Mitleidseinstellung auf ein
besonderes Detail der Urszene zurückgeht, welches so spät
in der Zwangsneurose zur Wirkung kam.
Der Vorsatz, nicht zu werden wie diese, der sein Aus-
atmen vor den Krüppeln motivierte, war also die alte Vater¬
identifizierung, ins Negativ gewandelt. Doch kopierte er dabei
den Vater auch im positiven Sinne, denn das starke Atmen
war eine Nachahmung des Geräusches, das er beim Koitus von)
Vater ausgehend gehört hatte. *) Der Heilige Geist dankte
') Die reale Natur der Urszene vorausgesetzt!
76
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
seinen Ursprung diesem Zeichen der sinnlichen Erregung des
Mannes. Durch die Verdrängung wurde dies Atmen zum
bösen Geist, für den noch eine andere Genealogie bestand, die
Malaria nämlich, an der er zur Zeit der Urszene gelitten
hatte.
Die Ablehnung dieser bösen Geister entsprach einem un¬
verkennbar asketischen Zug, der sich noch in anderen lleak-
tionen äußerte. Als er hörte, daß Christus einmal böse Gei¬
ster in Säue gebannt hatte, die dann in einen Abgrund stürz¬
ten, dachte er daran, daß die Schwester in ihren ersten
Kinderjahren vor seiner Erinnerung vom Klippenweg des Ha¬
fens an den Strand herabgerollt war. Sie war auch so ein
böser Geist und eine Sau; von hier führte ein kurzer Weg
zu Gott — Schwein. Der Vater selbst hatte sich als ebenso
von Sinnlichkeit beherrscht erwiesen. Als er die Geschichte
der ersten Menschen erfuhr, fiel ihm die Ähnlichkeit seines
Schicksals mit dem Adams auf. Er wunderte sich heuch¬
lerischerweise im Gespräch mit der Nanja, daß Adam sich
durch ein Weib hatte ins Unglück stürzen lassen, und ver¬
sprach der Nanja, er werde nie heiraten. Eine Verfeindung
mit dem Weibe wegen der Verführung -durch die Schwester
in seinem späteren Liebesieben noch oft genug stören. Die
schaffte sich um diese Zeit starken Ausdruck. Sie sollte ihn
Schwester wurde ihm zur dauernden Verkörperung der Ver¬
suchung und der Sünde. Wenn er gebeichtet hatte, kam er¬
sieh rein und sündenfrei vor. Dann schien es ihm aber, als
ob die Schwester darauf lauerte, ihn wieder in Sünde zu
stürzen, und ehe er sich’s versah, hatte er eine Streitszene mit
der Schwester provoziert, durch die er wieder sündig wurde.
So war er genötigt, die Tatsache der Verführung immer wie¬
der von Neuem zu reproduzieren. Seine blasphemischen Ge-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 77
danken hatte er übrigens, so sehr sie ihn drückten, niemals
in der Beichte preisgegeben.
Wir sind unversehens in die Symptomatik der späteren
Jahre der Zwangsneurose geraten und wollen darum mit
Hinwegsetzung über soviel, was dazwischen liegt, über ihren
Ausgang berichten. Wir wissen schon, daß sie, von ihrem
permanenten Bestand abgesehen, zeitweise Verstärkungen
erfuhr, das eine Mal, was uns noch nicht durchsichtig
sein kann, als ein Knabe in derselben Straße starb,
mit dem er sich identifizieren konnte. Als er zehn Jahre alt
war, bekam er einen deutschen Hofmeister, der sehr bald
großen Einfluß auf ihn gewann. Es ist sehr lehrreich, daß
seine ganze schwere Erömmigkeit dahinschwand, um nie
wieder aufzuleben, nachdem er gemerkt und in belehrenden
Gesprächen mit dem Lehrer erfahren hatte, daß dieser Vater¬
ersatz keinen Wert auf Erömmigkeit legte und nichts von der
Wahrheit der Religion hielt. Die Frömmigkeit fiel mit der
Abhängigkeit vom Vater, der nun von einem neuen, umgäng¬
licheren Vater abgelöst wurde. Dies geschah allerdings nicht
ohne ein letztes Aufflackern der Zwangsneurose, von dem der
Zwang besonders erinnert wurde, an die Heilige Dreieinigkeit
zu denken, so oft er auf der Straße drei Häufchen Kot bei¬
sammenliegen sah. Er gab eben nie einer Anregung nach, ohne
noch einen Versuch zu machen, das Entwertete festzuhalten.
Als der Lehrer ihm von den Grausamkeiten gegen die kleinen
Tiere abredete, machte er auch diesen Untaten ein Ende, aber
nicht, ohne sich vorher noch einmal im Zerschneiden von
Raupen gründlich genug getan zu haben. Er benahm sich
noch in der analytischen Behandlung ebenso, indem er eine
passagere „negative Reaktion“ entwickelte; nach .jeder ein¬
schneidenden Lösung versuchte er für eine kurze Weile, deren
78
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Wirkung durch eine Verschlechterung des gelösten Symptoms
zu negieren. Man weiß, daß Kinder sich ganz allgemein ähn¬
lich gegen Verbote benehmen. Wenn man sie angefahren hat,
weil sie z. B. ein unleidliches Geräusch produzieren, so wieder¬
holen sie es nach dem Verbot noch einmal, ehe sie damit
aufhören. Sie haben dabei erreicht, daß sie anscheinend frei¬
willig aufgehört und dem Verbot getrotzt haben.
Unter dem Einfluß des deutschen Lehrers entstand eine
neue und bessere Sublimierung seines Sadismus, der entspre¬
chend der nahen Pubertät damals die Oberhand über den
Masochismus gewonnen hatte. Er begann fürs Soldatenwesen
zu schwärmen, für Uniformen, Waffen und Pferde, und nährte
damit kontinuierliche Tagträume. So war er unter dem Ein¬
fluß. eines Mannes von seinen passiven Einstellungen losge¬
kommen und befand sich zunächst in ziemlich normalen
Bahnen. Eine Nachwirkung der Anhänglichkeit an den Lehrer,
der ihn bald darauf verließ, war- es, daß er in seinem spä¬
teren Leben das deutsche Element (Ärzte, Anstalten, Erauen)
gegen das heimische (Vertretung des Vaters) bevorzugte,
woraus noch die Übertragung in der Kur großen Vorteil zog.
In die Zeit vor der Befreiung durch den Lehrer fällt
noch ein Traum, den ich erwähne, weil er bis zu seiner Ge¬
legenheit in der Kur vergessen war. Er sah sich auf einem
Pferd reitend von einer riesigen Raupe verfolgt. Er erkannte
in dem Traum eine Anspielung auf einen früheren aus der
Zeit: vor dem Lehrer, den wir längst gedeutet hatten. In
diesem früheren Traum sah er den Teufel im schwarzen Ge¬
wand und in der aufrechten Stellung, die ihn seinerzeit am
Wolf und am Löwen so sehr erschreckt hatte. Mit dem ausge¬
streckten Finger wies er auf eine riesige Schnecke hin. Er¬
halte bald erraten, daß dieser Teufel der Dämon aus einer
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 79
bekannten Dichtung, der Traum selbst die Umarbeitung eines
sehr verbreiteten Bildes sei, das den Dämon in einer Liebes-
szene mit einem Mädchen darstellte. Die Schnecke war an
der Stelle des Weibes als exquisit weibliches Sexualsymbol.
Durch die zeigende Gebärde des Dämons geleitet, konnten
wir bald als den Sinn des Traumes angeben, daß er sich nach
jemand sehne, der ihm die letzten noch fehlenden Beleh¬
rungen über die Rätsel des Geschlechtsverkehrs geben sollte,
wie seinerzeit der Vater in der Urszene die ersten.
Zu dem späteren Traum, in dem das weibliche Symbol
durch das männliche ersetzt war, erinnerte er ein bestimmtes
Erlebnis kurz vorher. Er ritt eines Tages auf dem Land¬
gut lau einem schlafenden Bauern vorüber, neben dem sein
Junge lag. Dieser weckte, den Vater und sagte ihm etwas,
worauf der Vater den Reitenden zu beschimpfen und zu ver¬
folgen begann, so daß er sich rasch auf seinem Bferd ent¬
fernte. Dazu die zweite Erinnerung, daß es auf demselben
Gut Bäume gab, die ganz weiß, ganz von Raupen umsponnen
waren. Wir verstehen, daß er auch vor der Realisierung der
Phantasie die Eiucht ergriff, daß der Sohn beim Vater schlafe,
und daß er die weißen Bäume heranzog, um eine Anspielung
an den Angsttraum von den weißen Wölfen auf dem Nuß-
ba.um herzustellen. Es war also ein direkter Ausbruch der
Angst vor jener femininen Einstellung zum Mann, gegen
die er sich zuerst durch die religiöse Sublimierung geschützt
hatte und bald durch die militärische noch wirksamer schüt¬
zen sollte.
Es wäre aber ein großer Irrtum anzunehmen, daß nach
der Aufhebung der Zwangssymptome keine permanenten Wir¬
kungen der Zwangsneurose übrig geblieben wären. Der Prozeß
hatte zu einem Sieg des frommen Glaubens über die kritisch
80
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
forschende Auflehnung geführt und hatte die »Verdrängung
der homosexuellen Einstellung zur Voraussetzung gehabt. Aus
beiden Faktoren ergaben sich dauernde Nachteile. Die in¬
tellektuelle Betätigung blieb seit dieser ersten großen Nieder¬
lage schwer geschädigt. Es entwickelte sich kein Lerneifer,
cs zeigte sich nichts mehr von dem Scharfsinn, der seinerzeit
im zarten Alter von fünf Jahren die Lehren der Religion kri¬
tisch zersetzt hatte. Die wahrend jenes Angsttraumes erfolgte
Verdrängung der überstarken Homosexualität reservierte diese
bedeutungsvolle Regung für das Unbewußte, erhielt sie so bei
der ursprünglichen Zieleinsteilung und entzog sie all den
Sublimierungen, zu denen sie sich sonst bietet. Es fehlten
dem Patienten darum alle die sozialen Interessen, welche dem
Leben Inhalt geben. Erst als in der analytischen Kur die
Lösung dieser Fesselung der Homosexualität gelang, konnte
sich der Sachverhalt zum Besseren wenden, und es war sehr
merkwürdig mitzuerleben, wie — ohne direkte Mahnung des
Arztes — jedes befreite Stück der homosexuellen Libido eine
Anwendung im Leben und eine Anheftung an die großen ge¬
meinsamem Geschäfte der Menschheit suchte.
VII. ANALEROTIK UND KASTRATIONSKOMPLEX.
Ich bitte den Leser sich zu erinnern, daß ich diese Ge¬
schichte einer infantilen Neurose sozusagen als Nebenprodukt
während der Analyse einer Erkrankung im reiferen Alter ge¬
wonnen habe. Ich mußte sie also aus noch kleineren Brocker,
zusammensetzen, als sonst der Synthese zu Gebote stehen.
Diese sonst nicht schwierige Arbeit findet eine natürliche
Grenze, wo es sich darum handelt, ein vieldimensionales Ge¬
bilde: in die Ebene der Deskription zu bannen. Ich muß mich
also damit begnügen, Gliederstücke vorzulegen, die der Le-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 81
ser zum lebenden Ganzen zusammenfügen mag. Die geschil¬
derte Zwangsneurose entstand, wie wiederholt betont, auf dem
Boden einer sadistisch-analen Konstitution. Es war aber bisher
nur von dem einen Hauptfaktor, dem Sadismus und seinen
Umwandlungen, die Rede. Alles, was die Analerotik betrifft,
ist mit Absicht beiseite gelassen worden und soll liier ge¬
sammelt nachgetragen werden.
Die Analytiker sind längst einig darüber, daß den viel¬
fachen Triebregungen, die man als Analerotik zusammenfaßt,
eine außerordentliche, gar nicht zu überschätzende Bedeutung
für den Aufbau des Sexuallebens und der seelischen Tätig¬
keit überhaupt zukommt. Ebenso, daß eine der wichtigsten
Äußerungen der umgebildeten Erotik aus dieser Quelle in der
Behandlung des Geldes vorliegt, welcher wertvolle Stoff im
Laufe des Lebens das psychische Interesse an sich gezogen hat,
das u rsprünglich dem Kot, dem Produkt der Analzone, ge¬
bührte. Wir haben uns gewöhnt, das Interesse am Gelde, soweit
es libidinöser und nicht rationeller Natur ist, auf Exkremental-
lust zurückzuführen und vom normalen Menschen zu ver¬
langen, daß er sein Verhältnis, zum Gelde durchaus von. libi-
dinösen Einflüssen frei halte und es nach. realen Rücksich¬
ten regle.
Bei unserem Patienten war zur Zeit seiner späteren Er¬
krankung dies Verhältnis in besonders argem Maße gestört,
und dies war nicht das Geringste an seiner Unselbständigkeit
und Lebensuntüchtigkeit. Er war durch Erbschaft von Vater
und Onkel sehr reich geworden, legte manifesterweise viel
Wert darauf, für reich zu gelten, und konnte sich sehr krän¬
ken, wenn man ihn darin unterschätzte. Aber er wußte nicht,
wieviel er besah, was er verausgabte, was er übrig behielt.
Es war - schwer zu sagen, ob man ihn geizig oder verschwen-
Freud, Neurosenlehre. V.
6
82
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
dorisch heißen sollte. Er benahm sich bald so, bald anders,
niemals in einer Art, die auf eine konsequente Absicht hin¬
deuten konnte. Nach einigen auffälligen Zügen, die ich wei¬
ter unten anführen werde, konnte man ihn für einen ver¬
stockten Geldprotzen halten, der in dem Reichtum den grö߬
ten Vorzug seiner Person erblickt und Gefühlsinteressen ne¬
ben Geldinteressen nicht einmal in Betracht ziehen läßt. Aber
er schätzte andere nicht nach ihrem Reichtum ein und zeigte
sich bei vielen Gelegenheiten vielmehr bescheiden, hilfs¬
bereit und mitleidig. Das Geld war eben seiner bewußten Ver¬
fügung entzogen und bedeutete für ihn irgend etwas anderes.
Ich habe schon erwähnt (S. 596), daß ich die Art sehr
bedenklich fand, wie er sich über den Verlust der Schwe¬
ster, die in den letzten Jahren sein bester Kamerad geworden
war, mit der Überlegung tröstete: Jetzt brauche er die Erb¬
schaft von den Eltern nicht mit ihr zu teilen. Auffälliger
vielleicht war noch die Ruhe, mit welcher er dies erzählen
konnte, als hätte er kein Verständnis für die so eingestandene
Gefühlsroheit. Die Analyse rehabilitierte ihn zwar, indem sie
zeigte, daß der Schmerz um die Schwester nur eine Ver¬
schiebung erfahren hatte, aber es wurde nun erst recht un¬
verständlich, daß er in der Bereicherung einen Ersatz für die
Schwester hatte finden wollen.
Sein Benehmen in einem anderen Falle erschien ihm selbst
rätselhaft. Nach dem Tode des Vaters wurde das Unter¬
lassene Vermögen zwischen ihm und der Mutter aufgeteilt.
Die Mutter verwaltete es und kam seinen Geldansprüchen, wie
er selbst zugab, in tadelloser, freigebiger Weise entgegen.
Dennoch pflegte jede Besprechung über Geldangelegenheiten
zwischen ihnen mit den heftigsten Vorwürfen von seiner
Seite zu endigen, daß sie ihn nicht liebe, daß sie daran denke,
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 83
an ihm zu sparen, und daß sie ihn wahrscheinlich am liebsten
tot sehen möchte, um allein über das Geld zu verfügen. Die
Mutter beteuerte dann weinend ihre Uneigennützigkeit, er
schämte sich und konnte mit Recht versichern, daß er das
gar nicht von ihr denke, aber er war sicher, dieselbe Szene
bei nächster Gelegenheit zu wiederholen.
Daß der Kot für ihn lange Zeit vor der Analyse Geld-
bedeutuug gehabt hat, geht aus vielen Zufällen hervor, von
denen ich zwei mitteilen will. In einer Zeit, da der ‘Darm
noch unbeteiligt an seinem Leiden war, besuchte er einmal
in einer großen Stadt einen armen Vetter. Als er wegging,
machte er sich Vorwürfe, daß er diesen Verwandten nicht
mit Geld unterstütze, und bekam unmittelbar darauf den
„vielleicht stärksten Stuhldrang seines Lebens“. Zwei Jahre
später setzte er wirklich diesem Vetter eine Rente aus. Der
andere Fall: Mit 18 Jahren während der Vorbereitung zur
Maturitätsprüfung besuchte er einen Kollegen und verab-
redete mit ihm, was die gemeinsame Angst, bei der Prüfung
durchzufallen, ratsam erscheinen ließ.*) Man hatte beschlos¬
sen, den Schuldiener zu bestechen, und sein Anteil an der
aufzubringenden Summe v r ar natürlicherweise der größte. Auf
dem Heimwege dachte er, er wolle- gern noch mehr geben,
wenn er nur durchkomme, wenn ihm bei der Prüfung nur
nichts passiere, und wirklich passierte ihm ein anderes Mal¬
heur, ehe er noch bei seiner Haustüro war.**)
Wir sind darauf vorbereitet zu hören, daß er in seiner
späten Erkrankung an sehr hartnäckigen, wenn auch mit ver-
*) Dei Patient teilte mit, daß seine Muttersprache die im Deutschen
bekannte Verwendung des Wortes „Durchfall“ zur Bezeichnung von Darm¬
störungen nicht kennt.
**) Diese Redensart ist in der Muttersprache de Patenten gleichsinnig
wie im Deutschen.
6*
84
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. Y.
schiedenen Anlässen scliwankenden Störungen der Darmfunk¬
tion litt. Als er in meine Behandlung trat, hatte er sich an
Lavements gewöhnt, die ihm ein Begleiter machte; spontane
Entleerungen kamen Monate hindurch nicht vor, wenn nicht
eine plötzliche Erregung von einer bestimmten Seite her da¬
zukam, in deren Eolge sich normale Darmtätigkeit für einige
Tage hersteilen konnte. Seine Hauptklage war, daß die Welt
für ihn in einen Schleier gehüllt sei, oder er durch einen
Schleier von der Welt getrennt sei. Dieser Schleier zerriß
nur in dem einen Moment, wenn beim Lavement der Darm-
inlialt den Darm verließ, und dann fühlte er sich auch wie¬
der gesund und normal.*)
Der Kollege, an den ich den Patienten zur Begut¬
achtung seines Darmzustandes wies, war einsichtsvoll ge¬
nug, denselben für einen funktionellen oder selbst psychisch
bedingten zu erklären, und sich eingreifender Medikation
zu enthalten, übrigens nützte weder diese noch die ange¬
ordnete Diät. In den Jahren der analytischen Behandlung
gab es keinen spontanen Stuhlgang (von jenen plötzlichen
Beeinflussungen abgesehen). Der Kranke ließ sich überzeugen,
daß jede intensivere Bearbeitung des störrischen Organs den
Zustand noch verschlimmern würde, und gab sich damit zu¬
frieden, ein- oder zweimal in der Woche durch ein Lavement
oder ein Abführmittel eine Darmentleerung zu erzwingen.
Ich habe bei der Besprechung der Darmstörungen dem
späteren Krankheitszustand des Patienten einen breiteren
Baum gelassen, als es sonst im Plane dieser mit seiner Kind-
heitsneurose beschäftigten Arbeit liegt. Dafür waren zwei
Gründe maßgebend, erstens, daß die Darmsymptomatik sich
*) Dieselbe Wirkung, ob er das Lavement von einem anderen machen
ließ oder es selbst besorgte.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 85
eigentlich wenig verändert aus der Kinderncurose in die spä¬
tere fortgesetzt hatte, und zweitens, daß ihr bei der Be¬
endigung der Behandlung eine Hauptrolle zufiel.
Man weiß, welche Bedeutung der Zweifel für den Arzt
hat, der eine Zwangsneurose analysiert. Er ist die stärkste
Waffe des Kranken, das bevorzugte Mittel seines Wider¬
standes. Dank diesem Zweifel konnte auch unser Patient,
hinter einer respektvollen Indifferenz verschanzt, Jahre hin¬
durch die Bemühungen der Kur von sich abgleiten lassen.
Es änderte sich nichts, und es fand sich kein Weg, ihn zu
überzeugen. Endlich erkannte ich die Bedeutung der Darm-
,Störung für meine Absichten; sie repräsentierte das Stück¬
chen Hysterie, welches regelmäßig zu Grunde einer Zwangs¬
neurose gefunden wird. Ich versprach dem Patienten die völ¬
lige Herstellung seiner Darmtätigkeit, machte seinen Un¬
glauben durch diese Zusage offenkundig, und hatte dann die
Befriedigung, seinen Zweifel schwinden zu sehen, als der Darm
wie ein hysterisch affiziertes Organ bei der Arbeit „mitzu¬
sprechen“ begann, und im Laufe weniger Wochen seine nor¬
male, so lange beeinträchtigte Funktion wiedergefunden hatte.
Ich kehre nun zur Kindheit des Patienten zurück, in eine
Zeit, zu welcher der Kot unmöglich Geldbedeutung für ihn
gehabt haben kann.
Darmstörungen sind sehr frühzeitig bei ihm aufgetreten,
vor allem die häufigste und für das Kind normalste, die In¬
kontinenz. Wir haben aber gewiß recht, wenn wir für diese
frühesten Vorfälle eine pathologische Erklärung ablehnen und
in ihnen nur einen Beweis für die Absicht sehen, sich in
der an die Entleerungsfunktion geknüpften Lust nicht stö¬
ren oder aufhalten zu lassen. Ein starkes Vergnügen an analen
Witzen und Schaustellungen, wie es sonst der natürlichen
86
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Derbheit mancher Gesellschaftsklassen entspricht, hatte sich
bei ihm bis über den Beginn der späteren Erkrankung
erhalten.
Zur Zeit der englischen Gouvernante traf es sich wieder¬
holt-, daß er und die Nanja das Schlafzimmer der Verhaßten
teilen mußten. Die Nanja konstatierte dann mit Verständnis,
daß er gerade in diesen Nächten ins Bett gemacht hatte, was
sonst lange nicht mehr der Fall gewesen war. Er schämte
sich dessen gar nicht; es war eine Äußerung des Trotzes ge¬
gen die Gouvernante.
Ein Jahr später (zu U /2 Jahren), in der Angstzeit, pas¬
sierte es ihm, daß er bei Tage die Hose schmutzig machte.
Er schämte sich entsetzlich, und jammerte, als er gereinigt
wurde : er könne so nicht mehr leben. Dazwischen hatte sich
also etwas verändert, auf dessen Spur wir durch die Ver¬
folgung seiner Klage geführt wurden. Es stellte sich heraus,
daß er die Worte: so könne er nicht mehr leben, jemand an¬
derem nachgeredet hatte. Irgend einmal*) hatte ihn die Mutter
mitgenommen, während sie den Arzt, der sie besucht hatte,
zur Bahnstation begleitete. Sie klagte während dieses Weges
über ihre Schmerzen und Blutungen und brach in die näm¬
lichen Worte aus: So kann ich nicht mehr leben, ohne zu er¬
warten, daß das an der Hand geführte Kind sie im Gedächtnis
behalten werde. Die Klage, die er übrigens in seiner späteren
Krankheit, ungezählte Male wiederholen sollte, bedeutete also
eine — Identifizierung mit der Mutter.
Ein der Zeit und dem Inhalt nach fehlendes Mittelglied
zwischen beiden Vorfällen stellte sich bald in der Erinnerung
*) Es ist nicht näher bestimmt worden, rann es war, aber jeden¬
falls vor dem Angsttraum mit vier-Jahren, wahrscheinlich vor der Reise
der Eltern.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 87
ein. Es geschah einmal zu Beginn seiner Angstzeit, daß die
besorgte Mutter Warnungen ansgehen ließ, die Kinder vor
der Dysenterie zu behüten, die in der Nähe des Gutes aufge¬
treten war - . Er erkundigte sich, was das sei, und als er ge¬
hört hatte, bei der Dysenterie finde man Blut im Stuhl, wurde
er sehr ängstlich und behauptete, daß auch in seinem Stuhl¬
gang Blut sei; er fürchtete, an der Dysenterie zu sterben, ließ
sich aber durch die Untersuchung überzeugen, daß er sich
geirrt habe und nichts zu fürchten brauche. Wir verstehen,
daß sich in dieser Angst die Identifizierung mit der Mutter
durchsetzen wollte, von deren Blutungen er im Gespräch mit
dem Arzt gehört hatte. Bei seinem späteren Identifizierungs¬
versuch (mit 4 x / 2 Jahren) hatte er.das Blut fallen gelassen;
er verstand sich nicht mehr, vermeinte sich zu schämen und
W'ußte nicht, daß er von Todesangst geschüttelt wurde, die
sich in seiner Klage aber unzweideutig verriet.
Die unterleibsleidende Mutter war damals überhaupt
ängstlich für sich und die Kinder; es ist durchaus wahr¬
scheinlich, daß seine Ängstlichkeit sich neben ihren eigenen Mo¬
tiven auf die Identifizierung mit der Mutter stützte.
Was sollte nun die Identifizierung mit der Mutter be¬
deuten ?
Zwischen der kecken Verwendung der Inkontinenz mit
3 Y 2 Jahren und dem Entsetzen vor ihr mit 4 1 / 2 Jahren liegt
der Traum, mit dem seine Angstzeit begann, der ihm nach¬
trägliches Verständnis der mit l 1 / 2 Jahren erlebten Szene*)
und Aufklärung über die Rolle der Frau beim Geschlechtsakt
brachte. Es liegt nahe, auch die Wandlung in seinem Verhal¬
ten gegen die Defäkation mit dieser großen Umwälzung zu¬
sammenzubringen. Dysenterie war ihm offenbar der Name dci
*) Siehe vorhin S. 62fl.
88
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. Y.
Krankheit, über die er die Mutter klagen gehört hatte, mit
der man nicht leben könne; die Mutter galt ihm nicht als
Unterleibs-, sondern als darinkrank. Unter dem Einfluß der
Urszene erschloß sich ihm der Zusammenhang, daß die Mut¬
ter durch das, was der Vater mit ihr vorgenommen,*) krank
geworden sei, und seine Angst. Blut im Stuhle zu haben,
ebenso krank zu sein wie die Mutter, war die Ablehnung
der Identifizierung mit der Mutter in jener sexuellen Szene,
dieselbe Ablehnung, mit der er aus dem Traum erwacht war.
Die Angst war aber auch der Beweis, daß er in der späteren
Bearbeitung der Urszene sich an die Stelle der Mutter ge¬
setzt, ihr diese Beziehung zum Vater geneidet hatte. Das Organ,
an dem sich die Identifizierung mit dem Weibe, die passiv
homosexuelle Einstellung zum Manne äußern konnte, war die
Analzone. Die Störungen in der Funktion dieser Zone hatten
nun die Bedeutung von homosexuellen Zärtlichkeitsregungen
bekommen und behielten sie auch während der späteren Er¬
krankung bei.
An dieser Stelle müssen wir nun einen Einwand an¬
hören, dessen Diskussion viel zur Klärung der scheinbar ver¬
worrenen Sachlage beitragen kann. Wir haben ja amielimen
müssen, daß er während des Traumvorganges verstanden, das
Weib sei kastriert, habe anstatt des männlichen Gliedes eine
Wunde, die dem Geschlechtsverkehr diene, die Kastration sei
die Bedingung der Weiblichkeit, und dieses drohenden Ver¬
lustes wegen habe er die feminine Einstellung zum Manne
verdrängt und sei mit Angst aus der homosexuellen Schwär¬
merei erwacht. Wie verträgt sich dies Verständnis des Ge¬
schlechtsverkehrs, diese Anerkennung der Vagina, mit der Aus¬
wahl des Darmes zur Identifizierung mit dem Weib? Buhen
*) Wobei er ja wahrscheinlich nicht irre ging.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 89
die Darmsymptome nicht auf der wahrscheinlich älteren, der
Kastrationsängst voll widersprechenden Auffassung, daß der
Darmausgang die Stelle des sexuellen Verkehrs sei?
Gewiß, dieser Widerspruch besteht, und die beiden Auf¬
fassungen vertragen sich gar nicht miteinander. Die Frage
ist nur, ob sie sich zu vertragen brauchen. Unser Befremden
röhrt nur daher, daß wir immer geneigt sind, die unbewußten
seelischen Vorgänge wie die bewußten zu behandeln und an
die tiefgehenden Verschiedenheiten der beiden psychischen
Systeme zu vergessen.
Als die erregte Erwartung des Weihnachtstraumes ihm das
Bild des einst beobachteten (oder konstruierten) Geschlechts¬
verkehres der Eltern vorzauberte, trat gewiß zuerst die alte
Auffassung desselben auf, derzufolge die das Glied aufnehmende
Körperstelle des Weibes der Darmausgang war. Was konnte er
auch anderes geglaubt haben, als er mit l 1 / 2 Jahren Zuschauer
dieser Szene war?*) Aber nun kam das, was sich mit vier
Jahren neu ereignete. Seine seitherigen Erfahrungen, die ver¬
nommenen Andeutungen der Kastration, wachten auf und
warfen einen Zweifel auf die „Kloakentheorie“, legten ihm
die Erkenntnis des Ge^chlechtsunterschiedes und der sexuel¬
len Bolle des Weibes nahe. Er benahm sich dabei, wie sich
überhaupt Kinder benehmen, denen man eine unerwünschte
Aufklärung ■— eine sexuelle oder andersartige — gibt. Er
verwarf das Neue — in unserem Falle aus Motiven der Ka¬
strationsangst — und hielt am Alten fest. Er entschied sich
für den Darm gegen die Vagina in derselben Weise und aus
ähnlichen Motiven, wie er später gegen Gott für den Vater
Partei nahm. Die neue Aufklärung wurde abgewiesen, die alte
Theorie festgehalten; die letztere durfte das Material für die
*) Oder solange er den Koitus der Hunde nicht verstand.
90
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Identifizierung mit dem Weib abgeben, die später als Angst
vor dem Darmtod auftrat, und für die ersten religiösen Skru¬
pel, ob Christus einen Hintern gehabt habe u. dgl. Nicht
als ob die neue Einsicht wirkungslos geblieben wäre; ganz im
Gegenteile, sie entfaltete eine außerordentlich starke Wir¬
kung, indem sie zum Motiv wurde, den ganzen Traumvorgang
in der Verdrängung zu erhalten und von späterer bewußter
Verarbeitung auszuschließen. Aber damit war ihre Wirkung er¬
schöpft; auf die Entscheidung des sexuellen Problems nahm sie
keinen Einfluß. Es war freilich ein Widerspruch, daß von da an
Kastrationsangst bestehen konnte neben der Identifizierung
mit dem Weib mittels des Darmes, aber doch nur ein logischer
Widerspruch, was nicht viel besagt. Der ganze Vorgang ist
vielmehr jetzt charakteristisch dafür, wie das Unbewußte arbei¬
tet. Eine Verdrängung ist etwas'anderes als eine Verurteilung.
Als wir die Genese der Wolfsphobie studierten, verfolgten
wir die Wirkung der neuen Einsicht in den geschlechtlichen
Akt; jetzt, wo wir die Störungen der Darmtätigkeit untersuchen,
befinden wir uns auf dem Boden der alten Kloakentheorie.
Die beiden Standpunkte bleiben durch eine Verdrängungs-
stufe voneinander getrennt. Die durch den Verdrängungsakt
abgewiesene weibliche Einstellung zum Manne zieht sich gleich¬
sam. in die Darmsymptomatik zurück und äußert sich in den
häufig auftretenden Diarrhöen, Obstipationen und Darrn-
schmerzen der Kinderjahre. Die späteren sexuellen Phantasien,
die auf der Grundlage richtiger Sexualerkenntnis aufgebaut
sind, können sich nun in regressiver Weise als Darmstörungen
äußern. Wir verstehen dieselben aber nicht, ehe wir den Be¬
deutungswandel des Kotes seit den ersten Kindheitszeiten auf¬
gedeckt haben.*)
*) Vgl.: Ober Triobumsetzungen usw. Diese Sammlung V. (S. 139.)
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE.
91
Icli habe an einer früheren Stelle erraten lassen, daß vom
Inhalt der Urszene ein Stück zurückgeliaiten ist, das ich nun
nachtragen kann. Das Kind, unterbrach endlich das Bei¬
sammensein der Eltern durch eine Stuhlentleerung, die sein
Geschrei motivieren konnte. Für die Kritik dieses Zusatzes
gilt feiles das, was ich vorhin von dem anderen Inhalt derselben
Szene in Diskussion gezogen habe. Der Patient akzeptierte
diesen von mir konstruierten Schlußakt und schien ihn durch
„passagere Symptombildung“ zu bestätigen. Ein weiterer Zu¬
satz, den ich vorgeschlagen hatte, daß. der Vater über die
Störung unzufrieden seinem Unmut durch Schimpfen Luft
gemacht hatte, mußte wegfallen. Das Material der Analyse
reagierte nicht darauf.
Das Detail, das ich jetzt hinzugefügt habe, darf natür¬
lich mit dem anderen Inhalt der Szene nicht in eine Linie
gestellt werden. Es handelt sich bei ihm nicht um einen Ein¬
druck von außen, dessen Wiederkehr man in soviel späteren
Zeichen zu erwarten hat, sondern um eine eigene Reaktion
des Kindes. Es würde sich an der ganzen Geschichte nichts
ändern, wenn diese Äußerung damals unterblieben oder wenn
sie von später her in den Vorgang der Szene eingesetzt wäre.
Ihre Auffassung ist aber nicht zweifelhaft. Sie bedeutet eine
Erregtheit der Analzone (im weitesten Sinne). In anderen
Fällen ähnlicher Art hat eine solche Beobachtung des Sexual¬
verkehrs mit einer Harnentleerung geendigt; ein erwachsener
Mann würde unter den gleichen Verhältnissen eine Erektion
verspüren. Daß unser Ivnäblein als Zeichen seiner sexuellen
Erregung eine Darmentleerung produziert, ist als Charakter
seiner mitgebrachten Sexualkonstitution zu beurteilen. Er stellt
sich sofort passiv ein, zeigt mehr Neigung zur späteren Iden¬
tifizierung mit. dem Weibe als mit dem Manne.
92
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Er verwendet dabei den Darrniiüialt wie jedes andere
Kind in einer seiner ersten und Tirsjniinglichsten Bedeutungen.
Der Kot ist das erste Geschenk, das erste Zärtlichkeits¬
opfer des Kindes, ein Teil des eigenen Leibes, dessen man sich
entäußert, aber auch nur zu Gunsten einer geliebten Person.*)
Die Verwendung zum Trotz wie in unserem Palle mit 3 x / 2
Jahren gegen die Gouvernante ist nur die negative Wendung
dieser früheren Geschenkbedeutung. Der „Grumus merdae“, den
die Einbrecher am Tatorte hinterlassen, scheint beides zu be¬
deuten: den Hohn und die regressiv ausgedrückte Entschä¬
digung. Immer, wenn eine höhere Stufe erreicht ist, kann
die frühere noch im negativ erniedrigten Sinne Verwendung
finden. Die Verdrängung findet ihren Ausdruck in der Gegen¬
sätzlichkeit.**)
Auf einer späteren Stufe der Sexualentwicklung nimmt
der Kot die Bedeutung des Kindes an. Das Kind wird ja
durch den After geboren wie der Stuhlgang. Die Geschenk¬
bedeutung des Kotes läßt diese Wandlung leicht zu. Das Kind
wird im Sprachgebrauch als ein „Geschenk“ bezeichnet; es
wird häufiger vom Weibe ausgesagt, daß sie dem Manne „ein
*) Ich glaube, es läßt sich leicht bestätigen, daß Säuglinge nur die
Personen, die von ihnen gekannt und geliebt werden, mit ihren Exkremen¬
ten beschmutzen; Fremde würdigen sie dieser Auszeichnung nicht. In
den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“- habe ich die allererste Ver¬
wendung des Notes zur autoerotischen Reizung der Darms jhloimhaufc er¬
wähnt; als Fortschritt schließt sich nun an, daß die Rücksicht auf ein
Objekt für die Defäkation maßgebend wird, dem das Kind dabei gehorsam
oder gefällig ist. Diese Relation setzt sich dann fort, indem sich auch
das ältere Kind nur von gewissen bevorzugten Personen auf den Topf
setzen, beim Urinieren helfen läßt, wobei aber auch andere Befriedigungs¬
absichten in Betracht kommen.
**) Es gibt im Unbewußten bekanntlich kein „Nein“; Gegensätze fallen
zusammen. Die Negation wird erst durch den Vorgang' der Verdrängung ein¬
geführt.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE.
93
Kind geschenkt“ hat, aber im Gebrauch des Unbewu߬
ten wird mit Recht' die andere Seite des Verhältnisses, daß das
Weib das Kind vom Manne als Geschenk „empfangen“ hat,
ebenso berücksichtigt.
Die G e 1 d bedeutung des Kotes zweigt nach einer an¬
deren Richtung von der Geschenkbedeutung ab.
Die frühe Decberinnerung unseres Kranken, daß er einen
ersten Wutanfall produziert, weil er zu Weihnachten nicht
genug Geschenke bekommen habe, enthüllt nun ihren tie¬
feren Sinn. Was er vermißte, war die Sexualbefriedigung, die
er anal gefaßt hatte. Seine Sexualforschung war vor dem Traum
darauf vorbereitet und hatte es während des Traumvorganges
begriffen, daß der Sexualakt das Rätsel der Herkunft der
kleinen Kinder löse. Er hatte die kleinen Kinder schon vor
dem Traum nicht gemocht. Einmal fand er einen kleinen,
noch nackten Vogel, der aus dem Nest gefallen war, hielt ihn
für -einen kleinen Menschen und grauste sich vor ihm. Die
Analyse wies nach, daß all die kleinen Tiere, Raupen, Insek¬
ten, gegen die er wütete, ihm kleine Kinder bedeutet hatten.*)
Sein Verhältnis zur älteren Schwester hatte ihm Anlaß ge¬
geben, viel über die Beziehung der älteren Kinder zu den jün¬
geren nachzudenken; als ihm die Nanja einmal gesagt hatte,
die Mutter habe ihn so lieb, weil er der jüngste sei, hatte er
ein begreifliches Motiv bekommen zu wünschen, daß ihm kein
jüngeres Kind nachfolgen möge. Die Angst vor diesem jüng¬
sten wurde dann unter dem Einfluß des Traumes, der ihm den
Verkehr der Eltern vorführte, neu belebt.
Wir sollen also zu den uns bereits bekannten eine neue
Sexualströmung hinzufügen, die wie die anderen von der im
*) Ebenso das Ungeziefer, das in Träumen und Phobien häufig für
die kleinen Kinder steht.
94
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Traum reproduzierten Ürszene ausgeht. In der Identifizierung
mit dem Weibe (der Mutter) ist er bereit, dem Vater ein
Kind zu schenken, und eifersüchtig auf die Mutter, die das
schon getan hat und vielleicht wieder tun wird.
Auf dem Umweg über den gemeinsamen Ausgang der
Geschenkbedeutung kann nun das Geld die Kindbedeutung an
sich ziehen und solcher Art den Ausdruck der femininen
(homosexuellen) Befriedigung übernehmen. Dieser Vorgang
vollzog sich bei unserem Patienten, als er einmal zur Zeit,
da beide Geschwister in einem deutschen Sanatorium weil¬
ten, sah, daß der Vater der Schwester zwei große Geldnoten
gab. Er hatte den Vater in seiner Phantasie immer mit der
Schwester verdächtigt; nun erwachte seine Eifersucht, er
stürzte sich auf die Schwester, als sie allein waren, und for¬
derte mit solchem Ungestüm und mit solchen Vorwürfen
seinen Anteil am Gelde, daß ihm die Schwester weinend das
Ganze hinwarf. Es war nicht allein das reale Geld gewesen,
das ihn gereizt hatte, viel mehr 'noch das Kind, die anale
Sexualbefriedigung vom Vater. Mit dieser konnte er sich dann
trösten, als — zu Lebzeiten des Va.ters — die Schwester ge¬
storben war. Sein empörender Gedanke bei der Nachricht ihres
Todes bedeutete eigentlich nichts anderes als: Jetzt bin ich
das einzige Kind, jetzt muß der Vater mich allein lieb haben.
Aber der homosexuelle Hintergrund dieser durchaus bewußt¬
seinsfälligen Erwägung war so unerträglich, daß ihre Ver¬
kleidung in schmutzige Habsucht wohl als große Erleichterung
ermöglicht wurde.
Ähnlich wenn er nach dem Tode des Vaters der Mutter
jene ungerechten Vorwürfe machte, daß sie ihn ums Geld
betrügen wolle, daß sie das Geld lieber habe als ihn. Die
alte Eifersucht, daß sie noch ein anderes Kind als ihn ge-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 95
liebt, die Möglichkeit, daß sie sich noch nach ihm ein anderes
Kind gewünscht, zwangen ihn zn Beschuldigungen, deren Halt¬
losigkeit er selbst erkannte.
Durch diese Analyse der Kotbedeutung wird uns nun klar¬
gelegt, daß die Zwangsgedanken, die Gott in.Verbindung mit
Kot bringen mußten, noch etwas anderes bedeuteten als die
Schmähung, für die er sie erkannte. Sie waren vielmehr echte
Kompromißergebnisse, an denen eine zärtliche, hingebende
Strömung ebenso Anteil batte wie eine feindselig beschimp¬
fende. „Gott —Kot“ war wahrscheinlich eine Abkürzung für
ein Anerbieten, wie man es im Leben auch in ungekürzter
Form zu hören bekommt. „Auf Gott scheißen“, „Gott etwas
scheißen“ heißt auch, ihm ein Kind schenken, sich von
ihm ein Kind schenken lassen. Die alte negativ erniedrigte
Geschenkbeücutung und die später aus ihr entwickelte Kind¬
bedeutung sind in den Zwangsworten miteinander vereinigt.
In der letzteren kommt eine feminine Zärtlichkeit zum Aus¬
druck, die Bereitwilligkeit, auf seine Männlichkeit zu ver¬
zichten, wenn man dafür als Weib geliebt werden kann. Also
gerade jene Regung gegen Gott, die' in dem Wahnsystem des
paranoischen Senatspräsidenten Schreber*) in unzweideutigen
Worten ausgesprochen wird.
Wenn ich später von der letzten Symptomlösung bei mei¬
nem Patienten berichten werde, wird sich noch einmal zeigen
lassen, wie die Darmstörung sich in den Dienst der homosexuel¬
len Strömung gestellt und die feminine Einstellung zum Vater
ausgedrückt hatte. Eine neue Bedeutung des Kotes soll uns jetzt
den Weg zur Besprechung des Kastrationskomplexes bahnen.
Indem die Kotsäule die erogene Darmschleimheit reizt,
*) Siehe dessen Analyse in Sammlung RI. Schriften z. Neurosenlehre,
Dritte Folge.
9G
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
spielt sie die Rolle eines aktiven Organs für dieselbe, benimmt
sie sieb wie der Penis gegen die Vaginalschleimhaüt und wird
gleichsam zum Vorläufer desselben in der Epoche der Kloake.
Das Hergeben des Kotes zu Gunsten (aus Liebe zu) einer
anderen Person wird seinerseits zum Vorbild der Kastration,
es ist der erste Pall des Verzichtes auf ein Stück des eigenen
Körpers,*) um die Gunst eines geliebten Anderen zu ge¬
winnen. Die sonst narzißtische Liebe zu seinem Penis entbehrt
also nicht eines Beitrages von seiten der Analerotik. Der Kot,
das Kind, der Penis ergeben also eine Einheit, einen unbe¬
wußten Begriff -—• sit venia verbo —, den des vom Körper ab¬
trennbaren Kleinen. Auf diesen Verbindungswegen können sich
Verschiebungen und Verstärkungen der Libidobesetzung voll¬
ziehen, die für die Pathologie von Bedeutung sind und von
der Analyse aufgedeckt worden.
Die anfängliche Stellungnahme unseres Patienten gegen
das Problem der Kastration ist uns bekannt geworden. Er
verwarf sie und blieb auf dem Standpunkt des Verkehrs im
After. Wenn ich gesagt habe, daß er sie verwarf, so ist die
nächste Bedeutung dieses Ausdrucks, daß er von ihr nichts
wissen wollte im Sinne der Verdrängung. Damit war eigent¬
lich kein Urteil über ihre Existenz gefällt, aber es war so
gut, als ob sie nicht existierte. Diese Einstellung kann aber
nicht die definitive, nicht einmal für die Jahre seiner Kind¬
heitsneurose geblieben sein. Späterhin finden sich gute Be¬
weise dafür, daß er die Kastration als Tatsache anerkannt
hatte. Er hatte sich auch in diesem Punkte benommen, wie
es für sein Wesen kennzeichnend war, was nns allerdings die
Darstellung wie die Einfühlung so außerordentlich erschwert.
Er hatte sich zuerst gesträubt und dann nachgegeben, aber
*) Als welches der Kot durchaus vom Kinde behandelt wird.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 97
die eine Reaktion hatte die andere nicht aufgehoben. Am
Ende bestanden bei ihm zwei gegensätzliche Strömungen neben¬
einander, von denen die eine die Kastration verabscheute, die
andere bereit war, sie anzunehmen und sich mit der Weib¬
lichkeit als' Ersatz zu trösten. Die dritte, älteste und tiefste,
welche die Kastration einfach verworfen hatte, wobei das
Urteil über ihre Realität noch nicht in Frage kam, war ge¬
wiß auch noch aktivierbar. Ich habe von eben diesem Pa¬
tienten an anderer Stelle*) eine Halluzination aus seinem
fünften Jahr erzählt, zu der ich hier nur einen kurzen Kom¬
mentar hinzuzufügen habe:
„Als ich fünf Jahre alt war, spielte ich im Garten ne¬
ben meiner Kinderfrau und schnitzelte mit meinem Taschen¬
messer an'der Rinde eines jener Nußbäume, die auch in mei¬
nem Traum**) eine Rolle spielen.***) Plötzlich bemerkte ich
mit unaussprechlichem Schrecken, daß ich mir den kleinen
Finger der (rechten oder linken?) Hand so durch geschnitten
hatte, daß er nur noch an der Haut hing. Schmerz spürte ich
keinen, aber eine große Angst. Ich getraute mich nicht, der
wenige Schritte entfernten Kinderfrau etwas zu sagen, sank
auf die nächste Bank und blieb da- sitzen, unfähig, noch einen
Blick auf den Finger zu werfen. Endlich wurde ich ruhig, faßte
den Finger ins Auge, und siehe da, er war ganz unverletzt.“
*) Über fausse reconnaissance (,,dejä racont-e“) während der psycho¬
analytischen Arbeit. Intern. Zeitschr. f. ärzfl. Psychoanalyse. I, 1913. (Diese
Sammlung VI.)
**) Vgl. Märchenstoffe in Träumen. Intern. Zeitsohr. f. ärztl. Psycho¬
analyse, I, 2. Heft.
***-) Korrektur bei späterer Erzählung: loh glaube, ich schnitt nicht
in den Baum. Das ist eine Verschmelzung mit einer anderen Erinnerung,
die auch halluzinatorisch gefälscht sein muß, daß ich in einen Baum
einen Schnitt mit dem Messer machte, und daß dabei Blut aus dem
Baume kam.
Freud, Neuroeenlehre. V.
7
98
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Wir wissen, daß mit 4y 2 Jahren nach der Mitteilung
der heiligen Geschichte bei ihm jene intensive Denkarbeit
einsetzte, die in die Zwangsfrömmigkeit auslief. Wir dürfen
also annehmen, daß diese Halluzination in die Zeit fällt, in
der er sich zur Anerkennung der Realität der Kastration ent¬
schloß, und daß sie vielleicht gerade diesen Schritt mar¬
kieren sollte. Auch die kleine Korrektur des Patienten ist
nicht ohne Interesse. Wenn er dasselbe schaurige Erlebnis
halluzinierte, das Tasso im „Befreiten Jerusalem“ von seinem
Helden Tancred berichtet, so ist wohl die Deutung gerecht¬
fertigt, daß auch für meinen kleinen Patienten der Baum
ein Weib bedeutete. Er spielte also dabei den Yater und
brachte die ihm bekannten Blutungen der Mutter mit der
von ihm erkannten Kastration der Erauen, „der Wunde“, in
Beziehung.
Die Anregung zur Halluzination vom abgeschnittenen
Finger gab ihm, wie er später berichtete, die Erzählung, daß
einer Verwandten, die mit sechs Zehen geboren wurde, dieses
überzählige Glied gleich nachher mit einem Beil abgehackt
wurde. Die Frauen hatten also keinen Penis, weil er ihnen
bei der Geburt abgenommen wurde. Auf diesem Wege akzep¬
tierte er zur Zeit der Zwangsneurose, was er schon während
des Traumvorganges erfahren und damals durch Verdrängung
von sich gewiesen hatte. Auch die rituelle Beschneidung Christi,
wie der Juden überhaupt, konnte ihm während der Lektüre
der heiligen Geschichte und der Gespräche über sie nicht
unbekannt bleiben.
Es ist ganz unzweifelhaft, daß ihm um diese Zeit der
Valter zu jener Schreckensperson wurde, von der die Ka¬
stration droht. Der grausame Gott, mit dem er damals rang,
der die Menschen schuldig werden läßt, um sie dann zu be-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 99
strafen, der seinen Sohn und die Söhne der Menschen opfert,
warf seinen Charakter auf den Vater zurück, den er ander¬
seits gegen diesen Gott zu verteidigen suchte. Der Kna.be hat
hier ein phylogenetisches Schema zu erfüllen und bringt es
zu stände, wenngleich seine persönlichen Erlebnisse nicht dazu
stimmen mögen. Die Kastrationsdrohungen oder Andeutungen,
die er erfahren hatte, waren vielmehr von Frauen ausgegan¬
gen,*) aber das konnte das Endergebnis nicht für lange auf¬
halten. Am Ende wurde es doch der Vater, von dem er die
Kastration befürchtete. In diesem Punkte siegte die Here¬
dität über das akzidentelle Erleben; in der Vorgeschichte der
Menschheit ist es gewiß der Vater gewesen, der die Kastra¬
tion als Strafe übte und sie dann zur Beschneidung ermäßigte.
Je weiter er auch im Verlauf des Prozesses der Zwangsneurose
in der Verdrängung der Sinnlichkeit kam,**) desto natürlicher
mußte es ihm werden, den Vater, den eigentlichen Vertreter
der sinnlichen Betätigung, mit solchen bösen Absichten aus¬
zustatten.
Die Identifizierung des Vaters mit demKastrator***) wurde
bedeutungsvoll als die Quelle einer intensiven, bis zum Todes¬
wunsch gesteigerten, unbewußten Feindseligkeit gegen ihn und
der darauf reagierenden Schuldgefühle. Soweit benahm er sich
aber normal, d. h.. wie jeder Neurotiker, der von einem posi¬
tiven Ödipuskomplex besessen ist. Das Merkwürdige war dann,
*) Wir wissen es von der Nanja und werden es von einer anderen
Frau noch erfahren.
**) Siehe die Belege dafür S. 653.
***) Zu den quälendsten, aber auch groteskesten Symptomen seines
späteren Leidens gehörte sein Verhältnis zu jedem — Schneider, bei dem
er ein Kleidungsstück bestellt hatte, sein Respekt und seine Schüchtern¬
heit vor dieser hohen Person, seine Versuche, sie durch unmäßige Trink¬
gelder für sich einzunehmen, und seine Verzweiflung über den Erfolg der
Arbeit, wie immer sie ausgefallen sein mochte.
7*
100
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
daß auch liicfür bei ihm eine Gegenströmung existierte, bei
der der Vater vielmehr der Kastrierte war und als solcher
sein Mitleid herausforderte.
