Digm. Freud
Vorlesungen
zur Kinführung in die
Ps ycho an alys ce
u nun rn u u u N
u ERDE TEE PaSE 2 rn
. N .
.
2 ‚ m
r
k
s r = BT, war
a X 2
Vorlesungen
zur Einführung ın ie
Psychoanalyse
von
Sigm. Freud
Dr £i: Eier ber
Fehlleistungen | Der Traum I Allgemeine Neurosenlehre
Mit einer Kunstbeilage
Fünfte, rhueshen: Auflage
(1 2.—1 5. Tausend)
nationaler P sychoanalytischer Verlag
Leipzig Wien / Zürch
&
®
Re x
y nr
MN
(
rt
. "4
) v
[' 15%
N) ı li
(na \ j in N ’ Er
d wi f i j Ba
, IN; IN an np 2,
173 AR GUhT, ’ Al x N € 3
‘ \ % I. 5 ’ h s
{ R| } \ W
r h NDR. N [ DRIN j
y ; h N d
x ar Ir yäl Ar 7
E br-ljj Ka t
} An . 4
1 a f IE
A f 1 (A } "rt
+ Y I
On PAR Ta
y R ah r
{ . ar er
h, NEE
\ 4 { 2
Yu ir ‚A
c I il "r
MRIHHLN h
Er eh { ann | h
k ’ L N
} ! AN J
n f j
l UN ER
Kn, ! f N
ag ;
d, ' !
ur fü h ı #
. il ww.’ y
woh N r
In f I, De! f
#5 1 | Y { f }
Aura 'E N i Ar fi
A) j a RUN
Pe) 4 LANTULU ME
N KT Yıy Il .
um Ku) WIE 6 WE al
Wars AN, ET HENAR \ NR
ONE 0 re DL LERNT LRHINENN. AT
(ben n TERRA TR Nahn ru era Un AN HT DIR IE LH BE
, [ \ 4 uR Is MER ERKO: IR 4
I NT A An SER EYE RATE DEP Re BL LS!
NT ER LDELLE WER RN) DA TR ER ILL E Pe 9
a EL EN RER EN net AA. EUREN, IR AkFN N
48 Dat . j ü ee AT a ee,
2 j \ A all In
S Aue IR naeh) WM) )
} R {i ul:
Kerdird i
ar I .
x u
Br L
ira ae ie)
Kr AR Ni
a AN DRAMEN
I NOS AR ARE
hi AA, uw f
EN \ Y} br
AAN Ir
re Tan
y } ve SEYWIiE
Rn BN ui. Tv
\ r CM win
NAT ER 3
Lat Kr De J 4 2 x Ä
\ ARERN. RR RHREN N KOT AR NET A KAM EEE N
Jı (a, EN Ar, ' ehr 2 Ink a I
Me ; YA ur 7 NEN ‘ KANU eu f}\ Y 2 Hi N Wi Ku ‚Aug {
LH al 79 MIRLVIO UNE AN U TEE AN) REN RHUN 9 h
f Kun SER H ln, Fi ‚EN Yin, Fahe 1, BU TETETRL 7 r
7 ren Elan DIRUichr ‚| IV ir f 4
DU NR ER BR ET MN. KEN ET i / j
RN IN Ill a N
DROARDARRN IRRE 0
\ | EraeN aan \ JADE IN |
T {N Sera N SAAL: Ir (Bi:
mr \ % AN NNATK \ N
N AN AR KUN ö ut) "m \
IE ER A NT STE 5 Hl, |
Ä 5 WAY . 5 \ Er b
1 £ \ w { [ n
Ale i
Nut E26 a RAENNET
! . Ir W X
N % ’g a 1
r#\
5 IA .
ArıDEr “ \
N! I Air N i [\ N f I
' uch h h ü
Pr} | fi an | LyE 7 f
Di, El ELSE ER ArH s J \ a De ; y
% .. “ d . \ \ 1
OR, u 1} \' Alan Wi
EDEN y BUS Rah
DIESE | NEU En |
1 AN ı ayı Lenin . /
i ü a
h \ In
au / IMOER.
a \ ' n) Nranı DA
[ | At j Wr N
Kine, Fl, f IE AR AUT None Be |
} el Dan Tale 17 20 L R y
\% US PNCHAR AT UN ! } f
' TRTUNn D d B n
MEn; I
\ Key f
N {
. ['
} 1 R
ja
4 A I
7 N 1 j
N RI Ma )
A 1 f
ISRN, NM
a
1 v
y |
'
/ 7
gar MW
| IR |
(1 ü N
dl x 14 \ {
Pro u In N
‘ ‚' ı fi
WIENER 1
4 } .
r R MM \
} hy !
\ i
5
u u
j
\
4
ı
t
7
N
1
1% 4‘ | \ et
I } Kur, } % 1 7 rr ( af . 4
0 % Se Hort Era UNE . 1
ars y j) ET EEE, . IM { hy
BIT V Y 1 \ \ air gr N ’ 1} 4 } r t IA
erg a r \ EEE NK, ECT ‚s N Kauı } J
ae er RZ Ni) i Ki u i ale N ! ö NE IN
r UT ri et
FAR (hy, H Y \ Allckunen N H
DT Pure) FAR ’ )
Be u (4) ( an
AN ei 5 Au, Ri Wi y )
Lew; v j HAPE ' b
An “x 1-53 Nh ” AR |
Kyilt { a We
r ı J ı { bi
. DENT? f STEIN M
p \ Like} N | i
1 Ar v y ı \ k
? ; ER Zu RT
Ih ıyı f u » \
RATEN N, j DE IEBATCH ö . h
“ij Y B; j i | ' 27 p nu j
ss L M 5 $| vr '*
| a AR ae DIR
{ > j ” 5 Zi Fr | J E a
1 } ! 12 N \ Sy ji J a
14 AL i FIN ZN 0 “ un) .
x „ J i) Ki N hl:3, Nelk { Y
\Y
. x ta Mr > yM Ä | } j
y 7
» KR |
RW a \ j
h Va) N Yo Ay 117 N N h {
Lk ft
ad } te, EEE Ha
7% Kt ! 1A
Ei
Ä ’
l
: ye a, f et POP 4
a7
in Dix
KN ER T
ER
Fu nA
« I) Na AT rm in }
’
>
'#
Aal
DR
Po
e; 4
Pr #
> .
u
» = = ar
d
m 2 ev
a zit
.r
— 1 A
\ 35) ‚
BER VATER
' med er Fr, a *
2. P we de et
s .4 r . un
au en -
u # N w, r
NEAR
r "2. m.
a Bert
p n Fa a
ya 4 FE ze
en Du A
er ER
er, d “
a N
hr er
DE Won A
> r nn,
D
Eis
. rt
er =; { rn
u, $ den
ER:
5 ” e. AR Fey
” nr en a A un Tr A
v. Schwind: Der Traum des Gefangenen
VORLESUNGEN
ZUR EINFÜHRUNG IN DIE
PSYCHOANALYSE
VON
Pror. Dr. SIGM. FREUD
D-R E.I Kr Beikorr.E
FEHLLEISTUNGEN/DER TRAUM
ALLGEMEINE NEUROÖSENLEHRE
MIT EINER KUNSTBEILAGE
FÜNFTE, DURCHGESEHENE AUFLAGE
(12.15. TAUSEND)
926: |
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
LEIPZIG / WIEN / ZÜRICH
Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung in alle Sprachen,
vorbehalten
Autorisierte Übersetzungen erschienen in folgenden Sprachen: Holländisch (1918) von
van Renterghem, Italienisch (1920) von Dr. Edoardo Weiss, Russisch (1922) von
Dr. Wulff, Französisch (1922) von Dr. Jankelevitch, Englisch (New York ı920) mit
einer Vorrede von G. Stanley Hall und (London ı922) von Joan Riviere, Spanisch (1923)
von Lopez Ballesteros. Die schwedische, die ungarische und die
polnische Übersetzung ist in Vorbereitung
A
Copyright 1926
by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag,
Ges. m. b. H.“, Wien
VORLESUNGEN.
ZUR EINFÜHRUNG IN DIE
PSYCHOANALYSE
Die „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ erschienen zuerst
getrennt indrei Teilen, und zwar I. Teil 1916, 2. Teil sowie 3. Teil 1917 (im
Verlage Hugo Heller & Cie, Leipzig und Wien). Die 2. Auflage erschien
in einem Band vereint 1918. Die 3. Auflage, 1920, erschien im Internatio-
nalen Psychoanalytischen Verlag, Leipzig, Wien, Zürich. Ebendort 1922 die
4. durchgesehene Auflage, 5.—II. Tausend. (Der 2. und der 3. Teil dieser
4. Auflage — „Vorlesungen über den Traum‘‘, bzw. „Allgemeine Neurosen-
lehre‘‘ — erschienen auch separat.)
Im Internationalen Psychoanalytischen Verlag erschien ferner 1922 eine
Taschenausgabe der „Vorlesungen“ (in Taschenformat auf dünnem Papier, in
biegsamen Einband); in demselben Jahre erschien auch die 2. durchgesehene
Auflage der Taschenausgabe (3.—5s. Tausend).
Von den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ erschienen
autorisierte Übersetzungen in folgenden Sprachen:
Holländisch (1918) von van Renterghem,
Italienisch (1920) von Dr. Edoardo Weiß,
Russisch (1922) von Dr. Wulff,
Französisch (1922) von Dr. Jankelevitch,
Englisch (: New York 1920) mit einer Vorrede von G. Stanley Hall und (London
1922) von Joan Riviere,
Ungarisch in Vorbereitung,
Spanisch ,, 5 i
Polnisch „, ”
Schwedisch ,, Re
>
VORWORT
Was ich hier als „Einführung in die Psychoanalyse“ der Öffentlichkeit über-
gebe, will auf keine Weise in Wettbewerb mit den bereits vorliegenden Gesamt-
darstellungen dieses Wissensgebietes treten. (Hitschmann, Freuds Neurosen-
lehre, 2. Aufl., 1913; Pfister, Die psychoanalytische Methode, 1913; Leo
Kaplan, Grundzüge der Psychoanalyse, 1914; RegisetHesnard, LaPsycho-
analyse des nevroses et des psychoses, Paris 1914; Adolf F.Meijer, De Behan-
deling van Zenuwzieken door Psycho-Analyse, Amsterdam 19135.) Es ist die
getreue Wiedergabe von Vorlesungen, die ich in den zwei Wintersemestern
1915/6 und 1ı916/7 vor einer aus Ärzten und Laien und aus beiden Geschlech-
tern gemischten Zuhörerschaft gehalten habe.
Alle Eigentümlichkeiten, durch welche diese Arbeit den Lesern des Buches
auffallen wird, erklären sich aus den Bedingungen ihrer Entstehung. Es war
nicht möglich, in der Darstellung die kühle Ruhe einer wissenschaftlichen Ab-
handlung zu wahren; vielmehr mußte sich der Redner zur Aufgabe machen,
die Aufmerksamkeit der Zuhörer während eines fast zweistündigen Vortrags
nicht erlahmen zu lassen. Die Rücksicht auf die momentane Wirkung machte
es unvermeidlich, daß derselbe Gegenstand eine wiederholte Behandlung fand,
z. B. das eine Mal im Zusammenhang der Traumdeutung und dann später in
dem der Neurosenprobleme. Die Anordnung des Stoffes brachte es auch mit sich,
daß manche wichtige Themen, wie z. B. das des Unbewußten, nicht an einer
einzigen Stelle erschöpfend gewürdigt werden konnten, sondern zu wiederholten
Malen aufgenommen und wieder fallen gelassen wurden, bis sich eine neue
Gelegenheit ergab, etwas zu ihrer Kenntnis hinzuzufügen.
LE Le D
EESE wi nr ey‘ u)
pe ae
Er te,
N eye) ar
»
I. VORLESUNG
EINLEITUNG
Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, wieviel die einzel-
nen von Ihnen aus ihrer Lektüre oder vom Hörensagen über die
Psychoanalyse wissen. Ich bin aber durch den Wortlaut meiner An-
kündigung — Elementare Einführung in die Psychoanalyse — ver-
pflichtet, Sie so zu behandeln, als wüßten Sie nichts und bedürften
einer ersten Unterweisung.
Soviel darf ich allerdings voraussetzen, daß Sie wissen, die Psycho-
analyse sei ein Verfahren, wie man nervös Kranke ärztlich behandelt,
und da kann ıch Ihnen gleich ein Beispiel dafür geben, wie auf diesem
Gebiet so manches anders, oft geradezu verkehrt, vor sich geht als
sonst in der Medizin. Wenn wir sonst einen Kranken einer ihm
neuen ärztlichen Technik unterziehen, so werden wir in der Regel
die Beschwerden derselben vor ihm herabsetzen und ihm zuversicht-
liche Versprechungen wegen des Erfolges der Behandlung geben. Ich
meine, wir sind berechtigt dazu, denn wir steigern durch solches Be-
nehmen die Wahrscheinlichkeit des Erfolges. Wenn wir aber einen
Neurotiker in psychoanalytische Behandlung nehmen, so verfahren
wir anders. Wir halten ihm die Schwierigkeiten der Methode vor,
ihre Zeitdauer, die Anstrengungen und die Opfer, die sie kostet, und
was den Erfolg anbelangt, so sagen wir, wir können ihn nicht sicher
versprechen, er hänge von seinem Benehmen ab, von seinem Ver-
ständnis, seiner Gefügigkeit, seiner Ausdauer. Wir haben natürlich
8 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
gute Motive für ein anscheinend so verkehrtes Benehmen, in welche
sie vielleicht später einmal Einsicht gewinnen werden.
Seien Sie nun nicht böse, wenn ich Sie zunächstähnlich behandle wie
diese neurotischen Kranken. Ich rate Ihnen eigentlich ab, mich ein
zweites Mal anzuhören. Ich werde Ihnen in dieser Absicht vorführen,
welche Unvollkommenheiten notwendigerweise dem Unterricht in der
Psychoanalyse anhaften, und welche Schwierigkeiten der Erwerbung
eines eigenen Urteils entgegenstehen. Ich werde Ihnen zeigen, wie die
ganze Richtung Ihrer Vorbildung und alle Ihre Denkgewohnheiten
Sie unvermeidlich zu Gegnern der Psychoanalyse machen müßten,
und wieviel Sie in sich zu überwinden hätten, um dieser instinktiven
Gegnerschaft Herr zu werden. Was Sie an Verständnis für die Psycho-
analyse aus meinen Mitteilungen gewinnen werden, kann ich Ihnen
natürlich nichtvorhersagen, aber sovielkannichIhnen versprechen, daß
Sie durch das Anhören derselben nicht erlernt haben werden, eine
psychoanalytische Untersuchung vorzunehmen oder eine solche Be-
handlung durchzuführen. Sollte sich aber gar jemand unter Ihnen fin-
den, der sich nicht durch eine flüchtige Bekanntschaft mit der Psycho-
analyse befriedigt fühlte, sondern in eine dauernde Beziehung zu ihr
treten möchte, so werde ich ihm nicht nur abraten, sondern ihn direkt
davor warnen. Wie die Dinge derzeit stehen, würde er sich durch eine
solche Berufswahl jede Möglichkeit eines Erfolges an einer Universität
zerstören, und wenn er als ausübender Arzt ins Leben geht, wird er sich
in einer Gesellschaft finden, welche seine Bestrebungen nicht versteht,
ihn mißtrauisch und feindselig betrachtet und alle bösen, in ihr lauern-
den Geister gegen ihn losläßt. Vielleicht können Sie gerade aus den
Begleiterscheinungen des heute in Europa wütenden Krieges eine un-
gefähre Schätzung ableiten, wieviele Legionen das sein mögen.
Es gibt immerhin Personen genug, für welche etwas, was ein
neues Stück Erkenntnis werden kann, trotz solcher Unbequemlich-
keiten seine Anziehung behält. Sollten einige von Ihnen von dieser Art
sein und mit Hinwegsetzung über meine Abmahnungen das nächste
Mal hier wieder erscheinen, so werden Sie mir willkommen sein.
I. Einleitung EA i 9
Sie haben aber alle ein Anrecht darauf zu erfahren, welches die an-
gedeuteten Schwierigkeiten der Psychoanalyse sind.
Zunächst die der Unterweisung, des Unterrichts in der Psycho-
analyse. Sie sind im medizinischen Unterricht daran gewöhnt worden
zu sehen. Sie sehen das anatomische Präparat, den Niederschlag bei
der chemischen Reaktion, die Verkürzung des Muskels als Erfolg der
Reizung seiner Nerven. Später zeigt man Ihren Sinnen den Kranken,
die Symptome seines Leidens, die Produkte des krankhaften Prozesses,
ja in zahlreichen Fällen die Erreger der Krankheit in isoliertem Zu-
stande. In den chirurgischen Fächern werden Sie Zeugen der Ein-
griffe, durch welche man dem Kranken Hilfe leistet, und dürfen die
Ausführung derselben selbst versuchen. Selbst in der Psychiatrie führt
Ihnen die Demonstration des Kranken an seinem veränderten Mienen-
spiel, seiner Redeweise und seinem Benehmen eine Fülle von Beob-
achtungen zu, die Ihnen tiefgehende Eindrücke hinterlassen. So spielt
der medizinische Lehrer vorwiegend die Rolle eines Führers und Er-
klärers, der Sie durch ein Museum begleitet, während Sie eine un-
mittelbare Beziehung zu den Objekten gewinnen und sich durch
eigene Wahrnehmung von der Existenz der neuen Tatsachen über-
zeugt zu haben glauben.
Das ist leider alles anders in der Psychoanalyse. In der analyti-
schen Behandlung geht nichts anderes vor als ein Austausch von
Worten zwischen dem Analysierten und dem Arzt. Der Patient spricht,
erzählt von vergangenen Frlebnissen und gegenwärtigen Eindrücken,
klagt, bekennt seine Wünsche und Gefühlsregungen. Der Arzt hört
zu, sucht die Gedankengänge des Patienten zu dirigieren, mahnt,
drängt seine Aufmerksamkeit nach gewissen Richtungen, gibt ihm
Aufklärungen und beobachtet die Reaktionen von Verständnis oder
von Ablehnung, welche er so beim Kranken hervorruft. Die unge-
bildeten Angehörigen unserer Kranken — denen nur Sichtbares und
Greifbares imponiert, am liebsten Handlungen, wie man sie im
Kinotheater sieht — versäumen es auch nie, ihre Zweifel zu äußern,
wie man „durch bloße Reden etwas gegen die Krankheit ausrichten
10 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
kann“. Das ist natürlich ebenso kurzsinnig wie inkonsequent gedacht.
Es sind ja dieselben Leute, die so sicher wissen, daß sich die Kranken
ihre Symptome „bloß einbilden“. Worte waren ursprünglich Zauber
und das Wort hat noch heute viel von seiner alten Zauberkraft be-.
wahrt. Durch Worte kann ein Mensch den anderen selig machen oder
zur Verzweiflung treiben, durch Worte überträgt der Lehrer sein
Wissen auf die Schüler, durch Worte reißt der Redner die Versamm-
lung der Zuhörer mit sich fort und bestimmt ihre Urteile und Ent-
scheidungen. Worte rufen Affekte hervor und sind das allgemeine
Mittel zur Beeinflussung der Menschen untereinander. Wir werden
also die Verwendung der Worte in der Psychotherapie nicht gering-
schätzen und werden zufrieden sein, wenn wir Zuhörer der Worte
sein können, die zwischen dem Analytiker und seinem Patienten ge-
wechselt werden.
Aber auch das können wir nicht. Das Gespräch, in dem die psycho-
analytische Behandlung besteht, verträgt keinen Zuhörer; es läßt sich
nicht demonstrieren. Man kann natürlich auch einen Neurastheniker
oder Hysteriker in einer psychiatrischen Vorlesung den Lernenden
vorstellen. Er erzählt dann von seinen Klagen und Symptomen, aber
auch von nichts anderem. Die Mitteilungen, deren die Analyse be-
darf, macht er nur unter der Bedingung einer besonderen Gefühls-
bindung an den Arzt; er würde verstummen, sobald er einen einzigen,
ihm indifferenten Zeugen bemerkte. Denn diese Mitteilungen be-
treffen das Intimste seines Seelenlebens, alles was er als sozial selb-
ständige Person vor anderen verbergen muß, und im weiteren alles,
was er als einheitliche Persönlichkeit sich selbst nicht eingestehen will.
Sie können also eine psychoanalytische Behandlung nicht mitan-
hören. Sie können nur von ihr hören und werden die Psychoanalyse
im strengsten Sinne des Wortes nur vom Hörensagen kennen lernen.
Durch diese Unterweisung gleichsam aus zweiter Hand kommen Sie
in ganz ungewohnte Bedingungen für eine Urteilbildung. Es hängt
offenbar das meiste davon ab, welchen Glauben Sie dem Gewährs-
mann schenken können.
I. Einleitung 11
Nehmen Sie einmal an, Sie wären nicht in eine psychiatrische,
sondern in eine historische Vorlesung gegangen, und der Vortragende
erzählte Ihnen vom Leben und von den Kriegstaten Alexanders des
Großen. Was für Motive hätten Sie, an die Wahrhaftigkeit seiner
Mitteilungen zu glauben? Zunächst scheint die Sachlage noch un-
günstiger zu sein als im Falle der Psychoanalyse, denn der Geschichts-
professor war so wenig Teilnehmer an den Kriegszügen Alexanders
wie Sie; der Psychoanalytiker berichtet Ihnen doch wenigstens von
Dingen, bei denen er selbst eine Rolle gespielt hat. Aber dann kommt
die Reihe an das, was den Historiker beglaubigt. Er kann Sie auf die
Berichte von alten Schriftstellern verweisen, die entweder selbst zeit-
genössisch waren oder den fraglichen Ereignissen doch näher standen,
also auf die Bücher des Diodor, Plutarch, Arrian u.a.; er kann
Ihnen Abbildungen der erhaltenen Münzen und Statuen des Königs
vorlegen und eine Photographie des pompejanischen Mosaiks der
Schlacht bei Issos durch Ihre Reihen gehen lassen. Strenge genommen
beweisen alle diese Dokumente doch nur, daß schon frühere Gene-
rationen an die Existenz Alexanders und an die Realität seiner Taten
geglaubt haben, und Ihre Kritik dürfte hier von neuem einsetzen.
Sie wird dann finden, daß nicht alles über Alexander Berichtete glaub-
würdig oder in seinen Einzelheiten sicherzustellen ist, aber ich kann
doch nicht annehmen, daß Sie den Vorlesungssaal als Zweifler an der
Realität Alexanders des Großen verlassen werden. Ihre Entscheidung
wird hauptsächlich durch zwei Erwägungen bestimmt werden, erstens,
daß der Vortragende kein denkbares Motiv hat, etwas vor Ihnen als
real auszugeben, was er nicht selbst dafür hält, und zweitens, daß alle
erreichbaren Geschichtsbücher die Ereignisse in ungefähr ähnlicher .
Art darstellen. Wenn Sie dann auf die Prüfung der älteren Quellen
eingehen, werden Sie dieselben Momente berücksichtigen, die mög-
lichen Motive der Gewährsmänner und die Übereinstimmung der
Zeugnisse untereinander. Das Ergebnis der Prüfung wird im Falle
Alexanders sicherlich beruhigend sein, wahrscheinlich anders ausfallen,
wenn es sich um Persönlichkeiten wie Moses oder Nimrod handelt.
12 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse |
Welche Zweifel Sie aber gegen die Glaubwürdigkeit des psychoana-
lytischen Berichterstatters erheben können, werden Sie bei späteren
Anlässen deutlich genug erkennen.
Nun werden Sie ein Recht zu der Frage haben: Wenn es keine
objektive Beglaubigung der Psychoanalyse gibt und keine Möglich-
keit, sie zu demonstrieren, wie kann man überhaupt Psychoanalyse
erlernen und sich von der Wahrheit ihrer Behauptungen überzeu-
gen? Dies Erlernen ist wirklich nicht leicht, und es haben auch nicht
viele Menschen die Psychoanalyse ordentlich gelernt, aber es gibt
natürlich doch einen gangbaren Weg. Psychoanalyse erlernt man zu-
nächst am eigenen Leib, durch das Studium der eigenen Persönlich-
keit. Es ist das nicht ganz, was man Selbstbeobachtung heißt, aber
man kann es ihr zur Not subsumieren. Es gibt eine ganze Reihe von
sehr häufigen und allgemein bekannten seelischen Phänomenen, die
man nach einiger Unterweisung in der Technik an sich selbst zu
Gegenständen der Analyse machen kann. Dabei holt man sich die ge-
suchte Überzeugung von der Realität der Vorgänge, welche die
Psychoanalyse beschreibt, und von der Richtigkeit ihrer Auffassungen.
Allerdings sind dem Fortschritte auf diesem Wege bestimmte Grenzen
gesetzt. Man kommt viel weiter, wenn man sich selbst von einem
kundigen Analytiker analysieren läßt, die Wirkungen der Analyse
am eigenen Ich erlebt und dabei die Gelegenheit benützt, dem an-
deren die feinere Technik des Verfahrens abzulauschen. Dieser aus-
gezeichnete Weg ist natürlich immer nur für eine einzelne Person,
niemals für ein ganzes Kolleg auf einmal gangbar.
Für eine zweite Schwierigkeit in Ihrem Verhältnis zur Psycho-
analyse kann ich nicht mehr diese, muß ich Sie selbst, meine Hörer,
verantwortlich machen, wenigstens insoweit Sie bisher medizinische
Studien betrieben haben. Ihre Vorbildung hat Ihrer Denktätigkeit
eine bestimmte Richtung gegeben, die weit von der Psychoanalyse
abführt. Sie sind darin geschult worden, die Funktionen des Organis-
mus und ihre Störungen anatomisch zu begründen, chemisch und
physikalisch zu erklären und biologisch zu erfassen, aber kein Anteil
I. Einleitung 13
Ihres Interesses ist auf das psychische Leben gelenkt worden, in dem
doch die Leistung dieses wunderbar komplizierten Organismus gipfelt.
Darum ist Ihnen eine psychologische Denkweise fremd geblieben,
und Sie haben sich gewöhnt eine solche mißtrauisch zu betrachten,
ihr den Charakter der Wissenschaftlichkeit abzusprechen und sie den
Laien, Dichtern, Naturphilosophen und Mystikern zu überlassen.
