SIGM FREUD
Drei Abhandlungen
zur oexualtneoiie
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Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie
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von
Prof. Dr. Sigm. Freud
Sechste, durchgesehene Auflage
■
• . -
Leipzig und Wien
Franz Deuticke
1925
*
•
■
V
ÜBERSETZUNGEN:
i
1910: Englisch von Brill
1911: Russisch von Wjachirew und Poljakow
1915: Ungarisch von Ferenczi
•igs'i: Italienisch von Bianchini
1925: Französisch von Reverchon
l 9' 8 3. : Spanisch von Lopez-Ballesteros y de Torres
1924: Polnisch von Jekels und Albinski
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Verlags-Nr. 2932
Gesellschaft für graphische Industrie. Wien. III.. Rüdengasse l»
VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE
Nachdem ich durch ein Jahrzehnt Aufnahme und Wirkung dieses
Buches beobachtet, möchte ich dessen dritte Auflage mit einigen Vor-
bemerkungen versehen, die gegen Mißverständnisse und unerfüllbare
Ansprüche an dasselbe gerichtet sind. Es sei also vor allem betont, daß
die Darstellung hierin durchweg von der alltäglichen ärztlichen Erfahrung
ausgeht, welche durch die Ergebnisse der psychoanalytischen Untersuchung
vertieft und wissenschaftlich- bedeutsam gemacht werden soll. Die drei
„Abhandlungen zur Sexualtheorie" können nichts anderes enthalten, als
was die Psychoanalyse anzunehmen nötigt oder zu bestätigen gestattet. Es
ist darum ausgeschlossen, daß sie sich jemals zu einer „Sexualtheorie
erweitern ließen und begreiflich, daß sie zu manchen wichtigen Problemen
des Sexuallebens überhaupt nicht Stellung nehmen. Man wolle aber darum
nicht glauben, daß diese übergangenen Kapitel des großen Themas dem
Autor unbekannt geblieben sind oder von ihm als nebensächlich vernach-
lässigt wurden.
Die Abhängigkeit dieser Schrift von den psychoanalytischen Erfahrungen,
die zu ihrer Abfassung angeregt haben, zeigt sich aber nicht nur in der
Auswahl, sondern auch in der Anordnung des Stoffes. Überall wird ein
gewisser Instanzenzug eingehalten, werden die akzidentellen Momente
vorangestellt, die dispositionellen im Hintergrunde gelassen und wird die
ontogenetische Entwicklung vor der phylogenetischen berücksichtigt. Das
Akzidentelle spielt nämlich die Hauptrolle in der Analyse, es wird durch
sie fast restlos bewältigt; das Dispositionelle kommt erst hinter ihm zum
Vorschein als etwas, was durch das Erleben geweckt wird, dessen Würdigung
aber weit über das Arbeitsgebiet der Psychoanalyse hinausführt.
Ein ähnliches Verhältnis beherrscht die Relation zwischen Onto- und
Phylogenese. Die Ontogenese kann als eine Wiederholung der Phylogenese
angesehen werden, soweit diese nicht durch ein rezenteres Erleben abge-
ändert wird. Die phylogenetische Anlage macht sich hinter dem onto-
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
genetischen Vorgang bemerkbar. Im Grunde aber ist die Disposition
eben der Niederschlag eines früheren Erlebens der Art, zu welchem das
neuere Erleben des Einzelwesens als Summe der akzidentellen Momente
hinzukommt.
Neben der durchgängigen Abhängigkeit von der psychoanalytischen
Forschung muß ich die vorsätzliche Unabhängigkeit von der biologischen
Forschung als Charakter dieser meiner Arbeit hervorheben. Ich habe es
sorgfällig vermieden, wissenschaftliche Erwartungen aus der allgemeinen
Sexualbiologie oder aus der spezieller Tierarten in das Studium einzutragen,
welches uns an der Sexualfunktion des Menschen durch die Technik der
Ps5'choanalyse ermöglicht wird. Mein Ziel war allerdings zu erkunden,
wieviel zur Biologie des menschlichen Sexuallebens mit den Mitteln der
psychologischen Erforschung zu erraten ist; ich durfte auf Anschlüsse und
Übereinstimmungen hinweisen, die sich bei dieser Untersuchung ergaben,
aber ich brauchte mich nicht beirren zu lassen, wenn die psycho-
analytische Methode in manchen wichtigen Punkten zu Ansichten und
Ergebnissen führte, die von den bloß biologisch gestützten erheblich
abwichen.
Ich habe in dieser dritten Auflage reichliche Einschaltungen vorge-
nommen, aber darauf verzichtet, dieselben wie in der vorigen Auflage
durch besondere Zeichen kenntlich zu machen. — Die wissenschaftliche
Arbeit auf unserem Gebiete hat gegenwärtig ihre Fortschritte verlangsamt,
doch waren gewisse Ergänzungen dieser Schrift unentbehrlich, wenn sie
mit der neueren psychoanalytischen Literatur in Fühlung bleiben sollte.
Wien, im Oktober 1914.
VORWORT ZUR VIERTEN AUFLAGE
Nachdem die Fluten der Kriegszeit sich verzogen haben, darf man mit
Befriedigung feststellen, daß das Interesse für die psychoanalytische
Forschung in der großen Welt ungeschädigt gebliehen ist. Doch haben
nicht alle Teile der Lehre das gleiche Schicksal erfahren. Die rein psycho-
logischen Aufstellungen und Ermittlungen der Psychoanalyse über das
Unbewußte, die Verdrängung, den Konflikt, der zur Krankheit führt, den
Krankheitsgewinn, die Mechanismen der Symptombildung u. a. erfreuen
sich wachsender Anerkennung und finden selbst bei prinzipiellen Gegnern
Beachtung. Das an die Biologie angrenzende Stück der Lehre, dessen
Grundlage in dieser kleinen Schrift gegeben wird, ruft noch immer unver-
minderten Widerspruch hervor und hat selbst Personen, die sich eine
Zeitlang intensiv mit der Psychoanalyse beschäftigt hatten, zum Abfall
von ihr und zu neuen Auffassungen bewogen, durch welche die Rolle
des sexuellen Moments für das normale und krankhafte Seelenleben wieder
eingeschränkt werden sollte.
Ich kann mich trotzdem nicht zur Annahme entschließen, daß dieser
Teil der psychoanalytischen Lehre sich von der zu erratenden Wirklichkeit
viel weiter entfernen könnte als der andere. Erinnerung und immer wieder
von neuem wiederholte Prüfung sagen mir, daß er aus ebenso sorgfältiger
und erwartungsloser Beobachtung hervorgegangen ist und die Erklärung
jener Dissoziation in der öffentlichen Anerkennung bereitet keine Schwieng-
keiten. Erstens können nur solche Forscher die hier beschriebenen Anfänge
des menschlichen Sexuallebens bestätigen, die Geduld und technisches
Geschick genug besitzen, um die Analyse bis in die ersten Kindheitsjahre
des Patienten vorzutragen. Es fehlt häufig auch an der Möglichkeit hiezu,
da das ärztliche Handeln eine scheinbar raschere Erledigung des Krankheits-
falles verlangt. Andere aber" als Ärzte, welche die Psychoanalyse üben,
haben überhaupt keinen Zugang zu diesem Gebiet und keine Möglichkeit,
sich ein Urteil zu bilden, das der Beeinflussung durch ihre eigenen
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Abneigungen und Vorurteile entzogen wäre. Verstünden es die Menschen.
aus der direkten Beobachtung der Kinder zu lernen, so hätten diese drei
Abhandlungen überhaupt ungeschrieben bleiben können.
Dann aber muß man sich daran erinnern, daß einiges vom Inhalt
dieser Schrift, die Betonung der Bedeutung des Sexuallebens für alle
menschlichen Leistungen und die hier versuchte Erweiterung des Begriffes
der Sexualität, von jeher die stärksten Motive für den Widerstand gegen
die Psychoanalyse abgegeben hat. In dem Bedürfnis nach volltönenden
Schlagworten ist man soweit gegangen, von dem „Pansexualismus" der
Psychoanalyse zu reden und ihr den unsinnigen Vorwurf zu machen, sie
erkläre „alles" aus der Sexualität. Man könnte sich darüber verwundern,
wenn man imstande wäre, an die verwirrende und vergeßlich machende
Wirkung affektiver Momente selbst zu vergessen. Denn der Philosoph
Arthur Schopenhauer hat bereits vor geraumer Zeit den Menschen
vorgehalten, in welchem Maß ihr Tun und Trachten durch sexuelle
Strebungen — im gewohnten Sinne des Wortes — bestimmt wird, und
eine Welt von Lesern sollte doch unfähig gewesen sein, sich eine so
packende Mahnung so völlig aus dem Sinne zu schlagen ! Was aber die
„Ausdehnung" des Begriffes der Sexualität betrifft, die durch die Analyse
von Kindern und von sogenannten Perversen notwendig wird, so mögen
alle, die von ihrem höheren Standpunkt verächtlich auf die Psychoanalyse
herabschauen, sich erinnern lassen, wie nahe die erweiterte Sexualität der
Psychoanalyse mit dem Eros des göttlichen Plato zusammentrifft. (S.
Nach man söhn, Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre
Piatos, Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse, III., 1915.)
Wien, im Mai ig20.
DIE SEXUELLEN ABIRRUNGEN 1
Die Tatsache geschlechtlicher Bedürfhisse bei Mensch und Tier
drückt man in der Biologie durch die Annahme eines „Geschlechts-
triebes" aus. Man folgt dabei der Analogie mit dem Trieb nach
Nahrungsaufnahme, dem Hunger. Eine dem Worte „Hunger"
entsprechende Bezeichnung fehlt der Volkssprache 5 die Wissenschaft
gebraucht als solche „Libido". 2
Die populäre Meinung macht sich ganz bestimmte Vorstellungen
von der Natur und den Eigenschaften dieses Geschlechtstriebes.
Er soll der Kindheit fehlen, sich um die Zeit und im Zusammen-
hang mit dem Reifungsvorgang der Pubertät einstellen, sich in
den Erscheinungen unwiderstehlicher Anziehung äußern, die das
eine Geschlecht auf das andere ausübt, und sein Ziel soll die
' geschlechtliche Vereinigung sein oder wenigstens solche Handlungen,
welche auf dem Wege zu dieser liegen.
Wir haben aber allen Grund, in diesen Angaben ein sehr
ungetreues Abbild der Wirklichkeit zu erblicken; faßt man sie
7~>
.1) Die in der' ersten Abhandlung enthaltenen Angaben sind aus den bekannten
Publikationen von t. Kr äfft- E bin g, Moll, Moebius, Havelock Ellis.
v. Schrenck-Notzing, Löwenfeld, Eulenburg, I. Bloch, M. Hirsch-
feld und aus den Arbeiten in den vom letzteren herausgegebenen „Jahrbuch für
sexuelle Zwischenstufen" geschöpft. Da an diesen Stellen auch die übrige Literatur
des Themas aufgeführt ist, habe ich mir detaillierte Nachweise ersparen können. —
Die durch psychoanalytische Untersuchung Invertierter gewonnenen Einsichten ruhen
auf Mitteilungen von I. S a d g e r und auf eigener Erfahrung.
2) Das einzig angemessene Wort der deutschen Sprache „Lust" ist leider vieldeutig
und benennt ebensowohl die Empfindung des Bedürfnisses als die der Befriedigung.
8
Drei Abhandlungen zur Se:rualtheori
le
schärfer ins Auge, so erweisen sie sich überreich an Irrtümern,
Ungenauigkeiten und Voreiligkeiten.
Führen wir zwei Termini ein : heißen wir die Person, von welcher
die geschlechtliche Anziehung ausgeht, das Sexualobjekt, die
Handlung, nach welcher der Trieb drängt, das Sexual ziel, so
weist uns die wissenschaftlich gesichtete Erfahrung zahlreiche
Abweichungen in Bezug auf beide, Sexualobjekt und Sexualziel,
nach, deren Verhältnis zur angenommenen Norm eingehende
Untersuchung fordert.
Verhalten der
Invertierten
1) Abweichungen in Bezug auf das Sexualobjekt
Der populären Theorie des Geschlechtstriebes entspricht am
schönsten die poetische Fabel von der Teilung des Menschen
in zwei Hälften — Mann und Weib — , die sich in der Liebe
wieder zu vereinigen streben. Es wirkt darum wie eine große
Überraschung zu hören, daß es Männer gibt, für che nicht das
' Weib, sondern der Mann, Weiber, für die nicht der Mann,
sondern das Weib das Sexualobjekt darstellt. Man heißt solche
Personen Konträrsexuale oder besser Invertierte, die Tatsache
die der Inversion. Die Zahl solcher Personen ist sehr
erheblich, wiewohl deren sichere Ermittlung Schwierigkeiten
unterliegt. 1
A) Die Inversion
Die betreffenden Personen verhalten sich nach verschiedenen
Richtungen ganz verschieden.
a) Sie sind absolut invertiert, das heißt ihr Sexualobjekt
kann nur gleichgeschlechtlich sein, während das gegensätzliche
Geschlecht für sie niemals Gegenstand der geschlechtlichen Sehnsucht
1) Vergleiche über diese Schwierigkeiten sowie über Versuche, die Verhältnis zahl
der Invertierten zu eruieren, die Arbeit von M. H i r s c h f e 1 d im „Jahrbuch für
sexuelle Zwischenstufen" 1904.
Die sexuellen Abirrungen
ist, sondern sie kühl läßt oder selbst sexuelle Abneigung bei ihnen
hervorruft. Als Männer sind sie dann durch Abneigung unfähig,
den normalen Geschlechtsakt auszuführen oder vermissen bei
dessen Ausführung jeden Genuß. -
b) Sie sind amphigen invertiert (psychosexuell-herma-
phroditisch), das heißt ihr Sexualobjekt kann ebensowohl dem
gleichen wie dem anderen Geschlecht angehören; der Inversion
fehlt also der Charakter der Ausschließlichkeit.
c) Sie sind okkasionell invertiert, das heißt unter gewissen
äußeren Bedingungen, von denen die Unzugänglichkeit des normalen
Sexualobjektes und die Nachahmung obenan stehen, können sie
eine Person des gleichen Geschlechtes zum Sexualobjekt nehmen
und im Sexualakt mit ihr Befriedigung empfinden.
Die Invertierten zeigen ferner ein mannigfaltiges Verhalten m
ihrem Urteil über die Besonderheit ihres Geschlechtstriebes. Die
einen nehmen die Inversion als selbstverständlich hin wie der
Normale die Richtung seiner Libido, und vertreten mit Schärfe
deren Gleichberechtigung mit der normalen. Andere aber lehnen
sich gegen die Tatsache ihrer Inversion auf und empfinden
dieselbe als krankhaften Zwang. 1
Weitere Variationen betreffen die zeitlichen Verhältnisse. Die
Eigentümlichkeit der Inversion datiert bei dem Individuum
entweder von jeher, soweit seine Erinnerung zurückreicht, oder
dieselbe hat sich ihm erst zu einer bestimmten Zeit vor oder
nach der Pubertät bemerkbar gemacht. 2 Der Charakter bleibt
entweder durchs ganze Leben erhalten oder tritt zeitweise zurück
oder stellt eine Episode auf dem Wege zur normalen Entwicklung
1) Ein solches Sträuben gegen den Zwang zur Inversion könnte die Bedingung
der Beeinflußbarkeit durch Suggestivbehandlung oder Psychoanalyse abgeben.
2) Es ist von mehreren Seiten mit Recht betont worden, daß die autobiographischen
Angaben der Invertierten über das zeitliche Auftreten der Inversionsneigung unzu-
verlässig sind, da dieselben die Beweise für ihr heterosexuelles Empfinden aus ilirem
Gedächtnis verdrängt haben könnten. — Die Psychoanalyse hat diesen Verdacht für die
ihr zugänglich gewordenen Fälle von Inversion bestätigt und deren Anamnese durch
die Ausfüllung der Kindheitsamnesie in entscheidender Weise verändert.
10
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
dar; ja er kann sich erst spät im Leben nach Ablauf einer
langen Periode normaler Sexualtätigkeit äußern. Auch ein periodisches
Schwanken zwischen dem normalen und dem invertierten Sexual-
objekt ist beobachtet worden. Besonders interessant sind Fälle, in
denen sich die Libido im Sinne der Inversion ändert, nachdem
eine peinliche Erfahrung mit dem normalen Sexualobjekt gemacht
worden ist.
Diese verschiedenen Reihen von Variationen bestehen im all-
gemeinen unabhängig nebeneinander. Von der extremsten Form
kann man etwa regelmäßig annehmen, daß die Inversion seit
sehr früher Zeit bestanden hat, und daß die Person sich mit
ihrer Eigentümlichkeit einig fühlt.
Viele Autoren würden sich weigern, die hier aufgezählten Fälle
zu einer Einheit zusammenzufassen, und ziehen es vor die
Unterschiede anstatt der Gemeinsamen dieser Gruppen zu betonen
was mit der von ihnen beliebten Beurteilung der . Inversion
zusammenhängt. Allein so berechtigt Sonderungen sein mögen,
so ist doch nicht zu verkennen, daß alle Zwischenstufen reichlich
aufzufinden sind, so daß die Reihenbildung sich gleichsam von
selbst aufdrängt.
Auffassung D le er s te Würdigung der Inversion bestand in der Auffassung,
sie sei ein angeborenes Zeichen nervöser Degeneration, und war
im Einklänge mit der Tatsache, daß die ärztlichen Beobachter
zuerst bei Nervenkranken oder Personen, die solchen Eindruck
machten, auf sie gestoßen waren. In dieser Charakteristik sind
zwei Angaben enthalten, die unabhängig voneinander beurteilt
werden sollen: das Angeborensein und die Degeneration.
Die Degeneration unterliegt den Einwänden, die sich gegen
die wahllose Verwendung des Wortes überhaupt erheben. Es
ist doch Sitte geworden, jede Art von Krankheitsäußerung, die
nicht gerade traumatischen oder infektiösen Ursprunges ist, der
Degeneration zuzurechnen. Die Magnansche Einteilung der
Degenerierten hat es selbst ermöglicht, daß die vorzüglichste
der
Inversion
egeucration
Die sexuellen Abirrungen 1 1
Allgemeingestaltung der Nervenleistung die Anwendbarkeit des
Begriffes Degeneration nicht auszuschließen braucht. Unter
solchen Umständen darf man fragen, welchen Nutzen und
welchen neuen Inhalt das Urteil „Degeneration" überhaupt
noch besitzt. Es scheint zweckmäßiger, von Degeneration nicht
zu sprechen :
1) wo nicht mehrere schwere Abweichungen von der Norm
zusammentreffen ;
2) wo nicht Leistungs- und Existenzfähigkeit im allgemeinen
schwer geschädigt erscheinen. 1
Daß die Invertierten nicht Degenerierte in diesem berechtigten
Sinne sind, geht aus mehreren Tatsachen hervor :
1) Man findet die Inversion bei Personen, die keine sonstigen
schweren Abweichungen von der Norm zeigen:
2) desgleichen bei Personen, deren Leistungsfähigkeit nicht
gestört ist, ja, die sich durch besonders hohe intellektuelle Ent-
wicklung und ethische Kultur auszeichnen. 2
5) Wenn man von den Patienten seiner ärztlichen Erfahrung
absieht und einen weiteren Gesichtskreis zu umfassen strebt, stößt
man nach zwei Richtungen auf Tatsachen, welche die Inversion
als Degenerationszeichen aufzufassen verbieten.
a) Man muß Wert darauf legen, daß die Inversion eine häufige
Erscheinung, fast eine mit wichtigen Funktionen betraute Institution
bei den alten Völkern auf der Höhe ihrer Kultur war;
&)'man findet sie ungemein verbreitet bei vielen wilden und
primitiven Völkern, während man den Begriff der Degeneration
1) Mit welchen Vorbehalten die Diagnose auf Degeneration zu stellen ist und
welch geringe praktische Bedeutung ihr zukommt, kann man aus den Ausführungen
von M o e b i u s (Über Entartung. Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Nr. III,
1900) entnehmen: „Überblickt man nun das weite Gebiet der Entartung, auf das
hier einige Schlaglichter geworfen worden sind, so sieht man olmeweiters ein. daß
es sehr geringen Wert hat. Entartung überhaupt zu diagnostizieren."
2) Es muß den Wortführern des ..Uranismus'- zugestanden werden, daß einige der
hervorragendsten Männer, von denen wir überhaupt Kunde haben. Invertierte, vielleicht
sogar absolut Invertierte waren.
12 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
sein
auf die hohe Zivilisation zu beschränken gewohnt ist (I. Bloch);
selbst unter den zivilisierten Völkern Europas haben Klima und
Rasse auf die Verbreitung und die Beurteilung der Inversion den
mächtigsten Einfluß. 1
angeboren- Das Angeborensein ist, wie begreiflich, nur für die erste,
extremste Klasse der Invertierten behauptet worden, und zwar
auf Grund der Versicherung dieser Personen, daß sich bei ihnen
zu keiner Zeit des Lebens eine andere Richtung des Sexualtriebes
gezeigt habe. Schon das Vorkommen der beiden anderen Klassen,
speziell der dritten, ist schwer mit der Auffassung eines angeborenen
Charakters zu vereinen. Daher die Neigung der Vertreter dieser
Ansicht, die Gruppe der absolut Invertierten von allen anderen
abzulösen, was den Verzicht auf eine allgemein gültige Auffassung
der Inversion zur Folge hat. Die Inversion wäre demnach in einer
Reihe von Fällen ein angeborener Charakter; in anderen könnte
sie auf andere Art entstanden sein.
Den Gegensatz zu dieser Auffassung bildet die andere, daß die
Inversion ein erworbener Charakter des Geschlechtstriebes sei.
Sie stützt sich darauf, daß
1 ) bei vielen (auch absolut) Invertierten ein frühzeitig im Leben
einwirkender sexueller Eindruck nachweisbar ist, als dessen fort-
dauernde Folge sich die homosexuelle Neigung darstellt,
2) daß bei vielen anderen sich die äußeren begünstigenden
und hemmenden Einflüsse des Lebens aufzeigen lassen, die zu
einer früheren oder späteren Zeit zur Fixierung der Inversion
geführt haben (ausschließlicher Verkehr mit dem gleichen
Geschlecht, Gemeinschaft im Kriege, Detention in Gefängnissen,
Gefahren des heterosexuellen Verkehrs, Zölibat, geschlechtliche
Schwäche usw.),
1) In der- Auffassung der Inversion sind die pathologischen Gesichtspunkte von
anthropologischen abgelöst worden. Diese Wandlung bleibt das Verdienst von I. Bloch
.Beitrüge zur Ätiologie der Psychopathia sexualis. 2 Teile, 1902/5), welcher Autor
auch die Tatsache der Inversion bei den alten Kulturvölkern nachdrücklich zur
Geltung gebracht hat.
Die sexuellen Abirrungen 13
5) daß die Inversion durch hypnotische Suggestion aufgehoben
werden kann, was bei einem angeborenen Charakter Wunder
nehmen würde.
Vom Standpunkt dieser Anschauung kann man die Sicherheit
des Vorkommens einer angeborenen Inversion überhaupt bestreiten.
Man kann einwenden (Havelock Rllis), daß ein genaueres
Examen der für angeborene Inversion in Anspruch genommenen
Fälle wahrscheinlich gleichfalls ein für die Richtung der Libido
bestimmendes Erlebnis der frühen Kindheit zutage fördern würde,
welches bloß im bewußten Gedächtnis der Person nicht bewahrt
worden ist, aber durch geeignete Beeinflussung zur Erinnerung
gebracht werden könnte. Die Inversion könnte man nach diesen
Autoren nur als eine häufige Variation des Geschlechtstriebes
bezeichnen, die durch eine Anzahl äußerer Lebensumstände bestimmt
werden kann.
Der scheinbar so gewonnenen Sicherheit macht aber die Gegen-
bemerkung ein Ende, daß nachweisbar viele Personen die nämlichen
sexuellen Beeinflussungen (auch in früher Jugend: Verführung,
mutuelle Onanie) erfahren, ohne durch sie invertiert zu werden
oder dauernd so zu bleiben. So wird man zur Vermutung
gedrängt, daß die Alternative angeboren — erworben entweder
unvollständig ist oder die bei der Inversion vorliegenden Verhält-
nisse nicht deckt.
Weder mit der Annahme, die Inversion sei angeboren, noch ™^* n der
mit der anderen, sie werde erworben, ist das Wesen der Inversion
erklärt. Im ersten Falle muß man sich äußern, was an ihr
angeboren ist, wenn man sich nicht der rohesten Erklärung
anschließt, daß eine Person die Verknüpfung des Sexualtriebes mit
einem bestimmten Sexualobjekt angeboren mitbringt. Im anderen
Falle fragt es sich, ob die mannigfachen akzidentellen Einflüsse hin-
reichen, die Erwerbung zu erklären, ohne daß ihnen etwas an dem
Individuum entgegenkommen müsse. Die Verneinung dieses letzten
Momentes ist nach unseren früheren Ausführungen unstatthaft.
2 4 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
era der ehUnS Zur Erklä 'ung der Möglichkeit einer sexuellen Inversion ist
Inversion seit Frank Lydstone, Kiernan und Chevalier eine
Gedankenreihe herangezogen worden, welche einen neuen Wider-
spruch gegen die populäre Meinung enthält. Dieser gilt ein
Mensch entweder als Mann oder als Weib. Die Wissenschaft
kennt aber Fälle, in denen die Geschlechtscharaktere verwischt
erscheinen und somit die Geschlechtsbestimmung erschwert wird;
zunächst auf anatomischem Gebiet. Die Genitalien dieser Personen
vereinigen männliche und weibliche Charaktere (Hermaphroditismus).
In seltenen Fällen sind nebeneinander beiderlei Geschlechtsapparate
ausgebildet (wahrer Hermaphroditismus); zu allermeist findet man
beiderseitige Verkümmerung. 1
Das Bedeutsame an diesen Abnormitäten ist aber, daß sie in
unerwarteter Weise das Verständnis der normalen Bildung erleichtern.
Ein gewisser Grad von anatomischem Hermaphroditismus gehört
nämlich der Norm an; bei keinem normal gebildeten männlichen
oder weiblichen Individuum werden die Spuren vom Apparat
des anderen Geschlechtes vermißt, die entweder funktionslos als
rudimentäre Organe fortbestehen oder selbst zur Übernahme
anderer Funktionen umgebildet worden sind.
Die Auffassung, die sich aus diesen lange bekannten ana-
tomischen Tatsachen ergibt, ist die einer ursprünglich bisexuellen
Veranlagung, die sich im Laufe der Entwicklung bis zur Mono-
sexualität mit geringen Resten des verkümmerten Geschlechtes
verändert.
Es lag nahe, diese Auffassung aufs psychische Gebiet zu
übertragen und die Inversion in ihren Abarten als Ausdruck eines
psychischen Hermaphroditismus zu verstehen. Um die Frage zu
entscheiden, bedurfte es nur noch eines regelmäßigen Zusammen-
1) Vergleiche die letzten ausführlichen Darstellungen des somatischen Herma-
phrodilismus: Taruffi, Hermaphroditismus und Zeugungsunfähigkeit, Deutsche
Ausgabe von R. T e u s c he r, 1905, und die Arbeiten von Neugebauerin mehreren
Bänden des Jahrbuches für sexuelle Zwischenstufen.
Die sexuellen Abirrungen 1 5
trefferis der Inversion mit den seelischen und somatischen Zeichen
des Hermaphroditismus.
Allein diese nächste Erwartung schlägt fehl. So nahe darf man
sich die Beziehungen zwischen dem angenommenen psychischen
und dem nachweisbaren anatomischen Zwitterturn nicht vorstellen.
Was man bei den Invertierten findet, ist häufig eine Herabsetzung
des Geschlechtstriebes überhaupt (Havelock Rllis) und leichte
anatomische Verkümmerung der Organe. Häufig, aber keineswegs
regelmäßig oder auch nur überwiegend. Somit muß man erkennen,
daß Inversion und somatischer Hermaphroditismus im ganzen
unabhängig voneinander sind.
Man hat ferner großen Wert auf die sogenannten sekundären
und tertiären Geschlechtscharaktere gelegt und deren gehäuftes
Vorkommen bei den Invertierten betont (H. Ellis). Auch daran
ist vieles zutreffend, aber man darf nicht vergessen, daß die
sekundären und tertiären Geschlechtscharaktere überhaupt recht
häufig beim anderen Geschlecht auftreten und so Andeutungen
von Zwittertum herstellen, ohne daß dabei das Sexualobjekt sich
im Sinne einer Inversion abgeändert zeigte.
Der psychische Hermaphroditismus würde an Leibhaftigkeit
gewinnen, wenn mit der Inversion des Sexualobjektes wenigstens
ein Umschlag der sonstigen seelischen Eigenschaften, Triebe und
Charakterzüge in die fürs andere Geschlecht bezeichnende
Abänderung parallel liefe. Allein eine solche Charakterinversion
darf man mit einiger Regelmäßigkeit nur bei den invertierten
Frauen erwarten, bei den Männern ist die vollste seelische Männ-
lichkeit mit der Inversion vereinbar. Hält man an der Aufstellung
eines seelischen Hermaphroditismus fest, so muß man hinzufügen,
daß dessen Äußerungen auf verschiedenen Gebieten eine nur
geringe gegenseitige Bedingtheit erkennen lassen. Das gleiche
gilt übrigens auch für das somatische Zwittertum ; nach H a 1 b a n 1 •
1) J. Halb an, Die Entstehung der Geschlechtscharaktere. Archiv für Gynäko-
logie. Bd. 70, 1905. Siehe dort auch die Literatur des Gegenstandes.
i6
Drei Abhandhingen zur .Sexualtheorie
sind auch die einzelnen Organ Verkümmerungen und sekundären
Geschlechtscharaktere in ihrem Auftreten ziemlich unabhängig
voneinander.
Die Bisexualitätslehre ist in ihrer rohesten Form von einem
Wortführer der männlichen Invertierten ausgesprochen worden:
weibliches Gehirn im männlichen Körper. Allein wir kennen
die Charaktere eines „weiblichen Gehirns" nicht. Der Ersatz
des psychologischen Problems durch das anatomische ist ebenso
müßig wie unberechtigt. Der Erklärungsversuch v. Krafft-
E b i n g s scheint exakter gefaßt als der Ulrichs', ist aber im
Wesen von ihm nicht verschieden 5 v. Krafft-Ebing meint,
daß die bisexuelle Anlage dem Individuum ebenso männliche und
weibliche Gehirnzentren mitgibt wie somatische Geschlechtsorgane.
Diese Zentren entwickeln sich erst zurzeit der Pubertät, zumeist
unter dem Einflüsse der von ihnen in der Anlage unabhängigen
Geschlechtsdrüse. Von den männlichen und weiblichen „Zentren"
gilt aber dasselbe wie vom männlichen und weiblichen Gehirn,
und nebenbei wissen wir nicht einmal, ob wir für die Geschlechts-
funktionen abgegrenzte Gehirnstellen („Zentren") wie etwa für
die Sprache annehmen dürfen. 1
Zwei Gedanken bleiben nach diesen Erörterungen immerhin
bestehen : daß auch für die Inversion eine bisexuelle Veranlagung
in Betracht kommt, nur daß wir nicht wissen, worin diese
Anlage über die anatomische Gestaltung hinaus besteht, und daß
es sich um Störungen handelt, welche den Geschlechtstrieb in
seiner Entwicklung betreffen.
1) Der erste, der zur Erklärung der Inversion die Bisexualität herangezogen, soll
(nach einem Literaturbericht im sechsten Band des Jahrbuches für sexuelle Zwischen-
stufen) E. G 1 e y gewesen sein, der einen Aufsatz (Les aberrations de l'instinct
sexuel) schon im Jänner 1884 in der „Revue philosophicrae" veröffentlichte. — Es ist
übrigens bemerkenswert, daß die Mehrzahl der Autoren, welche die Inversion auf
Bisexualität zurückführen, dieses- Moment nicht allein für die Invertierten, sondern
für alle Normalgewordenen zur Geltung bringen und folgerichtig die Inversion als
das Ergebnis einer Entwicklungsstörimg auffassen. So bereits Chevalier (Inversion
sexuelle, 1893). Krafft-Ebing (Zur Erklärung der konträren Sexualempfindung,
Jahrbücher für Psychiatrie und Neurologie, XIII. Bd.) spricht davon, daß eine Fülle
Die sexuellen Abirrungen *7
Die Theorie des psychischen Hermaphroditismus setzt voraus, s«wi«*jew
daß das Sexualobjekt des Invertierten das dem normalen entgegen- invertierten
gesetzte sei. Der invertierte Mann unterliege wie das Weib dem
Zauber, der von den männlichen Eigenschaften des Körpers und
der Seele ausgeht, er fühle sich selbst als Weib und suche den
Mann.
Aber wiewohl dies für eine ganze Reihe von Invertierten
zutrifft, so ist es doch weit entfernt, einen allgemeinen Charakter
der Inversion zu verraten. Es ist kein Zweifel, daß ein großer
Teil der männlichen Invertierten den psychischen Charakter der
Männlichkeit bewahrt hat, verhältnismäßig wenig sekundäre
Charaktere des anderen Geschlechtes an sich trägt und in seinem
Sexualobjekt eigentlich weibliche psychische Züge sucht. Wäre
dies anders, so bliebe es unverständlich, wozu die männliche
Prostitution, die sich den Invertierten anbietet, — heute wie im
Altertum, — in allen Äußerlichkeiten der Kleidung und Haltung
die Weiber kopiert; diese Nachahmung müßte ja sonst das Ideal
der Invertierten beleidigen. Bei den Griechen, wo die männlichsten
Männer unter den Invertierten erscheinen, ist es klar, daß nicht
der männliche Charakter des Knaben, sondern seine körperliche
Annäherung an das Weib sowie seine weiblichen seelischen
von Beobachtungen bestehen, „aus denen sich mindestens die virtuelle Fortexistenz
dieses zweiten Zentrums (des unterlegenen Geschlechtes) ergibt.« Ein Dr. Ar du in
(Die Frauenfrage und die sexuellen Zwischenstufen) stellt im zweiten Band des
Jahrbuches für sexuelle Zwischenstufen .1900 die Behauptung auf: „daß in jedem
Menschen männliche und weibliche Elemente vorhanden sind (vgl. dieses Jahrbuch,
Bd I, 1899: „Die objektive Diagnose der Homosexualität" von Dr. M. Hirsch-
feld S 8— qu. f.), nur — der Geschlechtszugehörigkeit entsprechend — die einen
unverhältnismäßig stärker entwickelt als die anderen, soweit es sich um heterosexuelle
Personen handelt..." — Für G. H e r m a n (Genesis, das Gesetz der Zeugung,
IX. Bd., Libido und Mania, 1905) steht es fest, „daß in jedem Weibe männliche, m
jedem Manne weibliche Keime und Eigenschaften enthalten sind" usw. — 1906 hat
dann W. F 1 i e ß („Der Ablauf des Lebens") einen Eigentumsanspruch auf die Idee
der Bisexualität (im Sinne einer Zweigeschlechtigkeit) erhoben. - In
nicht fachlichen Kreisen wird die Aufstellung der menschlichen Bisexualität als eine
Leistung des jung verstorbenen Philosophen O. Weinin ger betrachtet, der diese
Idee zur Grundlage eines ziemlich unbesonnenen Buches (Geschlecht und Charakter, 1905;
genommen hat. Die oben stehenden Nachweise mögen zeigen, wie wenig begründet
dieser Anspruch ist.
Freud, Sexualtheorie, 6. Auflage.