Ich habe bei der Analyse cles Atemzeremoniells beim An¬
blick von Krüppeln,. Bettlern usw. zeigen können, daß auch
dieses Symptom auf den Vater zurückging, der ihm als Kran¬
ker bei dem Besuch in der Anstalt leid getan hatte. Die
Analyse gestattete diesen Kaden noch weiter zurückzuver¬
folgen. Es gab in sehr früher Zeit, wahrscheinlich noch vor
der Verführung (ß 1 /^ Jahre) auf dem Gute einen armen Tag¬
löhner, der das Wasser ins Haus zu tragen hatte. Er konnte
nicht sprechen, angeblich weil man ihm die Zunge abges.chnit-
ten hatte. Wahrscheinlich war es ein Taubstummer. Der Kleine
liebte ihn sehr und bedauerte ihn vom Herzen. Als er ge¬
storben war, suchte er ihn am Himmel.*) Das war also der
erste von ihm bemitleidete Krüppel; nach dem Zusammen¬
hang und der Anreihung in der Analyse unzweifelhaft ein
Vaterersatz.
Die Analyse schloß an ihn die Erinnerung an andere ihm
sympathische Diener an, von denen er hervorhob, daß sie
kränklich oder Juden (Beschneidung!) gewesen waren. Auch
der Lakai, der ihn bei seinem Malheur mit 4 1 / 2 Jahren rei¬
nigen half, war- ein Jude und schwindsüchtig und genoß sein
Mitleid. Alle diese Personen fallen in die Zeit vor dem Be¬
such des Vaters im Sanatorium, also vor die Symptombil¬
dung, die vielmehr durch das Ausatmen eine Identifizierung
mit den Bedauerten fernhalten sollte. Dann wandte sich die
Analyse plötzlich im Anschluß an einen Traum in die Vorzeit
*) Ich erwähne in diesem Zusammenhänge Träume, die spater als
der Angsttraum, aber noch auf dem ersten Hut vorfielen und die Koitus-
szene als Vorgang zwischen Himmelskörpern darstellten.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 101
zurück und ließ ihn die Behauptung aufstellen, daß er bei
dem Koitus der Urszene des Verschwinden des Penis beob¬
achtet, den Vater darum bemitleidet und sich über das Wie¬
dererscheinen des verloren Geglaubten gefreut habe. Also eine
neue Gefühlsregung, die wiederum von dieser Szene ausgeht.
Der narzißtische Ursprung des Mitleids, für den das Wort
selbst spricht, ist hier übrigens ganz unverkennbar.
VIII. NACHTRÄGE AUS DER URZEIT. — LÖSUNG.
In vielen Analysen geht es so zu, daß, wenn man sich
dem Ende nähert, plötzlich neues Erinnerungsmaterial auf¬
taucht, welches bisher sorgfältig verborgen gehalten wurde.
Oder es wird einmal eine unscheinbare Bemerkung hinge¬
worfen, im gleichgültigen Ton, als wäre es etwas Ober-
flüssiges, zu dieser kommt ein andermal etwas hinzu, was
den Arzt bereits aufhorchen läßt, und endlich erkennt man
in jenem geringgeschätzten Brocken Erinnerung den Schlüs¬
sel zu den wichtigsten Geheimnissen, welche die Neurose dfes
Kranken umkleidete. ,
Frühzeitig hatte mein Patient eine Erinnerung aus der
Zeit 'erzählt, da seine Schlimmheit in Angst umzuschlagen
pflegte. Er verfolgte einen schönen großen Schmetterling mit
gelben Streifen, dessen große Flügel in spitze Fortsätze aus¬
liefen, — also einen Admiral. Plötzlich erfaßte ihn, als der
Schmetterling sich auf eine Blume gesetzt hatte, eine schreck¬
liche Angst vor dem Tier und er lief schreiend davon.
Diese Erinnerung kehrte von Zeit zn Zeit in der Analyse
wieder und forderte ihre Erklärung, die sie lange nicht er¬
hielt. Es war doch von vornherein anzunehmen, daß ein sol¬
ches Detail nicht seinetwegen selbst einen Platz im Gedächt¬
nis behalten hatte, sondern als Deckerinnerung Wichtigeres
102
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
vertrat, womit es irgendwie verknüpft war. Er sagte eines
Tages, ein Schmetterling heiße in seiner Sprache: Babuschka,
altes Mütterchen; überhaupt seien ihm die Schmetterlinge wie
Frauen und Mädchen, die Käfer und Raupen wie Knaben er¬
schienen. Also mußte wohl die Erinnerung an ein weibliches
Wesen bei jener Angstszene wach geworden sein. Ich will
nicht verschweigen, daß ich damals die Möglichkeit vorschlug,
die gelben Streifen des Admirals hätten an die ähnliche Strei¬
fung eines Kleidungsstückes, das eine Frau trug, gemahnt.
Ich tue das nur, um an einem Beispiel zu zeigen, wie unzu¬
reichend in der Regel die Kombination des' Arztes zur Lö¬
sung der aufgeworfenen Fragen ist, wie sehr man Unrecht
tut, die Phantasie und die Suggestion des Arztes für die Er¬
gebnisse der Analyse verantwortlich zu machen.
In einem ganz anderen Zusammenhänge, viele Monate
später, machte dann der Patient die Bemerkung, das Öffnen
und Schließen der Flügel, als der Schmetterling saß, hätte
den unheimlichen Eindruck auf ihn gemacht. Dies wäre so
gewesen, -wie wenn eine Frau die Beine öffnet, und die Beine
ergäben dann die Figur einer römischen V, bekanntlich die
Stunde, um welche schon in seinen Knabenjahren, aber auch
jetzt noch, eine Verdüsterung seiner Stimmung einzutreten
pflegte.
Das war ein Einfall, auf den ich nie gekommen wäre,
dessen Schätzung aber durch die Erwägung gewann, daß der
darin bloßgelegte Assoziationsvorgang so recht infantilen Cha¬
rakter hatte. Die" Aufmerksamkeit der Kinder, habe ich oft
bemerkt, wird durch Bewegungen weit mehr angezogen als
durch ruhende Formen, und sie stellen oft Assoziationen auf
Grund von ähnlicher Bewegung her, die von uns Erwachsenen
vernachlässigt oder unterlassen werden.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 103
Daun ruhte das kleine Problem wieder für lange Zeit.
Ich will noch die wohlfeile Vermutung erwähnen, daß die
spitzen oder stangenartigen Fortsätze der Schmetterlingsflügel
eine Bedeutung als Genitalsymbole gehabt haben könnten.
Eines Tages tauchte schüchtern und undeutlich eine Art
von Erinnerung auf, es müßte sehr frühe, noch vor der Kinder¬
frau ein Kindermädchen gegeben haben, das ihn sehr lieb
hatte. Sie hatte denselben Namen wie die Mutter. Gewiß er¬
widerte er ihre Zärtlichkeit. Also eine verschollene erste Liebe.
Wir einigten uns aber, irgend etwas müßte da vorgefallen sein,
was später von Wichtigkeit wurde.
Dann korrigierte er ein anderes Mal seine Erinnerung.
Sie könne nicht so geheißen haben wie die Mutter, das war
fein Irrtum von ihm, der natürlich bewies, daß sie ihm in
der Erinnerung mit der Mutter zusammengeflossen war. Ihr
richtiger Name sei ihm auch auf einem Umwege eingefallen.
Er habe plötzlich an einen Lagerraum auf dem ersten Gute
denken müssen, in dem das abgenommene Obst aufbewahrt
wurde, und an eine gewisse Sorte Birnen von ausgezeich¬
netem Geschmack, große Birnen mit gelben Streifen auf ihrer
Schale. Birne heißt in seiner Sprache Gruscha, und dies war
auch der Name des Kindermädchens.
Also wurde es klar, daß sich hinter der Deckerinnerung
des gejagten Schmetterlings das Gedächtnis des Kinder¬
mädchens verbarg. Die gelben Streifen saßen aber nicht auf
ihrem Kleid, sondern auf dem der Birne, die so hieß wie
sie selbst. Aber woher die Angst bei der Aktivierung der Er¬
innerung an sie? Die nächste plumpe Kombination hätte lau¬
ten können, bei diesem Mädchen habe er als kleines Kind
zuerst die Bewegungen der Beine gesehen, die er sich mit
dem Zeichen der römischen V fixiert hatte, Bewegungen, die
104
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. Y.
das Genitale zugänglich, machen. Wir ersparten uns diese Kom¬
bination und warteten auf weiteres Material.
Sehr bald kam nun die Erinnerung an eine Szene, unvoll¬
ständig, aber soweit sie erhalten war, bestimmt. Gruscha lag
auf dem Boden, neben ihr ein Kübel und ein aus Buten ge¬
bundener kurzer Besen; er war dabei "und sie neckte ihn oder
machte ihn aus.
Was daran fehlte, war von anderen Stellen her leicht
einzusetzen. Er hatte in den ersten Monaten der Kur von
einer zwanghaft aufgetretenen Verliebtheit in ein Bauern¬
mädchen erzählt, bei der er sich mit 18 Jahren den Anlaß
zu seiner späteren Erkrankung geholt hatte. Damals hatte er
sich in der auffälligsten Weise gesträubt, den Namen des
Mädchens mitzuteiien. Es war ein ganz vereinzelter Widerstand;
er war der analytischen Grundregel sonst ohne Rückhalt ge¬
horsam. Aber er behauptete, er müsse sich so sehr schämen,
diesen Namen auszusprechen, weil er rein bäuerlich sei; ein
vornehmeres Mädchen würde ihn nie tragen. Der Name, den
man endlich erfuhr, war Matrona, Er hatte mütterlichen
Klang. Das Schämen war offenbar deplaciert. Der Tatsache
selbst, daß diese Verliebtheiten ausschließlich die niedrig¬
sten Mädchen betrafen, schämte er sich nicht, nur des Na¬
mens. Wenn das Abenteuer mit der Matrona etwas Gemein¬
sames mit der Gruschaszene haben konnte, dann war das
Schämen in diese frühe Begebenheit zurückzuversetzen.
Er hatte ein anderes Mal erzählt, als er die Geschichte
von Johannes Iluß erfuhr, wurde er von ihr sehr ergriffen,
und seine Aufmerksamkeit blieb an den Bündeln von Eeisig
hängen, die man zu seinem Scheiterhaufen schleppte. Die Sym¬
pathie für Huß erweckt nun einen ganz bestimmten Ver¬
dacht; ich habe sie bei jugendlichen Patienten oft gefunden
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 105
und immer auf dieselbe Weise aufklären können. Einer der¬
selben hatte sogar eine dramatische Bearbeitung der Schicksale
des II u ß geliefert; er begann sein Drama an dem Tage zu
schreiben, der ihm das Objekt seiner geheim gehaltenen Ver¬
liebtheit entzog. Huß stirbt den Feuertod, er wird wie andere,
welche die gleiche Bedingung erfüllen, der Held der ehe¬
maligen Enuretiker. Die Reisigbündel beim Scheiterhaufen
des Huß stellte mein Patient selbst mit dem Besen (Ruten¬
bündel) des Kindermädchens zusammen.
Dieses Material fügte sich zwanglos zusammen, um die
Lücke in der Erinnerung der Szene mit der Gruscha auszu¬
füllen. Er hatte, als er dem Mädchen beim Aufwaschen des
Bodens zusah, ins Zimmer uriniert und sie darauf eine gewiß
scherzhafte Kastrationsdrohung ausgesprochen.*)
Ich weiß nicht, ob die Leser schon erraten können, warum
ich diese frühinfantile Episode so ausführlich mitgeteilt
habe.**) Sie stellt eine wichtige Verbindung her zwischen der
Urszene und dem späteren Liebeszwang, der so entscheidend
für sein Schicksal geworden ist, und führt überdies eine Liebes-
bedingung ein, welche diesen Zwang aufklärt.
Als er das Mädchen auf dem Boden liegen sah, mit dem
Aufwaschen desselben beschäftigt, kniend, die Nates vor¬
gestreckt, den Rücken horizontal gehalten, fand er an ihr
*) Es ist selir merkwürdig, daß die Reaktion der Beschämung so
innig mit der unfreiwilligen Harnentleerung verbunden ist (täglichen wie
nächtlichen), und nicht, wie man erwarten sollte, ebenso mit der Stuhl-
inlcontinenz. Die Erfahrung läßt hierüber gar keinen Zweifel bestehen. Auch
die regelmäßige Beziehung der Harninkontinenz zum Feuer gibt zu denken.
Es ist möglich, daß in diesen Reaktionen und Zusammenhängen Nieder¬
schläge aus der Kulturgeschichte der Menschheit vorliegen, die tiefer hinab
reichen als alles, was uns durch seine Spuren im Mythus und im Folklore
erhalten ist.
**) Ihre Zeit fällt etwa um 2 l / 2 Jahre, zwischen der angeblichen
Koitusbeobachtung und der Verführung.
106
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
die Stellung wieder, welche die Mutter in der Koitusszene
eingenommen hatte. Sie wurde ihm zur Mutter, die sexuelle Er¬
regung infolge der Aktivierung jenes Bildes*) ergriff ihn, und
er benahm sich männlich gegen sie wie der Vater, dessen
Aktion er damals ja nur als ein Urinieren verstanden haben
konnte. Sein auf den Boden Urinieren war eigentlich ein Ver-
führungs'versuch und das Mädchen antwortete darauf mit einer
Kastrationsdrohung, als ob sie ihn verstanden hätte.
Der von der Urszene ausgehende Zwang übertrag sich
auf diese Szene mit der Gruscha und wirkte durch sie fort.
Die Liebesbedingung erfuhr aber eine Abänderung, welche
den Einfluß der zweiten Szene bezeugt; sie übertrug sich von
der Position des Weibes auf dessen Tätigkeit in solcher Po¬
sition. Dies wurde z. B. in dem Erlebnis mit der Matrone evi¬
dent. Er machte einen Spaziergang durch das Dorf, -welches
zu dem (späteren) Gut gehörte, und sah am Band des Tei¬
ches ein kniendes Bauernmädchen, damit beschäftigt, Wäsche
im Teich zu waschen. Er verliebte sich in die Wäscherin
augenblicklich und mit unwiderstehlicher Heftigkeit, obwohl
er ihr Gesicht noch gar nicht sehen konnte. Sie war ihm
durch Lage und Tätigkeit an die Stelle der Gruscha getreten.
Wir verstehen nun, wie sich das Schämen, das dem Inhalt
der Szene mit der Gruscha galt, an den Kamen der Matrona
knüpfen konnte.
Den zwingenden Einfluß der Grusohaszene zeigt noch
deutlicher ein anderer Anfall von Verliebtheit, einige Jahre
vorher. Ein junges Bauernmädchen, das im Hause Dienste
leistete, hatte ihm schon lange gefallen, aber er hatte es
über- sich vermocht, sich ihr nicht zu nähern. Eines Tages
packte ihn die Verliebtheit, als er sie allein im Zimmer traf.
*) Vor dem Traume!
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 107
Er fand sie auf dem Boden liegend, mit Aufwaschen beschäf¬
tigt, Kübel und Besen neben sich, also ganz wie das Mädchen
in seiner Kindheit.
Selbst seine definitive Objektwahl, die für sein Leben so
bedeutungsvoll wurde, erweist sich durch ihre näheren Um¬
stände, die hier nicht anzuführen sind, als abhängig von der
gleichen Liebesbedingung, als ein Ausläufer des Zwanges, der
von der Urszene aus über die Szene mit G-ruscha seine Liebes-
wahl beherrschte. Ich habe an früherer Stelle bemerkt, daß
ich das Bestreben zur Erniedrigung des Liebesobjekts bei dem
Patienten wohl anerkenne. Es ist auf Reaktion gegen den
Druck der ihm überlegenen Schwester zurückzuführen. Aber
ich versprach damals zu zeigen, daß dies Motiv (S. 596) selbst¬
herrlicher Natur nicht das einzig bestimmende gewesen ist,
sondern eine tiefere Determinierung durch rein erotische Mo¬
tive verdeckt. Die Erinnerung an das den Boden aufwaschende,
allerdings in seiner Position erniedrigte Kindermädchen, brachte
diese Motivierung zum Vorschein. Alle späteren Liebes objekte
waren Ersatzpersonen dieser einen, die selbst durch den Zu¬
fall der Situation zum ersten Mutterersatz geworden war. Der
erste Einfall des Patienten zum Problem der Angst vor dem
Schmetterling läßt sich nachträglich leicht als fernliegende
Anspielung an die LTrszene erkennen (die fünfte Stunde). Die
Beziehung der Gruschaszene zur Kastrationsdrohung bestätigte
er durch einen besonders sinnreichen Traum, den er auch
selbst zu übersetzen verstand. Er sagte: Ich habe geträumt,
ein Mann reißt einer Espe die Flügel ans. Espe?
mußte ich fragen, was meinen Sie damit? — Nun, das In¬
sekt mit den gelben Streifen am Leib, das stechen kann. Es
muß eine Anspielung an die Gruscha, die gelbgestreifte Birne,
sein. — Wespe, meinen Sie also, konnte ich korrigieren. -—
108
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Heißt es Wespe ? Ich . habe wirklich geglaubt, es heißt Espe.
(Er bediente sich wie so viele andere seiner Eremdsprachigkeit
zur Deckung von Symptomhandlungen.) Aber Espe, das bin
ja ich, S. P. (die Initialen seines Namens). Die Espe ist na¬
türlich eine verstümmelte Wespe. Der Traum sagt klar, er
räche sich an der G-ruscha für ihre Kastrationsandrohung.
Die Aktion des 2 1 / 2 jahrigen in der Szene mit Gruscha
ist die erste uns bekanntgewordene Wirkung der Urszene,
sie stellt ihn als Kopie des Vaters dar und läßt uns eine
Entwicklungstendenz in der Kichtung erkennen, die später
den Namen der männlichen verdienen wird. Durch die Ver¬
führung wird er in eine Passivität gedrängt, die allerdings
auch schon durch sein Benehmen als Zuschauer beim elter¬
lichen Verkehr vorbereitet ist.
Ich muß aus der Behandlungsgeschichte noch hervor¬
heben, daß man den Eindruck empfing, mit der Bewältigung
der Gruschaszene, des ersten Erlebnisses, das er wirklich er¬
innern konnte und ohne mein Vermuten und Dazutun er¬
innerte, sei die Aufgabe der Kur gelöst gewesen. Es gab
von da an keine Widerstände mehr, man brauchte nur noch
zu sammeln und zusammenzusetzen. Die alte Traumatheorie,
die ja auf Eindrücke aus der psychoanalytischen Therapie
aufgebaut war, kam mit einem Male wieder zur Geltung. Aus
kritischem Interesse machte ich noch einmal den Versuch,
dem Patienten eine andere Auffassung seiner Geschichte auf¬
zudrängen, die dem nüchternen Verstand willkommener wäre.
An der Szene mit Gruscha sei ja nicht zu zweifeln, aber sie
bedeute an und für sich nichts und sei hinterher verstärkt
worden durch Regression von den Ereignissen seiner Objekt¬
wahl, die sich infolge der Erniedrigungstendenz von der Schwe¬
ster weg auf die Dienstmädchen geworfen hätte. Die Koitus-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 109
beobachtung aber sei eine Phantasie seiner späteren Jahre,
deren historischer Kern die Beobachtung oder das Erlebnis
etwa eines harmlosen Lavements gewesen sein könnte. Viel¬
leicht meinen manche Leser, erst mit diesen Annahmen hätte
ich mich dem Verständnis des Kalles genähert; der Patient
sah mich verständnislos und etwas verächtlich an, als ich
ihm diese' Auffassung vortrug, und reagierte niemals wieder
auf dieselbe. Meine eigenen Argumente gegen solche Ratio¬
nalisierung habe ich oben im Zusammenhänge entwickelt.
[Die Ctruschaszene enthält aber nicht nur die für das Le¬
ben des Patienten entscheidenden Bedingungen der Objekt¬
wahl und behütet uns so vor dem Irrtum, die Bedeutung der
Erniedrigungstendenz gegen das Weib zu überschätzen. Sie
vermag mich auch zu rechtfertigen, wenn ich es vorhin ab¬
gelehnt habe, die Zurückführung der Urszene auf eine kurz
vor dem Traum angestellte Tierbeobachtung ohne jedes Be¬
denken als die einzig mögliche Lösung zu vertreten (S. 67).
Sie war in der Erinnerung des Patienten spontan und ohne
mein Dazutun aufgetaucht. Die auf sie zurückgehende Angst
vor dem gelbgestreiften Schmetterling bewies, daß sie einen
bedeutungsvollen Inhalt gehabt hatte, oder daß es möglich
geworden war, ihrem Inhalt nachträglich solche Bedeutung
zu verleihen. Dies Bedeutungsvolle, was in der Erinnerung
fehlte, war durch die sie begleitenden Einfälle und die daran
zu knüpfenden Schlüsse mit Sicherheit zu ergänzen. Es ergab,
sich dann, daß die Schmetterlingsangst durchaus analog war
der Wolfsangst, in beiden Fällen Angst vor der Kastration, zu¬
nächst bezogen auf die Person, welche die Kastrationsdrohung
zuerst ausgesprochen hatte, sodann auf die andere ver¬
legt-, an der sie nach dem phylogenetischen Vorbild Anheftung
finden mußte. Die Szene mit Gruseha war mit 2 1 / 2 Jahren
110
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
vorgefallen, das Angsterlebnis mit dem gelben Schmetterling,
aber sicherlich nach dem Angsttraum. Es ließ sich leicht
verstehen, daß das spätere Verständnis für die Möglichkeit
der Kastration nachträglich aus der Szene mit Gruscha die
Angst entwickelt hatte; aber diese Szene selbst enthielt nichts
Anstößiges oder Unwahrscheinliches, vielmehr durchaus ba¬
nale Einzelheiten, an denen zu zweifeln man keinen Grund
hatte. Nichts forderte dazu auf, sie auf eine Phantasie des
Kindes zurückzuführen; es erscheint auch karim möglich.
Es entsteht nun die Frage, sind wir berechtigt in dem
Urinieren des stehenden Knaben, während das auf den Knien
liegende Mädchen den Boden aufwäscht, einen Beweis seiner
sexuellen Erregtheit“ zu sehen? Dann würde diese Erregung
den Einfluß eines früheren Eindrucks bezeugen, der eben¬
sowohl die Tatsächlichkeit der Urszene, wie eine vor 2 x / 2
Jahren gemachte Beobachtung an Tieren sein könnte. Oder
war jene Situation durchaus harmlos, die Harnentleerung des
Kindes eine rein zufällige, und die ganze Szene wurde erst
später dn der Erinnerung sexualisiert, nachdem ähnliche
Situationen als bedeutungsvoll erkannt worden waren?
Hier getraue ich mich nun zu keiner Entscheidung. Ich
muß sagen, ich rechne es der Psychoanalyse bereits hoch an,
daß sie zu solchen Fragestellungen gekommen ist. Aber ich
kann es doch nicht verleugnen, daß die Szene mit Gruscha,
die Rolle, die in ihr in der Analyse zufiel, und die Wirkun¬
gen, die im Leben von ihr ausgingen, sich doch am unge¬
zwungensten und vollständigsten erklären, wenn man die Ur-
sz/ene, die andere Male eine Phantasie sein mag, hier als
Realität gelten läßt. Sie behauptet im Grunde nichts Un¬
mögliches; die Annahme ihrer Realität verträgt sich auch
ganz gut mit dem anregenden Einfluß der Tierbeobach-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 111
tungen, auf welche die Schäferhunde des Traumbildes
hicdeuten.
Von diesem unbefriedigenden Abschluß wende ich mich
zur Behandlung der Frage, die ich in den „Vorlesungen zur
Einführung in die Psychoanalyse“ versucht habe. Ich möchte
selbst gerne wissen, ob die Urszene bei meinem Patienten
Phantasie oder reales Erlebnis war, aber mit Rücksicht auf
andere ähnliche Fälle muß man sagen, es sei eigentlich nicht
sehr wichtige dies zu entscheiden. Die Szenen von Beobachtung
des elterlichen Sexualverkehrs, von Verführung in der Kind¬
heit und von Kastrationsandrohung sind unzweifelhafter er¬
erbter Besitz, phylogenetische Erbschaft, aber sie können
ebensowohl Erwerb persönlichen Erlebens sein. Bei meinem
Patienten war die Verführung durch die ältere Schwester eine
unbestreitbare Realität; warum nicht auch die Beobachtung
des elterlichen Koitus 1
Wir sehen nur in der Urgeschichte der Neurose, daß das
Kind zU diesem phylogenetischen Erleben greift, wo sein
eigenes Erleben nicht ausreicht. Es füllt die Lücken der indi¬
viduellen Wahrheit mit prähistorischer Wahrheit aus, setzt
die Erfahrung der Vorahnen an die Stelle der eigenen Er¬
fahrung ein. In der Anerkennung dieser phylogenetischen Erb¬
schaft stimme ich mit Jung (Die Psychologie der unbe¬
wußten Prozesse 1917, eine Schrift, die meine „Vorlesungen“
nicht mehr beeinflussen konnte) völlig zusammen; aber ich
halte es für methodisch unrichtig, zur Erklärung aus der
Phylogenese zu greifen, ehe man die Möglichkeiten der
Ontogenese erschöpft hat; ich sehe nicht ein, warum man der
kindheitliehen Vorzeit hartnäckig eine Bedeutung bestreiten
will, die man der Ahnenvorzeit bereitwillig zugesteht; ich
kann nicht verkennen, daß die phylogenetischen Motive und
112
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Produktionen selbst der Aufklärung bedürftig sind, die ihnen
in einer ganzen Reihe von Pallen aus der individuellen Kind¬
heit zu teil werden kann, und zum Schlüsse verwundere ich
mich nicht darüber, wenn die Erhaltung der nämlichen Be¬
dingungen beim einzelnen organisch Wiedererstehen läßt, was
diese einst in Vorzeiten geschaffen und als Disposition zum
Wiedererwerb vererbt haben.]
In die Zwischenzeit zwischen Urszene und Verführung
(1V 2 —S 1 /^ Jahre) ist noch der stumme Wasserträger einzu¬
schieben, der für ihn Vaterersatz war wie die Gruscha
Mutterersatz. Ich glaube, es ist unberechtigt, hier von einer
Erniedrigiingstendenz zu reden, wiewohl sich beide Eltern
durch dienende Personen vertreten finden. Das Kind setzt sich
über die sozialen Unterschiede hinweg, die ihm noch wenig
bedeuten, und reiht auch geringere Leute an die Eltern an,
wenn sie ihm ähnlich wie die Eltern Liebe entgegenbringen.
Ebensowenig Bedeutung hat diese Tendenz für die Ersetzung
der Eltern durch Tiere, deren Geringschätzung vom Kinde
ganz ferne liegt. Ohne Rücksicht auf solche Erniedrigung wer¬
den Onkel und Tanten zum Eitomersatz herangezogen, wie
auch für unseren Patienten durch mehrfache Erinnerungen
bezeugt ist.
In dieselbe Zeit gehört noch eine dunkle Kunde von einer
Phase, in der er nichts essen wollte außer Süßigkeiten, so
daß man Sorge für sein Eortkommen hatte. Man erzählte ihm
von einem Onkel, der ebenso das Essen verweigert hatte und
dann jung an der Auszehrung starb. Er hörte auch, daß er
im Alter von drei Monaten so schwer krank gewesen war (an
einer Lungenentzündung?), daß man schon das Totenhemd
für ihn bereit gemacht hatte. Es gelang ihn ängstlich zu
machen, so daß er wieder aß; in späteren Kindheitsjahren
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 113
übertrieb er sogar diese Verpflichtung, wie um sich gegen
den angedrohten Tod zu schützen. Die Todesangst, die man
damals zu seinem Schutz wachgerufen hatte, zeigte sich später
wieder, als die Mutter vor der Dysenteriegefa.hr warnte; sie
provozierte noch später einen Anfall der Zwangsneurose (S. 77).
Wir wollen versuchen, ihren Ursprüngen und Bedeutungen an
späterer Stelle nachzugehen.
Für die Eßstörung möchte ich die Bedeutung einer aller¬
ersten neurotischen Erkrankung in Anspruch nehmen; so daß
Eßstörung, Woli'sphobie, Zwangsfrömmigkeit die vollständige
Reihe der infantilen Erkrankungen ergeben, welche die Dispo¬
sition für den neurotischen Zusammenbruch in den Jahren
nach der Pubertät mit sich bringen. Man wird mir entgegen¬
halten, daß wenige Kinder solchen Störungen wie einer vor¬
übergehenden Eßunlust oder einer Tierphobie entgehen. Aber
dies ArgumenVist mir sehr willkommen. Ich bin bereit zu
behaupten, daß jede Neurose eines Erwachsenen sich über
seiner Kinderneurose aufbaut, die aber nicht immer inten¬
siv genug ist, um aufzufallen und als solche erkannt zu wer¬
den. Die theoretische Bedeutung der infantilen Neurosen für
die Auffassung der Erkrankungen, die wir als Neurosen be¬
handeln und nur von den Einwirkungen des späteren Lebens
ableiten wollen, wird durch jenen Einwand nur gehoben.
Hätte unser Patient nicht zu seiner Eßstörung und seiner Tier¬
phobie noch die Zwangsfrömmigkeit hinzubekommen, so würde
sich seine Geschichte von der anderer Menschenkinder nicht auf¬
fällig unterscheiden, und wir wären um wertvolle Materialien,
die uns vor naheliegenden Irrtümern bewahren können, ärmer.
Die Analyse wäre unbefriedigend, wenn sie nicht das
Verständnis jener Klage brächte, in die der Patient sein Leiden
zusammenfaßte. Sie lautete, daß_ ihm die Welt durch einen
Freud, Neurosenlehre. V.
8
114
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Schleier verhüllt sei, und die psychoanalytische Schulung
weist die Erwartung ab, daß diese Worte bedeutungslos und
wie zufällig gewählt sein sollten. Der Schleier zerriß — r merk¬
würdigerweise •— nur in einer Situation, nämlich, wenn in¬
folge eines Lavements der Stuhlgang den After passierte.
Dann fühlte er sich wieder wohl und sah die Welt für eine
ganz kurze Weile klar. Mit der Deutung dieses „Schleiers“
ging es ähnlich schwierig wie bei der Schmetterlingsangst.
Auch hielt er nicht an dem Schleier fest, dieser verflüchtigte
sich ihm weiter zu einem Gefühl von Dämmerung, „tenebres“,
und anderen ungreifbaren Dingen.
Erst kurz vor dem Abschied von der Kur besann er
sich, er habe gehört, daß er in einer „Glückshaube“ zur Welt
gekommen sei. Darum habe er sich immer für ein besonderes
Glückskind gehalten, dem nichts Böses widerfahren könne.
Erst dann verließ ihn diese Zuversicht, als er die gonorrhoische
Erkrankung als schwere Beschädigung an seinem Körper an¬
erkennen mußte. Vor dieser Kränkung seines Narzißmus brach
er zusammen. Wir werden sagen, er wiederholte damit einen
Mechanismus, der schon einmal bei ihm gespielt hatte. Auch
seine. Wolfsphobie brach aus, als er vor die Tatsache, daß
eine Kastration möglich sei. gestellt wurde, und die Gonorrhoe
reihte er offenbar der Kastration an.
Die Glückshaube ist also der Schleier, der ihn vor der
Welt und ihm die Welt verhüllte. Seine Klage ist eigentlich
eine erfüllte Wunschphantasie, sie zeigt ihn wieder in den
Mutterleib zurückgekehrt, allerdings die Wunschphantasie der
Weltflucht. Sie ist zu übersetzen: Ich bin so unglücklich im
Leben, ich muß wieder in den Mutterschoß zurück.
Was soll es aber bedeuten, daß dieser symbolische, einmal
real gewesene, Schleier in dem Moment der Stuhl entleer ung
I. AUS DER, GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 115
nach dem Klysma zerreißt, daß seine Krankheit unter dieser
Bedingung von ihm weicht 1 Der Zusammenhang gestattet uns
zu antworten: Wenn der Geburtsschleier, zerreißt, so erblickt
er die Welt und wird wiedergeboren. Der Stuhlgang ist das
Kind, als welches er zum zweitenmal zu einem glücklicheren
Leben geboren wird. Das wäre also die Wiedergeburtsphantasie,
auf die Jung kürzlich die Aufmerksamkeit gelenkt, und der
er eine so dominierende Stellung im Wunschleben der Neuro¬
tiker eingeräumt hat.
Das wäre schön, wenn es vollständig wäre. Gewisse
Einzelheiten der Situation und die Kücksicht auf den er¬
forderlichen Zusammenhang mit der speziellen Lebens¬
geschichte nötigen uns, die Deutung weiter zu führen. Die Be¬
dingung der Wiedergeburt ist, daß ihm ein Mann ein Klysma
verabreicht (diesen Mann hat er erst später notgedrungen
selbst ersetzt). Das kann nur heißen, er hat sich mit der
Mutter identifiziert, der Mann spielt den Vater, das Klysma
wiederholt den Begattungsakt, als dessen Erucht das Kot¬
kind — wiederum er — geboren wird. Die Wiedergeburts¬
phantasie ist also eng mit der Bedingung der sexuellen Be¬
friedigung durch den Mann verknüpft. Die Übersetzung lautet
jetzt also: Nur wenn er sich dem, Weib substituieren, die Mut¬
ter ersetzen darf, um sich vom Vater befriedigen zu lassen
und ihm ein Kind zu gebären, dann ist seine Krankheit von
ihm gewichen. Die Wiedergeburtsphantasie war also hier nur
eine verstümmelte, zensurierte Wiedergabe der homosexuellen
W uns chphantas i e.
Sehen wir näher zu, so' müssen wir eigentlich bemerken,
daß der Kranke in dieser Bedingung seiner Heilung nur die
Situation der sogenannten Urszene wiederholt: Damals wollte
er sich der Mutter unterschieben; das Kotkind hat er, wie
8*
116
SCHEUTEN ZUE NEUEOSENLEHEE. V.
wir längst vorher angenommen hatten, in jener Szene selbst
produziert. Er ist noch immer fixiert, wie gebannt, an die
Szene, die für sein Sexualleben entscheidend wurde, deren
Wiederkehr in jener Traumnacht sein Kranksein eröffnete.
Das Zerreißen des Schleiers ist analog dem öffnen der Augen,
dem Aufgehen der Fenster. Die Urszene ist zur Heilbedingung
umgebildet worden.
Das, was durch die Klage, und was durch die Ausnahme
dargestellt ist, kann man leicht zu einer Einheit zusammen¬
ziehen, die dann ihren ganzen Sinn offenbart. Er wünscht
sich in den Mutterleib zurück, nicht um dann einfach wie¬
dergeboren zu werden, sondern um dort beim Koitus vom
Vater getroffen zu werden, von ihm die Befriedigung zu be¬
kommen, ihm ein Kind zu gebären,.
Vom Vater geboren worden zu sein, wie er anfänglich
gemeint hatte, von ihm sexuell befriedigt zu werden, ihm ein
Kind zu schenken, dies unter Preisgebung seiner Männlich¬
keit, und in der Sprache der Analerotik ausgedrückt: mit die¬
sen Wünschen ist der Kreis der Fixierung an den Vater ge¬
schlossen, hiemit hat die Homosexualität ihren höchsten und
intimsten Ausdruck gefunden.*)
Ich meine, von diesem Beispiel her fällt auch ein Licht
auf Sinn und Ursprung der Mutterleibs- wie der Wieder¬
geburtsphantasie, Die erstere ist häufig so wie in unserem
Falle aus der Bindung an den Vater hervorgegangen. Man
wünscht sich in den Leib der Mutter, um sich ihr beim Koitus
zu substituieren, ihre Stelle beim Vater einzunehmen. Die
Wiedergeburtsphantasie ist wahrscheinlich regelmäßig eine
*) Der mögliche Nebensinn, daß der Schleier das Hymen darstellt,
welches beim Verkehr mit dem Manne zerreißt, trifft nicht genau mit der
Heilbedingung zusammen und hat keine Beziehung zum Leben des Patienten,
für den die Virgini tat' keine Bedeutung hatte.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 117
Milderung, sozusagen ein Euphemismus, für die Phantasie des
inzestuösen Verkehrs mit der Mutter, eine anago gische
Abkürzrung derselben, um den Ausdruck von H. Silberer
zu gebrauchen. Man wünscht sich in die Situation zurück, in
der man sich in den Genitalien der Mutter befand, wobei sich
der Mann mit seinem Penis identifiziert, durch ihn vertreten
läßt. Dann enthüllen sich die beiden Phantasien als Gegen¬
stücke, die je nach der männlichen oder weiblichen Einstel¬
lung des Betreffenden dem Wunsch nach dem Sexualverkehr
mit dem Vater oder der 3'Iutter Ausdruck geben. Es ist die
Möglichkeit nicht abzuweisen, daß in der Klage und Heil¬
bedingung unseres Patienten beide Phantasien, also auch
beide Inzestwünsche, vereinigt sind.
Ich will noch einmal den Versuch machen, die letzten
Ergebnisse der Analyse nach dem gegnerischen Vorbild um¬
zudeuten: Der Patient beklagt seine Weltflucht in einer ty¬
pischen Mutterleibsphantasie, erblickt seine Heilung allein von
einer typisch gefaxten Wiedergeburt. Diese letztere drückt
er in analen Symptomen entsprechend seiner vorwiegenden
Veranlagung aus. Nach dem Vorbild der analen Wieder¬
geburtsphantasie hat er sich eine Kinderszene zurechtgemacht,
die seine Wünsche in archaisch-symbolischen Ausdrucksmit¬
teln wiederholt. Seine Symptome verketten sich dann, als ob
sie von einer solchen Urszene ausgingen. Zu diesem ganzen
Rückweg mußte er sich entschließen, weil er auf eine Lebens¬
aufgabe stieß, für deren Lösung er zu faul war, oder weil
er allen Grund hatte, seinen Minderwertigkeiten zu mißtrauen
und sich durch solche Veranstaltungen am besten vor Zurück¬
setzung zu schützen meinte.
Das wäre alles gut und schön, wenn der Unglückliche
nur nicht schon mit vier Jahren einen Traum gehabt hatte,
118
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
mit dem seine Neurose begann, der durch die Erzählung des
Großvaters vom Schneider und vom Wolf angeregt wurde,
und dessen Deutung die Annahme einer solchen Urszene not¬
wendig macht. An diesen kleinlichen, aber unantastbaren Tat¬
sachen scheitern leider die Erleichterungen, die uns die Theo¬
rien von Jung und Adler verschaffen wollen. Wie die Sa¬
chen liegen, scheint mir die Wiedergeburtsphantasie eher ein
Abkömmling der Urszene, als umgekehrt die Urszene eine
Spiegelung der Wiedergeburtsphantasie zu sein. Vielleicht darf
man auch annehmen, der Patient sei damals, vier Jahre, nach
seiner - Geburt doch zu jung gewesen, um sich bereits eine
Wiedergeburt zu wünschen. Aber dieses letztere Argument
muß ich doch zurückziehen; meine eigenen Beobachtungen
beweisen, daß man die Kinder unterschätzt hat, und daß man
nicht mehr weiß, was man ihnen Zutrauen darf.*)
*) Ich. gebe zu, daß diese Frage die heikelste der ganzen analytischem
Lehre ist. Ich habe nicht der Mitteilungen von Adler oder Jung bedurft,
um mich mit der Möglichkeit kritisch zu beschäftigen, daß die von der
Analyse behaupteten, vergessenen Kindheitserlebnisse — in unwahrschein¬
lich früher Kindheit erlebt! — vielmehr auf Phantasien beruhen, die bei
späten Anlässen geschaffen werden, und daß man überall dort die Äußerung
eines konstitutionellen Moments oder einer phylogenetisch erhaltenen Dis¬
position anzunehmen habe, wo man die Nachwirkung eines solchen in¬
fantilen Eindrucks in den Analysen zu finden glaubt. Im Gegenteile, kein
Zweifel hat mich mehr in Anspruch genommen, keine andere Unsicherheit
entschiedener von Publikationen zurückgehalten. Sowohl die Rolle der
Phantasien für die Symptombildung als auch das „Zurückphantasieren“ von
späten Anregungen her in die Kindheit und das nachträgliche Sexualisieren
derselben habe ich als erster kennen gelehrt, worauf keiner der Gegner
hingewiesen hat. (Siehe Traumdeutung, I. Auflage, S. 49, und die Anmer¬
kungen zu dem Fall von Zwangsneurose 1908 [S. 164 der Sammlung kleiner
Schriften, dritte Folge].) Wenn ich dennoch die schwierigere und unwahr¬
scheinlichere Auffassung als die meinige festgehalten habe, so geschah es
mit Argumenten, wie sie der hier beschriebene Fall oder jede andere in¬
fantile Nenrose dem Untersucher aufdräng-en, und die ich jetzt neuerdings
den Lesern zur Entscheidung vorlege.
I. ATTS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 119
IX. ZUSAMMENFASSUNGEN UND PROBLEME.
leih weiß aicht, ob es dem Leser des vorstehenden
Analysenberichtes gelungen ist, sich ein deutliches Bild von
der Entstehung und Entwicklung des Krankseins bei meinem
Patienten zu machen. Vielmehr ich fürchte, es ist nicht der
Fall gewesen. Aber, so wenig ich sonst für die Kunst mei¬
ner Darstellung Partei genommen habe, diesmal möchte ich
doch auf mildernde Umstände plaidieren. Es ist eine Auf¬
gabe gewesen, die noch niemals zuvor in Angriff genommen
wurde, in die Beschreibung so frühe Phasen und so tiefe
Schichten des Seelenlebens einzuführen, und es ist besser,
man löst sie schlecht, als man ergreift vor ihr die Flucht,
was ja überdies mit gewissen Gefahren für den Verzagten
verbunden sein soll. Man zeigt also lieber kühnlich, daß man
sich durch das Bewußtsein seiner Minderwertigkeiten nicht
hat abhalten lassen.
Der Fall selbst war nicht besonders günstig. Was den
Reichtum der Auskünfte über die Kindheit ermöglichte, daß
man das Kind durch das Medium des Erwachsenen studieren
konnte, mußte mit den ärgsten Zerstücklungen der Analyse
und den entsprechenden Unvollständigkeiten in der Darstel¬
lung erkauft werden. Persönliche Eigentümlichkeiten, ein dem
maserigen fremder Nationalcharakter, machten die Einfühlung
mühsam. Der- Abstand zwischen der liebenswürdig entgegen¬
kommenden Persönlichkeit des Kranken, seiner scharfen In¬
telligenz, vornehmen Denkungsart und seinem völlig unge-
bändigtem Triebleben machte eine überlange Vorbereitungs¬
und Erziehungsarbeit notwendig, durch welche die Übersicht
erschwert wurde. An dem Charakter des Falles, welcher der
Beschreibung die härtesten Aufgaben stellte, ist der Patient
selbst aber völlig unschuldig. Wir haben es in der Psycho-
120 SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
logie des Erwachsenen glücklich dahin gebracht, die seelischen
Vorgänge in bewußte und unbewußte zu scheiden und beide
in klaren Worten zu beschreiben. Vom Kinde läßt diese Unter¬
scheidung uns beinahe im Stiche. Man ist oft in Verlegen¬
heit anzugeben, was man als bewußt und was man als unbe¬
wußt bezeichnen möchte. Vorgänge, die die herrschenden ge¬
worden sind, und die nach ihrem späteren Verhalten den be¬
wußten gleichgestellt werden müssen, sind beim Kinde den¬
noch nicht bewußt gewesen. Man kann leicht verstehen,
warum; das Bewußte hat beim Kinde noch nicht alle seine
Charaktere gewonnen, es ist noch in der Entwicklung be¬
griffen und besitzt nicht recht die Fähigkeit, sich in Spraeh-
vorstellungen umzusetzen. Die Verwechslung, deren wir uns
sonst regelmäßig schuldig machen,: zwischen dem Phänomen,
als Wahrnehmung im Bewußtsein aufzutreten, und der Zu¬
gehörigkeit zu einem angenommenen psychischen System, das
wir irgendwie konventionell benennen sollten, das wir aber
gleichfalls Bewußtsein (System Bw) heißen, diese Ver¬
wechslung ist harmlos bei der psychologischen Beschreibung
des Erwachsenen, aber irreführend für die des kleinen Kin¬
des. Auch die Einführung des „Vorbewußten“ nützt hier nicht
viel, denn das Vorbewußte des Kindes braucht sich mit dem
des Erwachsenen ebensowenig zu decken. Man begnügt sich
also damit, die Dunkelheit klar erkannt zu haben.
Es ist selbstverständlich, daß ein Eall wie der hier be¬
schriebene Anlaß geben könnte, alle Ergebnisse und Pro¬
bleme der Psychoanalyse in Diskussion zu ziehen. Es wäre
eine unendliche und eine ungerechtfertigte Arbeit. Man muß
sich sagen, daß man aus einem einzigen Eall nicht alles er¬
fahren, an ihm nicht alles entscheiden kann, und sich darum
begnügen, ihn für das zu verwerten, was er am deutlichsten
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 121
zeigt. Die Erklärungsaufggbe in der Psychoanalyse ist über¬
haupt enge begrenzt. Zn erklären sind die auffälligen Sym-
ptombildungen durch Aufdeckung ihrer Genese; die psy¬
chischen Mechanismen und Triebvorgänge, zu denen man so
geführt wird, sind nicht zu erklären, sondern zu beschreiben.
Um aus den Feststellungen über diese beiden letzteren Punkte
neue Allgemeinheiten zu gewinnen, sind zahlreiche solche gut
und tief analysierte Fälle erforderlich. Sie sind nicht leicht
zu haben, jeder einzelne verbraucht jahrelange Arbeit. Der
Fortschritt in diesen Gebieten kann sich also nur langsam
vollziehen. Die Versuchung liegt freilich sehr nahe, sich damit
zu begnügen, daß man bei einer Anzahl von Personen die
psychische Oberfläche „ankratzt“, und das Unterlassene dann
durch Spekulationen ersetzt, die man unter die Patronanz
irgend einer philosophischen Eichtung stellt. Man kann auch
praktische Bedürfnisse zu Gunsten dieses Verfahrens geltend
machen, aber die Bedürfnisse der Wissenschaft lassen sich
durch kein Surrogat befriedigen.
Ich will versuchen, eine synthetische Übersicht der
Sexualentwicklung meines Patienten zu entwerfen, bei der
ich mit den frühesten Anzeichen beginnen kann. Das erste,
was wir über ihn hören, ist die Störung der Eßlust, die ich
nach anderen Erfahrungen, aber doch mit aller Zurückhal¬
tung, als den Erfolg eines Vorgangs auf sexuellem Gebiet
auffassen will. Als die erste kenntliche Sexualorganisation
habe-ich die sogenannte kan nibale oder orale betrachten
müssen, in welcher die ursprüngliche Anlehnung der Sexual¬
erregung an den Eßtrieb noch die Szene beherrscht. Direkte
Äußerungen dieser Phase werden nicht zu erwarten sein, -wohl
aber Anzeichen bei eingetretenen Störungen. Die Beeinträch¬
tigung des Eßtriebs — die natürlich sonst auch andere Ur-
122
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Sachen ha,ben kann — macht uns dann aufmerksam, daß eine
Bewältigung sexueller Erregung dem Organismus nicht ge¬
lungen ist. Das Sexualziel dieser Phase könnte nur der Kanni¬
balismus, das Fressen sein; es kommt bei unserem Patienten
durch Begression von einer höheren Stufe her in der Angst
zum Vorschein: vom Wolf gefressen zu werden. Diese Angst
mußten wir uns ja übersetzen: vom Vater koitiert zu werden.
Es ist bekannt, daß es in weit vorgerückteren Jahren, bei Mäd¬
chen in den Zeiten der Pubertät oder bald nachher, einij
.Neurose gibt, welche die Sexualablehnung durch Anorexie
ausdrückt; man wird sie in Beziehung zu dieser oralen Phase
des Sexuallebens bringen dürfen. Auf der Höhe des verlieb¬
ten Paroxysmus („Ich könnte dich fressen vor Liebe“) und im
zärtlichen Verkehr mit kleinen Kindern, wobei der Erwach¬
sene sich selbst wie infantil gebärdet, tritt das Liebesziel der
oralen Organisation wieder auf. Ich habe an anderer Stelle die
Vermutung ausgesprochen, daß der Vater unseres Patienten
selbst das „zärtliche Schimpfen“ gehabt, mit dem Kleinen
Wolf oder Hund gespielt und ihn im Scherz mit dem Auf¬
fressen bedroht hat. (S. 609.) Der Patient hat diese Vermutung
durch sein auffälliges Benehmen in der -Übertragung nftr be¬
stätigt-, So oft er vor Schwierigkeiten der Kur auf die Über¬
tragung zurückwich, drohte er mit dem Auffressen und später
mit allen anderen möglichen Mißhandlungen, was alles nur
Ausdruck von Zärtlichkeit war.
Der Sprachgebrauch hat gewisse Prägungen dieser oralen
Sexualphiase dauernd angenommen, er spricht von einem
„appetitlichen“ Liebesobjekt, nennt die Geliebte „süß“. Wir er¬
innern uns, daß unser kleiner Patient auch nur Süßes essen
wollte. Süßigkeiten, Bonbons vertreten im Traume regelmäßig
Liebkosungen, "sexuelle Befriedigungen.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER-INFANTILEN NEUROSE. 123
Es scheint, daß zu dieser Phase auch eine Angst gehört
(im Falle von Störung natürlich), die als Lebensangst auf-
tritt und sieh an alles heften kann, was dem Kinde als ge¬
eignet bezeichnet wird. Bei unserem Patienten wurde sie dazu
benützt, um ihn zur Überwindung seiner Eßunlust, ja zur Über¬
kompensation derselben anzuleiten. Auf die mögliche Quelle
seiner Eßstörung werden wir geleitet, wenn wir — auf dem Bo¬
den jener vielberedeten Annahme — daran erinnern, daß die
Koitusbeobachtung, von welcher so viele nachträgliche Wir¬
kungen ausgingen, in das Alter von l 1 / 2 Jahren sicherlich vor
der Zeit der Eßschwierigkeiten fällt. Vielleicht dürfen wir an¬
nehmen, daß sie die Prozesse der Sexualreifung beschleunigt
und so auch direkte, wenn auch unscheinbare Wirkungen ent¬
faltet hat.
Ich weiß natürlich auch, daß man die Symptomatik dieser
Periode, die Wolfsangst, die Eßstörung anders und einfacher
erklären kann, ohne Rücksicht auf die Sexualität und eine
prägenitale Organisationsstufe derselben. Wer die Zeichen der
Neurotik und den Zusammenhang der Erscheinungen gern ver¬
nachlässigt, wird diese andere Erklärung vorziehen und ich
werde ihn daran nicht hindern können. Es ist schwer, über
diese Anfänge des Sexuallebens anders als auf den ange-
zeigten Umwegen etwas Zwingendes zu eruieren.
Die Szene mit der Gruscha (um 2 l / 2 Jahre) zeigt uns
unseren Kleinen zu Beginn einer Entwicklung, welche die
Anerkennung als normal verdient, vielleicht bis auf ihre Vor¬
zeitigkeit : Identifizierung mit dem Vater, Harnerotik in Ver¬
tretung der Männlichkeit. Sie steht ja auch ganz unter dem
Einfluß der Urszene. Die Vateridentifizierung haben wir bis¬
her als eine narzißtische aufgefaßt, mit Rücksicht auf den
Inhalt der Urszene können wir es nicht abweisen, daß sie bereits
124
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
der Stufe der Genitalorganisation entspricht. Das männliche
Genitale hat seine Bolle zu spielen begonnen und^setzt sie
unter dem Einfluß der Verführung durch die Schwester fort.
Man bekommt aber den Eindruck, daß die Verführung
nicht bloß die Entwicklung fördert, sondern sie noch in
höherem Grade stört und ablenkt. Sie gibt ein passives Sexual¬
ziel, welches mit der Aktion des männlichen Genitales im
. Grunde unverträglich ist. Beim ersten äußeren Hindernis, bei
der Kastrationsandeutung der Nanja, bricht (mit 3 3 / 4 Jah¬
ren) die noch zaghafte genitale Organisation zusammen und
regrediert auf die ihr vorhergehende Stufe der sadistisch-
analen Organisation, welche vielleicht sonst mit ebenso leich¬
ten Anzeichen wie bei anderen Kindern durchlaufen worden
wäre.