Diese Einschränkung ist gewiß ein Schaden für Ihre ärztliche Tätig-
keit, denn der Kranke wird Ihnen, wie es bei allen menschlichen Be-
ziehungen Regel ist, zunächst seine seelische Fassade entgegenbringen,
und ich fürchte, Sie werden zur Strafe genötigt sein, einen Anteil
des therapeutischen Einflusses, den sie anstreben, den von Ihnen so
verachteten Laienärzten, Naturheilkünstlern und Mystikern zu über-
lassen.
Ich verkenne nicht, welche Entschuldigung man für diesen Mangel
Ihrer Vorbildung gelten lassen muß. Es fehlt die philosophische Hilfs-
wissenschaft, welche für Ihre ärztlichen Absichten dienstbar gemacht
werden könnte. Weder die spekulative Philosophie noch die deskrip-
tive Psychologie oder die an die Sinnesphysiologie anschließende so-
genannte experimentelle Psychologie, wie sie in den Schulen gelehrt
werden, sind imstande, Ihnen über die Beziehung zwischen dem Kör-
perlichen und Seelischen etwas Brauchbares zu sagen, und Ihnen die
Schlüssel zum Verständnis einer möglichen Störung der seelischen
Funktionen in die Hand zu geben. Innerhalb der Medizin beschäftigt
sich zwar die Psychiatrie damit, die beobachteten Seelenstörungen zu
beschreiben und zu klinischen Krankheitsbildern zusammenzustellen,
aber in guten Stunden zweifeln die Psychiater selbst daran, ob ihre
rein deskriptiven Aufstellungen den Namen einer Wissenschaft ver-
dienen. Die Symptome, welche diese Krankheitsbilder zusammen-
setzen, sind nach ihrer Herkunft, ihrem Mechanismus und in ihrer
gegenseitigen Verknüpfung unerkannt; es entsprechen ihnen ent-
weder keine nachweisbaren Veränderungen des anatomischen Organs
der Seele, oder solche, aus denen sie eine Aufklärung nicht finden
können. Einer therapeutischen Beeinflussung sind diese Seelenstö-
14 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
rungen nur dann zugänglich, wenn sie sich als Nebenwirkungen .
einer sonstigen organischen Affektion erkennen lassen.
Hier ist die Lücke, welche die Psychoanalyse auszufüllen estmebt
ist. Sie will der Psychiatrie die vermißte psychologische Grundlage
geben, sie hofft, den gemeinsamen Boden aufzudecken, von dem aus
das Zusammentreffen körperlicher mit seelischer Störung verständlich
wird. Zu. diesem Zweck muß sie sich von jeder ihr fremden Voraus-
setzung anatomischer, chemischer oder physiologischer Natur frei
halten, durchaus mit rein psychologischen Hilfsbegriffen arbeiten,
und gerade darum, fürchte ich, wird sie Ihnen zunächst fremdartig
erscheinen.
An der nächsten Schwierigkeit will ich Sie, Ihre Vorbildung oder
Einstellung, nicht mitschuldig machen. Mit zweien ihrer Aufstel-
lungen beleidigt die Psychoanalyse die ganze Welt und zieht sich
deren Abneigung zu; die eine davon verstößt gegen ein intellektuelles,
die andere gegen ein ästhetisch-moralisches Vorurteil. Lassen Sie uns
nicht zu gering von diesen Vorurteilen denken; es sind machtvolle
Dinge, Niederschläge von nützlichen, ja notwendigen Entwicklungen
der Menschheit. Sie werden durch affektive Kräfte festgehalten und
der Kampf gegen sie ist ein schwerer.
Die erste dieser unliebsamen Behauptungen der Psychoanalyse be-
sagt, daß die seelischen Vorgänge an und für sich unbewußt sind
und die bewußten bloß einzelne Akte und Anteile des ganzen Seelen-
lebens. Erinnern Sie sich, daß wir im Gegenteile gewöhnt sind, Psy-
chisches und Bewußtes zu identifizieren. Das Bewußtsein gilt uns
geradezu als der definierende Charakter des Psychischen, Psychologie
als die Lehre von den Inhalten des Bewußtseins. J a, so selbstverständ-
lich erscheint uns diese Gleichstellung, daß wir einen Widerspruch
gegen sie als offenkundigen Widersinn zu empfinden glauben, und
doch kann die Psychoanalyse nicht umhin, diesen Widerspruch zu
erheben, sie kann die Identität von Bewußtem und Seelischem nicht
annehmen. Ihre Definition des Seelischen lautet, es seien Vorgänge
von der Art des Fühlens, Denkens, Wollens, und sie muß vertreten,
J. Einleitung 15
daß es unbewußtes Denken und ungewußtes Wollen gibt. Damit
hat sie aber von vornherein die Sympathie aller Freunde nüchterner
Wissenschaftlichkeit verscherzt und sich in den Verdacht einer phan-
tastischen Geheimlehre gebracht, die im Dunkeln bauen, im Trüben
fischen möchte. Sie aber, meine Hörer, können natürlich noch nicht
verstehen, mit welchem Recht ich einen Satz von so abstrakter Natur
wie: „Das Seelische ist das Bewußte“ für ein Vorurteil ausgeben
kann, können auch nicht erraten, welche Entwicklung zur Verleug-
nung des Unbewußten geführt haben kann, wenn ein solches exi-
stieren sollte, und welcher Vorteil sich bei dieser Verleugnung er-
geben haben mag. Es klingt wie ein leerer Wortstreit, ob man,das
Psychische mit dem Bewußten zusammenfallen lassen oder es darüber
hinaus erstrecken soll, und doch kann ich Ihnen versichern, daß mit
der Annahme unbewußter Seelenvorgänge eine entscheidende Neu-
orientierung in Welt und Wissenschaft angebahnt ist.
Ebensowenig können Sie ahnen, ein wie inniger Zusammenhang
diese erste Kühnheit der Psychoanalyse mit der nun zu erwähnen-
den zweiten verknüpft. Dieser andere Satz, den die Psychoanalyse
als eines ihrer Ergebnisse verkündet, enthält nämlich die Behaup-
tung, daß Triebregungen, welche man nur als sexuelle im engeren
wie im weiteren Sinn bezeichnen kann, eine ungemein große und
bisher nie genug gewürdigte Rolle in der Verursachung der Nerven-
und Geisteskrankheiten spielen. Ja noch mehr, daß dieselben sexu-
ellen Regungen auch mit nicht zu unterschätzenden Beiträgen an
den höchsten kulturellen, künstlerischen und sozialen Schöpfungen
des Menschengeistes beteiligt sind.
Nach meiner Erfahrung ist die Abneigung gegen dieses Resultat
der psychoanalytischen Forschung die bedeutsamste Quelle des Wider-
standes, auf den sie gestoßen ist. Wollen Sie wissen, wie wir uns das
erklären? Wir glauben, die Kultur ist unter dem Antrieb der Lebens-
not auf Kosten der Triebbefriedigung geschaffen worden, und sie
wird zum großen Teil immer wieder von neuem erschaffen, indem
der Einzelne, der neu in die menschliche Gemeinschaft eintritt, die
16 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Opfer an Triebbefriedigung zu Gunsten des Ganzen wiederholt. Unter
den so verwendeten Triebkräften spielen die der Sexualregungen eine
bedeutsame Rolle; sie werden dabei sublimiert, d. h. von ihren sexu-
ellen Zielen abgelenkt und auf sozial höherstehende, nicht mehr sexu-
elle, gerichtet. Dieser Aufbau ist aber labil, die Sexualtriebe sind
schlecht gebändigt, es besteht bei jedem Einzelnen, der sich dem
Kulturwerk anschließen soll, die Gefahr, daß sich seine Sexualtriebe
dieser Verwendung weigern. Die Gesellschaft glaubt an keine stär-
kere Bedrohung ihrer Kultur, als ihr durch die Befreiung der Sexual-
triebe und deren Wiederkehr zu ihren ursprünglichen Zielen er-
wachsen würde. Die Gesellschaft liebt es also nicht, an dieses heikle
Stück ihrer Begründung gemahnt zu werden, sie hat gar kein Inter-
esse daran, daß die Stärke der Sexualtriebe anerkannt und die Be-
deutung des Sexuallebens für den Einzelnen klargelegt werde, sie
hat vielmehr in erziehlicher Absicht den Weg eingeschlagen, die
Aufmerksamkeit von diesem ganzen Gebiet abzulenken. Darum ver-
trägt sie das genannte Forschungsresultat der Psychoanalyse nicht,
möchte es am liebsten als ästhetisch abstoßend, moralisch verwerflich
oder als gefährlich brandmarken. Aber mit solchen Einwürfen kann
man einem angeblich objektiven Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit
nichts anhaben. Der Widerspruch muß aufs intellektuelle Gebiet über-
setzt werden, wenn er laut werden soll. Nun liegt es in der mensch-
lichen Natur, daß man geneigt ist, etwas für unrichtig zu halten,
wenn man es nicht mag, und dann ist es leicht, Argumente dagegen
zu finden. Die Gesellschaft macht also das Unliebsame zum Unrich-
tigen, bestreitet die Wahrheiten der Psychoanalyse mit logischen
und sachlichen Argumenten, aber aus affektiven Quellen, und hält
diese Einwendungen als Vorurteile gegen alle Versuche der Wider-
legung fest.
Wir aber dürfen behaupten, meine Damen und Herren, daß wir
bei der Aufstellung jenes beanständeten Satzes überhaupt keine Ten-
denz verfolgt haben. Wir wollten nur einer Tatsächlichkeit Ausdruck
geben, die wir in mühseliger Arbeit erkannt zu haben glaubten. Wir
I. Einleitung 17
nehmen auch jetzt das Recht in Anspruch, die Einmengung solcher
praktischer Rücksichten in die wissenschaftliche Arbeit unbedingt
zurückzuweisen, auch ehe wir untersucht haben, ob die Befürchtung,
welche uns diese Rücksichten diktieren will, berechtigt ist oder nicht.
Das wären nun einige der Schwierigkeiten, welche Ihrer Beschäf-
tigung mit der Psychoanalyse entgegenstehen. Es ist vielleicht mehr
als genug für den Anfang. Wenn Sie deren Eindruck überwinden
können, wollen wir fortsetzen.
Freud, VII. “ 2
II. VORLESUNG
DIE FEHLLEISTUNGEN
Meine Damen und Herren! Wir beginnen nicht mit Voraussetzun-
gen, sondern mit einer Untersuchung. Zu deren Objekt wählen wir
gewisse Phänomene, die sehr häufig, sehr bekannt und sehr wenig
gewürdigt sind, die insofern nichts mit Krankheiten zu tun haben,
als sie bei jedem Gesunden beobachtet werden können. Es sind dies
die sogenannten Fehlleistungen des Menschen, wie wenn jemand
etwas sagen will und dafür ein anderes Wort sagt, das Versprechen,
oder ihm dasselbe beim Schreiben geschieht, was er entweder be-
merken kann oder nicht; oder wenn jemand im Druck oder in der
Schrift etwas anderes liest, als was da zu lesen ist, das Verlesen;
ebenso wenn er etwas falsch hört, was zu ihm gesagt wird, das Ver-
hören, natürlich ohne daß eine organische Störung seines Hörver-
mögens dabei in Betracht kommt. Eine andere Reihe solcher Erschei-
nungen hat ein Vergessen zur Grundlage, aber kein dauerndes, son-
dern ein nur zeitweiliges, z. B. wenn jemand einen Namen nicht
finden kann, den er doch kennt und regelmäßig wiedererkennt, oder
wenn er einen Vorsatz auszuführen vergißt, den er doch später er-
innert, also nur für einen gewissen Zeitpunkt vergessen hatte. In einer
dritten Reihe enttällt diese Bedingung des nur Zeitweiligen, z. B.
beim Verlegen, wenn jemand einen Gegenstand irgendwo unter-
bringt und ihn nicht mehr aufzufinden weiß, oder beim ganz ana-
logen Verlieren. Es liegt da ein Vergessen vor, welches man anders
II. Die Fehlleistungen 19
behandelt als anderes Vergessen, über das man sich wundert oder
ärgert, anstatt es begreiflich zu finden. Daran schließen sich gewisse
Irrtümer, bei denen wieder die Zeitweiligkeit zum Vorschein kommt,
indem man eine Zeitlang etwas glaubt, wovon man doch vorher und
später weiß, daß es anders ist, und eine Anzahl von ähnlichen Er-
scheinungen unter verschiedenen Namen.
Es sind das alles Vorfälle, deren innere Verwandtschaft durch die
gleiche Bezeichnung mit der Vorsilbe „ver-“ zum Ausdruck kommt, fast
alle von unwichtiger Natur, meist von sehr flüchtigem Bestand, ohne
viel Bedeutung im Leben der Menschen. Nur selten erhebt sich eines
davon wie das Verlieren von Gegenständen zu einer gewissen prak-
tischen Wichtigkeit. Sie finden darum auch nicht viel Aufmerksam-
keit, erregen nur schwache Affekte usw.
Für diese Phänomene will ich also jetzt Ihre Aufmerksamkeit
in Anspruch nehmen. Sie aber werden mir unmutig entgegenhal-
ten: „Es gibt soviel großartige Rätsel in der Welt wie in der enge-
ren des Seelenlebens, so viele Wunder auf dem Gebiet der Seelen-
störungen, die Aufklärung fordern und verdienen, daß es wirk-
lich mutwillig scheint, Arbeit und Interesse an solche Kleinigkeiten
zu vergeuden. Wenn Sie uns verständlich machen könnten, wieso
ein Mensch mit gesunden Augen und Ohren bei lichtem Tag Dinge
sehen und hören kann, die es nicht gibt, warum ein anderer sich
plötzlich von denen verfolgt glaubt, die ihm bisher die Liebsten
waren, oder mit der scharfsinnigsten Begründung Wahngebilde ver-
tritt, die jedem Kinde als unsinnig erscheinen müssen, dann wür-
den wir etwas von der Psychoanalyse halten, aber wenn sie nichts
anderes kann als uns damit zu beschäftigen, warum ein Festredner
einmal ein Wort für ein anderes sagt, oder warum eine Hausfrau
ihre Schlüssel verlegt hat und ähnliche Nichtigkeiten, dann werden
auch wir mit unserer Zeit und unserem Interesse etwas Besseres an-
zufangen wissen.“
Ich würde Ihnen antworten: Geduld, meine Damen und Herren!
Ich meine, Ihre Kritik ist nicht auf der richtigen Spur. Es ist wahr,
2*
20 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
die Psychoanalyse kann nicht von sich rühmen, daß sie sich nie
mit Kleinigkeiten abgegeben hat. Im Gegenteil, ihren Beobachtungs-
stoff bilden gewöhnlich jene unscheinbaren Vorkommnisse, die von
den anderen Wissenschaften als allzu geringfügig bei Seite geworfen
werden, sozusagen der Abhub der Erscheinungswelt. Aber verwech-
seln Sie in Ihrer Kritik nicht die Großartigkeit der Probleme mit der
Auffälligkeit der Anzeichen? Gibt es nicht sehr bedeutungsvolle Dinge,
die sich unter gewissen Bedingungen und zu gewissen Zeiten nur
durch ganz schwache Anzeichen verraten können? Ich könnte Ihnen
mit Leichtigkeit mehrere solche Situationen anführen. Aus welchen
geringfügigen Anzeichen schließen Sie, die jungen Männer unter
Ihnen, daß Sie die Neigung einer Dame gewonnen haben? Warten
Sie dafür eine ausdrückliche Liebeserklärung, eine stürmische Um-
armung ab, oder reicht Ihnen nicht ein von anderen kaum bemerkter
Blick, eine flüchtige Bewegung, eine Verlängerung des Händedrucks
um eine Sekunde aus? Und wenn Sie als Kriminalbeamter an der
Untersuchung einer Mordtat beteiligt sind, erwarten Sie dann wirk-
lich zu finden, daß der Mörder seine Photographie samt beigefügter
Adresse an dem Tatorte zurückgelassen hat, oder werden Sie sich
nicht notwendigerweise mit schwächeren und undeutlicheren Spuren
der gesuchten Persönlichkeit begnügen? Lassen Sie uns also die kleinen
Anzeichen nicht unterschätzen; vielleicht gelingt es, von ihnen aus
Größerem auf die Spur zu kommen. Und dann, ich denke wie Sie,
daß die großen Probleme in Welt und Wissenschaft das erste Anrecht
an unser Interesse haben. Aber es nützt meistens nur sehr wenig,
wenn man den lauten Vorsatz faßt, sich jetzt der Erforschung dieses
oder jenes großen Problems zuzuwenden. Man weiß dann oft nicht,
wohin man den nächsten Schritt richten soll. In der. wissenschaftlichen
Arbeit ist es aussichtsreicher, das anzugreifen, was man gerade vor
sich hat und zu dessen Frforschung sich ein Weg ergibt. Macht
man das recht gründlich, voraussetzungs- und erwartungslos und hat
man Glück, so kann sich infolge des Zusammenhanges, der alles mit
allem verknüpft, auch das Kleine mit dem Großen, auch aus so an-
IT. Die Fehlleistungen 21
spruchsloser Arbeit ein Zugang zum Studium der großen Probleme
ergeben.
So würde ich also sprechen, um Ihr Interesse bei der Behandlung
der anscheinend so nichtigen Fehlleistungen der Gesunden festzu-
halten. Wir wollen jetzt irgend jemanden, dem die Psychoanalyse
fremd ist, heranziehen und ihn fragen, wie er sich das Vorkommen
solcher Dinge erklärt.
Er wird gewiß zuerst antworten: O, das ist keiner Erklärung wert;
das sind kleine Zufälligkeiten. Was meint der Mann damit? Will er
behaupten, daß es noch so kleine Geschehnisse gibt, die aus der Ver-
kettung des Weltgeschehens herausfallen, die ebensogut nicht sein
könnten, wie sie sind? Wenn jemand so den natürlichen Determinis-
mus an einer einzigen Stelle durchbricht, hat er die ganze wissen-
schaftliche Weltanschauung über den Haufen geworfen. Man darf ihm
dann vorhalten, um wie vieles konsequenter sich selbst die religiöse
Weltanschauung benimmt, wenn sie nachdrücklich versichert, es falle
kein Sperling vom Dach ohne Gottes besonderen Willen. Ich meine,
unser Freund wird die Konsequenz aus seiner ersten Antwort nicht
ziehen wollen, er wird einlenken und sagen, wenn er diese Dinge
studiere, finde er allerdings Erklärungen für sie. Es handle sich um
kleine Entgleisungen der Funktion, Ungenauigkeiten der seelischen
Leistung, deren Bedingungen sich angeben ließen. Ein Mensch, der
sonst richtig sprechen kann, mag sich in der Rede versprechen, ı. wenn
er leicht unwohl und ermüdet ist, 2. wenn er aufgeregt, 7. wenn er
von anderen Dingen überstark in Anspruch genommen ist. Es ist
leicht, diese Angaben zu bestätigen. Das Versprechen tritt wirklich
besonders häufig auf, wenn man ermüdet ist, Kopfschmerzen hat oder
vor einer Migräne steht. Unter denselben Umständen ereignet sich
leicht das Vergessen von Eigennamen. Manche Personen sind daran
gewöhnt, an diesem Entfallen der Eigennamen die herannahende
Migräne zu erkennen. Auch in der Aufregung verwechselt man oft
die Worte, aber auch die Dinge, man „vergreift sich“, und das Ver-
gessen von Vorsätzen, sowie eine Menge von anderen unbeabsichtigten
22 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Handlungen wird auffällig, wenn man zerstreut, d.h. eigentlich auf
etwas anderes konzentriert ist. Ein bekanntes Beispiel solcher Zer-
streutheit ist der Professor der „Fliegenden Blätter“, der seinen Schirm
stehen läßt und seinen Hut verwechselt, weil er an die Probleme
denkt, die erin seinem nächsten Buch behandeln wird. Beispiele dafür,
wie man Vorsätze, die man gefaßt, Versprechungen, die man gemacht
hat, vergessen kann, weil man inzwischen etwas erlebt hat, wovon
man stark in Anspruch genommen wurde, kennt jeder von uns aus
eigener Erfahrung.
Das klingt so ganz verständig und scheint auch gegen Widerspruch
gefeit zu sein. Es ist vielleicht nicht sehr interessant, nicht so, wie
wir es erwartet haben. Fassen wir diese Erklärungen der Fehlleistungen
näher ins Auge. Die Bedingungen, die für das Zustandekommen dieser
Phänomene angegeben werden, sind unter sich nicht gleichartig. Un-
wohlsein und Zirkulationsstörung geben eine physiologische Begrün-
dung für die Beeinträchtigung,der normalen F unktion; Erregung, Er-
müdung, Ablenkung sind Momente anderer Art, die man psycho-
physiologische nennen könnte. Diese letzteren lassen sich leicht in
Theorie übersetzen. Sowohl durch die Ermüdung wie durch die Ab-
lenkung, vielleicht auch durch die allgemeine Erregung, wird eine
Verteilung der Aufmerksamkeit hervorgerufen, die zur F olge haben
kann, daß sich der betreffenden Leistung zu wenig Aufmerksamkeit
zuwendet. Diese Leistung kann dann besonders leicht gestört, un-
genau ausgeführt werden. Leichtes Kranksein, Abänderungen der
Blutversorgung im nervösen Zentralorgan können dieselbe Wirkung
haben, indem sie das maßgebende Moment, die Verteilung der Auf-
merksamkeit in ähnlicher Weise beeinflussen. Es würde sich also in
allen Fällen um die Effekte einer Aufmerksamkeitsstörung handeln,
entweder aus organischen oder aus psychischen Ursachen.
Dabei scheint nicht viel für unser psychoanalytisches Interesse
herauszuschauen. Wir könnten uns versucht fühlen, das Thema wieder
aufzugeben. Allerdings, wenn wir näher auf die Beobachtungen ein-
gehen, stimmt nicht alles zu dieser Aufmerksamkeitstheorie der Fehl-
II. Die Fehlleistungen 23
leistungen oder leitet sich wenigstens nicht natürlich aus ihr ab. Wir
machen die Erfahrung, daß solche Fehlhandlungen und solches Ver-
gessen auch bei Personen vorkommen, die nicht ermüdet, zerstreut
oder aufgeregt sind, sondern sich nach jeder Richtung in ihrem Nor-
malzustand befinden, es sei denn, man wolle den Betreffenden gerade
wegen der Fehlleistung nachträglich eine Aufgeregtheit zuschreiben,
zu welcher sie sich aber selbst nicht bekennen. Es kann auch nicht
so einfach zugehen, daß eine Leistung durch die Steigerung der auf
sie gerichteten Aufmerksamkeit garantiert, durch die Herabsetzung
derselben gefährdet wird. Es gibt eine große Menge von Verrich-
tungen, die man rein automatisch, mit sehr geringer Aufmerksam-
keit vollzieht, und dabei doch ganz sicher ausführt. Der Spazier-
gänger, der kaum weiß, wo er geht, hält doch den richtigen Weg
ein und macht am Ziele halt, ohne sich vergangen zu haben.
Wenigstens in der Regel trifft er es so. Der geübte Klavierspieler
greift, ohne daran zu denken, die richtigen Tasten. Er kann sich
natürlich auch einmal vergreifen, aber wenn das automatische Spie-
len die Gefahr des Vergreifens steigerte, müßte gerade der Vir-
tuose, dessen Spiel durch große Übung ganz und gar automatisch
geworden ist, dieser Gefahr am meisten ausgesetzt sein. Wir sehen
im Gegenteil, daß viele Verrichtungen ganz besonders sicher geraten,
wenn sie nicht Gegenstand einer besonders hohen Aufmerksamkeit
sind, und daß das Mißgeschick der Fehlleistung gerade dann auf-
treten kann, wenn an der richtigen Leistung besonders viel gelegen
ist, eine Ablenkung der nötigen Aufmerksamkeit also sicherlich
nicht stattfindet. Man kann dann sagen, das sei der Effekt der „Auf-
regung“, aber wir verstehen nicht, warum die Aufregung die Zu-
. wendung der Aufmerksamkeit zu dem mit soviel Interesse Beab-
sichtigten nicht vielmehr steigert. Wenn jemand in einer wichtigen
Rede oder mündlichen Verhandlung durch ein Versprechen das
Gegenteil von dem sagt, was er zu sagen beabsichtigt, so ist das nach
der psycho-physiologischen oder Aufmerksamkeitstheorie kaum zu
erklären.
24 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Es gibt auch bei den Fehlleistungen so viele kleine Nebenerschei-
nungen, die man nicht versteht, und die uns durch die bisherigen
Aufklärungen nicht näher gebracht werden. Wenn man z. B. einen
Namen zeitweilig vergessen hat, so ärgert man sich darüber, will
ihn durchaus erinnern und kann von der Aufgabe nicht ablassen.
Warum gelingt es dem Geärgerten so überaus selten, seine Aufmerk-
samkeit, wie er doch möchte, auf das Wort zu lenken, das ihm, wie
er sagt, „auf der Zunge liegt“, und das er sofort erkennt, wenn es
vor ihm ausgesprochen wird? Oder: es kommen Fälle vor, in denen
die Fehlleistungen sich vervielfältigen, sich miteinander verketten,
einander ersetzen. Das erste Mal hatte man ein Rendezvous vergessen;
das nächste Mal, für das man den Vorsatz, ja nicht zu vergessen, ge-
faßt hat, stellt es sich heraus, daß man sich irrtümlich eine andere
Stunde gemerkt hat. Man sucht sich auf Umwegen auf ein verges-
senes Wort zu besinnen, dabei entfällt einem ein zweiter Name, der
beim Aufsuchen des ersten hätte behilflich sein können. Geht man
jetzt diesem zweiten Namen nach, so entzieht sich ein dritter usw.
Dasselbe kann sich bekanntlich auch bei Druckfehlern ereignen, die
ja als Fehlleistungen des Setzers aufzufassen sind. Ein solcher hart-
näckiger Druckfehler soll sich einmal in ein sozialdemokratisches
Blatt eingeschlichen haben. In dem Berichte über eine gewisse Fest-
lichkeit war zu lesen: Unter den Anwesenden bemerkte man auch
seine Hoheit, den Kornprinzen. Am nächsten Tag wurde eine Kor-
rektur versucht. Das Blatt entschuldigte sich und schrieb: Es hätte
natürlich heißen sollen: den Knorprinzen. Man spricht in solchen
Fällen gerne vom Druckfehlerteufel, vom Kobold des Setzkastens und
dergleichen, Ausdrücke, die jedenfalls über eine psycho-physiologische
Theorie des Druckfehlers hinausgehen.