*8 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Eigenschaften, Schüchternheit, Zurückhaltung, Lern- und Hilfs-
bedürftigkeit die Liebe des Mannes entzündeten. Sobald der Knabe
ein Mann wurde, hörte er auf, ein Sexualobjekt für den Mann
zu sein, und wurde etwa selbst ein Knabenliebhaber. Das Sexual-
objekt ist also in diesem Falle, wie in vielen anderen, nicht das
gleiche Geschlecht, sondern die Vereinigung beider Geschlechts-
charaktere, das Kompromiß etwa zwischen einer Regung, die
nach dem Manne, und einer, die nach dem Weibe verlangt, mit
der festgehaltenen Bedingung der Männlichkeit des Körpers (der
Genitalien), sozusagen die Spiegelung der eigenen bisexuellen
Natur. 1
1) Die Psychoanalyse hat bisher zwar keine volle Aufklärung über die Herkunft
der Inversion gebracht, aber doch den psychischen Mechanismus ihrer Entstehung
aufgedeckt und die in Betracht kommenden Fragestellungen wesentlich bereichert
Wir haben bei allen untersuchten Fällen festgestellt, daß die später Invertierten in
den ersten Jahren .hrer Kindheit eine Phase von sehr intensiver, aber kurzlebiger
Fixierimg an das Weib (meist an die Mutter) durchmachen, nach deren Überwindung
sie sich mit dem Weib identifizieren und sich selbst zum Sexualobjekt nehmen das
heißt vom INarz.ßmus ausgehend jugendliche und der eigenen Person ähnliche Männer
aufsuchen, die sie so lieben wollen, wie die Mutter sie geliebt hat. Wir haben ferner
sehr häufig gefunden, daß angeblich Invertierte gegen den Reiz des Weibes
keineswegs unempfindlich waren, sondern die durch das Weib hervorgerufene
Erregung fortlaufend auf ein männliches Objekt transponierten. Sie wiederholten so
wahrend ihres ganzen Lebens den Mechanismus, durch welchen ihre Inversion
entstanden war. Ihr zwanghaftes Stieben nach dem Manne erwies sich als bedingt
durch ihre ruhelose Flucht vor dem Weibe.
Die psychoanalytische Forschung widersetzt sich mit aller Entschiedenheit dem
Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete Gruppe von den anderen
Menschen abzutrennen. Indem sie auch andere als die manifest kundgegebenen
SSSKraP 1 StU f "^ ^^ Sie ' daß alle Menschen der gleichgeschlechtlichen
Objektwahl fähig sind und dieselbe auch im Unbewußten vollzogen haben. Ja die
Bindungen libidinöser Gefühle an Personen des gleichen Geschlechtes spielen als
Faktoren im normalen Seelenleben keine geringere, und als Motoren der Erkrankung
eine größere Rolle als die, welche dem entgegengesetzten Geschlecht gelten. Der
Psychoanalyse erscheint vielmehr die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht
des Objektes, die gle.ch freie Verfügung über männliche und weibliche Objekte, wie
sie im Kindesalter, in primitiven Zuständen und frühhistorischen Zeiten zu beobachten
ist, als das Ursprüngliche, aus dem sich durch Einschränkung nach der einen oder
der anderen Seite der normale wie der Inversionstypus entwickeln. Im Sinne der
Psychoanalyse ist also auch das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das
Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit, der
"T T. G T de , chemis ^ Anziehung zu unterlegen ist. Die Entscheidung über das
endgültige Sexualverhalten fällt erst nach der Pubertät und ist das Ergebnis einer
noch nicht übersehbaren Reihe von Faktoren, die teils konstitutioneller, teils aber
Die sexuellen Abirrungen 1 9
Eindeutiger sind die Verhältnisse beim Weibe, wo die aktiv
Invertierten besonders häufig somatische und seelische Charaktere
des Mannes an sich tragen und das Weibliche von ihrem Sexual-
objekt verlangen, wiewohl auch hier sich bei näherer Kenntnis
größere Buntheit herausstellen dürfte.
Die wichtige festzuhaltende Tatsache ist, daß das Sexualziel ■— ££■
bei der Inversion keineswegs einheitlich genannt werden kann.
Bei Männern fällt Verkehr per anum durchaus nicht mit Inversion
zusammen; Masturbation ist ebenso häufig das ausschließliche
Ziel und Einschränkungen des Sexualzieles - bis zur bloßen
Gefühlsergießung — sind hier sogar häufiger als bei der hetero-
akzidenteUer Natur sind. Gewiß können einzelne dieser Faktoren so übergroß aus-
fallen, daß sie das Resultat in ihrem Sinne beeinflussen. Im allgemeinen aber ward
die Vielheit der bestimmenden Momente durch die Mannigfaltigkeit der Ausgange
im manifesten Sexualverhalten der Menschen gespiegelt. Bei den Inversionstypen ist
durchwegs das Vorherrschen archaischer Konstitutionen und primitiver psychischer
Mechanismen zu bestätigen. Die Geltung der narzißtischen 0-bjektwab
und die Festhaltung der erotischen Bedeutung der Analzone erscheinen als
deren wesentlichste Charaktere. Man gewinnt aber nichts, wenn man auf Grund
solcher konstitutioneller Eigenheiten die extremsten Inversionstypen von den anderen
sondert Was sich bei diesen als anscheinend zureichende Begründung findet, laßt
sich ebenso, nur in geringerer Stärke, in der Konstitution von Übergangstypen und
bei manifest Normalen nachweisen. Die Unterschiede in den Ergebnissen mögen
qualitativer Natur sein: die Analyse zeigt, daß die Unterschiede m den Bedingungen
nur quantitative sind. Unter den akzidentellen Beeinflussungen der Objektwahl haben
wir die Versagtmg (die frühzeitige Sexualeinschüchterung} bemerkenswert gefunden
und sind auch darauf aufmerksam geworden, daß das Vorhandensem beider Litern-
teile eine wichtige Rolle spielt. Der Wegfall eines starken Vaters in der Kmdhext
begünstigt nicht selten die Inversion. Man darf endlich die Forderung aufstellen, daß
die Inversion des Sexualobjektes von der Mischung der Geschlechtscharaktere im
Subjekt begrifflich strenge zu sondern ist. Ein gewisses Maß von Unabhängigkeit ist
auch in dieser Relation unverkennbar.
Eine Reihe bedeutsamer Gesichtspunkte zur Frage der Inversion hat Ferei.cn
in einem Aufsatz: Zur Nosologie der männlichen Homosexualität (Homoerotik)
(Intern. Zeitschr. f. PsA., II, 1914) vorgebracht. Ferenczi rügt mit Recht, daß
man unter dem Namen „Homosexualität", den er durch den besseren „Homoerotik
ersetzen will, eine Anzahl von sehr verschiedenen, in organischer wie m psychischer
Hinsicht ungleichwertigen, Zuständen zusammenwirft, weil sie das Symptom der
Inversion gemeinsam haben. Er fordert scharfe Unterscheidung wenigstens zwischen
den beiden Typen des S u b j e k th o m o e r o t i k er s, der sich als Weib fühlt und
benimmt, und des Objekthomoerotikers, der durchaus männlich ist und nur
das weibliche Objekt gegen ein gleichgeschlechtliches vertauscht hat. Den enteren
anerkennt er als richtige „sexuelle Zwischenstufe" im Sinne von Magnus Hirsch-
feld, den zweiten bezeichnet er — minder glücklich — als Zwangsneurotiker. Das
go Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
sexuellen Liebe. Auch bei Frauen sind die Sexualziele der
Invertierten mannigfaltig; darunter scheint die Berührung mit
der Mundschleimhaut bevorzugt.
fo^ng Wir sehen uns zwar außerstande, die Entstehung der Inversion
aus dem bisher vorliegenden Material befriedigend aufzuklären,
können aber merken, daß wir bei dieser Untersuchung zu einer
Einsicht gelangt sind, die uns bedeutsamer werden kann als die
Lösung der obigen Aufgabe. Wir werden aufmerksam gemacht,
daß wir uns die Verknüpfung des Sexualtriebes mit dem Sexual-
objekt als eine zu innige vorgestellt haben. Die Erfahrung an
den für abnorm gehaltenen Fällen lehrt uns, daß hier zwischen
Sexualtrieb und Sexualobjekt eine Verlötung vorliegt, die wir bei
Sträuben gegen -die Inversionsneigung sowie die Möglichkeit psychischer Beeinflussung
kämen nur beim Objekthomoerotiker in Betracht. Auch nach Anerkennung dieser
beiden Typen darf man hinzufügen, daß bei vielen Personen ein Maß von Subjekt-
homoerotik mit einem Anteil von Obj ekthomoerotik vermengt gefunden wird.
In den letzten Jahren haben Arbeiten von Biologen, in erster Linie die von
Eugen S t e i n a c h, ein helles Licht auf die organischen Bedingungen der Homo-
erotik sowie der Geschlechtscharaktere überhaupt geworfen.
Durch das experimentelle Verfahrender Kastration mit nachfolgender Einpflanzung
von Keimdrüsen des anderen Geschlechtes gelang es, bei verschiedenen Säugetierarten
Männchen in Weibchen zu verwandeln und umgekehrt. Die Verwandlung betraf
mehr oder minder vollständig die somatischen Geschlechtscharaktere und das°psycho-
sexuelle Verhalten (also Subjekt- und Objekterotik). Als Träger dieser geschlechts-
bestimmenden Kraft wird nicht der Anteil der Keimdrüse betrachtet, welcher die
Geschlechtszellen bildet, sondern das sogenannte interstitielle Gewebe des Or&anes
(die „Pubertätsdrüse").
In einem Falle gelang die geschlechtliche Umstimmung auch bei einem Manne,
der seine Hoden durch tuberkulöse Erkrankung eingebüßt hatte. Er hatte sich im
Geschlechtsleben als passiver Homosexueller weiblich benommen und zeigte sehr
deutlich ausgeprägte weibliche Geschlechtscharaktere sekundärer Art (in Behaarung,
Bartwuchs, Fettansatz an Mammae und Hüften). Nach der Einpflanzung eines
kryptorchen Menschenhodens begann dieser Mann sich in männlicher Weise zu
benehmen und seine Libido in normaler Weise aufs Weib zu richten. Gleichzeitig
schwanden die somatischen femininen Charaktere. (A. Lipschütz, Die Pubertäts-
drüse und ihre Wirkungen, Bern, 1919.)
Es wäre ungerechtfertigt zu behaupten, daß durch diese schönen Versuche die
Lehre von der Inversion auf eine neue Basis gesteUt Wird und voreilig von ihnen
geradezu einen Weg zur allgemeinen „Heilung« der Homosexualität zu erwarten.
W. Fließ hat mit Recht betont, daß diese experimentellen Erfahrungen die Lehre
von der allgemeinen bisexuellen Anlage der höheren Tiere nicht entwerten. Es
erscheint mir vielmehr wahrscheinlich, daß sich aus weiteren solchen Untersuchungen
eine direkte Bestätigung der angenommenen Bisexualität ergeben wird.
Die sexuellen Abirrungen 21
der Gleichförmigkeit der normalen Gestaltung, wo der Trieb das
Objekt mitzubringen scheint, in Gefahr sind zu übersehen. Wir
werden so angewiesen, die Verknüpfung zwischen Trieb und
Objekt in unseren Gedanken zu lockern. Der Geschlechtstrieb ist
wahrscheinlich zunächst unabhängig von seinem Objekt und ver-
dankt wohl auch nicht den Reizen desselben seine Entstehung.
B) Geschlechtsunreife und Tiere als Sexualobjekte
Während die Personen, deren Sexualobjekte nicht dem normaler-
weise dazu geeigneten Geschlechte angehören, die Invertierten
also, dem Beobachter als eine gesammelte Anzahl von sonst viel-
leicht vollwertigen Individuen entgegentreten, erscheinen die
Fälle, in denen geschlechtsunreife Personen (Kinder) zu Sexual-
objekten erkoren werden, von vornherein als vereinzelte Ver-
irruno-en. Nur ausnahmsweise sind Kinder die ausschließlichen
Sexualobjekte ; zumeist gelangen sie zu dieser Rolle, wenn ein
feige und impotent gewordenes Individuum sich zu solchem
Surrogat versteht oder ein impulsiver (unaufschiebbarer) Trieb sich
zurzeit keines geeigneteren Objektes bemächtigen kann. Immer-
hin wirft es ein Licht auf die Natur des Geschlechtstriebes, daß
er so viel Variation und solche Herabsetzung seines Objektes
zuläßt, was der Hunger, der sein Objekt weit energischer festhält,
nur im äußersten Falle gestatten würde. Eine ähnliche Bemerkung
gilt für den besonders unter dem Landvolke gar nicht seltenen
sexuellen Verkehr mit Tieren, wobei sich etwa die Geschlechts-
anziehung über die Artschranke hinwegsetzt.
Aus ästhetischen Gründen möchte man gern diese wie andere
schwere Verirrungen des Geschlechtstriebes den Geisteskranken
zuweisen, aber dies geht nicht an. Die Erfahrung lehrt, daß man
bei diesen letzteren keine anderen Störungen des Geschlechtstriebes
beobachtet als bei Gesunden, ganzen Rassen und Ständen. So
findet sich sexueller Mißbrauch von Kindern mit unheimlicher
22
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Häufigkeit bei Lehrern und Wartepersonen, bloß weil sich diesen
die beste Gelegenheit dazu bietet. Die Geisteskranken zeigen die
betreffende Verirrung nur etwa gesteigert oder, was besonders
bedeutsam ist, zur Ausschließlichkeit erhoben und an Stelle der
normalen Sexualbefriedigung gerückt.
Dieses sehr merkwürdige Verhältnis der sexuellen Variationen
zur Stufenleiter von der Gesundheit bis zur Geistesstörung gibt
zu denken. Ich würde meinen, die zu erklärende Tatsache wäre
ein Hinweis darauf, daß die Regungen des Geschlechtslebens zu
jenen gehören, die auch normalerweise von den höheren Seelen-
tätigkeiten am schlechtesten beherrscht werden. Wer in sonst
irgendeiner Beziehung geistig abnorm ist, in sozialer, ethischer
Hinsicht, der ist es nach meiner Erfahrung regelmäßig in seinem
Sexualleben. Aber viele sind abnorm im Sexualleben, die in allen
anderen Punkten dem Durchschnitt entsprechen, die menschliche
Kulturentwicklung, deren schwacher Punkt die Sexualität bleibt,
in ihrer Person mitgemacht haben.
Als allgemeinstes Ergebnis dieser Erörterungen würden wir
aber die Einsicht herausgreifen, daß unter einer großen Anzahl
von Bedingungen und bei überraschend viel Individuen die Art
und der Wert des Sexualobjektes in den Hintergrund treten.
Etwas anderes ist am Sexualtrieb das Wesentliche und Konstante. 1
2) Abweichungen in Bezug auf das Sexualziel
Als normales Sexualziel gilt die Vereinigung der Genitalien
m dem als Begattung bezeichneten Akte, der zur Lösung der
sexuellen Spannung und zum zeitweiligen Erlöschen des Sexual-
1) Der eingreifendste Unterschied zwischen dem Liebesleben der Alten Welt und
dem unsrigen liegt wohl darin, daß die Antike den Akzent auf den Trieb selbst, wir
aber auf dessen Objekt verlegen. Die Alten feierten den Trieb und waren bereit,
auch ein minderwertiges Objekt durch ihn zu adeln, während wir die Triebbetätigimg
an sich geringschätzen und sie nur durch die Vorzüge des Objekts entschuldigen
lassen.
Die sexuellen Abirrungen 23
triebes führt (Befriedigung analog der Sättigung beim Hunger).
Doch sind bereits am normalsten Sexualvorgang jene Ansätze
kenntlich, deren Ausbildung zu den Abirrungen führt, die man als
Perversionen beschrieben hat. Es werden nämlich gewisse
intermediäre (auf dem Wege zur Begattung liegende) Beziehungen
zum Sexualobjekt, wie das Betasten und Beschauen desselben, als
vorläufige Sexualziele anerkannt. Diese Betätigungen sind einer-
seits selbst mit Lust verbunden, andererseits steigern sie die
Erregung, welche bis zur Erreichung des endgültigen Sexual-
zieles andauern soll. Eine bestimmte dieser Berührungen, die der
beiderseitigen Lippenschleimhaut, hat ferner als Kuß bei vielen
Völkern (die höchstzivilisierten darunter) einen hohen sexuellen
Wert erhalten, obwohl die dabei in Betracht kommenden Körper-
teile nicht dem Geschlechtsapparat angehören, sondern den Ein-
gang zum Verdauungskanal bilden. Hiemit sind also Momente
gegeben, welche die Perversionen an das normale Sexualleben
anknüpfen lassen und auch zur Einteilung derselben verwendbar
sind. Die Perversionen sind entweder a) anatomische Über-
schreitungen der für die geschlechtliche Vereinigung be-
stimmten Körpergebiete oder b) Verweilungen bei den inter-
mediären Relationen zum Sexualobjekt, die normalerweise auf
dem Wege zum endgültigen Sexualziel rasch durchschritten werden
sollen.
a) Anatornische Überschreitungen
Die psychische Wertschätzung, deren das Sexualobjekt als ü J^ s *^™ 8
Wunschziel des Sexualtriebes teilhaftig wird, beschränkt sich in Objektes
den seltensten Fällen auf dessen Genitalien, sondern greift auf den
ganzen Körper desselben über und hat die Tendenz, alle vom
Sexualobjekt ausgehenden Sensationen mit einzubeziehen. Die
gleiche Überschätzung strahlt auf das psychische Gebiet aus und
zeigt sich als logische Verblendung (Urteilsschwäche) angesichts
der seelischen Leistungen und Vollkommenheiten des Sexual-
2 4 Drei Abhandlungen zur Sexualtheori,
le
pen-Mund-
ileimhaut
Objektes sowie als gläubige Gefügigkeit gegen die von letzterem
ausgehenden Urteile. Die Gläubigkeit der Liebe wird so zu einer
wichtigen, wenn nicht zur uranfänglichen Quelle der Autorität. 1
Diese Sexualüberschätzung ist es nun, welche sich mit der
Einschränkung des Sexualzieles auf die Vereinigung der eigent-
lichen Genitalien so schlecht verträgt und Vornahmen an anderen
Körperteilen zu Sexualzielen erheben hilft. 2
Die Bedeutung des Moments der Sexualüberschätzung läßt sich
am ehesten beim Manne studieren, dessen Liebesleben allein der
Erforschung zugänglich geworden ist, während das des Weibes zum
Teil infolge der Kulturverkümmerung, zum anderen Teil durch
die konventionelle Verschwiegenheit und Unaufrichtigkeit der
Frauen in ein noch undurchdringliches Dunkel gehüllt ist. 3
»"dun/dj; Die Verwendung des Mundes als Sexualorgan gilt als Perversion,
wenn die Lippen (Zunge) der einen Person mit den Genitalien
der anderen in. Berührung gebracht werden, nicht aber, wenn
beider Teile Lippenschleimhäute einander berühren. In letzterer
Ausnahme Hegt die Anknüpfung ans Normale. Wer die anderen
wohl seit den Urzeiten der Menschheit gebräuchlichen Praktiken
als Perversionen verabscheut, der gibt dabei einem deutlichen
Ekelgefühl nach, welches ihn vor der Annahme eines solchen
i) Ich kann mir nicht versagen, hiebei an die gläubige Gefügigkeit der Hypno-
tisierten gegen ihren Hynotiseur zu erinnern, welche mich vermuten läßt, daß da.
wesen der Hypnose in die unbewußte Fixierung der Libido auf die Person des
Hypnotiseurs (vermittels der masochistischen Komponente des Sexualtriebes) zu ver-
egen ist. - S. F e r e n c z i hat diesen Charakter der Suggerierbarkeit mit dem „Eltern-
komplex verknüpft. (Jahrbuch für psychoanalyt. und psychopathol. Forschungen I, 1909.)
2) bs ist indes zu bemerken, daß die Sexualüberschätzimg nicht bei allen
Mechanismen der Objektwahl ausgebildet wird und daß wir späterhin eine andere
und direktere Erklärung für die sexuelle Rolle der anderen Körperteile kennen lernen
werden. Das Moment des „Reizhungers«, das von Ho che und I.Bloch zur
Erklärung des Ubergreifens von sexuellem Interesse auf andere Körperteile als die
Genitalien herangezogen wird, scheint mir diese Bedeutung nicht zu verdienen. Die
verschiedenen Wege, auf denen die Libido wandelt, verhalten sich zueinander von
Anfang an wie kommunizierende Röhren, und man muß dem Phänomen der
KollateralstrÖmung Rechnung tragen.
3) Das Weib läßt in typischen Fällen eine „Sexualüberschätzung" des Mannes
vermissen, versäumt dieselbe aber fast niemals gegen das von ihr geborene Kind.
Die sexuellen Abirrungen 25
Sexualzieles schützt. Die Grenze dieses Ekels ist aber häufig rein
konventionell; wer etwa mit Inbrunst die Lippen eines schönen
Mädchens küßt, wird vielleicht das Zahnbürstchen desselben
nur mit Ekel gebrauchen können, wenngleich kein Grund zur
Annahme vorliegt, daß seine eigene Mundhöhle, vor der ihm nicht
ekelt, reinlicher sei als die des Mädchens. Man wird hier auf
das Moment des Ekels aufmerksam, welches der libidinösen Über-
schätzung des Sexualobjekts in den Weg tritt, seinerseits aber
durch die Libido überwunden werden kann. In dem Ekel möchte
man eine der Mächte erblicken, welche die Einschränkung des
Sexualzieles zustande gebracht haben. In der Regel machen diese
vor den Genitalien selbst Halt. Es ist aber kein Zweifel, daß
auch die Genitalien des anderen Geschlechts an und für sich
Gegenstand des Ekels sein können, und daß dieses Verhalten zur
Charakteristik aller Hysterischen (zumal der weiblichen) gehört.
Die Stärke des Sexualtriebes liebt es, sich in der Überwindung
dieses Ekels zu betätigen. (S. u.)
Klarer noch als im früheren Falle erkennt man bei der Inan- sexuelle v«-
wendung uer
spruchnahme des Afters, daß es der Ekel ist, welcher dieses Afteraffnung
Sexualziel zur Perversion stempelt. Man lege mir aber die
Bemerkung nicht als Parteinahme aus, daß die Begründung dieses
Ekels, diese Körperpartie diene der Exkretion und komme mit
dem Ekelh'aften an sich — den Exkrementen — in Berührung,
nicht viel stichhältiger ist als etwa die Begründung, • welche
hysterische Mädchen für ihren Ekel vor dem männlichen Genitale
abgeben: es diene der Harnentleerung.
Die sexuelle Rolle der Afterschleimhaut ist keineswegs auf ■jjjgjj»
den Verkehr zwischen Männern beschränkt, ihre Bevorzugung Körperstellen
hat nichts für das invertierte Fühlen Charakteristisches. Es scheint
im Gegenteil, daß die Pädikatio des Mannes ihre Rolle der Analogie
mit dem Akt beim Weibe verdankt, während gegenseitige
Masturbation das Sexualziel ist, welches sich beim Verkehr
Invertierter am ehesten ergibt.
26 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Das sexuelle Übergreifen auf andere Körperstellen bietet in all
seinen Variationen nichts prinzipiell Neues, fügt nichts zur Kenntnis
des Sexualtriebes hinzu, der hierin nur seine Absicht verkündet,
sich des Sexualobjekts nach allen Richtungen zu bemächtigen.
Neben der Sexualüberschätzung meldet sich aber bei den
anatomischen Überschreitungen ein zweites, der populären Kenntnis
fremdartiges Moment. Gewisse Körperstellen, wie die Mund-
und Afterschleimhaut, die immer wieder in diesen Praktiken
auftreten, erheben gleichsam den Anspruch, selbst als Genitalien
betrachtet und behandelt zu werden. Wir werden hören, wie
dieser Anspruch durch die Entwicklung des Sexualtriebes gerecht-
fertigt und wie er in der Symptomatologie gewisser Krankheits-
zustände erfüllt wird.
ungeeigneter Einen ganz besonderen Eindruck ergeben jene Fälle, in denen
Ersatz des D
sexual- das normale Sexualobjekt ersetzt wird durch ein anderes, das zu
Fetischismus inm in Beziehung steht, dabei aber völlig ungeeignet ist, dem
normalen Sexualziel zu dienen. Wir hätten nach den Gesichts-
punkten der Einteilung wohl besser getan, diese höchst interessante
Gruppe von Abirrungen des Sexualtriebes schon bei den Abweichungen
in Bezug auf das Sexualobjekt zu erwähnen, verschoben es aber,
bis wir das Moment der Sexualüberschätzung kennen
gelernt hatten, von welchem diese Erscheinungen abhängen, mit
denen ein Aufgeben des Sexualzieles verbunden ist.
Der Ersatz für das Sexualobjekt ist ein im allgemeinen für
sexuelle Zwecke sehr wenig geeigneter Körperteil (Fuß, Haar)
oder ein unbelebtes Objekt, welches in nachweisbarer Relation
mit der Sexualperson, am besten mit der Sexualität derselben,
steht. (Stücke der Kleidung, weiße Wäsche.) - Dieser Ersatz wird
nicht mit Unrecht mit dem Fetisch verglichen, in dem der Wilde
seinen Gott verkörpert sieht.
Den Übergang zu den Fällen von Fetischismus mit Verzicht
auf ein normales oder perverses Sexualziel bilden Fälle, in denen
eine fetischistische Bedingung am Sexualobjekt erfordert wird,
Die sexuellen Abirrungen
wenn das Sexualziel erreicht werden soll. (Bestimmte Haarfarbe,
Kleidung, selbst Körperfehler.) Keine andere ans Pathologische
streifende Variation des Sexualtriebes hat so viel Anspruch auf
unser Interesse wie diese durch die Sonderbarkeit der durch sie
veranlaßten Erscheinungen. Eine gewisse Herabsetzung des Strebens
nach dem normalen Sexualziel scheint für alle Fälle Voraussetzung
- (exekutive Schwäche des Sexualapparates). 1 Die Anknüpfung ans
Normale wird durch die psychologisch notwendige Überschätzung
des Sexualobjektes vermittelt, welche unvermeidlich auf alles mit
demselben assoziativ Verbundene übergreift. Ein gewisser Grad
von solchem Fetischismus ist daher dem normalen Lieben regel-
mäßig eigen, besonders in jenen Stadien der Verliebtheit, in
welchen das normale Sexualziel unerreichbar oder dessen Erfüllung
aufgehoben erscheint.
„Schaff' mir ein Halstuch von ihrer Brust,
Ein Strumpfband meiner Liebeslust \ u (Faust)
Der pathologische Fall tritt erst ein, wenn sich das Streben
nach dem Fetisch über solche Bedingung hinaus fixiert und sich
an die Stelle des normalen Zieles setzt, ferner wenn sich der
Fetisch von der bestimmten Person loslöst, zum alleinigen Sexual-
objekt wird. Es sind dies die allgemeinen Bedingungen für das
Übergehen bloßer Variationen des Geschlechtstriebes in pathologische
Verirrungen.
In der Auswahl des Fetisch zeigt sich, wie Bin et zuerst
behauptet hat und dann später durch zahlreiche Belege erwiesen
worden ist, der fortwirkende Einfluß eines zumeist in früher
Kindheit empfangenen sexuellen Eindruckes, was man der sprich-
wörtlichen Haftfähigkeit einer ersten Liebe beim Normalen („on
revient toujours ä ses premiers amours") an die Seite stellen darf.
1) Diese Schwäche entspräche der konstitutionellen Voraussetzung. Die Psycho-
analyse hat als akzidentelle Bedingung die frühzeitige Sexualeinschüchterung nach-
gewiesen, welche vom normalen Sexualziel abdrängt und zum Ersatz desselben anregt.
28 Drev Abhandlungen zur Sexualtheorie
Eine solche Ableitung ist besonders deutlich bei Fällen mit bloß
fetischistischer Bedingtheit des Sexualobjektes. Der Bedeutung
frühzeitiger sexueller Eindrücke werden wir noch an anderer
Stelle begegnen. 1
In anderen Fällen ist es eine dem Betroffenen meist nicht
bewußte symbolische Gedankenverbindung, welche zum Ersatz
des Objektes durch den Fetisch geführt hat. Die Wege dieser
Verbindungen sind nicht immer mit Sicherheit nachzuweisen
(der Fuß ist ein uraltes sexuelles Symbol, schon im Mythus, 2
„Pelz" verdankt seine Fetischrolle wohl der Assoziation mit
der Behaarung des Mons veneris) ; doch scheint auch solche
Symbolik nicht immer unabhängig von sexuellen Erlebnissen der
Kinderzeit. 5
1) Tiefer eindringende psychoanalytische Untersuchung hat zu einer berechtigten
Kritik der Bin et sehen Behauptung geführt. Alle hieher gehörigen Beobachtungen
haben ein erstes Zusammentreffen mit dem Fetisch zum Inhalt, in welchem sich
dieser bereits im Besitz des sexuellen Interesses zeigt, ohne daß man aus den
Begleitumständen verstehen könnte, wie er zu diesem Besitz gekommen ist. Auch
fallen alle diese „frühzeitigen" Sexualeindrücke in die Zeit nach dem fünften, sechsten
Jahr, während die Psychoanalyse daran zweifeln läßt, ob sich pathologische Fixierungen
so spät neubilden können. Der wirkliche Sachverhalt ist der, daß hinter der ersten
Erinnerung an das Auftreten des Fetisch eine untergegangene und vergessene Phase
der Sexualentwicklung liegt, die durch den Fetisch wie durch eine.„Deckeriimerung"
vertreten wird, deren Rest und Niederschlag der Fetisch also darstellt. Die Wendung
dieser in die ersten Kindheitsjahre fallenden Phase zum Fetischismus sowie die Aus-
wahl des Fetisch selbst sind konstitutionell determiniert.
2) Dementsprechend der Schuh oder Pantoffel Symbol des weiblichen Genitales.
3) Die Psychoanalyse hat eine der noch vorhandenen Lücken im Verständnis des
Fetischismus ausgefüllt, indem sie auf die Bedeutimg einer durch Verdrängung
verloren gegangenen koprophilen R i e c h 1 u s t für die Auswahl des Fetisch hinwies.
Fuß und Haar sind stark riechende Objekte, die nach dem Verzicht auf die unlustig
gewordene Geruchsempfindung zu Fetischen erhoben werden. In der dem Fuß-
fetischismus entsprechenden Perversion ist demgemäß nur der schmutzige und übel-
riechende Fuß das Sexualobjekt. Ein anderer Beitrag zur Aufklärung der fetischistischen
Bevorzugimg des Fußes ergibt sich aus den infantilen Sexualtheorien. (S. u.) Der Fuß
ersetzt den schwer vermißten Penis des Weibes. — In manchen Fällen von Fuß-
fetischismus ließ sich zeigen, daß der ursprünglich auf das Genitale gerichtete
Seh au trieb, der seinem Objekt von unten her nahe kommen wollte, durch Verbot
und Verdrängung auf dem Wege aufgehalten wurde, und darum Fuß oder Schuh
als Fetisch festhielt. Das weibliche Genitale wurde dabei, der infantilen Erwartung
entsprechend, als ein männliches vorgestellt.
Die sexuellen Abirrungen 29
b) Fixierungen von vorläufigen Sexualzielen
Alle äußeren und inneren Bedingungen, welche das Erreichen *■««■*««
o o ' neuer
des normalen Sexualzieles erschweren oder in die Ferne rücken Absichten
(Impotenz, Kostbarkeit des Sexualobjektes, Gefahren des Sexual-
aktes.), unterstützen wie begreiflich die Neigung, bei den vor-
bereitenden Akten zu verweilen und neue Sexualziele aus ihnen
zu gestalten, die an die Stelle des normalen treten können. Bei
näherer Prüfung zeigt sich stets, daß die anscheinend fremdartigsten
dieser neuen Absichten doch bereits beim normalen Sexualvorgang
angedeutet sind.
Ein gewisses Maß von Tasten ist wenigstens für den Menschen **££^?
zur Erreichung des normalen Sexualzieles unerläßlich. Auch ist
es allgemein bekannt, welche Lustquelle einerseits, welcher Zufluß
neuer Erregung andererseits durch die Berührungsempfindungen
von der Haut des Sexualobjektes gewonnen wird. Somit kann das
Verweilen beim Betasten, falls der Sexualakt überhaupt nur weiter
geht, kaum zu den Perversionen gezählt werden.
Ähnlich ist es mit dem in letzter Linie vom Tasten abgeleiteten
Sehen. Der optische Eindruck bleibt der Weg, auf dem die
libidinöse Erregung am häufigsten geweckt wird, und auf dessen
Gangbarkeit — wenn diese teleologische Betrachtungsweise zulässig
ist — die Zuchtwahl rechnet, indem , sie das Sexualobjekt sich
zur Schönheit entwickeln läßt. Die mit der Kultur fortschreitende
Verhüllung des Körpers hält die sexuelle Neugierde wach, welche
danach strebt, sich das Sexualobjekt durch Enthüllung der ver-
borgenen Teile zu ergänzen, die aber ins Künstlerische abgelenkt
(„süblimiert") werden kann, wenn man ihr Interesse von den
Genitalien weg auf die Körperbildung im ganzen zu lenken
vermag. 1 Ein Verweilen bei diesem intermediären Sexualziel des
1) Es scheint mir unzweifelhaft, daß der Begriff des „Schönen" auf dem Boden
der Sexualerregung wurzelt und ursprünglich das sexuell Reizende („die Reize")
bedeutet. Es steht im Zusammenhange damit, daß wir die Genitalien selbst, deren Anblick
die stärkste sexuelle Erregimg hervorruft, eigentlich niemals „schön" finden können.
3° Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
•adismusund
klasochismus
sexuell betonten Schauens kommt in gewissem Grade den meisten
Normalen zu, ja es gibt ihnen die Möglichkeit, einen gewissen
Betrag ihrer Libido auf höhere künstlerische Ziele zu richten. Zur
Perversion wird die Schaulust im Gegenteil, a) wenn sie sich
ausschließlich auf die Genitalien einschränkt, b) wenn sie sich
mit der Überwindung des Ekels verbindet (Voyeurs: Zuschauer
bei den Exkretionsfunktionen), c) wenn sie das normale Sexualziel
anstatt es vorzubereiten, verdrängt. Letzteres ist in ausgeprägter
Weise bei den Exhibitionisten der Fall, die, wenn ich nach
mehreren Analysen schließen darf, ihre Genitalien zeigen, um als
Gegenleistung die Genitalien des anderen Teiles zu Gesicht zu
bekommen. 1
Bei der Perversion, deren Streben das Schauen und Beschaut-
werden ist, tritt ein, sehr merkwürdiger Charakter hervor, der
uns bei der nächstfolgenden Abirrung noch intensiver beschäftigen
wird. Das Sexualziel ist hiebei nämlich in zweifacher Ausbildung
vorhanden, in aktiver und in passiver Form.
Die Macht, welche der Schaulust entgegensteht und even-
tuell durch sie aufgehoben wird, ist die Scham (wie vorhin
der Ekel).
Die Neigung, dem Sexualobjekt Schmerz zuzufügen und ihr
Gegenstück, diese häufigste und bedeutsamste aller Perversionen,
ist in ihren beiden Gestaltungen, der aktiven und der passiven,
von v. Krafft-Ebing als Sadismus und Masochismus
(passiv) benannt worden. Andere Autoren ziehen die engere
Bezeichnung Algolagnie vor, welche die Lust am Schmerz, die
Grausamkeit, betont, während bei den Namen, die v. Krafft-
Ebing gewählt hat, die Lust an jeder Art von Demütigung und
Unterwerfung in den Vordergrund gestellt wird.