Die sadistisch-anale Organisation ist leicht als Fort¬
bildung der oralen zu erkennen. Die gewaltsame Muskel¬
betätigung am Objekt, die sie auszeichnet, findet ihre Stelle
als vorbereitender Akt für das Fressen, das dann als Sexual¬
ziel ausfällt. Der vorbereitende Akt wird ein selbständiges
Ziel. Die Neuheit gegen die vorige Stufe besteht wesentlich
darin, daß das aufnehmende, passive Organ, von der Mund¬
zone abgesondert, an der Analzone ausgebildet wird. Biolo¬
gische Parallelen oder die Auffassung der prägenitalen mensch¬
lichen Organisationen als Beste von Einrichtungen, die in
manchen Tierklassen dauernd festgehalten werden, liegen hier
sehr nahe. Die Konstituierung des Forschertriebes aus seinen
Komponenten ist für diese Stufe gleichfalls charakteristisch.
Die Analerotik macht sich nicht auffällig bemerkbar. Der
Kot hat unter dem Einfluß des Sadismus seine zärtliche gegen
seine offensive Bedeutung vertauscht. An der Verwandlung
des Sadismus in Masochismus ist ein Schuldgefühl mitbe-
- I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 125
ueiligt, welches auf Entwicklungsvorgänge in anderen als den
sexuellen Sphären hinweist.
Die Verführung setzt ihren Einfluß fort, indem sie die
Passivität des Sexualziels aufrechthält. Sie verwandelt jetzt
den Sadismus zu einem großen Teil in sein passives- Gegen¬
stück, den Masochismus. Es ist fraglich, ob man den Cha¬
rakter der Passivität ganz auf ihre Rechnung setzen darf,
denn die Reaktion des l 1 / 2 jährigen Kindes auf die Koitus-
beohachtung war bereits vorwiegend eine passive. Die sexuelle
Miterregung äußerte sich in einer Stuhlentleerung, an der
allerdings auch ein aktiver Anteil zu unterscheiden ist; Neben
dem Masochismus, der seine Sexualstrebung beherrscht und
sich in Phantasien äußert, bleibt auch der Sadismus bestehen
und betätigt sich gegen kleine Tiere. Seine Sexualforschung
hat von der Verführung an eingesetzt, wesentlich zwei Pro¬
bleme in Angriff genommen, woher die Kinder kommen, und
ob ein Verlust des Genitales möglich ist, und verwebt sich
mit den Äußerungen seiner Triebregungen. Sie lenkt seine
sadistischen Neigungen auf die kleinen Tiere als Repräsen¬
tanten der kleinen Kinder.
Wir haben die Schilderung bis in die Nähe des vierten
Geburtstages geführt, zu welchem Zeitpunkt der Traum die
Koitusbeobachtung von l 1 /, Jahren zur nachträglichen Wir¬
kung - bringt. Die Vorgänge, die sich nun abspielen, können
wir weder vollständig erfassen, noch sie hinreichend be¬
schreiben. Die Aktivierung des Bildes, das nun dank der vor¬
geschrittenen intellektuellen Entwicklung verstanden werden
kann, wirkt wie ein frisches Ereignis, aber auch wie ein neues
Trauma, ein fremder Eingriff analog der Verführung. Die ab¬
gebrochene genitale Organisation wird mit einem Schlage wie¬
der eingesetzt, aber der im Traum vollzogene Fortschritt kann
126
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
nicht festgehalten werden. Es kommt vielmehr durch einen
Vorgang, den man nur einer Verdrängung gleichstellen kann,
zur Ablehnung des Neuen und dessen Ersetzung durch eine
Phobie.
Die sadistisch-anale Organisation bleibt also auch in der
jetzt einsetzenden Phase der Tierphobie fortbestehen, nur sind
ihr die Angsterscheinungen beigemengt. Das Kind setzt die
sadistischen wie die masochistischen Betätigungen fort, doch
reagiert es mit Angst gegen einen Teil derselben; die Ver¬
kehrung des Sadismus in sein Gegenteil macht wahrscheinlich
weitere Fortschritte.
Aus der Analyse des Angsttraumes entnehmen wir, daß
die Verdrängung sich an die Erkenntnis der Kastration an¬
schließt. Das Neue wird verworfen, weil seine Annahme den
Penis kosten w r ürde. Eine sorgfältigere Überlegung läßt etwa
Folgendes erkennen: Das Verdrängte ist die homosexuelle Ein¬
stellung im genitalen Sinne, die sich unter dem Einfluß der
Erkenntnis gebildet hatte. Sie bleibt nun aber fürs Unbe¬
wußte erhalten, als eine abgesperrte tiefere Schichtung kon¬
stituiert. Der Motor dieser Verdrängung scheint die narzi߬
tische Männlichkeit des Genitales zu sein, die in einen längst
vorbereiteten Konflikt mit der Passivität des homosexuellen
Sexualzieles gerät. Die Verdrängung ist also ein Erfolg der
Männlichkeit.
Man käme in Versuchung, von hier aus ein Stück der
psychoanalytischen Theorie abzuändern. Man glaubt doch mit
Händen zu greifen, daß es der Konflikt zwischen männlichen
und weiblichen Strebungen, also die Bisexualität, ist, aus der
die Verdrängung und Neurosenbildung hervorgeht. Allein diese
Auffassung ist lückenhaft. Von den beiden widerstreitenden
Sexualregungen, ist die eine ichgerecht, die andere beleidigt
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 127
das narzißtische Interesse; sie verfällt darum der Verdrän¬
gung. Es ist auch in diesem Falle das Ich, von dem die ' Ver¬
drängung ins Werk gesetzt wird, zu Gunsten einer der sexuel¬
len Strebungen. In anderen Fällen existiert ein solcher Kon¬
flikt zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit nicht; es ist
nur eine Sexualstrebung da, die Annahme heischt, aber gegen
gewisse Mächte des Ichs verstößt und darum selbst verstoßen
wird. Weit häufiger als Konflikte innerhalb der Sexualität
selbst finden sich ja die anderen vor, die sich zwischen der
Sexualität und den moralischen Ichtendenzen ergeben. Ein
solcher moralischer Konflikt fehlt in unserem Falle. Die Be¬
tonung der Bisexualität als Motiv der Verdrängung wäre also
zu enge; die des Konflikts zwischen Ich und Sexualstrehen
(Libido) deckt alle Vorkommnisse.
Der Lehre vom „männlichen Protest“, wie sie Adler aus-
gebildet hat, ist entgegenzuhalten, daß die Verdrängung
keineswegs immer die Partei der Männlichkeit nimmt und die
Weiblichkeit betrifft; in ganzen großen Klas'sen von Fällen
ist es die Männlichkeit, die sich vom Ich die Verdrängung
gefallen lassen muß.
Eine gerechtere Würdigung des Verdrängungs Vorganges
in unserem Falle würde übrigens der narzißtischen Männlich¬
keit die Bedeutung des einzigen Motivs bestreiten. Die homo¬
sexuelle Einstellung, die während des Traumes zu stände
kommt, ist eine so intensive, daß das Ich des kleinen Men¬
schen an ihrer Bewältigung verzagt und sich durch den Ver¬
drängungsvorgang ihrer erwehrt. Als Helfer bei dieser Ab¬
sicht wird die ihr gegensätzliche narzißtische Männlichkeit
des Genitales herangezogen. Daß alle narzißtischen Regun¬
gen vom Ich aus wirken und beim Ich verbleiben, die Ver¬
drängungen gegen libidinöse Objektbesetzungen gerichtet sind,
128
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
soll nur zur Vermeidung von Mißverständnissen ausgesprochen
werden.
Wenden wir uns von dem Vorgang der Verdrängung, des¬
sen restlose Bewältigung uns vielleicht nicht geglückt ist,
zu dem Zustand, der sich beim Erwachen aus dem Traum
ergibt. Wäre es wirklich die Männlichkeit gewesen, die wäh¬
rend des Triamnvorganges über die Homosexualität (Weib¬
lichkeit) gesiegt hat, so müßten wir nun eine aktive Sexual-
strebung von bereits ausgesprochen männlichem Charakter als
die herrschende finden. Davon ist keine Rede, das Wesent¬
liche der Sexualorganisation hat sich nicht geändert, die
sadistisch-anale Phase setzt ihren Bestand fort, sie ist die
herrschende geblieben. Der Sieg der Männlichkeit zeigt sich
bloß darin, daß nun auf die passiven Sexualziele der herr¬
schenden Organisation (die masochistisch, aber nicht weib¬
lich sind) mit Angst reagiert, wird. Es ist keine sieghafte
männliche Sexualregung vorhanden, sondern nur eine passive
und ein Sträuben gegen dieselbe.
Ich kann mir vorstellen, welche Schwierigkeiten die un¬
gewohnte, . aber unerläßliche scharfe Scheidung von aktiv¬
männlich und passiv-weiblich dem Leser bereitet, und will
darum Wiederholungen nicht vermeiden. Den Zustand nach
dem Traume kann man also in folgender Art beschreiben:
Die Sexualstrebungen sind zerspalten worden, im Unbewu߬
ten ist die Stufe der genitalen Organisation erreicht und eine
sehr intensive Homosexualität konstituiert, darüber bestellt
(virtuell im Bewußten) die frühere sadistische und über¬
wiegend masochistische Sexualströmung, das Ich hat seine
Stellung zur Sexualität im ganzen geändert, es befindet sich
in Sexualablehnung und weist die herrschenden masochisti¬
schen Ziele mit Angst ab, wie es auf die tieferen homosexuel-
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 129
len mit der Bildung einer Phobie reagiert hat. Der Erfolg
des Traumes war also nicht so sehr der Sieg einer männ¬
lichen Strömung, sondern die Reaktion gegen eine feminine
und eine passive. Es wäre gewaltsam, dieser Reaktion den
Charakter der Männlichkeit zuzuschreiben. Das Ich hat eben
keine Sexualstrebungen, sondern nur das Interesse an seiner
SelbstbeWährung und der Erhaltung seines Narzißmus.
Fassen wir nun die Phobie ins Auge. Sie ist auf dem
Niveau der genitalen Organisation entstanden, zeigt uns den
relativ einfachen Mechanismus einer Angsthysterie. Das Ich
schützt sich durch Angstentwicklung vor dem, was es als
übermächtige Gefahr wertet, vor der homosexuellen Befrie¬
digung. Doch hinterläßt der Yerdrängungsvorgang eine nicht
zu übersehende Spur. Das Objekt, an das sich das gefürchtete
Sexualziel geknüpft hat, muß sich vor dem Bewußtsein durch
ein anderes vertreten lassen. Nicht die Angst vor dem Va-
t e r, sondern die vor dem Wolf wird bewußt. Es bleibt auch
nicht bei der Bildung der Phobie mit dem einen Inhalt. Der
Wolf ersetzt sich' eine ganze Weile später durch den Lö¬
wen. Mit den sadistischen Regungen gegen die kleinen Tiere
konkurriert eine Phobie vor ihnen als Vertreter der Neben¬
buhler, der möglichen kleinen Kinder. Besonders interessant
ist die Entstehung der Schmetterlingsphobie. Es ist wie eine
Wiederholung des Mechanismus, der im Traum die Wolfs¬
phobie erzeugt hat. Durch eine zufällige Anregung wird ein
altes Erlebnis aktiviert, die Szene mit Gruscha, deren Ka¬
strationsdrohung nachträglich zur Wirkung kommt, während
sie, als sie vorfiel, ohne Eindruck geblieben war.*)
*) Die Gruscltaszene war, wie erwähnt, eine spontane Erinnerungs-
leistung des Patienten, an welcher eine Konstruktion oder Anregung des
Arztes keinen Anteil hatte: die Lücke in ihr wurde von der Analyse in
Freud, Neurosenlehre. V.
9
130
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Man kann sagen, die Angst, welche in die Bildung dieser
Phobien eingeht, ist Kastrationsangst. Diese Aussage enthält
keinen Widerspruch gegen die Auffassung, die Angst sei aus
der Verdrängung homosexueller Libido hervorgegangen. In bei¬
den Ausdrucksweisen meint man den nämlichen Vorgang, daß
das Ich der homosexuellen Wunschregung Libido entzieht,
welche in freischwebende Angst umgesetzt wird, sich dann
in Phobien binden läßt. In der ersten Ausdrucksweise hat man
nur das Motiv, welches das Ich treibt, mitbezeichnet.
Bei näherem Zusehen findet man nun, daß diese erste Er¬
krankung unseres Patienten (von der Eßstörung abzusehen)
durch das Herausgreifen der Phobie nicht erschöpft wird, son¬
dern als eine echte Hysterie verstanden werden muß, der ne¬
ben Angstsymptomen auch Konversionserscheinungen zukom¬
men. Ein Anteil der homosexuellen Begung wird in dem bei
ihr beteiligten Organ festgehalten; der Darm benimmt sich
von da an und ebenso in der Spätzeit wie ein hysterisch affi-
einer Weise ausgefüllt, die tadellos genannt werden muß, wenn man auf
die Arbeitsweise der Analyse überhaupt Wert legt. Eine rationalistische
Aufklärung dieser Phobie könnte nur sagen: Es sei nichts Ungewöhnliches,
daß ein zur Ängstlichkeit disponiertes Kind auch einmal vor einem gelb¬
streifigen Schmetterling einen -Angstanfall bekomme, wahrscheinlich in¬
folge einer ererbten Angstneigung. (Vgl. Stanley Hall, A synthetie genetic
study of fear. Amer. J. of Psychology ASt, 1914.) In Unwissenheit dieser
Ursache suche es nun nach einer Kindheitsanknüpfung für diese Angst und
benütze den Zufall der Namensgleichheit und der Wiederkehr der Streifen,
um sich die Phantasie eines Abenteuers mit dem noch erinnerten Kinder¬
mädchen zu konstruieren. Wenn aber die Nebensachen der an sich harm¬
losen Begebenheit, Aufwaschen, Kübel, Besen im späteren Leben die Macht
zeigen, dauernd und zwanghaft die Objektwahl des Menschen zu bestimmen,
so fällt der Schmetterlingsphobie eine unbegreifliche Bedeutung zu. Der
Sachverhalt wird mindestens ebenso merkwürdig wie der von mir behaup¬
tete, und der Gewinn aus der rationalistischen Auffassung dieser Szenen
ist zerronnen. Die Gruschaszene wird uns also besonders wertvoll, da wir
an ihr unser Urteil über die minder gesicherte Urszcne vorbereiten können.
I. AUS DER GrESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 131
ziertes Organ. Die unbewußte, verdrängte Homosexualität hat
sich in den Darm zurückgezogen. Gerade dieses Stück Hy¬
sterie hat dann bei der Lösung des späteren Krankseins die
besten Dienste geleistet.
Nun soll es uns auch nicht am Mute mangeln, die noch
komplizierteren Verhältnisse der Zwangsneurose in Angriff
zu nehmen. Halten wir uns nochmals die Situation vor: eine
herrschende masochistische und eine verdrängte homosexuelle
Sexualströmung, dagegen ein in hysterischer Ablehnung befan¬
genes Ich; welche Vorgänge wandeln diesen Zustand in den
der Zwangsneurose um?
Die Verwandlung geschieht nicht spontan, durch innere
Fortentwicklung, sondern durch fremden Einfluß von außen.
Ihr sichtbarster Erfolg ist, daß das im Vordergrund stehende
Verhältnis zum Vater, welches bisher in der Wolfsphobie Aus¬
druck gefunden hatte, sich nun in Zwangsfrömmigkeit äußert
Ich kann es nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß der
Vorgang bei diesem Patienten eine unzweideutige Bestätigung
einer Behauptung liefert, die ich in „Totem und Tabu“ über
das Verhältnis des Totemtieres zur Gottheit aufgestellt habe.*)
Ich entschied mich dort dafür, daß die Gottesvorstellung nicht
eine Fortentwicklung des Totem sei, sondern sich unabhängig
von ihm aus der gemeinsamen Wurzel beider zu seiner Ab¬
lösung erhebe. Der Totem sei der erste Vaterersatz, der Gott
aber ein späterer, in dem der, Vater seine menschliche Ge¬
stalt wiedergewinne. So finden wir es auch bei unserem Pa¬
tienten. Er macht in der Wolfsphobie das Studium des totemi-
stischen Vaterersatzes durch, welches nun abbricht und in¬
folge neuer Relationen zwischen ihm und dem Vater durch
eine Pha.se von religiöser Frömmigkeit ersetzt wird.
*) Totem und Tabu, p. 137, 1913.
9*
132
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Der Einfluß, welcher diese Wandlung liervorruft, ist die
durch die Mutter vermittelte Bekanntschaft mit den Lehren
der Religion und mit der heiligen Geschichte. Das Ergebnis
wird das von der Erziehung gewünschte. Der sadistisch¬
masochistischen Sexualorganisation wird ein langsames Ende
bereitet, die Wolfsphobie verschwindet rasch, an Stelle der
Angstablehnung der Sexualität tritt eine höhere Form der
Unterdrückung derselben. Die Frömmigkeit wird zur herr¬
schenden Macht im Leben des Kindes. Allein diese Über¬
windungen gehen nicht ohne Kämpfe vor sich, als deren Zei¬
chen die blasphemischen Gedanken erscheinen, und als de¬
ren Folge eine zwanghafte Übertreibung des religiösen Zere¬
moniells sich festsetzt.
Wenn wir von diesen pathologischen Phänomenen ab-
sehen, können wir sagen, die Religion hat in diesem Falle alles
das geleistet, wofür sie in der Erziehung des Individuums ein¬
gesetzt wird. Sie hat seine Sexualstrebungen gebändigt, in¬
dem sie ihnen eine Sublimierung und feste Verankerung bot,
seine familiären Beziehungen entwertet und damit einer
drohenden Isolierung vorgebeugt, dadurch daß sie ihm den
Anschluß an die große Gemeinschaft der Menschen eröffnete.
Das wilde, verängstigte Kind wurde sozial, gesittet und er¬
ziehbar - .
Der Hauptmotor des religiösen Einflusses war die Iden¬
tifizierung mit der Christusgestalt, die ihm durch die Zu¬
fälligkeit seines Geburtsdatums besonders nahe gelegt war.
Hier fand die übergroße Liebe zum Vater, welche die Ver¬
drängung notwendig gemacht hatte, endlich einen Ausweg
in eine ideale Sublimierung. Als Christus durfte man den Va¬
ter, der nun Gott hieß, mit einer Inbrunst lieben, die beim
irdischen Vater vergeblich nach Entladung gesucht hatte. Die
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 133
Wege, a.uf denen man diese Liebe bezeugen konnte, waren
von der Religion angezeigt, an ihnen haftete auch nicht das
Schuldbewußtsein, das sich von den individuellen Liebes-
strebungen nicht ablösen ließ. Wenn so die tiefste, bereits
als unbewußte -Homosexualität niedergeschlagene Sexual¬
strömung noch (trainiert werden konnte, so fand die oberfläch¬
lichere masochistische Strebung eine unvergleichliche Subli¬
mierung ohne viel Verzicht in der Leidensgeschichte Christi,
der sich im Aufträge und zu Ehren d.es göttlichen Vaters hatte
mißhandeln und opfern lassen. So tat die Religion ihr Werk
bei dem kleinen Entgleisten durch die Mischung von Be¬
friedigung, Sublimierung, Ablenkung vom Sinnlichen auf rein
geistige Prozesse, und die Eröffnung sozialer Beziehungen,
die sie dem Gläubigen bietet.
Sein anfängliches Sträuben gegen die Religion hatte drei
verschiedene Ausgangspunkte. Erstens war es überhaupt, wo¬
von wir schon Beispiele gesehen haben, seine Art, alle Neu¬
heiten abzuwehren. Er verteidigte jede einmal eingenommene
Libidoposition in der Angst vor dem Verlust bei ihrem Auf-
geben und im Mißtrauen gegen die Wahrscheinlichkeit eines
vollen Ersatzes durch die neu zu beziehende. Es ist das eine
wichtige und fundamentale psychologische Besonderheit, die
ich in den drei Abhandlungen zur Sexualtheorie als Fähig¬
keit zur Fixierung aufgestellt habe. Jung hat sie unter
dem. Namen der psychischen „Trägheit“ zur Hauptverursachung
aller Mißerfolge der Neurotiker machen wollen. Ich glaube,
mit Unrecht, sie reicht viel weiter hinaus und spielt auch
im Leben nicht Nervöser ihre bedeutsame Rolle. Die Leicht¬
beweglichkeit oder Schwerflüssigkeit der libidinöaen, und
ebenso der andersartigen Energiebesetzungen ist ein beson¬
derer Charakter, der vielen Normalen und nicht einmal allen
134
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Nervösen eignet, und der bisher noch nicht in Zusammenhang
mit anderem gebracht ist, etwas wie eine Primzahl nicht wei¬
ter zerteilbares. Wir wissen nur das eine, daß die Eigenschaft
der Beweglichkeit psychischer Besetzungen mit dem Lebens¬
alter auffällig zurückgeht. Sie hat uns eine der Indikationen
für die Grenzen der psychoanalytischen Beeinflussung ge¬
liefert. Es gibt aber Personen, bei denen diese psychische Pla¬
stizität weit über die gewöhnliche Altersgrenze hinaus be-
. stehen bleibt, und andere, bei denen sie sehr frühzeitig ver¬
loren geht. Sind es Neurotiker, so macht man mit Unbe¬
hagen die Entdeckung, daß unter scheinbar gleichen Verhält¬
nissen bei ihnen Veränderungen nicht rückgängig zu machen
sind, die man bei anderen mit Leichtigkeit bewältigt hat. Es
ist also auch bei den Umsetzungen psychischer Vorgänge der
Begriff einer Entropie in Betracht zu ziehen, deren Maß
sich einer Rückbildung des Geschehenen widersetzt.
Einen zweiten Angriffspunkt bot ihm die Tatsache, daß
die Religionslehre selbst kein eindeutiges Verhältnis zu Gott —
Vater zu ihrer Grundlage hat, sondern von den Anzeichen der
ambivalenten Einstellung durchsetzt ist, welche über ihrer
Entstehung gewaltet hat. Diese Ambivalenz spürte er mit der
hochentwickelten eigenen heraus und knüpfte an sie jene
scharfsinnige Kritik, welche uns von einem Kinde im fünf¬
ten Lebensjahr so sehr Wunder nehmen mußte. Am bedeut¬
samsten war aber gewiß ein drittes Moment, auf dessen Wir¬
kung vir die pathologischen Ergebnisse seines Kampfes ge¬
gen die Religion zurückführen dürfen. Die zum Manne drän¬
gende Strömung, welche von der Religion sublimiert werden
sollte, war ja nicht mehr frei, sondern zum Teil durch Ver¬
drängung abgesondert und damit der Sublimierung entzogen,
an ihr ursprüngliches sexuelles Ziel gebunden. Kraft dieses
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 135
Zusammenhanges strebte der verdrängte Anteil sich den Weg
zum sublimierten Anteil zu bahnen oder ihn zu sich herab¬
zuziehen. Die ersten Grübeleien, die die Person Christi um¬
spannen. enthielten bereits die Frage, ob dieser sublime Sohn
auch das im Unbewußten festgehaltene sexuelle Verhältnis
zum Vater erfüllen könne. Die Abweisungen dieses Bestrebens
hatten keinen anderen Erfolg, als scheinbar blasphemische
Zwangsgedanken entstehen zu lassen, in denen sich die kör¬
perliche Zärtlichkeit für Gott in der Form seiner Erniedrigung
durchsetzte. Ein heftiger Abwehrkampf gegen diese Kom¬
promißbildungen mußte dann zur zwanghaften Übertreibung
aller der Tätigkeiten führen, in denen die Frömmigkeit, die
reine Liebe zu Gott, ihren vorgezeichneten Ausweg fand. End¬
lich hatte die Religion gesiegt, aber ihre triebhafte Fundierung
erwies sich unvergleichlich stärker als die Haftbarkeit ihrer
Sublimierungsprodukte. Sowie das Leben einen neuen Vater¬
ersatz brachte, dessen Einfluß sich gegen die Religion rich¬
tete, wurde sie fallen gelassen und durch anderes ersetzt. Ge¬
denken wir noch der interessanten Komplikation, daß die
Frömmigkeit unter dem Einfluß von Frauen entstand (Mut¬
ter und Kinderfrau), während männlicher Einfluß die Be¬
freiung von ihr ermöglichte.
Die Entstehung der Zwangsneurose auf dem Boden der
sadistisch-analen Sexualorganisation bestätigt im ganzen, was
ich an anderer Stelle „über die Disposition zur Zwangs-
neurose“'*) ausgeführt habe. Aber der vorherige Bestand einer
starken Hysterie macht unseren Fall in dieser Hinsicht un¬
durchsichtiger. Ich will die Übersicht über die Sexualentwick¬
lung unseres Kranken beschließen, indem ich ein kurzes Streif-
*) Internat. Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, I. Band, 1913,
S. 525 ff. (Diese Sammlung III.)
136
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. ~V.
licht auf deren spätere Wandlungen werfe. Mit den Pubertäts¬
jahren trat bei ihm die normal zu nennende, stark sinnliche,
männliche Strömung mit dem Sexualziel der Genitalorgani¬
sation auf, deren Schicksale die Zeit bis zu seiner Spät-
erkrankung füllen. S.ie knüpfte direkt an die Gruschaszene an,
entlehnte von ihr den Charakter zwanghafter, anfallsweise
kommender und schwindender Verliebtheit und hatte mit den
Hemmungen zu kämpfen, die von den Resten der infantilen
Neurosen ausgingen. Mit einem gewaltsamen Durchbruch zum
Weib hatte er sich endlich die volle Männlichkeit erkämpft;
dies Sexualobjekt wurde von nun an’ festgehalten, aber er
wurde des Besitzes nicht froh, denn eine starke, nun völlig
unbewußte Hinneigung zum Manne, die alle Kräfte der früheren
Phasen in sich vereinigte, zog ihn immer wieder vom weib¬
lichen Objekt ab und nötigte ihn, in den Zwischenzeiten die
Abhängigkeit vom Weib zu übertreiben. Er legte der Kur die
Klage vor, daß er es beim Weibe nicht aushalten könne, und
alle Arbeit richtete sich darauf, sein ihm unbewußtes Ver¬
hältnis zum Manne aufzuclecken. Seine Kindheit war, um es
formelhaft zusammenzufassen, durch das Schwanken zwischen
Aktivität und Passivität ausgezeichnet gewesen, seine Puber¬
tätszeit durch das Ringen um die Männlichkeit, und die Zeit
von seiner Erkrankung an durch den Kampf um das Objekt
der männlichen Strebung. Der Anlaß seiner Erkrankung fällt
nicht unter die „neurotischen Erkrankungstypen ‘, die ich als
Spezialfälle der „Versagung“ zusammenfassen konnte,*) und
macht so auf eine Lücke in dieser Reihenbildung aufmerk¬
sam. Er brach zusammen, als eine organische Affektion des
Genitales seine Kastrationsangst aufleben machte, seinem
Narzißmus Abbruch tat und ihn zwang, die Erwartung einer
*) Zentralblatt für Psychoanalyse, II, 6, 1912.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 137
persönlichen Bevorzugung durch das Schicksal aufzugeben.
Er erkrankte also an einer narzißtischen „Versagung“. Diese
Überstärke seines Narzißmus stand in vollem Einklang mit
den anderen Anzeichen einer gehemmten Sexualentwicklung,
daß seine heterosexuelle Liebeswahl bei aller Energie so
wenig psychische Strebungen in sich konzentrierte, und da,ß
die homosexuelle Einstellung, die dem Narzißmus um so vieles
näher liegt, sich als unbewußte Macht bei ihm mit solcher
Zähigkeit behauptet hatte. Natürlich kann die psychoanaly¬
tische Kur bei solchen Störungen nicht einen momentanen
Umschwung und eine Gleichstellung mit einer normalen Ent¬
wicklung herbeiführen, sondern nur die Hindernisse beseitigen
und die Wege gangbar machen, damit die Einflüsse des Le¬
bens die Entwicklung nach den besseren Richtungen durch¬
setzen können.
Als Besonderheiten seines psychischen Wesens, die von
der psychoanalytischen Kur aufgedeckt, aber nicht weiter auf¬
geklärt und dementsprechend auch nicht unmittelbar be¬
einflußt werden konnten, stelle ich zusammen: die bereits be¬
sprochene Zähigkeit der Eixierung, die außerordentliche Aus¬
bildung der Ambivalenzneigung, und als dritten Zug einer
archaisch zu nennenden Konstitution die Fähigkeit, die ver¬
schiedenartigsten und widersprechendsten libidinösen Beset¬
zungen alle nebeneinander funktionsfähig zu erhalten. Das
beständige Schwanken zwischen denselben, durch welches Er¬
ledigung und Fortschritt lange Zeit ausgeschlossen erschienen,
beherrschten das Krankheitsbild der Spätzeit, das ich ja hier
nur streifen konnte._ Ohne allen Zweifel war dies ein Zug
aus der Charakteristik des Unbewußten, der sich bei ihm in
die bewußt gewordenen Vorgänge fortgesetzt hatte; aber er
zeigte sich nur an den Ergebnissen affektiver Regungen, auf
138
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
rein logischen Gebieten bewies er vielmehr ein besonderes Ge¬
schick in der Aufspürung von Widersprüchen und Unverträg¬
lichkeiten. So empfing man von seinem Seelenleben einen Ein¬
druck, wie ihn die altägyptische Religion macht, die dadurch
für uns so unvorstellbar wird, daß sie die Entwicklungsstufen
neben den Endprodukten konserviert, die ältesten Götter und
Gottesbedeutungen wie die jüngsten fortsetzt, in eine Fläche
ausbreitet, was in anderen Entwicklungen zu einem Tiefen¬
gebilde wird.
Ich habe nun zu Ende gebracht, was ich über diesen
Krankheitsfall mitteilen wollte. Nur noch zwei der zahlreichen
Probleme, die er anregt, scheinen mir einer besonderen Her¬
vorhebung würdig. Das erste betrifft die phylogenetisch mit¬
gebrachten Schemata, die wie philosophische „Kategorien“ die
Unterbringung der Lebenseindrücke besorgen. Ich möchte die
Auffassung vertreten, sie seien Niederschläge der menschlichen
Kulturgeschichte. Der Ödipuskomplex, der die Beziehung des
Kindes zu den Eltern umfaßt, gehört zu ihnen, ist vielmehr
das bestgekannte Beispiel dieser Art. Wo die Erlebnisse sich
dem hereditären Schema nicht fügen, kommt es zu einer Um¬
arbeitung derselben in der Phantasie, deren Werk im ein¬
zelnen zu verfolgen, gewiß nutzbringend wäre. Gerade diese
Fälle sind geeignet, uns die selbständige Existenz des Schemas
zu erweisen. Wir können oft bemerken, daß das Schema über
das individuelle Erleben siegt, so wenn in unserem Falle der
Vater zum Kastrator und Bedrolier der kindlichen Sexualität
wird, trotz eines sonst negativen Ödipuskomplexes. Eine an¬
dere Wirkung ist es, w^enn die Amme an die Stelle der Mut¬
ter tritt oder mit ihr verschmolzen wird. Die Widersprüche
des Erlebens gegen das Schema scheinen den infantilen Kon¬
flikten reichlichen Stoff zuzuführen.
I. AUS DER GESCHICHTE EINER INFANTILEN NEUROSE. 139
Das zweite Problem liegt von diesem nicht fernab, es ist
aber ungleich bedeutsamer. Wenn man das Verhalten des vier¬
jährigen Kindes gegen die reaktivierte Urszene in Betracht
zieht,*) ja wenn man nur an die weit einfacheren Reaktionen
des l 1 / 2 jährigen Kindes beim Erleben dieser Szene denkt, kann
man die Auffassung schwer von sich weisen, daß eine Art von
schwer bestimmbarem Wissen, etwas wie eine Vorbereitung
zum Verständnis, beim Kinde dabei mitwirkt.**) Worin dies
bestehen mag, entzieht sich jeder Vorstellung; wir haben nur
die eine ausgezeichnete Analogie mit dem weitgehenden in¬
stinktiven Wissen der Tiere zur Verfügung.
Gäbe es einen solchen instinktiven Besitz auch beim
Menschen, so wäre es nicht zu verwundern, wenn er die Vor¬
gänge des Sexuallebens ganz besonders beträfe, wenngleich
er auf sie keineswegs beschränkt sein kann. Dieses Instinktive
wäre der Kern des Unbewußten, eine primitive G-eisteStätig¬
keit, die später durch die zu erwerbende Menschheitsvernunft
entthront und überlagert wird, aber so oft, vielleicht bei allen,
die Kraft behält, höhere seelische Vorgänge zu sich herab¬
zuziehen. Die Verdrängung wäre die Rückkehr zu dieser in¬
stinktiven Stufe, und der Mensch würde so mit seiner Fähig¬
keit zur Neurose seine große Neuerwerbung bezahlen und durch
die Möglichkeit der Neurosen die Existenz der früheren in¬
stinktartigen Vorstufe bezeugen. Die Bedeutung der frühen
Kindheitstraumen läge aber darin, daß sie diesem Unbewußten
*) Ich darf davon absehen, daß dies Verhalten erst zwei Dezennien
späber in Worbe gefaßt werden konnte, denn alle Wirkungen, die wir von
der Szene ableiten, haben sich ja in Form von Symptomen, Zwängen usw.
bereits in der Kindheit und lange vor der Analyse geäußert. Dabei ist es
gleichgültig, ob man sie als Urszene oder als UrphJantasie gelten lassen will.
**) Von neuem muß ich betonen, daß diese Überlegungen müßig wären,
wenn Traum und Neurose nicht der Kindheitszeit selbst angehörten.
140
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. Y.
einen Stoff zuführen, der es gegen die Aufzehrung durch die
nachfolgende Entwicklung schützt.
Ich weiß, daß ähnliche Gedanken, die das hereditäre,
phylogenetisch erworbene Moment im Seelenleben betonen,
von verschiedenen Seiten ausgesprochen worden sind, ja ich
meine, daß man allzu bereit war, ihnen einen Platz in der
psychoanalytischen Würdigung einzuräumen. Sie erscheinen
mir erst zulässig, wenn die Psychoanalyse in Einhaltung des
korrekten Instanzenzuges auf die Spuren des Ererbten gerät,
nachdem sie durch die Schichtung des individuell Erworbenen
hindurchgedrungen ist.
II.
ZUR VORGESCHICHTE
DER ANALYTISCHEN TECHNIK.*)
In einem neuen Buche von Havelock Ellis, dem hoch¬
verdienten Sexualforscher und vornehmen Kritiker der Psycho¬
analyse, betitelt „The Philosophy of Conflict and other essays
in war-time, second series“, London 1919, ist ein Aufsatz:
„Psycho-Analysis in relation to sex“ enthalten, der sich nach¬
zuweisen bemüht, daß das Werk des Schöpfers der Analyse
nicht als ein Stück wissenschaftlicher Arbeit, sondern als
eine künstlerische Leistung gewertet werden sollte. Ls liegt
uns nahe, in dieser Auffassung eine neue Wendung des Wider¬
standes und eine Ablehnung der Analyse zu sehen, wenn¬
gleich sie in liebenswürdiger, ja in allzu schmeichelhafter
Weise verkleidet ist. Wir sind geneigt, ihr aufs entschie¬
denste zu widersprechen.
Doch nicht solcher Widerspruch ist das Motiv unserer
Beschäftigung mit dem Essay von Havelock Ellis, son¬
dern die Tatsache, daß er durch seine große Belesenheit in
die Lage gekommen ist, einen Autor anzuführen, der die freie
Assoziation als Technik geübt und empfohlen hat, wenngleich
zu anderen Zwecken, und somit ein Recht hat, in dieser
Hinsicht als Vorläufer der Psychoanalytiker genannt zu wer¬
den. „Im Jahre 1857“, schreibt Havelock Ellis, „ver-
*) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, VI. 1920.
142
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
öffentlichte Dr. J. J. G a r t h W i 1 k i n s o n, besser bekannt
als Dichter und Mystiker von der Richtung Swedenborgs
denn als Arzt, einen Band mystischer Gedichte in Knüttel¬
versen, durch eine angeblich neue Methode, die er ,Impression*
nennt, hervorgebracht.“ „Man wählt ein Thema“, sagt er,
„oder schreibt es nieder; sobald dies geschehen ist, darf
man den ersten Einfall (impression upon the mind), der sich
nach der Niederschrift des Titels ergibt, als den Beginn der
Ausarbeitung des Themas betrachten, gleichgültig wie son¬
derbar oder nicht dazu gehörig das betreffende Wort oder
der Satz erscheinen mag.“ „Die erste Regung des Geistes,
das erste Wort, das sich einstellt, ist der Erfolg des Be¬
strebens, sich in das gegebene Thema zu vertiefen.“ Man*
setzt das Verfahren in konsequenter Weise fort, und Garth
Wilkinson sagt: „Ich habe immer gefunden, daß es wie
infolge eines untrüglichen Instinkts ins Innere der Sache
führt.“ Diese Technik entsprach nach Wilkinsons Ansicht
einem aufs höchste gesteigerten Sich-gehen-lassen, einer Auf¬
forderung an die tiefstliegenden unbewußten Regungen, sich
zur Äußerung zu bringen. Wille und Überlegung, mahnte er,
sind beiseite zu lassen; man vertraut sich der Eingebung
(influx) an und kann dabei finden, daß sich die geistigen
Eähigkeiten auf unbekannte Ziele einstellen.“
„Man darf nicht außer acht lassen, daß Wilkinson,
obwohl er Arzt war, diese Technik zu religiösen und lite¬
rarischen, niemals zu ärztlichen oder wissenschaftlichen
Zwecken in Anwendung zog, aber es ist leicht einzusehen,
daß es im wesentlichen die psychoanalytische Technik ist,
die hier die eigene Person zum Objekt nimmt, ein Beweis
mehr dafür, daß das Verfahren Freuds das eines Künstlers
(artist) ist.“
II. ZUR VORGESCHICHTE DER ANALYTISCHEN TECHNIK. 143
Kenner der psychoanalytischen Literatur werden sich
hier jener schönen Stelle im Briefwechsel Schillers mit
Körner erinnern*), in welcher der große Dichter und Denker
(1788) demjenigen, der produktiv sein möchte, die Beachtung
des freien Einfalls empfiehlt. Es ist zu vermuten, daß die
angeblich neue Wilkinsonsehe Technik bereits vielen an¬
deren vorgeschwebt hat, und ihre systematische Anwendung
in der Psychoanalyse wird uns nicht so sehr als Beweis für
die künstlerische Artung Ereuds erscheinen, wie als Kon¬
sequenz seiner nach Art eines Vorurteils festgehaltenen Über¬
zeugung von der durchgängigen Determinierung alles seeli¬
schen Geschehens. Die Zugehörigkeit des freien Einfalles zum
fixierten Thema ergab sich dann als die nächste und wahr¬
scheinlichste- Möglichkeit, welche auch durch die Erfahrung
in der Analyse bestätigt wird, insofern nicht übergroße Wider¬
stände den vermuteten Zusammenhang unkenntlich machen.
Indes clarf man es als sicher annehmen, daß weder
Schiller noch Garth Wilkinson auf die Wahl der
psychoanalytischen Technik Einfluß geübt haben. Mehr per¬
sönliche Beziehung scheint sich von einer anderen Seite her
anzudeuten.
Vor kurzem machte Dr. Hugo Dubowitz in Budapest
Dr. Eerenczi auf einen kleinen, nur 4i/ 2 Seiten umfassenden
Aufsatz von Ludwig Börne aufmerksam, der, 1823 verfaßt,
im ersten Band seiner Gesammelten Schriften (Ausgabe von
1862) abgedruckt ist. Er ist betitelt: ,,Die Kunst, in drei
Tagen ein Originalschriftsteller zu werden“ und trägt die be¬
kannten Eigentümlichkeiten des Jean Paul sehen Stils, dem
Börne damals huldigte, an sich. Er schließt mit den Sätzen:
*) Entdeckt von O. Rank und zitiert in der Traumdeutung, 5. Auf¬
lage, 1919, Seite 12.
144
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
„Und hier folgt die versprochene Nutzanwendung. Nehmt
einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander,
ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den
Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von
euren Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, von Fonks
Kriminalprozeß, vom jüngsten Gericht, von euern Vorgesetzten
•— und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwun¬
derung, was ihr für neue unerhörte Gedanken gehabt, ganz
außer euch kommen. Das ist die Kunst, in drei Tagen ein
Originalschriftsteller zu werden!“
Als Prof. Freud veranlaßt wurde, diesen Börne sehen
Aufsatz zu lesen, machte er eine Reihe von Angaben, die für
die hier berührte Frage nach der Vorgeschichte der psycho¬
analytischen Einfallsverwertung bedeutungsvoll sein können.
Er erzählte, daß er Börnes Werke im 14. Jahr zum Ge¬
schenk bekommen habe und dieses Buch heute, 50 Jahre
■»
später, noch immer als das einzige aus seiner Jugendzeit be¬
sitze. Dieser Schriftsteller sei der erste gewesen, in dessen
Schriften er sich vertieft habe. An den in Rede stehenden
Aufsatz könne er sich nicht erinnern, aber andere, in den¬
selben Band aufgenommene, wie die Denkrede auf Jean Paul,
Der Eßkünstler, Der Narr im weißen Schwan, seien durch
lange Jahre ohne ersichtlichen Grund immer wieder in seiner
Erinnerung aufgetaucht. Er war besonders erstaunt, in der
Anweisung zum Originalschriftsteller einige Gedanken aus¬
gesprochen zu finden, die er selbst immer gehegt und ver¬
treten habe, z. B.: „Eine schimpfliche Feigheit zu denken,
hält uns alle zurück. Drückender als die Zensur der Regie¬
rungen ist die Zensur, welche die öffentliche Meinung über
unsere Geisteswerke ausübt. 1 ' (Hier findet sich übrigens die
„Zensur“ erwähnt, die in der Psychoanalyse als Traumzensur
II. ZUR VORGESCHICHTE DER ANALYTISCHEN TECHNIK. 145
wiedergekommen ist ... .) „Nicht an Geist, an Charakter
mangelt- es den meisten Schriftstellern, um besser zu sein,
als sie sind .... Aufrichtigkeit ist die Quelle aller Genia¬
lität, und die Menschen wären geistreicher, wenn sie sitt¬
licher wären. . . .
Es scheint uns also nicht ausgeschlossen, daß dieser Hin¬
weis vielleicht jenes Stück Kryptomnesie aufgedeckt hat, das
in so vielen Eällen hinter einer anscheinenden Originalität
vermutet werden darf.
Freud, Neurosenlehre. V.
10
III.
WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE.*)
(Rede, gehalten auf dem V. psychoanalytischen Kongreß in Budapest,
September 1918.)
Meine Herren Kollegen!
Sie wissen, wir waren nie stolz auf die Vollständigkeit
und Abgeschlossenheit unseres Wissens und Könnens; wir
sind, wie früher so auch jetzt, immer bereit, die Unvoll¬
kommenheiten unserer Erkenntnis zuzugeben, Neues dazuzu¬
lernen und an unserem Vorgehen abzuändern, was sich durch
Besseres ersetzen läßt.
Da wir nun nach langen, schwer durchlebten Jahren der
Trennung wieder einmal zusammengetroffen sind, reizt es
mich, den Stand unserer Therapie zu revidieren, der wir ja
unsere Stellung in der menschlichen Gesellschaft danken, und
Ausschau zu halten, nach welchen neuen Richtungen sie sich
entwickeln könnte.
Wir haben als unsere ärztliche Aufgabe formuliert, den
neurotisch Kranken zur Kenntnis der in ihm bestehenden
unbewußten, verdrängten Regungen zu bringen und zu diesem
Zwecke die Widerstände aufzudecken, die sich in ihm gegen
solche Erweiterung seines Wissens von der eigenen Person
sträuben. Wird mit der Aufdeckung dieser Widerstände auch
deren Überwindung gewährleistet? Gewiß nicht immer, aber
*) International© Zeitschrift für ärztlich© Psychoanalyse, V. 1919.
III. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE.
147
wir hoffen, dieses Ziel zu erreichen, indem wir seine Über¬
tragung auf die Person des Arztes ausnützen, um unsere
Überzeugung von der Unzweckmäßigkeit der in der Kind¬
heit vorgefallenen Verdrängungs Vorgänge und von der Un¬
durchführbarkeit eines Lebens nach dem Lustprinzip zu der
seinigen werden zu lassen. Die dynamischen Verhältnisse des
neuen Konflikts, durch den wir den Kranken führen, den
wir an die Stelle des früheren Krankheitskonflikts bei ihm
gesetzt haben, sind von mir an anderer Stelle klargelegt wor¬
den. Daran weiß ich derzeit nichts zu ändern.
Die Arbeit, durch welche wir dem Kranken das ver¬
drängte Seelische in ihm zum Bewußtsein bringen, haben wir
Psychoanalyse genannt. Warum „Analyse“, was Zerlegung,
Zersetzung bedeutet und an eine Analogie mit der Arbeit des
Chemikers an den Stoffen denken läßt, die er in der Natur
vorfindet und in sein Laboratorium bringt? Weil eine solche
Analogie in einem wichtigen Punkte wirklich besteht. Die
Symptome und krankhaften Äußerungen des Patienten sind
wie alle seine seelischen Tätigkeiten hochzusammengesetzter
Natur; die Elemente dieser Zusammensetzung sind im letzten
Grunde Motive, Triebregungen. Aber der Kranke weiß von
diesen elementaren Motiven nichts oder nur sehr Ungenügen¬
des. Wir lehren ihn nun die Zusammensetzung dieser hoch¬
komplizierten seelischen Bildungen verstehen, führen die
Symptome auf die sie motivierenden Triebregungen zurück,
weisen diese dem Kranken bisher unbekannten Triebmotive
in den Symptomen nach, wie der Chemiker den Grundstoff,
das chemische Element, aus dem Salz ausscheidet, in dem
es in Verbindung mit anderen Elementen unkenntlich ge¬
worden war. Und ebenso zeigen wir dem Kranken an seinen
nicht für krankhaft gehaltenen seelischen Äußerungen, daß
10 *
148
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
ihm deren Motivierung nur unvollkommen bewußt war, daß
andere Triebmotive bei ihnen mitgewirkt haben, die ihm un¬
erkannt geblieben sind.
Auch das Sexualstreben der Menschen, haben wir er¬
klärt, indem wir es in seine Komponenten zerlegten, und
wenn wir einen Traum deuten, gehen wir so vor, daß wir
den Traum als Ganzes vernachlässigen und die Assoziation
an seine einzelnen Elemente anknüpfen.
Aus diesem berechtigten Vergleich der ärztlichen psycho¬
analytischen Tätigkeit mit einer chemischen Arbeit könnte
sich nun eine Anregung zu einer neuen Richtung unserer
Therapie ergeben. Wir haben den Kranken analysiert,
das heißt seine Seelentätigkeit in ihre elementaren Bestand¬
teile zerlegt, diese Triebelemente einzeln und isoliert in ihm
aufgezeigt; was läge nun näher als zu fordern, daß wir ihm
auch bei einer neuen und besseren Zusammensetzung derselben
behilflich sein müssen? Sie wissen, diese Forderung ist auch
wirklich erhoben worden. Wir haben gehört: Nach der Ana¬
lyse des kranken Seelenlebens muß die Synthese desselben
folgen! Und bald hat sich daran auch die Besorgnis ge¬
knüpft, man könnte zu viel Analyse und zu wenig Synthese
geben, und das Bestreben, das Hauptgewicht der psycho¬
therapeutischen Einwirkung auf diese Synthese, eine Art
Wiederherstellung des gleichsam durch die Vivisektion Zer¬
störten zu verlegen.
Ich kann aber nicht glauben, meine Herren, daß uns
in dieser Psychosynthese eine neue Aufgabe zuwächst. Wollte
ich mir gestatten, aufrichtig und unhöflich zu sein, so würde
ich sagen, es handelt sich da um eine gedankenlose Phrase.
Ich bescheide mich zu bemerken, daß nur eine inhaltsleere
Uberdehnung eines Vergleiches, oder, wenn Sie wollen, eine
III. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE.
149
unberechtigte Ausbeutung einer Namengebung vorliegt. Aber
ein Name ist nur eine Etikette, zur Unterscheidung von an¬
derem, ähnlichem, angebracht, kein Programm, keine Inhalts¬
angabe oder Definition. Und ein Vergleich braucht das Ver¬
glichene nur an einem Punkte zu tangieren und kann sich
in allen anderen weit von ihm entfernen. Das Psychische
ist etwas so einzig Besonderes, daß kein vereinzelter Ver¬
gleich seine Natur wiedergeben kann. Die psychoanalytische
Arbeit bietet Analogien mit der chemischen Analyse, aber
eben solche mit dem Eingreifen des Chirurgen oder der Ein¬
wirkung des Orthopäden oder der Beeinflussung des Er¬
ziehers. Der Vergleich mit der chemischen Analyse findet
seine Begrenzung darin, daß wir es im Seelenleben mit Stre¬
bungen zu tun haben, die' einem Zwang zur Vereinheitlichung
und Zusammenfassung unterliegen. Ist es uns gelungen, ein
Symptom zu zersetzen, eine Triebregung aus einem Zusammen¬
hänge zu befreien, so bleibt sie nicht isoliert, sondern tritt
sofort in einen neuen ein*).
Ja im Gegenteil! Der neurotisch Kranke bringt uns ein
zerissenes, durch Widerstände zerklüftetes Seelenleben ent¬
gegen, und während wir daran analysieren, die Widerstände
beseitigen, wächst dieses Seelenleben zusammen, fügt die
große Einheit, die wir sein Ich heißen, sich alle die Trieb¬
regungen ein, die bisher von ihm abgespalten und abseits
gebunden waren. So vollzieht sich bei dem analytisch Be¬
handelten die Psychosynthese ohne unser Eingreifen, auto¬
matisch und unausweichlich. Durch die Zersetzung der Sym-
*) Ereignet sich doch während der chemischen Analyse etwas ganz
Ähnliches. Gleichzeitig mit den Isolierungen, die der Chemiker erzwingt,
vollziehen sich von ihm ungewollte Synthesen dank der freigewordenen
Affinitäten und der Wahlverwandtschaft der Stoffe.
150
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
ptome und die Aufhebung der Widerstände haben wir die
Bedingungen für sie geschaffen. Es ist nicht wahr, daß etwas
in dem Kranken in seine Bestandteile zerlegt ist, was nun
ruhig darauf wartet, bis wir es irgendwie zusammensetzen.
Die Entwicklung unserer Therapie wird also wohl andere
Wege einschlagen, vor allem jenen, den kürzlich Eerenczi
in seiner Arbeit über „Technische Schwierigkeiten einer
Hysterieanalyse“ (Nr. 1 dieses Jahrganges unserer Zeitschrift)
als die „Aktivität“ des Analytikers gekennzeichnet hat.
Einigen wir uns rasch, was unter dieser Aktivität zu
verstehen ist. Wir umschrieben unsere therapeutische Auf¬
gabe durch die zwei Inhalte: Bewußtmachen des Verdrängten
und Aufdeckung der Widerstände. Dabei sind wir allerdings
aktiv genug. Aber sollen wir es dem Kranken überlassen,
allein mit den ihm aufgezeigten Widerständen fertig zu
werden? Können wir ihm dabei keine andere Hilfe leisten,
als er durch den Antrieb der Übertragung erfährt? .Liegt
es nicht vielmehr sehr nahe, ihm auch dadurch zu helfen,
daß wir ihn in jene psychische Situation versetzen, welche
für die erwünschte Erledigung des Konflikts die günstigste
ist. Seine Leistung ist doch auch abhängig von einer An¬
zahl von äußerlich konstelliercnden Umständen. Sollen wir
uns da bedenken, diese Konstellation durch unser Eingreifen
in geeigneter Weise zu verändern? Ich meine, eine solche
Aktivität des analytisch behandelnden Arztes ist einwandfrei
und durchaus gerechtfertigt.