Ich weiß auch nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß man das Ver-
sprechen provozieren, sozusagen durch Suggestion hervorrufen kann.
Eine Anekdote berichtet hiezu: Als einmal ein N euling auf der Bühne
mit der wichtigen Rolle betraut war, in der „Jungfrau von Orleans“
dem König zu melden, daß der Connetable sein Schwert zurückschickt,
II. Die Fehlleistungen 25
machte sich ein Heldendarsteller den Scherz, während der Probe dem
schüchternen Anfänger wiederholt anstatt dieses Textes vorzusagen:
Der Komfortabel schickt sein Pferd zurück, und er erreichte seine
Absicht. In der Vorstellung debütierte der Unglückliche wirklich mit
dieser abgeänderten Meldung, obwohl er genug gewarnt war oder
vielleicht gerade darum.
Alle diese kleinen Züge der Fehlleistungen werden durch die
Theorie der Aufmerksamkeitsentziehung nicht gerade aufgeklärt.
Aber darum braucht diese Theorie noch nicht falsch zu sein. Es fehlt
ihr vielleicht an etwas, an einer Ergänzung, damit sie voll befriedigend
werde. Aber auch manche der Fehlleistungen selbst können noch von
einer anderen Seite betrachtet werden.
Greifen wir als die für unsere Absichten geeignetste unter den
Fehlleistungen, das Versprechen heraus. Wir könnten ebensogut
das Verschreiben oder Verlesen wählen. Da müssen wir uns denn
einmal sagen, daß wir bisher nur danach gefragt haben, wann, unter
welchen Bedingungen man sich verspricht, und auch nur darauf eine
Antwort bekommen haben. Man kann aber auch sein Interesse anders
richten und wissen wollen, warum man sich gerade in dieser Weise
verspricht und in keiner anderen; man kann das in Betracht ziehen,
was beim Versprechen herauskommt. Sie sehen ein, solange man nicht
diese Frage beantwortet, den Effekt des Versprechens aufklärt, bleibt
das Phänomen nach seiner psychologischen Seite eine Zufälligkeit,
mag es auch eine physiologische Erklärung gefunden haben. Wenn
sıch mir ein Versprechen ereignet, könnte ich mich offenbar in un-
endlich vielen Weisen versprechen, für das eine richtige Wort eines
von tausend anderen sagen, ungezählt viele Entstellungen an dem
richtigen Wort vornehmen. Gibt es nun irgend etwas, was mir im
besonderen Falle von allen möglichen gerade die eine Weise des Ver-
sprechens aufdrängt, oder bleibt das Zufall, Willkür und läßt sich zu
dieser Frage vielleicht überhaupt nichts Vernünftiges vorbringen?
Zwei Autoren, Meringer und Mayer (ein Philologe und ein Psy-
chiater), haben denn auch im Jahre 1895 den Versuch gemacht, die
26 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Frage des Versprechens von dieser Seite her anzugreifen. Sie haben
Beispiele gesammelt und zunächst nach rein deskriptiven Gesichts-
punkten beschrieben. Das gibt natürlich noch keine Erklärung, kann
aber den Weg zu ihr finden lassen. Sie unterscheiden die Entstel-
lungen, welche die intendierte Rede durch das Versprechen erfährt,
als: Vertauschungen, Vorklänge, Nachklänge, Vermengungen (Kon-
taminationen) und Ersetzungen (Substitutionen). Ich werde Ihnen
von diesen Hauptgruppen der beiden Autoren Beispiele vorführen.
Ein Fall von Vertauschung ist es, wenn jemand sagt: Die Milo von
Venus anstatt: Die Venus von Milo (Vertauschung in der Reihen-
folge der Worte); ein Vorklang: Es war mir auf der Schwest...
auf der Brust so schwer; ein Nachklang wäre der bekannte verun-
glückte Toast: Ich fordere Sie auf, auf das Wohl unseres Chefs auf-
zustoßen. Diese drei Formen des Versprechens sind nicht gerade
häufig. Weit zahlreicher werden Sie die Beobachtung finden, in denen
das Versprechen durch eine Zusammenziehung oder Vermengung
entsteht, z. B. wenn ein Herr eine Dame auf der Straße mit den
Worten anspricht: Wenn Sie gestatten, mein Fräulein, möchte ich
Sie gerne begleit—digen. In dem Mischwort steckt außer dem Be-
gleiten offenbar auch das Beleidigen. (Nebenbei, der junge Mann
wird bei der Dame nicht viel Erfolg gehabt haben.) Als eine Erset-
zung führen M. und M. den Fall an, daß einer sagt: Ich gebe die
Präparate in den Briefkasten anstatt Brütkasten u. dgl.
Der Erklärungsversuch, den die beiden Autoren auf ihre Samm-
lung von Beispielen gründen, ist ganz besonders unzulänglich. Sie
meinen, daß die Laute und Silben eines Wortes verschiedene Wertig-
keit haben, und daß die Innervation des hochwertigen Elements die
der minderwertigen störend beeinflussen kann. Dabei fußen sie offen-
bar auf den an sich gar nicht so häufigen Vor- und Nachklängen;
für andere Erfolge des Versprechens kommen diese Lautbevorzu-
gungen, wenn sie überhaupt existieren, gar nicht in Betracht. Am
häufigsten verspricht man sich doch, indem man anstatt eines Wortes
ein anderes, ihm sehr ähnliches sagt, und diese Ähnlichkeit genügt
II. Die Fehlleistungen 27
vielen zur Erklärung des Versprechens. Zum Beispiel ein Professor
in seiner Antrittsrede: Ich bin nicht geneigt (geeignet), die Ver-
dienste meines sehr geschätzten Vorgängers zu würdigen. Oder ein
anderer Professor: Beim weiblichen Genitale hat man trotz vieler
Versuchungen...Pardon: Versuche ...
Die gewöhnlichste und auch die auffälligste Art des Versprechens
ist aber die zum genauen Gegenteil dessen, was man zu sagen be-
absichtigt. Dabei kommt man natürlich von den Lautbeziehungen
und Ähnlichkeitswirkungen weit ab und kann sich zum Ersatz dafür
darauf berufen, daß Gegensätze eine starke begriffliche Verwandt-
schaft miteinander haben und einander in der psychologischen Asso-
ziation besonders nahestehen. Es gibt historische Beispiele dieser
Art: Ein Präsident unseres Abgeordnetenhauses eröffnete einmal
die Sitzung mit den Worten: Meine Herren, ich konstatiere die
Anwesenheit von ... Mitgliedern und erkläre somit die Sitzung für
geschlossen.
Ähnlich verführerisch wie die Gegensatzbeziehung wirkt dann
irgendeine andere geläufige Assoziation, die unter Umständen recht
unpassend auftauchen kann. So wird z. B. erzählt, daß bei einer Fest-
lichkeit zu Ehren der Heirat eines Kindes von H. Helmholtz
mit einem Kinde des bekannten Entdeckers und Großindustriellen
W. Siemens der berühmte Physiologe Dubois-Reymond die Fest-
rede zu halten hatte. Er schloß seinen sicherlich glänzenden Toast
mit den Worten: Also es lebe die neue Firma: Siemens und —
Halske! Das war natürlich der Namen der alten Firma. Die Zusam-
menstellung der beiden Namen mußte dem Berliner ebenso geläufig
sein wie etwa dem Wiener die: Riedel und Beutel.
So müssen wir also zu den Lautbeziehungen und zur Wortähnlich-
keit noch den Einfluß der Wortassoziationen hinzunehmen. Aber damit
nicht genug. In einer Reihe von Fällen scheint die Auf klärung des beo-
bachteten Versprechens nicht eher zu gelingen, als bis wir mit in
Betracht gezogen haben, was einen Satz vorher gesprochen oder auch
nur gedacht wurde. Also wiederum ein Fall von Nachklingen, wie
28 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
der von Meringer betonte, nur von größerer Ferne her. — Ich muß
gestehen, ich habe im ganzen den Eindruck, als wären wir jetzt einem
Verständnis der Fehlleistung des Versprechens ferner gerückt denn je!
Indes, ich hoffe nicht irre zu gehen, wenn ich es ausspreche, daß
wir alle während der eben angestellten Untersuchung einen neuen
Eindruck von den Beispielen des Versprechens bekommen haben, bei
dem zu verweilen sich doch lohnen könnte. Wir hatten die Bedin-
gungen untersucht, unter denen ein Versprechen überhaupt zustande
kommt, dann die Einflüsse, welche die Art der Entstellung durch
das Versprechen bestimmen, aber den Effekt des Versprechens für
sich allein, ohne Rücksicht auf seine Entstehung, haben wir noch
gar nicht ins Auge gefaßt. Entschließen wir uns auch dazu, so müssen
wir endlich den Mut finden zu sagen: In einigen der Beispiele hat
ja auch das einen Sinn, was beim Versprechen zustande gekommen
ist. Was heißt das, es hat einen Sinn? Nun, es will sagen, daß der
Effekt des Versprechens vielleicht ein Recht darauf hat, selbst als ein
vollgültiger psychischer Akt, der auch sein eigenes Ziel verfolgt, als
eine Äußerung von Inhalt und Bedeutung aufgefaßt zu werden. Wir
haben bisher immer von Fehlhandlungen gesprochen, aber jetzt
scheint es, als ob manchmal die Fehlhandlung selbst eine ganz
ordentliche Handlung wäre, die sich nur an die Stelle der anderen,
erwarteten oder beabsichtigten Handlung gesetzt hat.
Dieser eigene Sinn der Fehlhandlung scheint ja in einzelnen Fällen
greifbar und unverkennbar zu sein. Wenn der Präsident die Sitzung
des Abgeordnetenhauses mit den ersten Worten schließt, anstatt sie
zu eröffnen, so sind wir infolge unserer Kenntnis der Verhältnisse,
unter denen sich dies Versprechen vollzog, geneigt, diese Fehlhand-
lung sinnvoll zu finden. Er erwartet sich nichts Gutes von der Sit-
zung und wäre froh, sie sofort wieder abbrechen zu können. Das Auf-
zeigen dieses Sinnes, also die Deutung dieses Versprechens macht uns
gar keine Schwierigkeiten. Oder wenn eine Dame anscheinend an-
erkennend eine andere fragt: Diesen reizenden neuen Hut haben Sie
sich wohl selbst aufgepatzt? — so wird keine Wissenschaftlichkeit
IT. Die Fehlleistungen 29
der Welt uns abhalten können, aus diesem Versprechen eine Äuße-
rung herauszuhören: Dieser Hut ist eine Patzerei. Oder wenn eine
als energisch bekannte Dame erzählt: Mein Mann hat den Doktor
gefragt, welche Diät er einhalten soll. Der Doktor hat aber gesagt,
er braucht keine Diät, er kann essen und trinken, was ich will, so
ist dies Versprechen doch anderseits der unverkennbare Ausdruck
eines konsequenten Programms. |
Meine Damen und Herren, wenn es sich herausstellen sollte, daß
nicht nur einige wenige Fälle von Versprechen und von Fehlleistungen
überhaupt einen Sinn haben, sondern eine größere Anzahl von ihnen,
so wird unvermeidlich dieser Sinn der Fehlleistungen, von dem bis-
her noch nicht die Rede war, für uns das Interessanteste werden und
alle anderen Gesichtspunkte mit Recht in den Hintergrund drängen.
Wir können dann alle physiologischen oder psycho-physiologischen
Momente bei Seite lassen und dürfen uns rein psychologischen Unter-
suchungen über den Sinn, d.i. die Bedeutung, die Absicht der Fehl-
leistung hingeben. Wir werden es also nicht verabsäumen, demnächst
ein größeres Beobachtungsmaterial auf diese Erwartung zu prüfen.
Ehe wir aber diesen Vorsatz ausführen, möchte ich Sie einladen,
mit mir eine andere Spur zu verfolgen. Es ist wiederholt vorgekommen,
daß ein Dichter sich des Versprechens oder einer anderen Fehlleistung
als Mittels der dichterischen Darstellung bedient hat. Diese Tatsache
muß uns für sich allein beweisen, daß er die Fehlleistung, das Ver-
sprechen z. B., für etwas Sinnvolles hält, denn er produziert es ja
absichtlich. Es geht doch nicht so vor, daß der Dichter sich zufällig
verschreibt und dann sein Verschreiben bei seiner Figur als ein Ver-
sprechen bestehen läßt. Er will uns durch das Versprechen etwas
zum Verständnis bringen, und wir können ja nachsehen, was das
sein mag, ob er uns etwa andeuten will, daß die betreffende Person
zerstreut und ermüdet ist oder eine Migräne zu erwarten hat. Natür-
lich wollen wir es nicht überschätzen, wenn das Versprechen vom
Dichter als sinnvoll gebraucht wird. Es könnte doch in Wirklichkeit
sinnlos sein, eine psychische Zufälligkeit oder nur in ganz seltenen
30 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Fällen sinnreich, und der Dichter behielte das Recht, es durch die
Ausstattung mit Sinn zu vergeistigen, um es für seine Zwecke zu
gebrauchen. Zu verwundern wäre es aber auch nicht, wenn wir über
das Versprechen vom Dichter mehr zu erfahren hätten als vom Philo-
logen und vom Psychiater.
Ein solches Beispiel von Versprechen findet sich in Wallenstein
(Piccolomini, erster Aufzug, fünfter Auftritt). Max Piccolomini hat
in der vorhergehenden Szene aufs leidenschaftlichste für den Herzog
Partei genommen und dabei von den Segnungen des Friedens ge-
schwärmt, die sich ihm auf seiner Reise enthüllt, während er die
Tochter Wallensteins ins Lager begleitete. Er läßt seinen Vater und
den Abgesandten des Hofes, Questenberg, in voller Bestürzung zurück.
Und nun geht der fünfte Auftritt weiter:
QUESTENBERG: O weh uns! Steht es so?
Freund, und wir lassen ihn in diesem Wahn
Dahingehn, rufen ihn nicht gleich
Zurück, daß wir die Augen auf der Stelle
Ihm öffnen?
OCTAVIO (aus einem tiefen Nachdenken zu sich kommend) :
Mir hat er sie jetzt geöffnet,
Und mehr erblick ich, als mich freut.
QUESTENBERG: Was ist es, Freund?
OCTAVIO: Fluch über diese Reise!
QUESTENBERG: Wieso? Was ist es?
OCTAVIO: Kommen Sie! Ich muß
Sogleich die unglückselige Spur verfolgen,
Mit meinen Augen sehen — kommen Sie
(will ihn fortführen)
QUESTENBERG: Was denn? Wohin?
OCTAVIO (pressiert): Zu ihr!
QUESTENBERG: Zu —
OCTAVIO (korrigiert sich): Zum Herzog! Gehen wir
USW,
Octavio wollte sagen „zu ihm“, zum Herzog, verspricht sich aber
und verrät durch seine Worte „zu ihr“ uns wenigstens, daß er den
II. Die Fehlleistungen Zu
Einfluß, welcher den jungen Kriegshelden für den Frieden schwärmen
macht, sehr wohl erkannt hat.
Ein noch eindrucksvolleres Beispiel hat O.Rank bei Shakespeare
entdeckt. Es findet sich im „Kaufmann von Venedig“ in der berühmten
Szene der Wahl des glücklichen Liebhabers zwischen den drei Käst-
chen, und ich kann vielleicht nichts Besseres tun, als Ihnen die kurze
Darstellung von Rank hier vorlesen.
„Ein dichterisch überaus fein motiviertes und technisch glänzend
verwertetes Versprechen, welches wie das von Freud im Wallen-
stein aufgezeigte verrät, daß die Dichter Mechanismus und Sinn
dieser Fehlleistung wohl kennen und deren Verständnis auch beim
Zuhörer voraussetzen, findet sich in Shakespeares „Kaufmann
von Venedig“ (dritter Aufzug, zweite Szene). Die durch den Willen
ihres Vaters an die Wahl eines Gatten durch das Los gefesselte Porzia
ist bisher allen ihren unliebsamen Freiern durch das Glück des Zu-
falls entronnen. Da sie endlich in Bassanio den Bewerber gefunden
hat, dem sie wirklich zugetan ist, muß sie fürchten, daß auch er das
falsche Los ziehen werde. Sie möchte ihm nun am liebsten sagen,
daß er auch in diesem Falle ihrer Liebe sicher sein könne, ist aber
durch ihr Gelübde daran gehindert, In diesem inneren Zwiespalte
läßt sie der Dichter zu dem willkommenen Freier sagen:
Ich bitt Euch, wartet; ein, zwei Tage noch,
Bevor Ihr wagt: denn wählt Ihr falsch, so büße
Ich Euern Umgang ein; darum verzieht.
Ein Etwas sagt mir (doch esistnicht Liebe),
Ich möcht Euch nicht verlieren; — — —
— — — Ich könnt Euch leiten
Zur rechten Wahl, dann bräch ich meinen Eid;
Das will ich nicht; so könnt Ihr mich verfehlen.
Doch wenn Ihr’s tut, macht Ihr mich sündlich wünschen,
Ich hätt’ ihn nur gebrochen, O, der Augen,
Die mich so übersehn und mich geteilt!
Halb binich Euer, dieandre Hälfte Euer —
Mein wolltich sagen; doch wenn mein, dann Euer,
Und so ganz Euer. (Nach der Übersetzung von Schlegelund Tieck.)
32 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Gerade das, was sie ihm also bloß leise andeuten möchte, weil sie
es eigentlich ihm überhaupt verschweigen sollte, daß sie nämlich
schon vor der Wahl ganz die Seine sei und ihn liebe, das läßt der
Dichter mit bewundernswertem psychologischen Feingefühl in dem
Versprechen sich offen durchdrängen und weiß durch diesen Kunst-
griff die unerträgliche Ungewißheit des Liebenden sowie die gleich
gestimmte Spannung des Zuhörers über den Ausgang der Wahl zu
beruhigen.“ |
Wollen Sie noch bemerken, wie fein Porzia zwischen den beiden
Aussagen, die in dem Versprechen enthalten sind, am Ende vermit-
telt, wie sie den zwischen ihnen bestehenden Widerspruch aufhebt
und schließlich doch dem Versprechen Recht gibt:
Doch, wenn mein, dann Euer,
Und so ganz Euer.
Gelegentlich hat auch ein der Medizin fernestehender Denker den
Sinn einer Fehlleistung mit einer Bemerkung aufgedeckt und uns
die Bemühung um deren Aufklärung vorweggenommen. Sie kennen
alle den geistreichen Satiriker Lichtenberg (1742— 1799), von dem
Goethe gesagt hat: Wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem ver-
borgen. Nun gelegentlich kommt durch den Spaß auch die Lösung
‚des Problems zu Tage. Lichtenberg notiert in seinen witzigen und
satirischen Einfällen den Satz: Er las immer Agamemnon anstatt
„angenommen“, so sehr hatte er den Homer gelesen. Das ist wirk-
lich die Theorie des Verlesens.
Das nächstemal wollen wir prüfen, ob wir in der Auffassung der
Fehlleistungen mit den Dichtern gehen können.
IIL VORLESUNG
DIE FEHLLEISTUNGEN
(Fortsetzung)
Meine Damen und Herren! Wir sind das vorigemal auf den Ein-
fall gekommen, die Fehlleistung nicht im Verhältnis zu der von ihr
gestörten, beabsichtigten Leistung zu betrachten, sondern an und
für sich, haben den Eindruck empfangen, daß sie in einzelnen Fällen
ihren eigenen Sinn zu verraten scheint, und haben uns gesagt, wenn
es in größerem Umfange zu bestätigen wäre, daß die Fehlleistung
einen Sinn hat, so würde uns dieser Sinn bald interessanter werden
als die Untersuchung der Umstände, unter denen die Fehlleistung
zustande kommt.
Einigen wir uns noch einmal darüber, was wir unter dem „Sinn“
eines psychischen Vorganges verstehen wollen. Nichts anderes als die
Absicht, der er dient, und seine Stellung in einer psychischen Reihe.
Für die meisten unserer Untersuchungen können wir „Sinn“ auch
durch „Absicht“, „Tendenz“ ersetzen. War es also nur ein täuschen-
der Schein oder eine poetische Erhöhung der Fehlleistung, wenn wir
in ıhr eine Absicht zu erkennen glaubten?
Bleiben wir den Beispielen des Versprechens treu und überblicken
eine größere Anzahl solcher Beobachtungen. Da finden wir denn
ganze Kategorien von Fällen, in denen die Absicht, der Sinn des Ver-
sprechens klar zu Tage liegt. Vor allem die, in denen das Gegenteil
an die Stelle des Beabsichtigten tritt. Der Präsident sagt in der Er-
Freud, VII, 3
34 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
öffnungsrede: „Ich erkläre die Sitzung für geschlossen“. Das ist doch
unzweideutig. Sinn und Absicht seiner Fehlrede ist, daß er ie Sit-
zung schließen will. „Er sagt es ja selbst“, möchte man dazu zitieren;
wir brauchen ihn ja nur beim Wort zu nehmen. Stören Sie mich
jetzt nicht mit der Einrede, daß dies nicht möglich ist, daß wir ja
wissen, er wollte die Sitzung nicht schließen, sondern eröffnen, und
daß er selbst, den wır eben als oberste Instanz anerkannt haben, be-
stätigen kann, daß er eröffnen wollte. Sie vergessen dabei, daß wir
übereingekommen sind, die Fehlleistung zunächst an und für sich zu
betrachten; ıhr Verhältnis zur Intention, die sie stört, soll erst später
zur Sprache kommen. Sie machen sich sonst eines logischen Fehlers
schuldig, durch den Sie das in Behandlung stehende Problem glatt
wegeskamotieren, was im Englischen begging the question heißt.
In anderen Fällen, wo man sich nicht gerade zum Gegenteil ver-
sprochen hat, kann doch durch das Versprechen ein gegensätzlicher
Sinn zum Ausdruck kommen. „Ich bin nicht geneigt, die Verdienste
meines Vorgängers zu würdigen.“ Geneigt ist nicht das Gegenteil
von geeignet, aber es ist ein offenes Geständnis, in scharfem Gegen-
satz zur Situation, in welcher der Redner sprechen soll.
In noch anderen Fällen fügt das Versprechen zu dem beabsichtig-
ten Sinne einfach einen zweiten hinzu. Der Satz hört sich dann an
wie eine Zusammenziehung, Verkürzung, Verdichtung aus mehreren
Sätzen. So die energische Dame: Er kann essen und trinken, was ich
will. Das ist gerade so, als ob sie erzählt hätte: Er kann essen und
trinken, was er will; aber was hat er denn zu wollen? An seiner statt
will ich. Die Versprechen machen oft den Eindruck solcher Verkür-
zungen, z. B. wenn ein Anatomieprofessor nach seinem Vortrag über
die Nasenhöhle fragt, ob die Hörer es auch verstanden haben, und
ob der allgemeinen Bejahung fortsetzt: Ich glaube kaum, denn die
Leute, welche die Nasenhöhle verstehen ‚kann man selbst in einer
Millionenstadt an einem F inger... Pardon, an den Fingern einer
Hand abzählen. Die verkürzte Rede hat auch ihren Sinn; sie sagt,
es gibt nur einen Menschen, der das versteht.
III. Die Fehlleistungen 35
Diesen Gruppen von Fällen, in denen die Fehlleistung ihren Sinn
selbst zum Vorschein bringt, stehen andere gegenüber, in denen das
Versprechen nichts an sich Sinnreiches geliefert hat, die also unseren
Erwartungen energisch widersprechen. Wenn jemand durch Ver-
sprechen einen Eigennamen verdreht oder ungebräuchliche Laut-
folgen zusammenstellt, so scheint durch diese sehr häufigen Vor-
kommnisse die Frage, ob alle Fehlhandlungen etwas Sinnreiches
leisten, bereits im ablehnenden Sinne entschieden zu sein. Allein bei
näherem Eingehen auf solche Beispiele zeigt es sich, daß ein Ver-
ständnis dieser Entstellungen leicht möglich wird, ja daß der Unter-
schied zwischen diesen dunkleren und früheren klaren Fällen gar
nicht so groß ist.
Ein Herr, nach dem Befinden seines Pferdes befragt, antwortet:
Ja, das draut...Das dauert vielleicht noch einen Monat. Befragt,
was er eigentlich sagen wollte, erklärt er, er habe gedacht, das sei
eine traurige Geschichte, der Zusammenstoß von „dauert“ und
„traurig“ habe jenes „draut“ ergeben. (Meringer und Mayer.)
Ein anderer erzählt von irgendwelchen Vorgängen, die er bean-
ständet, und setzt fort: Dann aber sind Tatsachen zum Vorschwein
gekommen ... Auf Anfragen bestätigt er, daß er diese Vorgänge als
Schweinereien bezeichnen wollte. „Vorschein“ und „Schweinerei“
haben mitsammen das sonderbare „Vorschwein“ entstehen lassen.
(M. u. M.)
Erinnern Sie sich an den Fall des jungen Mannes, der die ihm
unbekannte Dame begleitdigen wollte. Wir hatten uns die Frei-
heit genommen, diese Wortbildung in begleiten und beleidigen
zu zerlegen, und fühlten uns dieser Deutung sicher, ohne für sie Be-
stätigung zu fordern. Sie ersehen aus diesen Beispielen, daß auch
diese dunkleren Fälle des Versprechens sich durch das Zusammen-
treffen, die Interferenz, zweier verschiedener Redeabsichten er-
klären lassen; die Unterschiede entstehen nur dadurch, daß einmal
die eine Absicht die andere völlig ersetzt (substituiert), so bei den Ver-
sprechen zum Gegenteil, während sie sich ein andermal damit be-
;*
36 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
gnügen muß, sie zu entstellen oder zu modifizieren, so daß Misch-
bildungen zustandekommen, die an sich mehr oder minder sinnreich
erscheinen.
Wir glauben jetzt das Geheimnis einer großen Anzahl von Ver-
sprechen erfaßt zu haben. Halten wir an dieser Einsicht fest, so
werden wir noch andere bisher rätselhafte Gruppen verstehen kön-
nen. Beim Namenenistellen können wir z.B. nicht annehmen, daß
es sich immer um die Konkurrenz zweier ähnlicher und doch ver-
schiedener Namen handelt. Aber die zweite Absicht ist doch un-
schwer zu erraten, Die Entstellung eines Namens kommt außerhalb
des Versprechens häufig genug vor; sie versucht den Namen übel-
klingend oder an etwas Niedriges anklingend zu machen und ist eine
bekannte Art oder Unart der Schmähung, auf die der gebildete Mensch
bald verzichten lernt, aber nicht gerne verzichtet. Er gestattet sich
dieselbe noch oft als „Witz“ von allerdings sehr geringer Würde.