1) Der Analyse enthüllt diese Perversion — sowie die meisten anderen — eine
unerwartete Vielfältigkeit ihrer Motive und Bedeutungen. Der Exhibitionszwang zum
Beispiel ist auch stark anhängig vom Kastrationskomplex; er betont immer wieder
die Integrität des eigenen (männliche^ Genitales und wiederholt die infantile Befrie-
digung über das Fehlen des Gliedes im weiblichen.
Die sexuellen Abirrungen 31
Für die aktive Algolagnie, den Sadismus, sind die Wurzeln im
Normalen leicht nachzuweisen. Die Sexualität der meisten Männer
zeigt eine Beimengung von Aggression, von Neigung zur
Überwältigung, deren biologische Bedeutung in der Notwendigkeit
liegen dürfte, den Widerstand des Sexualobjektes noch anders als
durch die Akte der Werbung zu überwinden. Der Sadismus
entspräche dann einer selbständig gewordenen, übertriebenen, durch
Verschiebung an die Hauptstelle gerückten aggressiven Komponente
des Sexualtriebes.
Der Begriff des Sadismus schwankt im Sprachgebrauch von
einer bloß aktiven, sodann gewalttätigen, Einstellung gegen das
Sexualobjekt bis zur ausschließlichen Bindung der Befriedigung an
die Unterwerfung und Mißhandlung desselben. Strenge genommen
hat nur der letztere extreme Fall Anspruch auf den Namen einer
Perversion.
In ähnlicher 'Weise umfaßt die Bezeichnung Masochismus alle
passiven Einstellungen zum Sexualleben und Sexualobjekt, als
deren äußerste die Bindung der Befriedigung an das Erleiden
von physischem oder seelischem Schmerz von Seiten des Sexual-
objektes erscheint. Der Masochismus als Perversion scheint sich
vom normalen Sexualziel weiter zu entfernen als sein Gegenstück ;
es darf zunächst bezweifelt werden, ob er jemals primär auftritt oder
nicht vielmehr regelmäßig durch Umbildung aus dem Sadismus ent-
steht.' Häufig läßt sich erkennen, daß der Masochismus nichts anderes
ist als eine Fortsetzung des Sadismus in W r endung gegen die
eigene Person, welche dabei zunächst die Stelle des Sexualobjekts
1) Spätere Überlegungen, die sich auf bestimmte Annahmen über die Struktur
des seelischen Apparates und über die in ihm wirksamen Triebarten stützen konnten,
haben mein Urteil über den Masochismus weitgehend verändert. Ich wurde dazu
geführt, einen primären — erogenen — Masochismus anzuerkennen, aus dem
sich zwei spätere Formen, der feminine und der moralische Masochismus
entwickeln. Durch Rückwendung des im Leben unverbrauchten Sadismus gegen die
eigene Person entsteht ein sekundärer Masochismus, der sich zum primären
hinzuaddiert. (S. „Das ökonomische Problem des Masochismus" Internat. Zeitschrift
für Psychoanalyse X, 1924 [Gesamtausgabe Bd. V]).
32 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
vertritt. Die klinische Analyse extremer Fälle von masochistischer
Perversion führt auf das Zusammenwirken einer großen Reihe
von Momenten, welche die ursprüngliche passive Sexualeinstellung
übertreiben und fixieren. (Kastrationskomplex, Schuldbewußtsein.)
Der Schmerz, der hiebei überwunden wird, reiht sich dem
Ekel und der Scham an, die sich der Libido als Widerstände
entgegengestellt hatten.
Sadismus und Masochismus nehmen unter den Perversionen
eine besondere Stellung ein, da der ihnen zugrunde liegende
Gegensatz von Aktivität und Passivität zu den allgemeinen
Charakteren des Sexuallebens gehört.
Daß Grausamkeit und Sexualtrieb innigst zusammengehören,
lehrt die Kulturgeschichte der Menschheit über jeden Zweifel,
aber in der Aufklärung dieses Zusammenhanges ist man über
die Betonung des aggressiven Moments der Libido nicht hinaus-
gekommen. Nach einigen Autoren ist diese dem Sexualtrieb
beigemengte Aggression eigentlich ein Rest kannibalischer Gelüste,
also eine Mitbeteiligung des Bemächtigungsapparates, welcher der
Befriedigung des anderen, ontogenetisch älteren, großen Bedürf-
nisses dient. 1 Es ist auch behauptet worden, daß jeder Schmerz
an und für sich die Möglichkeit einer Lustempfindung enthalte.
Wir wollen uns mit dem Eindruck begnügen, daß die Aufklärung
dieser Perversion keineswegs befriedigend gegeben ist, und daß
möglicherweise hiebei mehrere seelische Strebungen sich zu einem
Effekt vereinigen. 2
Die auffälligste Eigentümlichkeit dieser Perversion liegt aber
darin, daß ihre aktive und ihre passive Form regelmäßig bei der
nämlichen Person mitsammen angetroffen werden. Wer Lust
daran empfindet, anderen Schmerz in sexueller Relation zu
i) Vgl. hiezii die spätere Mitteilung über die prägenitalen Phasen der Sexual-
entwicklung, in welcher diese Ansicht bestätigt wird.
2) Aus der zuletzt zitierten Untersuchimg leitet sich für das Gegensatzpaar
Sadismus — Masochismus eine auf den Triebursprung begründete Sonderstellung ab,
durch welche es aus der Reihe -der anderen „Perversionen" herausgehoben wird.
Die sexuellen Abirrungen 53
erzeugen, der ist auch befähigt, den Schmerz als Lust zu
genießen, der ihm aus sexuellen Beziehungen erwachsen kann.
Ein Sadist ist immer auch gleichzeitig ein Masochist, wenngleich
die aktive oder die passive Seite der Perversion bei ihm stärker
ausgebildet sein und seine vorwiegend sexuelle Betätigung dar-
stellen kann. 1
Wir sehen so gewisse der Perversionsneigungen regelmäßig als
Gegensatzpaare auftreten, was mit Hinblick auf später
beizubringendes Material eine hohe theoretische Bedeutung
beanspruchen darf. 2 Es ist ferner einleuchtend, daß die Existenz
des Gegensatzpaares Sadismus — Masochismus aus der Aggressions- .
beimengung nicht ohne weiters ableitbar ist. Dagegen wäre man
versucht, solche gleichzeitig vorhandene Gegensätze mit dem in
der Bisexualität vereinten Gegensatz von männlich und weiblich
in Beziehung zu setzen, für welchen in der Psychoanalyse häufig
der von aktiv und passiv einzusetzen ist.
5) Allgemeines über alle Perversionen
Die Ärzte, welche die Perversionen zuerst an ausgeprägten Variation und
Beispielen und unter besonderen Bedingungen studiert haben,
sind natürlich geneigt gewesen, ihnen den Charakter eines Krankheits-
oder Degenerationszeichens zuzusprechen, ganz ähnlich wie bei
der Inversion. Indes ist es hier leichter als dort, diese Auf-
fassung abzulehnen. Die alltägliche Erfahrung hat gezeigt, daß
die meisten dieser Überschreitungen, wenigstens die minder argen
unter ihnen, einen selten fehlenden Bestandteil des Sexuallebens
der Gesunden bilden und von ihnen wie andere Intimitäten
auch beurteilt werden. "Wo die Verhältnisse es begünstigen, kann
i) Anstatt vieler Belege für diese Behauptung zitiere ich nur die eine Stelle aus
Havelock Ellis (Das Geschlechtsgefühl, 1905): „Alle bekannten Fälle von
Sadismus und Masochismus, selbst die von v. Krafft-Ebing zitierten, zeigen
beständig (wie schon Colin, S c tt undFere nachgewiesen! Spuren beider Gruppen
von Erscheinungen an ein und demselben Individuum."
2) Vgl. die spätere Erwähnung der „Ambivalenz".
Freud, Sexualtheorie, 6. Auflage. 5
/
54 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
auch der Normale eine solche Perversion eine ganze Zeitlang
an die Stelle des normalen Sexualzieles setzen oder ihr einen
Platz neben diesem einräumen. Bei keinem Gesunden dürfte
irgendein pervers zu nennender Zusatz zum normalen Sexualziel
fehlen und diese Allgemeinheit genügt für sich allein, um die
Unzweckmäßigkeit einer vorwurfsvollen Verwendung des Namens
Perversion darzutun. Gerade auf dem Gebiete des Sexuallebens
stößt man auf besondere, eigentlich derzeit unlösbare Schwierig-
keiten, wenn man eine scharfe Grenze zwischen bloßer Variation
innerhalb der physiologischen Breite und krankhaften Symptomen
ziehen will.
Bei manchen dieser Perversionen ist immerhin die Qualität
des neuen Sexualzieles eine solche, daß sie nach besonderer
Würdigung verlangt. Gewisse der Perversionen entfernen sich
inhaltlich so weit vom Normalen, daß wir nicht umhin können,
sie für „krankhaft" zu erklären, insbesondere jene, in denen der
Sexualtrieb in der Überwindung der Widerstände (Scham, Ekel,
Grauen, Schmerz) erstaunliche Leistungen vollführt (Kotlecken,
Leichenmißbrauch). Doch darf man auch in diesen Fällen sich
nicht der sicheren Erwartung hingeben, in den Tätern regelmäßig
Personen mit andersartigen schweren Abnormitäten oder Geistes-
kranke zu entdecken. Man kommt auch hier nicht über die
Tatsache hinaus, daß Personen, die sich sonst normal verhalten,
auf dem Gebiete des Sexuallebens allein, unter der Herrschaft
des ungezügeltsten aller Triebe, sich als Kranke dokumentieren.
Manifeste Abnormität in anderen Lebensrelationen pflegt hingegen
jedesmal einen Hintergrund von abnormem sexuellen Verhalten
zu zeigen.
In der Mehrzahl der Fälle können wir den Charakter des
Krankhaften bei der Perversion nicht im Inhalt des neuen Sexual-
zieles, sondern in dessen Verhältnis zum Normalen finden. Wenn
die Perversion nicht neben dem Normalen (Sexualziel und
Objekt) auftritt, wo günstige Umstände dieselbe fördern und
Die sexuellen Abirrungen 35
ungünstige das Normale verhindern, sondern wenn sie das Normale
unter allen Umständen verdrängt und ersetzt hat; — in der Aus-
schließlichkeit und in der Fixierung also der Perversion
sehen wir zu allermeist die Berechtigung, sie als ein krankhaftes
Symptom zu beurteilen.
Vielleicht gerade bei den abscheulichsten Perversionen muß D g* t ^f 1 ^
man die ausgiebigste psychische Beteiligung zur Umwandlung bei den
. Ti Perversionen
des Sexualtriebes anerkennen. Es ist hier ein Stück seelischer
Arbeit geleistet, dem man trotz seines greulichen Erfolges den
Wert einer Idealisierung des Triebes nicht absprechen kann. Die
Allgewalt der Liebe zeigt sich vielleicht nirgends stärker als in
diesen ihren Verirrungen. Das Höchste und das Niedrigste hängen
in der Sexualität überall am innigsten aneinander („vom Himmel
durch die Welt zur Hölle")-
Bei dem Studium der Perversionen hat sich uns die Einsicht z * e |
Ergebnisse
ergeben, daß der Sexualtrieb gegen gewisse seelische Mächte als
Widerstände anzukämpfen hat, unter denen Scham und Ekel am
deutlichsten hervorgetreten sind. Es ist die Vermutung gestattet,
daß diese Mächte daran beteiligt sind, den Trieb innerhalb der
als normal geltenden Schranken zu bannen, und wenn sie sich
im Individuum früher entwickelt haben, ehe der Sexualtrieb
seine volle Stärke erlangte, so waren sie es wohl, die ihm die
Richtung seiner Entwicklung angewiesen haben. 1
Wir haben ferner die Bemerkung gemacht, daß einige der
untersuchten Perversionen nur durch das Zusammentreten von
mehreren Motiven verständlich werden. Wenn sie eine Analyse
— Zersetzung — zulassen, müssen sie zusammengesetzter Natur
sein. Hieraus können wir einen Wink entnehmen, daß vielleicht
1) Man muß diese die Sexualentwicklung eindämmenden Mächte — Ekel, Scham
und Moralität — andererseits auch als historische Niederschläge der äußeren
Hemmungen ansehen, welche der Sexualtrieb in der Psychogenese der Menschheit
erfahren hat. Man macht die Beobachtung, daß sie in der Entwicklung des Einzelnen
zu ihrer Zeit wie spontan auf die Winke der Erziehung und Beeinflussung hin
auftreten.
36 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
der Sexualtrieb selbst nichts Einfaches, sondern aus Komponenten
zusammengesetzt ist, die sich in den Per Versionen wieder von
ihm ablösen. Die Klinik hätte uns so auf Verschmelzungen
aufmerksam gemacht, die in dem gleichförmigen normalen Verhalten
ihren Ausdruck eingebüßt haben. 1
4) Der Sexualtrieb bei den NeurotLkern
Die Psycho- Einen wichtigen Beitrag zur Kenntnis des Sexualtriebes bei
analyse ° °
Personen, die den Normalen mindestens nahe stehen, gewinnt
man aus einer Quelle, die nur auf einem bestimmten Wege
zugänglich ist. Es gibt nur ein Mittel, über das Geschlechtsleben
der sogenannten Psychoneurotiker (Hysterie, Zwangsneurose,
fälschlich sogenannte Neurasthenie, sicherlich auch Dementia
praecox, Paranoia) gründliche und nicht irre leitende Aufschlüsse
zu erhalten, nämlich wenn man sie der psychoanalytischen
Erforschung unterwirft, deren sich das von J. Breuer und
mir 1895 eingesetzte, damals „kathartisch" genannte Heilverfahren
bedient.
Ich muß vorausschicken, respektive aus anderen Veröffent-
lichungen wiederholen, daß diese Psych oneurosen, soweit meine
Erfahrungen reichen, auf sexuellen Triebkräften beruhen. Ich
meine dies nicht etwa so, daß die Energie des Sexualtriebes
einen Beitrag zu den Kräften liefert, welche die krankhaften
Erscheinungen (Symptome) unterhalten, sondern ich will aus-
drücklich behaupten, daß dieser Anteil der einzig konstante und
die wichtigste Energiequelle der Neurose ist, so daß das Sexual-
leben der betreffenden Personen sich entweder ausschließlich oder
1) Ich bemerke vorgreifend über die Entstehung der Perversionen, daß man
Grund bat anzunehmen, es sei vor der Fixierung derselben, ganz ähnlich wie beim
Fetischismus, ein Ansatz normaler Sexualentwicklung vorhanden gewesen. Die
analytische Untersuchung hat bisher in einzelnen Fällen zeigen können, daß auch
die Perversion der Rückstand einer Entwicklung zum Ödipuskomplex ist, nach dessen
Verdrängung die der Anlage nach stärkste Komponente des Sexualtriebes wieder
hervorgetreten ist.
Die sexuellen Abirrungen 37
vorwiegend oder nur teilweise in diesen Symptomen äußert. Die
Symptome sind, wie ich es an anderer Stelle ausgedrückt habe,
die Sexualbetätigung der Kranken. Den Beweis für diese
Behauptung hat mir eine seit fünfundzwanzig Jahren sich
mehrende Anzahl von Psychoanalysen hysterischer und anderer
Nervöser geliefert, über deren Ergebnisse im einzelnen ich an
anderen Orten ausführliche Rechenschaft gegeben habe und noch
weiter geben werde. 1
Die Psychoanalyse beseitigt die Symptome Hysterischer unter
der Voraussetzung, daß dieselben der Ersatz — die Transkription
gleichsam — für eine Reihe von affektbesetzten seelischen
Vorgängen, Wünschen und Strebungen, sind, denen durch einen
besonderen psychischen Prozeß (die Verdrängung) der Zugang
zur Erledigung durch bewußtseinsfähige psychische Tätigkeit
versagt worden ist. Diese also im Zustande des Unbewußten
zurückgehaltenen Gedankenbildungen streben nach einem ihrem
Affektwert gemäßen Ausdruck, einer Abfuhr, und finden eine
solche bei der Hysterie durch den Vorgang der Kon version
in somatischen Phänomenen — eben den hysterischen Symptomen.
Bei der kunstgerechten, mit Hilfe einer besonderen Technik
durchgeführten Rückverwandlung der Symptome in nun bewußt
gewordene, affektbesetzte Vorstellungen ist man also imstande,
über die Natur und die Abkunft dieser früher unbewußten
psychischen Bildungen das Genaueste zu erfahren.
Es ist auf diese Weise in Erfahrung gebracht worden, daß die Jf^X
Symptome einen Ersatz für Strebungen darstellen, die ihre Kraft «„aiyse
der Quelle des Sexualtriebes entnehmen. Im vollen Einklänge
damit steht, was wir über den Charakter der hier zum Muster
für alle Psychoneurotiker genommenen Hysteriker vor ihrer
i) Es ist nur eine Vervollständigimg und nicht eine Verringerung dieser Aussage,
wenn ich sie dahin abändere : Die nervösen Symptome beruhen einerseits auf dem
Anspruch der libidinösen Triebe, andererseits auf dem Einspruch des Ichs, der
Reaktion gegen dieselben.
-
5 8 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Erkrankung und über die Anlässe zur Erkrankung wissen. Der
hysterische Charakter läßt ein Stück Sexualverdrängung
erkennen, welches über das normale Maß hinausgeht, eine
Steigerung der Widerstände gegen den Sexualtrieb, die uns als
Scham, Ekel und Moral bekannt geworden sind, eine wie instinktive
Flucht vor der intellektuellen Beschäftigung mit dem Sexual-
problem, welche in ausgeprägten Fällen den Erfolg hat, die volle
sexuelle Unwissenheit noch bis in die Jahre der erlangten
Geschlechtsreife zu bewahren. 1
Dieser für die Hysterie wesentliche Charakterzug wird für die
grobe Beobachtung nicht selten durch das Vorhandensein des
zweiten konstitutionellen Faktors der Hysterie, durch die über-
mächtige Ausbildung des Sexualtriebes verdeckt, allein die
psychologische Analyse weiß ihn jedesmal aufzudecken und die
widerspruchsvolle Rätselhaftigkeit der Hysterie durch die Fest-
stellung des Gegensatzpaares von übergroßem sexuellen Bedürfnis
und zu weit getriebener Sexualablehnung zu lösen.
Der Anlaß zur Erkrankung ergibt sich für die hysterisch
disponierte Person, wenn infolge der fortschreitenden eigenen
. Reifung oder äußerer Lebensverhältnisse die reale Sexualforderung
ernsthaft an sie herantritt. Zwischen dem Drängen des Triebes
und dem Widerstreben der Sexualablehnung stellt sich dann der
Ausweg der Krankheit her, der den Konflikt nicht löst, sondern
ihm durch die Verwandlung der libidinösen Strebungen in
Symptome zu entgehen sucht. Es ist nur eine scheinbare
Ausnahme, wenn eine hysterische Person, ein Mann etwa, an
einer banalen Gemütsbewegung, an einem Konflikt, in dessen
Mittelpunkt nicht das sexuelle Interesse steht, erkrankt. Die
Psychoanalyse kann dann regelmäßig nachweisen, daß es die
sexuelle Komponente des Konflikts ist, welche die Erkrankung
1) Studien über Hysterie. 1895. [Bd. I der Gesamtausgabe.] J. Breuer sagt von
seiner Patientin, an der er die kathartische Methode zuerst geübt hat: „Das sexuale
Moment war erstaunlich unentwickelt."
Die sexuellen Abirrungen 59
Neurose und
ermöglicht hat, indem sie die seelischen Vorgänge der normalen
Erledigung entzog.
„,-r. ,1 v \ ,,f Neurose und
Ein guter Teil des Widerspruches gegen diese meine Auf- Perversion
Stellungen erklärt sich wohl daraus, daß man die Sexualität, von
welcher ich die psychon eurotischen Symptome ableite, mit dem
normalen Sexualtrieb zusammenfallen ließ. Allein die Psycho-
analyse lehrt noch mehr. Sie zeigt, daß die Symptome keineswegs
allein auf Kosten des sogenannten normalen Sexualtriebes entstehen
(wenigstens nicht ausschließlich oder vorwiegend), sondern den
konvertierten Ausdruck von Trieben darstellen, welche man als
perverse (im weitesten Sinne) bezeichnen würde, wenn sie
sich ohne Ablenkung vom Bewußtsein direkt in Phantasievorsätzen
und Taten äußern könnten. Die Symptome bilden sich also zum
Teil auf Kosten abnormer Sexualität; die Neurose ist
sozusagen das Negativ der Perversion. 1
Der Sexualtrieb der Psychoneurotiker läßt alle die Abirrungen
erkennen, die wir als Variationen des normalen und als Äußerungen
des krankhaften Sexuallebens studiert haben.
a) Bei allen Neurotikern (ohne Ausnahme) finden sich im
unbewußten Seelenleben Regungen von Inversion, Fixierung von
Libido auf Personen des gleichen Geschlechts. Ohne tief ein-
dringende Erörterung ist es nicht möglich, die Bedeutung dieses
Moments für die Gestaltung des Krankheitsbildes entsprechend
zu würdigen; ich kann nur versichern, daß die unbewußte
Inversionsneigung niemals fehlt und insbesondere zur Aufklärung
der männlichen Hysterie die größten Dienste leistet. 2
i) Die klar bewußten Phantasien .der Perversen, die unter günstigen Umständen
in Veranstaltungen umgesetzt werden, die in feindlichem Sinne auf andere projizierten
Wahnbefürchtungen der Paranoiker und die imbewußten Phantasien der Hysteriker,
die man durch Psychoanalyse hinter ihren Symptomen aufdeckt, fallen inhaltlich bis
in einzelne Details zusammen.
2) Psychoneurose vergesellschaftet sich auch sehr oft mit manifester Inversion,
wobei die heterosexuelle Strömung der vollen Unterdrückung zum Opfer gefallen
ist. — Ich lasse nur' einer mir zuteil gewordenen Anregimg Recht widerfahren, wenn
ich mitteile, daß erst private Äußerungen von W. Fließ in Berlin mich auf die
notwendige Allgemeinheit der Inversionsneigung bei den Psychoneurotikern aufmerksam
4° Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
b) Es sind bei den Psychoneurotikern alle Neigungen zu den
anatomischen Überschreitungen im Unbewußten und als Symptom-
bildner nachweisbar, unter ihnen mit besonderer Häufigkeit und
Intensität diejenigen, welche für Mund- und Afterschleimhaut
die Rolle von Genitalien in Anspruch nehmen.
c) Eine ganz hervorragende Rolle unter den Symptombildnern
der Psychoneurosen spielen die zumeist in Gegensatzpaaren
auftretenden Partialtriebe, die wir als Bringer neuer Sexualziele
kennen gelernt haben, der Trieb der Schaulust und der
Exhibition und der aktiv und passiv ausgebildete Trieb zur
Grausamkeit. Der Beitrag des letzteren ist zum Verständnis der
Leidensnatur der Symptome unentbehrlich und beherrscht fast
regelmäßig ein Stück des sozialen Verhaltens der Kranken. Vermittels
dieser Grausamkeitsverknüpfung der Libido geht auch die
Verwandlung von Liebe in Haß, von zärtlichen in feindselige
Regungen vor sich, die für eine, große Reihe von neurotischen
Fällen, ja, wie es scheint, für die Paranoia im ganzen charak-
teristisch ist.
Das Interesse an diesen Ergebnissen wird noch durch einige
Besonderheiten des Tatbestandes erhöht.
a) "Wo ein solcher Trieb im Unbewußten aufgefunden wird,
welcher der Paarung mit einem Gegensatze fähig ist, da läßt
sich regelmäßig auch dieser letztere als wirksam nachweisen.
Jede „aktive" Perversion wird also hier von ihrem passiven
Widerpart begleitet; wer im Unbewußten Exhibitionist ist, der
ist auch gleichzeitig Voyeur, wer an den Folgen der Verdrängung
sadistischer Regungen leidet, bei dem findet sich ein anderer
Zuzug zu den Symptomen aus den Quellen masochistischer
Neigung. Die volle Übereinstimmung mit dem Verhalten der
entsprechenden „positiven" Perversionen ist gewiß sehr beachtens-
gemacht haben, nachdem ich diese in einzelnen Fällen aufgedeckt hatte. — Diese
nicht genug gewürdigte Tatsache müßte alle Theorien der Homosexualität entscheidend
beeinflussen.
Die sexuellen Abirrungen 41
wert. Im Krankheitsbilde spielt aber die eine oder die andere der
gegensätzlichen Neigungen die überwiegende Rolle,,.
ö) In einem ausgeprägteren Falle von Psychoneurose findet
man nur selten einen einzigen dieser perversen Triebe entwickelt,
meist eine größere Anzahl derselben und in der Regel Spuren
von allen ; der einzelne Trieb ist aber in seiner Intensität
unabhängig von der Ausbildung der anderen. Auch dazu ergibt
uns das Studium der positiven Perversionen das genaue Gegen-
stück.
5) Partialtriebe und erogene Zonen
Halten wir zusammen, was wir aus der Untersuchung der
positiven und der negativen Perversionen erfahren haben, so liegt
es nahe, dieselben auf eine Reihe von „Partialtrieben" zurück-
zuführen, die aber nichts Primäres sind, sondern eine weitere
Zerlegung zulassen. Unter einem „Trieb" können wir zunächst
nichts anderes verstehen als die psychische Repräsentanz einer
kontinuierlich fließenden, innersomatischen Reizquelle, zum Unter-
schiede vom „Reiz", der durch vereinzelte und von außen
kommende Erregungen hergestellt wird. Trieb ist so einer der
Begriffe der Abgrenzung des Seelischen vom Körperlichen. Die
einfachste und nächstliegende Annahme über die Natur der
Triebe wäre, daß sie an sich' keine Qualität besitzen, sondern
nur als Maße von Arbeitsanforderung für das Seelenleben in
Betracht kommen. Was die Triebe voneinander unterscheidet
und mit spezifischen Eigenschaften ausstattet, ist deren Beziehung
zu ihren somatischen Quellen und ihren Zielen. Die Quelle
des Triebes ist ein erregender Vorgang in einem Organ und
das nächste Ziel des Triebes liegt in der Aufhebung dieses
Organreizes. 1
1) Die Trieblehre ist das bedeutsamste, aber auch das unfertigste Stück der
psychoanalytischen Theorie. In meinen späteren Arbeiten („Jenseits des Lustprinzips".
1921, „Das Ich und das Es«, 1923 [Bd. VI der Gesamtausgabe]) habe ich weitere
Beiträge zur Trieblehre entwickelt.
4 2 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Eine weitere vorläufige Annahme in der Trieblehre, welcher
wir uns nicht entziehen können, besagt, daß von den Körper-
organen Erregungen von zweierlei Art geliefert werden, die in
Differenzen chemischer Natur begründet sind. Die eine dieser
Arten von Erregung bezeichnen wir als die spezifisch sexuelle
und das betreffende Organ als die „erogene Zone" des von
ihm ausgehenden sexuellen Partialtriebes. 1
Bei den Perversionsneigungen, die für Mundhöhle und After-
eröffnung sexuelle Bedeutung in Anspruch nehmen, ist die Rolle
der erogenen Zone ohneweiters ersichtlich. Dieselbe benimmt
sich in jeder Hinsicht wie ein Stück des Geschlechtsapparates.
Bei der Hysterie werden diese Körperstellen und die von ihnen
ausgehenden Schleimhauttrakte in ganz ähnlicher Weise der Sitz
von neuen Sensationen und Innervationsänderungen — ja von
Vorgängen, die man der Erektion vergleichen kann — wie die
eigentlichen Genitalien unter den Erregungen der normalen
Geschlechtsvorgänge.
Die Bedeutung der erogenen Zonen als Nebenapparate und
Surrogate der Genitalien tritt unter den Psychoneurosen bei der
Hysterie am deutlichsten hervor, womit aber nicht behauptet
werden soll, daß sie für die anderen Erkrankungsformen geringer
einzuschätzen ist. Sie ist hier nur unkenntlicher, weil sich
bei diesen (Zwangsneurose, Paranoia) die Symptombildung in
Regionen des seelischen Apparates vollzieht, die weiter
ab von den einzelnen Zentralstellen für die Körperbeherr-
schung liegen. Bei der Zwangsneurose ist die Bedeutung
der Impulse, welche neue Sexualziele schaffen und von ero-
genen Zonen unabhängig erscheinen, das Auffälligere. Doch
entspricht bei der Schau- und Exhibitionslust das Auge einer
1) Es ist nicht leicht, diese Annahmen, die aus dem Studium einer bestimmten
Klasse von neurotischen Erkrankungen geschöpft sind, hier zu rechtfertigen. Anderer-
seits wird es aber unmöglich, etwas Stichhältiges über die Triebe auszusagen, wenn
man sich die Erwähnung dieser Voraussetzungen erspart.
Die sexuellen Abirrungen 45
erogenen Zone, bei der Schmerz- und Grausamkeitskomponente
des Sexualtriebes ist es die Haut, welche die gleiche Rolle über-
nimmt, die Haut, die sich an besonderen Körperstellen zu Sinnes-
organen differenziert und zur Schleimhaut modifiziert hat, also
die erogene Zone xax' s^o/^v. 1
6) Erklärung des scheinbaren Überwiegens perverser
Sexualität bei den Psychoneurosen
Durch die vorstehenden Erörterungen ist die Sexualität der
Psychoneurotiker in ein möglicherweise falsches Licht gerückt
worden. Es hat den Anschein bekommen, als näherten sich die
Psychoneurotiker in ihrem sexuellen Verhalten der Anlage nach
sehr den Perversen und entfernten sich dafür um ebensoviel von
den Normalen. Nun ist sehr wohl möglich, daß die konstitutionelle
Disposition dieser Kranken außer einem übergroßen Maß von
Sexualverdrängung und einer übermächtigen Stärke des Sexual-
triebes eine ungewöhnliche Neigung zur Perversion im weitesten
Sinne mitenthält, allein die Untersuchung leichterer Fälle zeigt,
daß letztere Annahme nicht unbedingt erforderlich ist, oder daß
zum mindesten bei der Beurteilung der krankhaften Effekte die
Wirkung eines Faktors in Abzug gebracht werden muß. Bei den
meisten Psychoneurotikern tritt die Erkrankung erst nach der
Pubertätszeit auf unter der Anforderung des normalen Sexual-
lebens. Gegen dieses richtet sich vor allem die Verdrängung. Oder
spätere Erkrankungen stellen sich her, indem der Libido auf
normalem Wege die Befriedigung versagt wird. In beiden Fällen
verhält sich die Libido wie ein Strom, dessen Hauptbett verlegt
wird; sie füllt die kollateralen Wege aus, die bisher vielleicht
i) Man muß hier der Aufstellung von Moll gedenken, welche den Sexualtrieb
in Kontrektations- und Detumeszenztrieb zerlegt. Kontrektation bedeutet ein Bedürfnis
nach Hautberührung.
44 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
leer geblieben waren. Somit kann auch die scheinbar so große
(allerdings negative) Perversionsneigung der Psychoneuroliker eine
kollateral bedingte, muß jedenfalls eine kollateral erhöhte sein.
Die Tatsache ist eben, daß man die Sexualverdrängung als inneres
Moment jenen äußeren anreihen muß, welche wie Freiheits-
einschränkung, Unzugänglichkeit des normalen Sexualobjekts,
Gefahren des normalen Sexualaktes usw. Perversionen bei
Individuen entstehen lassen, welche sonst vielleicht normal
geblieben wären.
In den einzelnen Fällen von Neurose mag es sich hierin
verschieden verhalten, das einemal die angeborene Höhe der
Perversionsneigung, das anderemal die kollaterale Hebung derselben
durch die Abdrängung der Libido vom normalen Sexualziel und
Sexualobjekt das Maßgebendere sein. Es wäre unrecht, eine Gegen-
sätzlichkeit zu konstruieren, wo ein Kooperationsverhältnis vorliegt.
Ihre größten Leistungen wird die Neurose jedesmal zustande
bringen, wenn Konstitution und Erleben in demselben Sinne
zusammenwirken. Eine ausgesprochene Konstitution wird etwa
der Unterstützung durch die Lebenseindrücke entbehren können,
eine ausgiebige Erschütterung im Leben etwa die Neurose auch
bei durchschnittlicher Konstitution zustande bringen. Diese Gesichts-
punkte gelten übrigens in gleicher Weise für die ätiologische
Bedeutung von Angeborenem und akzidentell Erlebtem auch auf
anderen Gebieten.
Bevorzugt man die Annahme, daß eine besonders ausgebildete
Neigung zu Perversionen doch zu den Eigentümlichkeiten der
psychoneurotischen Konstitution gehört, so eröffnet sich die
Aussicht, je nach dem angeborenen Vorwiegen dieser oder jener
erogenen Zone, dieses oder jenes Partialtriebes, eine Mannigfaltigkeit
solcher Konstitutionen unterscheiden zu können. Ob der perversen
Veranlagung eine besondere Beziehung zur Auswahl der Erkrankungs-
form zukommt, dies ist wie so vieles auf diesem Gebiete noch
nicht untersucht.
Die sexuellen Abirrungen 45
7) Verweis auf den Infantilismus der Sexualität
Durch den Nachweis der perversen Regungen als Symptom-
bildner bei den Psychoneurosen haben wir die Anzahl der Menschen,
die man den Perversen zurechnen könnte, in ganz außerordent-
licher Weise gesteigert. Nicht nur, daß die Neurotiker selbst
eine sehr zahlreiche Menschenklasse darstellen, es ist auch in
Betracht zu ziehen, daß die Neurosen von allen ihren Aus-
bildungen her in lückenlosen Reihen zur Gesundheit abklingen;
hat doch Moebius mit guter Berechtigung sagen können: wir
sind alle ein wenig hysterisch. Somit werden wir durch die außer-
ordentliche Verbreitung der Peryersionen zu der Annahme gedrängt,
daß auch die Anlage zu den Perversionen keine seltene Besonder-
heit, sondern ein Stück der für normal geltenden Konstitution
sein müsse.
Wir haben gehört, daß es strittig ist, ob die Perversionen auf
angeborene Bedingungen zurückgehen oder durch zufällige Erleb-
nisse entstehen, wie es Bin et für den Fetischismus angenommen
hat. Nun bietet sich uns die Entscheidung, daß den Perversionen
allerdings etwas Angeborenes zugrunde liegt, aber etwas, was
allen Menschen angeboren ist, als Anlage in seiner
Intensität schwanken mag und der Hervorhebung durch Lebens-
einflüsse wartet. Es handelt sich um angeborene, in der Konstitution
gegebene Wurzeln des Sexualtriebes, die sich in der einen Reihe
von Fällen zu den wirklichen Trägern der Sexualtätigkeit entwickeln
(Perverse), andere Male eine ungenügende Unterdrückung (Ver-
drängung) erfahren, so daß sie auf einem Umweg als Krankheits-
symptome einen beträchtlichen Teil der sexuellen Energie an sich
ziehen können, während sie in den günstigsten Fällen zwischen
beiden Extremen durch wirksame Einschränkung und sonstige
Verarbeitung das sogenannte normale Sexualleben entstehen lassen.
Wir werden uns aber ferner sagen, daß die angenommene
Konstitution, welche die Keime zu allen Perversionen aufweist,
4 6
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
nur beim Kinde aufzeigbar sein wird, wenngleich bei ihm alle
Triebe nur in bescheidenen Intensitäten auftreten können. Ahnt
uns so die Formel, daß die Neurotiker den infantilen Zustand
ihrer Sexualität beibehalten haben oder auf ihn zurückversetzt
worden sind, so wird sich unser Interesse dem Sexualleben des
Kindes zuwenden und wir werden das Spiel der Einflüsse ver-
folgen wollen, die den Entwicklungsprozeß der kindlichen
Sexualität bis zum Ausgang in Perversion, Neurose oder normales
Geschlechtsleben beherrschen.