Sie bemerken, daß sich hier für uns ein neues Gebiet
der analytischen Technik eröffnet, dessen Bearbeitung ein¬
gehende Bemühung erfordern und ganz bestimmte Vorschriften
ergeben wird. Ich werde heute nicht versuchen, Sie in diese
noch in Entwicklung begriffene Technik einzuführen, son-
III. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE. • 151
dern mich damit begnügen, einen Grundsatz hervorzuheben,
dem wahrscheinlich die Herrschaft auf diesem Gebiete zu¬
fallen wird. Er lautet: Die analytische Kur soll, so¬
weit es möglich ist, in- der Entbehrung — Ab¬
stinenz — durchgeführt werden.
Wie weit es möglich ist, dies festzustellen, bleibe einer
detaillierten Diskussion überlassen. Unter Abstinenz ist aber
nicht die Entbehrung einer jeglichen Befriedigung zu ver¬
stehen — das wäre natürlich undurchführbar —, auch nicht,
was man im populären Sinne darunter versteht, die Ent¬
haltung vom sexuellen Verkehr, sondern etwas anderes, was
mit der Dynamik der Erkrankung und der Herstellung weit
mehr zu tun hat.
Sie erinnern sich daran, daß es eine Versagung war,
die den Patienten krank gemacht hat, daß seine Symptome
ihm den Dienst von Ersatzbefriedigungen leisten. Sie können
während der Kur beobachten, daß jede Besserung seines
Leidenszustandes das Tempo der Herstellung verzögert und
die Triebkraft verringert, die zur Heilung drängt. Auf diese
Triebkraft können wir aber nicht verzichten; eine Verrin¬
gerung derselben ist für unsere Heilungsabsicht gefährlich.
Welche Folgerung drängt sich uns also unabweisbar auf?
Wir müssen, so grausam es klingt, dafür sorgen, daß das
Leiden des Kranken in irgend einem wirksamen Maße kein
vorzeitiges Ende finde. Wenn es durch die Zersetzung und
Entwertung der Symptome ermäßigt worden ist, müssen wir
es irgendwo anders als eine empfindliche Entbehrung wieder
aufrichten, sonst laufen wir Gefahr, niemals mehr als be¬
scheidene und nicht haltbare Besserungen zu erreichen.
Die Gefahr droht, soviel ich sehe, besonders von zwei
Seiten. Einerseits ist der Patient, dessen Kranksein durch
152 .
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
die Analyse erschüttert worden ist, aufs emsigste bemüht, sich
an Stelle seiner Symptome neue Ersatzbefriedigungen zu
schaffen, denen nun der Leidenscharakter abgeht. Er bedient
sich der großartigen Verschiebbarkeit der zum Teil frei ge¬
wordenen Libido, um die mannigfachsten Tätigkeiten, Vor¬
lieben, Gewohnheiten, auch solche, die bereits früher be¬
standen haben, mit Libido zu besetzen und sie zu Ersatz¬
befriedigungen ,zu erheben. Er findet immer wieder neue
solche Ablenkungen, durch welche die zum Betrieb der Kur
erforderte Energie versickert, und weiß sie eine Zeitlang ge¬
heim zu halten. Man hat die Aufgabe, alle diese Abwege
aufzuspüren und jedesmal von ihm den Verzicht zu ver¬
langen, so harmlos die zur Befriedigung führende Tätigkeit
auch an sich erscheinen mag. Der Halbgeheilte kann aber
auch minder harmlose Wege einschlagen, z. B. indem er,
wenn ein Mann, eine voreilige Bindung an ein Weib auf sucht.
Nebenbei bemerkt, unglückliche Ehe und körperliches Siech¬
tum sind die gebräuchlichsten Ablösungen der Neurose. Sie
befriedigen insbesondere das Schuldbewußtsein (Strafbe-
diirfnis), welches viele Kranke so zähe an ihrer Neurose
festhalten läßt. Durch eine ungeschickte Ehewahl bestrafen
sie sich selbst; langes organisches Kranksein nehmen sie als
eine Strafe des .Schicksals an und verzichten dann häufig
auf eine Fortführung der Neurose.
Die Aktivität des Arztes muß sich in all solchen Situa¬
tionen als energisches Einschreiten gegen die voreiligen Er¬
satzbefriedigungen äußern. Leichter wird ihm aber die Ver¬
wahrung gegen die zweite, nicht zu unterschätzende Gefahr,
von der die Triebkraft der Analyse bedroht wird. Der Kranke
sucht vor allem die Ersatzbefriedigung in der Kur selbst
im ÜbertragungsVerhältnis zum Arzt und kann sogar danach
III. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE.
153
streben, sieb auf diesem Wege für allen ihm sonst auf erlegten
Verzicht zu entschädigen. Einiges muß man ihm ja wohl
gewähren, mehr oder weniger, je nach der Natur des Falles
und der Eigenart des Kranken. Aber es ist nicht gut, wenn
es zuviel wird. Wer als Analytiker etwa aus der Fülle seines
hilfsbereiten Herzens dem Kranken alles spendet, was ein
Mensch vom anderen erhoffen kann, der begeht denselben
ökonomischen Fehler, dessen sich unsere nicht analytischen
Nervenheilanstalten schuldig machen. Diese streben nichts
anderes an, als es dem Kranken möglichst angenehm zu
machen, damit er sich dort wohlfühle und gerne wieder dort¬
hin aus den Schwierigkeiten des Lebens seine Zuflucht nehme.
Dabei verzichten sie darauf, ihn für das Leben stärker, für
seine eigentlichen Aufgaben leistungsfähiger zu machen. In
der analytischen Kur muß jede solche Verwöhnung vermieden
werden. Der Kranke soll, was sein Verhältnis zum Arzt be¬
trifft, unerfüllte Wünsche reichlich übrig behalten. Es ist
zweckmäßig, ihm gerade die Befriedigungen zu versagen, die
er am intensivsten wünscht und am dringendsten äußert.
Ich glaube nicht, daß ich den Umfang der erwünschten
Aktivität des Arztes mit dem Satze: In der Kur sei die
Entbehrung aufrecht zu halten, erschöpft habe. Eine andere
Richtung der analytischen Aktivität ist, wie Sie sich er¬
innern werden, bereits einmal ein Streitpunkt zwischen uns
und der Schweizer Schule gewesen. Wir haben es entschieden
abgelehnt, den Patienten, der sich Hilfe suchend in unsere
Hand begibt, zu unserem Leibgut zu machen, sein Schicksal
für ihn zu formen, ihm unsere Ideale aufzudrängen und ihn
im Hochmut des Schöpfers zu unserem Ebenbild, an dem
wir Wohlgefallen haben sollen, zu gestalten. Ich halte an
dieser Ablehnung auch heute noch fest und meine, daß hier
154
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
die Stelle für die ärztliche Diskretion ist, über die wir uns
in anderen Beziehungen hinwegsetzen müssen, habe auch er¬
fahren, daß eine so weit gehende Aktivität gegen den Pa¬
tienten für die therapeutische Absicht gar nicht erforderlich
ist. Denn ich habe Leuten helfen können, mit denen mich
keinerlei Gemeinsamkeit der Rasse, Erziehung, sozialen Stel¬
lung und Weltanschauung verband, ohne sie in ihrer Eigen¬
art zu stören. Ich habe damals, zur Zeit jener Streitigkeiten,
allerdings den Eindruck empfangen, daß der Einspruch un¬
serer Vertreter — ich glaube, es war in erster Linie E.
Jones — allzu schroff und unbedingt ausgefallen ist. Wir
können es nicht vermeiden, auch Patienten anzunehmen, die
so haltlos und existenzunfähig sind, daß man bei ihnen die
analytische Beeinflussung mit der erzieherischen vereinigen
muß, und auch bei den meisten anderen wird sich hie und
da eine Gelegenheit ergeben, wo der Arzt als Erzieher und
Ratgeber aufzutreten genötigt ist. Aber dies soll jedesmal
mit großer Schonung geschehen, und der Kranke soll nicht
zur Ähnlichkeit mit uns, sondern zur Befreiung und Vollen¬
dung seines eigenen Wesens erzogen werden.
Unser verehrter Ereund J. P u t n a m in dem uns jetzt
so feindlichen Amerika muß es uns verzeihen, wenn wir auch
seine Forderung nicht annehmen können, die Psychoanalyse
möge sich in den Dienst einer bestimmten philosophischen
Weltanschauung stellen und diese dem Patienten zum Zwecke
seiner Veredlung aufdrängen. Ich möchte sagen, dies ist
doch nur Gewaltsamkeit, wenn auch durch, die edelsten Ab¬
sichten gedeckt.
Eine letzte, ganz anders geartete Aktivität wird uns
durch die allmählich wachsende Einsicht aufgenötigt, daß
die verschiedenen Krankheitsformen, die wir behandeln, nicht
III. WEGE DER PSYCHOANALYTISCHEN THERAPIE.
155
durch, die nämliche Technik erledigt werden können. Es
wäre voreilig, hierüber ausführlich zu handeln, aber an
zwei Beispielen kann ich erläutern, inwiefern dabei eine
neue Aktivität in Betracht kommt. Unsere Technik ist an
der Behandlung der Hysterie erwachsen und noch immer
auf diese Affektion eingerichtet. Aber schon die Phobien
nötigen uns, über unser bisheriges Verhalten hinauszugehen.
Man wird kaum einer Phobie Herr, wenn man abwartet, bis
sich der Kranke durch die Analyse bewegen läßt, sie auf¬
zugeben. Er bringt dann niemals jenes Material in die Ana¬
lyse, das zur überzeugenden Lösung der Phobie unentbehrlich
ist. Man muß anders Vorgehen. Nehmen Sie das Beispiel
eines Agoraphoben; es gibt zwei Klassen von solchen, eine
leichtere und eine schwerere. Die ersteren haben zwar jedes¬
mal unter der Angst zu leiden, wenn sie allein auf die
Straße gehen, aber sie haben darum das Alleingehen noch
nicht aufgegeben; die anderen schützen sich vor der Angst,
indem sie auf das Alleingehen verzichten. Bei diesen letzteren
hat man nur dann Erfolg, wenn man sie durch den Einfluß
der Analyse bewegen kann, sich wieder wie Phobiker des
ersten Grades zu benehmen, also auf die Straße zu gehen
und während dieses Versuches mit der Angst zu kämpfen.
Man bringt es also zunächst dahin, die Phobie so weit zu
ermäßigen, und erst wenn dies durch die Forderung des
Arztes erreicht ist, wird der Kranke jener Einfälle und Er¬
innerungen habhaft, welche die Lösung der Phobie ermög¬
lichen.
Noch weniger angezeigt scheint ein passives Zuwarten
hei den schweren Fällen von Zwangshandlungen, die ja im
allgemeinen zu einem „asymptotischen“ Heilungsvorgang, zu
einer unendlichen Behandlungsdauer neigen, deren Analyse
156
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
immer in Gefahr ist, sehr viel zü Tage zu fördern und nichts
zu ändern. Es scheint mir wenig zweifelhaft, daß die richtige
Technik hier nur darin bestehen kann, abzuwarten, bis die
Kur selbst zum Zwang geworden ist, und dann mit diesem
Gegenzwang den Krankheitszwang gewaltsam zu unterdrücken.
Sie verstehen aber, daß ich Ihnen in diesen zwei Eällen nur
Proben der neuen Entwicklungen vorgelegt habe, denen unsere
Therapie entgegengeht.
Und nun möchte ich zum Schlüsse eine Situation ins
Auge fassen, die der Zukunft angehört, die vielen von Ihnen
phantastisch erscheinen wird, die aber doch verdient, sollte
ich meinen, daß man sich auf sie in Gedanken vorbereitet.
Sie wissen, daß unsere therapeutische Wirksamkeit keine sehr
intensive ist. Wir sind nur eine Handvoll Leute, und jeder
von uns kann auch bei angestrengter Arbeit sich in einem
Jahr nur einer kleinen Anzahl von Kranken widmen. Gegen
das Übermaß von neurotischem Elend, das es in der Welt
gibt und vielleicht nicht zu. geben braucht, kommt das, was
wir davon wegschaffen können, quantitativ kaum in Betracht.
Außerdem sind wir durch die Bedingungen unserer Existenz
auf die wohlhabenden Oberschichten der Gesellschaft einge¬
schränkt, die ihre Ärzte selbst zu wählen pflegen und bei
dieser Wahl durch, alle Vorurteile von der Psychoanalyse ab¬
gelenkt werden. Eür die breiten Volksschichten, die unge¬
heuer schwer unter den Neurosen leiden, können wir derzeit
nichts tun.
Nun lassen Sie uns annehmen, durch irgend eine Orga¬
nisation gelänge es uns, unsere Zahl so weit zu vermehren,
daß wir zur Behandlung von größeren Menschenmassen aus¬
reichen. Anderseits läßt sich vorhersehen: Irgend einmal wird
das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen,
III. WEGE DEK PSYCHOANALYTISCHEN THEBAPIE.
157
daß der Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfe¬
leistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische.
Und daß die Neurosen die Volksgesundheit nicht minder be¬
drohen als die Tuberkulose und ebensowenig wie diese der
ohnmächtigen Fürsorge des Einzelnen aus dem Volke über¬
lassen werden können. Dann werden also Anstalten oder
Ordinationsinstitute errichtet werden, an denen psychoanaly¬
tisch ausgebildete Ärzte angestellt sind, um die Männer, die
sich sonst dem Trunk ergeben würden, die Frauen, die unter
der Last der Entsagungen zusammenzubrechen drohen, die
Kinder, denen nur die Wahl zwischen Verwilderung und Neu¬
rose bevorsteht, durch Analyse Widerstands- und leistungs¬
fähig zu erhalten. Diese Behandlungen werden unentgeltliche
sein. Es mag lange dauern, bis der Staat diese Pflichten als
dringende empfindet. Die gegenwärtigen Verhältnisse mögen
den Termin noch länger hinausschieben, es ist wahrscheinlich,
daß private Wohltätigkeit mit solchen Instituten den Anfang
machen wird; aber irgend einmal wird es dazu kommen müssen.
Dann wird sich für uns die Aufgabe ergeben, unsere
Technik den neuen Bedingungen, anzupassen. Ich zweifle nicht
daran, daß die Triftigkeit unserer psychologischen Annahmen
auch auf den Ungebildeten Eindruck machen wird, aber wir
werden den einfachsten und greifbarsten Ausdruck unserer
theoretischen Lehren suchen müssen. Wir werden wahrschein¬
lich die Erfahrung machen, daß der Arme noch weniger zum
Verzicht auf seine Neurose bereit ist als der Reiche, weil
das schwere Leben, das auf ihn wartet, ihn nicht lockt, und
das Kranksein ihm einen Anspruch mehr auf soziale Hilfe
bedeutet. Möglicherweise werden wir oft nur dann etwas
leisten können, wenn wir die seelische Hilfeleistung mit ma¬
terieller Unterstützung nach Art des Kaiser Josefs ver-
158
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. Y.
einigen 'können. Wir werden auch sehr wahrscheinlich ge¬
nötigt sein, in der Massenanwendung unserer Therapie das
reine G-old der Analyse reichlich mit dem Kupfer der direkten
Suggestion zu legieren, und auch die hypnotische Beein¬
flussung könnte dort wie bei der Behandlung der Kriegs¬
neurotiker wieder eine Stelle finden. Aber wie immer sich
auch diese Psychotherapie fürs Volk gestalten, aus welchen
Elementen sie sich zusammensetzen mag, ihre wirksamsten
und wichtigsten Bestandteile werden gewiß die bleiben, die
von der strengen, der tendenziösen Psychoanalyse entlehnt
worden sind.
IV.
ÜBER DIE PSYCHOGENESE EINES FALLES VON
WEIBLICHER HOMOSEXUALITÄT.*)
I.
Die weibliche Homosexualität, gewiß nicht weniger
häufig als die männliche, aber doch weit weniger lärmend
als diese, ist nicht nur vom Strafgesetz übergangen, sondern
auch von der psychoanalytischen Forschung vernachlässigt
worden. Die Mitteilung eines einzelnen, nicht allzu grellen
Falles, in dem es möglich wurde, dessen psychische Ent¬
stehungsgeschichte fast lückenlos und mit voller Sicherheit
zu erkennen, mag daher einen gewissen Anspruch auf .Be¬
achtung erheben. Wenn die Darstellung nur die allgemeinsten
Umrisse der Geschehnisse und die aus dem Falle gewonnenen
Einsichten bringt und alle charakteristischen Einzelheiten
unterschlägt, auf denen die Deutung ruht, so ist diese Ein¬
schränkung durch die von einem frischen Fall geforderte ärzt¬
liche Diskretion leicht erklärlich.
Ein 18jähriges, schönes und kluges Mädchen aus sozial
hochstehender Familie hat das Mißfallen und die Sorge seiner
Eltern durch die Zärtlichkeit erweckt, mit der sie eine etwa
zehn Jahre ältere Dame „aus der Gesellschaft“ verfolgt. Die
Eltern behaupten, daß diese Dame trotz ihres vornehmen Na-
*) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, VI. 1920.
160
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
mens nichts anderes sei als eine Kokotte. Es sei von ihr be¬
kannt, daß sie bei einer verheirateten Freundin lebt, mit
der sie intime Beziehungen unterhält, während sie gleich¬
zeitig in lockeren Liebesverhältnissen zu einer Anzahl von
Männern steht. Das Mädchen bestreitet diese üble Nachrede
nicht, läßt sich aber durch sie in der Verehrung der Dame
nicht beirren, obwohl es ihr am Sinn für das Schickliche
und Reinliche keineswegs gebricht. Kein Verbot und keine
Überwachung hält sie ab, jede der spärlichen Gelegenheiten
zum Beisammensein mit der Geliebten auszunützen, alle
ihre Lebensgewohnheiten auszukundschaften, stundenlang vor
ihrem Haustor oder an Trambahnhaltestellen auf sie zu
warten, ihr Blumen zu schicken u. dgl. Es ist offenkundig,
daß dies eine Interesse bei dem Mädchen alle anderen ver¬
schlungen hat. Sie kümmert sich nicht um ihre weitere Aus¬
bildung, legt keinen Wert auf gesellschaftlichen Verkehr und
mädchenhafte Vergnügungen und hält nur den Umgang mit
einigen Freundinnen aufrecht, die ihr als Vertraute oder als
Helferinnen dienen können. Wie weit es zwischen ihrer
Tochter und jener zweifelhaften Dame gekommen ist, ob die
Grenzen einer zärtlichen Schwärmerei bereits überschritten
worden sind, wissen die Eltern nicht. Ein Interesse für
junge Männer und Wohlgefallen an deren Huldigungen haben
sie an dem Mädchen nie bemerkt; dagegen sind sie sich
klar darüber, daß diese gegenwärtige Neigung für eine Frau
nur in erhöhtem Maße fortsetzt, was sich in den letzten
Jahren für andere weibliche Personen angezeigt und den Arg¬
wohn sowie die Strenge des Vaters wachgerufen hatte.
Zwei Stücke ihres Benehmens, scheinbar einander gegen¬
sätzlich, wurden dem Mädchen von den Eltern am stärksten
verübelt. Daß sie keine Bedenken trug, sich öffentlich in
IV. ÜBER DIE PSYCHOGENESE WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 161
belebten Straßen mit der anrüchigen Geliebten zu zeigen
und also die Rücksicht auf ihren eigenen Ruf vernachlässigte,
und daß sie kein Mittel der Täuschung, keine Ausrede und
keine Lüge verschmähte, um die Zusammenkünfte mit ihr
zu ermöglichen und zu decken. Also zuviel Offenheit in dem
einen, vollste Verstellung im anderen Rall'e. Eines Tages
traf es sich, was ja unter diesen Umständen einmal ge¬
schehen mußte, daß der Vater seine Tochter in Begleitung
jener ihm bekanntgewordenen Dame auf der Straße begegnete.
Er ging mit einem zornigen Blick, der nichts Gutes an¬
kündigte, an den beiden vorüber. Unmittelbar darauf riß
sich das Mädchen los und stürzte sich über die Mauer in
den dort nahen Einschnitt der Stadtbahn. Sie büßte diesen
unzweifelhaft ernst gemeinten Selbstmordversuch mit einem
langen Krankenlager, aber zum Glück mit nur geringer dau¬
ernder Schädigung. Nach ihrer Herstellung fand sie die
Situation für ihre Wünsche günstiger als zuvor. Die Eltern
wagten es nicht mehr ihr ebenso entschieden entgegenzu¬
treten, und die Dame, die sich bis dahin gegen ihre Wer¬
bung spröde ablehnend verhalten hatte, war durch einen so
unzweideutigen Beweis ernster Leidenschaft gerührt und be¬
gann sie freundlicher zu behandeln.
Etwa ein halbes Jahr nach diesem Unfall wendeten sich
die Eltern an den Arzt und stellten ihm die Aufgabe, ihre
Tochter zur Norm zurückzubringen. Der Selbstmordversuch
des Mädchens hatte ihnen wohl gezeigt, daß die Machtmittel
der häuslichen Disziplin nicht im stände waren, die vor¬
liegende Störung zu bewältigen. Es ist aber gut, hier die
Stellung des Vaters und die der Mutter gesondert zu be¬
handeln. Der Vater war ein ernsthafter, respektabler Mann,
im Grunde sehr zärtlich, durch seine angenommene Strenge
Freud, Neuroaenlelire. V.
11
162
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
den Kindern etwas entfremdet. Sein Benehmen gegen die
einzige Tochter wurde allzu .sehr durch Rücksichten auf seine
Krau, ihre Mutter, bestimmt. Als er zuerst von den homo¬
sexuellen Neigungen der Tochter Kenntnis bekam, wallte er
zornig auf und wollte sie durch Drohungen unterdrücken;
er mag damals zwischen verschiedenen, gleich peinlichen Auf¬
fassungen geschwankt haben, ob er ein lasterhaftes, ein ent¬
artetes oder geisteskrankes Wesen in ihr sehen sollte. Auch
nach dem Unfall brachte er es nicht zur Höhe jener über¬
legenen Resignation, welcher einer unserer ärztlichen Kollegen
bei einer irgend wie ähnlichen Entgleisung in seiner Eamilie
durch die Rede Ausdruck gab: „Es ist eben ein Malheur
wie ein anderes!“ Die Homosexualität seiner Tochter hatte
etwas, was seine vollste Erbitterung weckte. Er war ent¬
schlossen, sie mit allen Mitteln zu bekämpfen; die in Wien
so allgemein verbreitete Geringschätzung der Psychoanalyse
hielt ihn nicht ab, sich an sie um Hilfe zu wenden. Wenn
dieser Weg versagte, hatte er noch immer das stärkste Gegen¬
mittel im Rückhalt; eine rasche Verheiratung sollte die natür¬
lichen Instinkte des Mädchens wachrufen und dessen un¬
natürliche Neigungen ersticken.
Die Einstellung der Mutter des Mädchens war nicht so
leicht zu durchschauen. Sie war eine noch jugendliche Krau,
die dem Anspruch, selbst durch Schönheit zu gefallen, offen¬
bar nicht entsagen wollte. Es war nur klar, daß sie die
Schwärmerei ihrer Tochter nicht so tragisch nahm und sich
keineswegs so sehr darüber entrüstete wie der Vater. Sie
hatte sogar durch längere Zeit das Vertrauen des Mädchens
in betreff ihrer Verliebtheit in jene Dame genossen; ihre
Parteinahme dagegen schien wesentlich durch die schädliche
Offenheit bestimmt, mit der die Tochter ihre Gefühle vor
IV. ÜBEK DIE PSYCHOGENESE WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 163
aller Welt kundgab. Sie war selbst durcli mehrere Jahre
neurotisch gewesen, erfreute sich großer Schonung von seiten
ihres Mannes, behandelte ihre Kinder recht ungleichmäßig,
war eigentlich hart gegen die Tochter und überzärtlich mit
ihren drei Knaben, von denen der jüngste ein Spätling war,
gegenwärtig noch nicht drei Jahre alt. Bestimmteres über
ihren Charakter zu erfahren, war nicht leicht, denn infolge
von Motiven, die erst später verstanden werden können, hielten
die Angaben der Patientin über ihre. Mutter stets eine
Reserve ein, von der im Kalle des Vaters keine Rede war.
Der Arzt, der die analytische Behandlung des Mädchens
übernehmen sollte, hatte mehrere Gründe, sich unbehaglich
zu fühlen. Er fand nicht die Situation vor, welche die Analyse
anfordert, und in der sie allein ihre Wirksamkeit erproben
kann. Diese Situation sieht in ihrer idealen Ausprägung be¬
kanntlich so aus, daß, jemand, der sonst sein eigener Herr
ist, an einem inneren Konflikt leidet, den er allein nicht
zu Ende bringen kann, daß er dann zum Analytiker kommt,
es ihm klagt und ihn um seine Hilfeleistung bittet. Der
Arzt arbeitet dann Hand in Hand mit dem einen Anteil der
krankhaft entzweiten Persönlichkeit gegen den anderen Partner
des Konflikts. Andere Situationen als diese sind für die
Analyse mehr oder minder ungünstig, fügen zu den inneren
Schwierigkeiten des Falles neue hinzu. Situationen wie die
des Bauherrn, der beim Architekten eine Villa nach seinem
Geschmack und Bedürfnis bestellt, oder des frommen Stif¬
ters, der sich vom Künstler ein Heiligenbild malen läßt, in
dessen Ecke dann sein eigenes Porträt als Anbetender Platz
findet, sind mit den Bedingungen der Psychoanalyse im
Grunde nicht vereinbar. Es kommt zwar alle Tage vor, daß
sich ein Ehemann an den Arzt mit der Information wendet:
li*
164
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Meine Frau ist nervös, sie verträgt sich darum schlecht mit
mir; machen Sie sie gesund, so daß wir wieder eine glück¬
liche Ehe führen können. Aber es stellt sich oft genug heraus,
daß ein solcher Auftrag unausführbar ist, das heißt, daß der
Arzt nicht das Ergebnis hersteilen kann, wegen dessen der
Mann die Behandlung wünschte. Sowie die Erau von ihren
neurotischen Hemmungen befreit ist, setzt sie die Trennung
der Ehe durch, deren Erhaltung nur unter der Voraussetzung
ihrer Neurose möglich war. Oder Eltern verlangen, daß man
ihr Kind gesund mache, welches nervös und unfügsam ist.
Sie verstehen unter einem gesunden Kind ein solches, das
den Eltern keine Schwierigkeiten bereitet, an dem sie ihre
Ereude haben können. Die Herstellung des Kindes inag dem
Arzt gelingen, aber es geht nach der Genesung um so ent¬
schiedener seine eigenen Wege, und die Eltern sind jetzt weit
mehr unzufrieden als vorher. Kurz, es ist nicht gleichgültig,
ob ein Mensch aus eigenem Streben in die Analyse kommt,
oder darum, weil andere ihn dahin bringen, ob er selbst seine
Veränderung wünscht oder nur seine Angehörigen, die ihn
lieben, oder von denen man solche Liebe erwarten sollte.
Als weitere ungünstige Momente waren die Tatsachen
zu bewerten, daß das Mädchen ja keine Kranke war — sie
litt nicht aus inneren Gründen, beklagte sich nicht über
ihren Zustand —, und daß die gestellte Aufgabe nicht darin
bestand, einen neurotischen Konflikt zu lösen, sondern die
eine Variante der genitalen Sexualorganisation in die andere
überzuführen. Diese Leistung, die Beseitigung der genitalen
Inversion oder Homosexualität, ist meiner Erfahrung niemals
leicht - erschienen. Ich habe vielmehr gefunden, daß sie nur
unter besonders günstigen Umständen gelingt, und auch dann
bestand der Erfolg wesentlich darin, daß man der homosexuell
IV. ÜBER DIE PSYCHOGENESE WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 165
eingeengten Person den bis dahin versperrten Weg zum an¬
deren Geschlecht frei machen konnte, also ihre volle bisexuelle
Punktion wiederherstellte. Es lag dann in ihrem Belieben,
ob sie den anderen, von der Gesellschaft geächteten Weg
veröden lassen wollte, und in einzelnen Fällen hat sie es.
auch so getan. Man muß sich sagen, daß auch die normale
Sexualität auf einer Einschränkung der Objektwahl beruht,
und im allgemeinen ist das Unternehmen, einen voll ent¬
wickelten Homosexuellen in einen Heterosexuellen zu ver¬
wandeln, nicht viel aussichtsreicher als das umgekehrte, nur
daß man dies letztere aus guten praktischen Gründen niemals
versucht.
Die Erfolge der psychoanalytischen Therapie in der
Behandlung der allerdings sehr vielgestaltigen Homosexualität
sind der Zahl nach wirklich nicht bedeutsam. In der Hegel
vermag der Homosexuelle sein Lustobjekt nicht aufzugeben;
es gelingt nicht, ihn zu überzeugen, daß er die Lust, auf
die er hier verzichtet, im Palle der Umwandlung am anderen
Objekt wiederfinden würde. Wenn er sich überhaupt'in Be¬
handlung begibt, so haben ihn zumeist äußere Motive dazu
gedrängt, die sozialen Nachteile und Gefahren seiner Objekt¬
wahl, und solche Komponenten des Selbsterhaltungstriebes
erweisen sich als zu schwach im Kampfe gegen die Sexual¬
strebungen. Man kann dann bald seinen geheimen Plan auf¬
decken, sich durch den eklatanten Mißerfolg dieses Versuches
die Beruhigung zu schaffen, daß er das Möglichste gegen
seine Sonderartung getan habe und sich ihr nun mit gutem
Gewissen überlassen könne. Wo die Rücksicht auf geliebte
Eltern und Angehörige den Versuch zur Heilung motiviert
hat, da liegt der Pall etwas anders. Es sind dann wirklich
libidinöse Strebungen vorhanden, die zur homosexuellen
166
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Objektwahl gegensätzliche Energien entwickeln können, aber
deren Kraft reicht selten aus. Nur wo die Fixierung an das
gleichgeschlechtliche Objekt noch nicht stark genug geworden
ist, oder wo sich erhebliche Ansätze und Reste der hetero¬
sexuellen Objektwahl vorfinden, also bei noch schwankender
oder bei deutlich bisexueller Organisation, darf die Prognose
der psychoanalytischen Therapie günstiger gestellt werden.
Aus diesen Gründen vermied ich es durchaus, den Eltern
die Erfüllung ihres Wunsches in Aussicht zu stellen. Ich
. erklärte mich bloß bereit dazu, das Mädchen durch einige
Wochen oder Monate sorgfältig zu studieren, um mich danach
über die Aussichten einer Beeinflussung durch Fortsetzung
der Analyse äußern zu können. In einer ganzen Anzahl von
Fällen zerlegt sich ja die Analyse in zwei deutlich gesonderte
Phasen; in einer ersten verschafft sich der Arzt die notwen¬
digen Kenntnisse vom Patienten, macht ihn mit den Voraus¬
setzungen und Postulaten der Analyse bekannt und entwickelt
vor ihm die Konstruktion der Entstehung seines Leidens, zu
welcher er sich auf Grund des von der Analyse gelieferten
Materials berechtigt glaubt. In einer zweiten Phase be¬
mächtigt sich der Patient selbst des ihm vorgelegten Stoffes,
arbeitet an ihm, erinnert von dem bei ihm angeblich Ver¬
drängten, was er erinnern kann, und trachtet, das ändere
in einer Art von Neubelebung zu wiederholen. Dabei kann
er die Aufstellungen des Arztes bestätigen, ergänzen und
richtigstellen. Erst während dieser Arbeit erfährt er durch
die Überwindung von Widerständen die innere Veränderung,
die man erzielen will, und gewinnt die Überzeugungen, die
ihn von der ärztlichen Autorität unabhängig machen. Nicht
immer sind diese beiden Phasen im Ablauf der analytischen
Kur scharf voneinander geschieden; es kann dies nur ge-
IV. ÜBER DIE PSYCHOGENES® WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 167
schehen, wenn der Widerstand bestimmte Bedingungen ein¬
hält, Aber wo es der Fall ist, kann man den Vergleich mit
zwei entsprechenden Abschnitten einer Reise heranziehen. Der
erste umfaßt alle notwendigen, heute so komplizierten und
schwer zu erfüllenden Vorbereitungen, bis man endlich die
Fahrkarte gelöst, den Perron betreten und seinen Platz im
Wagen erobert hat. Mail hat jetzt das Recht und die Mög¬
lichkeit, in das ferne Land zu reisen, aber man ist nach all
diesen Vorarbeiten noch nicht dort, eigentlich dem Ziele um
keinen Kilometer näher gerückt. Es gehört noch dazu, daß
man die Reise selbst von' einer Station zur anderen zurück¬
lege, und dieses Stück der Reise ist mit der zweiten Phase
gut vergleichbar.
Die Analyse bei meiner nunmehrigen Patientin verlief
nach diesem Zweiphasenschema, wurde aber nicht über den
Beginn der zweiten Phase hinaus fortgeführt. Eine besondere
Konstellation des Widerstandes ermöglichte es trotzdem, die
volle Bestätigung meiner Konstruktionen und eine im großen
und ganzen zureichende Einsicht in den Entwicklungsgang
ihrer Inversion zu gewinnen. Ehe ich aber die Ergebnisse
der Analyse bei ihr darlege, muß ich einige Punkte erledigen,
die ich entweder schon selbst gestreift oder die sich dem
Leser als die ersten Gegenstände seines Interesses aufge¬
drängt haben.
Ich hatte die Prognose zum Teil davon abhängig gemacht,
wie weit das Mädchen in der Befriedigung seiner Leidenschaft
gekommen war. Die Auskunft, die ich während der Analyse
erhielt, schien in dieser Hinsicht günstig. Bei keinem der
Objekte ihrer Schwärmerei hatte sie mehr als einzelne Küsse
und Umarmungen genossen, ihre Genitalkeuschheit, wenn man
so sagen darf, war unversehrt geblieben. Die Halbweltdame
168
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
gar, die die jüngsten und weitaus stärksten Gefühle bei ihr
erweckt hatte, war spröde gegen sie geblieben, hatte.ihr nie
eine höhere Gunst gegönnt als die, ihr die Hand küssen
zu dürfen. Das Mädchen machte wahrscheinlich eine Tugend
aus ihrer Not,, wenn sie immer wieder die Reinheit ihrer
Liebe und ihre physische Abneigung gegen einen Sexual¬
verkehr betonte. Vielleicht hatte sie aber nicht ganz unrecht,
wenn sie von ihrer hehren Geliebten rühmte, daß sie, von
vornehmer Herkunft, und nur durch widrige Familienverhält¬
nisse in ihre gegenwärtige Position gedrängt, sich auch hier
noch ein ganzes Stück Würde bewahrt habe. Denn diese
Dame pflegte ihr bei jedem Zusammentreffen zuzureden, ihre
Neigung von ihr und von den Frauen überhaupt abzuwenden,
und hatte sich bis zum Selbstmordversuch immer nur streng
abweisend gegen sie benommen.
Ein zweiter Punkt, den ich alsbald aufzuklären ver¬
suchte, betraf die eigenen Motive des Mädchens, auf welche
die analytische Behandlung sich etwa stützen konnte. Sie
versuchte mich nicht durch die Behauptung zu täuschen, daß
es ihr ein dringendes Bedürfnis sei, von ihrer Homosexualität
befreit zu werden. Sie könne sich im Gegenteil gar keine
andere Verliebtheit vorstellen, aber, setzte sie hinzu, der
Eltern wegen wolle sie den therapeutischen Versuch ehrlich
unterstützen, denn sie empfinde es sehr schwer, den Eltern
solchen Kummer zu bereiten. Auch diese Äußerung mußte
ich zunächst als günstig auffassen; ich konnte nicht ahnen,
welche unbewußte Affekteinstellung sich hinter ihr verbarg.
Was hier dann später zum Vorschein kam, hat die Gestaltung
der Kur und deren vorzeitigen Abbruch entscheidend be¬
einflußt.
Nichtanalytische Loser werden längst die Beantwortung
IV. ÜBER DIE PSYCHOGENESE WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 169
zweier anderer Fragen ungeduldig erwarten. Zeigte dieses
homosexuelle Mädchen deutliche somatische Charaktere des
anderen Geschlechtes und erwies sie sich als ein Fall von
angeborener oder von erworbener (später entwickelter) Homo¬
sexualität?
Ich verkenne die Bedeutung nicht, welche der ersteren
Frage zukommt. Nur möge man diese Bedeutung nicht über¬
treiben und zu ihren Gunsten die Tatsachen verdunkeln, daß
vereinzelte sekundäre Merkmale des anderen Geschlechts bei
normalen menschlichen Individuen überhaupt sehr häufig Vor¬
kommen, und daß sehr gut ausgeprägte somatische Charaktere
des anderen Geschlechts sich an Personen finden können,
deren Objekt wähl keine Abänderung im Sinne einer Inversion
erfahren hat. Daß also, anders ausgedrückt, bei beiden Ge¬
schlechtern das Maß des physischen Hermaphrodi¬
tismus von dem des psychischen in hohem Grade
unabhängig ist, Als Einschränkung der beiden Sätze ist
hinzuzufügen, daß diese Unabhängigkeit beim Manne deut¬
licher ist als beim Weibe, wo die körperliche und die see¬
lische Ausprägung des entgegengesetzten Geschlechtscharak¬
ters eher regelmäßig Zusammentreffen. Ich bin aber doch
nicht in der Lage, die erste der hier gestellten Fragen für
meinen Fall befriedigend zu beantworten. Der Psychoanaly¬
tiker pflegt sich ja eine eingehende körperliche Untersuchung
seiner Patienten in bestimmten Fällen zu versagen. Eine auf¬
fällige Abweichung vom körperlichen Typus des Weibes be¬
stand jedenfalls nicht, auch keine menstruale Störung. Wenn
das schöne und wohlgebildete Mädchen den hohen Wuchs
des Yaters und eher scharfe als mädchenhaft weiche Gesichts¬
züge zeigte, so mag man darin Andeutungen einer somatischen
Männlichkeit erblicken. Auf männliches Wesen konnte man
170
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
auch einige ihrer intellektuellen Eigenschaften beziehen, so
die Schärfe ihres Verständnisses und die kühle Klarheit ihres
Denkens, insoweit sie nicht unter der Herrschaft ihrer Leiden¬
schaft stand. Doch sind diese Unterscheidungen eher kon¬
ventionell als wissenschaftlich berechtigt. Bedeutsamer ist
gewiß, daß sie in ihrem Verhalten zu ihrem Liebesobjekt
durchaus den männlichen Typus angenommen hatte, also die
Demut und großartige Sexualüberschätzung des liebenden
Mannes zeigte, den Verzicht auf jede narzißtische Befriedigung,
die Bevorzugung des Liebens vor dem Geliebtwerden. Sie
hatte also nicht nur ein weibliches Objekt gewählt, sondern
auch eine männliche Einstellung zu ihm gewonnen.
Die andere Erage, ob ihr Fall einer angeborenen oder
einer erworbenen Homosexualität entsprach, soll durch die
ganze Entwicklungsgeschichte ihrer Störung beantwortet wer¬
den. Dabei wird sich ergeben, inwieweit diese Fragestellung
selbst unfruchtbar und unangemessen ist.
II.
Auf eine so weitschweifige Einleitung kann ich nun eine
ganz knappe und übersichtliche Darstellung der Libido¬
geschichte dieses Falles folgen lassen. Das Mädchen hatte
in den Kinderjahren die normale Einstellung des weiblichen
Ödipuskomplexes*) in wenig auffälliger Weise durchgemacht,
später auch begonnen, den Vater durch den um wenig älteren
Bruder zu ersetzen. Sexuelle Traumen in früher Jugend wur¬
den weder erinnert noch durch die Analyse aufgedeckt. Die
Vergleichung der Genitalien des Bruders mit den eigenen,
die etwa zu Beginn der Latenzzeit (zu fünf Jahren oder
*) Ich. sehe in der Einführung des Terminus „Elektrakomplex“ keinen
Fortschritt oder Vorteil und möchte denselben nicht befürworten.
IV. OBER DIE PSYCHOGENESE WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 171
etwas früher) vorfiel, hinterließ ihr eineu starken Eindruck
und war in ihren Nachwirkungen weit zu verfolgen. Auf
l'rühinfantile Onanie deutete sehr wenig, oder die Analyse
kam nicht so weit, um diesen Punkt aufzuklären. Die Ge¬
burt eines zweiten Bruders, als sie zwischen fünf und sechs
Jahren alt war, äußerte keinen besonderen Einfluß auf ihre
Entwicklung. In den Schul- und Vorpubertätsjahren wurde
sie allmählich mit den Tatsachen des Sexuallebens bekannt
und empfing dieselben mit dem normal zu nennenden, auch
im Ausmaß nicht übertriebenen Gemenge von Lüsternheit und
erschreckter Ablehnung. Alle diese Auskünfte erscheinen
recht mager, ich kann auch nicht dafür einstehen, daß sie
vollständig sind. Vielleicht war die Jugendgeschichte doch
weit reichhaltiger; ich weiß es nicht. Die Analyse brach, wie
gesagt, nach kurzer Zeit ab und lieferte darum eine Anamnese,
die nicht viel verläßlicher ist als die anderen, mit gutem
Recht beanstandeten Anamnesen von Homosexuellen. Das
Mädchen war auch niemals neurotisch gewesen, brachte nicht
ein hysterisches Symptom in die Analyse mit, so daß sich
die Anlässe zur Durchforschung ihrer Kindergeschichte nicht
so bald ergeben konnten.
Mit 13 und 14 Jahren zeigte sie eine, nach dem Urteil
Aller übertrieben starke, zärtliche Vorliebe für einen kleinen,
noch nicht dreijährigen Jungen, den sie in einem Kinderpark
regelmäßig sehen konnte. Sie nahm sich des Kindes so herz¬
lich an, daß daraus eine langdauernde freundschaftliche Be¬
ziehung zu den Eltern des Kleinen entstand; Man darf aus
diesem Vorfall schließen, daß sie damals von einem starken
Wunsche, selbst Mutter zu sein und ein Kind zu haben, be¬
herrscht war. Aber kurze Zeit nachher wurde ihr der Knabe
gleichgültig, und sie begann ein Interesse für reife, doch
172
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
noch jugendliche Frauen zu zeigen, dessen Äußerungen ihr
bald eine empfindliche Züchtigung von seiten des Vaters
zuzogen.
Es wurde über jeden Zweifel sichergestellt, daß diese
Wandlung zeitlich mit einem Ereignis in der Familie zu¬
sammenfällt, von dem wir demnach die Aufklärung der
Wandlung erwarten dürfen. Vorher war ihre Libido auf
Mütterlichkeit eingestellt gewesen, nachher war sie eine in
reifere Frauen verliebte Homosexuelle, was sie seither ge¬
blieben ist. Dies für unser Verständnis so bedeutsame_ Er¬
eignis war eine neue Gravidität der Mutter und die Geburt
eines dritten Bruders, als sie etwa 16 Jahre alt war.
Der Zusammenhang, den ich nun im folgenden auf decken
werde, ist kein Produkt meiner Kombinationsgabe; er ist mir
durch so vertrauenswürdiges analytisches Material nahegelegt
worden, daß ich objektive Sicherheit für ihn beanspruchen
kann,. Insbesondere hat eine Reihe von ineinander greifenden,
leicht deutbaren Träumen für ihn entschieden.
Die Analyse ließ unzweideutig erkennen, daß die geliebte
Dame ein Ersatz für die — Mutter war. Nun war diese
selbst allerdings keine- Mutter, aber sie war auch nicht die
erste Liebe des Mädchens gewesen. Die ersten Objekte ihrer
Neigung seit der Geburt des letzten Bruders waren wirklich
Mütter, Frauen zwischen 30 und 35 Jahren, die sie mit ihren
Kindern in der Sommerfrische oder im Familienverkehr der
Großstadt kennen lernte. Die Bedingung der Mütterlichkeit
wurde später fallen gelassen, weil sie sich mit einer anderen,
die immer gewichtiger wurde, in der Realität nicht gut ver¬
trug. Die besonders intensive Bindung an die- letzte Ge¬
liebte, die „Dame“, hatte noch einen anderen Grund, den
das Mädchen eines Tages ohne Mühe auffand. Sie wurde
IV. ÜBER DIE PSYCHOGENESE WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 173
durch die schlanke Erscheinung, die strenge Schönheit und
das rauhe Wesen der Dame an ihren eigenen, etwas älteren
Bruder gemahnt. Das endlich gewählte Objekt entsprach also
nicht nur ihrem Frauen-, sondern auch ihrem Männerideal,
es vereinigte die Befriedigung der homosexuellen Wunsch¬
richtung mit jener der heterosexuellen. Bekanntlich hat die
Analyse männlicher Homosexueller in zahlreichen Fällen das
nämliche Zusammentreffen* gezeigt, ein Wink, sich Wesen
und Entstehung der Inversion nicht allzu einfach vorzustellen
und die durchgängige Bisexualität des Menschen nicht aus
dem Auge zu verlieren *).
Wie soll man es aber verstehen, daß das Mädchen ge¬
rade durch die Geburt eines späten Kindes, als sie selbst
schon reif geworden war und eigene starke Wünsche hatte,
bewogen wurde, ihre leidenschaftliche Zärtlichkeit der Ge¬
bärerin dieses Kindes, ihrer eigenen Mutter, zuzuwenden und
an einer Vertreterin der Mutter zum Ausdruck zu bringen?
Nach allem, was man sonst weiß, hätte man das Gegenteil
erwarten sollen. Die Mütter pflegen sich unter solchen Um¬
ständen vor ihren beinahe heiratsfähigen Töchtern zu ge¬
nieren, die Töchter haben für die Mutter ein aus Mitleid,
Verachtung und Neid gemischtes Gefühl bereit, das nichts
dazu beiträgt, die Zärtlichkeit für die Mutter zu steigern.
Das Mädchen unserer Beobachtung hatte überhaupt wenig
Grund, für ihre Mutter zärtlich zu empfinden. Der selbst
noch jugendlichen Frau war diese rasch erblühte. Tochter
eine unbequeme Konkurrentin, sie setzte sie hinter den Kna¬
ben zurück, schränkte ihre Selbständigkeit möglichst ein und
wachte besonders eifrig darüber, daß sie dem Vater ferne
*) Vgl. J. Sa dg er, Jahresbericht über sexuelle Perversionen. Jahr¬
buch der Psychoanalyse, VI, 1914 und a. a. O.
174
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
blieb. Ein Bedürfnis nach einer liebenswürdigeren Mutter
mag also bei dem Mädchen von jeher gerechtfertigt gewesen
sein; warum es aber damals und in Gestalt einer verzehrenden
Leidenschaft aufflackerte, ist nicht begreiflich.
Die Erklärung ist die folgende: Das Mädchen befand
sich in der Phase der Pubertätsauffrischung des infantilen
Ödipuskomplexes, als die Enttäuschung über sie kam. Hell
bewußt wurde ihr der Wunsch, ein Kind zu haben, und zwar
ein männliches; daß es ein Kind vom Vater und dessen Eben¬
bild sein sollte, durfte ihr Bewußtes nicht erfahren. Aber
da geschah es, daß nicht sie das Kind bekam, sondern die
im Unbewußten gehaßte Konkurrentin, die Mutter. Empört
und erbittert wendete sie sich vom Vater, ja vom Manne
überhaupt ab. Nach diesem ersten großen Mißerfolg ver¬
warf sie ihre Weiblichkeit und strebte nach einer anderen
Unterbringung ihrer Libido.
Sic benahm sich dabei ganz ähnlich wie viele Männer,
die nach einer ersten peinlichen Erfahrung dauernd mit dem
treulosen Geschlecht der Frauen zerfallen und Weiberfeinde
werden. Von einer der anziehendsten und unglücklichsten
fürstlichen Persönlichkeiten unserer Lebenszeit wird erzählt,
daß er darum homosexuell geworden, weil ihn die verlobte
Braut mit einem fremden Gesellen hintergangen hatte. Ich
weiß nicht, ob dies historische Wahrheit ist, aber ein Stück
psychologischer Wahrheit steckt hinter diesem Gerücht. Unser
aller Libido schwankt normalerweise lebenslang zwischen dein
männlichen und dem weiblichen Objekt; der Junggeselle gibt
seine Freundschaften auf, wenn er heiratet, und kehrt zum
Stammtisch zurück, wenn seine Ehe schal geworden ist.
Freilich, wo die Schwankung so gründlich und so endgültig
ist, da richtet sich unsere Vermutung auf ein besonderes Mo-
IV. ÜBER DIE PSYCHOGENESE WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 175
ment, welches die eine oder die andere Seite entscheidend
begünstigt, vielleicht nur auf den geeigneten Zeitpunkt ge¬
wartet hat, um die Objektwahl nach seinem Sinne durch¬
zusetzen.
Unser Mädchen hatte also nach jener Enttäuschung den
Wunsch nach dem Kinde, die Liebe zum Manne und die
weibliche Rolle überhaupt von sich gewiesen. Und nun hätte
offenbar sehr Verschiedenartiges geschehen können; was wirk¬
lich geschah, war das Extremste. Sie wandelte sich zum
Manne um und nahm die Mutter an Stelle des Vaters zum
Liebesobjekt *). Ihre Beziehung zur Mutter war sicherlich
von Anfang an ambivalent gewesen, es gelang leicht, die
frühere Liebe zur Mutter wiederzubeleben und mit ihrer Hilfe
die gegenwärtige Feindseligkeit gegen die Mutter zur C'ber-
kompensation zu bringen. Da mit der realen Mutter wenig
anzufangen war, ergab sich aus der geschilderten Gefühls¬
umsetzung das Suchen nach einem Mutterersatz, an dem man
mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit hängen konnte**).
Ein praktisches Motiv aus ihren realen Beziehungen zur
Mutter kam als „Krankheitsgewinn 1 ' noch hinzu. Die Mutter
*) Es [ist gar nicht |so selten, daß inan eine Liebesbeziehung dadurch
abbricht, daß man sich selbst mit dem Objekt derselben identifiziert, ■was
einer Art von Regression zum Narzißmus entspricht. Nachdem dies erfolgt
ist, kann man bei neuerlicher Objektwahl leicht das dem früheren ent¬
gegengesetzte Geschlecht mit seiner Libido besetzen.
**) Die hier beschriebenen Verschiebungen der Libido sind gewiß jedem
Analytiker aus der Erforschung der Anamnesen von Neurotikern bekannt.
Nur fallen sie bei diesen letzteren im zarten Ivindesalter, zur Zeit der Friili-
blüte des Liebeslebens vor, bei unserem, ganz und gar nicht neurotischen
Mädchen vollziehen sie sich in den ersten Jahren nach der Pubertät, übri¬
gens gleichfalls völlig unbewußt. Ob dieses zeitliche Moment sich nicht
einstmals als sehr liedeutsam herausstellen wird?
176
SCHEUTEN ZUE NEUROSENLEHRE. V.
legte selbst noch Wert darauf, von Männern hofiert und ge¬
feiert zu werden. Wenn sie also homosexuell wurde, der
Mutter die Männer überließ, ihr sozusagen „auswich“, räumte
sie etwas aus dem Wege, was bisher an der Mißgunst der
Mutter Schuld getragen hatte*).
*) Da ein solches Ausweichen bisher unter den Ursachen der Homo¬
sexualität wie im Mechanismus der Libidofixierung überhaupt keine Er¬
wähnung gefunden hat, will ich eine ähnliche analytische Beobachtung hier
anschließen, die durch einen besonderen Umstand interessant ist. Ich habe
einst zwei Zwillingsbrüder kennen gelernt, die beide mit starken libidinösen
Impulsen begabt waren. Der eine von ihnen hatte viel Glück bei Frauen
und ließ sich in ungezählte Verhältnisse mit Frauen und Mädchen ein.