Um nur ein grelles und häßliches Beispiel dieser Namensentstellung
anzuführen, erwähne ich, daß man den Namen des Präsidenten der
französischen Republik, Poincare, in diesen Zeiten in „Schweins-
karre“ umgewandelt hat. Es liegt also nahe, auch beim Versprechen
eine solche schmähende Absicht anzunehmen, die sich in der Ent-
' stellung des Namens durchsetzt. Ähnliche Aufklärungen drängen sich
uns in Fortführung unserer Auffassung für gewisse Fälle des Ver-
sprechens mit komischem oder absurdem Effekt auf. „Ich fordere Sie
auf, auf das Wohl unseres Chefs aufzustoßen.“ Hier wird eine feier-
liche Stimmung unerwarteterweise durch das Eindringen eines Wortes
gestört, das eine unappetitliche Vorstellung erweckt, und wir können
nach dem Vorbild gewisser Schimpf- und Trutzreden kaum anderes
vermuten, als daß sich eine Tendenz zum Ausdruck bringen will, die
der vorgeschobenen Verehrung energisch widerspricht und etwa sagen
will: Glaubt doch nicht daran, das ist nicht mein Ernst, ich pfeif’ auf
den Kerl u. dgl. Ganz Ähnliches gilt für Versprechen, die aus harm-
losen Worten unanständige und obszöne machen, wie Apopos für
Apropos, oder Eischeißweibchen für Eiweißscheibchen. (M.u.M.)
III. Die Fehlleistungen- | 57
Wir kennen bei vielen Menschen eine solche Tendenz, einem ge-
wissen Lustgewinn zuliebe harmlose Worte absichtlich in obszöne
zu entstellen; sie gilt für witzig, und in Wirklichkeit müssen wir
bei einem Menschen, von dem wir solches hören, erst erkunden, ob
er es absichtlich als Witz geäußert hat, oder ob es ihm als Versprechen
passiert ist.
Nun, da hätten wir ja mit verhältnismäßig geringer Mühe das
Rätsel der Fehlleistungen gelöst! Sie sind nicht Zufälligkeiten, son-
dern ernsthafte seelische Akte, sie haben ihren Sinn, sie entstehen
durch das Zusammenwirken — vielleicht besser: Gegeneinanderwir-
ken zweier verschiedener Absichten. Aber nun kann ich auch ver-
stehen, daß Sie mich mit einer Fülle von Fragen und Zweifeln über-
schütten wollen, die zu beantworten und zu erledigen sind, ehe wir
uns dieses ersten Resultats unserer Arbeit freuen dürfen. Ich will Sie
gewiß nicht zu voreiligen Entscheidungen antreiben. Lassen Sie uns
alles der Reihe nach, eines nach dem anderen, in kühle Erwägung
ziehen.
Was wollen Sie mir wohl sagen? Ob ich meine, daß diese Auf-
klärung für alle Fälle von Versprechen gilt oder nur für eine gewisse
Anzahl? Ob man dieselbe Auffassung auch auf die vielen anderen
Arten von Fehlleistungen ausdehnen darf, auf das Verlesen ‚„ Ver-
schreiben, Vergessen, Vergreifen, Verlegen usw.? Was denn die Mo-
mente der Ermüdung, Erregung, Zerstreutheit, die Aufmerksamkeits-
störung angesichts der psychischen Natur der Fehlleistungen noch
zu bedeuten haben? Ferner, man sieht ja wohl, daß von den beiden
konkurrierenden Tendenzen der Fehlleistungen die eine immer offen-
kundig ist, die andere aber nicht immer. Was man dann tut, um
diese letztere zu erraten, und wenn man glaubt, sie erraten zu haben,
wie man den Nachweis führt, daß sie nicht bloß wahrscheinlich, son-
dern die einzig richtige ist? Haben Sie noch etwas zu fragen? Wenn
nicht, so setze ich selbst fort. Ich erinnere Sie daran, daß uns eigent-
lich an den Fehlleistungen selbst nicht viel gelegen ist, daß wir aus
ihrem Studium nur etwas für die Psychoanalyse Verwertbares lernen
38 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
wollten. Darum stelle ich die Frage auf: was sind das für Absichten
oder Tendenzen, die andere in solcher Weise stören können, und
welche Beziehungen bestehen zwischen den störenden Tendenzen
und den gestörten? So fängt unsere Arbeit erst nach der Lösung des
Problems von neuem an.
Also, ob dies die Aufklärung aller Fälle von Versprechen ist? Ich
bin sehr geneigt, dies zu glauben, und zwar darum, weil sich jedes-
mal, so oft man einen Fall von Versprechen untersucht, eine derar-
tige Auflösung finden läßt. Aber es läßt sich auch nicht beweisen,
daß ein Versprechen ohne solchen Mechanismus nicht vorfallen kann.
Es mag so sein; für uns ist estheoretisch gleichgültig, denn die Schlüsse,
welche wir für die Einführung in die Psychoanalyse ziehen wollen,
bleiben bestehen, wenn auch nur, was gewiß nicht der Fall ist, eine
Minderzahl von Fällen des Versprechens unserer Auffassung unter-
liegen sollte. Die nächste Frage, ob wir auf die anderen Arten der
Fehlleistungen das ausdehnen dürfen, was sich uns für das Verspre-
chen ergeben hat, will ich vorgreifend mit ja beantworten. Sie werden
sich selbst davon überzeugen, wenn wir uns dazu wenden, Beispiele
des Verschreibens, Vergreifens usw. in Untersuchung zu ziehen. Ich
schlage Ihnen aber aus technischen Gründen vor, diese Arbeit auf-
zuschieben, bis wir das Versprechen selbst noch gründlicher behan-
delt haben.
Die Frage, was die von den Autoren in den Vordergrund gerückten
Momente der Zirkulationsstörung, Ermüdung,, Erregung, Zerstreut-
heit, die Theorie der Aufmerksamkeitsstörung uns noch bedeuten
können, wenn wir den beschriebenen psychischen Mechanismus des
Versprechens annehmen, verdient eine eingehendere Beantwortung.
Bemerken Sie wohl, wir bestreiten diese Momente nicht. Es kommt
überhaupt nicht so häufig vor, daß die Psychoanalyse etwas bestreitet,
was von anderer Seite behauptet wird; sie fügt in der Regel nur
etwas Neues hinzu, und gelegentlich trifft es sich freilich, daß dies
bisher Übersehene und nun neu Dazugekommene gerade das Wesent-
liche ist. Der Einfluß der physiologischen Dispositionen, die durch
IIT. Die Fehlleistungen 30
leichtes Unwohlsein, Zirkulationsstörungen, Erschöpfungszustände
gegeben werden, ist für das Zustandekommen des Versprechens ohne
weiteres anzuerkennen; tägliche und persönliche Erfahrung kann Sie
davon überzeugen. Aber wie wenig ist damit erklärt! Vor allem sind
es nicht notwendige Bedingungen der Fehlleistung. Das Versprechen
ist ebensowohl bei voller Gesundheit und normalem Befinden mög-
lich. Diese körperlichen Momente haben also nur den Wert von Er-
leichterungen und Begünstigungen für den eigentümlichen seelischen
Mechanismus des Versprechens. Ich habe für diese Beziehung einmal
ein Gleichnis gebraucht, das ich nun wiederholen werde, weil ich es
durch kein besseres zu ersetzen weiß. Nehmen Sie an, ich ginge in
dunkler Nachtstunde an einem einsamen Orte, würde dort von einem
Strolch überfallen, der mir Uhr und Börse wegnimmt, und trüge
dann, weil ich das Gesicht des Räubers nicht deutlich gesehen habe,
meine Klage auf der nächsten Polizeistation mit den Worten vor:
Einsamkeit und Dunkelheit haben mich soeben meiner Kostbarkeiten
beraubt. Der Polizeikommissär kann mir darauf sagen: Sie scheinen
da mit Unrecht einer extrem mechanistischen Auffassung zu hul-
digen. Stellen wir den Sachverhalt lieber so dar: Unter dem Schutz
der Dunkelheit, von der Einsamkeit begünstigt, hat Ihnen ein un-
bekannter Räuber Ihre Wertsachen entrissen. Die wesentliche Auf-
gabe an Ihrem Falle scheint mir zu sein, daß wir den Räuber aus-
findig machen. Vielleicht können wir ihm dann den Raub wieder
abnehmen.
Die psychophysiologischen Momente wie Aufregung, Zerstreut-
heit, Aufmerksamkeitsstörung leisten uns offenbar sehr wenig für die
Zwecke der Erklärung. Es sind nur Redensarten, spanische Wände,
hinter welche zu gucken wir uns nicht abhalten lassen sollen. Es
fragt sich vielmehr, was hier die Erregung, die besondere Ablenkung
der Aufmerksamkeit hervorgerufen hat. Die Lauteinflüsse, Wort-
ähnlichkeiten und die von den Worten auslaufenden gebräuchlichen
Assoziationen sind wiederum als bedeutsam anzuerkennen. Sie er-
leichtern das Versprechen, indem sie ihm die Wege weisen, die es
409 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
wandeln kann. Aber wenn ich einen Weg vor mir habe, ist damit
auch wie selbstverständlich entschieden, daß ich ihn gehen werde?
Es bedarf noch eines Motivs, damit ich mich zu ihm entschließe, und
überdies einer Kraft, die mich auf diesem Wege vorwärts bringt.
Diese Laut- und Wortbeziehungen sind also auch nur wie die körper-
lichen Dispositionen Begünstigungen des Versprechens und können
seine eigentliche Aufklärung nicht geben. Denken Sie doch daran,
in einer ungeheuern Überzahl von Fällen wird meine Rede nicht
durch den Umstand gestört, daß die von mir gebrauchten Worte
durch Klangähnlichkeit an andere erinnern, daß sie mit ihren Gegen-
teilen innig verknüpft sind, oder daß gebräuchliche Assoziationen
von ihnen ausgehen. Man könnte noch mit dem Philosophen Wundt
die Auskunft finden, daß das Versprechen zustande kommt, wenn
infolge von körperlicher Erschöpfung die Assoziationsneigungen die
Oberhand über die sonstige Redeintention gewinnen. Das ließe sich
sehr gut hören, wenn dem nicht die Erfahrung widerspräche, nach
deren Zeugnis in einer Reihe von Fällen die körperlichen, in einer
anderen die Assoziationsbegünstigungen des Versprechens vermißt
werden.
Besonders interessant ist mir aber Ihre nächste F rage, auf welche
Weise man die beiden miteinander in Interferenz tretenden Tendenzen
feststellt. Sie ahnen wahrscheinlich nicht, wie folgenschwer sie ist.
Nicht wahr, die eine der beiden, die gestörte Tendenz, ist immer
unzweifelhaft: die Person, welche die F ehlleistung begeht, kennt sie
und bekennt sich zu ihr. Anlaß zu Zweifeln und Bedenken kann nur
die andere, die störende, geben. Nun wir haben schon gehört und
Sie haben es gewiß nicht vergessen, daß in einer Reihe von Fällen
diese andere Tendenz ebenso deutlich ist. Sie wird durch den Effekt
des Versprechens angezeigt, wenn wir nur den Mut haben, diesen
Eifekt für sich gelten zu lassen. Der Präsident, der sich zum Gegen-
teil verspricht — es ist klar, er will die Sitzung eröffnen, aber ebenso
klar, er möchte sie auch schließen. Das ist so deutlich, daß zum Deuten
nichts übrig bleibt. Aber die anderen F älle, in denen die störende
III. Die Fehlleistungen 41
Tendenz die ursprüngliche nur entstellt, ohne sich selbst ganz zum
Ausdruck zu bringen, wie errät rıan bei ihnen die störende Tendenz
aus der Entstellung?
In einer ersten Reihe von Fällen auf sehr einfache und sichere
Weise, auf dieselbe Weise nämlich, wie man die gestörte Tendenz
feststellt. Diese läßt man sich ja vom Redner unmittelbar mitteilen;
nach dem Versprechen stellt er den ursprünglich beabsichtigten Wort-
laut sofort wieder her. „Das draut, nein, das dauert vielleicht noch
einen Monat.“ Nun, die entstellende Tendenz läßt man gleichfalls
von ihm aussprechen. Man fragt ihn: Ja, warum haben Sie denn zu-
erst „draut“ gesagt? Er antwortet: Ich wollte sagen: Das ist eine
traurige Geschichte, und im anderen Falle, beim Versprechen „Vor-
schwein“, bestätigt er Ihnen ebenso, daß er zuerst sagen wollte: Das
ist eine Schweinerei, sich aber dann mäßigte und in eine andere
Aussage einlenkte. Die Feststellung der entstellenden Tendenz ist
hier also ebenso sicher gelungen wie die der entstellten. Ich habe
auch nicht ohne Absicht hier Beispiele herangezogen, deren Mittei-
lung und Auflösung weder von mir noch von einem meiner Anhänger
herrühren. Doch war in diesen beiden Fällen ein gewisser Eingriff
notwendig, um die Lösung zu fördern. Man mußte den Redner fragen,
warum er sich so versprochen habe, was er zu dem Versprechen zu
sagen wisse. Sonst wäre er vielleicht an seinem Versprechen vorbei-
gegangen, ohne es aufklären zu wollen. Befragt, gab er aber die Er-
klärung mit dem ersten Einfall, der ihm kam. Und nun sehen Sie,
dieser kleine Eingriff und sein Erfolg, das ist bereits eine Psychoana-
Iyse und das Vorbild jeder psychoanalytischen Untersuchung, die wir
im weiteren anstellen werden.
Bin ich nun zu mißtrauisch, wenn ich vermute, daß in demselben
Moment, da die Psychoanalyse vor Ihnen auftaucht, auch der Wider-
stand gegen sie bei Ihnen sein Haupt erhebt? Haben Sie nicht Lust,
mir einzuwenden, daß die Auskunft der befragten Person, die das
Versprechen geleistet, nicht völlig beweiskräftig sei? Er habe natür-
lich das Bestreben, meinen Sie, der Aufforderung zu folgen, das Ver-
42 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
sprechen zu erklären, und da sage er eben das erste beste, was ıhm
einfalle, wenn es ihm zu einer solchen Erklärung tauglich erscheine.
Ein Beweis, daß das Versprechen wirklich so zugegangen, sei damit
nicht gegeben. Ja es könne so sein, aber ebensowohl auch anders. Es
hätte ihm auch etwas anderes einfallen können, was ebenso gut und
vielleicht besser gepaßt hätte.
Es ist merkwürdig, wie wenig Respekt Sie im Grunde vor einer
psychischen Tatsache haben! Denken Sie sich, jemand habe die che-
mische Analyse einer gewissen Substanz vorgenommen und von einem
Bestandteil derselben ein gewisses Gewicht, so und soviel Milligsramm,
gewonnen. Aus dieser Gewichtsmenge lassen sich bestimmte Schlüsse
ziehen. Glauben Sie nun, daß es je einem Chemiker einfallen wird,
diese Schlüsse mit der Motivierung zu bemängeln: die isolierte Sub-
stanz hätte auch ein anderes Gewicht haben können? Jeder beugt
sich vor der Tatsache, daß es eben dies Gewicht und kein anderes
war, und baut auf ihr zuversichtlich seine weiteren Schlüsse auf.
Nur wenn die psychische Tatsache vorliegt, daß dem Befragten ein
bestimmter Einfall gekommen ist, dann lassen Sie das nicht gelten
und sagen, es hätte ihm auch etwas anderes einfallen können! Sie
haben eben die Illusion einer psychischen Freiheit in sich und mögen
auf sie nicht verzichten. Es tut mir leid, daß ich mich hierin in schärf-
stem Widerspruch zu Ihnen befinde.
Nun werden Sie hier abbrechen, aber nur um den Widerstand an
einer anderen Stelle wiederaufzunehmen. Sie fahren fort: Wir ver-
stehen, daß es die besondere Technik der Psychoanalyse ist, sich die
Lösung ihrer Probleme von den Analysierten selbst sagen zu lassen.
Nun nehmen wir ein anderes Beispiel her, jenes, in dem der Fest-
redner die Versammlung auffordert, auf das Wohl des Chefs aufzu-
stoßen. Sie sagen, die störende Intention ist in diesem Falle die der
Schmähung: sie ist es, die sich dem Ausdruck der Verehrung wider-
setzt. Aber das ist bloße Deutung von Ihrer Seite, gestützt auf Beob-
achtungen außerhalb des Versprechens. Wenn Sie in diesem Falle
den Urheber des Versprechens befragen, wird er Ihnen nicht bestä-
III. Die Fehlleistungen 43
tigen, daß er eine Schmähung beabsichtigte; er wird es vielmehr
energisch in Abrede stellen. Warum geben Sie Ihre unbeweisbare
Deutung nicht gegen diesen klaren Einspruch auf?
Ja, diesmal haben Sie etwas Starkes herausgefunden. Ich stelle mir
den unbekannten Festredner vor; er ist wahrscheinlich ein Assistent
des gefeierten Chefs, vielleicht schon Privatdozent, ein junger Mann
mit den besten Lebenschancen. Ich will in ihn drängen, ob er nicht
doch etwas verspürt hat, was sich der Aufforderung zur Verehrung
des Chefs widersetzt haben mag. Da komme ich aber schön an. Er
wird ungeduldig und fährt plötzlich auf mich los: „Sie, jetzt hören’s
einmal auf mit Ihrer Ausfragerei, sonst werd’ ich ungemütlich. Sie
verderben mir noch die ganze Karriere durch Ihre Verdächtigungen.
Ich hab’ einfach aufstoßen anstatt anstoßen gesagt, weil ich im selben
Satz schon zweimal vorher auf ausgesprochen habe. Das ist das, was
der Meringer einen Nachklang heißt, und weiter ist daran nichts
zu deuteln. Verstehen Sie mich? Basta.“ Hm, das ist eine überraschende
Reaktion, eine wirklich energische Ablehnung. Ich sehe, bei dem
Jungen Mann ist nichts auszurichten, denke mir aber auch, er verrät
ein starkes persönliches Interesse daran, daß seine Fehlleistung keinen
Sınn haben soll. Sie werden vielleicht auch finden, es ist nicht recht,
daß er gleich so grob wird bei einer rein theoretischen Untersuchung,
aber schließlich, werden Sie meinen, muß er doch eigentlich wissen,
was er sagen wollte und was nicht.
So, muß er das? Das wäre vielleicht noch die Frage.
Jetzt glauben Sie mich aber in der Hand zu haben. Das ist also
Ihre Technik, höre ich Sie sagen. Wenn der Betreffende, der ein
Versprechen von sich gegeben hat, etwas dazu sagt, was Ihnen paßt,
dann erklären Sie ihn für die letzte entscheidende Autorität darüber.
„Er sagt es ja selbst!“ Wenn Ihnen aber das, was er sagt, nicht in
Ihren Kram paßt, dann behaupten Sie auf einmal, der gilt nichts,
dem braucht man nicht zu glauben.
Das stimmt allerdings. Ich kann Ihnen aber einen ähnlichen Fall
vorstellen, indem es ebenso ungeheuerlich zugeht. Wenn ein Ange-
44 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
klagter vor dem Richter sich zu einer Tat bekennt, so glaubt der
Richter dem Geständnis; wenn er aber leugnet, so glaubt ihm der
Richter nicht. Wäre es anders, so gäbe es keine Rechtspflege, und
trotz gelegentlicher Irrtümer müssen Sie dieses System doch wohl
| gelten lassen.
Ja, sind Sie. denn der Richter, und der, welcher ein Versprechen
begangen hat, ein vor Ihnen Angeklagter? Ist denn ein Versprechen
ein Vergehen?
Vielleicht brauchen wir selbst diesen Vergleich nicht abzulehnen.
Aber sehen Sie nur, zu welchen tiefgreifenden Differenzen wir bei
einiger Vertiefung in die scheinbar so harmlosen Probleme der Fehl-
leistungen gekommen sind. Differenzen, die wir derzeit noch gar
nicht auszugleichen verstehen. Ich biete Ihnen ein vorläufiges Kom-
promiß an auf Grund des Gleichnisses vom Richter und vom Ange-
klagten. Sie sollen mir zugeben, daß der Sinn einer Fehlleistung
keinen Zweifel zuläßt, wenn der Analysierte ihn selbst zugibt. Ich
will Ihnen dafür zugestehen, daß ein direkter Beweis des vermuteten
Sinnes nicht zu erreichen ist, wenn der Analysierte die Auskunft ver-
weigert, natürlich ebenso, wenn er nicht zur Hand ist, um uns Aus-
kunft zu geben. Wir sind dann, wie im Falle der Rechtspflege, auf
Indizien angewiesen, welche uns eine Entscheidung einmal mehr,
ein andermal weniger wahrscheinlich machen können. Bei Gericht
muß man aus praktischen Gründen auch auf Indizienbeweise hin
schuldig sprechen. Für uns besteht eine solche Nötigung nicht; wir
sind aber auch nicht gezwungen, auf die Verwertung solcher Indizien
zu verzichten. Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß eine Wissenschaft
aus lauter streng bewiesenen Lehrsätzen besteht, und ein Unrecht,
solches zu fordern. Diese Forderung erhebt nur ein autoritätsüchtiges
Gemüt, welches das Bedürfnis hat, seinen religiösen Katechismus
durch einen anderen, wenn auch wissenschaftlichen, zu ersetzen.
Die Wissenschaft hat in ihrem Katechismus nur wenige apodiktische
Sätze, sonst Behauptungen, die sie bis zu gewissen Stufengraden von
Wahrscheinlichkeit gefördert hat. Es ist geradezu ein Zeichen von
III, Die Fehlleistungen 45
wissenschaftlicher Denkungsart, wenn man an diesen Annäherungen
an die Gewißheit sein Genüge finden und die konstruktive Arbeit
trotz der mangelnden letzten Bekräftigungen fortsetzen kann.
Woher nehmen wir aber die Anhaltspunkte für unsere Deutungen,
die Indizien für unseren Beweis im Falle, daß die Aussage des Ana-
lysierten den Sinn der Fehlleistung nicht selbst aufklärt? Von ver-
schiedenen Seiten her. Zunächst aus der Analogie mit Phänomenen
außerhalb der Fehlleistungen, z. B. wenn wir behaupten, daß das
Namenentstellen als Versprechen denselben schmähenden Sinn hat
wie das absichtliche Namenverdrehen. Sodann aber aus der psychi-
schen Situation, in welcher sich die Fehlleistung ereignet, aus unserer
Kenntnis des Charakters der Person, welche die Fehlhandlung be-
geht, und der Eindrücke, welche diese Person vor der Fehlleistung
betroffen haben, auf die sie möglicherweise mit dieser Fehlleistung
reagiert. In der Regel geht es so vor sich, daß wir nach allgemeinen
Grundsätzen die Deutung der Fehlleistung vollziehen, die also zu-
nächst nur eine Vermutung, ein Vorschlag zur Deutung ist, und uns
dann die Bestätigung aus der Untersuchung der psychischen Situation
holen. Manchmal müssen wir auch kommende Ereignisse abwarten,
welche sich durch die Fehlleistung gleichsam angekündigt haben,
um unsere Vermutung bekräftigt zu finden,
Ich kann Ihnen die Belege hiezu nicht leicht erbringen, wenn ich
mich auf das Gebiet des Versprechens einschränken soll, obwohl sich
auch hier einzelne gute Beispiele ergeben. Der junge Mann, der eine
Dame begleitdigen möchte, ist gewiß ein Schüchterner; die Dame,
deren Mann essen und trinken darf, was sie will, kenne ich als eine
der energischen Frauen, die das Regiment im Hause zu führen ver-
stehen. Oder nehmen Sie folgenden Fall: In einer Generalversamm-
lung der „Concordia“ hält ein junges Mitglied eine heftige Oppo-
sitionsrede, in deren Verlauf er die Vereinsleitung als die Herren
„Vorschußmitglieder“ anredet, was aus Vorstand und Ausschuß
zusammengesetzt erscheint. Wir werden vermuten, daß sich bei ihm
eine störende Tendenz gegen seine Opposition regte, die sich auf
46 V orlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
etwas, was mit einem Vorschuß zu tun hatte, stützen konnte. In der
Tat erfahren wir von unserem Gewährsmann, daß der Redner in
steten Geldnöten war und gerade damals ein Darlehensgesuch ein-
gebracht hatte. Als störende Intention ist also wirklich der Gedanke
einzusetzen: mäßige dich in deiner Opposition; es sind dieselben
Leute, die dir den Vorschuß bewilligen sollen.
Ich kann Ihnen aber eine reiche Auswahl solcher Indizienbeweise
vorlegen, wenn ich auf das weite Gebiet der anderen Fehlleistungen
übergreife. |
Wenn jemand einen ihm sonst vertrauten Eigennamen vergißt
oder ihn trotz aller Mühe nur schwer behalten kann, so liegt uns die
Annahme nahe, daß er etwas gegen den 'Träger dieses Namens hat,
so daß er nicht gerne an ihn denken mag; nehmen Sie die nach-
stehenden Aufdeckungen der psychischen Situation, in welcher diese
Fehlleistung eintrat, hiezu:
„Ein Herr Y verliebte sich erfolglos in eine Dame, welche bald
darauf einen Herrn X heiratete. Trotzdem nun Herr Y den Herrn X
schon seit geraumer Zeit kennt und sogar in geschäftlichen Verbin-
dungen mit ihm steht, vergißt er immer und immer wieder dessen
Namen, so daß er sich mehrere Male bei anderen Leuten danach er-
kundigen mußte, als er mit Herrn X korrespondieren wollte.“
Herr Y will offenbar nichts von seinem glücklichen Rivalen wissen.
„Nicht gedacht soll seiner werden.“
Oder: Eine Dame erkundigt sich bei dem Arzt nach einer gemein-
samen Bekannten, nennt sie aber bei ihrem Mädchennamen. Den in
der Heirat angenommenen Namen hat sie vergessen. Sie gesteht dann
zu, daß sie mit dieser Heirat sehr unzufrieden war und den Mann
dieser Freundin nicht leiden mochte. ?
Wir werden vom Namenvergessen noch in anderen Hinsichten
manches zu sagen haben; jetzt interessiert uns vorwiegend die psy-
chische Situation, in welche das Vergessen fällt.
ee a Er U a a SE AN ER
ı) Nach C.G. Jung.
2) Nach A. A. Brill.