I
II
DIE INFANTILE SEXUALITÄT
Es ist ein Stück der populären Meinung über den Geschlechts- nachlä e s r sigung
Infantilen
trieb, daß er der Kindheit fehle und erst in der als Pubertät faf ^
bezeichneten Lebensperiode erwache. Allein dies ist nicht nur
ein einfacher, sondern sogar ein folgenschwerer Irrtum, da er
hauptsächlich unsere gegenwärtige Unkenntnis der grundlegenden
Verhältnisse des Sexuallebens verschuldet. Ein gründliches Studium
der Sexualäußerungen in der Kindheit würde uns wahrscheinlich
die wesentlichen Züge des Geschlechtstriebes aufdecken, seine
Entwicklung verraten und seine Zusammensetzung aus verschiedenen
Quellen zeigen.
Es ist bemerkenswert, daß die Autoren, welche sich mit der
Erklärung der Eigenschaften und Reaktionen des erwachsenen
Individuums beschäftigen, jener Vorzeit, welche durch die Lebens-
dauer der Ahnen gegeben ist, so viel mehr Aufmerksamkeit
geschenkt, also der Erblichkeit so viel mehr Einfluß zugesprochen
haben, als der anderen Vorzeit, welche bereits in die individuelle
Existenz der Person fällt, der Kindheit nämlich. Man sollte doch
meinen, der Einfluß dieser Lebensperiode wäre leichter zu
verstehen und hätte ein Anrecht, vor dem der Erblichkeit berück-
sichtigt zu werden. 1 Man findet zwar in der Literatur gelegent-
liche Notizen über frühzeitige Sexualbetätigung bei kleinen
1) Es ist ja auch nicht möglich, den der Erblichkeit gebührenden Anteil richtig
zu erkennen, ehe man den der Kindheit zugehörigen gewürdigt hat.
48 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Kindern, über Erektionen, Masturbation und selbst koitus-
ähnliche Vornahmen, aber immer nur als ausnahmsweise Vor-
gänge, als Kuriosa oder als abschreckende Beispiele voreiliger
Verderbtheit angeführt. Kein Autor hat meines Wissens die
Gesetzmäßigkeit eines Sexualtriebes in der Kindheit klar
erkannt und in den zahlreich gewordenen Schriften über die
Entwicklung des Kindes wird das Kapitel „Sexuelle Entwick-
lung" meist übergangen. 1
1) Die hier niedergeschriebene Behauptung erschien mir selbst nachträglich als
so gewagt, daß ich mir vorsetzte, sie durch nochmalige Durchsicht der Literatur
zu prüfen. Das Ergebnis dieser Überprüfung war, daß ich sie unverändert stehen
ließ. Die wissenschaftliche Bearbeitung der leiblichen wie der seelischen Phänomene
der Sexualität im Kindesalter befinden sich in den ersten Anfängen. Ein Autor
S. Bell (A preliminary smdy of the emotion of love between the sexes. American
Journal of Psychology, XIII, 1902) äußert: / know of no scientist, who hos given a
careful analysis of the emotion as it is Seen in the adolescent. — Somatische Sexual-
äußerungen aus der Zeit vor der Pubertät haben nur im Zusammenhange mit Ent-
artungserscheinungen und als Zeichen von Entartung Aufmerksamkeit gewonnen. —
Ein Kapitel über das Liebesleben der Kinder fehlt in allen Darstellungen der Psycho-
logie dieses Alters, die ich gelesen habe, so in den bekannten Werken von Preyer,
Baldwin (Die Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse, 1898),
Perez (L ? enfant de 3 — 7 ans, 1894), Strümpell (Die pädagogische Pathologie,
1899), Karl Groos (Das Seelenleben des Kindes, 1904;, Th. Heller (Grundriß
der Heilpädagogik, 1904), Sully (Untersuchungen über die Kindheit, 1897) und
anderen. Den besten Eindruck von dem heutigen Stande auf diesem Gebiet holt man sich
aus der Zeitschrift „Die Kinderfehler" (von 1896 an). — Doch gewinnt man die
Überzeugung, daß die Existenz der Liebe im Kindesalter nicht mehr entdeckt zu
werden braucht. Perez (1. c.) tritt für sie ein ; bei K. Groos (Die Spiele der
Menschen, 189g) findet sich als allgemein bekannt erwähnt, „daß manche Kinder
schon sehr früh für sexuelle Regungen zugänglich sind und dem anderen Geschlecht
gegenüber einen Drang nach Berührungen empfinden" (S. 536) ; der früheste Fall
von Auftreten geschlechtlicher Liebesregungen (sex-love) in der Beobachtungsreihe
von S. Bell betraf ein Kind in der Mitte des dritten Jahres. — Vergleiche hiezu
noch Havelock Ellis, Das Geschlechtsgefühl (übersetzt von K u r e 1 1 a), 1905.
Appendix, IL
Das obenstehende Urteil über die Literatur der infantilen Sexualität braucht seit
dem Erscheinen des groß angelegten Werkes von Stanley Hall (Adolescence, its
psychology and its relations to physiology, anthropology, sociology, sex, crime,
religion and education. Two volumes, New York, 1908) nicht mehr aufrecht erhalten
zu werden. — Das rezente Buch von A. Moll, Das Sexualleben des Kindes, Berlin
1909, bietet keinen Anlaß zu einer solchen Modifikation. Siehe dagegen: Bleuler,
Sexuelle Abnormitäten der Kinder. (Jahrbuch der schweizerischen Gesellschaft für
Schulgesundheitspflege, IX, 1908.) — Ein Buch von Frau Dr. H. v. Hug-Hellmuth,
Aus dem Seelenleben des Kindes, 1915, hat seither dem vernachlässigten sexuellen
Faktor vollauf Rechnung getragen.
Die infantile Sexualität 49
Den Grund für diese merkwürdige Vernachlässigung suche ich
zum Teil in den konventionellen Rücksichten, denen die Autoren
infolge ihrer eigenen Erziehung Rechnung tragen, zum anderen
Teil in einem psychischen Phänomen, welches sich bis jetzt selbst
der Erklärung entzogen hat. Ich meine hiemit die eigentümliche
Amnesie, welche den meisten Menschen (nicht allen!) die
ersten Jahre ihrer Kindheit bis zum 6. oder 8. Lebensjahre
verhüllt. Es ist uns bisher noch nicht eingefallen, uns über die
Tatsache dieser Amnesie zu verwundern; aber wir hätten guten
Grund dazu. Denn man berichtet uns, daß wir in diesen Jahren,
von denen wir später nichts im Gedächtnis behalten haben als
einige unverständliche Erinnerungsbrocken, lebhaft auf Eindrücke
reagiert hätten, daß wir Schmerz und Freude in menschlicher
Weise zu äußern verstanden, Liebe, Eifersucht und andere Leiden-
schaften gezeigt, die uns damals heftig bewegten, ja daß wir
Aussprüche getan, die von den Erwachsenen als gute Beweise
für Einsicht und beginnende Urteilsfähigkeit gemerkt wurden.
Und von alledem wissen wir als Erwachsene aus eigenem nichts.
Warum bleibt unser Gedächtnis so sehr hinter unseren anderen
seelischen Tätigkeiten zurück ? Wir haben doch Grund zu glauben,
daß es zu keiner anderen Lebenszeit aufnahms- und reproduktions-
fähiger ist als gerade in den Jahren der Kindheit. 1
Auf der anderen Seite müssen wir annehmen oder können
uns durch psychologische Untersuchung an anderen davon über-
zeugen, daß die nämlichen Eindrücke, die wir vergessen haben,
nichtsdestoweniger die tiefsten Spuren in unserem Seelenleben
hinterlassen haben und bestimmend für unsere ganze spätere
Entwicklung geworden sind. Es kann sich also um gar keinen
wirklichen Untergang der Kindheitseindrücke handeln, sondern
1) Eines der mit den frühesten Kindheitserinnerungen verknüpften Probleme habe
ich in einem Aufsatze „Über Deckerirmerungen" (Monatsschrift für Psychiatrie und
Neurologie, VI, 1899) zu lösen versucht. [Vgl. „Zur Psychopathologie des Alltags-
lebens", IV. Kap. Bd. IV der Gesamtausgabe.]
Freud, Sexualtheorie, G. Auflage. 4
\
Infantile
Amnesie
50 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
um eine Amnesie ähnlich jener, die wir bei den Neurotikern
für spätere Erlebnisse beobachten, und deren Wesen in einer
bloßen Abhaltung von Bewußtsein (Verdrängung) besteht. Aber
welche Kräfte bringen diese Verdrängung der Kindheitseindrücke
zustande? Wer dieses Rätsel löste, hätte wohl auch die hysterische
Amnesie aufgeklärt.
Immerhin wollen wir nicht versäumen hervorzuheben, daß
die Existenz der infantilen Amnesie einen neuen Vergleichspunkt
zwischen dem Seelenzustand des Kindes und dem des Psycho-
neurotikers schafft. Einem anderen sind wir schon früher begegnet,
als sich uns die Formel aufdrängte, daß die Sexualität der Psycho-
neurotiker den kindlichen Standpunkt bewahrt hat oder auf ihn
zurückgeführt worden ist. Wenn nicht am Ende die infantile
Amnesie selbst wieder mit den sexuellen Regungen der Kindheit
in Beziehung zu bringen ist!
Es ist übrigens mehr als ein bloßes Spiel des Witzes, die
infantile Amnesie mit der hysterischen zu verknüpfen. Die
hysterische Amnesie, die der Verdrängung dient, wird nur durch
den Umstand erklärlich, daß das Individuum bereits einen Schatz
von Erinnerungsspuren besitzt, welche der bewußten Verfügung
entzogen sind und die nun mit assoziativer Bindung das an sich
reißen, worauf vom Bewußten her die abstoßenden Kräfte der
Verdrängung wirken. 1 Ohne infantile Amnesie, kann man sagen,
gäbe es keine hysterische Amnesie.
Ich meine nun, daß die infantile Amnesie, die für jeden
einzelnen seine Kindheit zu einer gleichsam prähistorischen
Vorzeit macht und ihm die Anfänge seines eigenen Geschlechts-
lebens verdeckt, die Schuld daran trägt, wenn man der kindlichen
Lebensperiode einen Wert für die Entwicklung des Sexuallebens
im allgemeinen nicht zutraut. Ein einzelner Beobachter kann
i) Man kann den Mechanismus der Verdrängung nicht verstehen, wenn man nur
einen dieser beiden zusammenwirkenden Vorgänge berücksichtigt. Zum Vergleich möge
die Art dienen, wie der Tourist auf die Spitze der großen Pyramide von Gizeh
befördert wird; er wird von der einen Seite gestoßen, von der anderen Seite gezogen.
Die infantile Sexualität 51
die so entstandene Lücke in unserem Wissen nicht ausfüllen.
Ich habe bereits 1896 die Bedeutung der Kinder jähre für die
Entstehung gewisser wichtiger, vom Geschlechtsleben abhängiger
Phänomene betont und seither nicht aufgehört, das infantile
Moment für die Sexualität in den Vordergrund zu rücken.
Die sexuelle Latenzperiode der Kindheit
und ihre Durchbrechungen
Die außerordentlich häufigen Befunde von angeblich regel-
widrigen und ausnahmsartigen sexuellen Regungen in der Kindheit
sowie die Aufdeckung der bis dahin unbewußten Kindheits-
erinnerungen der Neurotiker gestatten etwa folgendes Bild von
dem sexuellen Verhalten der Kinderzeit zu entwerfen : '
Es scheint gewiß, daß das Neugeborene Keime von sexuellen
Regungen mitbringt, die sich eine Zeitlang weiter entwickeln,
dann aber einer fortschreitenden Unterdrückung unterliegen,
welche selbst wieder durch regelrechte Vorstöße der Sexual-
entwicklung durchbrochen und durch individuelle Eigenheiten
aufgehalten werden kann. Über die Gesetzmäßigkeit und die
Periodizität dieses oszillierenden Entwicklungsganges ist nichts
Gesichertes bekannt. Es scheint aber, daß das Sexualleben der
Kinder sich zumeist um das dritte oder vierte Lebensjahr in
einer der Beobachtung zugänglichen Form zum Ausdruck bringt. 2
1) Letzteres Material wird durch die berechtigte Erwartung- verwertbar, daß die
Kinderjahre der späteren Neurotiker hierin nicht wesentlich, nur in Hinsicht der
Intensität und Deutlichkeit, von denen später Gesunder abweichen dürften.
2) Eine mögliche anatomische Analogie zu dem von mir behaupteten Verhalten der
infantilen Sexualfunktion wäre durch den Fund von B ayer (Deutsches Archiv für klinische
Medizin, Bd. 75) gegeben, daß die inneren Geschlechtsorgane (JJterus') Neugeborener
in der Regel größer sind als die älterer Kinder. Indes ist die Auffassung dieser
durch Halb an auch für andere Teile des Genitalapparates festgestellten Involution
nach der Geburt nicht sichergestellt. Nach H a lb an (Zeitschrift für Geburtshilfe
und Gynäkologie, LIII, 1904) ist dieser Rückbildnngsvorgang nach wenigen Wochen
des Extrauterinlebens abgelaufen. — Die Autoren, welche den interstitiellen Anteil
der Keimdrüse als das geschlechtsbestimmende Organ betrachten, sind durch
52 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Die Sexual- Während dieser Periode totaler oder bloß partieller Latenz
werden die seelischen Mächte aufgebaut, die später dem Sexual-
trieb als Hemmnisse in den Weg treten und gleich wie Dämme
seine Richtung beengen werden (der Ekel, das Schamgefühl, die
ästhetischen und moralischen Idealanforderungen). Man gewinnt
beim Kulturkinde den Eindruck, daß der Aufbau dieser Dämme
ein Werk der Erziehung ist, und sicherlich tut die Erziehung
viel dazu. In Wirklichkeit ist diese Entwicklung eine organisch
bedingte, hereditär fixierte und kann sich gelegentlich ganz ohne
Mithilfe der Erziehung herstellen. Die Erziehung verbleibt durch-
aus in dem ihr angewiesenen Machtbereich, wenn sie sich darauf
einschränkt, das organisch Vorgezeichnete nachzuziehen und es
etwas sauberer und tiefer auszuprägen.
Reakiions- Mit welchen Mitteln werden diese, für die spätere persönliche
bildung und
subiimierung Kultur und Normalität so bedeutsamen Konstruktionen aufgeführt?
Wahrscheinlich auf Kosten der infantilen Sexualregungen selbst,
deren Zufluß also auch in dieser Latenzperiode nicht aufgehört
anatomische Untersuchungen dazu geführt worden, ihrerseits von infantiler Sexualität
und sexueller Latenzzeit zu reden. Ich zitiere aus dem S. 20 erwähnten Buche von
Lipschütz üher die Pubertätsdrüse: „Man wird den Tatsachen viel eher gerecht,
wenn man sagt, daß die Ausreifung der Geschlechtsmerkmale, wie sie sich in der
Pubertät vollzieht, nur auf einem um diese Zeit stark beschleunigten Ablauf von
Vorgängen beruht, die schon viel früher begonnen haben — unserer Auffassung
nach schon im embryonalen Leben." (S. 169.) — „Was man bisher als
Pubertät schlechtweg bezeichnet hat, ist wahrscheinlich
nur eine zweite große Phase der Pubertät, die um die Mitte
des zweiten Jahrzehntes einsetzt... Das Kindesalter, von der Geburt
bis zu Beginn der zweiten großen Phase gerechnet, konnte man als die inter-
mediäre Phase der Pubertät' bezeichnen." (S. 170.) — Diese in einem
Referat von Ferenczi (Int. Zeitschr. f. Psychoanalyse VI, 1920) hervorgehobene
Übereinstimmung anatomischer Befunde mit der psychologischen Beobachtung wird
durch die eine Angabe gestört, daß der „erste Gipfelpunkt" der Entwicklung
des Sexualorgans in die frühe Embryonalzeit fällt, während die kindliche Frühblüte
des Sexuallebens in das dritte und vierte Lebensjahr zu verlegen ist. Die volle
Gleichzeitigkeit der anatomischen Ausbildung mit der psychischen Entwicklung ist
natürlich nicht erforderlich. Die betreffenden Untersuchungen sind an der Keimdrüse
des Menschen gemacht worden. Da den Tieren eine Latenzzeit im psychologischen
Sinne nicht zukommt, läge viel daran zu wissen, ob die anatomischen Befunde, auf
deren Grund die Autoren zwei Gipfelpunkte der Sexualentwicklung annehmen, auch
an anderen höheren Tieren nachweisbar sind.
Die infantile Sexualität 53
hat, deren Energie aber — ganz oder zum größten Teil — von
der sexuellen Verwendung abgeleitet und anderen Zwecken zuge-
führt wird. Die Kulturhistoriker scheinen einig in der Annahme,
daß durch solche Ablenkung sexueller Triebkräfte von sexuellen
Zielen und Hinlenkung auf neue Ziele, ein Prozeß, der den Namen
Sublimierung verdient, mächtige Komponenten für alle kul-
turellen Leistungen gewonnen werden. Wir würden also hinzu-
fügen, daß der nämliche Prozeß in der Entwicklung des einzelnen
Individuums spielt und seinen Beginn in die sexuelle Latenz-
periode der Kindheit verlegen. 1
Auch über den Mechanismus einer solchen Sublim ierung kann
man eine Vermutung wagen. Die sexuellen Regungen dieser
Kinderjahre wären einerseits unverwendbar, da die Fortpflanzungs-
funktionen aufgeschoben sind, was den Haupt charakter der Latenz-
periode ausmacht, andererseits wären sie an sich pervers, das heißt
von erogenen Zonen ausgehend und von Trieben getragen, welche
bei der Entwicklungsrichtung des Individuums nur Unlust-
empfindungen hervorrufen könnten. Sie rufen daher seelische
Gegenkräfte (Reaktionsregungen) wach, die zur wirksamen Unter-
drückung solcher Unlust die erwähnten psychischen Dämme:
Ekel, Scham und Moral, aufbauen. 2
Ohne uns über die hypothetische Natur und die mangelhafte Du ^ üche
Klarheit unserer Einsichten in die Vorgänge der kindlichen Latenz- Latenzzeit
oder Aufschubsperiode zu täuschen, wollen wir zur Wirklichkeit
zurückkehren, um anzugeben, daß solche Verwendung der infantilen
Sexualität ein Erziehungsideal darstellt, von dem die Entwicklung
der einzelnen meist an irgendeiner Stelle und oft in erheblichem
Maße abweicht. Es bricht zeitweise ein Stück Sexualäußerung
1) Die Bezeichnung „sexuelle Laterizperiode" entlehne ich ebenfalls von W. Fließ.
2) In dem hier besprochenen Falle geht die Sublimierung sexueller Trieb-
kräfte auf dem Wege der Reaktionsbildung vor sich. Im allgemeinen darf man
aber Sublimierung und Reaktionsbildung als zwei verschiedene Prozesse begrifflich
voneinander scheiden. Es kann auch Sublimierungen durch andere imd einfachere
Mechanismen geben.
54 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
durch, das sich der Sublimierung entzogen hat, oder es erhält
sich eine sexuelle Betätigung durch die ganze Dauer der Latenz-
periode bis zum verstärkten Hervorbrechen des Sexualtriebes in
der Pubertät. Die Erzieher benehmen sich, insofern sie überhaupt
der Kindersexualität Aufmerksamkeit schenken, genau so, als teilten
sie unsere Ansichten über die Bildung der moralischen Abwehr-
mächte auf Kosten der Sexualität und als wüßten sie, daß sexuelle
Betätigung das Kind unerziehbar macht, denn sie verfolgen alle
sexuellen Äußerungen, des Kindes als „Laster", ohne viel gegen
sie ausrichten zu können. Wir aber haben allen Grund, diesen
von der Erziehung gefürchteten Phänomenen Interesse zuzuwenden,
denn wir erwarten von ihnen den Aufschluß über die Ursprung
liehe Gestaltung des Geschlechtstriebs.
Die Äußerungen der infantilen Sexualität
Das Lutschen Aus später zu ersehenden Motiven wollen wir unter den
infantilen Sexualäußerungen das Lud ein (Wonnesaugen) zum
Muster nehmen, dem der ungarische Kinderarzt Lindner eine
ausgezeichnete Studie gewidmet hat. 1
Das Lud ein oder Lutschen, das schon beim Säugling auf-
tritt und bis in die Jahre der Reife fortgesetzt werden oder sich
durchs ganze Leben erhalten kann, besteht in einer rhythmisch
wiederholten saugenden Berührung mit dem Munde (den Lippen),
wobei der Zweck der Nahrungsaufnahme ausgeschlossen ist. Ein
Teil der Lippe selbst, die Zunge, eine beliebige andere erreich-
bare Hautstelle, — selbst die große Zehe, — werden zum Objekt
genommen, an dem das Saugen ausgeführt wird. Ein dabei auf-
tretender Greiftrieb äußert sich etwa durch gleichzeitiges rhyth-
misches Zupfen am Ohrläppchen und kann sich eines Teiles einer
anderen Person (meist ihres Ohres) zu gleichem Zwecke bemäch-
tigen. Das Wonnesaugen ist mit voller Aufzehrung der Aufmerk-
samkeit verbunden, führt entweder zum Einschlafen oder selbst
l) Im Jahrbuch für Kinderheilkunde, N. F., XIV. 187g.
Die infantile Sexualität 55
zu einer motorischen Reaktion in einer. Art von Orgasmus. 1 Nicht
selten kombiniert sich mit dem Wonnesaugen die reibende
Berührung gewisser empfindlicher Körperstellen, der Brust, der
äußeren Genitalien. Auf diesem Wege gelangen viele Kinder vom
Ludein zur Masturbation.
Lindner selbst hat die sexuelle Natur dieses Tuns klar erkannt
und rückhaltlos betont. In der Kinderstube wird das Ludein
häufig den anderen sexuellen „Unarten" des Kindes gleichgestellt.
Von seiten zahlreicher Kinder- und Nervenärzte ist ein sehr
energischer Einspruch gegen diese Auffassung erhoben worden,
der zum Teil gewiß auf der Verwechslung von „sexuell" und
„genital" beruht. Dieser Widerspruch wirft die schwierige und
nicht abzuweisende Frage auf, an welchem allgemeinen Charakter
wir die sexuellen Äußerungen des Kindes erkennen wollen. Ich
meine, daß der Zusammenhang der Erscheinungen, in welchen
wir durch die psychoanalytische Untersuchung Einsicht gewonnen
haben, uns berechtigt, das Ludein als eine sexuelle Äußerung in
Anspruch zu nehmen und gerade an ihm die wesentlichen Züge
der infantilen Sexualbetätigung zu studieren. 2
Wir haben die Verpflichtung, dieses Beispiel eingehend zu er *^' us
würdigen. Heben wir als den auffälligsten Charakter dieser Sexual-
betätigung hervor, daß der Trieb nicht auf andere Personen
gerichtet ist; er b efriedigt sich am eigenen Körper, er ist auto-
j) Hier erweist sich bereits, was fürs ganze Leben Gültigkeit bat, daß sexuelle
Befriedigung das beste Schlafmittel ist. Die meisten Fälle von nervöser Schlaflosig-
keit gehen auf sexuelle Unbefriedigung zurück. Es ist bekannt, daß gewissenlose
Kinderfrauen die schreienden Kinder durch Streichen an den Genitalien einschlafern
o) Ein Dr. Galant hat 1919 im Neurol. Zentralbl. Nr. 20 unter dem Titel
Das Lutscherli" das Bekenntnis eines erwachsenen Mädchens veröffentlicht, welches
diese kindüche Sexualbetätigung nicht aufgegeben hat und die Befriedung durch
das Lutschen als völlig analog einer sexuellen Befriedigung, insbesondere durch den
Kuß des Geliebten, schildert. „Nicht alle Küsse gleichen einem Lutscherli : nein,
nein lange nicht alle! Man kann nicht schreiben, wie wohlig es einem durch den
ganzen Körper beim Lutschen geht; man ist einfach weg von dieser Welt, man ist
ganz zufrieden und wunschlos glücklich. Es ist ein wunderbares Gefühl; man ver-
langt nichts als Ruhe, Ruhe, die gar nicht unterbrochen werden soll. Es ist einlach
unsagbar schön: man spürt keinen Schmerz, kein Weh und ach, man ist entruckt
in eine andere Weit."
56 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
erotisch, um es mit einem glücklichen, von Havelock Ellis
eingeführten Namen zu sagen. 1
Es ist ferner deutlich, daß die Handlung des lutschenden Kindes
durch das Suchen nach einer — bereits erlebten und nun
erinnerten — Lust bestimmt wird. Durch das rhythmische Saugen
an einer Haut- oder Schleimhautstelle findet es dann im einfachsten
Falle die Befriedigung. Es ist auch leicht zu erraten, bei welchen
Anlässen das Kind die ersten Erfahrungen dieser Lust gemacht
hat, die es nun zu erneuern strebt. Die erste und lebenswichtigste
Tätigkeit des Kindes, das Saugen an der Mutterbrust (oder an
ihren Surrogaten), muß es bereits mit dieser Lust vertraut
gemacht haben. Wir würden sagen, die Lippen des Kindes haben
sich benommen wie eine erogene Zone, und die Reizung
durch den warmen Milchstrom war wohl die Ursache der Lust-
empfindung. Anfangs war wohl die Befriedigung der erogenen
Zone mit der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses vergesell-
schaftet. Die Sexualbetätigung lehnt sich zunächst an eine der zur
Lebenserhaltung dienenden Funktionen an und macht sich erst
später von ihr selbständig. Wer ein Kind gesättigt von der Brust
zurücksinken sieht, mit geröteten W 7 angen und seligem Lächeln
in Schlaf verfallen, der wird sich sagen müssen, daß dieses Bild
auch für den Ausdruck der sexuellen Befriedigung im späteren
Leben maßgebend bleibt. Nun wird das Bedürfnis nach Wiederholung
der sexuellen Befriedigung von dem Bedürfnis nach Nahrungs-
aufnahme getrennt, eine Trennung, die unvermeidlich ist, wenn
die Zähne erscheinen und die Nahrung nicht mehr ausschließlich
eingesogen, sondern gekaut wird. Eines fremden Objektes bedient
sich das Kind zum Saugen nicht, sondern lieber einer eigenen
Hautstelle, weil diese ihm bequemer ist, weil es sich so von der
1) H. Ellis hat den Terminus „autoerotisch" allerdings etwas anders bestimmt
im Sinne einer Erregung, die nicht von außen hervorgerufen wird, sondern im Innern
selbst entspringt. Für die Psychoanalyse ist nicht die Genese, sondern die Beziehung
zu einem Objekt das Wesentliche.
Die infantile Sexualität 57
Außenwelt unabhängig macht, die es zu beherrschen noch nicht
vermag, und weil es sich solcherart gleichsam eine zweite,
wenngleich minderwertige, erogene Zone schafft. Die Minder-
wertigkeit dieser zweiten Stelle wird es später mit dazu veran-
lassen, die gleichartigen Teile, die Lippen, einer anderen Person
zu suchen. („Schade, daß ich mich nicht küssen kann," möchte
man ihm unterlegen.)
Nicht alle Kinder lutschen. Es ist anzunehmen, daß jene Kinder
dazu gelangen, bei denen die erogene Bedeutung der Lippenzone
konstitutionell verstärkt ist. Bleibt diese erhalten, so werden diese
Kinder als Erwachsene Kußfeinschmecker werden, zu perversen
Küssen neigen oder als Männer ein kräftiges Motiv zum Trinken
und Rauchen mitbringen. Kommt aber die Verdrängung hinzu,
so werden sie Ekel vor dem Essen empfinden und hysterisches
Erbrechen produzieren. Kraft der Gemeinsamkeit der Lippenzone
wird die Verdrängung auf den Nahrungstrieb übergreifen. Viele
meiner Patientinnen mit Eßstörungen, hysterischem Globus,
Schnüren im Hals und Erbrechen waren in den Kinderjahren
energische Ludlerinnen gewesen.
Am Lutschen oder Wonnesaugen haben wir bereits die drei
wesentlichen Charaktere einer infantilen Sexualäußerung bemerken
können. Dieselbe entsteht in Anlehnung an eine der lebens-
wichtigen Körperfunktionen, sie kennt noch kein Sexualobjekt,
ist äutoerotisch, und ihr Sexualziel steht unter der Herrschaft
einer erogenen Zone. Nehmen wir vorweg, daß diese
Charaktere auch für die meisten anderen Betätigungen der
infantilen Sexualtriebe gelten.
Das Sexualziel der infantilen Sexualität
Aus dem Beispiel des Ludeins ist zur Kennzeichnung einer Charaktere
L erogener
erogenen Zone noch mancherlei zu entnehmen. Es ist eine Haut- Zonen
oder Schleimhautstelle, an der Reizungen von gewisser Art eine
58 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Lustempfindung von bestimmter Qualität hervorrufen. Es ist kein
Zweifel, daß die lusterzeugenden Reize an besondere Bedingungen
gebunden sind; wir kennen dieselben nicht. Der rhythmische
Charakter muß unter ihnen eine Rolle spielen, die Analogie mit
dem Kitzelreiz drängt sich auf. Minder ausgemacht scheint es,
ob man den Charakter der durch den Reiz hervorgerufenen Lust-
empfindung als einen „besonderen" bezeichnen darf, wo in dieser
Besonderheit eben das sexuelle Moment enthalten wäre. In Sachen
der Lust und Unlust tappt die Psychologie noch so sehr im
Dunkeln, daß die vorsichtigste Annahme die empfehlenswerteste
sein wird. Wir werden später vielleicht auf Gründe stoßen,
welche die Besonderheitsqualität der Lustempfindung zu unter-
stützen scheinen.
Die erogene Eigenschaft kann einzelnen Körperstellen in aus-
gezeichneter Weise anhaften. Es gibt prädestinierte erogene Zonen,
wie das Beispiel des Ludeins zeigt. Dasselbe Beispiel lehrt aber
auch, daß jede beliebige andere Haut- und Schleimhautstelle die
Dienste einer erogenen Zone auf sich nehmen kann, also eine
gewisse Eignung dazu mitbringen muß. Die Qualität des Reizes
hat also mit der Erzeugung der Lustempfindung mehr zu tun
als die Beschaffenheit der Körperstelle. Das ludernde Kind sucht
an seinem Körper herum und wählt sich irgendeine Stelle zum
Wonnesaugen aus, die ihm dann durch Gewöhnung die
bevorzugte wird; wenn es zufällig dabei auf eine der prä-
destinierten Stellen stößt (Brustwarze, Genitalien), so verbleibt freilich
dieser der Vorzug. Die ganz analoge Verschiebbarkeit kehrt dann
in der Symptomatologie der Hysterie wieder. Bei dieser Neurose
betrifft die Verdrängung die eigentlichen Genitalzonen am aller-
meisten, und diese geben ihre Reizbarkeit an die übrigen, sonst
im reifen Leben zurückgesetzten, erogenen Zonen ab, die sich
dann ganz wie Genitalien gebärden. Aber außerdem kann ganz
wie beim Ludein jede beliebige andere Körperstelle mit der
Erregbarkeit der Genitalien ausgestattet und zur erogenen Zone
Die infantile Sexualität 59
erhoben werden. Erogene und hysterogene Zonen zeigen die
nämlichen Charaktere. 1
Das Sexualziel des infantilen Triebes besteht darin, die
Befriedigung durch die geeignete Reizung der so oder so gewählten
erogenen Zone hervorzurufen. Diese Befriedigung muß vorher
erlebt worden sein, um ein Bedürfnis nach ihrer Wiederholung
zurückzulassen, und wir dürfen darauf vorbereitet sein, daß die
Natur sichere Vorrichtungen getroffen hat, um dieses Erleben der
Befriedigung nicht dem Zufalle zu überlassen. 2 Die Veranstaltung,
welche diesen Zweck für die Lippenzone erfüllt, haben wir
bereits kennen gelernt, es ist die gleichzeitige Verknüpfung dieser
Körperstelle mit der Nahrungsaufnahme. Andere ähnliche Vor-
richtungen werden uns noch als Quellen der Sexualität begegnen.
Der Zustand des Bedürfnisses nach Wiederholung der Befriedigung
verrät sich durch zweierlei: durch ein eigentümliches Spannungs-
gefühl, welches an sich mehr den Charakter der Unlust hat, und
durch eine zentral bedingte, in die peripherische erogene
Zone projizierte Juck- oder Reizempfindung. Man kann das
Sexualziel darum auch so formulieren, es käme darauf an, die
projizierte Reizempfindung an der erogenen Zone durch denjenigen
äußeren Reiz zu ersetzen, welcher die Reizempfindung aufhebt,
indem er die Empfindung der Befriedigung hervorruft. Dieser
äußere Reiz wird zumeist in einer Manipulation bestehen, die
analog dem Saugen ist.
Es ist nur im vollen Einklang mit unserem physiologischen
Wissen, wenn es vorkommt, daß das Bedürfnis auch peripherisch,
durch eine wirkliche Veränderung an der erogenen Zone geweckt
Infantiles
Sexualziel
1) Weitere Überlegungen und die Verwertung anderer Beobachtungen fuhren dazu,
die Eigenschaft der Erogeneität allen Körperstellen und inneren Organen zuzu-
sprechen. Vgl. hiezu weiter unten über den Narzißmus.
2) Man kann es in biologischen Erörterungen kaum vermeiden, sich der teleo-
logischen Denkweise zu bedienen, obwohl man weiß, daß man im einzelnen Falle
gegen den Irrtum nicht gesichert ist.
60 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
wird. Es wirkt nur einigermaßen befremdend, da der eine Reiz
zu seiner Aufhebung nach einem
angebrachten, zu verlangen scheint.
zu seiner Aufhebung nach einem zweiten, an derselben Stelle
Die masturbatorischen Sexualäußerungen 1
Es kann uns nur höchst erfreulich sein zu finden, daß wir
von der Sexualbetätigung des Kindes nicht mehr viel Wichtiges
zu lernen haben, nachdem uns der Trieb von einer einzigen
erogenen Zone her verständlich geworden ist. Die deutlichsten
Unterschiede beziehen sich auf die zur Befriedigung notwendige
Vornahme, die für die Lippenzone im Saugen bestand und die
je nach Lage und Beschaffenheit der anderen Zonen durch andere
Muskelaktionen ersetzt werden muß.
Betätigung Die Afterzone ist ähnlich wie die Lippenzone durch ihre Laee
er Afterzone . rl to
geeignet, eine Anlehnung der Sexualität an andere Körper-
funktionen zu vermitteln. Man muß sich die erogene Bedeutung
dieser Körperstelle als ursprünglich sehr groß vorstellen. Durch
die Psychoanalyse erfährt man dann nicht ohne Verwunderung,
welche Umwandlungen mit den von hier ausgehenden sexuellen
Erregungen normalerweise vorgenommen werden, und wie häufig
der Zone noch ein beträchtliches Stück genitaler Reizbarkeit fürs
Leben verbleibt. 2 Die so häufigen Darmstörungen der Kinderjahre
sorgen dafür, daß es der Zone an intensiven Erregungen nicht
fehle. Darmkatarrhe im zartesten Alter machen „nervös", wie
man sich ausdrückt; bei späterer neurotischer Erkrankung nehmen
sie einen bestimmenden Einfluß auf den symptomatischen Aus-
druck der Neurose, welcher sie die ganze Summe von Darm-
störungen zur Verfügung stellen. Mit Hinblick auf die wenigstens
i) Vgl. hiezu die selu-reichhaltige, aber meist in den Gesichtspunkten unorientierte
Literatur über Onanie, z. B. Rohleder, Die Masturbation, 1899, f erner das H. Heft
der „Diskussionen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung", „Die Onanie", Wies-
baden 1912.
2) Vgl. die Aufsätze „Charakter und Analerotik" und „Über Triebumsetzungen
insbesondere der Analerotik" [Gesamtausgabe, Bd. V].