Der andere war zuerst auf demselben Wege, aber dann wurde es ihm un¬
angenehm, dem Bruder ins Gehege zu kommen, infolge seiner Ähnlichkeit
bei intimen Anlässen mit ihm verwechselt zu werden, und er half sich da¬
durch, daß er homosexuell wurde. Er überließ dem Bruder die Frauen und
war ihm so „ausgewichen“. Ein andermal behandelte ich einen jüngeren
Mann, Künstler und unverkennbar bisexuell angelegt, bei dem sich die
Homosexualität gleichzeitig mit einer Arbeitsstörung durchgesetzt hatte.
Er floh in einem die Frauen Und sein Werk. Die Analyse, die ihn zu beiden
zurückführen konnte, wies die Scheu vor dem Vater als das mächtigste
psychische Motiv für beide Störungen, eigentlich Entsagungen, nach. In
seiner Vorstellung gehörten alle Erauen dem Vater, und er flüchtete zu den
Männern aus Ergebenheit, um dem Konflikt mit dem Vater auszuweichen.
Solche Motivierung der homosexuellen Objektwahl muß sieh häufiger finden
lassen; in den Urzeiten des Menschengeschlechtes war es wohl so, daß alle
Frauen dem Vater uud Oberhaupt der Urhorde gehörten. — Bei Geschwi¬
stern, die nicht Zwillinge sind, spielt solches Ausweichen auch auf anderen
Gebieten als dem der Liebeswahl eine große Rolle. Der ältere Bruder pflegt
z. B. Musik und findet dafür Anerkennung, der jüngere, musikalisch weit
begabter, bricht trotz seiner Sehnsucht danach das Musikstudium bald ab
und ist nicht mehr zu bewegen, ein Instrument zu berühren. Es ist dies
ein einzelnes Beispiel für ein sehr häufiges Vorkommen, und die Unter¬
suchung der Motive, die zum Ausweichen anstatt zur Aufnahme der Kon¬
kurrenz führen, deckt sehr komplizierte psychische Bedingungen auf.
IV. OBER DTE PSYCHOGENESE WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 177
Die so gewonnene Libidoeinstellung wurde nun gefestigt,
als das Mädchen merkte, wie unangenehm sie dem Vater
war. Seit jener ersten Züchtigung wegen einer allzu zärt¬
lichen Annäherung an eine Frau wußte sie, womit sie den
Vater kränken, und wie sie sich an ihm rächen konnte. Sie
blieb jetzt homosexuell aus Trotz gegen den Vater. Sie
machte sich auch kein Gewissen daraus, ihn auf jede Weise
zu hintergehen und zu belügen. Gegen die Mutter war sie
ja nur so weit unaufrichtig, als es nötig war, damit der
Vater nichts erfahre. Ich hatte den Eindruck, daß sie nach
dem Grundsatz der Talion handelte: Hast du mich betrogen,
so mußt du es dir gefallen lassen, daß ich auch dich betrüge.
Auch die auffälligen Unvorsichtigkeiten des sonst raffiniert
klugen Mädchens kann ich nicht anders beurteilen. Der
Vater mußte doch gelegentlich von ihrem Umgang mit der
Dame erfahren, sonst wäre ihr die Rachebefriedigung, die
ihr die dringendste war, entgangen. So sorgte sic dafür, in¬
dem sie sich mit der Angebeteten öffentlich zeigte, in den
Straßen nahe dem Geschäftslokal des Vaters spazieren ging
u. dgl. Auch diese Ungeschicklichkeiten geschahen nicht ab¬
sichtslos. Es ist übrigens merkwürdig, daß beide Eltern sich
so benahmen, als ob sie die geheime Psychologie ihrer
Tochter verstünden. Die Mutter zeigte sich tolerant, als ob
sie das Ausweichen der Tochter als Gefälligkeit würdigte,
der Vater raste, als fühlte er die gegen seine Person ge¬
richtete Racheabsicht.
Die letzte Kräftigung erfuhr aber die Inversion des
Mädchens, als sie in der „Dame“ auf ein Objekt stieß, welches
gleichzeitig dem noch am Bruder haftenden Anteil ihrer
heterosexuellen Libido Befriedigung bot.
Freud, Neurosen lehre. V.
178
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
III.
Die lineare Darstellung eignet sich wenig zur Beschrei¬
bung der verschlungenen und in verschiedenen seelischen
Schichten ablaufenden seelischen Vorgänge. Ich bin genötigt,
in der Diskussion des Falles innezuhalten und einiges von
dem Mitgeteilten zu erweitern und zu vertiefen.
Ich habe erwähnt, daß das Mädchen in ihrem Verhältnis
zur verehrten Dame den männlichen Typus der Liebe an-
nalim. Ihre Demut und zärtliche Anspruchslosigkeit, „che
poco spera e nulla chiede“, die Seligkeit, wenn ihr gestattet
wurde, die Dame ein Stück weit zu begleiten und ihr beim
Abschied die Hand zu küssen, die Freude, wenn sie sie als
schön rühmen hörte, während die Anerkennung ihrer eigenen
Schönheit von fremder Seite ihr gar nichts bedeutete, ihre
Filgerbesuche nach Örtlichkeiten, wo die Geliebte sich vor¬
her einmal auf gehalten hatte, das Verstummen aller weiter
reichenden sinnlichen Wünsche: alle diese kleinen Züge ent¬
sprachen etwa der ersten schwärmerischen Leidenschaft eines
Jünglings für eine gefeierte Künstlerin, die er hoch über
sich stehend glaubt, und zu der er seinen Blick nur schüchtern
zu erheben wagt. Die Übereinstimmung mit einem von mir
beschriebenen „Typus der männlichen Objektwahl“, dessen
Besonderheiten ich auf die Bindung an die Mutter zurück¬
geführt habe *), ging bis in die Einzelheiten. Es konnte auf¬
fällig erscheinen, daß sie durch den schlechten Leumund der
Geliebten nicht im mindesten abgeschreckt wurde, obwohl
ihre eigenen Beobachtungen sie von der Berechtigung dieser
Nachrede genügend überzeugten. Sie war doch eigentlich
ein wohlerzogenes und keusches Mädchen, das für ihre eigene
*) Sammlung kl. Schriften zur Neurosenlehre, IV. Folge, 1919.
IV. ÜBER DIE PSYCHOGENESE WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 179
Person sexuellen Abenteuern aus dem Wege gegangen war
und grobsinnliche Befriedigungen als unästhetisch empfand.
Aber bereits ihre ersten Schwärmereien hatten Frauen ge¬
golten, denen man keine Neigung zu besonders strenger Sitt¬
lichkeit nachrühmte. Den ersten Protest des Vaters gegen
ihre Liebeswahl hatte sie durch die Hartnäckigkeit hervor¬
gerufen, mit der sie sich um den Verkehr mit einer Kino¬
schauspielerin an jenem Sommerorte bemühte. Dabei hatte
es sich keineswegs um Frauen gehandelt, die etwa im Rufe
der Homosexualität standen und ihr somit Aussicht auf solche
Befriedigung geboten hätten; vielmehr warb sie- unlogischer¬
weise-um kokette Frauen im gewöhnlichen Sinne des Wortes;
eine homosexuelle, ihr gleichaltrige Freundin, die sich ihr
bereitwilligst zur Verfügung stellte, wies sie' ohne Bedenken
ab. Der schlechte Ruf der „Dame“ aber war geradezu eine
Liebesbedingung für sie, und alles Rätselhafte dieses Ver¬
haltens verschwindet, wenn wir uns erinnern, daß auch für
jenen von der Mutter abgeleiteten männlichen Typus der
Objektwahl die Bedingung besteht, daß die Geliebte irgend¬
wie „sexuell anrüchig“ sei, eigentlich eine Kokotte genannt
werden dürfe. Als sie später erfuhr, in welchem Ausmaß
diese Kennzeichnung für ihre verehrte Dame zutraf, und daß
diese einfach von der Preisgabe ihres Körpers lebte, bestand
ihre Reaktion in einem großen Mitleid und in der Entwicklung
von Phantasien und Vorsätzen, wie sie die Geliebte aus
diesen unwürdigen Verhältnissen „retten“ könne. Dieselben
Rettungsbestrebungen sind uns bei den Männern jenes von
mir beschriebenen Typus aufgefallen, und ich habe an der
erwähnten Stelle die analytische Ableitung dieses Strebens
zu geben versucht.
In ganz andere Regionen der Erklärung führt die Analyse
12*
180
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
des Selbstmordversuches, den _ich als einen ernstgemeinten
gelten lassen muß, der übrigens ihre Position sowohl bei den
Eltern als auch bei der ' geliebten Dame beträchtlich ver¬
besserte. Sie ging eines Tages mit ihr in einer Gegend und
zu einer Stunde spazieren, wo eine Begegnung mit dem vom
Bureau kommenden Vater nicht unwahrscheinlich war. Der
Vater ging auch an ihnen vorüber und warf einen wütenden
Blick auf sie und die ihm bereits bekannte Begleiterin. Kurz
darauf stürzte sie sich in den Stadtbahngraben. Ihre 'Rechen¬
schaft von der näheren Verursachung ihres Entschlusses: klingt
nun ganz plausibel. Sie hatte der Dame eingestanden, daß
der Herr, der sie beide so böse angeschaut hatte, ihr Vater
sei, der von diesem Verkehr absolut nichts wissen wolle.
Die Dame war nun aufgebraust, hatte ihr befohlen, sie so¬
fort zu verlassen und nie mehr zu erwarten oder anzureden,
diese Geschichte müsse nun ein Ende haben. In der Ver¬
zweiflung darüber, daß sie so die Geliebte für immer ver¬
loren habe, wollte sie sich den Tod geben. Die Analyse ge¬
stattete aber eine andere und tiefer greifende Deutung hinter
der ihrigen aufzudecken und dui’ch ihre eigenen Träume zu
stützen. Der Selbstmordversuch war, wie man erwarten
durfte, außerdem noch zweierlei: eine Straferfüllung (Selbst¬
bestrafung) und eine Wunscherfüllung. Als letztere bedeutete
er die Durchsetzung jenes Wunsches, dessen Enttäuschung
sie in die Homosexualität getrieben hatte, nämlich vom
Vater ein Kind zu bekommen, denn nun kam sie durch die
Schuld des Vaters nieder *). Es stellt die Verbindung dieser
*) Diese Deutungen der Wege des Selbstmords durch sexuelle Wunsch.-
erfüllungen sind längst allen Analytikern vertraut. (Vergiften = schwanger
werden, ertränken = gebären; von einer Höhe herabstürzen = nieder¬
kommen.)
IV. OBER DIE PSYCHOCrENESE WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 181
Tiefendeutung mit der dem Mädchen bewußten, oberfläch¬
lichen her, daß in diesem Moment die Dame genau so ge¬
sprochen hatte wie der Vater und das nämliche Verbot hatte
ergehen lassen. Als Selbstbestrafung bürgt uns die Handlung
des Mädchens dafür, daß sie starke Todeswünsche gegen den
einen oder den anderen Elternteil in ihrem Unbewußten ent¬
wickelt hatte. Vielleicht aus Rachsucht gegen den ihre Liebe
störenden Vater, noch wahrscheinlicher aber auch gegen die
Mutter, als sie mit dem kleinen Bruder schwanger ging.
Denn die Analyse hat uns zum Rätsel des Selbstmordes die
Aufklärung gebracht, daß vielleicht niemand die psychische
Energie sich zu töten findet, der nicht erstens dabei ein
Objekt mittötet, mit dem er sich identifiziert hat, und der
nicht zweitens dadurch einen Todeswunsch gegen sich selbst
wendet, welcher gegen eine andere Person gerichtet war. Die
regelmäßige Aufdeckung solcher unbewußter Todeswünsche
beim Selbstmörder braucht übrigens weder zu befremden, noch
als Bestätigung unserer Ableitungen zu imponieren, denn das
Unbewußte aller Lebenden ist von solchen Todeswünschen,
selbst gegen sonst geliebte Personen, übervoll*). In der Iden¬
tifizierung mit der Mutter, die an der Niederkunft mit diesem,
ihr (der Tochter) vorenthaltenen, Kinde hätte sterben sollen,
ist aber diese Straferfüllung selbst wieder eine Wunsch¬
erfüllung. Endlich, daß die verschiedensten starken Motive
Zusammenwirken mußten, um eine Tat wie die unseres Mäd¬
chens zu ermöglichen, wird unserer Erwartung nicht wider¬
sprechen.
In der Motivierung des Mädchens kommt der Vater nicht
vor, nicht einmal die Angst vor seinem Zorn wird erwähnt.
*) Vgl. Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Imago, IV, 1915. —
Sammlung IV. Eolge, 1919.
182
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
In der von der Analyse erratenen Motivierung fällt ihm die
Hauptrolle zu. Dieselbe entscheidende Bedeutung hatte das
Verhältnis zum Vater auch für den Verlauf-und den Ausgang
der analytischen Behandlung oder vielmehr Exploration.
Hinter der vorgeschützten Rücksicht auf die Eltern, denen
zuliebe sie den Versuch einer Umwandlung unterstützen
wollte, Verbarg sich die Trotz- und Racheeinstellung gegen
den Vater, welche sie in der Homosexualität festhielt. Durch
solche Deckung gesichert, gab der Widerstand ein großes
Gebiet der analytischen Erforschung frei. Die Analyse vollzog
sich fast, ohne Anzeichen von Widerstand, unter reger intel¬
lektueller Beteiligung der Analysierten, aber auch bei völliger
Gemütsruhe derselben. Als ich ihr einmal ein besonders
wichtiges und sie nahe betreffendes Stück der Theorie aus¬
einandersetzte, äußerte sie mit unnachahmlicher Betonung:
Ach, das ist ja sehr interessant, wie eine Weltdame, die durch
ein Museum geführt wird und Gegenstände, die ihr vollkom¬
men gleichgültig sind, durch ein Lorgnon in Augenschein
nimmt. Der Eindruck von ihrer Analyse näherte sich dem
einer hypnotischen Behandlung, in welcher sich der Wider¬
stand gleichfalls bis zu einer bestimmten Grenze zurückge¬
zogen hat, an der er sich dann als unbesiegbar erweist. Die¬
selbe — russische — Taktik, könnte man sie nennen, befolgt
der Widerstand sehr oft in Fällen von Zwangsneurose, die
darum eine Zeitlang die klarsten Ergebnisse liefern und einen
tiefen Einblick in die Verursachung der Symptome gestatten.
Man beginnt dann sich zu wundern, warum so große Fort¬
schritte im analytischen Verständnis auch nicht die leiseste
Änderung in den Zwängen und Hemmungen des Kranken mit
sich bringen, bis man endlich bemerkt, daß alles, was man
zu stände gebracht hat, mit dem Vorbehalt des Zweifels be-
IV. ÜBER DIE PSYCHOGENESE WEIBE. HOMOSEXUALITÄT. 183
haftet war, hinter welchem Schutzwall sich die Neurose sicher
fühlen durfte. „Es wäre ja alles recht schön,“ heißt es im
Kranken, oft auch bewußterweise, „wenn ich dem Manne
Glauben schenken müßte, aber davon ist ja keine Rede, und
solange das nicht der Fall ist, brauche ich auch nichts zu
ändern.“ Nähert man sich dann der Motivierung dieses Zwei¬
fels, so bi'icht der Kampf mit den Widerständen ernsthaft los.
Bei unserem Mädchen war es nicht der Zweifel, sondern
das affektive Moment der Rache am Vater, das ihre kühle
Reserve ermöglichte, die Analyse deutlich in zwei Phasen
zerlegte und die Ergebnisse der ersten Phase so vollständig
und übersichtlich werden ließ. Es hatte auch den Anschein,
als ob bei dem Mädchen nichts einer Übertragung auf den
Arzt Ähnliches zu stände gekommen sei. Aber das ist natür¬
lich ein Widersinn oder eine ungenaue Ausdrucksweise; irgend
ein Verhältnis zum Arzt muß sich doch hersteilen und dies
wird zu allermeist aus einer infantilen Relation übertragen
sein. In Wirklichkeit übertrug sie auf mich die gründliche
Ablehnung des Mannes, von der sie seit ihrer Enttäuschung
durch den Vater beherrscht war. Die Erbitterung gegen den
Mann hat es in der Regel leicht, sich am Arzt zu befriedigen,
sie braucht keine stürmischen Gefühlsäußerungen hervorzu¬
rufen, sie äußert sich einfach in der Vereitlung all seiner
Bemühungen und im Festhalten am Kranksein. Ich weiß aus
Erfahrung, wie schwierig es ist, den Analysierten zum Ver¬
ständnis gerade dieser stummen Symptomatik zu bringen und
solche latente, oft exzessiv große Feindseligkeit ohne Ge¬
fährdung der Kur bewußt zu machen. Ich brach also ab, so¬
bald ich die Einstellung des Mädchens zum Vater erkannt
hatte, und gab den Rat, den therapeutischen Versuch, wenn
man Wert auf ihn legte, bei einer Ärztin fortführen zu lassen.
184
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. Y.
Das Mädchen hatte unterdes dem Vater das Versprechen ab¬
gegeben, wenigstens den Verkehr mit der „Dame“ zu unter¬
lassen, und ich weiß nicht, ob mein Rat, dessen Motivierung
ja durchsichtig ist, befolgt werden wird.
Ein einziges Mal kam auch in dieser Analyse etwas
vor, - was ich als positive Übertragung, als außerordentlich
abgeschwächte Erneuerung der ursprünglichen leidenschaft¬
lichen Verliebtheit in den Vater auffassen konnte. Auch diese
Äußerung war vom Zusatz eines anderen Motivs nicht frei,
ich erwähne sie aber, weil sie nach anderer Richtung ein
interessantes Problem der analytischen Technik zur Frage
bringt. Zu einer gewissen Zeit, nicht lange nach dem Be¬
ginn der Kur, brachte das Mädchen eine Reihe von Träumen
vor, die, gebührend entstellt und in korrekter Traumsprache
abgefaßt, doch leicht und sicher zu übersetzen waren. Ihr
gedeuteter Inhalt war aber auffällig. Sie antizipierten die
Heilung der Inversion durch die Behandlung, drückten ihre
Freude über die ihr nun eröffneten Lebensaussichten aus, ge¬
standen die Sehnsucht nach der Liebe eines Mannes und nach
Kindern ein und konnten somit als erfreuliche Vorbereitung
zur erwünschten Wandlung begrüßt werden. Der Widerspruch
gegen ihre gleichzeitigen Äußerungen im Wachen war sein-
groß. Sie machte mir kein Hehl daraus, daß sie zwar zu
heiraten gedenke, aber nur um sich der Tyrannei des Vaters
zu entziehen und ungestört ihren wirklichen Neigungen zu
leben. Mit dem Manne, meinte sie etwas verächtlich, würde
sie schon fertig werden, und endlich könne man ja, wie das
Beispiel der verehrten Dame zeige, auch gieichzeitig sexuelle
Beziehungen mit einem Manne und mit einer Frau haben.
Durch irgend einen leisen Eindruck gewarnt, erklärte ich
ihr eines Tages, ich glaube diesen Träumen nicht, sie seien
IV. ÜBER DIE PSYCHOGENESE WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 185
lügnerisch oder heuchlerisch, und ihre Absicht sei, mich zu
betrügen, wie sie den Vater zu betrügen pflegte. Ich hatte
Recht, diese Art von Träumen blieb von dieser Aufklärung
an aus. Ich glaube aber doch, neben der Absicht der Irre¬
führung lag auch ein Stück Werbung in diesen Träumen;
es war auch ein Versuch, mein Interesse und meine gute
Meinung zu gewinnen, vielleicht um mich später desto gründ¬
licher zu enttäuschen.
Ich kann mir vorstellen, daß der Hinweis auf die
Existenz solch lügnerischer Gefälligkeitsträume bei manchen,
die sich Analytiker nennen, einen wahren Sturm von hilf¬
loser Entrüstung entfesseln wird. „Also kann auch das Un¬
bewußte lügen, der wirkliche Kern unseres Seelenlebens, das¬
jenige in uns, was dem Göttlichen so viel näher ist als unser
armseliges Bewußtsein! Wie kann man dann noch auf die
Deutungen der Analyse und die Sicherheit unserer Erkennt¬
nisse bauen?“ Dagegen muß gesagt werden, daß die An¬
erkennung'solch lügenhafter Träume eine erschütternde Neu¬
heit nicht bedeutet. Ich weiß zwar, daß das Bedürfnis der
Menschen nach Mystik unausrottbar ist, und daß es un¬
ablässige Versuche macht, das durch die „Traumdeutung“
der Mystik entrissene Gebiet für sie wiederzugewinnen, aber
in dem Falle, der uns beschäftigt, liegt doch alles einfach
genug. Der Traum ist nicht das „Unbewußte“, er ist die
Form, in welche ein aus dem Vorbewußten oder selbst aus
dem Bewußten des Wachlebens erübrigter Gedanke dank der
Begünstigungen des Schlafzustandes umgegossen werden
konnte. Im Schlafzustand hat er die Unterstützung unbe¬
wußter Wunschregungen gewonnen und dabei die Entstellung
durch die „Traumarbeit“' erfahren, welche, durch die fürs
Unbewußte geltenden Mechanismen bestimmt wird. Bei uu-
186
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
serer Träumerin stammte die Absicht, mich irre zu führen,
wie sie es beim Vater zu tun pflegte, gewiß aus dem Vor¬
bewußten, wenn sie nicht etwa gar bewußt war; sie konnte
sich nun durchsetzen, indem sie mit der unbewußten Wunsch¬
regung, dem Vater (oder Vaterersatz) zu gefallen, in Ver¬
bindung trat, und schuf so einen lügnerischen Traum. Die
beiden Absichten, den Vater zu betrügen und dem Vater zu
gefallen, stammen aus demselben Komplex; die erstere ist
aus der Verdrängung der letzteren erwachsen, die spätere
wird durch die Traumarbeit auf die frühere zurückgeführt.
Von einer Entwürdigung des Unbewußten, von einer Er¬
schütterung des Zutrauens in die Ergebnisse unserer Analyse
kann also nicht die Rede sein.
'Ich will die Gelegenheit nicht versäumen, auch einmal
das Erstaunen darüber zu Worte kommen zu lassen, daß die
Menschen so große und bedeutungsvolle Stücke ihres Liebes-
lebens durchmachen können, ohne viel davon zu bemerken,
ja mitunter, ohne das mindeste davon zu ahnen, oder daß
sie, wenn es zu ihrem Bewußtsein kommt, sich mit dem Urteil
so gründlich darüber täuschen. Das geschieht nicht nur unter
den Bedingungen der Neurose, wo wir mit dem Phänomen
vertraut sind, sondern scheint auch sonst recht gewöhnlich
zu sein. In unserem Falle entwickelt ein Mädchen eine
Schwärmerei für Frauen, die von den Eltern zuerst nur als
ärgerlich empfunden, aber kaum ernst genommen wird; sie
selbst weiß wohl, wie sehr sie davon in Anspruch genommen
wird, fühlt aber doch nur wenig von den Sensationen einer
intensiven Verliebtheit, bis sich bei einer bestimmten Ver¬
sagung eine ganz exzessive Reaktion ergibt, die allen Teilen
zeigt, daß man es mit einer verzehrenden Leidenschaft von
elementarer Stärke zu tun hat. Von den Voraussetzungen,
IV. OBER DIE PSYCHOGENESE WEIBE. HOMOSEXUALITÄT. 187
die für das Hervorbrechen eines solchen seelischen Sturmes
erforderlich sind, hat auch das Mädchen niemals etwas be¬
merkt. Andere Male trifft man auf Mädchen oder Frauen
in schweren Depressionen, die, nach der möglichen Verur¬
sachung- ihres Zustandes befragt, die Auskunft geben, sie
haben wohl ein gewisses Interesse für eine bestimmte Person
verspürt, aber es sei ihnen nicht tief gegangen und sie seien
sehr bald damit fertig geworden, nachdem es aufgegeben
werden mußte. Und doch ist dieser anscheinend so leicht
ertragene Verzicht die Ursache der schweren Störung ge¬
worden. Oder man hat es mit Männern zu tun, die ober¬
flächliche Liebesbeziehungen zu Frauen erledigt haben und
erst aus den Folgeerscheinungen erfahren müssen, daß sie
in das angeblich geringgeschätzte Objekt leidenschaftlich ver¬
liebt waren. Man erstaunt auch über die ungeahnten Wir¬
kungen, die von einem künstlichen Abortus, der Tötung einer
Leibesfrucht, ausgehen können, zu der man sich ohne Reue
und Bedenken entschlossen hatte. Man sieht sich so genötigt,
den Dichtern Recht zu geben, die uns mit Vorliebe Personen
schildern, welche lieben ohne es zu wissen, oder die es nicht
wissen, ob sie lieben, oder die zu hassen glauben, während
sie lieben. Es scheint, daß gerade die Kunde, die unser Be¬
wußtsein von unserem Liebesieben erhält, besonders leicht
unvollständig, lückenhaft oder gefälscht sein kann. In diesen
Erörterungen habe ich es natürlich nicht versäumt, den Anteil
eines nachträglichen Vergessens in Abzug zu bringen.
IV.
Ich kehre nun zu der vorhin abgebrochenen Diskussion
des Falles zurück. Wir haben uns einen Überblick über die
Kräfte verschafft, welche die Libido des Mädchens aus der
188
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
normalen Ödipuseinstellung in die der Homosexualität über¬
führt haben, und über die psychischen Wege, die dabei be¬
schritten worden sind. Obenan unter diesen bewegenden
Kräften stand der Eindruck der Geburt ihres kleinen Bru¬
ders, und somit ist uns nahegelegt, den Fall als einen von
spät erworbener Inversion, zu klassifizieren.
Allein hier werden wir auf ein Verhältnis aufmerksam,
welches uns auch bei -vielen anderen Beispielen von psycho¬
analytischer Aufklärung eines seelischen Vorganges entgegen¬
tritt. Solange wir die Entwicklung von ihrem Endergebnis
aus nach rückwärts verfolgen, stellt sich uns ein lückenloser
Zusammenhang her, und wir halten unsere Einsicht für voll¬
kommen befriedigend, vielleicht für erschöpfend. Nehmen
wir aber den umgekehrten Weg, gehen wir von den durch
die Analyse gefundenen Voraussetzungen aus und suchen
diese bis zum Resultat zu verfolgen, so kommt uns der Ein¬
druck einer notwendigen und auf keine andere Weise zu be¬
stimmenden Verkettung ganz abhanden. Wir merken sofort,
es hätte sich auch etwas anderes- ergeben können, und dies
andere Ergebnis hätten wir ebensogut verstanden und auf¬
klären können. Die Synthese ist also nicht so befriedigend
wie die Analyse; mit anderen Worten, wir wären nicht im
stände, aus der Kenntnis der Voraussetzungen die Natur des
Ergebnisses vorherzusagen.
Es ist sehr leicht, diese betrübliche Erkenntnis auf ihre
Ursachen zurückzuführen. Mögen uns auch die ätiologischen
Faktoren, welche für einen bestimmten Erfolg maßgebend
sind, vollständig bekannt sein, wir kennen sie doch nur nach
ihrer qualitativen Eigenart und nicht nach ihrer relativen
Stärke. Einige von ihnen werden als zu schwach von anderen
unterdrückt werden und für das Endergebnis nicht in Be-
IV. ÜBER DIE P8YCHQGENESE WEIBE. HOMOSEXUALITÄT. ' 189
tracht kommen. Wir wissen aber niemals vorher, welche der
bestimmenden Momente sich als die schwächeren oder stär¬
keren erweisen werden. Wir sagen nur am Ende, die sich
durchgesetzt haben, das waren die stärkeren. Somit ist die
Verursachung in der Richtung der Analyse jedesmal sicher
zu erkennen, deren Vorhersage in der Richtung der Synthese
aber unmöglich.
Wir wollen also nicht behaupten, daß jedes Mädchen,
dessen aus der Ödipuseinstellung der Pubertätsjahre her-
rülirende Liebessehnsucht eine solche Enttäuschung erfährt,
darum notwendigerweise der Homosexualität verfallen wird.
Andersartige Reaktionen auf dies Trauma werden im Ge¬
genteil häufiger sein. Dann müssen aber bei diesem Mäd¬
chen besondere Momente den Ausschlag gegeben haben, solche
außerhalb des Traumas, wahrscheinlich innerer Natur. Es
hat auch keine Schwierigkeit, sie aufzuzeigen.
Bekanntlich braucht es auch beim Normalen eine gewisse
Zeit, bis sich die Entscheidung über das Geschlecht des
Liebesobjekts endgültig durchgesetzt hat. Homosexuelle
Schwärmereien, übermäßig starke, sinnlich betonte .Freund¬
schaften sind bei beiden Geschlechtern in den ersten .Jahren
nach der Pubertät recht gewöhnlich. So war es auch bei
unserem Mädchen, aber diese Neigungen zeigten sich bei ihr
unzweifelhaft stärker und hielten länger an als bei anderen.
Dazu kommt, daß diese Vorboten der späteren Homosexualität
immer ihr bewußtes Leben eingenommen hatten, während die
dem Ödipuskomplex entspringende Einstellung unbewußt ge¬
blieben war und nur in solchen Anzeichen wie jene Ver¬
zärtelung des kleinen Knaben zum Vorschein kam. Als Schul¬
mädchen war sie lange Zeit verliebt in eine unnahbar strenge
Lehrerin, einen offenkundigen Mutterersatz. Ein besonders
190
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
lebhaftes Interesse für manche jungmütterliche Frauen hatte
sie lange vor der Geburt des Bruders und um so sicherer
lange Zeit vor jener ersten Zurechtweisung durch den Vater
gezeigt. Ihre Libido lief also von sehr früher Zeit her in
zwei Strömungen, von denen die oberflächlichere unbedenklich
eine homosexuelle genannt werden darf. Diese war wahr¬
scheinlich die direkte, unverwandelte Fortsetzung einer in¬
fantilen Fixierung an die Mutter. Möglicherweise haben wir
durch unsere Analyse auch nichts anderes aufgedeckt als den
Prozeß, der bei einem geeigneten Anlaß auch die tiefere
heterosexuelle Libidoströmung in die manifeste homosexuelle
überführte.
Ferner lehrte die Analyse, daß das Mädchen aus ihren
Kinderjahren einen stark betonten „Männlichkeitskomplex“
mitgebracht hatte. Lebhaft, rauflustig, durchaus nicht ge¬
willt, hinter dem wenig älteren Bruder zurückzustehen, hatte
sie seit jener Inspektion der Genitalien einen mächtigen Penis¬
neid entwickelt, dessen Abkömmlinge immer noch ihr Denken
erfüllten. Sie war eigentlich eine Frauenrechtlerin, fand es
ungerecht, daß die Mädchen nicht dieselben Freiheiten ge¬
nießen sollten wie die Burschen, und sträubte sich überhaupt
gegen das Los der Frau. Zur Zeit der Analyse waren ihr
Schwangerschaft und Kindergebären unliebsame Vorstellungen,
wie ich vermute, auch wegen der damit verbundenen körper¬
lichen Entstellung. Auf diese Abwehr hatte sich ihr mädchen¬
hafter Narzißmus zurückgezogen*), der sich nicht mehr als
Stolz auf ihre Schönheit äußerte. Verschiedene Anzeichen
wiesen auf eine ehemals sehr starke Schau- und Exhibitions¬
lust hin. Wer das Becht der Erwerbung in der Ätiologie
nicht verkürzt sehen will, wird aufmerksam machen, daß das
*) Vgl. Kriemhilds Bekenntnis im Nibelungenlied.
IV. ÜBER DIE PSYCHOGXNESE WEIBL. HOMOSEXUALITÄT. 191
geschilderte Verhalten des Mädchens gerade so war, wie es
durch die vereinte Wirkung der mütterlichen Zurücksetzung
und der Vergleichung ihrer Genitalien mit denen des Bruders
bei starker Mutterfixierung bestimmt werden mußte. Auch
hier besteht eine Möglichkeit, etwas auf Prägung durch früh¬
zeitig wirksamen äußeren Einfluß zurückzuführen, was man
gern als konstitutionelle Eigenart aufgefaßt hätte. Und auch
von dieser Erwerbung — wenn sie wirklich stattgefunden
hat — wird ein Anteil auf Rechnung der mitgebrachten Kon¬
stitution zu setzen sein. So vermengt und vereinigt sich in
der Beobachtung beständig, was wir in der Theorie zu einem
Paar von Gegensätzen — Vererbung und Erwerbung — aus¬
einanderlegen möchten.
Hatte ein früherer, vorläufiger Abschluß der Analyse zum
Ausspruch geführt, es handle sich um einen Fall von später
Erwerbung der Homosexualität, so drängt die jetzt vorge¬
nommene Überprüfung des Materials vielmehr zum Schluß,
cs liege angeborene Homosexualität vor, die sich wie ge¬
wöhnlich erst in der Zeit nach der Pubertät fixiert und un¬
verkennbar gezeigt habe. Jede dieser Klassifizierungen wird
nur einem Anteil des durch Beobachtung festzustellenden
Sachverhaltes gerecht, vernachlässigt den anderen. Wir treffen
das Richtige, wenn wir den Wert dieser Fragestellung über¬
haupt gering veranschlagen.
Die Literatur der Homosexualität pflegt die Fragen der
Objektwahl einerseits und des Geschlechtscharakters und der
geschlechtlichen Einstellung anderseits nicht scharf genug zu
trennen, als ob die Entscheidung über den einen Punkt not¬
wendigerweise mit der des anderen verknüpft wäre. Die Er¬
fahrung zeigt jedoch das Gegenteil: Ein Mann mit über¬
wiegend männlichen Eigenschaften, der auch den männlichen
192
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Typus des Liebeslebens zeigt, kann doch in bezug aufs Objekt
invertiert sein, nur Männer anstatt Frauen lieben. Ein Mann,
in dessen Charakter die weiblichen Eigenschaften augenfällig
vorwiegen, ja, der sich in der Liebe wie ein Weib benimmt,
sollte durch diese weibliche Einstellung auf den Mann als
Liebesobjekt hingewiesen werden; er kann aber trotzdem
heterosexuell sein, nicht mehr Inversion in bezug aufs Objekt
zeigen als durchschnittlich ein Normaler. Dasselbe gilt für
Frauen, auch bei ihnen treffen psychischer Geschlechts¬
charakter und Objektwahl nicht zu fester Relation zusammen.
Das Geheimnis der Homosexualität ist also keineswegs so
einfach, wie man es zum populären Gebz - auch gern darstellt:
Eine weibliche Seele, die darum den Mann lieben muß, zum
Unglück in einen männlichen Körper geraten, oder eine
männliche Seele, die unwiderstehlich vom Weib angezogen
w T ird, leider in einen -weiblichen Leib gebannt. Vielmehr han¬
delt es sich um drei Reihen von Charakteren
Somatische Geschlechtscharaktere — Psychischer Geschlechtscharakter
(Physischer Hermaphroditismus) /männl.
\weibl. »“Stellung)
— Art der Objektwahl,
die bis zu einem gewissen Grade voneinander unabhängig
variieren und sich bei den einzelnen Individuen in mannig¬
fachen Permutationen vorfinden. Die tendenziöse Literatur
hat den Einblick in diese Verhältnisse erschwert, indem sie
aus praktischen Motiven das dem Laien allein auffällige
Verhalten im dritten Punkt, dem der Objektwahl, in den
Vordergrund rückt und außerdem die Festigkeit der Beziehung
zwischen diesem und dem ersten Punkt übertreibt. Sie ver¬
sperrt sich auch den Weg, der zur tieferen Einsicht in all
das führt-, was man uniform als Homosexualität bezeichnet,
indem sie sich gegen zwei Grundtatsachen sträubt, welche
IV. ÜBER DIE PSYCHOGENESE WEIBL. HOMOSEXDALITAT. 193
die psychoanalytische Forschung aufgedeckt hat. Die erste,
daß die homosexuellen Männer eine besonders starke Fixie¬
rung an die Mütter erfahren haben; die zweite, daß alle
Normalen neben ihrer manifesten Heterosexualität ein sehr
erhebliches Ausmaß von latenter oder unbewußter Homo¬
sexualität erkennen lassen. Trägt man diesen Funden Rech¬
nung, so ist es allerdings um die Annahme eines von der
Natur in besonderer Laune geschaffenen „dritten Geschlechts“'
geschehen.
Die Psychoanalyse ist nicht dazu berufen, das Problem
der Homosexualität zu lösen. Sie muß sich damit begnügen,
die psychischen Mechanismen zu enthüllen, die zur Ent¬
scheidung in der Objekt wähl geführt haben, und die Wege
von ihnen zu den Triebanlagen zu verfolgen. Dann bricht
sie ab und überläßt das übrige der biologischen Forschung,
die gerade jetzt in den Versuchen von Steinach*) so be¬
deutungsvolle Aufschlüsse über die Beeinflussung der obigen
zweiten und dritten Reihe durch die erste zu Tage fördert.
Sie steht auf gemeinsamem Boden mit der Biologie, indem
sie eine ursprüngliche Bisexualität des menschlichen (wie des
tierischen) Individuums zur Voraussetzung nimmt. Aber das
Wesen dessen, was man im konventionellen oder im biolo¬
gischen Sinne „männlich“ und „weiblich“ nennt, kann die
Psychoanalyse niclit aufklären, sie übernimmt die beiden Be¬
griffe und legt sie ihren Arbeiten zu Grunde. Beim Versuch
einer weiteren Zurückführung verflüchtigt sich ihr die Männ¬
lichkeit zur Aktivität, die Weiblichkeit zur Passivität, und
das ist zu wenig. Inwieweit die Erwartung zulässig oder
bereits durch Erfahrung bestätigt ist, es werde sich auch
*) S. A. Lipschütz, Die Pubertätsdrüse .und ihre Wirkungen.
E. Bircker, Bern 1919.
Freud, NeuroBenlehre. V.
13
194
SCHEUTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
aus dem Stück Aufklärungsarbeit, welches in den Bereich
der Analyse fällt, eine Handhabe zur Abänderung der In¬
version ergeben, habe ich vorhin auszuführen versucht. Ver¬
gleicht man dieses Ausmaß von Beeinflussung mit den gro߬
artigen Umwälzungen, die Steinach in einzelnen Fällen
durch operative Eingriffe erzielt hat, so macht es wohl keinen
imposanten Eindruck. Indes wäre es Voreiligkeit oder schäd¬
liche Übertreibung, wenn wir uns jetzt schon Hoffnung auf
eine allgemein brauchbare „Therapie“ der Inversion machten.
Die Fälle von männlicher Homosexualität, in denen Steinacli
Erfolg gehabt hat, erfüllten die nicht immer vorhandene
Bedingung eines überdeutlichen somatischen „Hermaphro¬
ditismus“. Die Therapie einer weiblichen Homosexualität auf
analogem Wege ist zunächst ganz unklar. Sollte sie in der
Entfernung der wahrscheinlich hermaphroditischen Ovarien
und Einpflanzung anderer, hoffentlich eingeschlechtiger, be¬
stehen, so würde sie praktisch wenig Aussicht auf Anwendung
haben. Ein weibliches Individuum, das sich männlich gefühlt
und auf männliche Weise geliebt hat, wird sich kaum in die
weibliche Bolle drängen lassen, wenn es diese, nicht durch¬
aus vorteilhafte, Umwandlung mit dem Verzicht auf die
Mutterschaft bezahlen muß. '
Y.
„EIN KIND WIRD GESCHLAGEN.“*)
Beitrag zur Kenntnis der Entstehung sexueller Perversionen.
I.
Die Phantasievorstellung: „ein Kind wird geschlagen“
wird mit überraschender Häufigkeit von Personen eingestan¬
den, die wegen einer Hysterie oder einer Zwangsneurose die
analytische Behandlung aufgesucht haben. Es ist recht wahr¬
scheinlich, daß sie noch öfter bei anderen vorkommt, die
nicht durch manifeste Erkrankung zu diesem Entschluß ge¬
nötigt worden sind.
An diese Phantasie sind Lustgefühle geknüpft, wegen
welcher sie ungezählte Male reproduziert worden ist oder
noch immer reproduziert wird. Auf der Höhe der vorgestellten
Situation setzt sich last regelmäßig eine onanistische Be¬
friedigung (an den Genitalien also) durch, anfangs mit
Willen der Person, aber ebenso späterhin mit Zwangscharakter
gegen ihr Widerstreben.
Das Eingeständnis dieser Phantasie erfolgt nur zögernd,
die Erinnerung an ihr erstes Auftreten ist unsicher, der ana¬
lytischen Behandlung des Gegenstandes tritt ein unzweideu¬
tiger Widerstand entgegen, Schämen und Schuldbewußtsein
*) Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, V. 1919.
13*
196
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
regen sich hiebei vielleicht kräftiger als bei ähnlichen Mit¬
teilungen über die erinnerten Anfänge des Sexuallebens.
Es läßt sich endlich feststellen, daß die ersten Phantasien
dieser Art sehr frühzeitig gepflegt worden sind, gewiß vor
dem Schulbesuch, schon im fünften und sechsten Jahr. Wenn
das Kind in der Schule mitangesehen hat, wie andere Kinder
vom Lehrer geschlagen wurden, so hat dies Erleben die
Phantasien wieder hervorgerufen, wenn sie eingeschlafen
waren, hat sie verstärkt, wenn sie noch bestanden, und ihren
Inhalt in merklicher Weise modifiziert. Es wurden von da
an „unbestimmt viele“ Kinder geschlagen. Der Einfluß der
Schule war so deutlich, daß die betreffenden Patienten zu¬
nächst versucht waren, ihre Schlagephantasien ausschließlich
auf diese Eindrücke der Schulzeit, nach dem sechsten Jahr,
zurückzuführen. Allein dies ließ sich niemals halten; sie
waren schon vorher vorhanden gewesen.
Hörte das Schlagen der Kinder in höheren Schulklassen
auf, so wurde dessen Einfluß durch die Einwirkung der bald
zu Bedeutung kommenden Lektüre mehr als nur ersetzt. In
dem Milieu meiner Patienten waren es fast immer die näm¬
lichen, der Jugend zugänglichen -Bücher, aus deren Inhalt
sich die Schlagephantasien neue Anregungen holten: die so¬
genannte Bibliotlieque rose, Onkel Toms Hütte u. dgl. Im
Wetteifer mit diesen Dichtungen begann die eigene Phantasie¬
tätigkeit des Kindes, einen Reichtum von Situationen und
Institutionen zu erfinden, in denen Kinder wegen ihrer
Schlimmheit und ihrer Unarten geschlagen oder in anderer
Weise bestraft und gezüchtigt werden.
Da die Phantasievorstellung, ein Kind wird geschlagen,
regelmäßig mit hoher Lust besetzt war und in einen Akt
lustvoller autoerotischer Befriedigung auslief, könnte man er-
197
V. „EIN KIND WIED GESCHLAGEN.“
warten, daß auch das Zuschauen, wie ein anderes Kind in
der Schule geschlagen wurde, eine Quelle ähnliches Genusses
gewesen sei. Allein dies war nie der Kall. Das Miterleben
realer Schlageszenen in der Schule rief beim zuschauenden
Kinde ein eigentümlich aufgeregtes, wahrscheinlich gemisch¬
tes, Gefühl hervor, an dem die Ablehnung einen großen Anteil
hatte. In einigen hüllen wurde das reale Erleben der Schlage¬
szenen als unerträglich empfunden. Übrigens wurde auch in
den raffinierten Phantasien späterer Jahre an der Bedingung
festgehalten, daß den gezüchtigten Kindern kein ernsthafter
Schaden zugefügt werde.
Man mußte die Frage aufwerfen, welche Beziehung zwi¬
schen der Bedeutung der Schlagephantasien und der Rolle
bestehen möge, die reale körperliche Züchtigungen in der
häuslichen Erziehung des Kindes gespielt hätten. Die nächst-
liegende Vermutung, es werde sich hiebei eine umgekehrte
Relation ergeben, ließ sich infolge der Einseitigkeit des Ma¬
terials nicht erweisen. Die Personen, die den Stoff für diese
Analysen hergaben, waren in ihrer Kindheit sehr selten ge¬
schlagen, waren jedenfalls nicht mit Hilfe von Prügeln er¬
zogen worden. Jedes dieser Kinder hatte natürlich doch
irgend einmal die überlegene Körperkraft seiner Eltern oder
Erzieher zu spüren bekommen; daß es an Schlägereien zwi¬
schen den Kindern selbst in keiner Kinderstube gefehlt, be¬
darf keiner ausdrücklichen Hervorhebung.
Bei jenen frühzeitigen und simplen Phantasien, die nicht
offenkundig auf den Einfluß von Schuleindrücken oder Szenen
aus der Lektüre liinweisen, wollte die Forschung gern mehr
erfahren. Wer war das geschlagene Kind? Das phantasierende
selbst oder ein fremdes? War es immer dasselbe Kind oder
beliebig oft ein anderes? Wer war es, der das Kind schlug?
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
198
Eia Erwachsener? Und wer dann? Oder phantasierte das
Kind, daß es selbst ein anderes schlüge? Auf alle diese Fragen
kam keine aufklärende Auskunft, immer nur die eine scheue
Antwort: Ich weiß nichts mehr darüber: ein Kind wird ge¬
schlagen.
Erkundigungen nach dem Geschlecht des geschlagenen
Kindes hatten mehr Erfolg, brachten aber auch kein Ver¬
ständnis. Manchmal wurde geantwortet: Immer nur Buben,
oder: Nur Mädel; öfter hieß es: Das weiß ich nicht, oder:
Das ist gleichgültig. Das, worauf es dem Fragenden ankam,
eine konstante Beziehung zwischen dem Geschlecht des phan¬
tasierenden und dem des geschlagenen Kindes, stellte sich
niemals heraus. Gelegentlich einmal kam noch ein charak¬
teristisches Detail aus dem Inhalt der Phantasie zum Vor¬
schein : Das kleine Kind wird auf den nackten Popo ge¬
schlagen.
Unter diesen Umständen konnte man vorerst nicht ein¬
mal entscheiden, ob die an der Schlagephantasie haftende
Lust all eine sadistische oder als eine masochistische zu be¬
zeichnen sei.
II.
Die Auffassung einer solchen, im frühen Kindesalter viel¬
leicht bei. zufälligen Anlässen auf tauchenden, und zur auto¬
erotischen Befriedigung festgehaltenen Phantasie kann nach
unseren bisherigen Einsichten nur lauten, daß es sich hiebei
um einen primären Zug von Perversion handle. Eine der
Komponenten der Sexualfunktion sei den anderen in der Ent¬
wicklung vorangeeilt, habe sich vorzeitig selbständig gemacht,
sich fixiert und dadurch den späteren Entwicklungsvorgängen
entzogen, damit aber ein Zeugnis für eine besondere, anomale
V. ..EIN KIND WIED GESCHLAGEN:
199
Konstitution der Person gegeben. Wir wissen, daß eine solche
infantile Perversion nicht fürs Leben zu verbleiben braucht,
sie kann noch später der Verdrängung verfallen, durch eine
Reaktionsbildung ersetzt oder durch eine Sublimierung um¬
gewandelt werden. (Vielleicht ist es aber so, .daß die Subli¬
mierung aus einem besonderen Prozeß hervorgeht, welcher
durch die Verdrängung hintangehalten würde.) Wenn aber
diese Vorgänge ausbleiben, dann erhält sich die Perversion
im reifen Leben, und wo wir beim Erwachsenen eine sexuelle
Abirrung — Perversion, Fetischismus, Inversion — vorfinden,
da erwarten wir mit Recht, ein solches fixierendes Ereignis
der Kinderzeit durch anamnestische Erforschung aufzudecken.
Ja lange vor der Zeit der Psychoanalyse haben Beobachter
wie Einet die sonderbaren sexuellen Abirrungen der Reife¬
zeit auf solche Eindrücke, gerade der nämlichen Kinderjahre
von fünf oder sechs an, zurückführen können. Man war hie¬
bei allerdings auf eine Schranke unseres Verständnisses ge¬
stoßen, denn den fixierenden Eindrücken fehlte jede trau¬
matische Kraft, sie waren zumeist banal und für andere
Individuen nicht aufregend; man konnte nicht sagen, warum
sich das Sexualstreben gerade an sie fixiert hatte. Aber man
konnte ihre Bedeutung darin suchen, daß sie eben der vor¬
eiligen und sprungbereiten Sexualkomponente den wenn auch
zufälligen Anlaß zur Anheftung geboten hatten, und man
mußte ja darauf vorbereitet sein, daß die Kette der Kausal-
verknüpfung irgendwo ein vorläufiges Ende finden werde.
Gerade die mitgebrachte Konstitution schien allen Antor-
rungen an einen solchen Haltepunkt zu entsprechen.
Wenn die frühzeitig losgerissene Sexualkomponente die
sadistische ist, so bilden wir auf Grund anderswo gewonnener
Einsicht die Erwartung, daß durch spätere Verdrängung der-
200
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
selben eine Disposition zur Zwangsneurose geschaffen werde.
Man kann nicht sagen, daß dieser Erwartung durch das Er¬
gebnis der Untersuchung widersprochen wird. Unter den
sechs Fällen, auf deren eingehendem Studium diese kleine
Mitteilung aufgebaut ist (vier Frauen, zwei Männer) befanden
sich Fälle von Zwangsneurose, ein allerschwerster, lebens-
zefstörender, und ein mittelschwerer, der Beeinflussung gut
zugängliche!-, ferner ein dritter, der wenigstens einzelne deut¬
liche Züge der Zwangsneurose aufwies. Ein vierter Fall war
freilich eine glatte Hysterie mit Schmerzen und Hemmungen,
und ein fünfter, der die Analyse bloß wegen Unschlüssig¬
keiten im Leben aufsuchte, wäre von grober klinischer Dia¬
gnostik überhaupt nicht klassifiziert oder als „Psychasthe-
niker‘ : abgetan worden. Man darf in dieser Statistik keine
Enttäuschung erblicken, denn erstens wissen wir, daß nicht
jegliche Disposition sich zur Affektion w*eiter entwickeln
muß, und zweitens darf es uns genügen zu erklären, was
vorhanden ist, und dürfen wir uns der Aufgabe, auch ver¬
stehen zu lassen, warum etwas nicht zu stände gekommen ist,
im allgemeinen entziehen.
So weit und nicht weiter würden uns unsere gegen¬
wärtigen Einsichten ins Verständnis der Schlagephantasien
eindringen lassen. Eine Ahnung, daß das Problem liiemit
nicht erledigt ist, regt sich allerdings beim analysierenden
Arzte, wenn er sich eingestehen muß, daß diese Phantasien
meist abseits vom übrigen Inhalt der Xeurose bleiben und
keinen rechten Platz in deren Gefüge einnehmen, aber man
pflegt, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, über solche Ein¬
drücke gern hinwegzugehen.
V. „EIN KIND WIRD GESCHLAGEN.'
201
III.
Streng genommen — und warum sollte man dies nicht
so streng als möglich nehmen? —, verdient die Anerkennung
als korrekte Psychoanalyse nur die analytische Bemühung,
der es gelungen ist, die Amnesie zu beheben, welche dem
Erwachsenen die Kenntnis seines Kinderlebens vom Anfang
an (das heißt etwa vom zweiten bis zum fünften Jahr) ver¬
hüllt. Man kann das unter Analytikern nicht laut genug
sagen und nicht oft genug wiederholen. Die Motive, sich
über diese Mahnung hinwegzusetzen, sind ja begreiflich. Man
möchte brauchbare Erfolge in kürzerer Zeit und mit gerin¬
gerer Mühe erzielen. Aber gegenwärtig ist die theoretische
Erkenntnis noch ungleich wichtiger für jeden von uns als
der therapeutische Erfolg, und wer die Kindheitsanalyse ver¬
nachlässigt, muß notwendig den folgenschwersten Irrtümern
verfallen. Eine Unterschätzung des Einflusses späterer Er¬
lebnisse wird durch diese Betonung der Wichtigkeit der
frühesten nicht bedingt; aber die späteren Lebenseindrücke
sprechen in der Analyse laut genug durch den Mund des
Kranken, für das Anrecht der Kindheit muß erst der Arzt
die Stimme erheben.