III. Die Fehlleistungen 47
Das Vergessen von Vorsätzen läßt sich ganz allgemein auf eine
gegensätzliche Strömung zurückführen, welche den Vorsatz nicht
ausführen will. So denken aber nicht nur wir in der Psychoanalyse,
sondern es ist die allgemeine Auffassung der Menschen, der sie im
Leben alle anhängen, die sie erst in der Theorie verleugnen. Der
Gönner, der sich vor seinem Schützling entschuldigt, er habe dessen
Bitte vergessen, ist vor ihm nicht gerechtfertigt. Der Schützling denkt
sofort: Dem liegt nichts daran; er hat es zwar versprochen, aber er
will es eigentlich nicht tun. In gewissen Beziehungen ist daher auch
im Leben das Vergessen verpönt, die Differenz zwischen der popu-
lären und der psychoanalytischen Auffassung dieser Fehlleistungen
scheint aufgehoben. Stellen Sie sich eine Hausfrau vor, die den Gast
mit den Worten emptängt: Was, heute kommen Sie? Ich habe ja
ganz vergessen, daß ich Sie für heute eingeladen hatte. Oder den
jungen Mann, welcher der Geliebten gestehen sollte, daß er vergessen
hatte, das letztbesprochene Rendezvous einzuhalten. Er wird es gewiß
nicht gestehen, lieber aus dem Stegreife die unwahrscheinlichsten
Hindernisse erfinden, die ihn damals abgehalten haben zu kommen,
und es ıhm seither unmöglich gemacht haben, davon Nachricht zu
geben. Daß in militärischen Dingen die Entschuldigung, etwas ver-
gessen zu haben, nichts nützt und vor keiner Strafe schützt, wissen
wir alle und müssen es berechtigt finden. Hier sind mit einem Male
alle Menschen darin einig, daß eine bestimmte Fehlhandlung sinn-
reich ist, und welchen Sinn sie hat. Warum sind sie nicht konsequent
genug, diese Einsicht auf die anderen Fehlleistungen auszudehnen
und sich voll zu ihr zu bekennen? Es gibt natürlich auch hierauf eine
Antwort.
Wenn der Sinn dieses Vergessens von Vorsätzen auch den Laien
so wenig zweifelhaft ist, so werden Sie um so weniger überrascht
sein zu finden, daß Dichter diese Fehlleistung in demselben Sinne
verwerten. Wer von Ihnen „Cäsar und Kleopatra“ von B. Shaw
gesehen oder gelesen hat, wird sich erinnern, daß der scheidende
Cäsar in der letzten Szene von der Idee verfolgt wird, er habe sich
48 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
noch etwas vorgenommen, was er aber jetzt vergessen habe. Endlich
stellt sich heraus, was das ist: von der Kleopatra Abschied zu nehmen.
Diese kleine Veranstaltung des Dichters will dem großen Cäsär eine
Überlegenheit zuschreiben, die er nicht besaß und nach der er gar
nicht strebte. Sie können aus den geschichtlichen Quellen erfahren,
daß Cäsar die Kleopatra nach Rom nachkommen ließ, und daß sie
dort mit ihrem kleinen Cäsarion weilte, als Cäsar ermordet wurde,
worauf sie flüchtend die Stadt verließ.
Die Fälle des Vergessens von Vorsätzen sind im allgemeinen so klar,
daß sie für unsere Absicht, Indizien für den Sinn der Fehlleistung
aus derpsychischen Situation abzuleiten, wenigbrauchbarsind. Wenden
wir uns darum zu einer besonders vieldeutigen und undurchsichtigen
Fehlhandlung, zum Verlieren und Verlegen. Das beim Verlieren, einer
oft so schmerzlich empfundenen Zutälligkeit, wir selbst mit einer Ab-
sicht beteiligt sein sollten, werden Sie gewiß nicht glaubwürdig finden.
Aber es gibt reichlich Beobachtungen wie diese: Ein junger Mann
verliert seinen Crayon, der ihm sehr lieb gewesen war. Tags zuvor
hatte er einen Brief von seinem Schwager erhalten, der mit den Worten
schloß: Ich habe vorläufig weder Lust noch Zeit, Deinen Leichtsinn
und Deine Faulheit zu unterstützen.‘ Der Bleistift war aber gerade
ein Geschenk dieses Schwagers. Ohne dieses Zusammentreffen könnten
wir natürlich nicht behaupten, daß an diesem Verlieren die Absicht
beteiligt war, sich der Sache zu entledigen. Ähnliche Fälle sind sehr
häufig, Man verliert Gegenstände, wenn man sich mit dem Geber
derselben verfeindet hat und nicht mehr an ihn erinnert werden will,
oder auch, wenn man sie selbst nicht mehr mag und sich einen Vor-
wand schaffen will, sie durch andere und bessere zu ersetzen. Derselben
Absicht gegen einen Gegenstand dient natürlich auch dasF allenlassen,
Zerbrechen, Zerschlagen. Kann man es für zutällig halten, wenn ein
Schulkind gerade vor seinem Geburtstag seine Gebrauchsgegenstände
verliert, ruiniert, zerbricht, z. B. seine Schultasche und seine Taschen-
uhr?
en ANREISE 720,98 2: 2 21. EEE
) Nach B. Dattner.
1
III. Die Fehlleistungen 49
Wer genug oft die Pein erlebt hat, etwas nicht auffinden zu können,
was er selbst weggelegt hat, wird auch an die Absicht beim Verlegen
nicht glauben wollen. Und doch sind die Beispiele gar nicht selten,
in denen die Begleitumstände des Verlegens auf eine Tendenz hin-
weisen, den Gegenstand zeitweilig oder dauernd zu beseitigen. Viel-
leicht das schönste Beispiel dieser Art ist folgendes:
Ein jüngerer Mann erzählt mir: „Es gab vor einigen Jahren MiB-
verständnisse in meiner Ehe, ich fand meine Frau zu kühl, und obwohl
ich ihre vortrefflichen Eigenschaften gerne anerkannte, lebten wir
ohne Zärtlichkeit nebeneinander. Eines Tages brachte sie mir von
einem Spaziergange ein Buch mit, daß sie gekauft hatte, weil es mich
interessieren dürfte. Ich dankte für dieses Zeichen von „Aufmerksam-
keit“, versprach das Buch zu lesen, legte es mir zurecht und fand es
nicht wieder. Monate vergingen so, in denen ich mich gelegentlich
an dies verschollene Buch erinnerte und es auch vergeblich aufzufinden
versuchte. Etwa ein halbes Jahr später erkrankte meine, getrennt von
uns wohnende, geliebte Mutter. Meine Frau verließ daß Haus, um
ihre Schwiegermutter zu pflegen. Der Zustand der Kranken wurde
ernst und gab meiner Frau Gelegenheit, sich von ihren besten Seiten
zu zeigen. Eines Abends komme ich begeistert von der Leistung meiner
Frau und dankerfülltgegen sienach Hause. Ich trete zu meinem Schreib-
tisch, öffne ohne bestimmte Absicht, aber wie mit somnambuler Sicher-
heit eine bestimmte Lade desselben, und zu oberst in ihr finde ich das
so lange vermißte, das verlegte Buch.“
Mit dem Erlöschen des Motivs fand auch das Verlegtsein des Gegen-
standes ein Ende.
Meine Damen und Herren! Ich könnte diese Sammlung von Bei-
spielen ins Ungemessene vermehren. Ich will es aber hier nicht tun.
In meiner „Psychopathologie des Alltagslebens“ (1901 zuerst erschie-
nen) finden Sie ohnedies eine überreiche Kasuistik zum Studium der
Fehlleistungen." Alle diese Beispiele ergeben immer wieder das näm-
ı) Ebenso in den Sammlungen von A. Maeder (franz.), A. A.Brill (engl.),E.Jones
(engl.) J. Stärcke (holländ.) u.a.
Freud, VU.
50 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
liche; sie machen Ihnen wahrscheinlich, daß Fehlleistungen einen
Sinn haben, und zeigen Ihnen, wie man diesen Sinn aus den Begleit-
umständen errät oder bestätigt. Ich fasse mich heute kürzer, weil wir
uns ja auf die Absicht eingeschränkt haben, aus dem Studium dieser
Phänomene Gewinn für eine Vorbereitung zur Psychoanalyse zu
ziehen. Nur auf zwei Gruppen von Beobachtungen muß ich hier noch
eingehen, auf die gehäuften und kombinierten Fehlleistungen und
auf die Bestätigung unserer Deutungen durch später eintreffende
Ereignisse. 2
Die gehäuften und kombinierten Fehlleistungen sind gewiß die
höchste Blüte ihrer Gattung. Käme es uns nur darauf an, zu beweisen,
daß Fehlleistungen einen Sinn haben können, so hätten wir uns von
vorneherein auf sie beschränkt, denn bei ihnen ist der Sinn selbst für
eine stumpfe Einsicht unverkennbar und weiß sich dem kritischesten
Urteil aufzudrängen. Die Häufung der Äußerungen verrät eine Hart-
näckigkeit, wie sie dem Zufall fast niemals zukommt, aber dem Vor-
satz gut ansteht. Endlich die Vertauschung der einzelnen Arten von
Fehlleistung miteinander zeigt uns, was das Wichtige und Wesent-
liche der Fehlleistung ist: nicht die Form derselben oder die Mittel,
deren sie sich bedient, sondern die Absicht, der sie selbst dient und
die auf den verschiedensten Wegen erreicht werden soll. So will ich
Ihnen einen Fall von wiederholtem Vergessen vorführen: E. Jones
erzählt, daß er einmal aus ihm unbekannten Motiven einen Brief
mehrere Tage lang auf seinem Schreibtisch hatte liegen lassen. End-
lich entschloß er sich dazu, ihn aufzugeben, erhielt ihn aber vom
„Dead letter office“ zurück, denn er hatte vergessen, die Adresse zu
schreiben. Nachdem er ihn adressiert hatte, brachte er ihn zur Post,
aber diesmal ohne Briefmarke. Und nun mußte er sich die Abneigung,
den Brief überhaupt abzusenden, endlich eingestehen.
In einem anderen Falle kombiniert sich ein Vergreifen mit einem
Verlegen. Eine Dame reist mit ihrem Schwager, einem berühmten
Künstler, nach Rom. Der Besucher wird von den in Rom lebenden
Deutschen sehr gefeiert und erhält unter anderem eine goldene Me-
III. Die Fehlleistungen 51
daille antiker Herkunft zum Geschenk. Die Dame kränkt sich dar-
über, daß ihr Schwager das schöne Stück nicht genug zu schätzen
weiß. Nachdem sie, von ihrer Schwester abgelöst, wieder zu Hause
angelangt ist, entdeckt sie beim Auspacken, daß sie die Medaille —
sie weiß nicht wie — mitgenommen hat. Sie teilt es sofort dem Schwa-
ger brieflich mit und kündigt ihm an, daß sie das Entführte am
nächsten Tage nach Rom zurückschicken wird. Am nächsten Tage
aber ist die Medaille so geschickt verlegt, daß sie unauffindbar und
unabsendbar ist, und dann dämmert der Dame, was ihre „Zerstreut-
heit“ bedeute, nämlich, daß sie das Stück für sich selbst behalten wolle.’
Ich habe Ihnen schon früher ein Beispiel der Kombination eines
Vergessens mit einem Irrtum berichtet, wie jemand ein erstesmal ein
Rendezvous vergißt und das zweitemal mit dem Vorsatz, gewiß nicht
zu vergessen, zu einer anderen als der verabredeten Stunde erscheint.
Einen ganz analogen Fall hat mir aus seinem eigenen Erleben ein
Freund erzählt, der außer wissenschaftlichen auch literarische Inter-
essen verfolgt. Er sagt: „Ich habe vor einigen Jahren die Wahl in
den Ausschuß einer bestimmten literarischen Vereinigung angenom-
men, weil ich vermutete, die Gesellschaft könnte mir einmal behilf-
lich sein, eine Aufführung meines Dramas durchzusetzen, und nahm
regelmäßig, wenn auch ohne viel Interesse, an den jeden Freitag statt-
findenden Sitzungen teil. Vor einigen Monaten erhielt ich nun die
Zusicherung einer Aufführung am Theater in F. und seither passierte
es mir regelmäßig, daß ich die Sitzungen jenes Vereins vergaß.
Als ıch Ihre Schrift über diese Dinge las, schämte ich mich meines
Vergessens, machte mir Vorwürfe, es sei doch eine Gemeinheit, daß
ich jetzt ausbleibe, nachdem ich die Leute nicht mehr brauche, und
beschloß, nächsten Freitag gewiß nicht zu vergessen. Ich erinnerte
mich an diesen Vorsatz immer wieder, bis ich ihn ausführte und vor
der Tür des Sitzungssaales stand. Zu meinem Erstaunen war sie ge-
schlossen, die Sitzung war schon vorüber; ich hatte mich nämlich im
Tage geirrt: es war schon Samstag!“
ı) Nach R.Reitler.
|
|
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
52
Es wäre reizvoll genug, ähnliche Beobachtungen zu sammeln, aber
ich gehe weiter; ich will Sie einen Blick aufjene Fälle werfen lassen, in
denen unsere Deutung auf Bestätigung durch die Zukunft warten muß.
Die Hauptbedingung dieser Fälle ist begreiflicherweise, daß die
gegenwärtige psychische Situation uns unbekannt oder unserer Er-
kundigung unzugänglich ist. Dann hat unsere Deutung nur den Wert
einer Vermutung, der wir selbst nicht zuviel Gewicht beilegen wollen.
Später ereignet sich aber etwas, was uns zeigt, wie berechtigt unsere
Deutung schon damals war. Einst war ich als Gast bei einem jung-
verheirateten Paare und hörte die junge Frau lachend ihr letztes Er-
lebnis erzählen, wie sie am Tage nach der Rückkehr von der Reise
wieder ihre ledige Schwester aufgesucht habe, um mit ihr, wie in
früheren Zeiten, Einkäufe zu machen, während der Ehemann seinen
Geschäften nachging. Plötzlich sei ihr ein Herr auf der anderen Seite
der Straße aufgefallen und sie habe, ihre Schwester anstoßend, ge-
rufen: Schau, dort geht ja der HerrL. Sie hatte vergessen, daß dieser
Herr seit einigen Wochen ihr Ehegemahl war. Mich schauerte bei
dieser Erzählung, aber ich getraute mich der Folgerung nicht. Die
kleine Geschichte fiel mir erst Jahre später wieder ein, nachdem diese
Ehe den unglücklichsten Ausgang genommen hatte.
A. Maeder erzählt von einer Dame, die am Tage vor ihrer Hoch-
zeit ihr Hochzeitskleid zu probieren vergessen hatte und sich zur Ver-
zweiflung der Schneiderin erst spät abends daran erinnerte. Er bringt
es in Zusammenhang mit diesem Vergessen, daß sie bald nachher von
ihrem Manne geschieden war. — Ich kenne eine jetzt von ihrem
Manne geschiedene Dame, die bei der Verwaltung ihres Vermögens
Dokumente häufig mit ihrem Mädchennamen unterzeichnet hat, viele
Jahre vorher, ehe sie diesen wirklich annahm. — Ich weiß von anderen
Frauen, die auf der Hochzeitsreise ihren Ehering verloren haben, und
weiß auch, daß der Verlauf der Ehe diesem Zufall Sinn verliehen hat.
Und nun noch ein grelles Beispiel mit besserem Ausgang. Man er-
zählt von einem berühmten deutschen Chemiker, daß seine Ehe darum
nicht zustande kam, weil er die Stunde der Trauung vergessen hatte
III. Die Fehlleistungen 53
und anstatt in die Kirche ins Laboratorium gegangen war. Er war
so klug, es bei dem einen Versuch bewenden zu lassen, und starb
unverehelicht in hohem Alter.
Vielleicht ist Ihnen auch der Einfall gekommen, daß in diesen Bei-
spielen die Fehlhandlungen an die Stelle der Omina oder Vorzeichen
der Alten getreten sind. Und wirklich, ein Teil der Omina waren
nichts anderes als Fehlleistungen, z. B. wenn jemand stolperte oder
niederfiel. Ein anderer Teil trug allerdings die Charaktere des objek-
tiven Geschehens, nicht die des subjektiven Tuns. Aber sie würden
nicht glauben, wie schwer es manchmal wird, bei einem bestimmten
Vorkommnis zu entscheiden, ob es zu der einen oder zu der anderen
Gruppe gehört. Das Tun versteht es so häufig, sich als ein passives
Erleben zu maskieren.
Jeder von uns, der auf längere Lebenserfahrung zurückblicken kann,
wird sich wahrscheinlich sagen, daß er sich viele Enttäuschungen
und schmerzliche Überraschungen erspart hätte, wenn er den Mut
und Entschluß gefunden, die kleinen Fehlhandlungen im Verkehr
der Menschen als Vorzeichen zu deuten und als Anzeichen ihrer noch
geheimgehaltenen Absichten zu verwerten. Man wagt es meist nicht;
man käme sich so vor, als würde man auf dem Umwege über die
Wissenschaft wieder abergläubisch werden. Es treffen ja auch nicht
alle Vorzeichen ein, und Sie werden aus unseren Theorien verstehen,
dal3 sie nicht alle einzutreffen brauchen.
IV. VORLESUNG
DIE FEHLLEISTUNGEN
(Schluß)
Meine Damen und Herren! Daß die Fehlleistungen einen Sinn
haben, dürfen wir doch als daß Ergebnis unserer bisherigen Bemühun-
gen hinstellen und zur Grundlage unserer weiteren Untersuchungen
nehmen. Nochmals sei betont, daß wir nicht behaupten, — und für
unsere Zwecke der Behauptung nicht bedürfen, — daß jede einzelne
vorkommende Fehlleistung sinnreich sei, wiewohl ich das für wahr-
scheinlich halte. Es genügt uns, wenn wir einen solchen Sinn relativ
häufig bei den verschiedenen Formen der Fehlleistung nachweisen.
Diese verschiedenen Formen verhalten sich übrigens in dieser Hın-
sicht verschieden. Beim Versprechen, Verschreiben usw. mögen Fälle
mit rein physiologischer Begründung vorkommen, bei den auf Ver-
gessen beruhenden Arten (Namen und Vorsatzvergessen, Verlegen
usw.) kann ich an solche nicht glauben, ein Verlieren gibt es sehr
wahrscheinlich, das als unbeabsichtigt zu erkennen ist; die im Leben
vorfallenden Irrtümer sind überhaupt nur zu einem gewissen Anteil
unseren Gesichtspunkten unterworfen. Diese Einschränkungen wollen
Sie im Auge behalten, wenn wir fortan davon ausgehen, daß Fehl-
leistungen psychische Akte sind und durch die Interferenz zweier
Absichten entstehen, | |
Es ist dies daserste Resultat der Psychoanalyse. Von dem Vorkommen
solcher Interferenzen und der Möglichkeit, daß dieselben derartige
IV. Die Fehlleistungen. | 55
Erscheinungen zur Folge haben, hat die Psychologie bisher nichts
gewußt. Wir haben das Gebiet der psychischen Erscheinungswelt um
ein ganz ansehnliches Stück erweitert und Phänomene für die Psycho-
logie erobert, die ihr früher nicht zugerechnet wurden.
Verweilen wir noch einen Moment bei der Behauptung, die Fehl-
leistungen seien „psychische Akte“. Enthält siemehr als unsere sonstige
Aussage, sie hätten einen Sinn? Ich glaube nicht; sie 1st vielmehr eher
unbestimmter und mißverständlicher. Alles, was man am Seelenleben
beobachten kann, wird man gelegentlich als seelisches Phänomen be-
zeichnen. Es wird bald darauf ankommen, ob die einzelne seelische
Äußerung direkt aus körperlichen, organischen, materiellen Ein-
wirkungen hervorgegangen ist, in welchem Falle ihre Untersuchung
nicht der Psychologie zufällt, oder ob sie sich zunächst aus anderen
seelischen Vorgängen ableitet, hinter denen dann irgendwo die Reihe
der organischen Einwirkungen anfängt. Den letzteren Sachverhalt
haben wir im Auge, wenn wir eine Erscheinung als einen seelischen
Vorgang bezeichnen, und darum ist es zweckmäßiger, unsere Aussage
in die Form zu kleiden: die Erscheinung sei sinnreich, habe einen
Sinn. Unter Sinn verstehen wir Bedeutung, Absicht, Tendenz und
Stellung in einer Reihe psychischer Zusammenhänge.
Es gibt eine Anzahl anderer Erscheinungen, welche den Fehl-
leistungen sehr nahestehen, auf welche aber dieser Name nicht mehr
paßt. Wir nennen sie Zufalls- und Symptomhandlungen. Sie
haben gleichfalls den Charakter des Unmotivierten, Unscheinbaren
und Unwichtigen, überdies aber deutlicher den des Überflüssigen.
Von den Fehlhandlungen unterscheidet sie der Wegfall einer anderen
Intention, mit der sie zusammenstoßen, und die durch sie gestört wird.
Sie übergehen andererseits ohne Grenze in dieGestenund Bewegungen,
welche wir zum Ausdruck der Gemütsbewegungen rechnen. Zu diesen
Zufallshandlungen gehören alle wie spielendausgeführten, anscheinend
zwecklosen Verrichtungen anunsererKleidung, TeilenunseresKörpers,
an Gegenständen, die uns erreichbar sind, sowie die Unterlassungen
derselben, ferner die Melodien, die wir vor uns hinsummen. Ich ver-
56 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
trete vor Ihnen die Behauptung, daß alle diese Phänomene sinnreich
und deutbar sind in derselben Weise wie die Fehlhandlungen,
kleine Anzeichen von anderen wichtigeren seelischen Vorgängen,
vollgültige psychische Akte. Aber ich gedenke bei dieser neuen Er-
weiterung des Gebiets seelischer Erscheinungen nicht zu verweilen,
sondern zu den Fehlleistungen zurückzukehren, an denen sich die
für die Psychoanalyse wichtigen Fragestellungen mit weit größerer
. Deutlichkeit herausarbeiten lassen.
Die interessantesten Fragen, die wir bei den Fehlleistungen gestellt
und noch nicht beantwortet haben, sind wohl die folgenden: Wir
haben gesagt, daß die Fehlleistungen Ergebnisse der Interferenz von
zwei verschiedenen Intentionen sind, von denen die eine die gestörte,
die andere die störende heißen kann. Die gestörten Intentionen geben
zu weiteren Fragen keinen Anlaß, aber von den anderen wollen wir
wissen, erstens, was sind das für Intentionen, die als Störung anderer
auftreten, und zweitens, wie verhalten sich die störenden zu den ge-
störten ?
Gestatten Sie, daß ich wiederum das Versprechen zum Repräsen-
tanten der ganzen Gattung nehme, und daß ich die zweite Frage eher
beantworte als die erste.
Die störende Intention beim Versprechen kann in inhaltlicher Be-
ziehung zur gestörten stehen, dann enthält sie einen Widerspruch
gegen sie, eine Berichtigung oder Ergänzung zu ihr. Oder, der dunklere
und interessantere Fall, die störende Intention hat inhaltlich nichts
mit der gestörten zu tun.
Belege für die erstere der beiden Beziehungen können wir in den
uns bereits bekannten und in ähnlichen Beispielen mühelos finden.
Fast in allen Fällen von Versprechen zum Gegenteil drückt die siörende
Intention den Gegensatz zur gestörten aus, ist die F ehlleistung die
Darstellung des Konflikts zwischen zwei unvereinbaren Strebungen.
Ich erkläre die Sitzung für eröffnet, möchte sie aber lieber schon ge-
schlossen haben, ist der Sinn des Versprechens des Präsidenten. Eine
politische Zeitung, die der Bestechlichkeit beschuldigt worden ist,
IV. Die Fehlleistungen 57
verteidigt sich in einem Artikel, derin den Worten gipfeln soll: Unsere
Leser werden uns das Zeugnis ausstellen, daß wir immer inuneigen-
nützigster Weise für das Wohl der Allgemeinheit eingetreten sind.
Der mit der Abfassung der Verteidigung betraute Redakteur schreibt
aber: in eigennützigster Weise. Das heißt, er denkt: So muß ich
zwar schreiben, aber ich weiß es anders. Ein Volksvertreter, der dazu
auffordert, dem Kaiser rückhaltlos die Wahrheit zu sagen, muß eine
Stimme in seinem Innern anhören, die ob seiner Kühnheit erschrickt,
und durch ein Versprechen dasrückhaltlosinrückgratlosverwandelt.
In den Ihnen bekannten Beispielen, die den Eindruck von Zu-
sammenziehungen und Verkürzungen machen, handelt es sich um
Berichtigungen, Zusätze oder Fortsetzungen, mit denensich einezweite
Tendenz neben der ersten zur Geltung bringt. Es sind da Dinge zum
Vorschein gekommen, aber sag’ es lieber gerad’ heraus, es waren
Schweinereien; also: es sind Dinge zum Vorschwein gekommen.
— Die Leute, die das verstehen, kann man an den Fingern einer
Hand abzählen; aber nein, es gibt doch eigentlich nur einen, der
das versteht, also: an einem Finger abzählen. — Oder, mein Mann
kann essen und trinken, was er will. Aber Sie wissen ja, ich dulde
es überhaupt nicht, daß er etwas will; also: er darf essen und trinken,
was ich will. In all diesen Fällen geht also das Versprechen aus dem
Inhalt der gestörten Intention selbst hervor oder es knüpft an ihn an.
Die andere Art der Beziehung zwischen den beiden interferierenden
Intentionen wirkt befremdend. Wenn die störende Intention nichts
mit dem Inhalt der gestörten zu tun hat, woher kommt sie denn und
woher rührt es, daß sie sich gerade an solcher Stelle als Störung be-
merkbar macht? Die Beobachtung, die hier allein Antwort geben kann,
läßt erkennen, daß die Störung von einem Gedankengang herrührt,
der die betreffende Person kurz vorher beschäftigt hatte, und der nun
in solcher Weise nachwirkt, gleichgültig ob er bereits Ausdruck in
der Rede gefunden hat oder nicht. Sie ist also wirklich als Nachklang
zu bezeichnen, aber nicht notwendig als Nachklang von gesprochenen
ı) Im deutschen Reichstag, Nov. 1908.
58 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Worten. Es fehlt auch hier nicht an einem assoziativen Zusammen-
hang zwischen dem Störenden und dem Gestörten, aber er ist nicht
im Inhalt gegeben, sondern künstlich, oft auf sehr gezwungenen Ver-
bindungswegen hergestellt.