Die infantile Sexualität
in Umwandlung erhalten gebliebene erogene Bedeutung der
Darmausgangszone darf man auch die hämorrhoidalen Einflüsse
nicht verlachen, denen die ältere Medizin für die Erklärung
neurotischer Zustände soviel Gewicht beigelegt hat.
Kinder, welche die erogene Reizbarkeit der Afterzone ausnützen,
verraten sich dadurch, daß sie die Stuhlmassen zurückhalten, bis
dieselben durch ihre Anhäufung heftige Muskelkontraktionen an-
regen und beim Durchgang durch den After einen starken Reiz
auf die Schleimhaut ausüben können. Dabei muß wohl neben
der schmerzhaften die Wollustempfindung zustande kommen. Es
ist eines der besten Vorzeichen späterer Absonderlichkeit oder
Nervosität, wenn ein Säugling sich hartnäckig weigert, den Darm
zu entleeren, wenn er auf den Topf gesetzt wird, also wenn es
dem Pfleger beliebt, sondern diese Funktion seinem eigenen
Belieben vorbehält. Es kommt ihm natürlich nicht darauf an,
sein Lager schmutzig zu machen ; er sorgt nur, daß ihm der
Lustnebengewinn bei der Defäkation nicht entgehe. Die Erzieher
ahnen wiederum das Richtige, wenn sie solche Kinder, die sich
diese Verrichtungen „aufheben", schlimm nennen.
Der Darminhalt, der als Reizkörper für eine sexuell empfind-
liche Schleimhautfläche sich wie der Vorläufer eines anderen
Organs benimmt, welches erst nach der Kindheitsphase in Aktion
treten soll, hat für den Säugling noch andere wichtige Bedeu-
tungen. Er wird offenbar wie ein zugehöriger Körperteil behandelt,
stellt das erste „Geschenk" dar, durch dessen Entäußerung die
Gefügigkeit, durch dessen Verweigerung der Trotz des kleinen
Wesens gegen seine Umgebung ausgedrückt werden kann. Vom
„Geschenk" aus gewinnt er dann später die Bedeutung des
„Kindes", das nach einer der infantilen Sexualtheorien durch
Essen erworben und durch den Darm geboren wird.
Die Zurückhaltung der Fäkalmassen, die also anfangs eine
absichtliche ist, um sie zur gleichsam masturbatorischen Reizung
der Afterzone zu benützen, oder in der Relation zu den Pflege-
62 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
personen zu verwenden, ist übrigens eine der Wurzeln der bei
den Neuropathen so häufigen Obstipation. Die ganze Bedeutung,
der Afterzone spiegelt sich dann in der Tatsache, daß man nur
wenige Neurotiker findet, die nicht ihre besonderen skatologischen
Gebräuche, Zeremonien und dergleichen hätten, die von ihnen
sorgfältig geheim gehalten werden. 1
Echte masturbatorische Reizung der Afterzone mit Hilfe
des Fingers, durch zentral bedingtes oder peripherisch unter-
haltenes Jucken hervorgerufen, ist bei älteren Kindern keines-
wegs selten.
Jetätigung Unter den erogenen Zonen des kindlichen Körpers befindet
enitaizonen sich eine, die gewiß nicht die erste Rolle spielt, auch nicht die
Trägerin der ältesten sexuellen Regungen sein kann, die aber
zu großen Dingen in der Zukunft bestimmt ist. Sie ist beim
männlichen wie beim weiblichen Kind in Beziehung zur Harn-
entleerung gebracht (Eichel, Klitoris) und beim ersteren in einen
Schleimhautsack einbezogen, so daß es ihr an Reizungen durch
Sekrete, welche die sexuelle Erregung frühzeitig anfachen können,
nicht fehlen kann. Die sexuellen Betätigungen dieser erogenen
Zone, die den wirklichen Geschlechtsteilen angehört, sind ja der
Beginn des später „normalen" Geschlechtslebens.
Durch die anatomische Lage, die Überströmung mit Sekreten,
durch die Waschungen und Reibungen der Körperpflege und
durch gewisse akzidentelle Erregungen (wie die Wanderungen
von Eingeweidewürmern bei Mädchen) wird es unvermeidlich,
1) In einer Arbeit, welche unser Verständnis für die Bedeutung der Analerotik
außerordentlich vertieft („Anal" und „Sexual", Imago IV, 1916), hat Lou Andreas-
Salöme ausgeführt, daß die Geschichte des erstes Verbotes, welches an das Kind heran-
tritt, des Verbotes aus der Analtätigkeit und ihren Produkten Lust zu gewinnen, für
seine ganze Entwicklung maßgebend wird. Das kleine Wesen muß bei diesem Anlasse
zxierst die seinen Triebregungen feindliche Umwelt ahnen, sein eigenes Wesen von
diesem Fremden sondern lernen, und dann die erste „Verdrängung" an seinen Lust-
möglichkeiten vollziehen. Das „Anale" bleibt von da an das Symbol für alles zu
Verwerfende, vom Leben Abzuscheidende. Der. später geforderten reinlichen Scheidung
von Anal- und Genitalvorgängen widersetzen sich die nahen anatomischen und funk-
tionellen Analogien und Beziehungen zwischen beiden. Der Genitalapparat bleibt der
Kloake benachbart, „ist ihr beim Weibe sogar nur abgemietet".
Die infantile Sexualität 65
daß die Lustempfindung, welche diese Körperstelle zu ergeben
fähig ist, sich dem. Kinde schon im Säuglingsalter bemerkbar
mache und ein Bedürfnis nach ihrer Wiederholung erwecke. Über-
blickt man die Summe der vorliegenden Einrichtungen und bedenkt,
daß die Maßregeln zur Reinhaltung kaum anders wirken können
als die Verunreinigung, so wird man sich kaum der Auffassung
entziehen können, daß durch die Säuglingsonanie, der kaum ein
Individuum entgeht, das künftige Primat dieser erogenen Zone
für die Geschlechtstätigkeit festgelegt wird. Die den Reiz beseiti-
gende und die Befriedigung auslösende Aktion besteht in einer
reibenden Berührung mit der Hand oder in einem gewiß reflektorisch
vorgebildeten Druck durch die Hand oder die zusammenschließenden
Oberschenkel. Letztere Vornahme ist die beim Mädchen weitaus
häufigere. Beim Knaben weist die Bevorzugung der Hand bereits
darauf hin, welchen wichtigen Beitrag zur männlichen Sexual-
tätigkeit der Bemächtigungstrieb einst leisten wird. 1
Es wird der Klarheit nur förderlich sein, wenn ich angebe,
daß man drei Phasen der infantilen Masturbation zu unterscheiden
hat. Die erste von ihnen gehört der Säuglingszeit an, die zweite
der kurzen Blütezeit der Sexualbetätigung um das vierte Lebens-
jahr, erst die dritte entspricht der oft ausschließlich gewürdigten
Pubertätsonanie.
Die Säuglingsonanie scheint nach kurzer Zeit zu schwinden,
doch kann mit der ununterbrochenen Fortsetzung derselben bis der kindlicher
Masturbation
zur Pubertät bereits die erste große Abweichung von der für
den Kulturmenschen anzustrebenden Entwicklung gegeben sein.
Irgend einmal in den Kinderjahren nach der Säuglingszeit,
gewöhnlich vor dem vierten Jahr, pflegt der Sexualtrieb dieser
Genitalzone wieder zu erwachen und dann wiederum eine Zeit-
lang bis zu einer neuen Unterdrückung anzuhalten oder sich
ohne Unterbrechung fortzusetzen. Die möglichen Verhältnisse
1) Ungewöhnliche Techniken bei der Ausführung der Onanie in späteren Jahren
scheinen auf den Einfluß eines überwundenen Onanieverbotes hinzuweisen.
Die zweite
Phase
64 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
sind sehr mannigfaltig und können nur durch genauere Zer-
gliederung einzelner Fälle erörtert werden. Aber alle Einzel-
heiten dieser zweiten infantilen Sexualbetätigung hinterlassen
die tiefsten (unbewußten) Eindrucksspuren im Gedächtnis der
Person, bestimmen die Entwicklung ihres Charakters, wenn sie
gesund bleibt, und die Symptomatik ihrer Neurose, wenn sie
nach der Pubertät erkrankt. 1 Im letzteren Falle findet man
diese Sexualperiode vergessen, die für sie zeugenden bewußten
Erinnerungen verschoben 5 — ich habe schon erwähnt, daß ich
auch die normale infantile Amnesie mit dieser infantilen Sexual-
betätigung in Zusammenhang bringen möchte. Durch psycho-
analytische Erforschung gelingt es, das Vergessene bewußt zu
machen und damit einen Zwang zu beseitigen, der vom unbe-
wußten psychischen Material ausgeht.
Wiederkehr rjj e Sexualerregung der Säuglingszeit kehrt in den bezeichneten
ler Säuglings- o o od
nasturbation Kinderjahren entweder als zentral bedingter Kitzelreiz wieder,
der zur onanistischen Befriedigung auffordert, oder als pollutions-
artiger Vorgang, der analog der Pollution der Reifezeit die
Befriedigung ohne Mithilfe einer Aktion erreicht. Letzterer Fall
ist der bei Mädchen und in der zweiten Hälfte der Kindheit
häufigere, in seiner Bedingtheit nicht ganz verständlich und
scheint oft — nicht regelmäßig — eine Periode früherer aktiver
Onanie zur Voraussetzung zu haben. Die Symptomatik dieser
Sexualäußerungen ist armselig; für den noch unentwickelten
Geschlechtsapparat gibt meist der Harnapparat, gleichsam als
sein Vormund, Zeichen. Die meisten sogenannten Blasenleiden
dieser Zeit sind sexuelle Störungen ; die Enuresis nocturna entspricht,
wo sie nicht einen epileptischen Anfall darstellt, einer Pollution.
1) Warum das Schuldbewußtsein der Neurotiker regelmäßig, wie noch kürzlich
Bleuler anerkannt hat, an die erinnerte onanistische Betätigung, meist der
Pubertätszeit, anknüpft, barrt noch einer erschöpfenden analytischen Aufklärung.
Der gröbste und wichtigste Faktor dieser Bedingtheit dürfte wohl die Tatsache
sein, daß die Onanie ja die Exekutive der ganzen infantilen Sexualität darstellt und
darum befähigt ist, das dieser anhaftende Schuldgefühl zu übernehmen.
Die infantile Sexualität 65
Für das Wiederauftreten der sexuellen Tätigkeit sind innere
TJrsachen und äußere Anlässe maßgebend, die beide in neuro-
tischen Erkrankungsfällen aus der Gestaltung der Symjrtome zu
erraten und durch die psychoanalytische Forschung mit Sicher-
heit aufzudecken sind. Von den inneren Ursachen wird später
die Rede sein; die zufälligen äußeren Anlässe gewinnen um
diese Zeit eine große und nachhaltige Bedeutung. Voran steht
der Einfluß der Verführung, die das Kind vorzeitig als Sexual-
objekt behandelt und es unter eindrucksvollen Umständen die
Befriedigung von den Genitalzonen kennen lehrt, welche sich
onanistisch zu erneuern es dann meist gezwungen bleibt. Solche
Beeinflussung kann von Erwachsenen oder anderen Kindern aus-
gehen ; ich kann nicht zugestehen, daß ich in meiner Abhandlung
1896 „Über die Ätiologie der Hysterie" die Häufigkeit oder die
Bedeutung derselben überschätzt habe, wenngleich ich damals
noch nicht wußte, daß normal gebliebene Individuen in ihren
Kinderjahren die nämlichen Erlebnisse gehabt haben können,
und darum die Verführung höher wertete als die in der sexuellen
Konstitution und Entwicklung gegebenen Faktoren. 1 Es ist selbst-
verständlich, daß es der Verführung nicht bedarf, um das Sexual-
leben des Kindes zu wecken, daß solche Erweckung auch spontan
aus inneren Ursachen vor sich gehen kann.
Es ist lehrreich, daß das Kind unter dem Einfluß der Ver- Pol y mor P h
perverse
führung polymorph pervers werden, zu allen möglichen Über-' Anlage
schreitungen verleitet werden kann. Dies zeigt, daß es die Eignung
dazu in seiner Anlage mitbringt; die Ausführung findet darum
1) Havelock Ellis bringt in einem Anhang zu seiner Studie über das
„Geschlechtsgefühl" (1903) eine Anzahl autobiographischer Berichte von später
vorwiegend normal gebliebenen Personen über ihre ersten geschlechtlichen Regungen
in der Kindheit und die Anlässe derselben. Diese Berichte leiden natürlich an dem
Mangel, daß sie die durcb die infantile Amnesie verdeckte, prähistorische Vorzeit des
Geschlechtslebens nicht enthalten, welche nur durch Psychoanalyse bei einem
neurotisch gewordenen Individuum ergänzt werden kann. Dieselben sind aber trotz-
dem in mebr als einer Hinsicht wertvoll und Erkundigungen der gleichen Art haben
mich zu der im Text erwähnten Modifikation meiner ätiologischen Annahmen
bestimmt.
F r e u d, Sexualtheorie. 6. Auflage. 5
66 Drei Abhandinngen zur Sexualtheorie
geringe Widerstände, weil die seelischen Dämme gegen sexuelle
Ausschreitungen, Scham, Ekel und Moral, je nach dem Alter
des Kindes noch nicht aufgeführt oder erst in Bildung begriffen
sind. Das Kind verhält sich hierin nicht anders als etwa das
unkultivierte Durchschnittsweib, bei dem die nämliche polymorph
perverse Veranlagung erhalten bleibt. Dieses kann unter den
gewöhnlichen Bedingungen etwa sexuell normal bleiben, unter
der Leitung eines geschickten Verführers wird es an allen Per-
versionen Geschmack finden und dieselben für seine Sexual-
betätigung festhalten. Die nämliche polymorphe, also infantile,
Anlage beutet dann die Dirne für ihre Berufstätigkeit aus, und
bei der riesigen Anzahl der prostituierten Frauen und. solcher,
denen man die Eignung zur Prostitution zusprechen muß, obwohl
sie dem Berufe entgangen sind, wird es endgültig unmöglich, in
■
der gleichmäßigen Anlage zu allen Perversionen nicht das
allgemein Menschliche und Ursprüngliche zu erkennen.
Partiaitriebe Im übrigen hilft der Einfluß der Verführung nicht dazu,
die anfänglichen Verhältnisse des Geschlechtstriebes zu enthüllen,
sondern verwirrt unsere Einsicht in dieselben, indem er dem
Kinde vorzeitig das Sexualobjekt zuführt, nach dem der infantile
Sexualtrieb zunächst kein Bedürfnis zeigt. Indes müssen wir
zugestehen, daß auch das kindliche Sexualleben, bei allem Über-
wiegen der Herrschaft erogener Zonen, Komponenten zeigt, für
welche andere Personen als Sexualobjekte von Anfang an in
Betracht kommen. Solcher Art sind die in gewisser Unabhängig-
keit von erogenen Zonen auftretenden Triebe der Schau- und
Zeigelust und der Grausamkeit, die in ihre innigen Beziehungen
zum Genitalleben erst später eintreten, aber schon in den Kinder-
jahren als zunächst von der erogenen Sexualtätigkeit gesonderte,
selbständige Strebungen bemerkbar werden. Das kleine Kind ist
vor allem schamlos und zeigt in gewissen frühen Jahren ein
unzweideutiges Vergnügen an der Entblößung seines Körpers
mit besonderer Hervorhebung der Geschlechtsteile. Das Gegen-
Die infantile Sexualität 67
stück dieser als pervers geltenden Neigung, die Neugierde,
Genitalien anderer Personen zu sehen, wird wahrscheinlich erst
in etwas späteren Kinderjahren offenkundig, wenn das Hindernis
des Schamgefühles bereits eine gewisse Entwicklung erreicht hat.
Unter dem Einfluß der Verführung kann die Schauperversion
eine große Bedeutung für das Sexualleben des Kindes erreichen.
Doch muß ich aus meinen Erforschungen der Kinder jähre
Gesunder wie neurotisch Kranker den Schluß ziehen, daß der
Schautrieb beim Kinde als spontane Sexualäußerung aufzutreten
vermag. Kleine Kinder, deren Aufmerksamkeit einmal auf die
eigenen Genitalien — meist masturbatorisch — gelenkt ist, pflegen
den weiteren Fortschritt ohne fremdes Dazutun zu treffen und
lebhaftes Interesse für die Genitalien ihrer Gespielen zu ent-
wickeln. Da sich die Gelegenheit, solche Neugierde zu befriedigen,
meist nur bei der Befriedigung der beiden exkrementellen
Bedürfnisse ergibt, werden solche Kinder zu Voyeurs, eifrigen
Zuschauern bei der Harn- und Kotentleerung anderer. Nach
eingetretener Verdrängung dieser Neigungen bleibt die Neugierde,
fremde Genitalien (des eigenen oder des anderen Geschlechtes)
zu sehen, als quälender Drang bestehen, der bei manchen neuro-
tischen Fällen dann die stärkste Triebkraft für die Symptom-
bildung abgibt.
In npch größerer Unabhängigkeit von der sonstigen, an
erogene Zonen gebundenen Sexualbetätigung entwickelt sich beim
Kinde die Grausamkeitskomponente des Sexualtriebes. Grausam-
keit liegt dem kindlichen Charakter überhaupt nahe, da das
Hemmnis, welches den Bemäch tigungstrieb vor dem Schmerz
des anderen haltmachen läßt, die Fähigkeit zum Mitleiden,
sich verhältnismäßig spät ausbildet. Die gründliche psycho-
logische Analyse dieses Triebes ist bekanntlich noch nicht geglückt;
wir dürfen annehmen, daß . die grausame Regung vom
Bemächtigungstrieb herstammt und zu einer Zeit im Sexualleben
auftritt, da die Genitalien noch nicht ihre spätere Rolle auf-
5'-
68 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
genommen haben. Sie beherrscht dann eine Phase des Sexual-
lebens, die wir später als prägenitale Organisation beschreiben
werden. Kinder, die sich durch besondere Grausamkeit gegen
Tiere und Gespielen auszeichnen, erwecken gewöhnlich mit Recht
den Verdacht auf intensive und vorzeitige Sexualbetätigung von
erogenen Zonen her, und bei gleichzeitiger Frühreife aller sexuellen
Triebe scheint die erogene Sexualbetätigung doch die primäre
zu sein. Der Wegfall der Mitleidsschranke bringt die Gefahr mit
sich, daß diese in der Kindheit erfolgte Verknüpfung der grau-
samen mit den erogenen Trieben sich späterhin im Leben als
unlösbar erweise.
Als eine erogene Wurzel des passiven Triebes zur Grausamkeit
(des Masochismus) ist die schmerzhafte Reizung der Gesäßhaut
allen Erziehern seit dem Selbstbekenntnis Jean Jacques Rousseaus
bekannt. Sie haben hieraus mit Recht die Forderung abgeleitet,
daß die körperliche Züchtigung, die zumeist diese Körperpartie
trifft, bei all den Kindern zu unterbleiben habe, bei denen durch
die späteren Anforderungen der Kulturerziehung die Libido auf
die kollateralen Wege gedrängt werden mag.' 1
1) Zu den obenstehenden Behauptungen über die infantile Sexualität war ich im
Jahre 1905 wesentlich durch die Resultate psychoanalytischer Erforschung von
Erwachsenen berechtigt. Die direkte Beobachtimg am Kinde konnte damals nicht
im vollen Ausmaß benützt werden und hatte nur vereinzelte Winke und wertvolle
Bestätigungen ergeben. Seither ist es gelungen, durch die Analyse einzelner Fälle
von nervöser Erkrankung im zarten Kindesalter einen direkten Einblick in die
infantile Psychosexualität zu gewinnen. Ich kann mit Befriedigung darauf verweisen,
daß die direkte Beobachtung die Schlüsse aus der Psychoanalyse voll bekräftigt und
somit ein gutes Zeugnis für die Verläßlichkeit dieser letzteren Förschungsmethode
abgegeben hat. — Die „Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben" [Bd. VIII
der Gesamtausgabe] hat überdies manches Neue gelehrt, worauf man von der
Psychoanalyse her nicht vorbereitet war, z. B. das Hinaufreichen einer sexuellen
Symbolik, einer Darstellung des Sexuellen durch nicht sexuelle Objekte und
Relationen bis in diese ersten Jahre der Sprachbeherrschung. Ferner wurde ich auf
einen Mangel der obenstehenden Darstellung aufmerksam gemacht, welche im
Interesse der Übersichtlichkeit die begriffliche Scheidung der beiden Phasen von
Autoerotismus und Objektliebe auch als eine zeitliche Trennung beschreibt.
Man erfährt aber aus den zitierten Analysen (sowie aus den Mitteilungen von
Bell s. o.), daß Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren einer sehr deutlichen,
von starken Affekten begleiteten Objekt wähl fähig sind.
Die infantile. Sexualität 6 g
Die infantile Sexualforschung
Um dieselbe Zeit, da das Sexualleben des Kindes seine erste Der wißtrieb
Blüte erreicht, vom dritten bis zum fünften Jahr, stellen sich
bei ihm auch die Anfänge jener Tätigkeit ein, die man dem
Wiß- oder Forschertrieb zuschreibt. Der Wißtrieb kann weder
zu den elementaren Triebkomponenten gerechnet noch ausschließlich
der Sexualität untergeordnet werden. Sein Tun entspricht einer-
seits einer sublimierten Weise der Bemächtigung, anderseits
arbeitet er mit der Energie der Schaulust. Seine Beziehungen •
zum Sexualleben sind aber besonders bedeutsame, denn wir
haben aus der Psychoanalyse erfahren, daß der Wißtrieb der
Kinder unvermutet früh und in unerwartet intensiver Weise
von den sexuellen Problemen angezogen, ja vielleicht erst durch
sie geweckt wird.
Nicht theoretische, sondern praktische Interessen sind es, die Das Rätsei
das Werk der Forschertätigkeit beim Kinde in Gang bringen. er p "
Die Bedrohung seiner Existenzbedingungen durch die erfahrene
oder vermutete Ankunft eines neuen Kindes, die Furcht vor
dem mit diesem Ereignis verbundenen Verlust an Fürsorge
und Liebe machen das Kind nachdenklich und scharfsinnig.
Das erste Problem, mit dem es sich beschäftigt, ist entsprechend
dieser Erweckungsgeschichte auch nicht die Frage des Geschlechts-
unterschiedes, sondern das Rätsel: Woher kommen die Kinder?
In einer Entstellung, die man leicht rückgängig machen kann,
ist dies auch das Rätsel, welches die thebaische Sphinx auf-
zugeben hat. Die Tatsache der beiden Geschlechter nimmt das
Kind vielmehr zunächst ohne Sträuben und Bedenken hin. Es
ist dem männlichen Kinde selbstverständlich, ein Genitale wie
das seinige bei allen Personen, die es kennt, vorauszusetzen, und
unmöglich, den Mangel eines solchen mit seiner Vorstellung
dieser anderen zu vereinen. Diese Überzeugung wird vom
Knaben energisch festgehalten, gegen die sich bald ergebenden
7° Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
thcorien
Widersprüche der Beobachtung hartnäckig verteidigt und erst
kLm'kx'md nach scnweren inneren Kämpfen (Kastrationskomplex) aufgegeben.
Die Ersatzbildungen dieses verloren gegangenen Penis des Weibes
spielen in der Gestaltung mannigfacher Perversionen eine große
Rolle. »
Die Annahme des nämlichen (männlichen) Genitales bei allen
Menschen ist die erste der merkwürdigen und folgenschweren
infantilen Sexualtheorien. Es nützt dem Kinde wenig, wenn die
biologische Wissenschaft seinem Vorurteile recht geben und die
weibliche Klitoris als einen richtigen Penisersatz anerkennen muß.
Das kleine Mädchen verfällt nicht in ähnliche Abweisungen,
wenn es das anders gestaltete Genitale des Knaben erblickt. Es
ist sofort bereit, es anzuerkennen, und es unterliegt dem Penis-
neide, der in dem für die Folge wichtigen Wunsch, auch ein
Bub zu sein, gipfelt.
S52Ü Viele Menscnen wissen deutlich zu erinnern, wie intensiv sie
sich in der Vorpubertätszeit für die Frage interessiert haben,
woher die Kinder kommen. Die anatomischen Lösungen lauteten
damals ganz verschiedenartig; sie kommen aus der Brust oder
werden aus dem Leib geschnitten oder der Nabel öffnet sich,
um sie durchzulassen. 3 An die entsprechende Forschung der frühen
Kinderjahre erinnert man sich nur selten außerhalb der Analyse;
sie ist längst der Verdrängung verfallen, aber ihre Ergebnisse
waren durchaus einheitliche. Man bekommt die Kinder, indem
man etwas Bestimmtes ißt (wie im Märchen), und sie werden
durch den Darm wie ein Stuhlabgang geboren. Diese kindlichen
Theorien mahnen an Einrichtungen im Tierreiche, speziell an
die Kloake der Typen, die niedriger stehen als die Säugetiere.
1) Man hat das Recht, auch von einem Kastrationskomplex bei Frauen zu sprechen.
Männliche wie weihliche Kinder bilden die Theorie, daß auch das Weib ursprünglich
einen Penis hatte, der durch Kastration verloren gegangen ist. Die endlich gewonnene
Überzeugung, daß das Weib keinen Penis besitzt, hinterläßt beim männlichen
Individuum oft eine dauernde Geringschätzung des anderen Geschlechts.
2) Der Reichtum an Sexualtheorien ist in diesen späteren Kinder jähren ein sehr
großer. Im Text sind hievon nur wenige Beispiele angeführt.
Die infantile Sexualität 71
Werden Kinder in so zartem Alter Zuschauer des sexuellen Sadistische
Auflassung
Verkehres zwischen Erwachsenen, wozu die Überzeugung der des Sexuai-
verkehrs
Großen, das kleine Kind könne noch nichts Sexuelles verstehen,
die Anlässe schafft, so können sie nicht umhin, den Sexualakt
als eine Art von Mißhandlung oder Überwältigung, also im
sadistischen Sinne aufzufassen. Die Psychoanalyse läßt uns auch
erfahren, daß ein solcher frühkindlicher Eindruck viel zur
Disposition für eine spätere sadistische Verschiebung des Sexual-
zieles beiträgt. Des weiteren beschäftigen sich Kinder viel mit
dem Problem, worin der Geschlechtsverkehr oder, wie sie es
erfassen, das Verheiratetsein bestehen mag, und suchen die
Lösung des Geheimnisses meist in einer Gemeinschaft, die durch
die Harn- oder Kotfunktion vermittelt wird.
Im allfi-emeinen kann man von den kindlichen Sexualtheorien Das typische
ö Mißlingen der
aussagen, daß sie Abbilder der eigenen sexuellen Konstitution kindlichen
des Kindes sind und trotz ihrer grotesken Irrtümer von mehr to ^ ng
Verständnis für die Sexualvorgänge zeugen, als man ihren Schöpfern
zugemutet hätte. Die Kinder nehmen auch die Schwangerschafts-
veränderungen der Mutter wahr und wissen sie richtig zu
deuten; die Storchfabel wird sehr oft vor Hörern erzählt, die
ihr ein tiefes, aber meist stummes Mißtrauen entgegenbringen.
Aber da der kindlichen Sexualforschung zwei Elemente unbe-
kannt bleiben, die Rolle des befruchtenden Samens und die
Existenz der weiblichen Geschlechtsöffnung, — die nämlichen
Punkte übrigens, in denen die infantile Organisation noch rück-
ständig ist — , bleibt das Bemühen der infantilen Forscher doch
regelmäßig unfruchtbar und endet in einem Verzicht, der nicht
selten eine dauernde Schädigung des Wißtriebes zurückläßt. Die
Sexualforschung dieser frühen Kinderjahre wird immer einsam
betrieben; sie bedeutet einen ersten Schritt zur selbständigen
Orientierung in der Welt und setzt eine starke Entfremdung
des Kindes von den Personen seiner Umgebung, die vorher sein
volles Vertrauen genossen hatten.
72 Drei Abhandlungen zur Srxual/heorie
Entwicklungsphasen der sexuellen Organisation
Wir haben bisher als Charaktere des infantilen Sexuallebens
hervorgehoben, daß es wesentlich autoerotisch ist (sein Objekt am
eigenen Leibe findet), und daß seine einzelnen Partialtriebe im
ganzen unverknüpft und unabhängig voneinander dem Lust-
erwerb nachstreben. Den Ausgang der Entwicklung bildet das
sogenannte normale Sexualleben des Erwachsenen, in welchem
der Lusterwerb in den Dienst der Fortpflanzungsfunktion getreten
ist, und die Partialtriebe unter dem Primat einer einzigen erogenen
Zone eine feste Organisation zur Erreichung des Sexualzieles an
einem fremden Sexualobjekt gebildet haben.
Prägenitale Das Studium der Hemmungen und Störungen in diesem Ent-
satfoTen wicklungsgange mit Hilfe der Psychoanalyse gestattet uns nun
Ansätze und Vorstufen einer solchen Organisation der Partialtriebe
zu erkennen, die gleichfalls eine Art von sexuellem Regime
ergeben. Diese Phasen der Sexualorganisation werden normaler-
weise glatt durchlaufen, ohne sich durch mehr als Andeutungen
zu verraten. Nur in pathologischen Fällen werden sie aktiviert
und für grobe Beobachtung kenntlich.
Organisationen des Sexuallebens, in denen die Genitalzonen noch
nicht in ihre vorherrschende Rolle eingetreten sind, wollen wir
prägenitale heißen. Wir haben bisher zwei derselben kennen
gelernt, die wie Rückfälle auf frühtierische Zustände anmuten.
Eine erste solche prägenitale Sexualorganisation ist die orale
oder, wenn wir wollen, kannibalische. Die Sexualtätigkeit
ist hier von der Nahrungsaufnahme noch nicht gesondert, Gegen-
sätze innerhalb derselben nicht differenziert. Das Objekt der einen
Tätigkeit ist auch das der anderen, das Sexualziel besteht in der
Einverleibung des Objektes, dem Vorbild dessen, was später-
hin als Identifizierung eine so bedeutsame psychische Rolle
spielen wird. Als Rest dieser fiktiven, uns durch die Pathologie
aufgenötigten Organisationsphase kann das Lutschen angesehen
Die infantile Sexualität 75
werden, in dem die Sexualtätigkeit, von der Ernährungstätigkeit
abgelöst, das fremde Objekt gegen eines am eigenen Körper auf-
gegeben hat. 1
Eine zweite prägenitale Phase ist die der sadistisch-analen
Organisation. Hier ist die Gegensätzlichkeit, welche das Sexual-
leben durchzieht, bereits ausgebildet; sie kann aber noch nicht
männlich und weiblich, sondern muß aktiv und passiv
benannt werden. Die Aktivität wird durch den Bemächtigungs-
trieb von Seiten der Körpermuskulatur hergestellt, als Organ mit
passivem Sexualziel macht sich vor allem die erogene Darm-
schleimhaut geltend; für beide Strebungen sind Objekte vorhanden,
die aber nicht zusammenfallen. Daneben betätigen sich andere
Partialtriebe in autoerotischer Weise. In dieser Phase sind also
die sexuelle Polarität und das fremde Objekt bereits nachweisbar.
Die Organisation und die Unterordnung unter die Fortpflanzungs-
funktion stehen noch aus. 2
Diese Form der Sexualorganisation kann sich bereits durchs Ambivaienr
Leben erhalten und ein großes Stück der Sexualbetätigung dauernd
an sich reißen. Die Vorherrschaft des Sadismus und die Kloaken-
rolle der analen Zone geben ihr ein exquisit archaisches Gepräge.
Als weiterer Charakter gehört ihr an, daß die Triebgegensatzpaare
in annähernd gleicher Weise ausgebildet sind, welches Verhalten
mit dem glücklichen, von Bleuler eingeführten Namen Ambi-
valenz bezeichnet wird.
Die Annahme der prägenitalen Organisationen des Sexuallebens
ruht auf der Analyse der Neurosen und ist unabhängig von
1) Vgl. über Reste dieser Phase bei erwachsenen Neurotikern die Arbeit von
Abraham, Untersuchungen über die früheste prägenitale Entwicklungsstufe der
Libido (Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse IV, 1916). In einer späteren Arbeit (Versuch
einer Entwicklungsgeschichte der Libido 1924) hat Abraham sowohl diese orale als
auch die. spätere sadistisch-anale Phase in zwei Unterabteilungen zerlegt, für welche
das verschiedene Verhalten zum Objekt charakteristisch ist.
a) Abraham macht (im letzterwähnten Aufsatze) darauf aufmerksam, daß der
After aus dem Urmund der embryonalen Anlagen hervorgeht, was wie ein bio-
logisches Vorbild der psychosexu eilen Entwicklung erscheint.
'
74 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
deren. Kenntnis kaum zu würdigen. Wir dürfen erwarten, daß
die fortgesetzte analytische Bemühung uns noch weit mehr Auf-
schlüsse über Aufbau und Entwicklung der normalen Sexual-
funktion vorbereitet.
Um das Bild des infantilen Sexuallebens zu vervollständigen,
muß man hinzunehmen, daß häufig oder regelmäßig bereits in
den Kinderjahren eine Objektwahl vollzogen wird, wie wir sie
als charakteristisch für die Entwicklungsphase der Pubertät hin-
gestellt haben, in der Weise, daß sämtliche Sexualbestrebungen
die Richtung auf eine einzige Person nehmen, an der sie ihre
Ziele erreichen wollen. Dies ist dann die größte Annäherung an
die definitive Gestaltung des Sexuallebens nach der Pubertät, die
in den Kinderjahren möglich ist. Der Unterschied von letzterer
liegt nur noch darin, daß die Zusammenfassung der Partialtriebe
und deren Unterordnung unter das Primat der Genitalien in
der Kindheit nicht oder nur sehr unvollkommen durch-
gesetzt wird. Die Herstellung dieses Primats im Dienste der
Fortpflanzung ist also die letzte Phase, welche die Sexual-
organisation durchläuft. 1
Man kann es als ein typisches Vorkommnis ansprechen, daß
die Objektwahl zweizeitig, in zwei Schüben erfolgt. Der erste
Schub nimmt in den Jahren zwischen zwei und fünf seinen
Anfang und wird durch die Latenzzeit zum Stillstand oder zur
Rückbildung gebracht; er ist durch die infantile Natur seiner
Sexualziele ausgezeichnet. Der zweite setzt mit der Pubertät ein
und bestimmt die definitive Gestaltung des Sexuallebens.
1) Diese Darstellung habe ich später (1925) selbst dahin verändert, daß ich nach
den beiden prägenitalen Organisationen in die Kindheitsentwicklung eine dritte Phase
einschaltete, welche bereits den Namen einer genitalen verdient, ein Sexualobjekt und
ein Maß von Konvergenz der Sexualstrebungen auf dies Objekt zeigt, sich aber in
einem wesentlichen Punkt von der definitiven Organisation der Geschlechtsreife unter-
scheidet. Sie kennt nämlich nur eine Art von Genitale, das männliche. Ich habe sie
darum die ph allische Organisationsstufe genannt [Die infantile Genitalorganisatiou.
Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse, IX, 1925; Gesamtausgabe Bd. V]. Ihr biologisches
Vorbild ist nach Abraham die indifferente für beide Geschlechter gleichartige
Genitalanlago des Embryos.
Die infantile Sexualität . 75
Die Tatsache der zweizeitigen Objekt wähl, die sich im
wesentlichen auf die Wirkung der Latenzzeit reduziert, wird
aber höchst bedeutungsvoll für die Störung dieses Endzustandes.