Die Kinderzeit zwischen zwei und vier oder fünf Jahren
ist diejenige, in welcher die mitgebrachten libidinösen Fak¬
toren von den Erlebnissen zuerst geweckt und an gewisse
Komplexe gebunden werden. Die hier behandelten Schlage¬
phantasien zeigen sich erst zu Ende oder nach Ablauf dieser
Zeit. Es könnte also wohl sein, daß sie eine Vorgeschichte
haben, eine Entwicklung durchmachen, einem Endausgang,
nicht einer Anfangsäußerung entsprechen.
Diese Vermutung wird durch die Analyse bestätigt. Die
konsequente Anwendung derselben lehrt, daß die Schlage-
202
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Phantasien eine gar nicht einfache Entwicklungsgeschichte
haben, in deren Verlauf sich das meiste an ihnen mehr als
einmal ändert: ihre Beziehung zur phantasierenden Person,
ihr Objekt, Inhalt und ihre Bedeutung.
Zur leichteren Verfolgung dieser Wandlungen in den
Schlagephantasien werde ich mir nun gestatten, meine Be¬
schreibungen auf die weiblichen Personen einzuschränken, die
ohnedies (vier gegen zwei) die Mehrheit meines Materials
ausmachen. An die Schlagephantasien der Männer knüpft
außerdem ein anderes Thema an, das ich in dieser Mitteilung
beiseite lassen will. Ich werde mich dabei bemühen, nicht
mehr zu schematisieren, als zur Darstellung eines durch¬
schnittlichen Sachverhaltes unvermeidlich ist. Mag dann
weitere Beobachtung auch eine größere Mannigfaltigkeit der
Verhältnisse ergeben, so bin ich doch sicher, ein typisches
Vorkommnis, und zwar nicht von seltener Art, erfaßt zu haben.
Die erste Phase der Schlagephantasien bei Mädchen also
muß einer sehr frühen Kinderzeit angehören. Einiges an ihnen
bleibt in merkwürdiger Weise unbestimmbar, als ob es gleich¬
gültig wäre. Die kärgliche Auskunft, die man von den Pa¬
tienten bei der ersten Mitteilung erhalten hat: Ein Kind wird
geschlagen, erscheint, für diese Phantasie gerechtfertigt. Allein
anderes ist mit Sicherheit bestimmbar und dann allemal im
gleichen Sinne. Das. geschlagene Kind ist nämlich nie das
phantasierende, regelmäßig ein anderes Kind, zumeist ein
Geschwisterclien, wo ein solches vorhanden ist. Da dies
Bruder oder Schwester sein kann, kann sich hier auch keine
konstante Beziehung zwischen dem Geschlecht des phanta¬
sierenden und dem des geschlagenen Kindes ergeben. Die
Phantasie ist also sicherlich keine masochistische; man möchte
sie sadistisch nennen, allein man darf nicht außer acht lassen,
V. „EIN KIND WIRD GESCHLAGEN. 1
203
daß das phantasierende Kind auch niemals selbst das schla¬
gende ist. Wer in Wirklichkeit die schlagende Person ist,
bleibt zunächst unklar. Es läßt sich nur feststellen: kein
anderes Kind, sondern ein Erwachsener. Diese unbestimmte
erwachsene Person wird dann späterhin klar und eindeutig
als der Vater (des Mädchens) kenntlich.
Diese erste Phase der Schlagephantasie wird also voll
wiedergegeben durch den Satz: Der Vater schlägt das
Kind. Ich verrate viel von dem später aufzuzeigenden In¬
halt, wenn ich anstatt dessen sage: Der Vater schlägt das
mir verhaßte Kind. Man kann übrigens schwankend wer¬
den, ob man dieser Vorstufe der späteren Schlagephantasie
auch schon den Charakter einer „Phantasie * 1 zuerkennen soll.
Es handelt sich vielleicht eher um Erinnerungen an solche
Vorgänge, die man mitangesehen hat, an Wünsche, die bei
verschiedenen Anlässen aufgetreten sind, aber diese Zweifel
haben keine Wichtigkeit.
Zwischen dieser ersten und der nächsten Phase haben sich
große Umwandlungen vollzogen. Die schlagende Person ist
zwar die nämliche, die des Vaters, geblieben, aber das ge¬
schlagene Kind ist ein anderes geworden, es ist regelmäßig
die des phantasierenden Kindes selbst, die Phantasie ist in
hohem Grade lustbetont und hat sich mit einem bedeutsamen
Inhalt erfüllt, dessen Ableitung uns später beschäftigen wird.
Ihr Wortlaut ist jetzt also: Ich werde vom Vater ge¬
schlagen. Sie hat unzweifelhaft masochistischen Charakter.
Diese zweite Phase ist die wichtigste und folgenschwerste
von allen. Aber man kann in gewissem Sinne von ihr sagen,
sie habe niemals eine reale Existenz gehabt. Sie wird in
keinem Palle erinnert, sie hat es nie zum Bewußtwerden ge-
204
SCHRIFTEN ZUR, NEUROSENLEHRE. V.
bracht. Sie ist eine Konstruktion der Analyse, aber darum
nicht minder eine Notwendigkeit.
Die dritte Phase ähnelt wiederum der ersten. Sie hat
den aus der Mitteilung der Patientin bekannten Wortlaut.
Die schlagende Person ist niemals die des Vaters, sie wird
entweder wie in der ersten Phase unbestimmt gelassen, oder
in typischer Weise durch einen Vatervertreter (Lehrer) be¬
setzt. Die eigene Person des phantasierenden Kindes kommt
in der Schlagephantasie nicht mehr zum Vorschein. Auf ein¬
dringliches Befragen äußern die Patienten nur: Ich schaue
wahrscheinlich zu. Anstatt des einen geschlagenen Kindes
sind jetzt meistens viele Kinder vorhanden. Überwiegend
häufig sind es (in den Phantasien der Mädchen) Buben, die
geschlagen werden, aber auch nicht individuell bekannte. Die
ursprüngliche einfache und monotone Situation des Geschlagen¬
werdens kann die mannigfaltigsten Abänderungen und Aus¬
schmückungen erfahren, das Schlagen selbst durch Strafen
und Demütigungen anderer Art ersetzt werden. Der wesent¬
liche Charakter aber, der auch die einfachsten Phantasien
dieser Phase von denen der ersten unterscheidet, und der
die Beziehung zur mittleren Phase herstellt, ist der folgende:
die Phantasie ist jetzt der Träger einer starken, unzweideutig
sexuellen Erregung und vermittelt als solcher die onanistische
Befriedigung. Gerade das ist aber das Rätselhafte; auf wel¬
chem Wege ist die nunmehr sadistische Phantasie, daß fremde
und unbekannte Buben geschlagen werden, zu dem von da
an dauernden Besitz der libidinösen Strebung des kleinen
Mädchens gekommen ?
Wir verhehlen uns auch nicht, daß Zusammenhang und
Aufeinanderfolge der drei Phasen der Schlagephantasie wie
V. „EIN KIND WIRD GESCHLAGEN.'
205
alle ihre anderen Eigentümlichkeiten bisher ganz unverständ¬
lich geblieben sind.
IV.
Führt man die Analyse durch jene frühen Zeiten, in
die die Schlagephantasien verlegt, und aus denen sie erinnert
werden, so zeigt sie das Kind in die Erregungen seines Eiterig-
komplexes verstrickt.
Das kleine Mädchen ist zärtlich an den Vater fixiert, der
wahrscheinlich alles getan hat, um seine Liebe zu gewinnen,
und legt dabei den Keim zu einer Haß- und Konkurrenz¬
einstellung gegen die Mutter, die neben einer Strömung von
zärtlicher Anhänglichkeit bestehen, und der Vorbehalten sein
kann, mit den Jahren immer stärker und deutlicher bewußt
zu werden oder den Anstoß zu einer übergroßen reaktiven
Liebesbindung an sie zu geben. Aber nicht an das Verhältnis
zur Mutter knüpft die Schlagephantasie an. Es gibt in der
Kinderstube noch andere Kinder, um ganz wenige Jahre älter
oder jünger, die man aus allen anderen Gründen, hauptsäch¬
lich aber darum nicht mag, weil man die Liebe der Eltern
mit ihnen teilen soll, und die man darum mit der ganzen
wilden Energie, die dem Gefühlsleben dieser Jahre eigen ist,
von sich stößt. Ist es ein jüngeres Geschwisterchen (wie
in drei von meinen vier Fällen), so verachtet man es, außer¬
dem daß man es haßt, und muß doch Zusehen, wie es jenen
Anteil von Zärtlichkeit an sich zieht, den die verblendeten
Eltern jedesmal für das Jüngste bereit haben. Man versteht
bald, daß Geschlagenwerden, auch wenn es nicht sehr wehe
tut, eine Absage der Liebe und eine Demütigung bedeutet.
So manches Kind, das sich für sicher thronend in der un¬
erschütterlichen Liebe seiner Eltern hielt, ist durch einen
2U6
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
einzigen Schlag aus allen Himmeln seiner eingebildeten All¬
macht gestürzt worden. Also ist es eine behagliche Vor¬
stellung, daß der Vater dieses verhaßte Kind schlägt, ganz
unabhängig davon, ob man gerade ihn schlagen gesehen hat.
Es heißt: der Vater liebt dieses andere Kind nicht, er liebt
nur mich,
Dies ist also Inhalt und Bedeutung der Schlagephantasie
in ihrer ersten Phase. Die Phantasie befriedigt offenbar die
Eifersucht des Kindes und hängt von seinem Liebesieben ab,
aber sie wird auch von dessen egoistischen Interessen kräftig
gestützt. Es bleibt also zweifelhaft, ob man sie als eine
rein „sexuelle“ bezeichnen darf; auch eine „sadistische“ ge¬
traut man sich nicht, sie zu nennen. Man weiß, ja, daß gegen
den Ursprung hin alle die Kennzeichen zu verschwimmen
pflegen, auf welche' wir unsere Unterscheidungen aufzubauen
gewohnt sind. Also vielleicht ähnlich wie die Verheißung der
drei Schicksalsschwestern an B a n q u o lautete : nicht sicher
sexuell, nicht selbst sadistisch, aber doch der Stoff, aus dem
später beides werden soll. Keinesfalls aber liegt ein Grund
zur Vermutung vor, daß schon diese erste Phase der Phan¬
tasie einer Erregung dient, welche sich unter Inanspruch¬
nahme der Genitalien Abfuhr in einem onanistischen Akt
zu verschaffen lernt.
ln dieser vorzeitigen Objektwahl der inzestuösen Liebe
erreicht das Sexualleben des Kindes offenbar die Stufe der
genitalen Organisation. Es ist dies für den Knaben leichter
nachzuweisen, aber auch fürs kleine Mädchen nicht zu be¬
zweifeln. Etwas wie eine Ahnung der späteren definitiven
und normalen Sexualziele beherrscht das libidinöse Streben
des Kindes; man mag sich füglich verwundern, woher es
V. „EIN KIND WIRD GESCHLAGEN.'
207
kommt, darf es aber als Beweis dafür nehmen, daß die Ge¬
nitalien ihre Rolle beim ErregungsVorgang bereits angetreten
haben. Der Wunsch, mit der Mutter ein Kind zu haben,
fehlt nie beim Knaben, der Wunsch, vom Vater ein Kind
zu bekommen, ist beim Mädchen konstant, und dies bei völli¬
ger Unfähigkeit, sich Klarheit über den Weg zu schaffen,
der zur Erfüllung dieser Wünsche führen kann. Daß die
Genitalien etwas damit zu tun haben, scheint beim Kinde
festzustehen, wenngleich seine grübelnde Tätigkeit das Wesen
der zwischen den Eltern vorausgesetzten Intimität in anders¬
artigen Beziehungen suchen mag, z. B. im Beisammenschlafen,
in gemeinsamer Harnentleerung u. dgl. und solcher Inhalt
eher in Wortvorstellungen erfaßt werden kann als das Dunkle,
das mit dem Genitalen zusammenhängt.
Allein es kommt die Zeit, zu der diese frühe Blüte vom
Frost geschädigt wird; keine dieser inzestuösen Verliebtheiten
kann dem Verhängnis der Verdrängung entgehen. Sie ver¬
fallen ihr entweder bei nachweisbaren äußeren Anlässen, die
eine Enttäuschung hervorrufen, bei unerwarteten Kränkungen,
bei der unerwünschten Geburt eines neuen Geschwisterchens,
die als Treulosigkeit empfunden wird usw., oder ohne solche
Vei-anlassungen, von innen heraus, vielleicht nur infolge des
Ausbleibens der zu lange ersehnten Erfüllung. Es ist un¬
verkennbar, daß die Veranlassungen nicht die wirkenden Ur¬
sachen sind, sondern daß es diesen Liebesbeziehungen be¬
stimmt ist, irgend einmal unterzugehen, wir können nicht
sagen, woran. Am wahrscheinlichsten ist es, daß sie ver¬
gehen, weil ihre Zeit um ist, weil die Kinder in eine neue
Entwicklungsphase eintreten, in welcher sie genötigt sind,
die Verdrängung der inzestuösen Objektwahl aus der Mensch¬
heitsgeschichte zu wiederholen, wie sie vorher gedrängt waren,
208
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
solche Objektwahl vorzunehmen. (Siehe das Schicksal in der
Ödipusmythe.) Was als psychisches Ergebnis der inzestuösen
Liebesregungen unbewußt vorhanden ist, wird vom Bewußtsein
der neuen Phase nicht mehr übernommen, was davon bereits
bewarbt geworden war, wieder herausgedrängt. Gleichzeitig
mit diesem VerdrängungsVorgang 'erscheint ein Schuldbewußt¬
sein, auch dieses unbekannter Herkunft, aber ganz unzweifel¬
haft an jene Inzestwünsche geknüpft und durch deren Fort¬
dauer im Unbewußten gerechtfertigt.
Die Phantasie der inzestuösen Liebeszeit hatte gesagt:
Er (der Vater) liebt nur mich, nicht das andere Kind, denn
dieses schlägt .er ja.. Das Schuldbewußtsein weiß keine härtere
Strafe zu finden als die Umkehrung dieses Triumphes: „Nein,
er liebt dich nicht, denn er schlägt dich.“ So wüirde die
Phantasie der zweiten Phase, selbst vom Vater geschlagen
zu werden, zum direkten Ausdruck des Schuldbewußtseins,
dem nun die Liebe zum Vater unterliegt. Sie ist also maso¬
chistisch geworden; meines Wissens ist es immer so, jedes¬
mal ist das Schuldbewußtsein das Moment, welches den Sa¬
dismus zum Masochismus umwandelt. Dies ist aber gewiß
nicht der ganze Inhalt des Masochismus. Das Schuldbewußt¬
sein kann nicht allein das Feld behauptet haben; der Liebes-
regung muß auch ihr Anteil werden. Erinnern wir uns daran,
daß es sich um Kinder handelt, bei denen die sadistische
Komponente aus konstitutionellen Gründen vorzeitig und iso¬
liert hervortreten konnte. Wir brauchen diesen Gesichtspunkt
nicht aufzugeben. Bei eben diesen Kindern ist ein Kück-
greifen auf die prägenitale, sadistisch-anale Organisation des
Sexuallebens besonders erleichtert. Wenn die kaum erreichte
genitale Organisation von der Verdrängung betroffen wird,
so tritt nicht nur die eine Folge auf, daß jegliche psychische
V. „EIN KIND WIRD GESCHLAGEN:
209
Vertretung der inzestuösen Liebe unbewußt wird oder bleibt,
sondern es kommt nocli als andere Folge hinzu, daß die
Genitalorganisation selbst eine regressive Erniedrigung er¬
fährt. Das: Der Vater liebt mich, war im genitalen Sinne
gemeint; durch die Regression verwandelt es sich in: Der
Vater schlägt mich (ich werde vom Vater geschlagen). Dies
Geschlagenwerden ist nun ein Zusammentreffen von Schuld¬
bewußtsein und Erotik; es ist nicht nur die Strafe für
die verpönte genitale Beziehung, sondern aucli
der regressive Ersatz für sie, und aus dieser letzteren
Quelle bezieht es die libidinöse Erregung, die ihm von nun
anhaften und in onanistischen Akten Abfuhr finden wird.
Dies ist aber erst das Wesen des Masochismus.
Die Phantasie der zweiten Phase, selbst vom Väter ge¬
schlagen zu werden, bleibt in der Hegel unbewußt, wahr¬
scheinlich infolge der Intensität der Verdrängung. Ich kann
nicht angeben, warum sie doch in einem meiner sechs Fälle
(einem männlichen) bewußt erinnert wurde. Dieser jetzt er¬
wachsene Mann hatte es klar im Gedächtnis bewahrt, daß
er die Vorstellung, von der Mutter geschlagen zu werden, zu
onanistischen Zwecken zu gebrauchen pflegte; allerdings er¬
setzte er die eigene Mutter bald durch die Mütter von Schul¬
kollegen oder andere, ihr irgendwie ähnliche Frauen. Es ist
nicht zu vergessen, daß bei der Verwandlung der inzestuösen
Phantasie des Knaben in die entsprechende masochistische
eine Umkehrung mehr vor sich geht als im Falle des Mäd¬
chens, nämlich die Ersetzung von Aktivität durch Passivität,
und dies Mehr von Entstellung mag die Phantasie vor dem
Unbewußtbleiben als Erfolg der Verdrängung schützen. Dem
Schuldbewußtsein hätte so die Regression an Stelle der Ver¬
drängung genügt; in den weiblichen Fällen wäre das, viel-
Freud, Neurosenlehre. V.
14
210
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
leicht an sich anspruchsvollere, Schuldbewußt sein erst durch
das Zusammenwirken beider begütigt worden.
In zweien meiner vier weiblichen Fälle hatte sich über
der masochistischen Schlagephantasie ein kunstvoller, für das
Leben der Betreffenden sehr bedeutsamer Überbau von Tag¬
träumen entwickelt, dem die Funktion zufiel, das Gefühl der
befriedigten Erregung auch bei Verzicht auf den onanistischen
Akt möglich zu- machen. In einem dieser Fälle durfte der In¬
halt, vom Vater geschlagen zu werden, sich wieder ins Be¬
wußtsein wagen, wenn das eigene Ich durch leichte Verklei¬
dung unkenntlich gemacht war. Der Held dieser Geschichten
wurde regelmäßig vom Vater geschlagen, später nur gestraft,
gedemütigt usw.
Ich wiederhole aber, in der Regel bleibt die Phantasie
unbewußt und muß erst in der Analyse rekonstruiert werden.
Dies läßt vielleicht den Patienten recht geben, die sich er¬
innern wollen, die Onanie sei bei ihnen früher aufgetreten
als die — gleich zu besprechende -— Schlagephantasie der
dritten Phase; letztere habe sich erst später hinzugesellt,
etwa unter dem Eindruck von Sclmlszenen. So oft wir diesen
Angaben Glauben schenkten, waren wir immer geneigt an¬
zunehmen, die Onanie sei zunächst unter der Herrschaft un¬
bewußter Phantasie gestanden, die später durch bewußte er¬
setzt wurden.
Als solchen Ersatz fassen wir dann die bekannte Schlage¬
phantasie der dritten Phase auf, die endgültige Gestaltung
derselben, in der das phantasierende Kind höchstens noch
als Zuschauer vorkommt, der Vater in der Person eines
Lehrers oder sonstigen Vorgesetzten erhalten ist. Die Phan¬
tasie, die nun jener der ersten Phase ähnlich ist, scheint
sich wieder ins Sadistische gewendet zu haben. Es macht
Y. „EIN KIND WIRD GESCHLAGEN.'
211
den Eindruck, als wäre in dem Satze: Der Vater schlägt
das andere Kind, er liebt nur mich, der Akzent auf den
ersten Teil zurückgewichen, nachdem der zweite der Ver¬
drängung erlegen ist. Allein nur die Eorm dieser Phantasie
ist sadistisch, die Befriedigung, die aus ihr gewonnen wird,
ist eine masochistische, ihre Bedeutung liegt darin, daß sie
die libidinöse Besetzung des verdrängten Anteils übernommen
.hat und mit dieser auch das am Inhalt haftende Schuld¬
bewußtsein. Alle die vielen unbestimmten Kinder, die vom
Lehrer geschlagen werden, sind doch nur Ersetzungen der
eigenen Person.
Hier zeigt sich auch zum erstenmal etwas wie eine Kon¬
stanz des Geschlechtes bei den der Phantasie dienenden Per¬
sonen. Die geschlagenen Kinder sind fast durchwegs Knaben,
in den Phantasien der Knaben ebensowohl wie in denen der
Mädchen. Dieser Zug erklärt sich greifbarerweise nicht aus
einer etwaigen Konkurrenz der Geschlechter, denn sonst
müßten ja. in den Phantasien der Knaben vielmehr Mädchen
-geschlagen werden; er hat auch nichts mit dem Geschlecht
des gehaßten Kindes der ersten Phase zu tun, sondern er
weist auf einen komplizierenden Vorgang bei den Mädchen
hin. Wenn sie sich von der genital gemeinten inzestuösen
Liebe zum Vater abwenden, brechen sie überhaupt leicht
mit ihrer weiblichen Rolle, beleben ihren „Männlichkeits¬
komplex 1 ' (v. Ophuijsen) und wollen von da an nur Buben
sein. Daher sind auch ihre Prügelknaben, die sie vertreten,
Buben. In beiden Fällen von Tagträumen — der eine erhob
sich beinahe zum Niveau einer Dichtung — waren die Helden
immer nur junge Männer, ja Frauen kamen in diesen Schöp¬
fungen überhaupt nicht vor und fanden erst nach vielen Jahren
in Nebenrollen Aufnahme.
14*
212
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
V.
Ich hofi'e, ich habe meine analytischen Erfahrungen de¬
tailliert genug vorgetragen und bitte nur noch in Betracht
zu ziehen, daß die oft erwähnten sechs Fälle nicht mein
Material erschöpfen, sondern daß ich auch wie andere Ana¬
lytiker über eine weit größere Anzahl von minder gut unter¬
suchten Fällen verfüge. Diese Beobachtungen können nach,
mehreren Richtungen verwertet werden, zur Aufklärung über
die Genese der Perversionen überhaupt, im besonderen des
Masochismus, und zur Würdigung der Rolle, welche der Ge-
schlechtsunterschied in der Dynamik der Neurose spielt.
Das augenfälligste Ergebnis einer solchen Diskussion be¬
trifft die Entstehung der Perversionen. An der Auffassung,
die bei ihnen die konstitutionelle Verstärkung oder Vor¬
eiligkeit einer Sexualkomponente in den Vordergrund rückt,
wird zwar nicht gerüttelt, aber damit ist nicht alles gesagt.
Die Perversion steht nicht mehr isoliert im Sexualleben des
Kindes, sondern sie wird in den Zusammenhang der uns be¬
kannten typischen — um nicht zu sagen: normalen — Ent-
wicklungsvorgänge aufgenommen. Sie wird in Beziehung zur
inzestuösen Objektliebe des Kindes, zum Ödipuskomplex des¬
selben, gebracht, tritt auf dem Boden dieses Komplexes zu¬
erst hervor, und nachdem er zusammengebrochen ist, bleibt
sie, oft allein, von ihm übrig, als Erbe seiner libidinösen
Ladung und belastet mit dem an ihm haftenden Schuld¬
bewußtsein. Die abnorme Sexualkonstitution hat schließlich
ihre Stärke darin gezeigt, daß sic den Ödipuskomplex in eine
besondere Richtung gedrängt und ihn zu einer ungewöhnlichen
Resterscheinung gezwungen hat.
Die kindliche Perversion kann, wie bekannt, das Funda-
213
V. „EIN KIND WIED GESCHLAGEN."
ment für die Ausbildung einer gleichsinnigen, durchs Leben
bestehenden Perversion werden, die das ganze Sexualleben
des Menschen aufzehrt, oder sie kann abgebrochen werden
und im Hintergründe einer normalen Sexualentwicklung er¬
halten bleiben, der sie dann doch immer einen gewissen
Energiebetrag entzieht. Der erstere Pall ist der bereits in
voranalytischen Zeiten erkannte, aber die Kluft zwischen bei¬
den wird durch die analytische Untersuchung solcher aus¬
gewachsener Perversionen nahezu ausgefüllt. Man findet näm¬
lich häufig genug bei diesen Perversen, daß auch sie, ge¬
wöhnlich in der Pubertätszeit, einen Ansatz zur normalen
Sexualtätigkeit gebildet haben. Aber der war nicht kräftig
genug, wurde vor den ersten, nie ausbleibenden Hindernissen
aufgegeben, und dann griff die Person endgültig auf die in¬
fantile Fixierung zurück.
Es wäre natürlich wichtig zu wissen, ob man die Ent¬
stehung der infantilen Perversionen aus dem Ödipuskomplex
ganz allgemein behaupten darf. Das kann ja ohne weitere
Untersuchungen nicht entschieden werden, aber unmöglich
erschiene es nicht. Wenn wir der Anamnesen gedenken, die
von den Perversionen Erwachsener gewonnen wurden, so mer¬
ken wir doch, daß der maßgebende Eindruck, das „erste
Erlebnis“, all dieser Perversen, Fetischisten u. dgl. fast nie¬
mals in Zeiten früher als das sechste Jahr verlegt wird. Um
diese Zeit ist die Herrschaft des Ödipuskomplexes aber be¬
reits abgelaufen; das erinnerte, in so rätselhafter Weise wirk¬
same Erlebnis könnte sehr wohl die Erbschaft desselben ver¬
treten haben. Die Beziehungen zwischen ihm und dem nun
verdrängten Komplex müssen dunkle bleiben, solange nicht
die Analyse in die Zeit hinter dem ersten „pathogenen“ Ein¬
druck Licht getragen hat. Man erwäge nun, wie wenig Wert
214
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
z. B. die Behauptung einer angeborenen Homosexualität hat,
die sich auf die Mitteilung stützt, die betreffende Person
habe schon vom achten oder vom sechsten Jahre an nur
Zuneigung zum gleichen Geschlecht verspürt.
Wenn aber die Ableitung der Perversionen aus dem
Ödipuskomplex allgemein durchführbar ist, dann hat unsere
Würdigung desselben eine neue Bekräftigung erfahren. Wir
meinen ja, der Ödipuskomplex sei der eigentliche Kern -der
Neurose, die infantile Sexualität, die in ihm gipfelt, die wirk¬
liche Bedingung der Neurose, und was von ihm im Unbe¬
wußten erübrigt, stelle die "Disposition zur späteren neuro¬
tischen Erkrankung des Erwachsenen dar. Die Schlage¬
phantasie und andere analoge perverse Fixierungen wären
dann auch nur Niederschläge des Ödipuskomplexes, gleichsam
Narben nach dem abgelaufenen Prozeß, gerade so wie die
berüchtigte ,,Minderwertigkeit“ einer solchen narzißtischen
Narbe entspricht. Ich muß in dieser Auffassung Marci-
nowski, der sie kürzlich in glücklicher Weise vertreten
hat (Die erotischen Quellen der Minderwertigkeitsgefühle,
Zeitschrift für Sexualwissenschaft, IV, 1918), uneingeschränkt
beistimmen. Dieser Kleinheitswahn der Neurotiker ist be¬
kanntlich auch nur ein partieller und mit der Existenz von
Selbstüberschätzung aus anderen Quellen vollkommen ver¬
träglich. Über die Herkunft des Ödipuskomplexes selbst und
über das dem Menschen wahrscheinlich allein unter allen
Tieren zugemessene Schicksal, das Sexualleben zweimal be¬
ginnen zu müssen, zuerst wie alle anderen Geschöpfe von
früher Kindheit an und dann nach langer Unterbrechung in
der Pubertätszeit von neuem, über all das, was mit seinem
„archaischen Erbe“ zusammenhängt, habe ich mich an anderer
Stelle geäußert, und darauf gedenke ich hier nicht einzugehen.
V. „EIN KIND WIRD GESCHLAGEN:
215
Zur Genese des Masochismus liefert die Diskussion un¬
serer Schlagephantasien nur spärliche Beiträge. Es scheint
sich zunächst zu bestätigen, daß der Masochismus keine pri¬
märe Triebäußerung ist, sondern aus einer Rückwendung des
Sadismus gegen die eigene Person, also durch Regression vom
Objekt aufs Ich entsteht. (Vgl. „Triebe und Triebschicksale“
in Sammlung kleiner Schriften, IV. Folge, 1918.) Triebe mit
passivem Ziele sind, zumal beim Weibe, von Anfang zuzu¬
geben, aber die Passivität ist noch nicht das Ganze des Maso¬
chismus ; es gehört noch der Unlustcharakter dazu, der bei
einer Trieberfüllung so befremdlich ist. Die Umwandlung des
Sadismus in Masochismus scheint durch den Einfluß des am
Verdrängungsakt beteiligten Schuldbewußtseins zu geschehen.
Die Verdrängung äußert sich also hier in dreierlei Wirkungen;
sie macht die Erfolge der Genitalorganisation unbewußt,
nötigt diese selbst zur Regression auf die frühere sadistisch¬
anale Stufe und verwandelt deren Sadismus in den passiven,
in gewissem Sinne wiederum narzißtischen Masochismus. Der
mittlere dieser drei Erfolge wird durch die in diesen Fällen
anzunelimende Schwäche der Genitalorganisation ermöglicht;
der dritte wird notwendig, weil das Schuldbewußtsein am
Sadismus ähnlichen Anstoß nimmt wie an der genital ge¬
faßten inzestuösen Objektwahl. Woher das Schuldbewußtsein
selbst stammt, sagen wiederum die Analysen nicht. Es scheint
von der neuen Phase, in die das Kind eintritt, mitgebracht
zu werden, und wenn es von da an verbleibt, einer ähnlichen
Narbenbildung, wie es das Minderwertigkeitsgefühl ist, zu
entsprechen. Nach unserer bisher noch unsicheren Orientie¬
rung in der Struktur des Ichs, würden wir es jener Instanz
zuteilen, die sich als kritisches Gewissen dem übrigen Ich
entgegenstellt, im Traum das Silberersehe funktionale
216
SCHEUTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Phänomen erzeugt uncl sich im Beachtungswahn vom Ich
ablöst.
Im Vorbeigehen wollen wir auch zur Kenntnis nehmen,
daß die Analyse der hier behandelten kindlichen Perversion
auch ein altes Rätsel lösen hilft, welches allerdings die,außer¬
halb der Analyse Stehenden immer mehr gequält hat als
die Analytiker selbst. Aber noch kürzlich hat selbst E. Bleu¬
ler als merkwürdig und unerklärlich anerkannt, daß . von den
Neurotikern die Onanie zum Mittelpunkt ihres Schuldbewußt¬
seins gemacht werde. Wir haben von jeher angenommen, daß
dies Schuldbewußtsein die frühkindlichc und nicht die
Pubertätsonanie meine, und daß es zum größten Teil nicht
auf den onanistischen Akt, sondern auf die ihm zu Grunde
liegende, wenn auch unbewußte Phantasie —• aus dem Ödipus¬
komplex also — zu beziehen sei.
Ich habe bereits ausgeführt, welche Bedeutung die dritte,
scheinbar sadistische Phase der Schlagephantasie als Träger
der zur Onanie drängenden Erregung gewinnen, und zu wel¬
cher teils gleichsinnig fortsetzender, teils kompensatorisch
aufhebender Phantasietätigkeit sie anzuregen pflegt. Doch ist
die zweite, unbewußte und masochistische Phase, die Phan¬
tasie, selbst vom Vater geschlagen zu werden, die ungleich
wichtigere. Nicht nur, daß sie ja durch Vermittlung der sie
ersetzenden fortwirkt; es sind auch Wirkungen auf den Cha¬
rakter nachzuweisen, welche sich unmittelbar von ihrer un¬
bewußten Fassung ableiten. Menschen, die eine solche Phan¬
tasie bei sich tragen, entwickeln eine besondere Empfindlich¬
keit und Reizbarkeit gegen Personen, die sie in die Vater¬
reihe einfügen können; sie lassen sich leicht von ihnen krän¬
ken und bringen. so die Verwirklichung der phantasierten
Situation, daß sie vom Vater geschlagen werden, zu ihrem
217
V. „EIN KIND WIRD GESCHLAGEN.'
Leid und Schaden zu stände. Ich würde nicht verwundert
sein, wenn cs einmal gelänge, dieselbe Phantasie als Grund¬
lage des paranoischen Querulantenwahns nachzuweisen.
VI.
Die Beschreibung der infantilen Schlagephantasien wäre
völlig unübersichtlich geraten, wenn ich sie nicht, von we¬
nigen Beziehungen abgesehen, auf die Verhältnisse bei weib¬
lichen Personen eingeschränkt hätte. Ich wiederhole kurz die
Ergebnisse: Die Schlagephantasie der kleinen Mädchen macht
drei Phasen durch, von denen die erste und letzte als bewußt
erinnert werden, die mittlere unbewußt bleibt. Die beiden
bewußten scheinen sadistisch, die mittlere, unbewußte, ist
unzweifelhaft masochistischer Natur; ihr Inhalt ist, vom
Vater geschlagen zu werden, an ihr hängt die libidiuöse La¬
dung und das Schuldbewußtsein. Das geschlagene Kind ist
in den beiden ersteren Phantasien stets ein anderes, in der
mittleren Phase nur die eigene Person, in der dritten, be¬
wußten, Phase sind es weit überwiegend nur Knaben, die ge¬
schlagen werden. Die schlagende Person ist von Anfang an
der Vater, später ein Stellvertreter aus der Vaterreihe. Die
unbewußte Phantasie der mittleren Phase hatte ursprünglich
genitale Bedeutung, ist durch Verdrängung und Regression
aus dem inzestuösen Wunsch, vom Vater geliebt zu werden,
hervorgegangen. In anscheinend lockerem Zusammenhänge
schließt sich an, daß die Mädchen zwischen der zweiten und
dritten Phase ihr Geschlecht wechseln, indem sie sich zu
Knaben phantasieren.
In der Kenntnis der Schlagephantasien der Knaben bin
ich, vielleicht nur durch die Ungunst des Materials, weniger
weit gekommen. Ich habe begreiflicherweise volle Analogie
218
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
der Verhältnisse bei Knaben und Mädchen erwartet, wobei
an die Stelle des Vaters in der Phantasie die Mutter hätte
treten müssen. Die Erwartung schien sich auch zu bestätigen,
denn die für entsprechend gehaltene Phantasie des Knaben
hatte zum Inhalt, von der Mutter (später von einer Ersatz¬
person) geschlagen zu werden. Allein diese Phantasie, in wel¬
cher die eigene Person als Objekt festgehalten war, unter¬
schied sich von der zweiten Phase bei Mädchen dadurch,
daß sie bewußt werden konnte. Wollte man sie aber darum
eher der dritten Phase beim Mädchen gleichstcllen, so blieb
als neuer Unterschied, daß die eigene Person des Knaben,
nicht durch viele, unbestimmte, fremde, am wenigsten durch
viele Mädchen ersetzt war. Die Erwartung eines vollen Pa¬
rallelismus hatte sich also getäuscht.
Mein männliches Material umfaßte nur wenige Eälle mit
infantiler Schlagephantasie ohne sonstige grobe Schädigung
der Sexualtätigkeit, dagegen eine größere Anzahl von Per¬
sonen, die als richtige Masochisten im Sinne der sexuellen
Perversion bezeichnet werden mußten. Es waren entweder
solche, die ihre Sexualbefriedigung ausschließlich in Onanie
bei masochistischen Phantasien fanden, oder denen es ge¬
lungen war, Masochismus und Genitalbetätigung so zu ver¬
koppeln, daß sie bei masochistischen Veranstaltungen und
unter ebensolchen Bedingungen Erektion und Ejakulation er¬
zielten oder zur Ausführung eines normalen Koitus befähigt
wurden. Dazu kam der seltenere Fall, daß ein Masochist in
seinem perversen Tun durch unerträglich stark auftretende
Zwangsvorstellungen gestört wurde. Befriedigte Perverse haben
nun selten Grund, die Analyse aufzusuchen; für die drei an¬
geführten Gruppen von Masochisten können sich aber starke
Motive ergeben, die sic zum Analytiker führen. Der maso-
V. „EIN KIND WIRD GESCHLAGEN.“
219
chistisclie Onanist findet sich absolut impotent, wenn er
endlich doch den Koitus mit dem Weibe versucht, und wer
bisher mit Hilfe einer masochistischen Vorstellung oder Ver¬
anstaltung den Koitus zu stände gebracht hat, kann plötz¬
lich-die Entdeckung machen, daß dies ihm bequeme Bündnis
versagt hat, indem das Genitale auf den masochistischen
Anreiz nicht mehr reagiert. Wir sind gewohnt, den psychisch
Impotenten, die sich in unsere Behandlung begeben, zuver¬
sichtlich Herstellung zu versprechen, aber wir sollten auch
in dieser Prognose zurückhaltender sein, solange uns die
Dynamik der Störung unbekannt ist. Es ist eine böse Über¬
raschung, wenn uns die Analyse, als Ursache der „bloß psy¬
chischen“ Impotenz eine exquisite, vielleicht längst einge¬
wurzelte, masochistische Einstellung enthüllt.
Bei diesen masochistischen Männern macht man nun
eine Entdeckung, welche uns mahnt, die Analogie mit den
Verhältnissen beim Weibe vorerst nicht weiter zu verfolgen,
sondern den Sachverhalt selbständig zu beurteilen. Es stellt
sich nämlich heraus, daß sie in den masochistischen Phan¬
tasien wie bei den Veranstaltungen zur Realisierung der¬
selben sich regelmäßig in die Rolle von Weibern versetzen,
daß also ihr Masochismus mit einer femininen Einstellung
.zusammenfällt. Dies ist aus den Einzelheiten der Phantasien
leicht nachzuweisen; viele Patienten wissen es aber auch
und äußern es als eine subjektive Gewißheit. Daran wird
nichts geändert, wenn der spielerische Aufputz der maso¬
chistischen Szene an der Fiktion eines unartigen Knaben,
Pagen oder Lehrlings, der gestraft werden soll, festhält. Die
züchtigenden Personen sind aber in den Phantasien wie in
den Veranstaltungen jedesmal Frauen. Das ist verwirrend
genug; man möchte auch wissen, ob schon der Masochismus
220
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
der infantilen Schlagephantasie auf solcher femininen Ein¬
stellung beruht.
Lassen wir darum die schwer aufzuklärenden Verhältnisse
des Masochismus der Erwachsenen beiseite und wenden uns
zu den infantilen Schlagephantasien beim männlichen Ge¬
schlecht. Hier gestattet uns die Analyse der frühesten Kinder¬
zeit wiederum, einen überraschenden Fund zu machen: Die
bewußte oder bewußtseinsfähige Phantasie des Inhalts, von
der Mutter geschlagen zu werden, ist. nicht primär. Sie hat
ein Vorstudium, das regelmäßig unbewußt ist und das den
Inhalt hat: Ich werde vom Vater geschlagen. Die¬
ses Vorstadium entspricht also wirklich der zweiten Phase
der Phantasie beim Mädchen. Die bekannte und bewußte
Phantasie: Ich werde von der Mutter geschlagen, steht an
der Stelle der dritten Phase beim Mädchen, in der, wie er¬
wähnt, unbekannte Knaben die geschlagenen Objekte sind.
Ein der ersten Phase beim Mädchen vergleichbares Vor¬
studium sadistischer Natur konnte ich beim Knaben nicht
nachweisen, aber ich will hier keine endgültige Ablehnung
aussprechen, denn ich sehe die Möglichkeit komplizierterer
Typen wohl ein.
Das Geschlagenwerden der männlichen Phantasie, wie ich
sie kurz und hoffentlich nicht mißverständlich nennen werde,
ist gleichfalls ein durch Regression erniedrigtes Geliebtwerdeu
Im genitalen Sinne. Die unbewußte männliche Phantasie hat
also ursprünglich nicht gelautet: Ich werde vom Vater ge¬
schlagen, wie wir es vorhin vorläufig hinstellten, sondern viel¬
mehr: Ich werde vom Vater geliebt. Sie ist durch
die bekannten Prozesse umgewandelt worden in die bewußte
Phantasie: Ich werde von der Mutter geschlagen.
Die Schlagephantasie des Knaben ist also von Anfang an
V. „EIN KIND WIRD GESCHLAGEN.'
221
eine passive, wirklich aus der femininen Einstellung zum
Vater hervorgegangen. Sie entspricht auch ebenso wie die
weibliche (die des Mädchens) dem Ödipuskomplex, nur ist
der von uns erwartete Parallelismus zwischen beiden gegen
eine Gemeinsamkeit anderer Art aufzugeben: In beiden
Fällen leitet sich die Schlagephantasie von der
inzestuösen Bindung an den Vater ab.
Es wird der Übersichtlichkeit dienen, wenn ich hier die
anderen Übereinstimmungen und Verschiedenheiten zwischen
den Schlagephantasien der beiden Geschlechter anfüge. Beim
Mädchen geht die unbewußte masochistische Phantasie von
der normalen Ödipuseinstellung aus; beim Knaben von der
verkehrten, die den Vater zum Liebesobjekt nimmt. Beim
Mädchen hat die Phantasie eine Vorstufe (die erste Phase),
in welcher das Schlagen in seiner indifferenten Bedeutung
auftritt und eine eifersüchtig gehaßte Person betrifft; beides
entfällt beim Knaben, doch könnte gerade diese Differenz
durch glücklichere Beobachtung beseitigt werden. Beim Über¬
gang zur ersetzenden bewußten Phantasie hält das Mädchen
die Person des Vaters und somit das Geschlecht der schla¬
genden Person fest; cs ändert aber die geschlagene Person
und ihr Geschlecht, so daß am Ende ein Mann männliche
Kinder schlägt; der Knabe ändert im Gegenteil Person und
Geschlecht des Schlagenden, indem er Vater durch Mutter
ersetzt, und behält seine Person bei, so daß am Ende der
Schlagende und die geschlagene Person verschiedenen Ge¬
schlechts sind. Beim Mädchen wird die ursprünglich maso¬
chistische (passive) Situation durch die Verdrängung in eine
sadistische umgewandelt, deren sexueller Charakter sehr ver¬
wischt ist, beim Knaben bleibt sie masochistisch und be¬
wahrt infolge der Geschlechtsdifferenz zwischen schlagender
222
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
und geschlagener Person mehr Ähnlichkeit mit der ursprüng¬
lichen, genital gemeinten Phantasie. Der Knabe entzieht sich
durch die Verdrängung und Umarbeitung der unbewußten
Phantasie seiner Homosexualität; das Merkwürdige an seiner
späteren bewußten Phantasie ist, daß sie feminine Einstellung
ohne homosexuelle Objektwahl zum Inhalt hat. Das Mädchen
dagegen entläuft bei dem gleichen Vorgang .dem Anspruch
des Liebeslebens überhaupt, phantasiert sich zum Manne,
ohne selbst männlich aktiv zu werden, und wohnt dem
Akt, welcher einen sexuellen ersetzt, nur mehr als Zu¬
schauer bei.
Wir sind berechtigt anzunehmen, daß durch die Ver¬
drängung der ursprünglichen unbewußten Phantasie nicht
allzuviel geändert wird. Alles fürs Bewußtsein Verdrängte
und Ersetzte bleibt im Unbewußten erhalten und wirkungs¬
fähig. Anders ist es mit dem Effekt der Regression auf eine
frühere Stufe der Sexualorganisation. Von dieser dürfen wir
glauben, daß sie auch die Verhältnisse im Unbewußten än¬
dert, .so daß nach der Verdrängung im Unbewußten bei bei¬
den Geschlechtern zwar nicht die (passive) Phantasie, vom
Vater geliebt zu werden, aber doch die masochistische, von
*
ihm geschlagen zu werden, bestehen bleibt. Es fehlt auch
nicht au Anzeichen dafür, daß die Verdrängung ihre Absicht
nur sehr unvollkommen erreicht hat. Der Knabe, der ja der
homosexuellen Objektwahl entfliehen wollte und sein Ge¬
schlecht nicht gewandelt hat, fühlt sich doch in seinen be¬
wußten Phantasien als Weib und stattet die schlagenden
Frauen mit männlichen Attributen und Eigenschaften aus.
Das Mädchen, das selbst sein Geschlecht aitfgeg.ebeu und im
ganzen gründlichere Verdrängungsarbeit geleistet hat, wird
doch den Vater nicht los, getraut sich nicht, selbst zu schla-
Y. „EIN KIND WIRD GESCHLAGEN:
223
gen, und weil es selbst zum Buben geworden ist, läßt es
hauptsächlich Buben geschlagen werden.
Ich weiß, daß die hier beschriebenen Unterschiede im
Verhalten der Schlagephantasie bei beiden Geschlechtern nicht
genügend aufgeklärt sind, unterlasse aber den Versuch, diese
Komplikationen durch Verfolgung ihrer Abhängigkeit von an¬
deren Momenten zu entwirren, weil ich selbst das Material
der Beobachtung nicht für erschöpfend halte. Soweit es aber
vorliegt, möchte ich es zur Prüfung zweier Theorien be¬
nützen, die, einander entgegengesetzt, beide die Beziehung
der Verdrängung zum Geschlechtscharakter behandeln und
dieselbe, jede in ihrem Sinne, als eine sehr innige darstellen.
Ich schicke voraus, daß ich beide immer für unzutreffend
und irreführend gehalten habe.
Die erste dieser Theorien ist anonym; sie wurde mir vor
vielen Jahren von einem damals befreundeten Kollegen vor¬
getragen. Ihre großzügige Einfachheit wirkt so bestechend,
daß man sich nur verwundert fragen muß, warum sie siel»
seither in der Literatur nur durch vereinzelte Andeutungen
vertreten findet. Sie lehnt sich an die bisexuelle Konstitution
der menschlichen Individuen und behauptet, bei jedem ein¬
zelnen sei der Kampf der Geschlechtscharaktere das Motiv
der Verdrängung. Das stärker ausgebildete, in der Person
vorherrschende Geschlecht habe die seelische Vertretung des
unterlegenen Geschlechts ins Unbewußte verdrängt. Der Kern
des Unbewußten, das Verdrängte, sei also bei jedem Menschen
das in ihm vorhandene Gegengeschlechtliche. Das kann einen
greifbaren Sinn wohl nur dann geben, wenn wir das Geschlecht
eines Menschen durch die Ausbildung seiner Genitalien be¬
stimmt sein lassen, sonst wird ja das stärkere Geschlecht
eines Menschen unsicher, und wir laufen Gefahr, das, was
224
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
uns als Anhaltspunkt bei der Untersuchung- dienen soll, selbst
wieder aus deren Ergebnis abzuleiten. Kurz zusammengefaßt :
Beim Manne ist das unbewußte Verdrängte auf weibliche
Triebregungen zurückzuführen; umgekehrt so beim Weibe.
Die zweite Theorie ist neuerer Herkunft; sie stimmt mit
der ersten darin überein, daß sie wiederum den Kampf der
beiden Geschlechter als entscheidend für die Verdrängung hin¬
stellt. Im übrigen muß sie mit der ersteren in Gegensatz ge¬
raten; sie beruft sich auch nicht auf biologische, sondern
auf soziologische Stützen. Diese von Alf. Adler ausge¬
sprochene Theorie des „männlichen Protestes“ hat zum In¬
halt, daß jedes Individuum sich sträubt, auf der minder¬
wertigen „weiblichen Linie“ zu verbleiben und zur allein be¬
friedigenden männlichen Linie hindrängt. Aus diesem männ¬
lichen Protest erklärt Adle r ganz allgemein die Charakter-
wie die Neurosenbildung. Leider sind die beiden, doch ge¬
wiß auseinander zu haltenden Vorgänge bei Adler so wenig
schaff geschieden und wird die Tatsache der Verdrängung
überhaupt so wenig gewürdigt, daß man sich der Gefahr
eines Mißverständnisses aussetzt, wenn man die Lehre vom
männlichen Protest auf die Verdrängung anzuwenden ver¬
sucht. Ich meine, dieser Versuch müßte ergeben, daß der
männliche Protest, das Abrückcnwollen von der weiblichen
Linie, in allen Fällen das Motiv der Verdrängung ist. Das
Verdrängende wäre also stets eine männliche, das Verdrängte
eine weibliche Triebregung. Aber auch das Symptom wäre Er¬
gebnis einer weiblichen Regung, denn wir können den Cha¬
rakter des Symptoms, daß es ein Ersatz des Verdrängten sei,
der sich der Verdrängung zum Trotze durchgesetzt hat, nicht
aufgeben.
Erproben wir nun die beiden Theorien, denen sozusagen
V. „EIN KIND WIRD GESCHLAGEN.'
225
die Sexualisierung des VerdrängungsVorganges gemeinsam ist,
an dem Beispiel der liier studierten Sclilagepliantasie. Die
ursprüngliche Phantasie: Ich werde vom Vater geschlagen,
entspricht beim Knaben einer femininen Einstellung, ist also
eine Äußerung seiner gegengeschlechtlichen Anlage. Wenn sie
der Verdrängung unterliegt, so scheint die erstere Theorie
Recht behalten zu sollen, die ja die Regel aufgestellt hat,
das Gegengeschlechtliche deckt sich mit dem Verdrängten.
Es entspricht freilich unseren Erwartungen wenig, wenn das,
was sich nach erfolgter Verdrängung herausstellt, die be¬
wußte Phantasie, doch wiederum die feminine Einstellung,
nur diesmal zur Mutter, aufweist. Aber wir wollen nicht
auf Zweifel eingehen, wo die Entscheidung so nahe bevor¬
steht. Die ursprüngliche Phantasie der Mädchen: Ich werde
vom Vater geschlagen (das heißt: geliebt), entspricht doch
gewiß als feminine Einstellung dem bei ihnen vorherrschen¬
den, manifesten Geschlecht, sie sollte also der Theorie zu¬
folge der Verdrängung entgehen, brauchte nicht unbewußt
zu werden. In Wirklichkeit wird sie es doch und erfährt eine
Ersetzung durch eine bewußte Phantasie, welche den mani¬
festen Geschlechtscharakter verleugnet. Diese Theorie ist also
für das Verständnis der Schlagephantasien unbrauchbar und
durch sie widerlegt. Man könnte einwenclen, es seien eben
weibische Knaben und männische Mädchen, bei denen diese
Schlagephantasien Vorkommen und diese Schicksale erfahren,
oder es sei ein Zug von Weiblichkeit beim Knaben und von
Männlichkeit beim Mädchen dafür verantwortlich zu machen;
beim Knaben für die Entstehung der passiven Phantasie, beim
Mädchen für deren Verdrängung. Wir würden dieser Auf¬
fassung wahrscheinlich zustimmen, aber die behauptete Be¬
ziehung zwischen manifestem Geschlechtscharakter und Aus-
Freud, Neurosenlehre. V.
15
226
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
wähl des zur Verdrängung Bestimmten wären darum nicht
minder unhaltbar. Wir sehen im Grunde nur, daß bei männ¬
lichen und weiblichen Individuen sowohl männliche wie weib¬
liche Triebregungen Vorkommen und ebenso durch Verdrän¬
gung unbewußt werden können.
Sehr viel besser scheint sich die Theorie des männlichen
Protestes gegen die Probe an den Schlagephantasien zu be¬
haupten. Beim Knaben wie beim Mädchen entspricht die
Schlagephantasie einer femininen Einstellung, also einem
Verweilen auf der weiblichen Linie, und beide Geschlechter
beeilen sich durch Verdrängung der Phantasie von dieser
Einstellung loszukommen. Allerdings scheint der männliche
Protest nur beim Mädchen vollen Erfolg zu erzielen, hier
stellt sich ein geradezu ideales Beispiel für das Wirken des
männlichen Protestes her. Beim Knaben ist der Erfolg nicht
voll befriedigend, die weibliche Linie wird nicht aufgegeben,
der Knabe ist in seiner bewußten masochistischen Phantasie
gewiß nicht „oben“. Es entspricht also der aus der Theorie
abgeleiteten Erwartung, wenn wir in dieser Phantasie ein
Symptom erkennen, das durch Mißglücken des männlichen
Protestes entstanden ist. Es stört uns freilich, daß die aus
der Verdrängung hervorgegangene Phantasie des Mädchens
ebenfalls Wert und Bedeutung eines Symptoms hat. Hier,
wo der männliche Protest seine Absicht voll durchgesetzt hat,
müßte doch die Bedingung für die Symptombildung ent¬
fallen sein.