Hören Sie ein einfaches Beispiel hiefür an, daß ich selbst beobachtet
habe. Ich treffe einmal in unseren schönen Dolomiten mit zwei Wiener
Damen zusammen, die als Touristinnen verkleidet sind. Ich begleite
sie ein Stück weit und wir besprechen die Genüsse, aber auch die
Beschwerden der touristischen Lebensweise. Die eine der Damen gibt
zu, daß diese Art den Tag zu verbringen manches Unbequeme hat.
Es ist wahr, sagt sie, daß es gar nicht angenehm ist, wenn man so
in der Sonne den ganzen Tag marschiert ist, und Bluse und Hemd
ganz durchgeschwitzt sind. In diesem Satze hat sie einmal eine kleine
Stockung zu überwinden. Dann setzt sie fort: Wenn man aber dann
nach Hose kommt und sich umkleiden kann ... Wir haben dies
Versprechen nicht analysiert, aber ich meine, Sie können es leicht
verstehen. Die Dame hatte die Absicht gehabt, die Aufzählung voll-
ständiger zu halten und zu sagen: Bluse, Hemd und Hose. Aus Mo-
tiven der Wohlanständigkeit war die Erwähnung der Hose unter-
blieben, aber in dem nächsten, inhaltlich ganz unabhängigen Satz
kam das nicht ausgesprochene Wort als Verunstaltung des ähnlich
lautenden „nach Hause“ zum Vorschein.
Nun können wir uns aber der lange aufgesparten Hauptfrage zu-
wenden, was für Intentionen es sind, die sich in ungewöhnlicher
Weise als Störungen anderer zum Ausdruck bringen. Nun selbstver-
ständlich sehr verschiedene, in denen wir aber das Gemeinsame finden
wollen. Untersuchen wir: eine Reihe von Beispielen daraufhin, so
werden sie sich uns alsbald in drei Gruppen sondern. Zur ersten
Gruppe gehören die Fälle, in denen die störende Tendenz dem Redner
bekannt ist, überdies aber vor dem Versprechen von ihm verspürt
wurde. So gibt beim Versprechen „Vorschwein“ der Sprecher nicht
nur zu, daß er das Urteil „Schweinereien“ über die betreffenden
Vorgänge gefällt hat, sondern auch, daß er die Absicht hatte, von der
IV, Die Fehlleistungen 59
er später zurücktrat, ihm auch wörtlichen Ausdruck zu geben. Eine
zweite Gruppe bilden andere Fälle, in denen die störende Tendenz
vom Sprecher gleichfalls als die seinige anerkannt wird, aber er weiß
nichts davon, daß sie gerade vor dem Versprechen bei ihm aktıv war.
Er akzeptiert also unsere Deutung seines Versprechens, bleibt aber doch .
in gewissem Maße verwundert über sie. Beispiele für dieses Verhalten
lassen sich von anderen Fehlleistungen vielleicht leichter geben als
gerade vom Versprechen. In einer dritten Gruppe wird die Deutung
der störenden Intention vom Sprecher energisch abgelehnt; er be-
streitet nicht nur, daß sie sich vor dem Versprechen in ihm geregt,
sondern er will behaupten, daß sie ihm überhaupt völlig fremd ist.
Erinnern Sie sich an das Beispiel vom „Aufstoßen“ und an die ge-
radezu unhöfliche Abweisung, die ich mir durch die Aufdeckung der
störenden Intention von diesem Sprecher geholt habe. Sie wissen,
daß wir in der Auffassung. dieser Fälle noch keine Einigung erzielt
haben. Ich würde mir aus dem Widerspruch des Toastredners nichts
machen und unbeirrbar an meiner Deutung festhalten, während Sie,
meine ich, doch unter dem Eindrucke seines Sträubens stehen und
ın Erwägung ziehen, ob man nicht auf die Deutung solcher Fehl-
leistungen verzichten und sie als rein physiologische Akte im vor-
analytischen Sinne gelten lassen soll. Ich kann mir denken, was Sie
abschreckt. Meine Deutung schließt die Annahme ein, daß sich bei
dem Sprecher Intentionen äußern können, von denen er selbst nichts
weiß, die ich aber aus Indizien erschließen kann. Vor einer so neu-
artigen und folgenschweren Annahme machen Sie halt. Ich verstehe
das und gebe Ihnen insoweit recht. Aber stellen wir das eine fest:
Wenn Sie die an so vielen Beispielen erhärtete Auffassung der Fehl-
leistungen konsequent durchführen wollen, müssen Sie sich zu der
genannten befremdenden Annahme entschließen. Können Sie das
nicht, so müssen Sie auf das kaum erworbene Verständnis der Fehl-
leistungen wiederum verzichten.
Verweilen wir noch bei dem, was die drei Gruppen einigt, was
den drei Mechanismen des Versprechens gemeinsam ist. Das ist zum
60 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Glück unverkennbar. In den beiden ersten Gruppen wird die störende
Tendenz vom Sprecher anerkannt; in der ersten kommt noch hinzu,
daß sie sich unmittelbar vor dem Versprechen gemeldet hat. In beiden
Fällen ist sie aber zurückgedrängt worden. Der Sprecher
hat sich entschlossen, sie nichtin Rede umzusetzen, und
dann passiert ihm das Versprechen, d.h. dann setzt sich
die zurückgedrängte Tendenz gegen seinen Willen in
eineÄußerung um, indem sie den Ausdruck der von ihm
zugelassenen Intentionabändert,sich mitihm vermengt
oder sich geradezu an seine Stelle setzt. Dies ist also der
Mechanismus des Versprechens.
Ich kann von meinem Standpunkt auch den Vorgang in unserer
dritten Gruppe in den schönsten Einklang mit dem hier beschrie-
benen Mechanismus bringen. Ich brauche nur anzunehmen, daß diese
drei Gruppen durch die verschieden weit reichende Zurückdrängung
einer Intention unterschieden werden. In der ersten ist die Intention
vorhanden und macht sich vor der Äußerung des Sprechers ihm be-
merkbar; erst dann erfährt sie die Zurückweisung, für welche sie
sich im Versprechen entschädigt. In der zweiten Gruppe reicht die
Zurückweisung weiter; die Intention wird bereits vor der Redeäuße-
rung nicht mehr bemerkbar. Merkwürdig, daß sie dadurch keines-
wegs abgehalten wird, sich an der Verursachung des Versprechens
zu beteiligen! Durch dies Verhalten wird uns aber die Erklärung für
den Vorgang bei der dritten Gruppe erleichtert. Ich werde so kühn
sein, anzunehmen, daß sich in der F ehlleistung auch noch eine Ten-
denz äußern kann, welche seit längerer Zeit, vielleicht seit sehr langer
Zeit, zurückgedrängt ist, nicht bemerkt wird und darum vom Sprecher
direkt verleugnet werden kann. Aber lassen Sie selbst das Problem
der dritten Gruppe beiseite; Sie müssen aus den Beobachtungen an
den anderen Fällen den Schluß ziehen, daß die Unterdrückun g
der vorhandenen Absicht, etwas zu sagen, die unerläß-
liche Bedingung dafürist,daßein Versprechen zustande
kommt.
IV, Die Fehlleistungen 61
Wir dürfen nun behaupten, daß wir im Verständnis der Fehl-
leistungen weitere Fortschritte gemacht haben. Wir wissen nicht nur,
daß sie seelische Akte sind, an denen man Sinn und Absicht erkennen
kann, nicht nur, daß sie durch die Interferenz von zwei verschiedenen
Intentionen entstehen, sondern außerdem noch, daß die eine dieser In-
tentionen eine gewisse Zurückdrängung von der Ausführung erfahren
haben muß, um sich durch die Störung der anderen äußern zu können.
Sie muß selbst erst gestört worden sein, ehe sie zur störenden werden
kann. Eine vollständige Erklärung der Phänomene, die wır Fehl-
leistungen nennen, ist damit natürlich noch nicht gewonnen. Wirsehen
sofort weitere Fragen auftauchen und ahnen überhaupt, daß sich um
so mehr Anlässe zu neuen Fragen ergeben werden, je weiter wir im
Verständnis kommen. Wir können z. B. fragen, warum es nicht viel
einfacher zugeht. Wenn die Absicht besteht, eine gewisse Tendenz
zurückzudrängen anstatt sie auszuführen, so sollte diese Zurückdrän-
gung so gelingen, daß eben nichts von jener zum Ausdruck kommt,
oder sie könnte auch mißlingen, so daß die zurückgedrängte Tendenz
sich vollen Ausdruck schafft. Die Fehlleistungen sind aber Kompro-
mißergebnisse, sie bedeuten ein halbes Gelingen und ein halbes MiB-
lingen für jede der beiden Absichten, die gefährdete Intention wird
weder ganz unterdrückt, noch setzt sie sich — von Einzelfällen ab-
gesehen — ganz unversehrt durch. Wir können uns denken, daß
besondere Bedingungen für das Zustandekommen solcher Interferenz-
oder Kompromißergebnisse vorhanden sein müssen, aber wir können
auch nicht einmal ahnen, welcher Art sie sein können. Ich glaube
auch nicht, daß wir diese uns unbekannten Verhältnisse durch wei-
tere Vertiefung in das Studium der Fehlleistungen aufdecken könnten.
Es wird vielmehr notwendig sein, vorher noch andere dunkle Gebiete
des Seelenlebens zu durchforschen; erst die Analogien, die uns dort
begegnen, können uns den Mut geben, jene Annahmen aufzustellen,
die für eine tiefer reichende Aufklärung der Fehlleistungen erforder-
lich sind. Und noch eines! Auch das Arbeiten mit kleinen Anzeichen,
wie wir es auf diesem Gebiete beständig üben, bringt seine Gefahren
62 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
mit sich. Es gibt eine seelische Erkrankung, die kombinatorische Para-
nola, bei welcher die Verwertung solcher kleiner Anzeichen in un-
eingeschränkter Weise betrieben wird, und ich werde mich natür-
lich nicht dafür einsetzen, daß die auf dieser Grundlage aufgebauten
Schlüsse durchwegs richtig sind. Vor solchen Gefahren kann uns nur
die breite Basis unserer Beobachtungen bewahren, die Wiederholung
ähnlicher Eindrücke aus den verschiedensten Gebieten des Seelen-
lebens.
Wir werden also die Analyse der Fehlleistungen hier verlassen.
An eines darf ich Sie aber noch mahnen; wollen Sie die Art, wie wir
diese Phänomene behandelt haben, als vorbildlich im Gedächtnis be-
halten. Sie können an diesem Beispiel ersehen, welches die Absichten
unserer Psychologie sind. Wir wollen die Erscheinungen nicht bloß
beschreiben und klassifizieren, sondern sie als Anzeichen eines Kräfte-
spiels in der Seele begreifen, als Äußerung von zielstrebigen Ten-
denzen, die zusammen oder gegeneinander arbeiten. Wir bemühen
uns um eine dynamische Auffassung der seelischen Erschei-
nungen. Die wahrgenommenen Phänomene müssen in unserer Auf-
fassung gegen die nur angenommenen Strebungen zurücktreten.
Wir wollen also bei den Fehlleistungen nicht weiter in die Tiefe
gehen, aber wir können noch einen Streifzug durch die Breite dieses
Gebiets unternehmen, aufdem wir Bekanntes wiederfinden und einiges
Neue aufspüren werden. Wir halten uns dabei an die Einteilung in
die bereits eingangs aufgestellten drei Gruppen des Versprechens mit
den beigeordneten Formen des Verschreibens, Verlesens, Verhörens,
des Vergessens mit seinen Unterteilungen je nach dem vergessenen
Objekte (Eigennamen, Fremdworten, Vorsätzen, Eindrücken) und des
Vergreiiens, Verlegens, Verlierens. Die Irrtümer, soweit sie für uns
in Betracht kommen, schließen sich teils dem Vergessen, teils dem
Vergreifen an.
Vom Versprechen haben wir bereits so eingehend gehandelt und
doch noch einiges hinzuz ufügen. Es knüpfen sich an das Versprechen
kleinere affektive Phänomene, die nicht ganz ohne Interesse sind. Es
IV. Die Fehlleistungen 63
will niemand sich gerne versprochen haben; man überhört auch oft
das eigene Versprechen, niemals das eines anderen. Das Versprechen
ist auch in gewissem Sinne ansteckend; es ist gar nicht leicht, über
das Versprechen zu reden, ohne dabei selbst in Versprechen zu ver-
fallen. Die geringfügigsten Formen des Versprechens, die gerade keine
besonderen Aufklärungen über versteckte seelische Vorgänge zu geben
haben, sind doch in ihrer Motivierung unschwer zu durchschauen.
Wenn jemand z.B. einen langen Vokal kurz gesprochen hat infolge
einer beliebig motivierten, bei diesem Wort eingetretenen Störung,
so dehnt er dafür einen bald darauf folgenden kurzen Vokal und
begeht ein neues Versprechen, indem er das frühere kompensiert.
Dasselbe, wenn er einen Doppelvokal unrein und nachlässig ausge-
sprochen hat, z. B. ein eu oder oz wie ei; er sucht es gutzumachen,
indem er ein nachfolgendes ez zu eu oder oz verändert. Dabei scheint
eine Rücksicht auf den Zuhörer maßgebend zu sein, der nicht glauben
soll, es sei dem Redner gleichgültig, wie er die Muttersprache be-
handle. Die zweite kompensierende Entstellung hat geradezu die Ab-
sicht, den Hörer auf die erste aufmerksam zu machen und ihm zu
versichern, daß sie auch dem Redner nicht entgangen ist. Die häufig-
sten, einfachsten und geringfügigsten Fälle des Versprechens bestehen
in Zusammenziehungen und Vorklängen, die sich an unscheinbaren
Redeteilen äußern. Man verspricht sich in einem längeren Satz z.B.
derart, daß das letzte Wort der beabsichtigten Redeintention vorklingt.
Das macht den Eindruck einer gewissen Ungeduld, mit dem Satze
fertig zu werden, und bezeugt im allgemeinen ein gewisses Wider-
streben gegen die Mitteilung dieses Satzes oder gegen die Rede über-
haupt. Wir kommen so zu Grenzfällen, in denen sich die Unterschiede
zwischen der psychoanalytischen und der gemeinen physiologischen
Auffassung des Versprechens vermischen. Wir nehmen an, daß in
diesen Fällen eine die Redeintention störende Tendenz vorhanden
ist; sie kann aber nur anzeigen, daß sie vorhanden ist, und nicht, was
sie selbst beabsichtigt. Die Störung, die sie hervorruft, folgt dann
irgendwelchen Lautbeeinflussungen oder Assoziationsanziehungen
64 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
und kann als Ablenkung der Aufmerksamkeit von der Redeintention
aufgefaßt werden. Aber weder diese Aufmerksamkeitsstörung noch
die wirksam gewordenen Assoziationsneigungen trefien das Wesen
des Vorgangs. Dies bleibt doch der Hinweis auf die Existenz einer
die Redeabsicht störenden Intention, deren Natur nur diesmal nicht
aus ihren Wirkungen erraten werden kann, wie es in allen besser aus-
geprägten Fällen des Versprechens möglich ist.
Das Verschreiben, zu dem ich nun übergehe, stimmt mit dem Ver-
sprechen soweit überein, daß wir keine neuen Gesichtspunkte zu er-
warten haben. Vielleicht wird uns eine kleine Nachlese beschieden
sein. Die so verbreiteten kleinen Verschreibungen, Zusammen-
ziehungen, Vorwegnahmen späterer, besonders der letzten Worte
deuten wiederum auf eine allgemeine Schreibunlust und Ungeduld
fertig zu werden; ausgeprägtere Effekte des Verschreibens lassen Natur
und Absicht der störenden Tendenz erkennen. Im allgemeinen weiß
man, wenn man in einem Brief ein Verschreiben findet, daß beim
Schreiber nicht alles in Ordnung war; was sich bei ihm geregt hat,
kann man nicht immer feststellen. Das Verschreiben wird häufig von
dem, der es begeht, ebensowenig bemerkt wie das Versprechen. Auf-
fällig ıst dann folgende Beobachtung: Es gibt ja Menschen, welche
die Gewohnheit üben, jeden Brief, den sie geschrieben haben, vor
der Absendung nochmals durchzulesen. Andere pflegen dies nicht;
wenn sie es aber ausnahmsweise einmal tun, haben sie dann immer
Gelegenheit, ein auffälliges Verschreiben aufzufinden und zu korri-
gieren. Wie ist das zu erklären? Das sieht so aus, als wüßten diese
Leute doch, daß sie sich bei der Abfassung des Briefes verschrieben
haben. Sollen wir das wirklich glauben?
An die praktische Bedeutung des Verschreibens knüpft sich ein
interessantes Problem. Sie erinnern sich vielleicht an den Fall eines
Mörders H., der sich Kulturen von höchst gefährlichen Krankheits-
erregern von wissenschaftlichen Instituten zu verschaffen wußte, in-
dem er sich für einen Bakterienforscher ausgab, der aber diese Kul-
turen dazu gebrauchte, um ihm nahestehende Personen auf diese
IV. Die Fehlleistungen 65
modernste Weise aus dem Wege zu räumen. Dieser Mann beklagte
sich nun einmal bei der Leitung eines solchen Instituts über die Un-
wirksamkeit der ihm geschickten Kulturen, verschrieb sich aber da-
bei, und an Stelle der Worte „bei meinen Versuchen an Mäusen oder
Meerschweinchen“ stand deutlich zu lesen, „bei meinen Versuchen
an Menschen.“ Dies Verschreiben fiel auch den Ärzten des Instituts
auf; sie zogen aber, soviel ich weiß, keine Konsequenzen daraus. Nun,
was meinen Sie? Hätten die Ärzte nicht vielmehr das Verschreiben
als Geständnis annehmen und eine Untersuchung anregen müssen,
durch welche dem Mörder rechtzeitig das Handwerk gelegt worden
wäre? Ist in diesem Falle nicht die Unkenntnis unserer Auffassung
der Fehlleistungen die Ursache eines praktisch bedeutsamen Versäum-
nisses geworden? Nun, ich meine, ein solches Verschreiben erschiene
mir gewiß als sehr verdächtig, aber seiner Verwendung als Geständ-
nis steht etwas sehr Gewichtiges im Wege. So einfach ist die Sache
nicht. Das Verschreiben ist sicherlich ein Indizium, aber für sich allein
hätte es zur Einleitung einer Untersuchung nicht hingereicht. Daß
der Mann von dem Gedanken beschäftigt ist, Menschen zu infizieren,
das sagt das Verschreiben allerdings, aber es läßt nicht entscheiden,
ob dieser Gedanke den Wert eines klaren schädlichen Vorsatzes oder
den einer praktisch belanglosen Phantasie hat. Es ist sogar möglich,
daß der Mensch, der sich so verschrieben hat, mit der besten subjek-
tiven Berechtigung diese Phantasie verleugnen und sie als etwas ihm
gänzlich Fremdes von sich weisen wird. Wenn wir später den Unter-
schied zwischen psychischer und materieller Realität ins Auge fassen,
werden Sie diese Möglichkeiten noch besser verstehen können. Es
ist dies aber wieder ein Fall, in dem eine Fehlleistung nachträglich
zu ungeahnter Bedeutung gekommen ist.
Beim Verlesen treffen wir auf eine psychische Situation, die sich
von der des Versprechens und Verschreibens deutlich unterscheidet.
Die eine der beiden miteinander konkurrierenden Tendenzen ist hier
durch eine sensorische Anregung ersetzt und vielleicht darum weniger
resistent. Was man zu lesen hat, ist ja nicht eine Produktion des
Freud, VII, 5
66 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
eigenen Seelenlebens wie etwas, was man zu schreiben vorhat. In
einer großen Mehrzahl besteht daher das Verlesen in einer vollen
Substitution. Man ersetzt das zu lesende Wort durch ein anderes,
ohne daß eine inhaltliche Beziehung zwischen dem Text und dem
Effekt des Verlesens zu bestehen braucht, in der Regel in Anlehnung
an eine Wortähnlichkeit. Lichtenbergs Beispiel: Agamemnon
anstatt angenommen ist das beste dieser Gruppe. Will man die
störende, das Verlesen erzeugende Tendenz kennenlernen, so darf
man den verlesenen Text ganz beiseite lassen und kann die analytische
Untersuchung mit den beiden Fragen einleiten, welcher Einfall sıch
als der nächste zum Effekt des Verlesens ergibt und in welcher Situa-
tion das Verlesen vorgefallen ist. Mitunter reicht die Kenntnis der
letzteren für sich allein zur Aufklärung des Verlesens hin, z. B. wenn
jemand in gewissen Nöten in einer ihm fremden Stadt herumwandert
und auf einer großen Tafel eines ersten Stockes das Wort Kloset-
haus liest. Er hat gerade noch Zeit, sich darüber zu verwundern,
daß die Tafel so hoch angebracht ist, ehe er entdeckt, daß dort streng
genommen Korsethaus zu lesen steht. In anderen Fällen bedarf
gerade das vom Inhalt des Textes unabhängige Verlesen einer ein-
gehenden Analyse, die ohne Übung in der psychoanalytischen Tech-
nik und ohne Zutrauen zu ihr nicht durchzuführen ist. Meist ist es
aber leichter, sich die Aufklärung eines Verlesens zu schaffen. Das
substituierte Wort verrät nach dem Beispiel Agamemnon ohne
weiteres den Gedankenkreis, aus welchem die Störung hervorgeht.
In diesen Kriegszeiten ist es z. B. sehr gewöhnlich, daß man die
Namen der Städte und Heerführer und die militärischen Ausdrücke,
die einen beständig umschwirren, überall hineinliest, wo einem ein
ähnliches Wortbild entgegenkommt. Was einen interessiert und
beschäftigt, das setzt sich so an Stelle des Fremden und noch Un-
interessanten. Die Nachbilder der Gedanken trüben die neue Wahr-
nehmung.
Es fehlt auch beim Verlesen nicht an Fällen von anderer Art, in
denen der Text des Gelesenen selbst die störende Tendenz erweckt,
IV. Die Fehlleistungen 67
durch welche er dann meist in sein Gegenteil verwandelt wird. Man
sollte etwas Unerwünschtes lesen und überzeugt sich durch die Ana-
lyse, daß ein intensiver Wunsch zur Ablehnung des Gelesenen für
dessen Abänderung verantwortlich zu machen ist.
Bei den ersterwähnten häufigeren Fällen des Verlesens kommen
zwei Momente zu kurz, denen wir im Mechanismus der Fehlleistun-
gen eine wichtige Rolle zugeteilt haben: der Konflikt zweier Ten-
denzen und die Zurückdrängung der einen, die sich durch den Effekt
der Fehlleistung entschädigt. Nicht daß beim Verlesen etwas dem
Gegensätzliches aufzufinden wäre, aber die Vordringlichkeit des zum
Verlesen führenden Gedankeninhalts ist doch weit auffälliger als die
Zurückdrängung, die dieser vorher erfahren haben mag. Gerade diese
beiden Momente treten uns bei den verschiedenen Situationen der
Fehlleistung durch Vergessen am greifbarsten entgegen.
Das Vergessen von Vorsätzen ist geradezu eindeutig, seine Deu-
tung wird, wie wir gehört haben, auch vom Laien nicht bestritten.
Die den Vorsatz störende 'T’endenz ist jedesmal eine Gegenabsicht,
ein Nichtwollen, von dem uns nur zu wissen erübrigt, warum es
sich nicht anders und nicht unverhüllter zum Ausdruck bringt. Aber
das Vorhandensein dieses Gegenwillens ist unzweifelhaft. Manchmal
gelingt es auch, etwas von den Motiven zu erraten, die diesen Gegen-
willen nötigen sich zu verbergen, und allemal hat er durch die Fehl-
leistung aus dem Verborgenen seine Absicht erreicht, während ihm
die Abweisung sicher wäre, wenn er als offener Widerspruch auf-
träte. Wenn zwischen dem Vorsatz und seiner Ausführung eine wich-
tige Veränderung der psychischen Situation eingetreten ist, derzufolge
die Ausführung des Vorsatzes nicht in Frage käme, dann tritt das
Vergessen des Vorsatzes aus dem Rahmen der Fehlleistung heraus.
Man wundert sich nicht mehr darüber und sieht ein, daß es über-
flüssig gewesen wäre, den Vorsatz zu erinnern; er war dann dauernd
oder zeitweilig erloschen. Eine Fehlleistung kann das Vergessen des
Vorsatzes nur dann heißen, wenn wir an eine solche Unterbrechung
desselben nicht glauben können.
5*
68 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Die Fälle von Vorsatzvergessen sind im allgemeinen so einförmig
und durchsichtig, daß sie eben darum für unsere Untersuchung kein
Interesse haben. An zwei Stellen können wir aber doch aus dem
Studium dieser Fehlleistung etwas Neues lernen. Wir haben gesagt,
das Vergessen, also Nichtausführen eines Vorsatzes, weist auf einen
ihm feindlichen Gegenwillen hin. Das bleibt wohl bestehen, aber der
Gegenwille kann nach der Aussage unserer Untersuchungen von
zweierlei Art sein, ein direkter oder ein vermittelter. Was unter dem
letzteren gemeint ist, läßt sich am besten an ein oder zwei Beispielen
erläutern. Wenn der Gönner vergißt, bei einer dritten Person ein
Fürwort für seinen Schützling einzulegen, so Kann dies geschehen,
weil er sich für den Schützling eigentlich nicht sehr interessiert und
darum auch zur Fürsprache keine große Lust hat. In diesem Sinne
wird jedenfalls der Schützling das Vergessen des Gönners verstehen.