Die Ergebnisse der infantilen Objekt wähl ragen in die spätere
Zeit hinein; sie sind entweder als solche erhalten geblieben oder
sie erfahren zur Zeit der Pubertät selbst eine Auffrischung. Infolge
der Verdrängungsentwicklung, welche zwischen beiden Phasen
liest, erweisen sie sich aber als unverwendbar. Ihre Sexualziele
haben eine Milderung erfahren, und sie stellen nun das dar, was
wir als die zärtliche Strömung des Sexuallebens bezeichnen
können. Erst die psychoanalytische Untersuchung kann nach-
weisen, daß sich hinter dieser Zärtlichkeit, Verehrung und
Hochachtung die alten, > jetzt unbrauchbar" gewordenen Sexual -
strebungen der infantilen Partialtriebe verbergen. Die Objekt-
wahl der Pubertätszeit muß auf die infantilen Objekte verzichten
und als sinnliche Strömung von neuem beginnen. Das Nicht-
zusammentreffen der beiden Strömungen hat oft genug die Folge,
daß eines der Ideale des Sexuallebens, die Vereinigung aller
Begehrungen in einem Objekt, nicht erreicht werden kann.
Quellen der infantilen Sexualität
In dem Bemühen, die Ursprünge des Sexualtriebes zu verfolgen,
haben wir bisher gefunden, daß die sexuelle Erregung entsteht
a) als Nachbildung einer im Anschluß an andere organische
Vorgänge erlebten Befriedigung, b) durch geeignete peripherische
Reizung erogener Zonen, c) als Ausdruck einiger uns in ihrer
Herkunft noch nicht voll verständlicher „Triebe" wie der
Schautrieb und der Trieb zur Grausamkeit. Die aus späterer Zeit
auf die Kindheit zurückgreifende psychoanalytische Forschung und
die gleichzeitige Beobachtung des Kindes wirken nun zusammen, um
uns noch andere regelmäßig fließende Quellen für die sexuelle
Erregung aufzuzeigen. Die Kindheitsbeobachtung hat den Nach-
teil, daß sie leicht mißzuverstehende Objekte bearbeitet, die
7 6 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Psychoanalyse wird dadurch erschwert, daß sie zu ihren Objekten
wie zu ihren Schlüssen nur auf großen Umwegen gelangen kann;
in ihrem Zusammenwirken erzielen aber beide Methoden einen
genügenden Grad von Sicherheit der Erkenntnis.
Bei der Untersuchung der erogenen Zonen haben wir bereits
gefunden, daß diese Hautstellen bloß eine besondere Steigerung
einer Art von Reizbarkeit zeigen, welche in gewissem Grade der
ganzen Hautoberfläche zukommt. Wir werden also nicht erstaunt
sein zu erfahren, daß gewissen Arten allgemeiner Hautreizung
sehr deutliche erogene Wirkungen zuzuschreiben sind. Unter
diesen heben wir vor allem die Temperaturreize hervor; vielleicht
wird so auch unser Verständnis für die therapeutische Wirkung
warmer Bäder vorbereitet.
Meehanische Ferner müssen wir hier die Erzeugung sexueller Erregung
durch rhythmische mechanische Erschütterungen des Körpers
anreihen, an denen wir dreierlei Reizeinwirkungen zu sondern
haben, die auf den Sinnesapparat der Vestibularnerven, die auf
die Haut und auf die tiefen Teile (Muskeln, Gelenkapparate).
Wegen der dabei entstehenden Lustempfindungen — es ist der
Hervorhebung wert, daß wir hier eine ganze Strecke weit
„sexuelle Erregung" und „Befriedigung" unterschiedslos gebrauchen
dürfen, und legt uns die Pflicht auf, später nach einer Erklärung
zu suchen; — es ist also ein Beweis für die durch gewisse
mechanische Körpererschütterungen erzeugte Lust, daß Kinder
passive Bewegungsspiele, wie Schaukeln und Fliegenlassen, so sehr
lieben und unaufhörlich nach Wiederholung davon verlangen.'
Das Wiegen wird bekanntlich zur Einschläferung unruhiger
Kinder regelmäßig angewendet. Die Erschütterungen der Wagen-
fahrt und später der Eisenbahnfahrt üben eine so faszinierende
Wirkung auf ältere Kinder aus, daß wenigstens alle Knaben
irgend einmal im Leben Kondukteure und Kutscher werden
1) Manche Personen wissen sich zu erinnern, daß sie beim Schaiikeln den Anprall
der bewegten Luft an den Genitalien direkt als sexuelle Lust verspürt haben.
Die infantile Sexualität 77
wollen. Den Vorgängen auf der Eisenbahn pflegen sie ein rätsel-
haftes Interesse von außerordentlicher Höhe zuzuwenden und
dieselben im Alter der Phantasietätigkeit (kurz vor der Pubertät)
zum Kern einer exquisit sexuellen Symbolik zu machen. Der
Zwang zu solcher Verknüpfung des Eisenbahnfahrens mit der
Sexualität geht offenbar von dem Lustcharakter der Bewegungs-
empfindungen aus. Kommt dann die Verdrängung hinzu, die so
vieles von den kindlichen Bevorzugungen ins Gegenteil um-
schlagen läßt, so werden dieselben Personen als Heranwachsende
oder Erwachsene auf Wiegen und Schaukeln mit Üblichkeit
reagieren, durch eine Eisenbahnfahrt furchtbar erschöpft werden
oder zu Angstanfällen auf der Fahrt neigen und sich durch
Eisenbahnangst vor der Wiederholung der peinlichen Erfahrung
schützen.
Hier reiht sich dann — noch unverstanden — die Tatsache
an, daß durch Zusammentreffen von Schreck und mechanischer
Erschütterung die schwere hysteriforme traumatische Neurose
erzeugt wird. Man darf wenigstens annehmen, daß diese Einflüsse,
die in geringen Intensitäten zu Quellen sexueller Erregung werden,
in übergroßem Maße einwirkend eine tiefe Zerrüttung des
sexuellen Mechanismus oder Chemismus hervorrufen.
Daß ausgiebige aktive Muskelbetätigung für das Kind ein Muskei-
Bedürfnis ist, aus dessen Befriedigung es außerordentliche Lust
schöpft, ist bekannt. Ob diese Lust etwas mit der Sexualität zu
tun hat, ob sie selbst sexuelle Befriedigung einschließt oder
Anlaß zu sexueller Erregung werden kann, das mag kritischen
Erwägungen unterliegen, die sich ja auch wohl gegen die im
vorigen enthaltene Aufstellung richten werden, daß die Lust
durch die Empfindungen passiver Bewegung sexueller Art ist
oder sexuell erregend wirkt. Tatsache ist aber, daß eine Reihe
von Personen berichten, sie hätten die ersten Zeichen der
Erregtheit an ihren Genitalien während des Raufens oder Ringens
mit ihren Gespielen erlebt, in welcher Situation außer der
7# Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
allgemeinen Muskelanstrengung noch die ausgiebige Hautberührung
mit dem Gegner wirksam wird. Die Neigung zum Muskelstreit
mit einer bestimmten Person, wie in späteren Jahren zum Wort-
streit („Was sich liebt, das neckt sich"), gehört zu den guten
Vorzeichen der auf diese Person gerichteten Objektwahl. In der
Beförderung der sexuellen Erregung durch Muskeltätigkeit wäre
eine der Wurzeln des sadistischen Triebes zu erkennen. Für viele
Individuen wird die infantile Verknüpfung zwischen Raufen und
sexueller Erregung mitbestimmend für die später bevorzugte
Richtung ihres Geschlechtstriebes. 1
Minderem Zweifel unterliegen die weiteren Quellen sexueller
Erregung beim Kinde. Es ist leicht, durch gleichzeitige Beobachtung
wie durch spätere Erforschung festzustellen, daß alle intensiveren
Affektvorgänge, selbst die schreckhaften Erregungen auf die
Sexualität übergreifen, was übrigens einen Beitrag zum Verständnis
der pathogenen Wirkung solcher Gemütsbewegungen liefern kann.
Beim Schulkinde kann die Angst, geprüft zu werden, die Spannung
einer sich schwer lösenden Aufgabe, für den Durchbruch sexueller
Äußerungen wie für das Verhältnis zur Schule bedeutsam werden,
indem unter solchen Umständen häufig genug ein Reizgefühl
auftritt, welches zur Berührung der Genitalien auffordert, oder
ein pollutionsartiger Vorgang mit all seinen verwirrenden Folgen.
Das Benehmen der Kinder in der Schule, welches den Lehrern
Rätsel genug aufgibt, verdient überhaupt in Beziehung zur
keimenden Sexualität derselben gesetzt zu werden. Die sexuell
erregende Wirkung mancher an sich unlustiger Affekte, des
Angstigens, Schauderns, Grausens erhält sich bei einer großen
Anzahl Menschen auch durchs reife Leben und ist wohl die
1) Die Analyse der Fälle von neurotischer Gehstö'rung und Raumangst hebt den
Zweifel an der sexuellen Natur der Beweguugslust auf. Die moderne Kulturerziehung
bedient sich bekanntlich des Sports im großen Umfang, um die Jugend von der
Sexualbetätigung abzulenken; richtiger wäre es zu sagen, sie ersetzt ihr den Sexual-
genuß durch die Bewegungslust und drängt die Sexualbetätigung auf eine ihrer
autoerotischen Komponenten zurück.
Die infantile Sexualität. 79
Arbeit
Erklärung dafür, daß soviel Personen der Gelegenheit zu solchen
Sensationen nachjagen, wenn nur gewisse Nebenumstände (die
Angehörigkeit zu einer 'Scheinwelt, Lektüre, Theater) den Ernst
der Unlustempfindung dämpfen.-
Ließe sich annehmen, daß auch intensiven schmerzhaften
Empfindungen die gleiche erogene Wirkung zukommt, zumal
wenn der Schmerz durch eine Nebenbedingung abgetönt oder
ferner gehalten wird, so läge in diesem Verhältnis eine der
Haupt wurzeln für den masochistisch-sadistischen Trieb, in dessen
vielfältige Zusammengesetztheit wir so allmählich Einblick
gewinnen. 1
Endlich ist es unverkennbar, daß die Konzentration der intellektuell
Aufmerksamkeit auf eine intellektuelle Leistung und geistige
Anspannung überhaupt bei vielep jugendlichen wie reiferen
Personen eine sexuelle Miterregung zur Folge hat, die wohl als
die einzig berechtigte Grundlage für die sonst so zweifelhafte
Ableitung nervöser Störungen von geistiger „Überarbeitung" zu
gelten hat.
Überblicken wir nun nach diesen weder vollständig noch
vollzählig mitgeteilten Proben und Andeutungen die Quellen der
kindlichen Sexualerregung, so lassen sich folgende Allgemein-
heiten ahnen oder erkennen: Es scheint auf die ausgiebigste
Weise dafür gesorgt, daß der Prozeß der Sexualerregung
dessen Wesen uns nun freilich recht rätselhaft geworden ist — in
Gang gebracht werde. Es sorgen dafür vor allem in mehr oder
minder direkter Weise die Erregungen der sensiblen Ober-
flächen — Haut und Sinnesorgane — , am unmittelbarsten die
Reizeinwirkungen auf gewisse als erogene Zonen zu bezeichnende
Stellen. Bei diesen Quellen der Sexualerregung ist wohl die
Qualität der Reize das Maßgebende, wenngleich das Moment
der Intensität (beim Schmerz) nicht völlig gleichgültig ist. Aber
überdies sind Veranstaltungen im Organismus vorhanden, welche
1) (Der sogenannte „erogene" Masochismus).
80 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
zur Folge haben, daß die Sexualerregung als Nebenwirkung bei
einer großen Reihe innerer Vorgänge entsteht, sobald die
Intensität dieser Vorgänge nur gewisse quantitative Grenzen
überstiegen hat. Was wir die Partialtriebe der Sexualität genannt
haben, leitet sich entweder direkt aus diesen inneren Quellen
der Sexualerregung ab oder setzt sich aus Beiträgen von solchen
Quellen und von erogenen Zonen zusammen. Es ist möglich,
daß nichts Bedeutsameres im Organismus vorfällt, was nicht seine
Komponente zur Erregung des Sexualtriebes abzugeben hätte.
Es scheint mir derzeit nicht möglich, diese allgemeinen Sätze
zu größerer Klarheit und Sicherheit zu bringen, und ich mache
dafür zwei Momente verantwortlich, erstens die Neuheit der
ganzen Betrachtungsweise und zweitens den Umstand, daß uns
das Wesen der Sexualerregung völlig unbekannt ist. Doch möchte
ich auf zwei Bemerkungen nicht verzichten, welche Ausblicke
ins Weite zu eröffnen versprechen:
erschiedene a ) Sowie wir vorhin einmal die Möglichkeit sahen, eine
Sexualkon- °
Stationen Mannigfaltigkeit der angeborenen sexuellen Konstitutionen durch
die verschiedenartige Ausbildung der erogenen Zonen zu begründen,
so können wir nun das gleiche mit Einbeziehung der indirekten
Quellen der Sexualerregung versuchen. Wir dürfen annehmen,
daß diese Quellen zwar bei allen Individuen Zuflüsse liefern, aber
nicht alle bei allen Personen gleich starke, und daß in der
bevorzugten Ausbildung der einzelnen Quellen zur Sexualerregung
ein weiterer Beitrag zur Differenzierung der verschiedenen Sexual-
konstitutionen gelegen sein wird. 1
"semer C Be- b) Indem wir die solange festgehaltene figürliche Ausdrucks-
iinfiussung weise fallen lassen, in der wir von „Quellen" der Sexualerregung
1) Als unabweisbare Folgerung aus den obigen . Ausführungen ergibt sich, daß
jedem Individuum eine Oral-, Anal-, Harnerotik usw. zugesprochen werden muß,
und daß die Konstatierung der diesen entsprechenden seelischen Komplexe kein
Urteil auf Abnormität oder Neurose bedeutet. Die Unterschiede, die das Normale
vom Abnormen trennen, können nur in der relativen Stärke der einzelnen Kom-
ponenten des Sexualtriebes und in der Verwendung liegen, die sie im Laiife der
Entwicklung erfahren.
Die infantile Sexualität 81
sprachen, können wir auf die Vermutung gelangen, daß alle die
Verbindungswege, die von anderen Funktionen her zur Sexualität
führen, auch in umgekehrter Richtung gangbar sein müssen. Ist
wie zum Beispiel der beiden Funktionen gemeinsame Besitz der
Lippenzone der Grund dafür, daß bei der Nahrungsaufnahme
Sexualbefriedigung entsteht, so vermittelt uns dasselbe Moment
auch das Verständnis der Störungen in der Nahrungsaufnahme,
wenn die erogenen Funktionen der gemeinsamen Zone gestört
sind. Wissen wir einmal, daß Konzentration der Aufmerksamkeit
Sexualerregung hervorzurufen vermag, so wird uns die Annahme
nahegelegt, daß durch Einwirkung auf demselben Wege, nur in
umgekehrter Richtung, der Zustand der Sexualerregung die
Verfügbarkeit über die lenkbare Aufmerksamkeit beeinflußt. Ein
gutes Stück der Symptomatologie der Neurosen, die ich von
Störungen der Sexual Vorgänge ableite, äußert sich in Störungen
der anderen nicht sexuellen Körperfunktionen, und diese bisher
unverständliche Einwirkung wird minder rätselhalt, wenn sie nur
das Gegenstück zu den Beeinflussungen 1 darstellt, unter denen
die Produktion der Sexualerregung steht.
Die nämlichen W r ege aber, auf denen Sexualstörungen auf die
übrigen Körperfunktionen übergreifen, müßten auch in der
Gesundheit einer anderen wichtigen Leistung dienen. Auf ihnen
müßte sich die Heranziehung der sexuellen Triebkräfte zu
anderen als sexuellen Zielen, also die Sublimierung der Sexualität
vollziehen. Wir müssen mit dem Eingeständnis schließen, daß
über diese gewiß vorhandenen, wahrscheinlich nach beiden
Richtungen gangbaren Wege noch sehr wenig Sicheres bekannt ist.
Kreud, Sexuultheorie, 6. Auflage.
III
DIE UMGESTALTUNGEN DER PUBERTÄT
Mit dem Eintritt der Pubertät setzen die Wandlungen ein,
welche das infantile Sexualleben in seine endgültige normale
Gestaltung überführen sollen. Der Sexualtrieb war bisher vor-
wiegend autoerotisch, er findet nun das Sexualobjekt. Er betätigte
sich bisher von einzelnen Trieben und erogenen Zonen aus, die
unabhängig voneinander eine gewisse Lust als einziges Sexualziel
suchten. Nun wird ein neues Sexualziel gegeben, zu dessen
Erreichung alle Partialtriebe zusammenwirken, während \lie erogenen
Zonen sich dem Primat der Genitalzone unterordnen. 1 Da das
neue Sexualziel den beiden Geschlechtern sehr verschiedene
Funktionen anweist, geht deren Sexualentwicklung nun weit
auseinander. Die des Mannes ist die konsequentere, auch unserem
Verständnis leichter zugängliche, während beim Weibe sogar eine
Art Rückbildung auftritt. Die Normalität des Geschlechtslebens
wird nur durch das exakte Zusammentreffen der beiden auf
Sexualobjekt und Sexualziel gerichteten Strömungen, der zärt-
lichen und der sinnlichen, gewährleistet, von denen die erstere
in sich faßt, was von der infantilen Frühblüte der Sexualität
erübrigt. Es ist wie der Durchschlag eines Tunnels von beiden
Seiten her.
1) Die im Text gegebene schematische Darstellung will die Differenzen hervor-
heben. Inwieweit sich die infantile Sexualität durch ihre Objektwahl und die Ausbildung
der phallischen Phase der definitiven Sexualorganisation annähert, ist vorhin S. 74
ausgeführt worden.
Die Umgestaltungen der Pubertät , 85
Das neue Sexualziel besteht beim Manne in der Entladung '
der Geschlechtsprodukte ; es ist dem früheren, der Erreichung
von Lust keineswegs fremd, vielmehr ist der höchste Betrag
von Lust an diesen Endakt des Sexualvorganges geknüpft. Der
Sexualtrieb stellt sich jetzt in den Dienst der Fortpflanzungs-
funktion ^ er wird sozusagen altruistisch. Soll diese Umwandlung
gelingen, so muß beim Vorgang derselben mit den ursprüng-
lichen Anlagen und allen Eigentümlichkeiten der Triebe gerechnet
werden.
Wie bei jeder anderen Gelegenheit, wo im Organismus neue
Verknüpfungen und Zusammensetzungen zu komplizierten Mecha-
nismen stattfinden sollen, ist auch hier die Gelegenheit zu krank-
haften Störungen durch Unterbleiben dieser Neuordnungen gegeben.
Alle krankhaften Störungen des Geschlechtslebens sind mit gutem
Rechte als Entwicklungshemmungen zu betrachten.
Das Primat der Genitalzonen und die Vorlust
Von dem beschriebenen Entwicklungsgang liegen Ausgang und
Endziel klar vor unseren Augen. Die vermittelnden Übergänge
sind uns noch vielfach dunkel $ wir werden an ihnen mehr als
ein Rätsel bestehen lassen müssen.
Man hat das Auffälligste an den Pubertätsvorgängen zum
Wesentlichen derselben gewählt, das manifeste Wachstum der
äußeren Genitalien, an denen sich die Latenzperiode der Kindheit
durch relative Wachstumshemmung geäußert hatte. Gleichzeitig
ist die Entwicklung der inneren Genitalien so weit vorgeschritten,
daß sie Geschlechtsprodukte zu liefern, respektive zur Gestaltung
eines neuen Lebewesens aufzunehmen vermögen. Ein höchst
komplizierter Apparat ist so fertig geworden, der seiner Inan-
spruchnahme harrt.
Dieser Apparat soll durch Reize in Gang gebracht werden
und nun läßt uns die Beobachtung erkennen, daß Reize ihn auf
dreierlei Wegen angreifen können, von der Außenwelt her durch
6*
Sa, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Spannung
Erregung der uns schon bekannten erogenen Zonen, von dem
organischen Innern her auf noch zu erforschenden Wegen und
von dem Seelenleben aus, welches selbst eine Aufbewahrungs-
stätte äußerer Eindrücke und eine Aufnahmsstelle innerer Erregungen
darstellt. Auf allen drei Wegen wird das nämliche hervorgerufen,
ein Zustand, der als „sexuelle Erregtheit" bezeichnet wird und
sich durch zweierlei Zeichen kundgibt, seelische und somatische.
Das seelische Anzeichen besteht in einem eigentümlichen
Spannungsgefühl von höchst drängendem Charakter; unter den
mannigfaltigen körperlichen steht an erster Stelle eine Reihe von
Veränderungen an den Genitalien, die einen unzweifelhaften Sinn
haben, den der Bereitschaft, der Vorbereitung zum Sexualakt. (Die
Erektion des männliches Gliedes, das Feuchtwerden der Scheide.)
Die sexual- An den Spannungscharakter der sexuellen Erregtheit knüpft
ein Problem an, dessen Lösung ebenso schwierig wie für die
Auffassung der Sexualvorgänge bedeutsam wäre. Trotz aller in
der Psychologie darüber herrschenden Meinungsverschiedenheiten
muß ich daran festhalten, daß ein Spannungsgefühl den Unlust-
charakter an sich tragen muß. Für mich ist entscheidend, daß
ein solches Gefühl den Drang nach Veränderung der psychischen
Situation mit sich bringt, treibend wirkt, was dem Wesen der
empfundenen Lust völlig fremd ist. Rechnet man aber die
Spannung der sexuellen Erregtheit zu den Unlustgefühlen, so
stößt man sich an der Tatsache, daß dieselbe unzweifelhaft
lustvoll empfunden wird. Überall ist bei der durch die Sexual-
vorgänge erzeugten Spannung Lust dabei; selbst bei den
Vorbereitungsveränderungen der Genitalien ist eine Art von
Befriedigungsgefühl deutlich. Wie hängen nun diese Unlustspannung
und dieses Lustgefühl zusammen?
Alles, was mit dem Lust- und Unlustproblem zusammenhängt,
rührt an eine der wundesten Stellen der heutigen Psychologie.
Wir wollen versuchen, möglichst aus den Bedingungen des uns
vorliegenden Falles zu lernen und es vermeiden, dem Problem
Die Umgestaltungen der Pubertät 85
in seiner Gänze näher zu treten. 1 Werfen wir zunächst einen Blick
auf die Art, wie die erogenen Zonen sich der neuen Ordnung
einfügen. Ihnen fällt eine wichtige Rolle bei der Einleitung der
sexuellen Erregung zu. Die dem Sexualobjekt vielleicht entlegenste,
das Auge, kommt unter den Verhältnissen der Objektwerbung am
häufigsten in die Lage, durch jene besondere Qualität der Erregung,
deren Anlaß wir am Sexualobjekt als Schönheit bezeichnen, gereizt
zu werden. Die Vorzüge des Sexualobjektes werden darum auch
„Reize" geheißen. Mit dieser Reizung ist einerseits bereits Lust
verbunden, andererseits ist eine Steigerung der sexuellen Erregtheit
oder ein Hervorrufen derselben, wo sie noch fehlt, ihre Folge.
Kommt die Erregung einer anderen erogenen Zone, zum Beispiel
der tastenden Hand, hinzu, so ist der Effekt der gleiche, Lust-
empfindung einerseits, die sich bald durch die Lust aus den
Bereitschafts Veränderungen verstärkt, weitere Steigerung der Sexual-
spannung andererseits, die bald in deutlichste Unlust übergeht,
wenn ihr nicht gestattet wird, weitere Lust herbeizuführen. Durch-
sichtiger ist vielleicht noch ein anderer Fall, wenn zum Beispiel
bei einer sexuell nicht erregten Person eine erogene Zone, etwa
die Brusthaut eines Weibes, durch Berührung gereizt wird. Diese
Berührung ruft bereits ein Lustgefühl hervor, ist aber gleichzeitig
wie nichts anderes geeignet, die sexuelle Erregung zu wecken,
die nach einem Mehr von Lust verlangt. Wie es zugeht, daß die
empfundene Lust das Bedürfnis nach größerer Lust hervorruft,
das ist eben das Problem.
Die Rolle aber, die dabei den erogenen Zonen zufallt, ist klar. Vorlust-
mechanismus
Was für eine galt, gilt für alle. Sie werden sämtlich dazu ver-
wendet, durch ihre geeignete Reizung einen gewissen Betrag
von Lust zu liefern, von dem die Steigerung der Spannung
ausgeht, welche ihrerseits die nötige motorische Energie aufzubringen
1) Vgl,. einen Versuch zur Lösung dieses Problems in den einleitenden Bemerkungen
meines Aufsatzes „Das ökonomische Problem des Masochismus" 1924. [Intern. Zeitschr.
f. PsA., X; Gesamtausgabe Bd. V].
86 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
hat, um den Sexualakt zu Ende zu führen. Das vorletzte Stück
desselben ist wiederum die geeignete Reizung einer erogenen
Zone, der Genitalzone selbst an der Glans Penis, durch das dazu
geeignetste Objekt, die Schleimhaut der Scheide, und unter der
Lust, welche diese Erregung gewährt, wird diesmal auf reflekto-
rischem Wege die motorische Energie gewonnen, welche die
Herausbeförderung der Geschlechtsstoffe besorgt. Diese letzte Lust
ist ihrer Intensität nach die höchste, in ihrem Mechanismus
von der früheren verschieden. Sie wird ganz durch Entlastung
hervorgerufen, ist ganz Befriedigungslust und mit ihr erlischt
zeitweilig die Spannung der Libido.
Es scheint mir nicht unberechtigt, diesen Unterschied in dem
Wesen der Lust durch Erregung erogener Zonen und der anderen
bei Entleerung der Sexualstoffe durch eine Namengebung zu
fixieren. Die erstere kann passend als V o r 1 u s t bezeichnet werden
im Gegensatz zur Endlust oder Befriedigungslust der Sexual-
tätigkeit. Die Vorlust ist dann dasselbe, was bereits der infantile
Sexualtrieb, wenngleich in verjüngtem Maße, ergeben konnte 5
die Endlust ist neu, also wahrscheinlich an Bedingungen geknüpft,
die erst mit der Pubertät eingetreten sind. Die Formel für die
neue Funktion der erogenen Zonen lautete nun : Sie werden dazu
verwendet, um mittels der von ihnen wie im infantilen Leben
zu gewinnenden Vorlust die Herbeiführung der größeren Befrie-
digungslust zu ermöglichen. .
Ich habe vor kurzem ein anderes Beispiel, aus einem ganz
verschiedenen Gebiet des seelischen Geschehens erläutern können,
in welchem gleichfalls ein größerer Lusteffekt vermöge einer
geringfügigeren Lustempfindung, die dabei wie eine Verlockungs-
prämie wirkt, erzielt wird. Dort ergab sich auch die Gelegenheit,
auf das Wesen der Lust näher einzugehen. 1
1) Siehe meine 1905 erschienene Studie „Der Witz und seine Beziehung
zum Unbewußte n". (Band IX der Gesamtausgabe.) Die durch die "Witztechnik
gewonnene „Vorlust" wird dazu verwendet, eine größere Lust durch die Aufhebung
innerer Hemmungen frei zu machen.
Die Umgestaltungen der Pubertät. 87
Der Zusammenhang der Vorlust aber mit dem infantilen Gefahren
Sexualleben wird durch die pathogene Rolle, die ihr zufallen
kann, bekräftigt. Aus dem Mechanismus, in dem die Vorlust
aufgenommen ist, ergibt sich für die Erreichung des normalen
Sexualzieles offenbar eine Gefahr, die dann eintritt, wenn an
irgendeiner Stelle der vorbereitenden Sexualvorgänge die Vorlust
zu groß, ihr Spannungsanteil zu gering ausfallen sollte. Dann
entfällt die Triebkraft, um den Sexualvorgang weiter fortzusetzen,
der ganze Weg verkürzt sich, die betreffende vorbereitende Aktion
tritt an Stelle des normalen Sexualziels. Dieser schädliche Fall hat
erfahrungsgemäß zur Bedingung, daß die betreffende erogene Zone
oder der entsprechende Partialtrieb schon im infantilen Leben in
ungewöhnlichem Maße zur Lustgewinnung beigetragen hatte.
Kommen noch Momente hinzu, welche auf die Fixierung hin-
wirken, so entsteht leicht fürs spätere Leben ein Zwang, welcher
sich der Einordnung dieser einen Vorlust in einen neuen Zusammen-
hang widersetzt. Solcherart ist in der Tat der Mechanismus vieler
Perversionen, die ein Verweilen bei vorbereitenden Akten des
Sexualvorganges darstellen.
Das Fehlschlagen der Funktion des Sexualmechanismus durch
die Schuld der Vorlust wird am ehesten vermieden, wenn das
Primat der Genitalzonen gleichfalls bereits im infantilen Leben
voreezeichnet ist. Dazu scheinen die Anstalten wirklich in der
zweiten Hälfte der Kinderzeit (von acht Jahren bis zur Pubertät)
getroffen zu sein. Die Genitalzonen benehmen sich in diesen
Jahren bereits in ähnlicher Weise wie zur Zeit der Reife, sie
werden der Sitz von Erregungssensationen und Bereitschaftsver-
änderungen, wenn irgendwelche Lust durch Befriedigung anderer
erogener Zonen empfunden wird, obwohl dieser Effekt noch
zwecklos bleibt, das heißt nichts dazu beiträgt, den Sexualvorgang
fortzusetzen. Es entsteht also bereits in den Kinder jähren neben
der Befriedigungslust ein gewisser Betrag von Sexualspannung,
obwohl minder konstant und weniger ausgiebig, und nun 'können
88 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
wir verstehen, warum wir bei der Erörterung der Quellen der
Sexualität mit ebenso gutem Recht sagen konnten, der betreffende
Vorgang wirke sexuell befriedigend, wie er wirke sexuell erregend.
Wir merken, daß wir auf dem Wege zur Erkenntnis uns die
Unterschiede des infantilen und des reifen Sexuallebens zunächst
übertrieben groß vorgestellt haben, und tragen nun die Korrektur
nach. Nicht nur die Abweichungen vom normalen Sexualleben,
sondern auch die normale Gestaltung desselben wird durch die
infantilen Äußerungen der Sexualität bestimmt.
Das Problem der Sexualerregung
Es ist uns durchaus unaufgeklärt geblieben, woher die Sexual-
spannung rührt, die bei der Befriedigung erogener Zonen gleich-
zeitig mit der Lust entsteht, und welches das Wesen derselben
ist. 1 Die nächste Vermutung, diese Spannung ergebe sich irgendwie
aus der Lust selbst, ist nicht nur an sich sehr unwahrscheinlich,
sie. wird auch hinfällig, da bei der größten Lust, die an die
Entleerung der Geschlechtsprodukte geknüpft ist, keine Spannung
erzeugt, sondern alle Spannung aufgehoben wird. Lust und Sexual-
spannung können also nur in indirekter Weise zusammenhängen.
Roiie der Außer der Tatsache, daß normalerweise allein die Entlastung
von den Sexualstoffen der Sexualerregung ein Ende macht, hat
man noch andere Anhaltspunkte, die Sexualspannung in Beziehung
zu den Sexualprodukten zu bringen. Bei enthaltsamem Leben pflegt
der Geschlechtsapparat in wechselnden, aber nicht regellosen
Perioden nächtlicherweise sich unter Lustempfindung und während
der Traumhalluzination eines sexuellen Aktes der Sexualstoffe zu
entledigen, und für diesen Vorgang — die nächtliche Pollution —
1) Es ist überaus lehrreich, daß die deutsche Sprache der im Text erwähnten
Rolle der vorbereitenden sexuellen Erregungen, welche gleichzeitig einen Anteil
Befriedigung und einen Beitrag zur Sexualspannung liefern, im Gebrauche des Wortes
„Lust" Rechnung trägt. „Lust" ist doppelsinnig und bezeichnet ebensowohl die
Empfindung der Sexualspannung (Ich habe Lust = ich möchte, ich verspüre den
Drang) als auch die der Befriedigung.
Die Umgestaltungen der Pubertät 89
ist die Auffassung schwer abzuweisen, daß die Sexualspannung, die
den kurzen halluzinatorischen Weg zum Ersatz des Aktes zu finden
weiß, eine Funktion der Samenanhäufung in den Reservoirs für
die Geschlechtsprodukte sei. Im gleichen Sinne sprechen die
Erfahrungen, die man über die Erschöpfbarkeit des sexuellen
Mechanismus macht. Bei entleertem Samenvorrat ist nicht nur
die Ausführung des Sexualaktes unmöglich, es versagt auch die
Reizbarkeit der erogenen Zonen, deren geeignete Erregung dann
keine Lust hervorrufen kann. Wir erfahren so nebenbei, daß ein
gewisses Maß sexueller Spannung selbst für die Erregbarkeit der
erogenen Zonen erforderlich ist.
Man würde so zur Annahme gedrängt, die, wenn ich nicht
irre, ziemlich allgemein verbreitet ist, daß die Anhäufung der
Sexualstoffe die Sexualspannung schafft und unterhält, etwa indem
der Druck dieser Produkte auf die Wandung ihrer Behälter als
Reiz auf ein spinales Zentrum wirkt, dessen Zustand von höheren
Zentren wahrgenommen wird und dann für das Bewußtsein die
bekannte Spannungsempfindung ergibt. Wenn die Erregung
erogener Zonen die Sexualspannung steigert, so könnte dies nur
so zugehen, daß die erogenen Zonen in vorgebildeter anatomischer
Verbindung mit diesen Zentren stehen, den Tonus der Erregung
daselbst erhöhen, bei genügender Sexualspannung den sexuellen
Akt in Gang bringen und bei ungenügender die Produktion der
Geschlechtsstoffe anregen.
Die Schwäche dieser Lehre, die man z. B. in v. Kr äff t-
Ebings Darstellung der Sexualvorgänge angenommen findet,
liegt darin, daß sie, für die Geschlechtstätigkeit des reifen Mannes
geschaffen, auf dreierlei Verhältnisse wenig Rücksicht nimmt,
deren Aufklärung sie gleichfalls liefern sollte. Es sind dies die
Verhältnisse beim Kinde, beim Weibe und beim männlichen
Kastraten. In allen drei Fällen ist von einer Anhäufung von
Geschlechtsprodukten im gleichen Sinne wie beim Manne nicht
die Rede, was die glatte Anwendung des Schemas erschwert;
9° Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
der
Gesi
teile
doch ist ohneweiters zuzugeben, daß sich Auskünfte finden ließen,
welche die Unterordnung auch dieser Fälle ermöglichen würden.
Auf jeden Fall bleibt die Warnung bestehen, dem Faktor der
Anhäufung der Geschlechtsprodukte nicht Leistungen aufzubürden,
deren er unfähig scheint.
Einschätzung: Daß die Sexualerregung in beachtenswertem Grade unabhängig:
der inneren O t>
Geschlechts- von der Produktion der Geschlechtsstoffe sein kann, scheinen die
Beobachtungen an männlichen Kastraten zu ergeben, bei denen
gelegentlich die Libido der Beeinträchtigung durch die Operation
entgeht, wenngleich das entgegengesetzte Verhalten, das ja die
Operation motiviert, die Regel ist. Überdies weiß man ja längst,
daß Krankheiten, welche die Produktion der männlichen Geschlechts-
zellen vernichtet haben, die Libido und Potenz des nun sterilen
Individuums ungeschädigt lassen. Es ist dann keineswegs so ver-
wunderlich, wie C. Rieger es hinstellt, daß der Verlust der
männlichen Keimdrüsen im reiferen Alter ohne weiteren Einfluß
auf das seelische Verhalten des Individuums bleiben kann. Die
im zarten Alter vor der Pubertät vorgenommene Kastration nähert
sich zwar in ihrer Wirkung dem Ziel einer Aufhebung der
Geschlechtscharaktere, allein auch dabei könnte außer dem Verlust
der Geschlechtsdrüsen an sich eine mit deren Wegfall verknüpfte
Entwicklungshemmung anderer Faktoren in Betracht kommen.