Ehe wir noch aus dieser Schwierigkeit die Vermutung
schöpfen, daß die ganze Betrachtungsweise des männlichen
Protestes den Problemen der Neurosen und Perversionen un¬
angemessen und in ihrer Anwendung auf sie unfruchtbar sei,
werden wir unseren Blick von den passiven Schlagephantasien
V. „EIN KIND WIRD GE,SCHLAGEN.'
227
weg zu anderen Triebäußerungen des kindlichen Sexuallebens
richten, die gleichfalls der Verdrängung unterliegen. Es kann
doch niemand daran zweifeln, daß es auch Wünsche und
Phantasien gibt, die von vorn herein die männliche Linie
einhalten und Ausdruck männlicher Triebregungen sind, z. B.
sadistische Impulse oder die aus dem normalen Ödipuskomplex
hervorgehenden G-elüste des Knaben gegen seine Mutter. Es
ist ebensowenig zweifelhaft, daß auch diese von der Verdrän¬
gung befallen werden; wenn der männliche Protest die Ver¬
drängung der passiven, später masochistischen Phantasien
gut erklärt haben sollte, so wird er eben dadurch für den
entgegengesetzten Fall der aktiven Phantasien völlig un¬
brauchbar. Das heißt: die Lehre vom männlichen Protest
ist mit der Tatsache der Verdrängung überhaupt unvereinbar.
Nur wer bereit ist, alle psychologischen Erwerbungen von
sich zu wei’fen, die seit der ersten kathartischen Kur
Breuers und durch sie gemacht worden sind, kann er¬
warten, daß dem Prinzip des männlichen Protestes in der
Aufklärung der Neurosen und Perversionen eine Bedeutung
zukommen wird.
Die auf Beobachtung gestützte psychoanalytische Theorie
hält fest-daran, daß die Motive der Verdrängung nicht sexua-
lisiert werden dürfen. Den Kern des seelisch Unbewußten
bildet die archaische Erbschaft des Menschen, und dem Ver¬
drängungsprozeß verfällt, was immer davon beim Fortschritt
zu späteren Entwicklungsphasen als unbrauchbar, als mit dem
Neuen unvereinbar und ihm schädlich zurückgelassen werden
soll. Diese Auswahl gelingt bei einer Gruppe von Trieben
besser als bei der anderen. Letztere, die Sexualtriebe, ver¬
mögen es, kraft .besonderer Vez-hältnisse, die schon oftmals
aufgezeigt worden sind, die Absicht der Verdrängung zu ver-
15 *
228
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
eiteln und sich die Vertretung durch störende Ersatzbildungen
zu erzwingen. Daher ist die der Verdrängung unterliegende
infantile Sexualität die Haupttriebkraft der Symptombildung,
und das wesentliche Stück ihres Inhalts, der Ödipuskomplex,
der Kernkomplex der Neurose. Ich hoffe, in dieser Mitteilung
die Erwartung rege gemacht zu haben, daß auch die sexuellen
Abirrungen des kindlichen wie des reifen Alters von dem
nämlichen Komplex abzweigen.
VI.
DAS UNHEIMLICHE.*)
I.
Der Psychoanalytiker verspürt nur selten den Antrieb' zu
ästhetischen Untersuchungen, auch dann nicht, wenn man die
Ästhetik nicht auf die Lehre vom Schönen einengt, sondern sie
als Lehre von den Qualitäten unseres Eühlens beschreibt. Er
arbeitet in anderen Schichten des Seelenlebens und hat mit den
zielgehemmten, gedämpften, von so vielen begleitenden Kon¬
stellationen abhängigen Gefühlsregungen, die zumeist der Stoff
der Ästhetik sind, wenig zu tun. Hie und da trifft es sich doch,
daß er sich für ein bestimmtes Gebiet der Äthetik interessieren
muß, und dann ist dies gewöhnlich ein abseits liegendes, von
der ästhetischen Fachliteratur vernachlässigtes.
Ein solches ist das „Unheimliche“. Kein Zweifel, daß es
zum Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden gehört, und
ebenso sicher ist es, daß dies Wort nicht immer in einem scharf
zu bestimmenden Sinne gebraucht wird, so daß es eben meist
mit dem Angsterregenden überhaupt zusammenfällt. Aber man
darf doch erwarten, daß ein besonderer Kern vorhanden ist, der
die Verwendung eines besonderen Begriffswortes rechtfertigt.
Man möchte wissen, was dieser gemeinsame Kern ist, der etwa
gestattet, innerhalb des Ängstlichen ein „Unheimliches“ zu
unterscheiden.
Darüber findet man nun so viel wie nichts in den aus-
‘) Imago, V, 1919.
230
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
fülii'liclien Darstellungen der Ästhetik, die sich überhaupt lieber
mit den schönen, großartigen, anziehenden, also mit den posi¬
tiven Gefühlsarten, ihren Bedingungen und den Gegenständen,
die sie hervorrufen, als mit den gegensätzlichen, abstoßenden,
peinlichen beschäftigen. Von seiten der ärztlich-psychologi¬
schen Literatur kenne ich nur die eine, inhaltsreiche aber, nicht
erschöpfende, Abhandlung von E. J ent sch (Zur Psychologie
des Unheimlichen, Psychiatr.-neurolog. Wochenschrift 1906,
Nr. 22 u. 23). Allerdings muß ich gestehen, daß aus leicht
zu erratenden, in der Zeit liegenden Gründen die Literatur zu
diesem kleinen Beitrag, insbesondere die fremdsprachige, nicht
gründlich herausgesucht wurde, weshalb er denn auch ohne
jeden Anspruch auf Priorität vor den Leser tritt.
Als Schwierigkeit beim Studium des Unheimlichen betont
J entsch mit vollem Recht, daß die Empfindlichkeit für diese
Gefühlsqualität bei verschiedenen Menschen so sehr verschie¬
den angetroffen wird. Ja, der Autor dieser neuen Unterneh¬
mung muß sich einer besonderen Stumpfheit in dieser Sache
anklagen, wo große Feinfühligkeit eher am Platze wäre. Er
hat schon lange nichts erlebt oder kennen gelernt, was ihm
den Eindruck des Unheimlichen gemacht hätte, muß sich erst
in das Gefühl hineinversetzen, die Möglichkeit desselben in
sich wachrufen. Indes sind Schwierigkeiten dieser Art auch
auf vielen anderen Gebieten der Ästhetik mächtig; man
braucht darum die Erwartung nicht aufzugeben, daß sich die
Fälle werden herausheben lassen, in denen der fragliche Cha¬
rakter von den meisten widerspruchslos anerkannt wird.
Man kann nun zwei Wege einschlagen: nachsuchen, welche
Bedeutung die Sprachentwicklung in dem Worte „unheimlich“
niedergelegt hat, oder Zusammentragen, was an Personen und
Dingen, Sinneseindrücken, Erlebnissen und Situationen das Ge-
VI. DAS UNHEIMLICHE.
231
fühl des Unheimlichen in uns wachruft, und den verhüllten
Charakter des Unheimlichen aus einem allen Fällen Gemein¬
samen erschließen. Ich will gleich verraten, daß beide Wege
zum nämlichen Ergebnis führen, das Unheimliche sei jene
Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längst¬
vertraute zurückgeht. Wie das möglich ist, unter welchen
Bedingungen das Vertraute unheimlich, schreckhaft werden
kann, das wird aus dem Weiteren ersichtlich werden. Ich
bemerke noch, daß diese Untersuchung in Wirklichkeit den
Weg über eine Sammlung von Einzelfällen genommen und erst
später die Bestätigung durch die Aussage des Sprachgebrauches
gefunden hat. In dieser Darstellung werde ich aber den um¬
gekehrten Weg gehen.
Das deutsche Wort „unheimlich“ ist offenbar der Gegen¬
satz zu heimlich, heimisch, vertraut und der Schluß liegt nahe,
es sei etwas eben darum schreckhaft, weil es nicht bekannt
und vertraut ist. Natürlich ist aber nicht alles schreckhaft,
was neu und nicht vertraut ist; die Beziehung ist nicht ujn-
kelirbar. Man kann nur sagen, was neuartig ist, wird leicht
schreckhaft und unheimlich; einiges Neuartige ist schreckhaft,
durchaus nicht alles. Zum Neuen und Nichtvertrauten muß
erst etwas hinzukommen, was es zum Unheimlichen macht.
deutsch ist im ganzen bei dieser Beziehung des Un¬
heimlichen zum Neuartigen, Nicht vertrauten, stehen geblieben.
Er findet die wesentliche Bedingung für das Zustandekommen
des unheimlichen Gefühls in der intellektuellen Unsicherheit.
Das Unheimliche wäre eigentlich immer etwas, worin man sich
sozusagen nicht auskennt. Je besser ein Mensch in der Umwelt
orientiert ist, desto weniger leicht wird er von den Dingen oder
Vorfällen in ihr den Eindruck der Unheimlichkeit empfangen.
Wir haben es leicht zu urteilen, daß diese Kennzeichnung
232
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
/
nicht erschöpfend ist, und versuchen darum, über die Glei¬
chung unheimlich = nicht vertraut hinauszugehen. Wir wen¬
den uns zunächst an andere Sprachen. Aber die Wörterbücher,
in denen wir nach schlagen, sagen uns nichts Neues, vielleicht
nur darum nicht, weil wir selbst Fremdsprachige sind. Ja, wir
gewinnen den Eindruck, daß vielen Sprachen ein Wort für
diese besondere Nuance des Schreckhaften abgeht *).
Lateinisch (nach K. E. Georges, Kl. Deutschlatein.
Wörterbuch 1898): ein unheimlicher Ort — locus suspectus;
in unh. Nachtzeit —• intempesta nocte.
Griechisch (Wörterbücher von Kost und von
Scheukl): £Lo; — also fremd, fremdartig.
Englisch (aus den WÖrterbüchern von Lucas, Be 11 ow,
Flügel, Muret-Sanders): uncomfortable, uneasy, gloomy,
dismal, uncanny, ghastly, von einem Hause: haunted, von einem
Menschen: a repulsive fellow.
Französisch (Sachs-Villatte): inquietant, sinistre,
lugubre, mal a son aise.
Spanisch (Tollhausen 1889): sospechoso, de mal
aguero, lugubre, siniestro.
Das Italienische und Portugiesische scheinen sich mit
Worten zu begnügen, die wir als Umschreibungen bezeichnen
würden. Im Arabischen und Hebräischen fällt unheimlich mit
dämonisch, schaurig zusammen.
Kehren wir darum zur deutschen Sprache zurück.
In D a n i e 1 Sanders' Wörterbuch der Deutschen Sprache
1860 finden sich folgende Angaben zum Worte heimlich,
die ich hier ungekürzt abschreiben und aus denen ich die eine
*) Für die nachstehenden Auszüge bin ich Herrn Dr. Th. R e i k zu
Dank verpflichtet.
VI. DAS UNHEIMLICHE.
233
und die andere Stelle durch Unterstreichung hervorheben will
(I. Bd„ p. 729):
Heimlich, a. (-keit, f. -en): 1. auch Heimelicli, heimelig, zum
Hause gehörig, nicht fremd, vertraut, zahm, traut und traulich, an¬
heimelnd etc. a) (veralt.) zum Haus, zur Familie gehörig, oder: wie
dazu gehörig betrachtet, vgl. lat. familiaris, vertraut: Die Heim¬
lichen, die Hausgenossen; Der heimliche Rat. 1. Mos. 41, 45; 2. Sam.
23, 23. 1. Chr. 12, 25. Weish. 8, 4., wofür jetzt: Geheimer (s. dl.)
Rat üblich ist, s. Heimlicher — b) von Thieren zahm, sich den Men¬
schen traulich anschließend. Ggstz. wild, z. B. Tier, die weder wild
noch heimlich sind etc. Eppendorf. 88; Wilde Thier... so man sie
h. und gewohnsam um die Leute aufzeucht. 92. So diese Thierle
von Jugend bei den Menschen erzogen, werden sie ganz h., freund¬
lich etc. Stumpf 608a etc. — So noch: So h. ist’s (das Lamm) und
.frißt aus meiner Hand. Hölty; Ein schöner, heimclicher (s. c)
Vogel bleibt der Storch immerhin. Linck, Schl. 146. s. Häuslich.
1 etc. — c) traut, traulich anheimelnd; das Wohlgefühl stiller Be¬
friedigung etc., behaglicher Ruhe u. sichern Schutzes, wie das um-
schlossne wohnliche Haus erregend (vgl. Geheuer): Ist dir’s h. noch
im Lande, wo die Fremden deine Wälder roden? Alexis H. 1, 1, 289;
Es war ihr nicht allzu h. bei ihm. Brentano Wehm. 92; Auf einem
hohen h—en Schattenpfade..., längs dem rieselnden rauschenden
und plätschernden Waldbach. Förster B. 1, 417. Die II—keit der
Heiniath zerstören. Gervinus Lit. 5, 375. So vertraulich und heim¬
lich habe ich nicht leicht ein Plätzchen gefunden. G. 14, 14; Wir
dachten es uns so bequem, so artig, so gemütlich und h. 15, 9;
In stiller II—keit, umzielt von engen Schranken. Haller: Einer sorg¬
lichen Hausfrau, die mit dem Wenigsten eine vergnügliche H—keit
(Häuslichkeit) zu schaffen versteht. Hartmann Unst. 1, 188; Desto
b—er kam ihm jetzt der ihm erst kurz noch so fremde Mann vor.
Kerner 540; Die protestantischen Besitzer fühlen sich... nicht h.
unter ihren katholischen Untertlianen. Kohl. Irl. 1, 172; Wenns h.
wird und leise / die Abendstille nur an deiner Zelle lauscht. Tiedge
2, 39; Still und lieb und h., als sie sich / zum Ruhen einen Platz nur
wünschen möchten. W. 11, 144; Es war ihm gamicht h. dabei 27,
170 etc. — Auch: Der Platz war so still, so einsam, so schatten-h.
234
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Scherr Pilg. 1, 170; Die ab- und zuströmenden Fluthwellen, träu¬
mend und wiegenlied-li. Körner, Sch. 3, 320 etc. — Ygl. namentl.
Un-h. — Namentl. bei scliwäb., schwzr. Scbriftst. oft dreisilbig:
Wie „heimelich“ war es dann Ivo Abends wieder, als er zu Hause
lag. Auerbach, D. 1, 249; In dem Haus ist mir’s so heimelig ge¬
wesen. 4. 307; Die warme Stube, der heimelige Nachmittag. Gott¬
helf, Sch. 127, 148; Das ist das wahre Heimelig, wenn der Mensch
so von Herzen fühlt, wie wenig er ist, wie groß der Herr ist. 147;
Wurde man nach und nach recht gemütlich und heimelig mit ein¬
ander. U. 1, 297; Die trauliche Heimeligkeit. 380, 2, 86; Heime-
licher wird es mit wohl nirgends werden als hier. 327; Pestalozzi
4, 240; Was von ferne herkommt... lebt gw. nicht ganz heimelig
(heimatlich, fieundnacbbarlich) mit den Leuten. 325; Die Hütte,
wo / er sonst so heimelig, so froh /... im Kreis der Seinen oft ge¬
sessen. Reithard 20; Da klingt das Horn des Wächters so heimelig
vom Thurm / da ladet seine Stimme so gastlich. 49; Es schläft sich
da so lind und warm/so wunderheim’lig ein. 23 etc. — Diese
Weise verdiente allgemein zu werden, um das gute Wort
vor dem Veralten wegen nahe liegender V erwechslung
mit 2 zu bewahren, vgl.: „Die Zecks sind alle h. (2)“ II..,?
Was verstehen sie unter h...? — „Nun... es kommt mir
mit ihnen vor, wie mit einem zugegrabenen Brunnen
oder einem ausgetrockneten Teich. Man kann nicht
darüber gehen, ohne daß es Einem immer ist, als könnte
da wieder einmal Wasser zum Vorschein kommen.“ Wir
nennen das un— h. ; Sie nenne n’s h. Worin finden Sic denn,
daß diese Familie etwas Verstecktes und Unzuverläs¬
siges hat? etc. GutzkowR, 2,61*). — d) (s. d) namentl. scliles.:
fröhlich, heiter, auch vom Wetter, s. Adelung und Weinhold. -
2. versteckt, verborgen gehalten, so daß man Andre nicht davon oder
darum wissen lassen, es ihnen verbergen will, vgl. Geheim (2), von
welchem erst nhd. Ew. es doch zumal in der älteren Sprache, z. B.
in der Bibel, wie Hiob 11, 6; 15, 8, Weist). 2, 22; 1. Kor. 2, 7 etc.
und so auch H—keit statt Geheimnis. Math. 13, 35 etc. nicht
immer genau geschieden wird; H. (hinter Jemandes Rücken) Etwas
*) Sperrdruck (auch im folgenden) vom Referenten.
VI. DAS UNHEIMLICHE.
235
thun, treiben; Sich h. davon schleichen; II—e Zusammenkünfte,
Verabredungen; Mit h—er Schadenfreude Zusehen; H. seufzen, wei¬
nen; H. thun, als ob man etwas zu verbergen hätte; H—e Liebe,
Liebschaft, Sünde; H—e Orte (die der Wohlstand zu verhüllen ge¬
bietet). 1. Sam. 6, 6; Das li—e Gemach (Abtritt) 2. Kön. 10, 27;
W. 5, 256 etc., auch: Der h—e Stuhl. Zinlrgräf 1, 249; In Graben,
in H—keiten werfen. 3, 75; Rollenhagen Fr. 83 etc. — Führte, h. vor
Laomedon/ die Stuten vor. B. 161 b etc. — Ebenso versteckt, h., hinter¬
listig und boshaft gegen grausame Herren... wie offen, frei, theil-
nehmend und dienstwillig gegen den leidenden Freund.. Burmeister
gB 2, 157; Du sollst mein h. Heiligstes noch wissen. Cliamisso 4,
56; Die h—e Kunst (der Zauberei). 3, 224; Wo die öffentliche Ven¬
tilation aufhören muß, fängt die h—e Machination an. Förster,
Br. 2, 135; Freiheit ist die leise Parole h. Verschworener, das laute
Feldgeschrei der öffentlich Umwälzenden. G. 4, 222; Ein heilig, h.
Wirken. 15 ; Ich habe Wurzeln / die sind gar h., / im tiefen Boden / bin
ich gegründet. 2, .109; Meine h—e Tücke (vgl. Heimtücke). 30, 344;
Empfängt er es nicht offenbar und gewissenhaft, so mag er es h.
und gewissenlos ergreifen. 39, 22; Ließ h. und geheimnisvoll achro¬
matische Fernrohre zusammensetzen. 375; Von nun an, will ich, sei
nichts H—es mehr unter uns. Soli. 369 b. — Jemandes H- -keiten ent¬
decken, offenbaren, verratben; II—keiten hinter meinem Rücken zu
brauen. Alexis. II. 2, 3, 168; Zu meiner Zeit/befliß man sich der
H—keit. Hagedorn 3, 92; Die H—keit mid das Gepuschele unter der
Hand. Immermann, M. 3, 289; Der TI—keit (des verborgnen Golds)
unmächtigen Bann/kann nur die Hand der Einsicht lösen. Novalis.
1, 69; /Sag an, wo du sie verbirgst... in welches Ortes verschwiegener
F. Sehr. 495 b; Ihr Bienen, die ihr knetet/der II—keiten Schloß
(Wachs zum Siegeln). Tieck, Oymb. 3, 2; Erfahren in seltnen
H—keiten (Zauberkünsten). Schlegel Sh. 6, 102 etc. vgl. Geheimnis
L. 10: 291 ff.
Zsstzg. s. 1 c, so auch nam. der Ggstz.: Ün-: unbehagliches,
banges Grauen erregend: Der schier ihm un-h., gespenstisch erschien.
Cliamisso 3, 238; Der Nacht un-h. bange Stunden. 4, 148; Mir war
schon lang’ un-h., ja graulich zu Mute. 242; Nun fängts mir an,
un-h. zu werden. Gutzkow R. 2, 82; Empfindet ein u—es Grauen.
236
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Verm. 1, 51; Un-h. und starr wie ein Steinbild. Reis, 1, 10; Den
u—en Nebel, Haarvauch geheißen. Immermann M., 3, 299; Diese
blassen Jungen sind un-h. und brauen Gott weiß was Schlimmes.
Laube, Band 1, 119; Unh. nennt man Alles, was im Geheim¬
nis, im Verborgnen... bleiben sollte und hervorgetre¬
ten ist. Sehelling, 2, 2, 649 etc. — Das Göttliche zu verhüllen,
mit einer gewissen U—keit zu umgeben 658 etc. — Unüblich als Ggstz.
von (2), wie es Campe ohne Beleg anführt.
Aus diesem langen Zitat ist für uns am interessantesten,
daß das Wörtclien heimlich unter den mehrfachen Nuancen
seiner Bedeutung auch eine zeigt, in der es mit seinem Gegen¬
satz unheimlich zusammenfällt. Das heimliche wird dann zum
unheimlichen; vgl. das Beispiel von Gutzkow: „Wir nennen
das unheimlich, Sie nennen’s heimlich.“ Wir werden über¬
haupt daran gemahnt, daß dies Wort heimlich nicht eindeutig
ist, sondern zwei Vorstellungskreisen zugehört, die, ohne ge¬
gensätzlich zu sein, einander doch recht fremd sind, dem des
Vertrauten, Behaglichen und dem des Versteckten, Verborgen
gehaltenen. Unheimlich sei nur als Gegensatz zur ersten Be¬
deutung, nicht auch zur zweiten gebräuchlich. Wir erfahren
bei Sanders nichts darüber, ob nicht doch eine genetische
Beziehung zwischen diesen zwei Bedeutungen anzunelimen ist.
Hingegen werden wir auf eine Bemerkung von Schelling
aufmerksam, die vom Inhalt des Begriffes Unheimlich etwas
ganz Neues aussagt, auf das unsere Erwartung gewiß nicht
eingestellt war. Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im
Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.
Ein Teil der so angeregten Zweifel wird durch die An¬
gaben in Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörter¬
buch, Leipzig 1877 (IV/ 2 , p. 874 f) geklärt:
„Heimlich; adj. und adv. vernaculus, occultus; mhd. hei-
melich, heimlich.
VI. DAS UNHEIMLICHE.
237
S. 874: In etwas anderem sinne: es ist mir heimlich, wohl, frei
von furcht....
b) heimlich ist auch der von gespensterhaften freie ort...
S. 875: ß) vertraut; freundlich, zutraulich.
4. aus demheimatlichen, häuslichen entwickelt sich
weiter der begriff des fremden äugen entzogenen, ver¬
borgenen, geheimen, eben auch in mehrfacher Bezie¬
hung ausgebildet...
5. 876: „links am see
liegt eine matte heimlich im gehölz.“
Schiller, Teil I, 4.
... frei und für den modernen Sprachgebrauch ungewöhnlich ... heim¬
lich ist zu einem verbum des verbergens gestellt: er verbirgt mich
heimlich in seinem gezelt. ps. 27, 5. (,... heimliche orte am mensch¬
lichen Körper, pudenda... welche leute nicht stürben, die wurden
geschlagen an heimlichen orten. 1 Samuel 5, 12...
c) beamtete, die wichtige und geheim zu haltende ratschlage in
Staatssachen ertlieilen, heiszen heimliche räthe, das adjektiv nach
heutigem Sprachgebrauch durch geheim (s. d.) ersetzt:... (Pharao)
nennet ihn (Joseph) den heimlichen rath. 1. Mos. 41, 45;
S. 878. 6. heimlich für die erkenntnis, mystisch, allegorisch:
heimliche bedeutung, mysticus, divinus, occultus, figuratus.
S. 878: anders ist heimlich im folgenden, der erkenntnis ent¬
zogen, unbewuszt:...
dann aber ist heimlich auch verschlossen, undurchdringlich in
bezug auf erforschung:...
„merkst du wohl? sie trauen mir nicht,
fürchten des Friedländers heimlich gesicht.“
Wallensteins lager, 2. aufz.
9. die bedeutung des versteckten, gefährlichen, die
in der vorigen n ummer her vor tritt, entwickelt sich
noch weiter, so dasz heimlich den sinn empfängt, den
sonst unheimlich (gebildet nach heimlich, 3 b sp. 874) hat:
„mir ist zu Zeiten wie dem menschen der in nacht wandelt und an
gespenster glaubt, jeder winkel ist ihm heimlich und schauerhaft.“
Klinger, theater, 3, 298.
238
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach
einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem
Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgend¬
wie eine Art von heimlich. Halten wir dies noch nicht recht
geklärte Ergebnis mit der Definition des Unheimlichen von
Schölling zusammen. Die Einzeluntersuchung der .Fälle
des Unheimlichen wird uns diese Andeutungen verständlich
machen.
II.
Wenn wir jetzt an die Musterung der Personen und Dinge,
Eindrücke, Vorgänge, und Situationen herangehen, die das Ge¬
fühl des Unheimlichen in besonderer Stärke und Deutlichkeit
in uns zu erwecken vermögen, so ist die Wahl eines glück¬
lichen ersten Beispiels offenbar das nächste Erfordernis.
E. Jent sch hat als ausgezeichneten Fall den „Zweifel an
der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und um¬
gekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa be¬
seelt sei“ hervorgehoben und sich dabei auf den Eindruck
von Wachsfiguren, kunstvollen Puppen und Automaten be¬
rufen. Er reiht dem das Unheimliche des epileptischen An¬
falls und der Äußerungen des Wahnsinnes an, weil durch sie
in dem Zuschauer Ahnungen von automatischen — mechani¬
schen —- Prozessen geweckt werden, die hinter dem gewohnten
Bilde der Beseelung verborgen sein mögen. Ohne nun von
dieser Ausführung des Autors voll überzeugt zu sein, wollen
wir unsere eigene Untersuchung an ihn anknüpfen, weil er
uns im weiteren an einen Dichter mahnt, dem die Erzeu¬
gung unheimlicher Wirkungen so gut wie keinem anderen
gelungen ist.
„Einer der sichersten Kunstgriffe, leicht unheimliche
VT. DAS UNHEIMLICHE.
239
Wirkungen durch Erzählungen hervorzurufen,“ schreibt
Jentsch, „beruht nun darauf, daß man den Leser im Un¬
gewissen darüber läßt, ob er in einer bestimmten Figur eine
Person oder etwa einen Automaten vor sich habe, und zwar
so, daß diese Unsicherheit nicht direkt in den Brennpunkt
seiner Aufmerksamkeit tritt, damit er nicht veranlaßt werde,
die Sache sofort zu untersuchen und klarzustellen, da hie¬
durch, wie gesagt, die besondere Gefühlswirkung leicht
schwindet. E. T. A. Hoff mann hat in seinen Phantasie¬
stücken dieses psychologische Manöver wiederholt mit Er¬
folg zur Geltung gebracht.“
Diese gewiß richtige Bemerkung zielt vor allem auf die
Erzählung „Der Sandmann“ in den „Nachtstücken“ (dritter
Band der Grisebachsehen Ausgabe von Hoffmanns
sämtlichen Werken), aus welcher die Figur der Puppe Olimpia
in den ersten Akt der Offenbachschen Oper „Hoffmanns
Erzählungen“ gelangt ist. Ich muß aber sagen — und
ich hoffe, die meisten Leser der Geschichte werden mir bei¬
stimmen —, daß das Motiv der belebt scheinenden Puppe
Olimpia. keineswegs das einzige ist, welches für die unver¬
gleichlich unheimliche Wirkung der Erzählung verantwortlich
gemacht werden muß, ja nicht einmal dasjenige, dem diese
Wirkung in erster Linie zuzuschreiben wäre. Es kommt dieser
Wirkung auch nicht zustatten, daß die Olimpiaepisode vom
Dichter selbst eine leise Wendung ins Satirische erfährt und
von ihm zum Spott auf die Liebesüberschätzung von seiten
des jungen Mannes gebraucht wird. Im Mittelpunkt der Er¬
zählung steht vielmehr ein anderes Moment, nach dem sie
auch den Namen trägt, und das an den entscheidenden Stellen
immer wieder hervorgekehrt wird: das Motiv des San d-
m a n n e s, der den Kindern die Augen ausreißt.
240
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Der Student Nathaniel, mit dessen Kindheitserinnerun-
gen die phantastische Erzählung anhebt, kann trotz seines
Glückes in der Gegenwart die Erinnerungen nicht bannen, die
sich ihm an den rätselhaft erschreckenden Tod des geliebten
Vaters knüpfen. An gewissen Abenden pflegte die Mutter
die Kinder mit der Mahnung zeitig zu Bette . zu schicken: Der
Sandmann kommt, und wirklich hört das Kind dann jedesmal
den schweren Schritt eines Besuchers, der den Vater für diesen
Abend in Anspruch nimmt. Die Mutter, nach dem Sandmann
befragt, leugnet dann zwar, daß ein solcher anders denn als
Redensart existiert, aber eine Kinderfrau weiß greifbarere Aus¬
kunft zu geben: „Das ist ein böser Mann, der kommt zu den
Kindern, wenn sie nicht zu Bette gehen wollen, und wirft ihnen
Hände voll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopfe
herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie
in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen, die sitzen
dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, da¬
mit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“
Obwohl der kleine Nathaniel alt und verständig genug
war, um so schauerliche Zutaten zur Eigur des Sandmannes
abzuweisen, so setzte sich doch die Angst • vor diesem selbst
in ihm fest. Er beschloß zu erkunden, wie der Sandmann
aussehe, und verbarg sich eines Abends, als er wieder er¬
wartet wurde, im Arbeitszimmer des Vaters. In dem Besucher
erkennt er dann den Advokaten Coppelius, eine abstoßende
Persönlichkeit, vor der sich die Kinder zu scheuen pflegten,
wenn er gelegentlich als Mittagsgast erschien, und identifiziert
nun diesen Coppelius mit dem gefürchteten Sandmann. Em¬
den weiteren Fortgang dieser Szene macht es der Dichter
bereits zweifelhaft, ob wir es mit einem ersten Delirium des
angstbesessenen Knaben oder mit einem Bericht zu tun haben,
VI. DAS UNHEIMLICHE.
241
der als real in der Darstellungswelt der Erzählung aufzu¬
fassen ist. Vater und Gast machen sich an einem Herd mit
flammender Glut zu schaffen. Der kleine Lauscher hört Cop-
pelius rufen: „Augen her, Augen her“, verrät sich durch seinen
Aufschrei und wird von Coppelius gepackt, der ihm glutrote
Körner aus der Flamme in die Augen streuen will, um sie
dann auf den Herd zu werfen. Der Vater bittet die Augen
des Kindes frei. Eine tiefe Ohnmacht und lange Krankheit
beenden das Erlebnis. Wer sich für die rationalistische Deu¬
tung des Sandmannes entscheidet, .wird in dieser Phantasie
des Kindes den fortwirkenden Einfluß jener Erzählung der
Kinderfrau nicht verkennen. Anstatt der Sandkörner sind es
glutrote Elammenkörner, die dem Kinde in die Augen gestreut
werden sollen, in beiden Fällen, damit die Augen heraus¬
springen. Bei einem weiteren Besuche des Sandmannes ein
Jahr später wird der Vater durch eine Explosion im Arbeits¬
zimmer getötet; der Advokat Coppelius verschwindet vom
Orte, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Diese Schreckgestalt seiner Kinderjahre glaubt nun der
Student Nathaniel in einem herumziehenden italienischen
Optiker Giuseppe Coppola zu erkennen, der ihm in der Univer¬
sitätsstadt Wettergläser zum Kauf anbietet und nach seiner
Ablehnung hinzusetzt: „Ei, nix Wetterglas, nix Wetterglas!
— hab auch sköne Oke — sköne Oke.“ Das Entsetzen des
Studenten wird beschwichtigt, da sich die angebotenen Augen
als harmlose Brillen heraussteilen; er kauft dem Coppola ein
Taschenperspektiv ab und späht mit dessen Hilfe in die gegen¬
überliegende Wohnung des Professors Spalanzani, wo er dessen
schöne, aber rätselhaft wortkarge und unbewegte Tochter
Olimpia erblickt. In diese verliebt er sich bald so heftig, daß
er seine kluge und nüchterne Braut über sie vergißt. Aber
Freud, Neuroseulehre. V.
16
242
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Olimpia ist ein Automat, an dem Spalanzani das Räderwerk
gemacht und dem Coppola — der Sandmann — die Augen ein¬
gesetzt hat. Der Student kommt hinzu, wie die beiden Meister
sich um ihr Werk streiten; der Optiker hat die hölzerne, augen¬
lose Puppe davongetragen und der Mechaniker, Spalanzani,
wirft Nathaniel die auf dem Boden liegenden blutigen Augen
Olimpias an die Brust, von denen er sagt, daß Coppola sie
dem Nathaniel gestohlen. Dieser wird von einem neuerlichen
Wahnsinusanfall ergriffen, in dessen Delirium sich die Re¬
miniszenz an den Tod des Vaters mit dem frischen Eindruck
verbindet: „Hui — hui — hui! —• Feuerkreis — Feuerkreis!
Dreh’ dich, Feuerkreis — lustig — lustig! Holzpüppchen hui,
schön Holzpüppchen dreh’ dich —.“ Damit wirft er sich auf
den Professor, den angeblichen Vater Olimpias, und will ihn
erwürgen.
Aus langer, schwerer Krankheit erwacht, scheint Nathaniel
endlich genesen. Er gedenkt, seine wiedergefundene Braut
zu heiraten. Sie ziehen beide eines Tages durch die Stadt,
auf deren Markt der hohe Ratsturm seinen Riesenschatten
wirft. Das Mädchen schlägt ihrem Bräutigam vor, auf den
Turm zu steigen, während der das Paar begleitende Bruder
der Braut unten verbleibt. Oben zieht eine merkwürdige Er¬
scheinung von etwas, was sich auf der Straße heranbewegt,
die Aufmerksamkeit Claras auf sich. Nathaniel betrachtet
dasselbe Ding durch Coppolas Perspektiv, das er in seiner
Tasche findet, wird neuerlich vom Wahnsinn ergriffen und
mit den Worten: Holzpüppchen, dreh’ dich, will er das Mäd¬
chen in die Tiefe schleudern. Der durch ihr Geschrei herbei¬
geholte Bruder rettet sie und eilt mit ihr herab. Oben läuft
der Rasende mit dem Ausruf herum: Feuerkreis, dreh’ dich,
dessen Herkunft wir ja verstehen. Unter den Menschen, die
VI. DAS UNHEIMLICHE.
243
sich unten ansammeln, ragt der Advokat Coppelius hervor,
der plötzlich wieder erschienen ist. Wir dürfen annehmen,
daß es der Anblick seiner Annäherung war, der den Wahnsinn
bei Nathaniel zum Ausbruch brachte. Man will hinauf, um
sich des Rasenden zu bemächtigen, aber Coppelius *) lacht:
„wartet nur, der kommt schon herunter von selbst.“ .Natha¬
niel bleibt plötzlich stehen, wird den Coppelius gewahr und
stürzt sich mit dem gellenden Schrei: Ja! „Sköne Oke —
' Sköne Oke“ über das Geländer herab. Sowie er mit zer¬
schmettertem, Kopf auf dem Straßenpflaster liegt, ist der Sand¬
mann im Gewühl verschwunden.
Diese kurze Nacherzählung wird wohl keinen Zweifel dar¬
über bestehen lassen, daß das Gefühl des Unheimlichen direkt
an der Gestalt des Sandmannes, also a,n der Vorstellung der
Augen beraubt zu werden, haftet, und daß eine intellektuelle
Unsicherheit im Sinne von J e n t s c h mit dieser Wirkung
nichts zu tun hat. Der Zweifel an der Beseeltheit, den wir bei
der Puppe Olimpia gelten lassen mußten, kommt bei diesem
stärkeren Beispiel des Unheimlichen überhaupt nicht in Be¬
tracht. Der Dichter erzeugt zwar in uns anfänglich eine Art
von Unsicherheit, indem er uns, gewiß nicht ohne Absicht,
zunächst nicht erraten läßt, ob er uns in die reale Welt oder
in eine ihm beliebige phantastische Welt einführen wird. Er
hat ja bekanntlich das Beeilt, das eine oder das andere zu
tun, und wenn er z. B. eine Welt, in der Geister, Dämonen
und Gespenster agieren, zum Schauplatz seiner Darstellungen
gewählt hat, wie Shakespeare im’ Hamlet, Macbeth und
in anderem Sinne im Sturm und im Sommernachtstraum, so
*) Zur Ableitung des Namens: C'oppella = Probiertiegel (die chemi¬
schen Operationen, bei denen der Vater verunglückt); coppo = Augenhöhle
(nach einer Bemerkung von. Frau Dr. Rank).
244
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
müssen wir ihm darin nachgeben und diese Welt seiner Vor¬
aussetzung für die Dauer unserer Hingegebenheit wie eine
Realität behandeln. Aber im Verlaufe der Hoffmannscher
Erzählung schwindet dieser Zweifel, wir merken, daß der
Dichter uns selbst durch die Brille oder das Perspektiv des
dämonischen Optikers schauen lassen will, ja daß er vielleicht
in höchsteigener Person durch solch ein Instrument geguckt
hat. Der Schluß der Erzählung macht es ja klar, daß der
Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also
auch der Sandmann ist.
Eine „intellektuelle Unsicherheit“ kommt hier nicht mehr
in Frage: wir wissen jetzt, daß uns nicht die Phantasiegebilde
eines Wahnsinnigen vorgeführt werden sollen, hinter denen
wir in rationalistischer Überlegenheit den nüchternen Sach¬
verhalt erkennen mögen, und — der Eindruck des Unheim¬
lichen hat sich durch diese Aufklärung nicht im mindesten
verringert. Eine intellektuelle Unsicherheit leistet uns also
nichts für das Verständnis-dieser unheimlichen Wirkung.
Hingegen mahnt uns die psychoanalytische Erfahrung
daran, daß es eine schreckliche Kinderangst ist, die Augen
zu beschädigen oder zu verlieren. Vielen Erwachsenen ist
diese Ängstlichkeit verblieben und sie fürchten keine andere
Organ Verletzung so sehr wie die des Auges. Ist man doch
auch gewohnt zu sagen, daß man etwas behüten werde wie
seinen Augapfel. Das Studium der Träume, der Phantasien
und Mythen hat uns dann gelehrt, daß die Angst um die
Augen, die Angst zu erblinden, häufig genug ein Ersatz für
die Kastrationsangst ist. Auch die Selbstblendung des my¬
thischen Verbrechers Oedipus ist nur eine Ermäßigung für
die Strafe der Kastration, die ihm nach der Regel der Talion
allein angemessen wäre. Man mag es versuchen, in ratio-
VI. DAS UNHEIMLICHE.
245
nalistischer Denkweise die Zurückführung der Augenangst auf
die Kastrationsangst abzulehnen; man findet es begreiflich,
daß ein so kostbares Organ wie das Auge von einer entspre¬
chend großen Angst bewacht wird, ja man kann weitergehend
behaupten, daß kein tieferes Geheimnis und keine andere Be¬
deutung sich hinter der Kastrationsangst verberge. Aber man
wird damit, doch nicht der Ersatzbeziehung gerecht, die sich
in Traum, Phantasie und Mythus zwischen Auge und männ¬
lichem Glied kundgibt, und kann dem Eindruck nicht wider¬
sprechen, daß ein besonders starkes und dunkles Gefühl sich
gerade gegen die Drohung das Geschlechtsglied einzubüßen
erhebt, und daß dieses Gefühl erst der Vorstellung vom Ver¬
lust anderer Organe den Nachhall verleiht. Jeder weitere
Zweifel schwindet dann, wenn man aus den Analysen an
Neurotikern die Details des „Kastrationskomplexes“ erfahren
und dessen großartige Rolle in ihrem Seelenleben zur Kennt¬
nis genommen hat.
Auch würde ich keinem Gegner der psychoanalytischen
Auffassung raten, sich für die Behauptung, die Augenangst
sei etwas vom Kastrationskomplex Unabhängiges, gerade auf
die Hoffmannsche Erzählung vom „Sandmann“ zu berufen.
Denn warum ist die Augenangst hier mit dem Tode des Vaters
in innigste Beziehung gebracht? Warum tritt der Sandmann
jedesmal als Störer der Liebe auf ? Er entzweit den unglück¬
lichen Studenten mit seiner Braut und ihrem Bruder, der sein
bester Freund ist, er vernichtet sein zweites Liebesobjekt,
die schöne Puppe Olimpia, und zwingt ihn selbst zum Selbst¬
mord, wie er unmittelbar vor der beglückenden Vereinigung
mit seiner wiedergewonnenen Clara steht. Diese sowie viele
andere Züge der Erzählung erscheinen willkürlich und bedeu¬
tungslos, wenn man die Beziehung der Augenangst zur Ka-
246
SCHRIFTEN ZUR, NEUROSENLEHRE. V.
stration ablehnt, und werden sinnreich, sowie man für den
Sandmann den gefürchteten Vater einsetzt, von dem man die
Kastration erwartet *).
Wir würden es also wagen, das Unheimliche des Sand¬
mannes auf die Angst des kindlichen Kastrationskomplexes
zurückzuführen. Sowie aber die Idee auftaucht, ein solches
infantiles Moment für die Entstehung des unheimlichen Ge¬
fühls in Anspruch zu nehmen, werden wir auch zum Versuch
getrieben, dieselbe Ableitung für andere Beispiele des Unheim¬
lichen in Betracht zu ziehen. Im Sandmann findet sich noch
das Motiv der belebt scheinenden Puppe, das J e n t s c h her-
*) In der Tat hat die Phantasiebearbeitung des Dichters die Elemente
des Stoffes nicht so wild herumgewirbelt, daß man ihre ursprüngliche An¬
ordnung nicht wiederherstellen könnte. In der Kindergeschichte stellen der
Vater und Coppelius die durch Ambivalenz in zwei Gegensätze zerlegte
Vaterimago dar; der eine droht mit Ider Blendung (Kastration), der andere,
der gute Vater, bittet die Augen des Kindes frei. Das von der Verdrängung
am stärksten betroffene Stück des Komplexes, der Todeswunscli gegen den
bösen Vater, findet seine Darstellung in dem Tod des guten Vaters, der dem
Coppelius zur Last gelegt wird. Diesem Väterpaar entsprechen in der
späteren Lebensgeschichte des Studenten der Professor Spalanzani und der
Optiker Coppola, der Professor an sich eine Eigur der Vaterreihe, Coppola als
identisch mit dem Advokaten Coppelius erkannt. Wie sie damals zusammen
am geheimnisvollen Herd arbeiteten, so haben sie nun gemeinsam die Puppe
Olimpia verfertigt; der Professor heißt auch der Vater Olimpias. Durch
diese zweimalige Gemeinsamkeit verraten sie sich als Spaltungen des Vater¬
imago, d. h. sowohl der Mechaniker als auch der Optiker sind der Vater
der Olimpia wie des Nathaniel. In der Schreckensszene der Kinderzeit
hatte Coppelius, nachdem er auf dio Blendung des Kleinen verzichtet, ihm
probeweise Arme und Beine abgeschraubt, also wie ein Mechaniker an einer
Puppe an ihm gearbeitet. Dieser sonderbare Zug, der ganz aus dem Rahmen
der Sandmannvorstellung heraustritt, bringt ein neues Äquivalent der
Kastration ins Spiel; er weist aber auch auf die innere Identität 'des
Coppelius mit seinem späteren Widerpart, dem Mechaniker Spalanzani,
VI. DAS UNHEIMLICHE.
247
vorgehoben hat. Nach diesem Autor ist es eine besonders
günstige Bedingung für die Erzeugung unheimlicher Gefühle,
wenn eine intellektuelle Unsicherheit geweckt wird, ob etwas
belebt oder leblos sei, und wenn das Leblose die Ähnlichkeit
mit dem Lebenden zu weit treibt. Natürlich sind wir aber
gerade mit den Puppen vom Kindlichen nicht weit entfernt.
Wir erinnern uns, daß das Kind im frühen Alter des Spielens
überhaupt nicht scharf zwischen Belebtem und Leblosem unter¬
scheidet und daß es besonders gern seine Puppe wie ein leben¬
des Wesen behandelt. Ja, man hört gelegentlich von einer Pa¬
tientin erzählen, sie habe noch im Alter von acht Jahren die
bin und bereitet uns für die Deutung der Olimpia vor. Diese automatische
Puppe kann nichts anderes sein als die Materialisation von Nathaniels
femininer Einstellung- zu seinem Vater in früher Kindheit. Ihre Väter —
Spalanzani und Coppola — sind ja nur neue Auflagen, Reinkarnationem.
von Nathaniels Väterpaar; die sonst unverständliche Angabe des Spalan¬
zani, daß der Optiker dem Nathaniel die Augen gestohlen (s. o.), um sie
der Puppe einzusetzem, gewinnt so als Beweis für die Identität von
Olimpia und Nathaniel ihre Bedeutung. Olimpia ist sozusagen ein von
Nathaniel losgelöster Komplex, der ihm als Person entgegentritt; die
Beherrschung durch diesen Komplex findet in der unsinnig zwanghaften
Liebe zur Olimpia ihren Ausdruck. Wir haben das Recht, diese Liebe eine
narzißtische zu heißen, und verstehen, daß der ihr Verfallene sich dem
realen Liebesobjekt entfremdet. Wie psychologisch richtig es aber ist, daß
der durch den Kastrationskomplex an den Vater fixierte Jüngling der Liebe
zum Weibe unfähig wird, zeigen zahlreiche Krankenanalysen, deren Inhalt
zwar weniger phantastisch, aber kaum minder traurig ist. als die Ge¬
schichte des Studenten Nathaniel.
E. T. A. Ho ff mann war das Kind einer unglücklichen Ehe. Als
er drei Jahre war, trennte sich der Vater von seiner kleinen Familie und.
lebte nie wieder mit ihr vereint. Nach den Belegen, die E. Grisebacb
in der biographischen Einleitung zn II offmanns Werken, beibringt, war
die Beziehung zum A r ater immer eine der wundesten Stellen in des Dichters
Gefühlsleben.
248
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Überzeugung gehabt, wenn sie. ihre Puppen auf eine gewisse
Art,- möglichst eindringlich, anschaucn würde, müßten diese
lebendig werden. Das infantile Moment ist also auch hier
leicht nachzuweisen; aber merkwürdig, im Falle des Sand¬
mannes handelte es sich um die Erweckung einer alten Kinder¬
angst, bei der lebenden Puppe ist von Angst keine Rede, das
Kind hat sich vor dem Beleben seiner Puppen nicht gefürchtet,
vielleicht es sogar gewünscht. Die Quelle des unheimlichen
Gefühls wäre also hier nicht eine Kinderangst, sondern ein
Kinderwunsch oder auch nur ein Kinderglaube. Das scheint
ein Widerspruch; möglicherweise ist es nur eine Mannigfaltig¬
keit, die späterhin unserem Verständnis förderlich werden kann.
E. T. A. II off mann ist der unerreichte Meister des
Unheimlichen in der Dichtung. Sein Roman „Die Eli.xire
des Teufels“ weist ein ganzes Bündel von Motiven auf,
denen man die unheimliche Wirkung der Geschichte zuschrei¬
ben möchte. Der Inhalt des Romans ist zu reichhaltig und
verschlungen, als daß man einen Auszug daraus wagen könnte.
Zu Ende des Buches, wenn die dem Leser bisher vorenthal¬
tenen Voraussetzungen der Handlung nachgetragen werden,
ist das Ergebnis nicht die Aufklärung des Lesers, sondern
eine volle Verwirrung desselben. Der Dichter hat zu viel
Gleichartiges gehäuft; der Eindruck des Ganzen leidet nicht
darunter, wohl aber das Verständnis. Man muß sich damit
begnügen, die hervorstechendsten unter jenen unheimlich wir¬
kenden Motiven herauszuheben, um zu untersuchen, ob auch
für sie eine Ableitung aus infantilen Quellen zulässig ist.
Es sind dies das Doppelgängertum in all seinen Abstufungen
und Ausbildungen, also das Auftreten von Personen, die wegen
ihrer gleichen Erscheinung für identisch gehalten werden
müssen, die Steigerung dieses Verhältnisses durch Übersprin-
VI. DAS UNHEIMLICHE.
249
gen seelischer Vorgänge von einer dieser Personen auf die
andere — was wir Telepathie heißen würden —, so daß der
eine das Wissen, Fühlen und Erleben des anderen -mitbesitzt,
die Identifizierung mit einer anderen Person, so daß man an
seinem Ich irre wird oder das fremde Ich an die Stelle des
eigenen versetzt, also Ichverdopplung, Ichteilung, Ichvertau-
schung — und endlich die beständige Wiederkehr des Glei¬
chen, die Wiederholung der nämlichen Gesichtszüge, Charak¬
tere, Schicksale, verbrecherischen Taten, ja der Namen durch
mehrere aufeinanderfolgende Generationen.
Das Motiv des Doppelgängers hat in einer gleichnamigen
Arbeit von 0. Eank eine eingehende Würdigung gefunden*).
Dort werden die Beziehungen des Doppelgängers zum Spiegel-
und Schattenbild, zum Schutzgeist, zur Seelenlehre und zur
Todesfurcht untersucht, es fällt aber auch helles Licht auf
die überraschende Entwicklungsgeschichte des Motivs. Denn
der Doppelgänger war - ursprünglich eine Versicherung gegen
den Untergang des Ichs, eine „energische Dementierung der
Macht des Todes“ (O. Rank) und wahrscheinlich war die
„unsterbliche“ Seele der erste Doppelgänger des Leibes. Die
Schöpfung einer solchen Verdopplung zur Abwehr gegen die
Vernichtung hat ihr Gegenstück in einer Darstellung der
Traumsprache, welche die Kastration durch Verdopplung oder
Vervielfältigung des Genitalsymbols auszudrücken liebt; sic
wird in der Kultur der alten Ägypter ein Antrieb für die Kunst,
das Bild des Verstorbenen in dauerhaftem Stoff zu formen.
Aber diese Vorstellungen sind auf dem Boden der uneinge¬
schränkten Selbstliebe entstanden, des primären Narzißmus,
welcher das Seelenleben des Kindes wie des Primitiven be¬
herrscht, und mit der Überwindung dieser Phase ändert sich das
*) 0. Rank, Der Doppelgänger, Imago,. III, 1914.
250
SCHRIFTEN ZUE NEUROSENLEHEE. V.
Vorzeichen des Doppelgängers, aus einer Versicherung des
l'ortlebens wird er zum unheimlichen Vorboten des Todes.
Die Vorstellung des Doppelgängers braucht nicht mit
diesem uranfänglichen Narzißmus unterzugehen; denn sie kann
aus den späteren Entwicklungsstufen des Ichs neuen Inhalt
gewinnen. Im Ich bildet sich langsam eine besondere Instanz
heraus, welche sich dem übrigen Ich entgegenstellen kann,
die der Selbstbeobachtung und Selbstkritik dient, die Arbeit
der psychischen Zensur leistet und unserem Bewußtsein als
„Gewissen“ bekannt wird. Im pathologischen Falle des Be¬
achtungswahnes wird sie isoliert, vom Ich abgespalten, dem
Arzte bemerkbar. Die Tatsache, daß eine solche Instanz vor¬
handen ist, welche das übrige Ich wie ein Objekt behandeln
kann, also daß der Mensch der Selbstbeobachtung fähig ist,
macht es möglich, die alte Doppelgängervorstellung mit neuem
Inhalt zu erfüllen und ihr mancherlei zuzuweisen, vor allem
all das, was der Selbstkritik als zugehörig zum alten über¬
wundenen Narzißmus der Urzeit erscheint *).