Es kann aber auch komplizierter zugehen. Der Gegenwille gegen
die Ausführung des Vorsatzes kann beim Gönner von anderer Seite
kommen und an ganz anderer Stelle angreifen. Er braucht mit dem
Schützling nichts zu tun zu haben, sondern richtet sich etwa gegen
die dritte Person, bei welcher die Fürsprache erfolgen soll. Sie sehen
also, welche Bedenken auch hier der praktischen Verwendung unserer
Deutungen entgegenstehen. Der Schützling gerät trotz der richtigen
Deutung des Vergessens in Gefahr, allzu mißtrauisch zu werden und
seinem Gönner schweres Unrecht zu tun. Oder: wenn jemand das
Rendezvous vergißt, das einzuhalten er dem anderen versprochen
und sich selbst vorgenommen hat, so wird die häufigste Begründung
wohl die direkte Abneigung gegen das Zusammentreffen mit dieser
Person sein. Aber die Analyse könnte hier den Nachweis erbringen,
daß die störende Tendenz nicht der Person gilt, sondern sich gegen
den Platz richtet, an welchem das Zusammentreffen stattfinden soll,
‚ und der infolge einer an ihn geknüpften peinlichen Erinnerung ge-
mieden wird. Oder: wenn jemand einen Brief aufzugeben vergißt, so
kann sich die Gegentendenz auf den Inhalt des Briefes selbst stützen;
es ist aber keineswegs ausgeschlossen, daß der Brief an sich harmlos
IV. Die Fehlleistungen | 69
ist und der Gegentendenz nur darum verfällt, weil irgend etwas an
ihm an einen anderen, früher einmal geschriebenen Brief erinnert,
der dem Gegenwillen allerdings einen direkten Angriffspunkt geboten
hat. Man kann dann sagen, der Gegenwille hat sich hier von jenem
früheren Brief, wo er berechtigt war, auf den gegenwärtigen über-
tragen, bei dem er eigentlich nichts zu wollen hat. Sie sehen also,
daß man bei der Verwertung unserer berechtigten Deutungen doch
Zurückhaltung und Vorsicht üben muß; was psychologisch gleich-
wertig ist, kann praktisch doch recht vieldeutig sein.
Phänomene wie diese werden Ihnen sehr ungewöhnlich erscheinen.
Vielleicht sind Sie geneigt anzunehmen, daß der „indirekte“ Gegen-
wille den Vorgang als einen bereits pathologischen charakterisiert.
Ich kann Ihnen aber versichern, daß er auch im Rahmen der Norm
und der Gesundheit vorkommt. Mißverstehen Sie mich übrigens
nicht. Ich will keineswegs selbst die Unzuverlässigkeit unserer ana-
lytischen Deutungen zugestehen. Die besprochene Vieldeutigkeit des
Vorsatzvergessens besteht ja nur, solange wir keine Analyse des Falles
vorgenommen haben und nur auf Grund unserer allgemeinen Vor-
aussetzungen deuten. Wenn wir die Analyse mit der betreffenden
Person ausführen, erfahren wir jedesmal mit genügender Sicherheit,
ob es ein direkter Gegenwille ist, oder woher er sonst rührt.
Ein zweiter Punkt ist der folgende: Wenn wir in einer Überzahl
von Fällen bestätigt finden, daß das Vergessen eines Vorsatzes auf
einen Gegenwillen zurückgeht, so bekommen wir Mut, diese Lösung
auch auf eine andere Reihe von Fällen auszudehnen, in denen die
analysierte Person den von uns erschlossenen Gegenwillen nicht be-
stätigt, sondern verleugnet. Nehmen Sie als Beispiele hierfür die
überaus häufigen Vorkommnisse, daß man vergißt, Bücher, die man
entlehnt hat, zurückzustellen, Rechnungen oder Schulden zu bezahlen.
Wir werden so kühn sein, dem Betreffenden vorzuhalten, daß bei
ihm die Absicht besteht, die Bücher zu behalten und die Schulden
nicht zu bezahlen, während er diese Absicht leugnen, aber nicht im-
stande sein wird, uns für sein Benehmen eine andere Erklärung zu
70 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
geben. Daraufhin setzen wir fort, er habe die Absicht, nur wisse er
nichts von ihr; es genüge uns aber, daß sie sich durch den Effekt des
Vergessens bei ihm verrate. Jener kann uns wiederholen, er habe
eben vergessen. Sie erkennen jetzt die Situation als eine, in welcher
wir uns bereits früher einmal befunden haben. Wenn wir unsere so
vielfältig als berechtigt erwiesenen Deutungen der Fehlleistungen
konsequent fortführen wollen, werden wir unausweichlich zu der
Annahme gedrängt, daß es Tendenzen beim Menschen gibt, welche
wirksam werden können, ohne daß er von ihnen weiß. Damit setzen
wir uns aber in Widerspruch zu allen das Leben und die Psychologie
beherrschenden Anschauungen.
Das Vergessen von Eigen- und Fremdnamen sowie Fremdworten
läßt sich in gleicher Weise auf eine Gegenabsicht zurückführen, welche
sich entweder direkt oder indirekt gegen den betreffenden Namen
richtet. Von solcher direkter Abneigung habe ich Ihnen bereits früher
einmal mehrere Beispiele vorgeführt. Die indirekte Verursachung ist
aber hier besonders häufig und erfordert meist sorgfältige Analysen zu
ihrer Feststellung. So z. B. hat in dieser Kriegszeit, die uns gezwun-
gen hat, so viele unserer früheren Neigungen aufzugeben, auch die Ver-
fügung über das Erinnern von Eigennamen infolge der sonderbarsten
Verknüpfungen sehr gelitten. Vor kurzem ist es mir geschehen, daß ich
den Namen derharmlosen mährischen Stadt Bisenz nichtreproduzieren
konnte, und die Analyse ergab, daß keine direkte Verfeindung Schuld
daran trug, sondern der Anklang an den Namen des Palazzo Bisenzi
in Orvieto, in dem ich sonst zu wiederholten Malen gerne gewohnt
hatte. Als Motiv der gegen dies Namenerinnern gerichteten Tendenz
tritt uns hier zum erstenmal ein Prinzip entgegen, welches uns später
seine ganze großartige Bedeutung für die Verursachung neurotischer
Symptome enthüllen wird: die Abneigung des Gedächtnisses, etwas
zu erinnern, was mit Unlustempfindungen verknüpft war und bei
der Reproduktion diese Unlust erneuern würde. Diese Absicht zur
Vermeidung von Unlust aus der Erinnerung oder anderen psychischen
Akten, die psychische Flucht vor der Unlust, dürfen wir als das letzte
IV, Die Fehlleistungen 7ı
wirksame Motiv nicht nur fürs Namenvergessen, sondern auch für
viele andere Fehlleistungen, wie Unterlassungen, Irrtümer u. a. an-
erkennen.
Das Namenvergessen scheint aber psycho-physiologisch besonders
erleichtert zu sein und stellt sich daher auch in Fällen ein, welche
die Einmengung eines Unlustmotivs nicht bestätigen lassen. Wenn
einer einmal zum Namenvergessen neigt, so können Sie bei ihm durch
analytische Untersuchung feststellen, daß ihm nicht nur darum Namen
entfallen, weil er sie selbst nicht mag oder weil sie ihn an Unlieb-
sames mahnen, sondern auch darum, weil derselbe Name bei ihm
einem anderen Assoziationskreis angehört, zu dem er innigere Be-
ziehungen hat. Der Name wird dort gleichsam festgehalten und den
anderen momentan aktivierten Assoziationen verweigert. Wenn Sie
sich an die Kunststücke der Mnemotechnik erinnern, so werden Sie
mit einigem Befremden feststellen, daß man Namen infolge derselben
Zusammenhänge vergißt, die man sonst absichtlich herstellt, um sie
vor dem Vergessen zu schützen. Das auffälligste Beispiel hierfür geben
Eigennamen von Personen, die begreiflicherweise für verschiedene
Leute ganz verschiedene psychische Wertigkeit besitzen müssen.
Nehmen Sie z.B. einen Vornamen wie Theodor. Dem einen von Ihnen
wird er nichts Besonderes bedeuten; für den anderen ist es der Name
seines Vaters, Bruders, Freundes oder der eigene. Die analytische Er-
fahrung wird Ihnen dann zeigen, daß der erstere nicht in Gefahr ist
zu vergessen, daß eine gewisse fremde Person diesen Namen führt,
während die anderen beständig geneigt sein werden, dem Fremden
einen Namen vorzuenthalten, der ihnen für intime Beziehungen re-
serviert erscheint. Nehmen Sie nun an, daß diese assoziative Hemmung
mit der Wirkung des Unlustprinzips und überdies mit einem in-
direkten Mechanismus zusammentreffen kann, so werden Sie erst
imstande sein, sich von der Komplikation der Verursachung des zeit-
weiligen Namenvergessens eine zutreffende Vorstellung zu machen.
Eine sachgerechte Analyse deckt Ihnen aber alle diese Verwicklun-
gen restlos auf.
72 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Das Vergessen von Eindrücken und Erlebnissen zeigt die Wirkung
der Tendenz, Unangenehmes von der Erinnerung fernzuhalten, noch
viel deutlicher und ausschließlicher als das Namenvergessen. Es ge-
hört natürlich nicht in seinem vollen Umfang zu den Fehlleistungen,
sondern nur insoferne es uns, am Maßstabe unserer gewohnten Er-
fahrung gemessen, auffällig und unberechtigt erscheint, also z. B.
wenn das Vergessen zu frische oder zu wichtige Eindrücke betrifft
oder solche, deren Ausfall eine Lücke in einen sonst gut erinnerten
Zusammenhang reißt. Warum und wieso wir überhaupt vergessen
können, darunter Erlebnisse, welche uns gewiß den tiefsten Eindruck
hinterlassen haben, wie die Ereignisse unserer ersten Kindheitsjahre,
das ist ein ganz anderes Problem, bei welchem die Abwehr gegen
Unlustregungen eine gewisse Rolle spielt, aber lange nicht alles er-
klärt. Daß unangenehme Eindrücke leicht vergessen werden, ist eine
nicht zu bezweifelnde Tatsache. Verschiedene Psychologen haben sie
bemerkt und der große Darwin empfing einen so starken Eindruck von
ihr, daß ersich die „goldene Regel“ aufstellte, Beobachtungen, welche
seiner Theorie ungünstig schienen, mit besonderer Sorgfalt zu notieren,
da er sich überzeugt hatte, daß gerade sie in seinem Gedächtnisse
nicht haften wollten.
Wer von diesem Prinzip der Abwehr gegen die Erinnerungsunlust
durch das Vergessen zuerst hört, versäumt selten den Einwand zu
erheben, daß er vielmehr die Erfahrung gemacht hat, daß gerade
Peinliches schwer zu vergessen ist, indem es gegen den Willen der
Person immer wiederkehrt, um sie zu quälen z. B. die Erinnerung
an Kränkungen und Demütigungen. Auch diese Tatsache ist richtig,
aber der Einwand trifft nicht zu. Es ist wichtig, daß man rechtzeitig
beginne mit der Tatsache zu rechnen, das Seelenleben sei ein Kampf-
und Tummelplatz entgegengesetzter Tendenzen, odernicht dynamisch
ausgedrückt, es bestehe aus Widersprüchen und Gegensatzpaaren. Der
Nachweis einer bestimmten Tendenz leistet nichts für den Ausschluß
einer ihr gegensätzlichen; es ist Raum für beide vorhanden. Es
kommt nur darauf an, wie sich die Gegensätze zueinander stellen,
IV. Die Fehlleistungen Ne, 75
welche Wirkungen von dem einen und welche von dem anderen
ausgehen. |
Das Verlieren und Verlegen sind uns besonders interessant durch
ihre Vieldeutigkeit, also durch die Mannigfaltigkeit der Tendenzen,
in deren Dienst diese Fehlleistungen treten können. Allen Fällen ge-
meinsam ist, daß man etwas verlieren wollte, verschieden aber, aus
welchem Grund und zu welchem Zweck. Man verliert eine Sache,
wenn sie schadhaft geworden ist, wenn man die Absicht hat, sie durch
eine bessere zu ersetzen, wenn sie aufgehört hat einem lieb zu sein,
wenn sie von einer Person herrührt, zu der sich die Beziehungen ver-
schlechtert haben, oder wenn sie unter Umständen erworben wurde,
deren man nicht mehr gedenken will. Demselben Zweck kann auch
das Fallenlassen, Beschädigen, Zerbrechen der Sache dienen. Im Leben
der Gesellschaft soll die Erfahrung gemacht worden sein, daß auf-
gezwungene und uneheliche Kinder weit hinfälliger sınd als die recht-
mäßig empfangenen. Es bedarf für dies Ergebnis nicht der groben
Technik der sogenannten Engelmacherinnen; ein gewisser Nachlaß
ın der Sorgfalt der Kinderpflege soll voll ausreichen. Mit der Bewahrung
der Dinge könnte es ebenso zugehen wie mit der der Kinder.
Dann aber können Dinge zum Verlieren bestimmt werden, ohne
daß sie etwas an ihrem Wert eingebüßt haben, wenn nämlich die
Absicht besteht, etwas dem Schicksal zu opfern, um einen anderen
gefürchteten Verlust abzuwehren. Solche Schicksalsbeschwörungen
sınd nach der Aussage der Analyse unter uns noch sehr häufig, unser
Verlieren ist darum oft ein freiwilliges Opfern. Ebenso kann sich das
Verlieren in den Dienst des Trotzes und der Selbstbestrafung stellen;
kurz, die entfernteren Motivierungen der Tendenz, ein Ding durch
Verlieren von sich zu tun, sind unübersehbar.
Das Vergreifen wird wie andere Irrtümer häufig dazu benützt, um
Wünsche zu erfüllen, die man sich versagen soll. Die Absicht mas-
kiert sich dabei als glücklicher Zufall. So z.B. wenn man, wie es einem
unserer Freunde geschah, unter deutlichem Gegenwillen einen Besuch
mit der Eisenbahn in der Nähe der Stadt machen soll und dann in
74 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
der Umsteigestation irrtümlich in den Zug einsteigt, der einen wieder
zur Stadt zurückführt, oder wenn man auf der Reise durchaus einen
längeren Aufenthalt in einer Zwischenstation nehmen möchte, aber
wegen bestimmter Verpflichtungen nicht nehmen soll und man dann
einen gewissen Anschluß übersieht oder versäumt, so daß man zu
der gewünschten Unterbrechung gezwungen ist. Oder wie es bei einem
meiner Patienten zuging, dem ich untersagt hatte, seine Geliebte tele-
phonisch anzurufen, der aber „irrtümlich“, „in Gedanken“, eine
falsche Nummer aussprach, als er mit mir telephonieren wollte, so
daß er plötzlich mit seiner Geliebten verbunden war. Ein hübsches,
auch praktisch bedeutsames Beispiel von direktem Fehlgreifen bringt
die Beobachtung eines Ingenieurs zur Vorgeschichte einer Sach-
beschädigung:
„Vor einiger Zeit arbeitete ich mit mehreren Kollegen im Labora-
torium der Hochschule an einer Reihe komplizierter Elastizitätsver-
suche, eine Arbeit, die wir freiwillig übernommen hatten, die aber
begann, mehr Zeit zu beanspruchen, als wir erwartet hatten. Als ich
eines Tages wieder mit meinem Kollegen F. ins Laboratorium ging,
äußerte dieser, wie unangenehm es ihm gerade heute sei, so viel Zeit
zu verlieren, er hätte zu Hause so viel anderes zu tun; ich konnte
ihm nur beistimmen und äußerte noch halb scherzhaft, auf einen Vor-
fall der vergangenen Woche anspielend: ‚Hoffentlich wird wieder die
Maschine versagen, so daß wir die Arbeit abbrechen und früher weg-
gehen können!
Bei der Arbeitsteilung trifft es sich, daß Kollege F. das Ventil der
Presse zu steuern bekommt, d. h., er hat die Druckflüssigkeit aus dem
Akkumulator durch vorsichtiges Öffnen des Ventils langsam in den
Zylinder der hydraulischen Presse einzulassen; der Leiter des Ver-
suches steht beim Manometer und ruft, wenn der richtige Druck er-
reicht ist, ein lautes ‚Halt‘. Auf dieses Kommando faßt F. das Ventil
und dreht es mit aller Kraft — nach links (alle Ventile werden aus-
nahmslos nach rechts geschlossen!). Dadurch wird plötzlich der volle
Druck des Akkumulators in der Presse wirksam, worauf die Rohr-
IV. Die Fehlleistungen 75
leitung nicht eingerichtet ist, so daß sofort eine Rohrverbindung
platzt — ein ganz harmloser Maschinendefekt, der uns jedoch zwingt,
für heute die Arbeit einzustellen und nach Hause zu gehen.
Charakteristisch ist übrigens, daß einige Zeit nachher, als wir diesen
Vorfall besprachen, Freund F. sich an meine von mir mit Sicherheit
erinnerte Äußerung absolut nicht erinnern wollte.“
Von hier können Sie auf die Vermutung kommen, daß es nicht
immer der harmlose Zufall ist, der die Hände Ihres Dienstpersonals
zu so gefährlichen Feinden Ihres Hausbesitzes macht. Sie können aber
auch die Frage aufwerfen, ob es jedesmal Zufall ist, wenn man sich
selbst beschädigt und seine eigene Integrität in Gefahr bringt. An-
regungen, die Sie gelegentlich an der Hand der Analyse von Beob-
achtungen auf ihren Wert prüfen mögen.
Meine geehrten Zuhörer! Das ist lange nicht alles, was über die
Fehlleistungen zu sagen wäre. Es gibt da noch viel zu erforschen und
zu diskutieren. Aberich bin zufrieden, wenn sie aus unseren bisherigen
Frörterungen darüber eine gewisse Erschütterung Ihrer bisherigen
Anschauungen und einen Grad von Bereitschaft für die Annahme
neuer gewonnen haben. Im übrigen bescheide ich mich, Sie vor einer
ungeklärten Sachlage zu belassen. Wir können aus dem Studium der
Fehlleistungen nicht alle unsere Lehrsätze beweisen und sind auch
mit keinem Beweis auf dieses Material allein angewiesen. Der große
Wert der Fehlleistungen für unsere Zwecke liegt darin, daß es sehr
häufige, auch an der eigenen Person leicht zu beobachtende Erschei-
nungen sind, deren Zustandekommen das Kranksein durchaus nicht
zur Voraussetzung hat. Nur einelhrer unbeantworteten Fragen möchte
ich am Schlusse noch zu Worte kommen lassen: Wenn die Menschen
sich, wie wir’s an vielen Beispielen gesehen haben, dem Verständnis
der Fehlleistungen so sehr annähern und sich oft so benehmen, als
ob sie deren Sinn durchschauen würden, wie ist es möglich, daß sie
dieselben Phänomene doch ganz allgemein als zufällig, sinn- und be-
deutungslos hinstellen und der psychoanalytischen Aufklärung der-
selben so energisch widerstreben können?
76 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Sie haben recht, das ist auffällig und fordert eine Erklärung. Aber
ich werde sie Ihnen nicht geben, sondern Sie langsam zu den Zu-
sammenhängen hinführen, aus denen sich Ihnen die Erklärung ohne
mein Dazutun aufdrängen wird.
Ten
= 5 u ? 17
a et ee
= Te hen Pi =
- er r # - Pr
“ ” 5 A a a nn
n “
_ Pr u a
e = a.
P
- € 4 l
| , FA AR
| LI 7 - y Ar
- - B L I >, u.
- \
| : j El
- Pe
LER
AR ie
a
NDR
- BROT, ne
2.0
Sy
Yale =.
e
V. VORLESUNG
SCHWIERIGKEITEN UND ERSTE
ANNÄHERUNGEN
Meine Damen und Herren! Eines "Tages machte man die Ent-
deckung, daß die Leidenssymptone gewisser Nervöser einen Sinn
haben.” Daraufhin wurde das psychoanalytische Heilverfahren be-
gründet. In dieser Behandlung ereignete es sich, daß die Kranken an
Stelle ihrer Symptome auch Träume vorbrachten. Somit entstand
die Vermutung, daß auch diese Träume einen Sinn haben.
Wir werden aber nicht diesen historischen Weg gehen, sondern
den umgekehrten einschlagen. Wir wollen den Sinn der Träume
nachweisen, als Vorbereitung zum Studium der Neurosen. Diese Ver-
kehrung ist gerechtfertigt, denn das Studium des Traumes ist nicht
nur die beste Vorbereitung für das der Neurosen, der Traum selbst
ist auch ein neurotisches Symptom, und zwar eines, das den für uns
unschätzbaren Vorteil hat, bei allen Gesunden vorzukommen. Ja,
wenn alle Menschen gesund wären und nur träumen würden, so
könnten wir aus ihren Träumen fast alle die Einsichten gewinnen,
zu denen die Untersuchung der Neurosen geführt hat.
So wird also der Traum zum Objekt der psychoanalytischen For-
schung. Wieder ein gewöhnliches, gering geschätztes Phänomen,
scheinbar ohne praktischen Wert wie die Fehlleistungen, mit denen
ı) Josef Breuer in den Jahren 1880—ı882. Vgl. hiezu meine in Amerika ıg0g ge-
haltenen Vorlesungen „Über Psychoanalyse“ und „Zur Geschichte der psychoanalytischen
Bewegung“. (Beide Arbeiten in Bd. IV dieser Gesamtausgabe)
80 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
er ja das Vorkommen bei Gesunden gemein hat. Aber sonst sind die
Bedingungen für unsere Arbeit eher ungünstiger. Die Fehlleistungen
waren nur von der Wissenschaft vernachlässigt worden, man hatte
sich wenig um sie bekümmert; aber schließlich war es keine Schande,
sich mit ihnen zu beschäftigen. Man sagte, es gibt zwar Wichtigeres,
aber vielleicht kann auch dabei etwas herauskommen. Die Beschäf-
tigung mit dem Traum ist aber nicht bloß unpraktisch und überflüssig,
sondern direkt schimpflich; sie bringt das Odium der Unwissenschaft-
lichkeitmitsich, weckt denVerdachteinerpersönlichen Hinneigungzum
Mystizismus. 'Daß ein Mediziner sich mit dem Traume abgeben sollte,
wo es selbst in der Neuropathologie und Psychiatrie soviel Ernsthaf-
teres gibt: Tumoren bis zu Apfelgröße, die das Organ des Seelenlebens
komprimieren, Blutergüsse, chronische Entzündungen, bei denen man
die Veränderungen der Gewebsteile unter dem Mikroskop demonstrie-
ren kann! Nein, der Traum ist ein allzu geringfügiges und der Erfor-
schung unwürdiges Objekt.
Noch dazu eines, dessen Beschaffenheit selbst allen Anforderungen
exakter Forderung trotzt. Man ist ja in der Traumforschung nicht
einmal des Objekts sicher. Eine Wahnidee z. B. tritt einem klar und
bestimmt umrissen entgegen. Ich bin der Kaiser von China, sagt der
Kranke laut. Aber der Traum? Er ist meist überhaupt nicht zu er-
zählen. Wenn jemand einen Traum erzählt, hat er eine Garantie,
daß er ihn richtig erzählt hat, und nicht vielmehr während der Er-
zählung verändert, etwas dazu erfindet, durch die Unbestimmtheit
seiner Erinnerung gezwungen? Die meisten Träume können über-
haupt nicht erinnert werden, sind bis auf kleine Fragmente vergessen.
Und auf die Deutung dieses Materials soll eine wissenschaftliche Psy-
chologie oder eine Methode der Behandlung von ı Kranken begründet
werden?
Ein gewisses Übermaß in einer Beurteilung darf uns mißtrauisch
machen. Die Einwendungen gegen den Traum als Objekt der For-
schung gehen offenbar zu weit. Mit der Unwichtigkeit haben wir
schon bei den F ehlleistungen zu tun gehabt. Wir haben uns gesagt,
V, Schwierigkeiten und erste Annäherungen 81
große Dinge können sich auch in kleinen Anzeichen äußern. Was
die Unbestimmtheit des Traumes betrifft, so ist sie eben ein Charakter
wie ein anderer; man kann den Dingen ihren Charakter nicht vor-
schreiben. Es gibt übrigens auch klare und bestimmte Träume. Es
gibt auch andere Objekte der psychiatrischen Forschung, die an dem-
selben Charakter der Unbestimmtheit leiden, z. B. in vielen Fällen
die Zwangsvorstellungen, mit denen sich doch respektable, angesehene
Psychiater beschäftigt haben. Ich will mich an den letzten Fall er-
innern, der in meiner ärztlichen Tätigkeit vorgekommen ist. Die
Kranke stellte sich mir mit den Worten vor: Ich habe ein gewisses
Gefühl, als ob ich ein lebendes Wesen — ein Kind? — doch nicht,
eher einen Hund — beschädigt hätte oder beschädigen gewollt hätte,
vielleicht es von einer Brücke heruntergestoßen — oder etwas anderes.
Dem Schaden der unsicheren Erinnerung an den Traum können wir
abhelfen, wenn wir festsetzen, eben das, was der Träumer erzählt,
habe als sein Traum zu gelten, ohne Rücksicht auf alles, was er ver-
gessen oder in der Erinnerung verändert haben mag. Endlich kann
man nicht einmal so allgemein behaupten, daß der Traum etwas Un-
wichtiges sei. Es ist uns aus eigener Erfahrung bekannt, daß die Stim-
mung, in der man aus einem Traum erwacht, sich über den ganzen
Tag fortsetzen kann; es sind Fälle von den Ärzten beobachtet worden, in
denen eine Geisteskrankheit mit einem Traum beginnt und eine aus
diesem Traum stammende Wahnidee festhält; es wird von historischen
Personen berichtet, daß sie die Anregung zu wichtigen Taten aus
Träumen geschöpft haben. Wir werden darum fragen, woher kommt
eigentlich die Verachtung der wissenschaftlichen Kreise für den Traum?