Tierversuche mit Entfernung der Keimdrüsen (Hoden und
Ovarien) und entsprechend variierter Einpflanzung neuer solcher
Organe bei Wirbeltieren (s. das zitierte Werk von Lipschütz,
S. 13) haben endlich ein partielles Licht auf die Herkunft der
Sexualerregung geworfen und dabei die Bedeutung einer etwaigen
Anhäufung der zelligen Geschlechtsprodukte noch weiter zurück-
gedrängt. Es ist dem Experiment möglich geworden (E. St ein ach),
ein Männchen in ein Weibchen und umgekehrt ein Weibchen
in ein Männchen zu verwandeln, wobei sich das psychosexuelle
Verhalten des Tieres entsprechend den somatischen Geschlechts-
charakteren und gleichzeitig mit ihnen änderte. Dieser geschlechts-
Chemische
Theorie
Die Umgestaltungen der Pubertät 91
bestimmende Einfluß soll aber nicht dem Anteil der Keimdrüse
zukommen, welcher die spezifischen Geschlechtszellen (Samenfäden
und Ei) erzeugt, sondern dem interstitiellen Gewebe derselben,
welches darum von den Autoren als „Pubertätsdrüse" hervor-
gehoben wird. Es ist sehr wohl möglich, daß weitere Untersuchungen
ergeben, die Pubertätsdrüse sei normalerweise zwittrig angelegt,
wodurch die Lehre von der Bisexualität der höheren Tiere
anatomisch begründet würde, und es ist schon jetzt wahrscheinlich,
daß sie nicht das einzige Organ ist, welches mit der Produktion
der Sexualerregung und der Geschlechtscharaktere zu tun hat.
Jedenfalls schließt dieser neue biologische Fund an das an, was
wir schon vorher über die Rolle der Schilddrüse für die Sexualität
erfahren haben. Wir dürfen nun glauben, daß im interstitiellen
Anteil der Keimdrüsen besondere chemische Stoffe erzeugt werden,
die vom Blutstrom aufgenommen die Ladung bestimmter Anteile
des Zentralnervensystems mit sexueller Spannung zustande kommen
lassen wie wir ja solche Umsetzung eines toxischen Reizes in
einen besonderen Organreiz von anderen dem Körper als fremd
eingeführten Giftstoffen kennen. Wie die Sexualerregung durch
Reizung erogener Zonen bei vorheriger Ladung der zentralen
Apparate entsteht, und welche Verwicklungen von rein toxischen
und physiologischen Reizwirkungen sich bei diesen Sexualvorgängen
ergeben, das auch nur hypothetisch zu behandeln, kann keine
zeitgemäße Aufgabe sein. Es genüge uns als wesentlich an dieser
Auffassung der Sexualvorgänge, die Annahme besonderer, dem
Sexualstoffwechsel entstammender Stoffe festzuhalten. Denn diese
anscheinend willkürliche Aufstellung wird durch eine wenig
beachtete, aber höchst beachtenswerte Einsicht unterstützt. Die
Neurosen, welche sich nur auf Störungen des Sexuallebens
zurückführen lassen, zeigen die größte klinische Ähnlichkeit
mit den Phänomenen der Intoxikation und Abstinenz, welche
sich durch die habituelle Einführung Lust erzeugender Giftstoffe
(Alkaloide) ergeben.
9 2 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Die Libidotheorie
Mit diesen Vermutungen über die chemische Grundlage der
Sexualerregung stehen in guter Übereinstimmung die Hilfs-
vorstellungen, die wir uns zur Bewältigung der psychischen
Äußerungen des Sexuallebens geschaffen haben. Wir haben uns
den Begriff der Libido festgelegt als einer quantitativ ver-
änderlichen Kraft, welche Vorgänge und Umsetzungen auf dem
Gebiete der Sexualerregung messen könnte. Diese Libido sondern
wir von der Energie, die den seelischen Prozessen allgemein
unterzulegen ist, mit Beziehung auf ihren besonderen Ursprung
und verleihen ihr so auch einen qualitativen Charakter. In der
Sonderung von libidinöser und anderer psychischer Energie
drücken wir die Voraussetzung aus, daß sich die Sexualvorgänge
des Organismus durch einen besonderen Chemismus von den
Ernährungsvorgängen unterscheiden. Die Analyse der Perversionen
und Psychoneurosen hat uns zur Einsicht gebracht, daß diese
Sexualerregung nicht von den sogenannten Geschlechtsteilen
allein, sondern von allen Körperorganen geliefert wird. Wir bilden
uns also die Vorstellung eines Libidoquantums, dessen psychische
Vertretung wir die Ichlibido heißen, dessen Produktion,
Vergrößerung oder Verminderung, Verteilung und Verschiebung
uns die Erklärungsmöglichkeiten für die beobachteten psycho-
sexuellen Phänomene bieten soll.
Dem analytischen Studium bequem zugänglich wird diese Ich-
libido aber nur, wenn sie die psychische Verwendung zur Besetzung
von Sexualobjekten gefunden hat, also zur Objektlibido
geworden ist. Wir sehen sie dann sich auf Objekte konzentrieren,
an ihnen fixieren oder aber diese Objekte verlassen, von ihnen
auf andere übergehen und von diesen Positionen aus die Sexual-
betätigung des Individuums lenken, die zur Befriedigung, das
heißt zum partiellen und zeitweisen Erlöschen der Libido
führt. Die Psychoanalyse der sogenannten Übertragungsneurosen
(Hysterie und Zwangsneurose) gestattet uns hier einen sicheren
Einblick.
Von den Schicksalen der Objektlibido können wir noch erkennen,
daß sie von den Objekten abgezogen, in besonderen Spannüngs-
zuständen schwebend erhalten und endlich ins Ich zurückgeholt
wird, so daß sie wieder zur Ichlibido geworden ist. Die Ichlibido
heißen wir im Gegensatz zur Objektlibido auch narzißtische
Libido. Von der Psychoanalyse aus schauen wir wie über eine
Grenze, deren Überschreitung uns nicht gestattet ist, in das
Getriebe der narzißtischen Libido hinein und bilden uns eine
Vorstellung von dem Verhältnis der beiden. 1 Die narzißtische
oder Ichlibido erscheint uns als das große Reservoir, aus welchem
die Objektbesetzungen ausgeschickt und in welches sie wieder
einbezogen werden, die narzißtische Libidobesetzung des Ichs als
der in der ersten Kindheit realisierte Urzustand, welcher durch
die späteren Aussendungen der Libido nur verdeckt wird, im
Grunde hinter denselben erhalten geblieben ist.
Die Aufgabe einer Libidotheorie der neurotischen und psycho-
tischen Störungen müßte sein, alle beobachteten Phänomene und
erschlossenen Vorgänge in den Terminis der Libidoökonomie
auszudrücken. Es ist leicht zu erraten, daß den Schicksalen der,
Ichlibido dabei die größere Bedeutung zufallen wird, besonders
wo es sich um die Erklärung der tieferen psychotischen Störungen
handelt. Die Schwierigkeit liegt dann darin, daß das Mittel
unserer Untersuchung, die Psychoanalyse, uns vorläufig nur über
die Wandlungen an der Objektlibido sichere Auskunft bringt, 2
die Ichlibido aber von den anderen im Ich wirkenden Energien
nicht ohneweiters zu scheiden vermag. 3 Eine Fortführung der
i) Diese Beschränkung hat nicht mehr ihre frühere Giltigkeit, seitdem auch andere
als die „Übertragungsneurosen" der Psychoanalyse in größerem Ausmaße zugänglich
geworden sind.
2) Siehe obige Anmerkung.
3) S. Zur Einführung des Narzißmus, Jahrbuch der Psychoanalyse VI, 1915. [Bd. VI
der Gesamtausgabe.] — Der Terminus „Narzißmus" ist nicht, wie dort irrtümlich
angegeben, von Naecke, sondern von H. Ellis geschaffen worden.
94 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Libidotheorie ist deshalb vorläufig nur auf dem Wege der
Spekulation möglich. Man verzichtet aber auf allen Gewinn aus
der bisherigen psychoanalytischen Beobachtung, wenn man nach
dem Vorgang von C. G. Jung den Begriff der Libido selbst
verflüchtigt, indem man sie mit der psychischen Triebkraft über-
haupt zusammenfallen läßt.
Die Sonderung der sexuellen Triebregungen von den anderen
und somit die Einschränkung des Begriffes Libido auf diese
ersteren findet eine starke Unterstützung in der vorhin erörterten
Annahme eines besonderen Chemismus der Sexualfunktion.
Differenzierung von Mann und Weib
Es ist bekannt, daß erst mit der Pubertät sich die scharfe
Sonderung des männlichen und weiblichen Charakters herstellt,
ein Gegensatz, der dann wie kein anderer die Lebensgestaltung
der Menschen entscheidend beeinflußt. Männliche und weibliche
Anlage sind allerdings schon im Kindesalter gut kenntlich.; die
Entwicklung der Sexualitätshemmungen (Scham, Ekel, Mitleid usw.)
erfolgt beim kleinen Mädchen frühzeitiger und gegen geringeren
Widerstand als beim Knaben; die Neigung zur Sexualverdrängung
erscheint überhaupt größer; wo sich Partialtriebe der Sexualität
bemerkbar machen, bevorzugen sie die passive Form. Die auto-
erotische Betätigung der erogenen Zonen ist aber bei beiden
Geschlechtern die nämliche und durch diese Übereinstimmung
ist die Möglichkeit eines Geschlechtsunterschiedes, wie er sich
nach der Pubertät herstellt, für die Kindheit aufgehoben. Mit
Rücksicht auf die autoerotischen und masturbatorischen Sexual-
äußerungen könnte man den Satz aufstellen, die Sexualität der
kleinen Mädchen habe durchaus männlichen Charakter. Ja, wüßte
man den Begriffen „männlich und weiblich" einen bestimmteren
Inhalt zu geben, so ließe sich auch die Behauptung vertreten,
die Libido sei regelmäßig und gesetzmäßig männlicher Natur,
ob sie nun beim Manne oder beim Weibe vorkomme und
Die Urngestaltungen der Pubertät 95
abgesehen von ihrem Objekt, mag dies der Mann oder das
Weib sein. 1
Seitdem ich mit dem Gesichtspunkte der Bisexualität bekannt
geworden bin, halte ich dieses Moment für das hier maßgebende
und meine, ohne der Bisexualität Rechnung zu tragen, wird man
kaum zum Verständnis der tatsächlich zu beobachtenden Sexual-
äußerungen von Mann und Weib gelangen können.
Von diesem abgesehen, kann ich nur noch folgendes hinzufügen : Leiuonen
. „ • ., bei Mann und
Die leitende erogene Zone ist auch beim weiblichen Kinde an Weib
der Klitoris gelegen, der männlichen Genitalzone an der Eichel
also homolog. Alles, was ich über Masturbation bei kleinen
Mädchen in Erfahrung bringen konnte, betraf die Klitoris und
nicht die für die späteren Geschlechtsfunktionen bedeutsamen
Partien des äußeren Genitales. Ich zweifle selbst daran, daß das
weibliche Kind unter dem Einflüsse der Verführung zu etwas
anderem als zur Klitorismasturbation gelangen kann, es sei
denn ganz ausnahmsweise. Die gerade bei kleinen Mädchen so
häufigen Spontanentladungen der sexuellen Erregtheit äußern
1) Es ist unerläßlich, sich klar zu machen, daß die Begriffe „männlich" und
„weiblich", deren Inhalt der gewöhnlichen Meinung so unzweideutig erscheint, in
der Wissenschaft zu den verworrensten gehören und nach mindestens drei
Richtungen zu zerlegen sind. Man gehraucht männlich und weiblich bald im Sinne
von Aktivität und Passivität, bald im biologischen imd dann auch im
soziologischen Sinne. Die erste dieser drei Bedeutungen ist die wesentliche
und die in der Psychoanalyse zumeist verwertbare. Ihr entspricht es, wenn die Libido
oben im Text als männlich bezeichnet wird, denn der Trieb ist immer aktiv, auch
wo er sich ein passives Ziel gesetzt hat. Die zweite, biologische Bedeutimg von
männlich imd weiblich ist die, welche die klarste Bestimmimg zuläßt. Männlich und
weiblich sind hier durch die Anwesenheit der Samen-, respektive Eizelle und durch
die von ihnen ausgehenden Funktionen charakterisiert. Die Aktivität imd ihre Neben-
äußerungen, stärkere Muskelentwicklung, Aggression, größere Intensität der Libido,
sind in der Regel mit der biologischen Männliclikeit verlötet, aber nicht notwendiger-
weise verknüpft, denn es gibt Tiergaltungen, bei denen diese Eigenschaften vielmehr
dem Weibchen zugeteilt sind. Die dritte, soziologische Bedeutimg erhält ihren Inhalt
durch die Beobachtung der wirklich existierenden männlichen und weiblichen Individuen.
Diese ergibt für den Menschen, daß weder im psychologischen noch im biologischen
Sinne eine reine Männlichkeit oder Weiblichkeit gefunden wird. Jede Einzelperson
weist vielmehr eine Vermengung ihres biologischen Geschlechtscharakters mit bio-
logischen Zügen des anderen Geschlechts und eine Vereinigung von Aktivität und
Passivität auf, sowohl insofern diese psychischen Charakterzüge von den biologischen
abhängen als auch insoweit sie unabhängig von ihnen sind.
g 6 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
sich in Zuckungen der Klitoris, und die häufigen Erektionen
derselben ermöglichen es den Mädchen, die Sexualäußerungen
des anderen Geschlechts auch ohne Unterweisung richtig zu
beurteilen, indem sie einfach die Empfindungen der eigenen
Sexualvorgänge auf die Knaben übertragen.
Will man das Weibwerden des kleinen Mädchens verstehen,
so muß man die weiteren Schicksale dieser Klitoriserregbarkeit
verfolgen. Die Pubertät, welche dem Knaben jenen großen Vorstoß
der Libido bringt, kennzeichnet sich für das Mädchen durch eine
neuerliche Verdrängungswelle, von der gerade die Klitoris-
sexualität betroffen wird. Es ist ein Stück männlichen Sexual-
lebens, was dabei der Verdrängung verfällt. Die bei dieser
Pubertätsverdrängung des Weibes geschaffene Verstärkung der
Sexualhemmnisse ergibt dann einen Reiz für die Libido des
Mannes und nötigt dieselbe zur Steigerung ihrer Leistungen i
mit der Höhe der Libido steigt dann auch die Sexual Über-
schätzung, die nur für das sich weigernde, seine Sexualität
verleugnende Weib im vollen Maße zu haben ist. Die Klitoris
behält dann die Rolle, wenn sie beim endlich zugelassenen
Sexualakt selbst erregt wird, diese Erregung an die benachbarten
weiblichen Teile weiter zu leiten, etwa wie ein Span Kienholz
dazu benützt werden kann, das härtere Brennholz in Brand zu
setzen. Es nimmt oft eine gewisse Zeit in Anspruch, bis sich
diese Übertragung vollzogen hat, während welcher dann das junge
Weib anästhetisch ist. Diese Anästhesie kann eine dauernde werden,
wenn die Klitoriszone ihre Erregbarkeit abzugeben sich weigert,
was gerade durch ausgiebige Betätigung im Kinderleben vor-
bereitet wird. Es ist bekannt, daß die Anästhesie der Frauen
häufig nur eine scheinbare, eine lokale ist. Sie sind anästhetisch
am Scheideneingang, aber keineswegs unerregbar von der Klitoris
oder selbst von anderen Zonen aus. Zu diesen erogenen Anlässen
der Anästhesie gesellen sich dann noch die psychischen, gleichfalls
durch Verdrängung bedingten.
Die Umgestaltungen der Pubertät an
Ist die Übertragung der erogenen Reizbarkeit von der Klitoris
auf den Scheideneingang gelungen, so hat damit das Weib seine
für die spätere Sexualbetätigung leitende Zone gewechselt, während
der Mann die seinige von der Kindheit an beibehalten hat. In
diesem Wechsel der leitenden erogenen Zone sowie in dem
Verdrängungsschub der Pubertät, der gleichsam die infantile
Männlichkeit beiseite schafft, liegen die Hauptbedingungen für
die Bevorzugung des Weibes zur Neurose, insbesondere zur
Hysterie. Diese Bedingungen hängen also mit dem Wesen der
Weiblichkeit innigst zusammen.
Die Objektfindung
Während durch die Pubertätsvorgänge das Primat der Genital-
zonen festgelegt wird und das Vordrängen des erigiert gewordenen
Gliedes beim Manne gebieterisch auf das neue Sexualziel
hinweist, auf das Eindringen in eine die Genitalzone erregende
Körperhöhle, vollzieht sich von psychischer Seite her die Objekt-
findung, für welche von der frühesten Kindheit an vorgearbeitet
worden ist. Als die anfänglichste Sexualbefriedigung noch mit
der Nahrungsaufnahme verbunden war, hatte der Sexualtrieb
ein Sexualobjekt außerhalb des eigenen Körpers in der Mutter-
brust. Er verlor es nur später, vielleicht gerade zur Zeit, als es
dem Kinde möglich wurde, die Gesamtvorstellung der Person,
welcher das ihm Befriedigung spendende Organ angehörte, zu
bilden. Der Geschlechtstrieb wird dann in der Regel autoerotisch
und erst nach Überwindung der Latenzzeit stellt sich das
ursprüngliche Verhältnis wieder her. Nicht ohne guten Grund
ist das Saugen des Kindes an der Brust der Mutter vorbildlich
für jede Liebesbeziehung geworden. Die Objektfindung ist
eigentlich eine Wiederfindung. 1
1) Die Psychoanalyse lehrt, daß es zwei Wege der Objektfindung: gibt, erstens
die im Text besprochene, die in Anlehnung an die frühinfantilen Vorbilder vor
sich geht, und zweitens die narzißtische, die das eigeneich sucht und im
Freud, Sexualtheorie, 6. Auflage. 7
98 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Sexualobjekt Aber von dieser ersten und wichtigsten aller sexuellen
ssugiingszeit Beziehungen bleibt auch nach der Abtrennung der Sexual-
tätigkeit von der Nahrungsaufnahme ein wichtiges Stück übrig,
welches die Objektwahl vorbereiten, das verlorene Glück also
wiederherstellen hilft. Die ganze Latenzzeit über lernt das Kind
andere Personen, die seiner Hilflosigkeit abhelfen und seine
Bedürfnisse befriedigen, lieben, durchaus nach dem Muster und
in Fortsetzung seines Säuglingsverhältnisses zur Amme. Man
wird sich vielleicht sträuben wollen, die zärtlichen Gefühle und
die Wertschätzung des Kindes für seine Pflegepersonen mit der
geschlechtlichen Liebe zu identifizieren, allein ich meine, eine
genauere psychologische Untersuchung wird diese Identität über
jeden Zweifel hinaus feststellen können. Der Verkehr des Kindes
mit seiner Pflegeperson ist für dasselbe eine unaufhörlich fließende
Quelle sexueller Erregung und Befriedigung von erogenen Zonen
aus, zumal da letztere — in der Regel doch die Mutter — das
Kind selbst mit Gefühlen bedenkt, die aus ihrem Sexualleben
stammen, es streichelt, küßt und wiegt und ganz deutlich zum
Ersatz für ein vollgültiges Sexualobjekt nimmt. 1 Die Mutter
würde wahrscheinlich erschrecken, wenn man ihr die Aufklärung
gäbe, daß sie mit all ihren Zärtlichkeiten den Sexualtrieb ihres
Kindes weckt und dessen spätere Intensität vorbereitet. Sie hält
ihr Tun für asexuelle „reine" Liebe, da sie es doch sorgsam
vermeidet, den Genitalien des Kindes mehr Erregungen zuzuführen,
als bei der Körperpflege unumgänglich ist. Aber der Geschlechts-
trieb wird nicht nur durch Erregung der Genitalzone geweckt,
wie wir ja wissen; was wir Zärtlichkeit heißen, wird unfehlbar
eines Tages seine Wirkung auch auf die Genitalzonen äußern.
anderen wiederfindet. Diese letztere hat eine besonders große Bedeutung für
die pathologischen Ausgänge, fügt sich aber nicht in den liier behandelten
Zusammenhang.
1) Wem .diese Auffassung „frevelhaft" dünkt, der lese die fast gleichsinnige
Behandlung des Verhältnisses zwischen Mutter und Kind bei Havelock Ellis
nach. (Das Geschlechtsgefühl, S. i6.)
Die Umgestaltungen der Pubertät 99
Verstünde die Mutter mehr von der hohen Bedeutung der Triebe
für das gesamte Seelenleben, für alle ethischen und psychischen
Leistungen, so würde sie sich übrigens auch nach der Aufklärung
alle Selbstvorwürfe ersparen. Sie erfüllt nur ihre Aufgabe, wenn
sie das Kind lieben lehrt ; es soll ja ein tüchtiger Mensch mit
energischem Sexualbedürfnis werden und in seinem Leben all
das vollbringen, wozu der Trieb den Menschen drängt. Ein Zuviel
von elterlicher Zärtlichkeit wird freilich schädlich werden, indem
es die sexuelle Reifung beschleunigt, auch dadurch, daß es das
Kind „verwöhnt", es unfähig macht, im späteren Leben auf
Liebe zeitweilig zu verzichten oder sich mit einem geringeren
Maß davon zu begnügen. Es ist eines der besten Vorzeichen
späterer Nervosität, wenn das Kind sich unersättlich in seinem
Verlangen nach Zärtlichkeit der Eltern erweist, und anderseits
werden gerade neuropathische Eltern, die ja meist zur maßlosen
Zärtlichkeit meigen, durch ihre Liebkosungen die Disposition des
Kindes zur neurotischen Erkrankung am ehesten erwecken. Man
ersieht übrigens aus diesem Beispiel, daß es für neurotische Eltern
direktere Wege als den der Vererbung gibt, ihre Störung auf
die Kinder zu übertragen.
Die Kinder selbst benehmen sich von frühen Jahren an, als In ^ t e
sei ihre Anhänglichkeit an ihre Pflegepersonen von der Natur
der sexuellen Liebe. Die Angst der Kinder ist ursprünglich nichts
anderes als der Ausdruck dafür, daß sie die geliebte Person
vermissen; sie kommen darum jedem Fremden mit Angst entgegen;
sie fürchten sich in der Dunkelheit, wejJ man in dieser die
geliebte Person nicht sieht, und lassen sich beruhigen, wenn sie
dieselbe in der Dunkelheit bei der Hand fassen können. Man
überschätzt die Wirkung aller Kinderschrecken und gruseligen
Erzählungen der Kinderfrauen, wenn man diesen Schuld gibt,
daß sie die Ängstlichkeit der Kinder erzeugen. Kinder, die zur
Ängstlichkeit neigen, nehmen nur solche Erzählungen auf, die
an anderen durchaus nicht haften wollen; und zur Ängstlichkeit
-•
•
ioo Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
neigen nur Kinder mit übergroßem oder vorzeitig entwickeltem
oder durch Verzärtelung anspruchsvoll gewordenem Sexualtrieb.
Das Kind benimmt sich hiebei wie der Erwachsene, indem es
seine Libido in Angst verwandelt, sowie es sie nicht zur
Befriedigung zu bringen vermag, und der Erwachsene wird sich
dafür, wenn er durch unbefriedigte Libido neurotisch geworden
ist, in seiner Angst wie ein Kind benehmen, sich zu fürchten
beginnen, sowie er allein, das heißt ohne eine Person ist, deren
Liebe er sicher zu sein glaubt, und diese seine Angst durch die
kindischesten Maßregeln beschwichtigen wollen. 1
Wenn die Zärtlichkeit der Eltern zum Kinde es glücklich
vermieden hat, den Sexualtrieb desselben vorzeitig, das heißt ehe
die körperlichen Bedingungen der Pubertät gegeben sind, in
solcher Stärke zu wecken, daß die seelische Erregung in unver-
kennbarer Weise zum Genitalsystem durchbricht, so kann sie ihre
Aufgabe erfüllen, dieses Kind im Alter der Reife bei der Wahl
des Sexualobjekts zu leiten. Gewiß läge es dem Kinde am
nächsten, diejenigen Personen selbst zu Sexualobjekten zu wählen,
die es mit einer sozusagen abgedämpften Libido seit seiner Kindheit
liebt. 2 Aber durch den Aufschub der sexuellen Reifung ist die
Zeit gewonnen worden, neben anderen Sexualhemmnissen die
Inzestschranke aufzurichten, jene moralischen Vorschriften in sich
aufzunehmen, welche die geliebten Personen der Kindheit als
1) Die Aufklärung über die Herkunft der kindlichen Angst verdanke ich einem
dreijährigen Knaben, den ich einmal aus einem dunklen Zimmer bitten hörte :
„Tante, sprich mit mir; ich fürchte mich, weil es so dunkel ist." Die Tante rief
ihn an: „Was hast du denn davon? Du siehst mich ja nicht." „Das macht nichts,"
antwortete das Kind, „wenn jemand spricht, wird es hell." — Er fürchtete sich also
nicht vor der Dunkelheit, sondern weil er eine geliebte Person vermißte, und konnte
versprechen sich zu beruhigen, sobald er einen Beweis von deren Anwesenheit
empfangen hatte. — Daß die neurotische Angst aus der Libido entsteht, ein Um-
wandlungsprodukt, derselben darstellt, sich also etwa so zu ihr verhält, wie der Essig
zum .Wein, ist eines der bedeutsamsten Resultate der psychoanalytischen Forschung.
Eine weitere Diskussion dieses Problems siehe in meinen „Vorlesungen zur Ein-
führung in die Psychoanalyse" 1917 [Bd. VII der Gesamtausgabe], woselbst wohl
auch nicht die endgültige Aufklärung erreicht worden ist.
2) Vgl. hiezu das auf S. 75 über die Objektwahl des Kindes Gesagte : die
„zärtliche Strömung".
■
Die Umgestaltungen der Pubertät . 101
Blutsverwandte ausdrücklich von der Objektwahl ausschließen.
Die Beachtung dieser Schranke ist vor allem eine Kulturforderung
der Gesellschaft, welche sich gegen die Aufzehrung von Interessen
durch die Familie wehren muß, die sie für die Herstellung höherer
sozialer Einheiten braucht, und darum mit allen Mitteln dahin wirkt,
bei jedem einzelnen, speziell beim Jüngling, den in der Kindheit
allein maßgebenden Zusammenhang mit seiner Familie zu lockern. 1
Die Objektwahl wird aber zunächst in der Vorstellung voll-
zogen und das Geschlechtsleben der eben reifenden Jugend hat
kaum einen anderen Spielraum, als sich in Phantasien, das heißt
in nicht zur Ausführung bestimmten Vorstellungen zu ergehen. 2
In diesen Phantasien treten bei allen Menschen die infantilen
1) Die Inzestschranke gehört wahrscheinlich zu den historischen Erwerbungen der
Menschheit und dürfte wie andere Moraltabu bereits bei vielen Individuen durch
organische Vererbung fixiert sein. [Vgl. meine Schrift: Totem und Tabu 1915,
Bd. X der Gesamtausgabe.] Doch zeigt die psychoanalytische Untersuchung, wie
intensiv noch der einzelne in seinen Entwicklungszeiten mit der Inzestversuchung ringt,
und wie häufig er sie in Phantasien und selbst in der Realität übertritt.
2) Die Phantasien der Pubertätszeit knüpfen an die in der Kindheit verlassene
infantile Sexualforschung an, reichen wohl auch ein Stück in die Latenzzeit zurück.
Sie können ganz oder zum großen Teil unbewußt gehalten werden, entziehen sich
darum häufig einer genauen Datierung. Sie haben große Bedeutung für die Entstehung
mannigfaltiger Symptome, indem sie geradezu die Vorstufen derselben abgeben, also
die Formen herstellen, in denen die verdrängten Libidokomponenten ihre Befriedigung
finden. Ebenso sind sie die Vorlagen der nächtlichen Phantasien, die als Träume bewußt
werden. Traume sind häufig nichts anderes als Wiederbelebungen solcher Phantasien
unter dem Einfluß und in Anlehnung an einen aus dem Wachleben erübrigten
Tagesreiz („Tagesreste"). — Unter den sexuellen Phantasien der Pubertätszeit ragen
einige hervor, welche durch allgemeinstes Vorkommen und weitgehende Unab-
hängigkeit vom Erleben des Einzelnen ausgezeichnet sind. So die Phantasien von
der Belauschung des elterlichen Geschlechtsverkehrs, von der "frühen Verführimg
durch geliebte Personen, von der Kastrationsdrohimg, die Mutterleibsphantasien,
deren Inhalt Verweilen und selbst Erlebnisse im Mutterleib sind, und der sogenannte
„Familienroman", in welchem der Heranwachsende auf den Unterschied seiner
Einstellung zu den Eltern jetzt und in der Kindheit reagiert. Die nahen Beziehungen
dieser Phantasien zum Mythus hat für das letzte Beispiel O. Rank in seiner Schrift
„Der Mythus von der Geburt des Helden" 1909 aufgezeigt.
Man sagt mit Recht, daß der Ödipuskomplex der Kernkomplex der Neurosen ist,
das wesentliche Stück im Inhalt der Neurose darstellt. In ihm gipfelt die infantile
Sexualität, welche durch ihre Nachwirkungen die Sexualität des Erwachsenen
entscheidend beeinflußt. Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt,
den Ödipuskomplex zu bewältigen; wer es nicht zustande bringt, ist der Neurose
verfallen. Der Fortschritt der psychoanalytischen Arbeit hat diese Bedeutung des
102 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Neigungen, nun durch den somatischen Nachdruck verstärkt,
wieder auf, und unter ihnen in gesetzmäßiger Häufigkeit und an
erster Stelle die meist bereits durch die Geschlechtsanziehung
differenzierte Sexualregung des Kindes für die Eltern, des Sohnes
für die Mutter und der Tochter für den Vater. 1 Gleichzeitig mit
der Überwindung und Verwerfung dieser deutlich inzestuösen
Phantasien wird eine der bedeutsamsten, aber auch schmerz-
haftesten, psychischen Leistungen der Pubertätszeit vollzogen, die
Ablösung von der Autorität der Eltern, durch welche erst der
für den Kulturfortschritt so wichtige Gegensatz der neuen
Generation zur alten geschaffen wird. Auf jeder der Stationen
des Entwicklungsganges, den die Individuen durchmachen sollen,
wird eine Anzahl derselben zurückgehalten, und so gibt es auch
Personen, welche die Autorität der Eltern nie überwunden und
ihre Zärtlichkeit von denselben nicht oder nur sehr unvollständig
zurückgezogen haben. Es sind zumeist Mädchen, die so zur
Freude der Eltern weit über die Pubertät hinaus bei der vollen
Kinderliebe verbleiben, und da wird es dann sehr lehrreich zu
linden, daß es diesen Mädchen in ihrer späteren Ehe an dem
Vermögen gebricht, ihren Männern das Gebührende zu schenken.
Sie werden kühle Ehefrauen und bleiben sexuell anästhetisch.
Man lernt daraus, daß die anscheinend nicht sexuelle Liebe zu
den Eltern und die geschlechtliche Liebe aus denselben Quellen
gespeist werden, das heißt, daß die erstere nur einer infantilen
Fixierung der Libido entspricht.
Je mehr man sich den tieferen Störungen der psychosexuellen
Entwicklung nähert, desto unverkennbarer tritt die Bedeutung
Ödipuskomplexes immer schärfer gezeichnet; seine Anerkennung ist das Schiboleth
geworden, welches die Anhänger der Psychoanalyse von ihren Gegnern scheidet.
In einer anderen Schrift (Das Trauma der Geburt, 1924) hat Rank die Mutter-
bindung auf die embryonale Vorzeit zurückgeführt und so die biologische Grundlage
des Ödipuskomplexes aufgezeigt. Die Inzestschranke leitet er abweichend vom Vor-
stehenden von dem traumatischen Eindruck der Geburtsangst ab.
1) Vergleiche die Ausführungen über das unvermeidliche Verhängnis in der
Ödipusfabel [„Traumdeutung", 4. Auflage, S. 198, Bd. III u. IV der Gesamtausgabe].
Die Umgestaltungen der Pubertät 105
der inzestuösen Objektwahl hervor. Bei den Psychoneurotikern
verbleibt infolge von Sexualablehnung ein großes Stück oder das
Ganze der psychosexuellen Tätigkeit zur Objektfindung im Un-
bewußten. Für die Mädchen mit übergroßem Zärtlichkeitsbedürfhis
und eben solchem Grausen vor den realen Anforderungen des
Sexuallebens wird es zu einer unwiderstehlichen Versuchung, sich
einerseits das Ideal der asexuellen Liebe im Leben zu verwirk-
lichen und andererseits ihre Libido hinter einer Zärtlichkeit, die
sie ohne Selbstvorwurf äußern dürfen, zu verbergen, indem sie
die infantile, in der Pubertät aufgefrischte Neigung zu Eltern
oder Geschwistern fürs Leben festhalten. Die Psychoanalyse kann
solchen Personen mühelos nachweisen, daß sie in diese ihre Bluts-
verwandten im gemeinverständlichen Sinne des Wortes verliebt
sind, indem sie mit Hilfe der Symptome und anderen Krankheits-
äußerungen ihre unbewußten Gedanken aufspürt und in bewußte
übersetzt. Auch wo ein vorerst Gesunder nach einer unglück-
lichen Liebeserfahrung erkrankt ist, kann man als den Mecha-
nismus solcher Erkrankung die Rückwendung seiner Libido auf
die infantil bevorzugten Personen mit Sicherheit aufdecken.
Auch wer die inzestuöse Fixierung seiner Libido glücklich Jj^jj
vermieden hat, ist dem Einfluß derselben nicht völlig entzogen. ObjefctmU
Es ist ein deutlicher Nachklang dieser Entwicklungsphase, wenn
die erste ernsthafte Verliebtheit des jungen Mannes, wie so häufig,
einem reifen Weibe, die des Mädchens einem älteren, mit Autorität
ausgestatteten Manne gilt, die ihnen das Bild der Mutter und
des Vaters beleben können. 1 In freierer Anlehnung an diese Vor-
bilder geht wohl die Objektwahl überhaupt vor sich. Vor allem
sucht der Mann nach dem Erinnerungsbild der Mutter, wie es
ihn seit den Anfängen der Kindheit beherrscht; im vollen Ein-
klang steht es damit, wenn sich die noch lebende Mutter gegen
diese ihre Erneuerung sträubt und ihr mit Feindseligkeit begegnet.
1) Siehe meinen Aufsatz „Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim
Manne", 1910 [Bd. V der Gesamtausgabe].
10 4 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Bei solcher Bedeutung der kindlichen Beziehungen zu den Eltern
für die spätere Wahl des Sexualobjekts ist es leicht zu verstehen,
daß jede Störung dieser Kindheitsbeziehungen die schwersten Folgen
für das Sexualleben nach der Reife zeitigt 5 auch die Eifersucht
des Liebenden ermangelt nie der infantilen Wurzel oder wenigstens
der infantilen Verstärkung. Zwistigkeiten zwischen den Eltern
selbst, unglückliche Ehe derselben, bedingen die schwerste
Prädisposition für gestörte Sexualentwicklung oder neurotische
Erkrankung der Kinder.