Aber nicht nur dieser der Ichkritik anstößige Inhalt kann
dem Doppelgänger einverleibt werden, sondern ebenso alle
unterbliebenen Möglichkeiten der Geschicksgestaltung, an
denen die Phantasie noch festhalten will, und alle Ichstrebun-
gen, die sich infolge äußerer Ungunst nicht durchsetzen konn-
*) loh glaube, wenn die Dichter klagen, daß zwei Seelen in des Men¬
schen Brust, wohnen, und wenn die Populärpsychologen von der Spaltung
des Ichs im Menschen reden, so schwebt ihnen diese Entzweiung, der Ich-
psycliologie angehörig, zwischen der kritischen Instanz und dem Ich-Rest
vor und nicht die von der Psychoanalyse aufgedeckte Gegensätzlichkeit
zwischen dem Ich und dem unbewußten Verdrängten. Der Unterschied
wird allerdings dadurch verwischt, daß sich unter dem von der Ichkritik
Verworfenen zunächst die "Abkömmlinge des Verdrängten befinden.
VI. DAS UNHEIMLICHE.
251
ten, sowie alle die unterdrückten Willensentscheidungen, die
die Illusion des freien Willens ergeben haben *).
Nachdem wir aber so die manifeste Motivierung der
Doppelgängergestalt betrachtet haben, müssen wir uns sagen:
Nichts von alledem macht uns den außerordentlich hohen Grad
von Unheimlichkeit, der ihr anhaftet, verständlich, und aus
unserer Kenntnis der pathologischen Seelenvorgänge dürfen
wir hinzusetzen, nichts von diesem Inhalt könnte das Abwehr¬
bestreben erklären, das ihn als etwas Fremdes aus dem Ich
hinausprojiziert. Der Charakter des Unheimlichen kann doch
nur daher rühren, daß der Doppelgänger eine den überwun¬
denen seelischen Urzeiten angehörige Bildung ist, die damals
allerdings einen freundlicheren Sinn hatte. Der Doppelgänger
ist zum Schreckbild geworden, wie die Götter nach dem Sturz
ihrer Religion zu Dämonen werden (Heine, Die Götter im
Exil).
Die anderen bei Hoffmann verwendeten Ichstörungen
sind nach dem Muster des Doppelgängermotivs leicht zu be¬
urteilen. Es handelt sich bei ihnen um ein Rückgreifen auf
einzelne Phasen in der Entwicklungsgeschichte des Ichgefühls,
um eine Regression in Zeiten, da das Ich sich noch nicht
scharf von der Außenwelt und vom Anderen abgegrenzt hatte.
Ich glaube, daß diese Motive den Eindruck des Unheimlichen
mitverschulden, wenngleich es nicht leicht ist, ihren Anteil
an diesem Eindruck isoliert herauszugreifen.
Das Moment der Wiederholung des Gleichartigen wird
*) In der II. H. Ewers sehen Dichtung 1 „Der Student van Prag“, von
welcher die Rank sehe Studie über den Doppelgänger ausgegangon ist, hat
der Held der Geliebten versprochen, seinen Duellgegner nicht zu töten.
Auf dem Wege zum Duellplatz begegnet ihm aber der Doppelgänger, welcher
den Nebenbuhler bereits erledigt hat.
252
SCHRITTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
als Quelle des unheimlichen G-efühls vielleicht nicht bei jeder¬
mann Anerkennung finden. Nach meinen Beobachtungen ruft
es unter gewissen Bedingungen und in Kombination mit be¬
stimmten Umständen unzweifelhaft ein solches Gefühl her¬
vor, das überdies an die Hilflosigkeit mancher Traumzustände
mahnt. Als ich einst an einem heißen Sommernachmittag
die mir unbekannten, menschenleeren Straßen einer italieni¬
schen Kleinstadt durchstreifte, geriet ich in eine Gegend, über
deren Charakter ich nicht lange in Zweifel bleiben konnte.
Es waren nur geschminkte Frauen an den Fenstern der kleinen
Häuser zu sehen, und ich beeilte mich, die enge Straße durch
die nächste Einbiegung zu verlassen. Aber nachdem ich eine
Weile führerlos herumgewandert war, fand ich mich plötzlich
in derselben Straße wieder, in der ich nun Aufsehen zu er¬
regen begann, und meine eilige Entfernung hatte nur die Folge,
daß ich auf einem neuen Umwege zum drittenmal dahingeriet.
Dann aber erfaßte mich ein Gefühl, das ich nur als unheimlich
bezeichnen kann, und ich war froh, als ich unter Verzicht
auf weitere Entdeckungsreisen auf die kürzlich von mir ver¬
lassene Piazza zurückfand. Andere Situationen, die die un¬
beabsichtigte Wiederkehr mit der eben beschriebenen gemein
haben und sich in den anderen Punkten gründlich von ihr
unterscheiden, haben doch dasselbe Gefühl von Hilflosigkeit
und Unheimlichkeit zur Folge. Zum Beispiel, wenn man sich
im Hochwald, etwa vom Nebel überrascht, verirrt hat und
nun trotz aller Bemühungen, einen markierten oder bekannten
Weg zu finden, wiederholt zu der einen, durch eine bestimmte
Formation gekennzeichneten Stelle zurückkommt. Oder wenn
man im unbekannten, dunkeln Zimmer wandert, um die Tür
oder den Lichtschalter aufzusuchen und dabei zum xtenmal
mit demselben Möbelstück zusammenstößt, eine Situation, die
VI. DAS UNHEIMLICHE.
253
Mark Twain allerdings durch groteske Übertreibung in eine
unwiderstehlich komische umgewandelt hat.
An einer anderen Reihe von Erfahrungen erkennen wir
auch mühelos, daß es nur das Moment der unbeabsichtigten
Wiederholung ist, welches das sonst Harmlose unheimlich
macht und uns die Idee des Verhängnisvollen, Unentrinnbaren
aufdrängt, wo wir sonst nur von „Zufall“ gesprochen hätten.
So ist es z. B. gewiß ein gleichgültiges Erlebnis, wenn man
für seine in einer Garderobe abgegebenen Kleider einen Schein
mit einer gewissen Zahl — sagen wir: 62 — erhält oder wenn
man findet, daß die zugewiesene Schiffskabine diese Nummer
trägt. Aber dieser Eindruck ändert sich, wenn beide an sich
indifferenten Begebenheiten nahe aneinander rücken, so daß
einem die Zahl 62 mehrmals an demselben Tage entgegentritt,
und wenn man dann etwa gar die Beobachtung machen sollte,
daß alles, was eine Zahlenbezeichnung trägt, Adressen, Hotel¬
zimmer, Eisenbahnwagen u. dgl. immer wieder die nämliche
Zahl, wenigstens als Bestandteil, wiederbringt. Man findet
das „unheimlich“ und wer nicht stich- und hiebfest gegen
die Versuchungen des Aberglaubens ist, wird sich geneigt
finden, dieser hartnäckigen Wiederkehr der einen Zahl eine
geheime Bedeutung zuzuschreiben, etwa einen Hinweis auf
das ihm bestimmte Lebensalter darin zu sehen. Oder wenn
man eben mit dem Studium der Schriften des großen Physio¬
logen E. H e r i n g beschäftigt ist, und nun wenige Tage aus¬
einander Briefe von zwei Personen dieses Namens aus ver¬
schiedenen Ländern empfängt, während man bis dahin niemals
mit Leuten, die so heißen, in Beziehung getreten wa,r. Ein
geistvoller Naturforscher hat vor kurzem den Versuch unter¬
nommen, Vorkommnisse solcher Art gewissen Gesetzen unter¬
zuordnen, wodurch der Eindruck des Unheimlichen aufgehoben
254
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
werden müßte. Ich getraue mich nicht zu entscheiden, ob es
ihm gelungen ist *).
Wie das Unheimliche der gleichartigen Wiederkehr aus
dem infantilen Seelenleben abzuleiten ist, kann ich hier nur
andeuten und muß dafür auf eine bereitliegende ausführliche
Darstellung in anderem Zusammenhänge verweisen. Im see¬
lisch Unbewußten läßt sich nämlich die Herrschaft eines von
den Triebregungen ausgehenden Wiederliolungszwan-
g e s erkennen, der wahrscheinlich von der innersten Natur
der Triebe selbst abhängt, stark genug ist, sich über das
Lustprinzip hinauszusetzen, gewissen Seiten des Seelenlebens
den dämonischen Charakter verleiht, sich in den Strebungen
des kleinen Kindes noch sehr deutlich äußert und ein Stück
vom Ablauf der Psychoanalyse des Neurotikers beherrscht.
Wir sind durch alle vorstehenden Erörterungen darauf vor¬
bereitet, daß dasjenige als unheimlich verspürt werden wird,
was an diesen inneren Wiederholungszwang mahnen kann.
Nun, denke ich aber, ist es Zeit, uns von diesen immer¬
hin schwierig zu beurteilenden Verhältnissen abzuwenden und
unzweifelhafte Eälle des Unheimlichen aufzusuchen, von deren
Analyse wir die endgültige Entscheidung über die Geltung
unserer Annahme erwarten dürfen.
Im „King des Polykrates“ 'wendet sich der Gast mit Grau¬
sen, weil er merkt, daß jeder Wunsch des Freundes sofort in
Erfüllung geht, jede seiner Sorgen vom Schicksal unverzüglich
aufgehoben wird. Der Gastfreund ist ihm „unheimlich“ ge¬
worden. Die Auskunft, die er selbst gibt, daß der allzu Glück¬
liche den Neid der Götter zu fürchten habe, erscheint uns noch
undurchsichtig, ihr Sinn.ist mythologisch verschleiert. Greifen
*) P. Kämmerer, Das Gesetz der Serie, Wien 1919.
VI. DAS UNHEIMLICHE.
255
wir darum ein anderes Beispiel aus weit schlichteren Verhält¬
nissen heraus: In der Krankengeschichte eines Zwangsneuroti¬
kers *) habe ich erzählt, daß dieser Kranke einst einen Auf¬
enthalt in einer Wasserheilanstalt genommen hatte, aus dem
er sich eine große Besserung holte. Er war aber so klug, diesen
Erfolg nicht der Heilkraft des Wassers, sondern der Lage
seines Zimmers zuzuschreiben, welches der Kammer einer lie¬
benswürdigen Pflegerin' unmittelbar benachbart war. Als er
dann zum zweitenmal in diese Anstalt kam, verlangte er das¬
selbe Zimmer wieder, mußte aber hören, daß dies bereits von
einem alten Herrn besetzt sei, und gab seinem Unmut darüber
in den Worten Ausdruck: Dafür soll ihn aber der Schlag
treffen. Vierzehn Tage später erlitt der alte Herr wirklich
einen Schlaganfall. Für meinen Patienten war dies ein „un¬
heimliches“ Erlebnis. Der Eindruck des Unheimlichen wäre
noch stärker gewesen, wenn eine viel kürzere Zeit zwischen
jener Äußerung und dem Unfall gelegen wäre, oder wenn der
Patient über zahlreiche ganz ähnliche Erlebnisse hätte be¬
richten können. In der Tat war er um solche Bestätigungen
nicht verlegen, aber nicht er allein, alle Zwangsneurotiker, die
ich studiert habe, wußten Analoges von sich zu erzählen. Sie
waren gar nicht überrascht, regelmäßig der Person zu begegnen,
an die sie eben —• vielleicht nach langer Pause — gedacht
hatten; sie pflegten regelmäßig am Morgen einen Brief von
einem Freund zu bekommen, wenn sie am Abend vorher ge¬
äußert hatten: Von dem hat man aber jetzt lange nichts ge¬
hört, und besonders Unglücks- oder Todesfälle ereigneten sich
nur selten, ohne eine Weile vorher durch ihre Gedanken ge¬
huscht zu sein. Sie pflegten diesem Sachverhalt in der be-
*) Bemerkungen über einen L’all von Zwangsneurose, Jalirb. f. Psycho¬
analyse, I, 1909 und Sammlung kl. Schriften, dritte Eolge, 19.13.
256
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
scheidensten Weise Ausdruck zu geben, indem sie behaupteten,
.„Ahnungen“ zu haben, die „meistens“ eintreffen.
Eine der unheimlichsten und verbreitetsten Formen des
Aberglaubens ist die Angst vor dem „bösen Blick“, welcher
bei dem Hamburger Augenarzt S. Seligmann*) eine gründ¬
liche Behandlung gefunden hat. Die Quelle, aus welcher diese
Angst schöpft, scheint niemals verkannt worden zu sein. Wer
etwas Kostbares und doch Hinfälliges besitzt, fürchtet sich
vor dem Neid der anderen, indem er jenen Neid auf sie proji¬
ziert, den er im umgekehrten Falle empfunden hätte. Solche
Regungen verrät man durch den Blick, auch wenn man ihnen
den Ausdruck in Worten versagt, und wenn jemand durch
auffällige Kennzeichen, besonders unerwünschter Art, vor den
anderen hervorsticht, traut man ihm zu, daß sein Neid eine
besondere Stärke erreichen und dann auch diese Stärke in
Wirkung umsetzen wird. Man fürchtet also eine geheime
Absicht zu schaden, und auf gewisse Anzeichen hin nimmt
man an, daß dieser Absicht auch die Kraft zu Gebote steht.
Die letzterwähnten Beispiele des Unheimlichen hängen von
dem Prinzip ab, das ich, der Anregung eines Patienten fol¬
gend, die „Allmacht der Gedanken“ benannt habe. Wir kön¬
nen nun nicht mehr verkennen, auf welchem Boden wir uns
befinden. Die Analyse der Fälle des Unheimlichen hat uns
zur alten Weltauffassung des Animismus zurückgeführt,
die ausgezeichnet war durch die Erfüllung der Welt mit Men-
schengeistern, durch die narzißtische Überschätzung der eige¬
nen seelischen Vorgänge, die Allmacht der Gedanken und die
darauf aufgebaute Technik der Magie, die Zuteilung von sorg¬
fältig abgestuften Zauberkräften an fremde Personen und Dinge
*) S. Selig mann, Der böse Blick und Verwandtes, 2 Bä.nde, Berlin
1910 u. 1911.
TI. DAS UNHEIMLICHE.
257
(Mana), sowie durch alle die Schöpfungen, mit denen sich
der uneingeschränkte Narzißmus jener Entwicklungsperiode
gegen den unverkennbaren Einspruch der Realität zur Wehr
setzte. Es scheint, daß wir alle in unserer individuellen Ent¬
wicklung eine diesem Animismus der Primitiven entsprechende
Phase durchgemacht haben, daß sie bei keinem von uns ab¬
gelaufen ist, ohne noch äußerungsfähige Reste und Spuren
zu hinterlassen, und daß alles, was uns heute als „unheimlich“
erscheint, die Bedingung erfüllt, daß cs an diese Reste animisti-
scher Seelentätigkeit rührt und sie zur Äußerung anregt *).
Hier ist nun der Platz für zwei Bemerkungen, in denen
ich den wesentlichen Inhalt dieser kleinen Untersuchung nie¬
derlegen möchte. Erstens, wenn die psychoanalytische Theorie
in der Behauptung recht hat, daß jeder Affekt einer Gefühls¬
regung, gleichgültig von welcher Art, durch die Verdrängung
in Angst verwandelt wird, so muß es unter den Fällen des
Ängstlichen eine Gruppe geben, in der sich zeigen läßt, daß
dies Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist. Diese
Art des Ängstlichen wäre eben das Unheimliche und dabei
muß es gleichgültig sein, ob es ursprünglich selbst ängstlich
war oder von einem anderen Affekt getragen. Zweitens, wenn
dies wirklich die geheime Natur des Unheimlichen ist, so ver¬
stehen wir, daß der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen
Gegensatz, das Unheimliche übergehen läßt (S. 302), denn
dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes,
*) Vgl. hiezu den Abschnitt III Animismus, Magie und Allmacht der
Gedanken in des Verf. Buch: Totem und Tabu. 1913. Dort auch die
Bemerkung (S. 19, Note): ,,Es scheint, daß wir den Charakter des ,Un¬
heimlichen“ solchen Eindrücken verleihen, welche die Allmacht der Ge¬
danken und die animistische Denkweise überhaupt bestätigen wollen,
während wir uns bereits im Urteil von ihr abgewendet haben.“
Freud, Neurosenlehre. V.
17
258
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das
ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden
ist. Die Beziehung auf die Verdrängung erhellt uns jetzt
auch die Schellingsehe Definition, das Unheimliche sei
etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervor-
getreten ist.
Es erübrigt uns nur noch, die Einsicht, die wir gewonnen
haben, an der Erklärung einiger anderer Fälle des Unheim¬
lichen zu erproben.
Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Men¬
schen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wieder¬
kehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern zusammenhängt.
Wir haben ja gehört, daß manche moderne Sprachen unseren
Ausdruck: ein unheimliches Haus gar nicht anders wiedergeben
können als durch die Umschreibung: ein Haus, in dem es
spukt. Wir hätten eigentlich unsere Untersuchung mit diesem,
vielleicht stärksten Beispiel von Unheimlichkeit beginnen
können, aber wir taten es nicht, weil hier das Unheimliche
zu sehr mit dem Grauenhaften vermengt und zum Teil von
ihm gedeckt ist. Aber auf kaum einem anderen Gebiete hat
sich unser Denken und Fühlen seit den Urzeiten so wenig
verändert, ist das Alte unter dünner Decke so gut erhalten
geblieben, wde in unserer Beziehung zum Tode. Zwei Mo¬
mente geben für diesen Stillstand gute Auskunft: Die Stärke
unserer ursprünglichen Gefühlsreaktionen und die Unsicher¬
heit unserer wissenschaftlichen Erkenntnis. Unsere Biologie
hat es noch nicht entscheiden können, ob der Tod das not¬
wendige Schicksal jedes Lebewesens oder nur ein regelmäßiger,
vielleicht aber vermeidlicher Zufall innerhalb des Lebens ist.
Der Satz: alle Menschen müssen sterben, paradiert zwar in
den Lehrbüchern der Logik als Vorbild einer allgemeinen Be-
VI. DAS UNHEIMLICHE.
259
liauptung, aber keinem Menschen leuchtet er ein, und unser
Unbewußtes hat jetzt so wenig Kaum wie vormals für die
Vorstellung der eigenen Sterblichkeit. Die Religionen be¬
streiten noch immer der unableugbaren Tatsache des indivi¬
duellen Todes ihre Bedeutung und setzen die Existenz über
das Lebensende hinaus fort; die staatlichen G-ewalten meinen
die moralische Ordnung unter den Lebenden nicht aufrecht
erhalten zu können, wenn man auf die Korrektur des Erden¬
lebens durch ein besseres Jenseits verzichten soll; auf den
Anschlagsäulen unserer Großstädte werden Vorträge angekün¬
digt, welche Belehrungen spenden wollen, wie man sich mit
den Seelen der Verstorbenen in Verbindung setzen kann, und
es ist unleugbar, daß mehrere der feinsten Köpfe und schärfsten
Denker unter den Männern der Wissenschaft, zumal gegen das
Ende ihrer eigenen Lebenszeit, geurteilt haben, daß es an
Möglichkeiten für solchen Verkehr nicht fehle. Da fast alle
von uns in diesem Punkt noch so denken wie die Wilden,
ist es auch nicht zu verwundern, daß die primitive Angst vor
dem Toten bei uns noch so mächtig ist und bereit liegt, sich
zu äußern, sowie irgend etwas ihr entgegenkommt. Wahr¬
scheinlich hat sie auch noch den alten Sinn, der Tote sei zum
Feind des Überlebenden geworden und beabsichtige, ihn mit
sich zu nehmen, als Genossen seiner neuen Existenz. Eher
könnte man bei dieser Unveränderlichkeit der Einstellung zum
Tode fragen, wo die Bedingung der Verdrängung bleibt, die
erfordert wird, damit das Primitive als etwas Unheimliches
wiederkehren könne. Aber die besteht doch auch; offiziell
glauben die sogenannten Gebildeten nicht mehr an das Sicht¬
barwerden der Verstorbenen als Seelen, haben deren Erschei¬
nung an entlegene und selten verwirklichte Bedingungen ge¬
knüpft, und die ursprünglich höchst zweideutige, ambivalente
17*
260
SCHRIFTEN ZUE NEUROSENLEHRE. V.
Gefühlseinstellung zum Toten ist für die höheren Schichten
des Seelenlebens zur eindeutigen der Pietät abgeschwächt
worden *).
Es bedarf jetzt nur noch weniger Ergänzungen, denn mit
dem Animismus, der Magie und Zauberei, der Allmacht der
Gedanken, der Beziehung zum Tode, der unbeabsichtigten
Wiederholung und dem Kastrationskomplex haben wir den
Umfang der Momente, die das Ängstliche zum Unheimlichen
machen, so ziemlich erschöpft.
Wir heißen auch einen lebenden Menschen unheimlich,
und zwar dann, wenn wir ihm böse Absichten Zutrauen. Aber
das reicht nicht hin, wir müssen noch hinzutun, daß diese
seine Absichten uns zu schaden, sich mit Hilfe besonderer Kräfte
verwirklichen werden. Der „Gettatore“ ist ein gutes Beispiel
hiefür, diese unheimliche Gestalt' des romanischen Aberglau¬
bens, die Albreclit Schaffer in dem Buche „Josef Mont¬
fort“ mit poetischer Intuition und tiefem psychoanalytischen
Verständnis zu einer sympathischen Figur umgeschaffen hat.
Aber mit diesen geheimen Kräften stehen wir bereits wieder
auf dem Boden des Animismus. Die Ahnung solcher Geheim¬
kräfte ist es, die dem frommen Gretchen den Mephisto so un¬
heimlich werden läßt:
i „Sie ahnt, daß ich ganz sicher ein Genie,
Vielleicht sogar der Teufel bin.“
Das Unheimliche der Fallsucht, des Wahnsinns, hat den¬
selben Ursprung. Der Laie sieht hier die Äußerung von Kräften
vor sich, die er im Nebenmenschen nicht vermutet hat, deren
Regung er aber in entlegenen Winkeln der eigenen Persönlich¬
keit dunkel zu spüren vermag. Das Mittelalter hatte kon.se-
*) Vgl.: Das Tabu und die Ambivalenz in „Totem und Ta.bu“.
VI. DAS UNHEIMLICHE.
261
quenterweise und psychologisch beinahe korrekt alle diese
Krankheitsäußerungen der Wirkung von Dämonen zugeschrie¬
ben. Ja, ich würde mich nicht verwundern zu hören, daß die
Psychoanalyse, die sich mit der Aufdeckung dieser geheimen
Kräfte beschäftigt, vielen Menschen darum selbst unheimlich
geworden ist. In einem Falle, als mir die Herstellung eines
seit vielen Jahren siechen Mädchens — wenn auch nicht sehr
rasch — gelungen war, habe ich’s von der Mutter der für
lange Zeit Geheilten selbst gehört.
Abgetrennte Glieder, ein abgehauener Kopf, eine vom Arni
gelöste Hand wie in einem Märchen von Hauff? Füße, die
für sich allein tanzen wie _ in dem erwähnten Buche von
A. Sohaeffer, haben etwas ungemein Unheimliches an sich,
besonders wenn ihnen wie im letzten Beispiel noch eine selb¬
ständige Tätigkeit zugestanden wird. Wir wissen schon, daß
diese Unheimlichkeit von der Annäherung an den Kastra¬
tionskomplex herrüht. Manche Menschen würden die Krone
der Unheimlichkeit der Vorstellung zuweisen, scheintot be¬
graben zu werden. Allein die Psychoanalyse hat uns gelehrt,
daß diese schreckende Phantasie nur die Umwandlung einer
anderen ist, die ursprünglich nichts Schreckhaftes war, son¬
dern von einer gewissen Lüsternheit getragen wurde, nämlich
der Phantasie vom Leben im Mutterleib.
Tragen wir noch etwas Allgemeines nach, was streng ge¬
nommen bereits in unseren bisherigen Behauptungen über den
Animismus und die überwundenen Arbeitsweisen des seelischen
Apparats enthalten, ist, aber doch einer besonderen Hervor¬
hebung würdig scheint, daß es nämlich oft und leicht un¬
heimlich wirkt, wenn die Grenze zwischen Phantasie und Wirk¬
lichkeit verwischt wird, wenn etwas real vor uns hintritt, was
262
SCHEUTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
wir bisher für phantastisch gehalten haben, wenn ein Symbol
die volle Leistung und Bedeutung des Symbolisierten über-.
nimmt und dergleichen mehr. Hierauf beruht auch ein gutes
Stück der Unheimlichkeit, die den magischen Praktiken an¬
haftet. Das Infantile daran, was auch das Seelenleben der
Neurotiker beherrscht, ist die Überbetonung der psychischen
Realität im Vergleich zur materiellen, ein Zug, welcher sich
der Allmacht der G-edanken anschließt. Mitten in der Absper¬
rung des Weltkrieges kam eine Nummer des englischen Maga¬
zins „Strand“ in meine Hände, in der ich unter anderen ziem¬
lichen überflüssigen Produktionen eine Erzählung las, wie ein
junges Paar eine möblierte Wohnung bezieht, in der .sich ein
seltsam geformter Tisch mit holzgeschnitzten Krokodilen be¬
findet. Gegen Abend pflegt sich dann ein unerträglicher,
charakteristischer Gestank in der Wohnung zu verbreiten, man
stolpert im Dunkeln über irgend etwas, man glaubt zu sehen,
wie etwas Undefinierbares über die Treppe huscht, kurz, man
soll erraten, daß infolge der Anwesenheit dieses Tisches ge¬
spenstische Krokodile im Hause spuken, oder daß die hölzernen
Scheusale im Dunkeln Leben bekommen oder etwas Ähnliches.
Es war eine recht einfältige Geschichte, aber ihre unheimliche
Wirkung verspürte man als ganz hervorragend.
Zum Schlüsse dieser gewiß noch unvollständigen Beispiel¬
sammlung soll eine Erfahrung aus der psychoanalytischen Ar¬
beit erwähnt, werden, die, wenn sie nicht auf einem zufälligen
Zusammentreffen beruht, die schönste Bekräftigung unserer
Auffassung des Unheimlichen mit sich bringt. Es kommt oft
vor, daß neurotische Männer erklären, das weibliche Genitale
sei ihnen etwas Unheimliches. Dieses Unheimliche ist aber
der Eingang zur alten Heimat des Menschenkindes, zur Ört¬
lichkeit, in der jeder einmal und zuerst geweilt hat. „Liebe
VI. DAS UNHEIMLICHE.
263
ist Heimweh“, behauptet ein Scherzwort, und wenn der Träu¬
mer von einer Örtlichkeit oder Landschaft noch im Traume
denkt: Das ist mir bekannt, da war ich schon einmal, so darf
die Deutung dafür das Genitale oder den Leib der Mutter ein-
setzen. Das Unheimliche ist also auch in diesem Falle das
ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe un an diesem
Worte ist aber die Marke der Verdrängung.
III.
Schon während der Lektüre der vorstehenden Erörterungen
werden sich beim Leser Zweifel geregt haben, denen jetzt ge¬
stattet werden soll, sich zu sammeln und laut zu werden.
Es mag zutreffen, daß das Unheimliche das Heimliche-
Heimische ist, das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr
wiedergekehrt ist, und daß alles Unheimliche diese Bedingung
erfüllt. Aber mit dieser Stoffwahl scheint das Rätsel des Un¬
heimlichen nicht gelöst. Unser Satz verträgt offenbar keine
Hmkehrung. Nicht alles, was an verdrängte Wunschregungen
und überwundene Denkweisen der individuellen Vorzeit und
der Völkerurzeit mahnt, ist darum auch unheimlich.
Auch wollen wir cs nicht verschweigen, daß sich fast zu
jedem Beispiel, welches unseren Satz erweisen sollte, ein ana¬
loges finden läßt, das ihm widerspricht. Die abgehauene Hand
z. B. im Hau ff sehen Märchen „Die Geschichte von der ab¬
gehauenen Hand“ wirkt gewiß unheimlich, was wir auf den
Kastrationskomplex zurückgeführt haben. Aber in der Er¬
zählung des H e r o d o t vom Schatz des Rliampsenit läßt der
Meisterdieb, den die Prinzessin bei der Hand festhalten will,
ihr die abgehauene Hand seines Bruders zurück, und andere
werden wahrscheinlich ebenso wie ich urteilen, daß dieser
264
SCHRIFTEN ZUE NEUROSENLEHRE. V.
Zug keine unheimliche Wirkung hervorruft. Die prompte
Wunscherfüllung im „Ring des Polykrates“ wirkt auf uns
sicherlich ebenso unheimlich wie auf den König von Ägypten
selbst. Aber in unseren Märchen wimmelt es von sofortigen
Wunscherfüllungen und das Unheimliche bleibt dabei aus.
Im Märchen von den drei Wünschen läßt sich die Frau durch
den Wohlgeruch einer Bratwurst verleiten zu sagen, daß sic
auch so ein. Würstchen haben möchte. Sofort liegt es vor ihr
auf dem Teller. Der Mann wünscht im Ärger, daß es der Vor¬
witzigen an der Nase hängen möge, Flugs baumelt es an
ihrer Nase. Das ist sehr eindrucksvoll, aber nicht im gering¬
sten unheimlich. Das Märchen stellt sich überhaupt ganz
offen auf den animistischen Standpunkt der Allmacht von
Gedanken und Wünschen, und ich wüßte, doch kein echtes
Märchen zu nennen, in dem irgend etwas Unheimliches vor¬
käme. Wir haben gehört, daß es in hohem Grade unheimlich
wirkt, wenn leblose Dinge, Bilder, Puppen, sich beleben, aber
in den Andersen sehen Märchen leben die Hausgerät e, die
Möbel, der Zinnsoldat und nichts ist vielleicht, vom Unheim¬
lichen entfernter. Auch die Belebung der schönen Statue des
Pygrna lion wird man kaum als unheimlich empfinden.
Scheintod und Wiederbelebung von Toten haben wir als
sehr unheimliche Vorstellungen kennen gelernt. Dergleichen
ist aber wiederum im Märchen sehr gewöhnlich; wer wagte
es unheimlich zu nennen, wenn z. B. Schneewittchen die Augen
wieder aufschlägt? Auch die Erweckung von Toten in den
Wundergeschichten, z. B. des Neuen Testaments, ruft Gefühle
hervor, die nichts mit dem Unheimlichen zu tun haben. Die
unbeabsichtigte Wiederkehr des Gleichen, die uns so unzweifel¬
hafte unheimliche Wirkungen ergeben hat, dient doch in einer
Reihe von Fällen anderen, und zwar sehr verschiedenen Wir-
VI. DAS UNHEIMLICHE.
265
kungen. Wir haben schon einen Fall kennen gelernt, in dem
sie als Mittel zur Hervorrufung des komischen Gefühls ge-*
braucht wird, und könnten Beispiele dieser Art häufen. Andere
Male wirkt sie als Verstärkung u.dgl., ferner: woher rührt
die Unheimlichkeit der Stille, des Alleinseins, der Dunkelheit?
Deuten diese Momente nicht auf die Rolle der Gefahr bei der
Entstehung des Unheimlichen, wenngleich es dieselben Bedin¬
gungen sind, unter denen wir die Kinder am häufigsten Angst
äußern sehen ? Und können wir wirklich das Moment der intel¬
lektuellen Unsicherheit ganz vernachlässigen, da wir doch
seine Bedeutung für das Unheimliche des Todes zugegeben
haben ?
So müssen wir wohl bereit sein anzunehmen, daß für das
Auftreten des unheimlichen Gefühls noch andere als die von
uns vorangesteilten stofflichen Bedingungen maßgebend sind.
Man könnte zwar sagen, mit jener ersten Feststellung sei das
psychoanalytische Interesse am Problem des Unheimlichen
erledigt, der Rest erfordere wahrscheinlich eine ästhetische
Untersuchung. Aber damit würden wir dem Zweifel das Tor
öffnen, welchen Wert unsere Einsicht in die Herkunft des
Unheimlichen vom verdrängten Heimischen eigentlich bcan- „
Sprüchen darf.
Eine Beobachtung kann uns den Weg zur Lösung dieser
Unsicherheiten weisen. Fast alle Beispiele, die unseren Er¬
wartungen widersprechen, sind dem Bereich der Fiktion, der
Dichtung, entnommen. Wir erhalten so einen Wink, einen
Unterschied zu machen zwischen dem Unheimlichen, das man
erlebt, und dem Unheimlichen, das man sich bloß vorstellt,
oder von dem man liest.
Das Unheimliche des Erlebens hat weit einfachere Bedin¬
gungen, umfaßt aber weniger zahlreiche Fälle. Ich glaube,
266
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
es fügt sich ausnahmslos unserem Lösungsversuch, läßt jedes¬
mal die Zurückführung auf altvertrautes Verdrängtes zu. Doch
ist auch hier, eine wichtige und psychologisch bedeutsame
Scheidung des Materials vorzunehmen, die wir am besten an
geeigneten Beispielen erkennen werden.
Greifen wir das Unheimliche der Allmacht der Gedanken,
der prompten Wunscherfüllung, der geheimen schädigenden
Kräfte, der Wiederkehr der Toten heraus. Die Bedingung,
unter der hier das Gefühl des Unheimlichen entsteht, ist nicht
zu verkennen. Wir — oder unsere primitiven Urahnen —
haben dereinst diese Möglichkeiten für Wirklichkeit gehalten,
waren von der Bealität dieser Vorgänge überzeugt. Heute
glauben wir nicht mehr daran, wir haben diese Denkweisen
überwunden, aber wir fühlen uns dieser neuen Überzeu¬
gungen nicht ganz sicher, die alten leben noch in uns fort
und lauern auf Bestätigung. Sowie sich nun etwas in unserem
Leben ereignet, was diesen alten abgelegten Überzeugungen
eine Bestätigung zuzuführen scheint, haben wir das Gefühl
des Unheimlichen, zu dem man das Urteil ergänzen kann:
Also ist es doch wahr, daß man einen anderen durch den
bloßen Wunsch töten kann, daß die Toten weiterleben und an
der St ätte ihrer früheren Tätigkeit sichtbar werden u. dgl.!
Wer im Gegenteile diese a.nimistischen Überzeugungen bei
sich gründlich und endgültig erledigt hat, für den entfällt
das Unheimliche dieser Art. Das merkwürdigste Zusammen¬
treffen von Wunsch und Erfüllung, die rätselhafteste Wieder¬
holung ähnlicher Erlebnisse an demselben Ort oder zum glei¬
chen Datum, die täuschendsten Gesichts Wahrnehmungen und
verdächtigsten Geräusche werden ihn nicht irre machen, keine
Angst in ihm erwecken, die man als Angst vor dem „Unheim¬
lichen“ bezeichnen kann. Es handelt sich hier also rein um
VI. DAS UNHEIMLICHE.
267
eine Angelegenheit der Realitätsprüfung, um eine Frage der
materiellen Realität *).
Anders verhält es sich mit dem Unheimlichen, das von ver¬
drängten infantilen Komplexen ausgeht, vom Kastra.tions-
komplex, der Mutterleibsphantasie usw., nur daß reale Er¬
lebnisse, welche diese Art von Unheimlichem erwecken, nicht
sehr häufig sein können. Das Unheimliche des Erlebens ge¬
hört zumeist der früheren Gruppe an, für die Theorie ist aber
die Unterscheidung der beiden sehr bedeutsam. Beim Un¬
heimlichen aus infantilen Komplexen kommt die Frage der
materiellen Realität gar nicht in Betracht, die psychische
Realität tritt an deren Stelle. Es handelt sich um wirkliche
*) Da auch das Unheimliche des Doppelgängers von dieser Gattung
ist, wird es interessant, die Wirkung zu erfahren, wenn uns einmal das
Bild der eigenen Persönlichkeit ungerufen urid unvermutet entgegentritt.
E. Mach berichtet zwei solcher Beobachtungen in der „Analyse der Emp¬
findungen“, 1900, Seite 3. Er erschrak das eine Mal nicht wenig, als er
erkannte, daß das gesehene Gesicht das eigene sei, das andere Mal fällte
er ein sehr ungünstiges Urteil über den anscheinend Fremden, der in seinen
Omnibus einstieg, „Was steigt doch da für ein herabgekommener Schul¬
meister ein“. — Ich kann ein ähnliches Abenteuer erzählen: Ich saß allein
im Abteil des Schlafwagens, als bei einem heftigeren Ruck der Fahrt¬
bewegung die zur anstoßenden Toilette führende Tür aufging und ein
älterer Herr im Schlafrock, die Reisemütze auf dem Kopfe, bei mir eintrat.
Ich nahm an, daß er sich beim Verlassen des zwischen zwei Abteilen
befindlichen Kabinetts in der Richtung geirrt hatte und fälschlich in mein
Abteil gekommen war, sprang auf, um ihn aufzuklären, erkannte aber bald
verdutzt, daß der Eindringling mein eigenes, vom Spiegel in der Verbin¬
dungstür entworfenes Bild war. Ich weiß noch, daß mir die Erscheinung
gründlich mißfallen hatte. Anstatt also über den Doppelgänger zu er¬
schrecken, hatten beide — Mach wie ich — ihn einfach nicht agnosziert.
Ob aber das Mißfallen dabei nicht doch ein Rest jener archaischen Re¬
aktion war, die den Doppelgänger als unheimlich empfindet?
268
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
Verdrängung eines Inhaltes und um die Wiederkehr des Ver¬
drängten, nicht um die Aufhebung des Glaubens an die
Realität dieses Inhalts. Man könnte sagen, in dem einen
Falle sei ein gewisser Vorstcllungsinhalt, im anderen der
Glaube an seine {materielle) Realität verdrängt. Aber die
letztere Ausdrucksweise dehnt wahrscheinlich den Gebrauch
des Terminus „Verdrängung“ über seine rechtmäßigen Grenzen
aus. Es ist korrekter, wenn wir einer hier spürbaren psycho¬
logischen Differenz Rechnung tragen und den Zustand, in dem
sich die animistischen Überzeugungen des Kulturmenschen be¬
finden, als ein — mehr oder weniger vollkommenes — Über-
wundenscin bezeichnen. Unser Ergebnis lautete dann: Das
Unheimliche des Erlebens kommt zu stände, wenn ver-
d r ä n g t c infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder
belebt werden, oder wenn überwundene primitive Über¬
zeugungen wieder bestätigt scheinen. Endlich darf man sich
durch die Vorliebe für glatte Erledigung und durchsichtige
Darstellung nicht vom Bekenntnis abhalten lassen, daß die
beiden hier aufgestellten Arten des Unheimlichen im Erleben
nicht immer scharf zu sondern sind. Wenn man bedenkt, daß
die primitiven Überzeugungen auf das innigste mit den infan¬
tilen Komplexen Zusammenhängen und eigentlich in ihnen
wurzeln, wird man sich über diese Verwischung der Abgren¬
zungen nicht viel verwundern.
Das Unheimliche der Fiktion — der Phantasie, der Dich¬
tung -— verdient in der Tat eine gesonderte Betrachtung. Es
ist vor allem weit reichhaltiger als das Unheimliche des Er¬
lebens, es umfaßt dieses in seiner Gänze und dann- noch an¬
deres, was unter den Bedingungen des Erlebens nicht vor¬
kommt. Der Gegensatz zwischen Verdrängtem und Überwun¬
denem kann nicht ohne tiefgreifende Modifikation auf das Un-
VI. DAS UNHEIMLICHE.
269
heimliche der Dichtung übertragen werden, denn das Reich
der Phantasie hat ja zur Voraussetzung seiner Geltung, daß
sein Inhalt von der Realitätsprüfung enthoben ist. Das j>ara-
dox klingende Ergebnis ist, daß in der Dichtung vieles
nicht unheimlich ist, was unheimlich wäre,
wenn es sich im Leben ereignete, und daß in der
Dichtung viele Möglichkeiten bestehe n, u n-
h e i m liehe Wirkungen zu erziel e n, die f iir s L e-
ben wegfallen.
Zu den vielen Freiheiten des Dichters gehört auch die,
seine Darstellungswelt nach Belieben so zu wählen, daß sie
mit der uns vertrauten Realität zusammenfällt, oder sich
irgendwie von ihr entfernt. Wir folgen ihm in jedem Falle.
Die Welt des Märchens'z. B. hat den Boden der Realität von
vornherein verlassen und sich offen zur Annahme der animisti-
schcn Überzeugungen bekannt. Wunscherfüllungen, geheime
Kräfte, Allmacht der Gedanken, Belebung des Leblosen, die
im Märchen ganz gewöhnlich sind, können hier keine unheim¬
liche Wirkung äußern, denn für die Entstehung des unheim¬
lichen Gefühls 'ist, wie wir gehört haben, der Urteilsstreit er¬
fordert, ob das überwundene Unglaubwürdige nicht doch real
möglich -ist, eine Frage, die durch die Voraussetzungen der
Märchenwelt überhaupt aus dem Wege geräumt ist. So ver¬
wirklicht das Märchen, das uns die meisten Beispiele von
Widerspruch gegen unsere Lösung des Unheimlichen geliefert
hat, den zuerst erwähnten Fall, daß im Reiche der Fiktion
vieles nicht unheimlich ist, was unheimlich wirken müßte,
wenn es sich im Leben ereignete. Dazu kommen fürs Märchen
noch andere Momente, die später kurz berührt werden sollen.
Der Dichter kann sich auch eine Welt erschaffen haben,
die, minder phantastisch als die Märchenwelt, sich von der
270
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
realen doch durch die Aufnahme von höheren geistigen We¬
sen, Dämonen oder Geistern Verstorbener scheidet. Alles Un¬
heimliche, was diesen Gestalten anhaften könnte, entfällt dann,
soweit die Voraussetzungen dieser poetischen' Realität reichen.
Die Seelen der Danteschen Hölle oder die Geistererscheinungen
in Shakespeares Hamlet, Macbeth, Julius Caesar mögen
düster und schreckhaft genug sein, aber unheimlich sind sic
im Grunde ebensowenig wie etwa die heitere Götterwelt Ho¬
mers. W T ir passen unser Urteil den Bedingungen dieser vom
Dichter fingierten Realität an und behandeln Seelen, Geister
und Gespenster, als wären sie vollberechtigte Existenzen, wie
wir es selbst in der materiellen Realität sind. Auch dies ist
ein Fall, in dem Unheimlichkeit erspart wird.
Anders nun, wenn der Dichter sich dem Anscheine nach
auf den Boden der gemeinen Realität gestellt hat. Dann über¬
nimmt. er auch alle Bedingungen, die im Erleben für die Ent¬
stehung des unheimlichen Gefühls gelten, und alles was im
Leben unheimlich wirkt, wirkt auch so in der Dichtung. Aber
in diesem Falle kann der Dichter auch das Unheimliche weit
über das im Erleben mögliche Maß hinaus steigern und ver¬
vielfältigen, indem er solche Ereignisse Vorfällen läßt, die in
der Wirklichkeit nicht oder nur sehr selten zur Erfahrung ge¬
kommen wären. Er verrät uns dann gewissermaßen an unseren
für überwunden gehaltenen Aberglauben, er betrügt uns, .in¬
dem er uns die gemeine Wirklichkeit verspricht und dann doch
über diese hinausgeht. Wir reagieren auf seine Fiktionen so, wie
wir auf eigene Erlebnisse reagiert hätten; wenn wir den Betrug
merken, ist es zu spät, der Dichter hat seine Absicht bereits
erreicht, aber ich muß behaupten, er hat keine reine Wirkung
erzielt. Bei uns bleibt ein Gefühl von Unbefriedigung, eine
Art von Groll über die versuchte Täuschung, wie ich es beson-
VI. DAS UNHEIMLICHE.
271
ders deutlich nach der Lektüre von Schnitzlers Erzählung
„Die Weissagung“ und ähnlichen mit dem Wunderbaren lieb¬
äugelnden Produktionen verspürt habe. Der Dichter hat dann
noch ein Mittel zur Verfügung, durch welches er sich dieser
unserer Auflehnung entziehen und gleichzeitig die Bedingungen
für das Erreichen seiner Absichten verbessern kann. Es be¬
steht darin, daß er uns lange Zeit über nicht erraten läßt,
welche Voraussetzungen er eigentlich für die von ihm ange¬
nommene Welt gewählt hat, oder daß er kunstvoll und arg¬
listig einer solchen entscheidenden Aufklärung bis zum Ende
ausweicht. Im ganzen wird aber hier der vorhin angekündigte
Pall verwirklicht, daß die Fiktion neue Möglichkeiten des un¬
heimlichen Gefühls erschafft, die im Erleben Wegfällen würden.
Alle diese Mannigfaltigkeiten beziehen sich streng ge¬
nommen nur auf das Unheimliche, das aus dem Überwundenen
entsteht. Das Unheimliche aus verdrängten Komplexen ist
resistenter, es bleibt in der Dichtung — von einer Bedingung
abgesehen ■— ebenso unheimlich wie im Erleben. Das andere
Unheimliche, das aus dem Überwundenen, zeigt diesen Cha¬
rakter im Erleben und in der Dichtung, die sich auf den
Boden der materiellen Realität stellt, kann ihn aber in den
fiktiven, vom Dichter geschaffenen Realitäten einbüßen.
Es ist offenkundig, daß die Freiheiten des Dichters und
damit die Vorrechte der Fiktion in der Hervorrufung und Hem¬
mung des unheimlichen Gefühls durch die vorstehenden Be¬
merkungen nicht erschöpft werden. Gegen das Erleben ver¬
halten wir uns im allgemeinen gleichmäßig passiv und unter¬
liegen der Einwirkung des Stofflichen. Für den Dichter sind
wir aber in besonderer Weise lenkbar, durch die Stimmung,
in die er uns versetzt, durch die Erwartungen, die er in uns
erregt, kann er unsere Gefühlsprozesse von dem emen Erfolg
272
SCHRIFTEN ZUR NEUROSENLEHRE. V.
ablenken und auf einen anderen einstellen, und kann aus
demselben Stoff oft sehr verschiedenartige Wirkungen ge¬
winnen. Dies ist alles längst bekannt und wahrscheinlich
von den berufenen Ästhetikern eingehend gewürdigt worden.
Wir sind auf dieses Gebiet der Forschung ohne rechte Ab¬
sicht geführt worden, indem wir der Versuchung nachgaben,
den Widerspruch gewisser Beispiele gegen unsere Ableitung
des Unheimlichen aufzuklären. Zu einzelnen dieser Beispiele
wollen wir darum auch zurückkehren.
Wir fragten vorhin, warum die abgehauene Hand im Schatz
der Bhampsenit nicht unheimlich wirke wie etwa in der Häuf f-
schen „Geschichte, von der • abgehauenen Hand“. Die Frage
erscheint uns jetzt bedeutsamer, da wir die größere Resistenz
des Unheimlichen aus der Quelle verdrängter Komplexe erkannt
haben. Die Antwort ist leicht zu geben. Sie lautet, daß wir
in dieser Erzählung nicht auf die Gefühle der Prinzessin, son¬
dern auf die überlegene Schlauheit des „Meisterdiebes“ ein¬
gestellt werden. Der Prinzessin mag das unheimliche Gefühl
dabei nicht erspart worden sein, wir wollen es selbst für glaub¬
haft halten, daß sie in Ohnmacht gefallen ist, aber wir ver¬
spüren nichts Unheimliches, denn wir versetzen uns nicht in
sie, sondern in den anderen. Durch eine andere Konstellation
wird uns der Eindruck des Unheimlichen in der Nestroy-
schen Posse „Der Zerrissene“ erspart, wenn der Geflüchtete,
der sich für einen Mörder hält, aus jeder Falltür, deren Deckel
er aufhebt, das vermeintliche Gespenst des Ermordeten auf¬
steigen sieht und verzweifelt ausruft: Ich hab’ doch nur einen
umgebracht. Zu was diese gräßliche Multiplikation? Wir
kennen die Vorbedingungen dieser Szene, teilen den Irrtum
des „Zerrissenen“ nicht, und darum wirkt, was für ihn unheim¬
lich sein muß, auf uns mit unwiderstehlicher Komik. Sogar
VI. DAS UNHEIMLICHE.
273
ein „wirkliches“ Gespenst wie das in O. Wildes Erzählung.
„Der Geist von Canterville“ muß all seiner Ansprüche, wenig¬
stens Grauen zu erregen, verlustig werden, wenn der Dichter
sich den Scherz macht, es zu ironisieren und hänseln zu lassen.
So unabhängig kann in der Welt der Fiktion die Gefühlswir¬
kung von der Stoff wähl sein. In der Welt der Märchen sollen
Angstgefühle, also auch unheimliche Gefühle überhaupt nicht
erweckt werden. Wir verstehen das und sehen darum auch
über die Anlässe hinweg, bei denen etwas Derartiges mög¬
lich wäre.
Von der Einsamkeit, Stille und Dunkelheit können wir
nichts anderes sagen, als daß dies wirklich die Momente sind,
an welche die bei den meisten Menschen nie ganz erlöschende
Kinderangst geknüpft ist. Die psychoanalytische Forschung
'hat sich mit dem Problem derselben an anderer Stelle aus¬
einandergesetzt.
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Jones: Die Stellungnahme de» psychoanalyti¬
schen Arztes an den aktuellen Konflikten. —-
Karpirtska: tTbev die psychologischen Grand^
lagen Ö63 Freudieraas. — Pfister: P*of. l)r. Ernst
Dfirr und sein© Stellung zur Psychoanalyse. —
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Anomaiian der Stimmlage. — rreimark: Die
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- Nachmah nsohn : Freuds lubldotheone ver-
glinhen mit der EroSehre Plato:'. — Pfister, i«
die Brandstiftung ein archaischer Sublim icriulge-
versnoh? — Reik: Über Vaterschaft und Nai-
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IV. lahrgang (19IÖ- 1918).
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Hauer und Melancholie - Jones: Prof. Jane«
über Psychoanalyse. - Meyer: Dr. 0- G.Jungs
Psychologie der unbewußte fr?*« 8 *®-~ Ophut]-
aen: Beiträge zum M&onlichkcitskompJcx der
Frau. -- Putnam : Allgemeine Gesichtspunkte
zur pfcychoanalytiachtou Hewegung. — Reik:
Beitrag s nr psyjhoarulytischi n AiTektlebro. —
Tat»sk : Hur Psychologie dos Deserteurs usw.
' V. Jahrgang (1919).
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Aue dem Inhalte: Van der Chijs: Über
Halluzinationen und t-eychom nlyse.— Ferenczi:
Technische Schwierigkeiten ein r Hysterieanalyse.
— Freud: „Bin Kind wird 70 s oh lagen.“ —
Hollos: Die Phftten d ’s Selbstb. wnütseinsaktes.
— Jones: Die Theorie der Symbolik.«— Pfister:
TJber die verschiedenartige Psychogenität der
Kiiegenouroaen. — StürcBe: Di» l. rokehruug des
Bibidovorzeicbene beim Verfolgsng*w ahn usw.
VI. Jahrgang (1920).
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Ana dem Inbalte: Boehnt: Beiträge ^.ur
Psychologie der Homosexwalititt. — Eisler: I5ine
unbewußte Schwangergchaftsphau via bei oioom
Alaune. — Flournoy: Quolque. •He»s an *«jet
de In »ignification aymbolique de T*« ot du feu.
— Freud: Über die Psychogenc-se tones Hallos
von. weiblicher Homosexualität. — Orocltlcck.
Wnnecherflillung der irdischen und göuliehen
Strafen. - Hermann: Intelligenz und tiefer
Gedanke. - Nunberg: Über den ki.iatnn.jch««
Anfall. - Ophuljsen: Über dm Qu;Ile der
Empfindung des Vcrfolgtwerdens. — <ci. - —r
kollektives Vergee-en. - Sadger: bb.r M-
fongsangnt und Prafungsträume — usv;
VII. Jahrgang (1921).
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No. 8. -kt Log®
FREUD II Soguo.Lire 6 — ' J
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FREUD - Tro ContrihnK alla Teoria Sessuale.Lire 6*— ' sj
No. 4.
RANI- - il Mito delia nascifa degli Eroi.Lire 6.—
So 6,
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