Die infantile Neigung zu den Eltern ist wohl die wichtigste,
aber nicht die einzige der Spuren, die, in der Pubertät aufge-
frischt, dann der Objektwahl den Weg weisen. Andere Ansätze
derselben Herkunft gestatten dem Manne noch immer in Anlehnung
an seine Kindheit mehr als eine einzige Sexualreihe zu
entwickeln, ganz verschiedene Bedingungen für die Objektwahl
auszubilden. 1
T tSi" Eine bei der 0b J ektwahl si ch ergebende Aufgabe liegt darin,
das entgegengesetzte Geschlecht nicht zu verfehlen. Sie wird, wie
bekannt, nicht ohne einiges Tasten gelöst. Die ersten Regungen
nach der Pubertät gehen häufig genug - ohne dauernden
Schaden — irre. Dessoir hat mit Recht darauf aufmerksam
gemacht, welche Gesetzmäßigkeit sich in den schwärmerischen
Freundschaften von Jünglingen und Mädchen für ihresgleichen
verrät. Die größte Macht, welche eine dauernde Inversion des
Sexualobjektes abwehrt, ist gewiß die Anziehung, welche die
entgegengesetzten Geschlechtscharaktere für einander äußern ; zur
Erklärung derselben kann im Zusammenhange dieser Erörterungen
nichts gegeben werd en. 2 Aber dieser Faktor reicht für sich allein
1) Ungezälüte Eigentümlichkeiten des menschlichen Lieheslebens sowie das Zwang-
hafte der Verliebtheit selbst sind überhaupt mit durch die Rückbeziehung auf die
Kindheit und als Wirkungsreste derselben zu verstehen.
i) Es ist hier der Ort, auf eine gewiß phantastische, aber überaus geistreiche
Schrift von Ferenczi (Versuch einer Genitaltheorie, 1924) hinzuweisen, in der
das Geschlechtsleben der höheren Tiere aus ihrer biologischen Entwicklungsgeschichte
abgeleitet wird.
1
Die Umgestaltungen der Pubertät 105
nicht hin, die Inversion auszuschließen; es kommen wohl allerlei
unterstützende Momente hinzu. Vor allem die Autoritätshemmung
der Gesellschaft; wo die Inversion nicht als Verbrechen betrachtet
wird, da kann man die Erfahrung machen, daß sie den sexuellen
Neigungen nicht weniger Individuen voll entspricht. Ferner darf
man für den Mann annehmen, daß die Kindererinnerung an
die Zärtlichkeit der Mutter und anderer weiblicher Personen,
denen er als Kind überantwortet war, energisch mithilft, seine
Wahl auf das Weib zu lenken, während die von Seiten des Vaters
erfahrene frühzeitige Sexualeinschüchterung und die Konkurrenz-
einstellung zu ihm vom gleichen Geschlechte ablenkt. Beide
Momente gelten aber auch für das Mädchen, dessen Sexual-
betätigung unter der besonderen Obhut der Mutter steht. Es
ergibt sich so eine feindliche Beziehung zum eigenen Geschlecht,
welche die Objektwahl entscheidend in dem für normal geltenden
Sinn beeinflußt. Die Erziehung der Knaben durch männliche
Personen (Sklaven in der antiken Welt) scheint die Homosexualität
zu begünstigen; beim heutigen Adel wird die Häufigkeit der
Inversion wohl durch die Verwendung männlicher Dienerschaft
wie durch die geringere persönliche Fürsorge der Mütter für
ihre Kinder um etwas verständlicher. Bei manchen Hysterischen
ergibt sich, daß der frühzeitige Wegfall einer Person des Eltern-
paares (durch Tod, Ehescheidung, Entfremdung), worauf dann
die übrigbleibende die ganze Liebe des Kindes an sich gezogen
hatte, die Bedingung für das Geschlecht der später zum Sexual-
objekt gewählten Person festgestellt und damit auch die dauernde
Inversion ermöglicht hat.
ad
ZUSAMMENFASSUNG
Es ist an der Zeit, eine Zusammenfassung zu versuchen. Wir
sind von den Abirrungen des Geschlechtstriebes in Bezug auf
sein Objekt und sein Ziel ausgegangen, haben die Fragestellung
vorgefunden, ob diese aus angeborener Anlage entspringen oder
infolge der Einflüsse des Lebens erworben werden. Die Beant-
wortung dieser Frage ergab sich uns aus der Einsicht in die
Verhältnisse des Geschlechtstriebes bei den Psychoneurotikern,
einer zahlreichen und den Gesunden nicht ferne stehenden
Menschengruppe, welche Einsicht wir durch psychoanalytische
Untersuchung gewonnen hatten. Wir fanden so, daß bei diesen
Personen die Neigungen zu allen Perversionen als unbewußte
Mächte nachweisbar sind und sich als Symptombildner verraten,
und konnten sagen, die Neurose sei gleichsam ein Negativ der
Perversion. Angesichts der nun erkannten großen Verbreitung der
Perversionsneigungen drängte sich uns der Gesichtspunkt auf, daß
die Anlage zu den Perversionen die ursprüngliche allgemeine
Anlage des menschlichen Geschlechtstriebes sei, aus welcher das
normale Sexualverhalten infolge organischer Veränderungen und
psychischer Hemmungen im Laufe der Reifung entwickelt werde.
Die ursprüngliche Anlage hofften wir im Kindesalter aufzeigen
zu können- unter den die Richtung des Sexualtriebes einschrän-
kenden Mächten hoben wir Scham, Ekel, Mitleid und die
sozialen Konstruktionen der Moral und Autorität hervor. So mußten
wir in jeder fixierten Abirrung vom normalen Geschlechtsleben
ein Stück Entwicklungshemmung und Infantilismus erblicken.
Zusammenfassung i.0 7
Die Bedeutung der Variationen der ursprünglichen Anlage mußten
wir in den Vordergrund stellen, zwischen ihnen und den Ein-
flüssen des Lebens aber ein Verhältnis von Kooperation und nicht
von Gegensätzlichkeit annehmen. Anderseits erschien uns, da
die ursprüngliche Anlage eine komplexe sein mußte, der
Geschlechtstrieb selbst als etwas aus vielen Faktoren Zusammen-
gesetztes, das in den Perversionen gleichsam in seine Komponenten
zerfällt. Somit erwiesen sich die Perversionen einerseits als
Hemmungen, andererseits als Dissoziationen der normalen Ent-
wicklung. Beide Auffassungen vereinigten sich in der Annahme,
daß der Geschlechtstrieb des Erwachsenen durch die Zusammen-
fassung vielfacher Regungen des Kinderlebens zu einer Einheit,
einer Strebung mit einem einzigen Ziel entstehe.
Wir fügten noch die Aufklärung für das Überwiegen der
perversen Neigungen bei den Psychoneurotikern bei, indem wir
dieses als kollaterale Füllung von Nebenbahnen bei Verlegung
des Hauptstrombettes durch die „Verdrängung" erkannten, und
wandten uns dann der Betrachtung des Sexuallebens im Kindes-
alter zu. 1 Wir fanden es bedauerlich, daß man dem Kindesalter
den Sexualtrieb abgesprochen und die nicht selten zu beobachtenden
Sexualäußerungen des Kindes als regelwidrige Vorkommnisse
beschrieben hat. Es schien uns vielmehr, daß das Kind Keime
von Sexualtätigkeit mit zur Welt bringt und schon bei der
Nahrungsaufnahme sexuelle Befriedigung mitgenießt, die es sich
dann in der gut gekannten Tätigkeit des „Ludeins" immer wieder
zu verschaffen sucht. Die Sexualbetätigung des Kindes entwickle
sich aber nicht im gleichen Schritt wie seine sonstigen Funktionen,
sondern trete nach einer kurzen Blüteperiode vom zweiten bis
zum fünften Jahre in die sogenannte Latenzp eriode ein. In der-
1) Dies gilt nicht nur für die in der Neurose „negativ" auftretenden Perversions-
neigungen, sondern ebenso für die positiven, eigentlich so benannten Perversionen.
Diese letzteren sind also nicht bloß auf die Fixierung der infantilen Neigungen
zurückzuführen, sondern auch auf die Regression zu denselben infolge der Verlegung
anderer Bahnen der Sexualströmung. Darum sind auch die positiven Perversionen der
psychoanalytischen Therapie zugänglich.
io8 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
selben würde die Produktion sexueller Erregung keinesweo-s
eingestellt, sondern halte an und liefere einen Vorrat von Energie,
der großenteils zu anderen als sexuellen Zwecken verwendet
werde, nämlich einerseits zur Abgabe der sexuellen Komponenten
für soziale Gefühle, anderseits (vermittels Verdrängung und
Reaktionsbildung) zum Aufbau der späteren Sexualschranken.
Demnach würden die Mächte, die dazu bestimmt sind, den
Sexualtrieb in gewissen Bahnen zu erhalten, im Kindesalter auf
Kosten der großenteils perversen Sexualregungen und unter
Mithilfe der Erziehung aufgebaut. Ein anderer Teil der infantilen
Sexualregungen entgehe diesen Verwendungen und könne sich
als Sexualbetätigung äußern. Man könne dann erfahren, daß die
Sexualerregung des Kindes aus vielerlei Quellen fließe. Vor allem
entstehe Befriedigung durch die geeignete sensible Erregung-
sogenannter erogener Zonen, als welche wahrscheinlich jede
Hautstelle und jedes Sinnesorgan, wahrscheinlich jedes Organ,
fungieren könne, während gewisse ausgezeichnete erogene Zonen
existieren, deren Erregung durch gewisse organische Vorrichtungen
von Anfang an gesichert sei. Ferner entstehe sexuelle Erregung
gleichsam als Nebenprodukt bei einer großen Reihe von Vor-
gängen im Organismus, sobald dieselben nur eine gewisse Intensität
erreichen, ganz besonders bei allen stärkeren Gemütsbewegungen,
seien sie auch peinlicher Natur. Die Erregungen aus all diesen
Quellen setzten sich noch nicht zusammen, sondern verfolgten
jede vereinzelt ihr Ziel, welches bloß der Gewinn einer gewissen
Lust ist. Der Geschlechtstrieb sei also im Kindesalter nicht
zentriert und zunächst objektlos, au to erotisch.
Noch während der Kinderjahre beginne die erogene Zone der
Genitalien sich bemerkbar zu machen, entweder in der Art, daß
sie wie jede andere erogene Zone auf geeignete sensible Reizung
Befriedigung ergebe, oder indem auf nicht ganz verständliche
Weise mit der Befriedigung von anderen Quellen her gleich-
zeitig eine Sexualerregung erzeugt werde, die zu- der Genitalzone
'Zusammen fassung 109
eine besondere Beziehung erhake. Wir haben es bedauern müssen,
daß eine genügende Aufklärung des Verhältnisses zwischen Sexual-
befriedigung und Sexualerregung sowie zwischen der Tätigkeit
der Genitalzone und der übrigen Quellen der Sexualität nicht zu
erreichen war.
Durch das Studium der neurotischen Störungen haben wir
gemerkt, daß sich im kindlichen Sexualleben von allem Anfang
an Ansätze zu einer Organisation der sexuellen Triebkomponenten
erkennen lassen. In einer ersten, sehr frühen Phase steht die
Oralerotik im Vordergründe^ eine zweite dieser „prä-
genitalen" Organisationen wird durch die Vorherrschaft des
Sadismus und der Analerotik charakterisiert, erst in einer
dritten Phase (die sich beim Kind nur bis zum Primat des
Phallus entwickelt) wird das Sexualleben durch den Anteil der
eigentlichen Genitalzonen mitbestimmt.
Wir haben dann als eine der überraschendsten Ermittlungen
feststellen müssen, daß diese Frühblüte des infantilen Sexuallebens
(zwei bis fünf Jahre) auch eine Objektwahl mit all den reichen,
seelischen Leistungen zeitigt, so daß die daran geknüpfte, ihr
entsprechende Phase trotz, der mangelnden Zusammenfassung der
einzelnen Triebkomponenten und der Unsicherheit des Sexual-
zieles als bedeutsamer Vorläufer der späteren endgültigen Sexual-
ore;anisation einzuschätzen ist.
Die Tatsache des zweizeitigen Ansatzes der Sexual-
entwicklung beim Menschen, also die Unterbrechung dieser Ent-
wicklung durch die Latenzzeit, erschien uns besonderer Beachtung-
würdig. Sie scheint eine der Bedingungen für die Eignung des
Menschen zur Entwicklung einer höheren Kultur, aber auch für
seine Neigung zur Neurose zu enthalten. Bei der tierischen
Verwandtschaft des Menschen ist unseres Wissens etwas Analoges
nicht nachweisbar. Die Ableitung der Herkunft dieser mensch-
lichen Eigenschaft müßte man in der Urgeschichte der Menschenart
suchen.
1 1 o Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Welches Maß von sexuellen Betätigungen im Kindesalter noch
als normal, der weiteren Entwicklung nicht abträglich, bezeichnet
werden darf, konnten wir nicht sagen. Der Charakter der Sexual-
äußerungen erwies sich als vorwiegend masturbatorisch. Wir
stellten ferner durch Erfahrungen fest, daß die äußeren Einflüsse
der Verführung vorzeitige Durchbrüche der Latenzzeit bis zur
Aufhebung derselben hervorrufen können, und daß sich dabei
der Geschlechtstrieb des Kindes in der Tat als polymorph pervers
bewährt ; ferner, daß jede solche frühzeitige Sexualtätigkeit die
Erziehbarkeit des Kindes beeinträchtigt.
Trotz der Lückenhaftigkeit unserer Einsichten in das infantile
Sexualleben mußten wir dann den Versuch machen, die durch
das Auftreten der Pubertät gesetzten Veränderungen desselben zu
studieren. Wir griffen zwei derselben als die maßgebenden heraus,
die Unterordnung aller sonstigen Ursprünge der Sexualerregung
unter das Primat der Genitalzonen und den Prozeß der Objekt-
findung. Beide sind im Kinderleben bereits vorgebildet. Die
erstere vollzieht sich durch den Mechanismus der Ausnützung
der Vorlust, wobei die sonst selbständigen sexuellen Akte, die
mit Lust und Erregung verbunden sind, zu vorbereitenden
Akten für das neue Sexualziel, die Entleerung der Geschlechts-
produkte werden, dessen Erreichung unter riesiger Lust der Sexual-
erregung ein Ende macht. Wir hatten dabei die Differenzierung
des geschlechtlichen Wesens zu Mann und Weib zu berücksichtigen
und fanden, daß zum Weibwerden eine neuerliche Verdrängung
erforderlich ist, welche ein Stück infantiler Männlichkeit aufhebt
und das Weib für den Wechsel der leitenden Genitalzone vor-
bereitet. Die Objektwahl endlich fanden wir geleitet durch die
infantilen, zur Pubertät aufgefrischten Andeutungen sexueller
Neigung des Kindes zu seinen Eltern und Pflegepersonen und
durch die mittlerweile aufgerichtete Inzestschranke von diesen
Personen weg auf ihnen ähnliche gelenkt. Fügen wir endlich
noch hinzu, daß während der Übergangszeit der Pubertät die
Zusammenfassung
11 i
somatischen und die psychischen Entwicklungsvorgänge eine Weile
unverknüpft nebeneinander hergehen, bis mit dem Durchbruch
einer intensiven seelischen Liebesregung zur Innervation der
Genitalien die normalerweise erforderte Einheit der Liebesfunktion
hergestellt wird.
Jeder Schritt auf diesem langen Entwicklungswege kann zur Entwickiungs-
störende
Fixierungsstelle, jede Fuge dieser verwickelten Zusammensetzung Momente
zum Anlaß der Dissoziation des Geschlechtstriebes werden, wie
wir bereits an verschiedenen Beispielen erörtert haben. Es erübrigt
uns noch, eine Übersicht der verschiedenen, die Entwicklung
störenden, inneren und äußeren Momente zu geben und beizufügen,
an welcher Stelle des Mechanismus die von ihnen ausgehende
Störung angreift. Was wir da in einer Reihe anführen, kann
freilich unter sich nicht gleichwertig sein, und wir müssen auf
Schwierigkeiten rechnen, den einzelnen Momenten die ihnen
gebührende Abschätzung zuzuteilen.
An erster Stelle ist hier die angeborene Verschiedenheit Konstitution
° und Heredität
der sexuellen Konstitution zu nennen, auf die wahr-
scheinlich das Hauptgewicht entfällt, die aber, wie begreiflich, nur
aus ihren späteren Äußerungen und dann nicht immer mit
großer Sicherheit zu erschließen ist. Wir stellen uns unter ihr
ein Überwiegen dieser oder jener der mannigfachen Quellen der
Sexualerregung vor und glauben, daß solche Verschiedenheit der
Anlagen in dem Endergebnis jedenfalls zum Ausdruck kommen
muß auch wenn dies sich innerhalb der Grenzen des Normalen
zu halten vermag. Gewiß sind auch solche Variationen der
ursprünglichen Anlage denkbar, welche notwendigerweise und
ohne weitere Mithilfe zur Ausbildung eines abnormen Sexual-
lebens führen müssen. Man kann dieselben dann „degenerative"
heißen und als Ausdruck ererbter Verschlechterung betrachten.
Ich habe in diesem Zusammenhange eine merkwürdige Tatsache
zu berichten. Bei mehr als der Hälfte meiner psychotherapeutisch
behandelten schweren Fälle von Hysterie, Zwangsneurose usw.
112 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
ist mir der Nachweis der vor der Ehe überstandenen Syphilis
der Väter sicher gelungen, sei es, daß diese an Tabes oder
progressiver Paralyse gelitten hatten, sei es, daß deren luetische
Erkrankung sich anderswie anamnestisch feststellen ließ. Ich
bemerke ausdrücklich, daß die später neurotischen Kinder keine
körperlichen Zeichen von hereditärer Lues an sich trugen, so
daß eben die abnorme sexuelle Konstitution als der letzte Aus-
läufer der luetischen Erbschaft zu betrachten war. So fern es
mir nun liegt, die Abkunft von syphilitischen Eltern als
regelmäßige oder unentbehrliche ätiologische Bedingung der
neuropathischen Konstitution hinzustellen, so halte ich doch das
von mir beobachtete Zusammentreffen für nicht zufällig und
nicht bedeutungslos.
Die hereditären Verhältnisse der positiv Perversen sind minder
gut bekannt, weil dieselben sich der Erkundung zu entziehen
wissen. Doch hat man Grund anzunehmen, daß bei den
Perversionen ähnliches wie bei den Neurosen gilt. Nicht selten
findet man nämlich Perversion und Psychoneurose in denselben
Familien auf die verschiedenen Geschlechter so verteilt, daß
die männlichen Mitglieder oder eines derselben positiv pervers,
die weiblichen aber der Verdrängungsneigung ihres Geschlechts
entsprechend negativ pervers, hysterisch sind, ein guter Beleg
für die von uns gefundenen Wesensbeziehungen zwischen den
beiden Störungen,
weitere Man kann indes den Standpunkt nicht vertreten, als ob mit
Verarbeitung ,
dem Ansatz der verschiedenen Komponenten in der sexuellen
Konstitution die Entscheidung über die Gestaltung des Sexual-
lebens eindeutig bestimmt wäre.. Die Bedingtheit setzt sich viel-
mehr fort und weitere Möglichkeiten ergeben sich je nach dem
Schicksal, welches die aus den einzelnen Quellen stammenden
Sexualitätszuflüsse erfahren. Diese weitere Verarbeitung
ist offenbar das endgültig Entscheidende, während die der
Beschreibung nach gleiche Konstitution zu drei verschiedenen
I
Zusammenfassung 113
Endausgängen führen kann. Wenn sich alle die Anlagen in
ihrem, als abnorm angenommenen, relativen Verhältnis erhalten
und mit der Reifung verstärken, so kann nur ein perverses
Sexualleben das Endergebnis sein. Die Analyse solcher abnormer
konstitutioneller Anlagen ist noch nicht ordentlich in Angriff
genommen worden, doch kennen wir bereits Fälle, die in solchen
Annahmen mit Leichtigkeit ihre Erklärung finden. Die Autoren
meinen zum Beispiel von einer ganzen Reihe von Fixations-
perversionen, dieselben hätten eine angeborene Schwäche des
Sexualtriebes zur notwendigen Voraussetzung. In dieser Form
scheint mir die Aufstellung unhaltbar; sie wird aber sinnreich,
wenn eine konstitutionelle Schwäche des einen Faktors des
Sexualtriebes, der genitalen Zone, gemeint ist, welche Zone
späterhin die Zusammenfassung der einzelnen Sexualbetätigungen
zum Ziel der Fortpflanzung als Funktion übernimmt. Diese in der
Pubertät geforderte Zusammenfassung muß dann mißlingen und
die stärkste der anderen Sexualitätskomponenten wird, ihre Betätigung
als Perversion durchsetzen. 1
Ein anderer Ausgang ergibt sich, wenn im Laufe der Entwicklung Verdrängung
einzelne der überstark angelegten Komponenten den Prozeß der
Verdrängung erfahren, von dem man festhalten muß, daß
er einer Aufhebung nicht gleichkommt. Die betreffenden Erregungen
werden dabei wie sonst erzeugt, aber durch psychische Verhinderung
von der Erreichung ihres Zieles abgehalten und auf mannigfache
andere Wege gedrängt, bis sie sich als Symptome zum Ausdruck
gebracht haben. Das Ergebnis kann ein annähernd normales
Sexualleben sein, — meist ein eingeschränktes, — aber ergänzt
durch psychoneurotische Krankheit. Gerade diese Fälle sind uns '
durch die psychoanalytische Erforschung Neurotischer gut bekannt
geworden. Das Sexualleben solcher Personen hat wie das der
1) Man sieht dabei häufig, daß in der Pubertätszeit zunächst eine normale Sexual-
'strömung einsetzt, welche aber infolge ihrer inneren Schwäche vor den ersten äußeren
Hindernissen zusammenbricht und dann von der Regressipn auf die perverse Fixierung
abgelöst wird.
Freud, Sexualtheorie, G. Auflage. $
1 1 4 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Perversen begonnen, ein ganzes Stück ihrer Kindheit ist mit
perverser Sexualtätigkeit ausgefüllt, die sich gelegentlich weit
über die Reifezeit erstreckt; dann erfolgt aus inneren Ursachen
— meist noch vor der Pubertät, aber hie und da sogar spät
nachher — ein Verdrängungsumschlag, und von nun an tritt,
ohne daß die alten Regungen erlöschen, Neurose an die Stelle
der Perversion. Man wird an das Sprichwort „Junge Hure, alte
Betschwester" erinnert, nur daß die Jugend hier allzu kurz
■ausgefallen ist. Diese Ablösung der Perversion durch die Neurose
im Leben derselben Person muß man ebenso wie die vorhin
angeführte Verteilung von Perversion und Neurose auf verschiedene
Personen derselben Familie mit der Einsicht, daß die Neurose das
Negativ der Perversion ist, zusammenhalten,
subitmiemng Der dritte Ausgang bei abnormer konstitutioneller Anlage
wird durch den Prozeß der „Sublimierung" ermöglicht, bei
welchem den überstarken Erregungen aus einzelnen Sexualitäts-
quellen Abfluß und Verwendung auf andere Gebiete eröffnet
wird, so daß eine nicht unerhebliche Steigerung der psychischen
Leistungsfähigkeit aus der an sich gefährlichen Veranlagung
resultiert. Eine der Quellen der Kunstbetätigung ist hier zu
finden und, je nachdem solche Sublimierung eine vollständige
oder unvollständige ist, wird die Charakteranalyse hochbegabter,
insbesondere künstlerisch veranlagter Personen jedes Mengungs-
verhältnis zwischen . Leistungsfähigkeit, Perversion und Neurose
ergeben. Eine Unterart der Sublimierung ist wohl die Unter-
drückung durch Reaktionsbildung, die, wie wir gefunden
haben, bereits in der Latenzzeit des Kindes beginnt, um sich im
günstigen Falle durchs ganze Leben fortzusetzen. Was wir den
„Charakter" eines Menschen heißen, ist zum guten Teil mit
dem Material sexueller Erregungen aufgebaut und setzt sich aus
seit der Kindheit fixierten Trieben, aus durch Sublimierung
gewonnenen und aus solchen Konstruktionen zusammen, die zur
wirksamen Niederhaltung perverser, als unverwendbar erkannter
"Zusammenfassung 115
Regungen bestimmt sind. 1 Somit kann die allgemein perverse
Sexualanlage der Kindheit als die Quelle einer Reihe unserer
Tugenden geschätzt werden, insofern sie durch Reaktionsbildung
zur Schaffung derselben Anstoß gibt. 2
Gegenüber den Sexualentbindungen, Verdrängungsschüben und Akzidentell
Sublimierungen, letztere beide Vorgänge, deren innere Bedingungen
uns völlig unbekannt sind, treten alle anderen Einflüsse weit an
Bedeutung zurück. Wer Verdrängungen und Sublimierungen mit
zur konstitutionellen Anlage rechnet, als die Lebensäußerungen
derselben betrachtet, der hat allerdings das Recht zu behaupten,
daß die Endgestaltung des Sexuallebens vor allem das Ergebnis
der angeborenen Konstitution ist. Indes wird kein Einsichtiger
bestreiten, daß in solchem Zusammenwirken von Faktoren auch
Raum für die modifizierenden Einflüsse des akzidentell in der
Kindheit und späterhin Erlebten bleibt. Es ist nicht leicht, die
Wirksamkeit der konstitutionellen und der akzidentellen Faktoren
in ihrem Verhältnis zueinander abzuschätzen. In der Theorie neigt
man immer zur Überschätzung der ersteren ; die therapeutische
Praxis hebt die Bedeutsamkeit der letzteren hervor. Man sollte
auf keinen Fall vergessen, daß zwischen den beiden ein Verhältnis
von Kooperation und nicht von Ausschließung besteht. Das
konstitutionelle Moment muß auf Erlebnisse warten, die es zur
Geltung bringen, das akzidentelle bedarf einer Anlehnung an
die Konstitution, um zur Wirkung zu kommen. Man kann sich
für die Mehrzahl der Fälle eine sogenannte „Ergänzungsreihe"
vorstellen, in welcher die fallenden Intensitäten des einen Faktors
1) Bei einigen Charakterzügen ist selbst ein Zusammenhang mit bestimmten
erogenen Komponenten erkannt worden. So leiten sich Trotz, Sparsamkeit und
Ordentlichkeit aus der Verwendung der Analerotik ab. Der Ehrgeiz wird durch eine
starke urethralero tische Anlage bestimmt.
2) Ein Menschenkenner wie E. Zola schildert in „La Joie de vivre" ein
Mädchen, das in heiterer Selbstentänßerung alles, was es besitzt imd beanspruchen
könnte, sein Vermögen und seine Lebenswünsche geliebten Personen ohne Entlohnung
zum Opfer bringt. Die Kindheit dieses Mädchens ist von einem unersättlichen Zärt-
lichkeitsbedürfnis beherrscht, das sie bei einer Gelegenheit von Zurücksetzung gegen
eine andere in Grausamkeit verfallen läßt.
1 1 6 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
durch die steigenden des anderen ausgeglichen werden, hat aber
keinen Grund, die Existenz extremer Fälle an den Enden der
Reihe zu leugnen.
Der psychoanalytischen Forschung entspricht es noch besser,
wenn man den Erlebnissen der frühen Kindheit unter den
akzidentellen Momenten eine Vorzugsstellung einräumt. Die
eine ätiologische Reihe zerlegt sich dann in zwei, die man die
dispositionelle und die definitive heißen kann. In der
ersteren wirken Konstitution und akzidentelle Kindheitserlebnisse
ebenso zusammen, wie in der zweiten Disposition und spätere
traumatische Erlebnisse. Alle die Sexualentwicklung schädigenden
Momente äußern ihre Wirkung in der Weise, daß sie eine
Regression, eine Rückkehr zu einer früheren Entwicklungs-
phase hervorrufen.
Wir setzen hier unsere Aufgabe fort, die uns als einflußreich
für die Sexualentwicklung bekannt gewordenen Momente aufzu-
zählen, sei es, daß diese wirksame Mächte oder bloß Äußerungen
solcher darstellen.
Frühreife Ein solches Moment ist die spontane sexuelle Frühreife,
die wenigstens in der Ätiologie der Neurosen mit Sicherheit
nachweisbar ist, wenngleich sie so wenig wie andere Momente
für sich allein zur Verursachung hinreicht. Sie äußert sich in
Durchbrechung, Verkürzung oder Aufhebung der infantilen
Latenzzeit und wird zur Ursache von Störungen, indem sie
Sexualäußerungen veranlaßt, die einerseits wegen des unfertigen
Zustandes der Sexualhemmungen, andererseits infolge des unent-
wickelten Genitalsystems nur den Charakter von Perversionen
an sich tragen können. Diese Perversionsneigungen mögen sich
nun als solche erhalten oder nach eingetretenen Verdrängungen
zu Triebkräften neurotischer Symptome werden; auf alle Fälle
erschwert die sexuelle Frühreife die wünschenswerte spätere
Beherrschung des Sexualtriebes durch die höheren seelischen
Instanzen und steigert den zwangartigen Charakter, den die
Zusammenfassung fcl 7
psychischen Vertretungen des Triebes ohnedies in Anspruch
nehmen. Die sexuelle Frühreife geht häufig vorzeitiger intel-
lektueller Entwicklung parallel; als solche findet sie sich in der
Kindheitsgeschichte der bedeutendsten und leistungsfähigsten
Individuen; sie scheint dann nicht ebenso pathogen zu wirken,
wie wenn sie isoliert auftritt.
Ebenso wie die Frühreife fordern andere Momente Berück- J eiU ***
Momente
sichtigung, die man als „zeitliche" mit dör Frühreife zusammen-
fassen kann. Es scheint phylogenetisch festgelegt, in welcher
Reihenfolge die einzelnen Triebregungen aktiviert werden, und
wie lange sie sich äußern können, bis sie dem Einfluß einer
neu auftretenden Triebregung oder einer typischen Verdrängung
unterliegen. Allein sowohl in dieser zeitlichen Aufeinanderfolge
wie in der Zeitdauer derselben scheinen Variationen vorzukommen,
die auf das Endergebnis einen bestimmenden Einfluß üben
müssen. Es kann nicht gleichgültig sein, ob eine gewisse Strömung
früher oder später auftritt als ihre Gegenströmung, denn die
Wirkung einer Verdrängung ist nicht rückgängig zu machen:
eine zeitliche Abweichung in der Zusammensetzung der Kompo-
nenten ergibt regelmäßig eine Änderung des Resultats. Andererseits
nehmen besonders intensiv auftretende Triebregungen oft einen
überraschend schnellen Ablauf, z. B. die heterosexuelle Bindung
der später manifest Homosexuellen. Die am heftigsten einsetzenden
Strebungen der Kinderjahre rechtfertigen nicht die Befürchtung,
daß sie den Charakter des Erwachsenen dauernd beherrschen
werden; man darf ebensowohl erwarten, daß sie verschwinden
werden, um ihrem Gegenteil Platz zu machen. (Gestrenge
Herren regieren nicht lange.) Worauf solche zeitliche Verwirrungen
der Entwicklungsvorgänge rückführbar sind, vermögen wir auch
nicht in Andeutungen anzugeben. Es eröffnet sich hier ein
Ausblick auf eine tiefere Phalanx von biologischen, vielleicht auch
historischen Problemen, denen wir uns noch nicht auf Kampfes-
weite angenähert haben.
Haftbarkeit
Die Bedeutung aller frühzeitigen Sexualäußerungen wird durch
einen psychischen Faktor unbekannter Herkunft gesteigert, den
man derzeit freilich nur als eine psychologische Vorläufigkeit
hinstellen kann. Ich meine die erhöhte Haftbarkeit oder
Fixier barkeit dieser Eindrücke des Sexuallebens, die man bei
späteren Neurotikern wie bei Perversen zur Ergänzung des Tat-
bestandes hinzunehmen muß, da die gleichen vorzeitigen Sexual-
äußerungen bei anderen Personen sich nicht so tief einprägen
können, daß sie zwangartig auf Wiederholung hinwirken und dem
Sexualtrieb für alle Lebenszeit seine Wege vorzuschreiben ver-
mögen. Vielleicht liegt ein Stück der Aufklärung für diese
Haftbarkeit in einem anderen psychischen Moment, welches wir
in der Verursachung der Neurosen nicht missen können, nämlich
in dem Übergewicht, welches im Seelenleben den Erinnerungs-
spuren im Vergleich mit den rezenten Eindrücken zufällt. Dieses
Moment ist offenbar von der intellektuellen Ausbildung abhängig
und wächst mit der Höhe der persönlichen Kultur. Im Gegensatz
hiezu ist der Wilde als das „unglückselige Kind des Augenblickes"
charakterisiert worden. 1 Wegen der gegensätzlichen Beziehung
zwischen Kultur und freier Sexualitätsentwicklung, deren Folgen
weit in die Gestaltung unseres Lebens verfolgt werden können,
ist es auf niedriger Kultur- oder Gesellschaftsstufe so wenig, auf
höherer so sehr fürs spätere Leben bedeutsam, wie das sexuelle
Leben des Kindes verlaufen ist.
Fixierung Die Begünstigung durch die eben erwähnten psychischen
Momente kommt nun den akzidentell erlebten Anregungen der
kindlichen Sexualität zugute. Die letzteren (Verführung durch
andere Kinder oder Erwachsene in erster Linie) bringen das Material
bei, welches mit Hilfe der ersteren zur dauernden Störung fixiert
werden kann. Ein guter Teil der später beobachteten Abweichungen
vom normalen Sexualleben ist so bei Neurotikern wie bei
1 ,
1) Möglicherweise ist die Erhöhung der Haftbarkeit auch der Erfolg einer
besonders intensiven somatischen Sexualäußerung früherer Jahre,
Zusammenfassung
1J 9
Perversen durch die Eindrücke der angeblich sexualfreien Kindheits-
periode von Anfang an festgelegt. In die Verursachung teilen sich
das Entgegenkommen der Konstitution, die Frühreife, die Eigenschaft
der erhöhten Haftbarkeit und die zufällige Anregung des Sexual-
triebes durch fremden Einfluß.
Der unbefriedigende Schluß aber, der sich aus diesen Unter-
suchungen über die Störungen des Sexuallebens ergibt, geht dahin,
daß wir von den biologischen Vorgängen, in denen das Wesen
der Sexualität besteht, lange nicht genug wissen, um aus unseren
vereinzelten Einsichten eine zum Verständnis des Normalen wie
des Pathologischen genügende Theorie zu gestalten.
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Vorwort zur dritten Auflage -
Vorwort zur vierten Auflage c
I. Die sexuellen Abirrungen 7
1) Abweichungen in Bezug auf das Sexualobjekt . 8
• a) Die Inversion 8
b) Geschlechtsunreil'e und Tiere als Sexiialobjekte . . . . . 21
2) Abweichungen in Bezug auf das Sexualziel 22
a) Anatomische Überschreitungen 23
b) Fixierungen von vorläufigen Sexualzielen . , 2Q
3) Allgemeines über alle Perversionen -~
4) Der Sexualtrieb bei den Neurotikern 56
5) Partialtriebe und erogene Zonen ........... 41
6) Erklärung des scheinbaren Überwiegens perverser Sexualität bei
den Psychoneurosen 4-
7) Verweis auf den Infantilismus der Sexualität . . . ... . 45
IL Die infantile Sexualität ........... 47
Die sexuelle Latenzperiode der Kindheit und ihre Durchbrechungen 5 1
Die Äuf3erungen der infantilen Sexualität 5 j,
Das Sexualziel der infantilen Sexualität c-r
Die masturbatorischen Sexualäußerungen 60
Die infantile Sexualforschung .- . . . 60
Entwicklungsphasen der sexuellen Organisation 7 2
Quellen der infantilen Sexualität ~-
III. Die Umgestaltungen der Pubertät ... . . ..82
Das Primat der Genitalzonen und die Vorlust 8-
Das Problem der Sexualerregung , 88
Die Libidotheorie .02
Differenzierung von Mann und Weib • 04
Die Objektfindung q-
Zusammenfassung . 106
1
1
SIGM FREUD
1 |
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Drei Abkandltjngen
Oexualtheorie
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