Ich meine, sie ist die Reaktion auf die Überschätzung früherer
Zeiten. Die Rekonstruktion der Vergangenheit ist bekanntlich nicht
leicht, aber dies dürfen wir mit Sicherheit annehmen, — gestatten
Sie mir den Scherz, — daß bereits unsere Vorfahren vor 3000 Jahren
und mehr in ähnlicher Weise wie wir geträumt haben. Soviel wir
wissen, haben die alten Völker alle den Träumen große Bedeutung
beigelegt und sie für praktisch verwertbar gehalten. Sie haben ihnen
Freud, VII, 6
82 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Anzeichen für die Zukunft entnommen, Vorbedeutungen in ıhnen
gesucht. Für die Griechen und andere Orientalen mag zuzeiten ein
Feldzug ohne Traumdeuter so unmöglich gewesen sein wie heut-
zutage ohne Fliegeraufklärer. Als Alexander der Große seinen Er-
oberungszug unternahm, befanden sich die berühmtesten 'Traum-
deuter in seinem Gefolge. Die Stadt Tyrus, die damals noch auf einer
Insel lag, leistete dem König so heftigen Widerstand, daß er sich mit
dem Gedanken trug, ihre Belagerung aufzugeben. Da träumte er
eines Nachts einen wie im Triumph tanzenden Satyrn, und als er
diesen Traum seinen 'Traumdeutern vortrug, erhielt er den Bescheid,
es sei ihm der Sieg über die Stadt verkündet worden. Er befahl den
Angriff und nahm Tyrus ein. Bei Etruskern und Römern waren
andere Methoden zur Erkundung der Zukunft in Gebrauch, aber
die Traumdeutung wurde während der ganzen hellenistisch-römi-
schen Zeit gepflegt und hochgehalten. Von der damit beschäftigten
Literatur ist uns wenigstens das Hauptwerk erhalten, das Buch des
Artemidoros aus Daldis, den man in die Lebenszeit des Kaisers
Hadrian versetzt. Wie es dann kam, daß die Kunst der Traumdeu-
tung verfiel und der Traum in Mißkredit geriet, weiß ich Ihnen
nicht zu sagen. Die Aufklärung kann nicht viel Anteil daran gehabt
haben, denn das dunkle Mittelalter hat weit absurdere Dinge als die
antike Traumdeutung getreu bewahrt. Tatsache ist es, daß das Inter-
esse am Traum allmählich zum Aberglauben herabsank und sich nur
bei den Ungebildeten behaupten konnte. Der letzte Mißbrauch der
Traumdeutung noch in unseren Tagen sucht aus den Träumen die
Zahlen zu erfahren, die zur Ziehung im kleinen Lotto prädestiniert
sind. Dagegen hat die exakte Wissenschaft der Jetztzeit sich wieder-
holt mit dem 'Traume beschäftigt, aber immer nur in der Absicht,
ihre physiologischen Theorien auf ihn anzuwenden. Den Ärzten galt
der Traum natürlich als ein nicht psychischer Akt, als die Äußerung
somatischer Reize im Seelenleben. Binz erklärt 1876 den Traum
„für einen körperlichen, in allen Fällen unnützen, in vielen Fällen
geradezu krankhaften Vorgang, über welchem Weltseele und Un-
: V. Schwierigkeiten und erste Annäherungen 83
sterblichkeit so hoch erhaben stehen, wie der blaue Äther über einer
unkrautbewachsenen Sandfläche in tiefster Niederung“. Maury ver-
gleicht ihn mit den ungeordneten Zuckungen des Veitstanzes im
Gegensatz zu den koordinierten Bewegungen des normalen Menschen;
ein alter Vergleich setzt den Inhalt des Traumes in Parallele zu den
Tönen, welche „die zehn Finger eines der Musik unkundigen Men-
schen, die über die Tasten des Instrumentes hinlaufen“, hervor-
bringen würden. |
Deuten heißt einen verborgenen Sinn finden; davon kann bei dieser
Einschätzung der Traumleistung natürlich keine Rede sein. Sehen
Sie die Beschreibung des Traumes bei Wundt, Jodl und anderen
neueren Philosophen nach; sie begnügt sich mit der Aufzählung der
Abweichungen des 'Traumlebens vom wachen Denken in einer den
Traum herabsetzenden Absicht, hebt den Zerfall der Assoziationen,
die Aufhebung der Kritik, die Ausschaltung; alles Wissens und andere
Zeichen geminderter Leistung hervor. Der einzig wertvolle Beitrag
zur Kenntnis des Traumes, den wir der exakten Wissenschaft ver-
danken, bezieht sich auf den Einfluß körperlicher, während des Schlafes
einwirkender Reize auf den Trauminhalt. Wir besitzen von einem
kürzlich verstorbenen norwegischen Autor J. Mourly Vold zwei
dicke Bände experimentaler Traumforschungen (1910 und ıg912 ins.
Deutsche übersetzt), welche sich fast nur mit den Erfolgen der Stel-
lungsveränderungen der Gliedmaßen beschäftigen. Sie werden uns
als Vorbilder der exakten Traumforschung angepriesen. Können Sie
sich nun denken, was die exakte Wissenschaft dazu sagen würde,
wenn sie erführe, daß wir den Versuch machen wollen, den Sinn
der Träume zu finden? Vielleicht, daß sie es sogar schon gesagt
hat. Aber wir wollen uns nicht abschrecken lassen. Wenn die Fehl-
leistungen Sinn haben konnten, kann es der Traum auch, und die
Fehlleistungen haben in sehr vielen Fällen einen Sinn, der der exak-
ten Forschung entgangen ist. Bekennen wir uns nur zum Vorurteil
der Alten und des Volkes und treten wir in die Fußstapfen der antiken
Traumdeuter.
6#*
84 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Vor allem müssen wir uns über unsere Aufgabe orientieren, im
Gebiet der Träume Umschau halten. Was ist denn ein Traum? Es
ist schwer, dies in einem Satz zu sagen. Wir wollen aber doch keine
Definition versuchen, wo der Hinweis auf den jedermann bekannten
Stoff genügt. Aber wir sollten das Wesentliche des Traumes heraus-
heben. Wo ist das zu finden? Es gibt so ungeheure Verschiedenheiten
innerhalb des Rahmens, der unser Gebiet umschließt, Verschieden-
heiten nach jeder Richtung. Wesentlich wird wohl sein, was wir als
allen Träumen gemeinsam aufzeigen können.
Ja, das erste allen Träumen Gemeinsame wäre, daß wir dabei
schlafen. Das Träumen ist offenbar das Seelenleben während des
Schlafes, das mit dem des Wachens gewisse Ähnlichkeiten hat und
sich durch große Unterschiede dagegen absetzt. Das war schon die
Definition des Aristoteles. Vielleicht bestehen zwischen Traum und
Schlafnoch nähere Beziehungen. Man kann durch einen Traum geweckt
werden, man hat sehr oft einen "Traum, wenn man spontan erwacht
oder wenn man gewaltsam aus dem Schlafe gestört wird. Der Traum
scheint also ein Zwischenzustand zwischen Schlafen und Wachen zu
sein. So werden wir auf den Schlaf hingewiesen. Was ist nun der Schlaf?
Das ist ein physiologisches oder biologisches Problem, an dem noch
vieles strittig ist. Wir können da nichts entscheiden, aber ich meine,
wir dürfen eine psychologische Charakteristik des Schlafes versuchen.
Der Schlaf ist ein Zustand, in welchem ich nichts von der äußeren
Welt wissen will, mein Interesse von ihr abgezogen habe. Ich ver-
setze mich in den Schlaf, indem ich mich von ihr zurückziehe und
ihre Reize von mir abhalte. Ich schlafe auch ein, wenn ich von ihr
ermüdet bin. Beim Einschlafen sage ich also zur Außenwelt: Laß
mich in Ruhe, denn ich will schlafen. Umgekehrt sagt das Kind: Ich
geh’ noch nicht schlafen, ich bin nicht müde, will noch etwas erleben.
Die biologische Tendenz des Schlafes scheint also die Erholung zu
sein, sein psychologischer Charakter das Aussetzen des Interesses an
der Welt. Unser Verhältnis zur Welt, in die wir so ungern gekommen
sind, scheint es mit sich zu bringen, daß wir sie nicht ohne Unter-
V. Schwierigkeiten und erste Annaherungen 85
brechung aushalten. Wir ziehen uns darum zeitweise in den vorwelt-
lichen Zustand zurück, in die Mutterleibsexistenz also. Wir schaffen
uns wenigstens ganz ähnliche Verhältnisse, wie sie damals bestanden:
warm, dunkel und reizlos. Einige von uns rollen sich noch zu einem
engen Paket zusammen und nehmen zum Schlafen eine ähnliche
Körperhaltung wie im Mutterleibe ein. Es sieht so aus, als hätte die
Welt auch uns Erwachsene nicht ganz, nur zu zwei Dritteilen; zu
einem Drittel sind wir überhaupt noch ungeboren. Jedes Erwachen
am Morgen ist dann wie eine neue Geburt. Wir sprechen auch vom
Zustand nach dem Schlaf mit den Worten: wir sind wie neugeboren,
wobei wir über das Allgemeingefühl des Neugeborenen eine wahr-
scheinlich sehr falsche Voraussetzung machen. Es ist anzunehmen,
daß dieser sich vielmehr sehr unbehaglich fühlt. Wir sagen auch vom
Geborenwerden: das Licht der Welt erblicken.
Wenn das der Schlaf ist, so steht der Traum überhaupt nicht auf
seinem Programm, scheint vielmehr eine unwillkommene Zutat. Wir
meinen auch, daß der traumlose Schlaf der beste, der einzig richtige
ist. Es soll keine seelische Tätigkeit im Schlaf geben; rührt sich diese
doch, so ıst uns eben die Herstellung des fötalen Ruhezustandes nicht
gelungen; Reste von Seelentätigkeit haben sich nicht ganz vermeiden
lassen. Diese Reste, das wäre das Träumen. Dann scheint es aber
wirklich, daß der Traum keinen Sinn zu haben braucht. Bei den Fehl-
leistungen lag es anders; es waren doch Tätigkeiten während des
Wachens. Aber wenn ich schlafe, die seelische Tätigkeit ganz ein-
gestellt habe und nur gewisse Reste derselben nicht unterdrücken
konnte, so ist es gar nicht notwendig, daß diese Reste einen Sinn
haben. Ich kann diesen Sinn sogar nicht brauchen, da ja das übrige
meines Seelenlebens schläft. Es kann sich da wirklich nur um
zuckungsartige Reaktionen handeln, nur um solche seelische Phäno-
mene, die direkt auf somatischen Anreiz hin erfolgen. Die Träume
wären also die den Schlaf störenden Reste der seelischen Tätigkeit
des Wachens, und wir dürfen den Vorsatz fassen, das für die Psycho-
analyse ungeeignete Thema alsbald wieder zu verlassen.
86 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Indes, wenn der Traum auch überflüssig ist, er existiert doch, und
wir können versuchen, uns von dieser Existenz Rechenschaft zu
geben. Warum schläft das Seelenleben nicht ein? Wahrscheinlich,
weil etwas. der Seele keine Ruhe läßt. Es wirken Reize auf sie ein,
und sie muß darauf reagieren. Der Traum ist also die Art, wie die
Seele auf die im Schlafzustand einwirkenden Reize reagiert. Wir
merken hier einen Zugang zum Verständnis des Traumes. Wir können
nun bei verschiedenen Träumen danach suchen, welches die Reize
sind, die den Schlaf stören wollen, und auf die mit Träumen reagiert
wird. Soweit hätten wir das erste Gemeinsame aller Träume aufge-
arbeitet.
Gibt es noch ein anderes Gemeinsames? Ja, es ist unverkennbar,
aber viel schwieriger zu erfassen und zu beschreiben. Die seelischen
Vorgänge im Schlaf haben auch einen ganz anderen Charakter als
die des Wachens. Man erlebt vielerlei im Traum und glaubt daran,
während man doch nichts erlebt als vielleicht den einen störenden
Reiz. Man erlebt es vorwiegend in visuellen Bildern; es können auch
Gefühle dabei sein, auch Gedanken mittendurch, es können auch die
anderen Sinne etwas erleben, aber vorwiegend sind es doch Bilder.
Ein Teil der Schwierigkeit des Traumerzählens kommt daher, daß wir
diese Bilder in Worte zu übersetzen haben. Ich könnte es zeichnen, sagt
uns der Träumer oft, aber ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Das ist
nun eigentlich keine reduzierteseelische Tätigkeit wie die desSchwach-
sinnigen im Vergleich zum Genialen; es ist etwas qualitativ anderes,
aber schwer zu sagen, worin der Unterschied liegt. G. Th. Fechner
äußert einmal die Vermutung, der Schauplatz, auf dem sich die Träume
(in der Seele) abspielen, sei ein anderer als der des wachen Vorstellungs-
lebens. Das verstehen wir zwar nicht, wissen nicht, was wir uns dabei
denken sollen, aber den Eindruck der Fremdartigkeit, den uns die
meisten Träume machen, gibt es wirklich wieder. Auch der Vergleich
der Traumtätigkeit mit den Leistungen einer unmusikalischen Hand
versagt hier. Das Klavier wird doch jedenfalls mit denselben Tönen
antworten, wenn auch nicht mit Melodien, sobald der Zufall über
V. Schwierigkeiten und erste Annäherungen 87° -
seine Tasten fährt. Diese zweite Gemeinsamkeit aller Träume wollen
wir, wenn sie auch unverstanden sein mag, sorgtältig im Auge behalten.
Gibt esnoch weitere Gemeinsamkeiten? Ich finde keine, sehe überall
nur Verschiedenheiten, und zwar in allen Hinsichten. Sowohl was
die scheinbare Dauer, als auch was die Deutlichkeit, die Affektbetei-
ligung, die Haltbarkeit u. a. betrifft. Das alles ist eigentlich nicht so,
wie wir es bei der notgedrungenen, dürftigen, zuckungsartigen Ab-
wehr eines Reizes erwarten könnten. Was die Dimension der Träume
anbelangt, so gibt es sehr kurze, die nur ein Bild oder wenige, einen
Gedanken, ja nur ein Wort enthalten; andere, die ungemein reich an
Inhalt sind, ganze Romane aufführen und lange zu dauern scheinen.
Es gibt Träume, die so deutlich sind wie das Erleben, so deutlich,
daß wir sie eine Zeitlang nach dem Erwachen noch nicht als Träume
erkennen; andere, die unsäglich schwach sınd, schattenhaft und ver-
schwommen;ja in einem und demselben ’Traum können dieüberstarken
und die kaum faßbar undeutlichen Partien miteinander abwechseln.
Träume können ganz sinnvoll sein oder wenigstens kohärent, ja sogar
geistreich, phantastisch schön; andere wiederum sind verworren, wie
schwachsinnig, absurd, oft geradezu toll. Es gıbt Träume, die uns ganz
kalt lassen, andere, in denen alle Affekte laut werden, ein Schmerz
bis zum Weinen, eine Angst bis zum Erwachen, Verwunderung, Ent-
zücken usw. Träume werden meist nach dem Erwachen rasch ver-
gessen, oder sie halten sich einen Tag lang in der Weise, daß sie bis
zum Abend immer mehr blaß und lückenhaft erinnert werden; andere
erhalten sich so gut, z. B. Kindheitsträume, daß sie 30 Jahre später
wie frisches Erleben vor dem Gedächtnis stehen. Träume können wie
die Individuen ein einziges Mal auftreten, niemals wieder, oder sie
wiederholen sich bei derselben Person unverändert oder mit kleinen
Abweichungen. Kurz, dies bißchen nächtliche Seelentätigkeit verfügt
über ein riesiges Repertoire, kann eigentlich noch alles, was die Seele
bei Tag schafft, aber es ist doch nie dasselbe.
Man könnte versuchen, von diesen Mannigfaltigkeiten des Traumes
Rechenschaft zu geben, indem man annimmt, sie entsprechen ver-
88 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
schiedenen Zwischenstadien zwischen dem Schlafen und dem Wachen,
verschiedenen Stufen des unvollständigen Schlafes. Ja, aber dann müßte
mit Wert, Inhalt und Deutlichkeit der Traumleistung auch die Klar-
heit, daß es ein Traum ist, zunehmen, da sich die Seele bei solchem
Träumen dem Erwachen nähert, und es dürfte nicht vorkommen, daß
unmittelbar neben ein deutliches und vernünftiges Traumstückchen
ein unsinniges oder undeutliches gesetzt wird, worauf dann wieder
ein gutes Stück Arbeit folgt. So rasch könnte die Seele ıhre Schlaf-
tiefe gewiß nicht wechseln. Diese Erklärung leistet also nichts; es geht
überhaupt nicht kurzerhand.
Wir wollen vorläufig auf den „Sinn“ des Traumes verzichten und
dafür versuchen, uns von dem Gemeinsamen der Träume auseinen Weg
zum besseren Verständnis derselben zu bahnen. Aus der Beziehung
der Träume zum Schlafzustand haben wir geschlossen, daß der Traum
die Reaktion auf einen den Schlaf störenden Reiz ist. Wie wir gehört
haben, ist dies auch der einzige Punkt, an dem uns die exakte experi-
mentelle Psychologie zu Hilfe kommen kann; sie erbringt den Nachweis,
daß während des Schlafes zugeführte Reize im Traume erscheinen. Es
sind viele solche Untersuchungen bis auf die des bereits genannten
Mourly Vold angestellt worden; jeder von uns ist auch wohl selbst
in die Lage gekommen, dies Ergebnis durch gelegentliche persönliche
Beobachtung zu bestätigen. Ich will zur Mitteilung einige ältere Experi-
mente auswählen. Maury ließsolche Versuche an seiner eigenen Person
ausführen. Man ließ ihn im Traum Kölnerwasser riechen. Er träumte,
daß er in Kairo im Laden von Johann Maria Farina sel, und daran
schlossen sich weitere tolle Abenteuer. Oder: man kneifte ihn leicht in
den Nacken; er träumte von einem aufgelegten Blasenpflaster und
von einem Arzt, der ihn in seiner Kindheit behandelt hatte. Oder:
man goß ihm einen Tropfen Wasser auf die Stirne. Er war dann in
Italien, schwitzte heftig und trank den weißen Wein von Orvieto.
Was unsandiesen experimentell erzeugten Träumen auffällt, werden
wir vielleicht noch deutlicher an einer anderen Reihe von Reizträumen
erfassen können. Es sind drei Träume, von einem geistreichen Be-
V. Schwierigkeiten und erste Annäherungen 89
obachter, Hildebrandt, mitgeteilt, sämtlich Reaktionen aufden Lärm
eines Weckers:
„Also ich gehe an einem Frühlingsmorgen spazieren und schlendre
durch die grünenden Felder weiter bis zu einem benachbarten Dorfe,
dort sehe ich die Bewohner in Feierkleidern, das Gesangbuch unter
dem Arme, zahlreich der Kirche zuwandern. Richtig! es ist ja Sonn-
tag und der Frühgottesdienst wird bald beginnen. Ich beschließe, an
diesem teilzunehmen, zuvor aber, weil ich etwas echauffiert bin, auf
dem die Kirche umgebenden Friedhofe mich abzukühlen. Während
ich hier verschiedene Grabschriften lese, höre ich den Glöckner den
Turm hinansteigen und sehe nun in der Höhe des letzteren die kleine
Dorfglocke, die das Zeichen zum Beginn der Andacht geben wird.
Noch eine ganze Weile hängt sie bewegungslos da, dann fängt sie an
zu schwingen — und plötzlich ertönen ihre Schläge hell und durch-
dringend — so hell und durchdringend, daß sie meinem Schlafe ein
Ende machen. Die Glockentöne aber kommen von dem Wecker.“
„Eine zweite Kombination. Es ist heller Wintertag; die Straßen
sind hoch mit Schnee bedeckt. Ich habe meine Teilnahme an einer
Schlittenfahrt zugesagt, muß aber lange warten, bis die Meldung er-
folgt, der Schlitten stehe vor der Tür. Jetzt erfolgen die Vorbereitungen
zum Einsteigen — der Pelz wird angelegt, der Fußsack hervorgeholt —
und endlich sitze ich auf meinem Platze. Aber noch verzögert sich
die Abfahrt, bis die Zügel den harrenden Rossen das fühlbare Zeichen
geben. Nun ziehen diese an; die kräftig geschüttelten Schellen be-
ginnen ihre wohlbekannte Janitscharenmusik mit einer Mächtigkeit,
die augenblicklich das Spinngewebe des Traumes zerreißt. Wieder
ist's nichts anderes als der schrille Ton der Weckerglocke.“
„Noch das dritte Beispiel! Ich sehe ein Küchenmädchen mit einigen
Dutzend aufgetürmter Teller den Korridor entlang zum Speisezimmer
schreiten. Die Porzellansäule in ihren Armen scheint mir in Gefahr,
das Gleichgewicht zu verlieren. ‚Nimm dich in acht,‘ warne ich, ‚die
ganze Ladung wird zur Erde fallen.“ Natürlich bleibt der obligate
Widerspruch nicht aus: man sei dergleichen schon gewohnt usw.,
90 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
währenddessen ich immer noch mit Blicken der Besorgnis die Wan-
delnde begleite. Richtig, an der Türschwelle erfolgt ein Straucheln —
das zerbrechliche Geschirr fällt und rasselt und prasselt in hundert
Scherben auf dem Fußboden umher. Aber — das endlos sich fort-
setzende Getön ist doch, wie ich bald merke, kein eigentliches Rasseln,
sondern ein richtiges Klingeln; — und mit diesem Klingeln hat, wie
nunmehr der Erwachende erkennt, nur der Wecker seine Schuldig-
keit getan.“
Diese Träume sind recht hübsch, ganz sinnvoll, gar nicht so inko-
härent, wie Träume sonst zu sein pflegen. Wir wollen sie deswegen
nicht beanständen. Das Gemeinsame an ihnen ist, daß die Situation
jedesmal ın einen Lärm ausgeht, den man beim Erwachen als den
des Weckers agnosziert. Wir sehen also hier, wie ein Traum erzeugt
wird, aber erfahren auch noch etwas anderes. Der Traum erkennt
den: Wecker nicht, — dieser kommt auch im Traum nicht vor —,
sondern er ersetzt das Weckergeräusch durch ein anderes, er deutet
den Reiz, der den Schlaf aufhebt, deutet ihn aber jedesmal in einer
anderen Weise. Warum das? Darauf gibt es keine Antwort, das scheint
willkürlich zu sein. Den Traum verstehen, hieße aber angeben können,
warum er gerade diesen Lärm und keinen anderen zur Deutung des
Weckerreizes gewählt hat. In ganz analoger Weise muß man gegen
die Mauryschen Experimente einwenden, man sehe wohl, daß der
zugeführte Reiz im Traume auftritt, aber warum gerade in dieser
Form, das erfahre man nicht, und das scheint aus der Natur des schlaf-
störenden Reizes gar nicht zu folgen. Auch schließt in den Maur ya
schen Versuchen an den direkten Reizerfolg meist eine Unmenge von
anderem Traummaterial an, z.B. die tollen Abenteuer im Kölner-
wassertraum, für die man keine Rechenschaft zu geben weiß.
Nun wollen Sie bedenken, daß die Weckträume noch die besten
Chancen bieten, den Einfluß äußerer schlafstörender Reize festzu-
stellen. In den meisten anderen Fällen wird es schwieriger werden.
Man wacht nicht aus allen Träumen auf, und wenn man des Morgens
einen Traum der Nacht erinnert, wie soll man dann einen störenden
V. Schwierigkeiten und erste Annäherungen 91
Reiz auffinden, der vielleicht zur Nachtzeit eingewirkt hat? Mir ge-
lang es einmal, einen solchen Schallreiz nachträglich zu konstatieren,
natürlich nur infolge besonderer Umstände. Ich erwachte eines Mor-
gens in einem Tiroler Höhenort mit dem Wissen, ich habe geträumt,
der Papst sei gestorben. Ich konnte mir den Traum nicht erklären,
aber dann fragte mich meine Frau: Hast du heute gegen Morgen das
entsetzliche Glockengeläute gehört, das von allen Kirchen und Ka-
pellen losgelassen wurde? Nein, ich hatte nichts gehört, mein Schlaf
ist resistenter, aber ich verstand dank dieser Mitteilung meinen Traum.
Wie oft mögen solche Reizungen den Schläfer zum Träumen anregen,
ohne daß er nachträgliche Kunde von ihnen erhält? Vielleicht sehr
oft, vielleicht auch nicht. Wenn der Reiz nicht mehr nachweisbar
ist, läßt sich auch keine Überzeugung davon gewinnen. Wir sind
ohnedies von der Schätzung der schlafstörenden äußeren Reize zurück-
gekommen, seitdem wir wissen, daß sie uns nur ein Stückchen des
Traumes und nicht die ganze Traumreaktion erklären können.
Wir brauchen darum diese Theorie nicht ganz aufzugeben. Sie ist
außerdem einer Fortsetzung fähig. Es ist offenbar gleichgültig, wo-
durch der Schlaf gestört und die Seele zum Träumen angeregt werden
soll. Wenn es nicht jedesmal ein von außen kommender Sinnesreiz
sein kann, so mag dafür ein von den inneren Organen ausgehender,
sogenannter Leibreiz eintreten. Diese Vermutung liegt sehr nahe,
sie entspricht auch der populärsten Ansicht über die Entstehung der
Träume. Träume kommen vom Magen, hört man oft sagen. Leider
wird auch hier der Fall als häufig zu vermuten sein, daß ein Leibreiz,
der zur Nachtzeit eingewirkt hat, nach dem Erwachen nicht mehr
nachweisbar und somit unbeweisbar geworden ist. Aber wir wollen
nicht übersehen, wieviel gute Erfahrungen die Ableitung der Träume
vom Leibreiz unterstützen. Est ist im allgemeinen unzweifelhaft, daß
der Zustand der inneren Organe den Traum beeinflussen kann. Die
Beziehung manches Trauminhalts zu einer Überfüllung der Harn-
blase oder zu einem Erregungszustand der Geschlechtsorgane ist so
deutlich, daß sie nicht verkannt werden kann. Von diesen durch-
92 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
sichtigen Fällen her kommt man zu anderen, in denen sich aus dem
Inhalt der Träume wenigstens eine berechtigte Vermutung ableiten
läßt, daß solche Leibreize eingewirkt haben, indem sich in diesem
Inhalt etwas findet, was als Verarbeitung, Darstellung, Deutung dieser
Reize aufgefaßt werden kann. Der Traumforscher Scherner (1861)
hat die Herleitung des Traumes von Organreizen besonders nach-
drücklich vertreten und einige schöne Beispiele für sie erbracht. Wenn
er z.B. in einem Traum „zwei Reihen schöner Knaben blonden Haares
und zarter Gesichtsfarbe, in Kampflust einander gegenüberstehen, auf-
einander losgehen, sich gegenseitig greifen, voneinander wieder los-
lassen, die alte Stellung wieder einnehmen und den ganzen Vorgang
von neuem machen“ sieht, so ist die Deutung dieser Knabenreihen
als der Zähne an und für sich ansprechend, und sie scheint ihre volle
Bekräftigung zu finden, wenn nach dieser Szene der 'Träumer „sich
einen langen Zahn aus dem Kiefer herauszieht“. Auch die Deutung
von „langen, schmalen, gewundenen Gängen“ auf Darmreiz, scheint
stichhaltig und bestätigt die Aufstellung von Scherner, daß der
Traum vor allem das den Reiz ausschickende Organ durch ihm ähn-
liche Gegenstände darzustellen sucht.
Wir müssen also bereit sein zuzugeben, daß innere Reize für den
Traum dieselbe Rolle spielen können wie äußere. Leider unterliegt
ihre Schätzung auch denselben Einwendungen. In einer großen An-
zahl von Fällen bleibt die Deutung auf Leibreiz unsicher oder un-
beweisbar; nicht alle Träume, sondern nur ein gewisser Anteil der-
selben erweckt den Verdacht, daß innere Organreize bei ihrer Ent-
stehung beteiligt waren, und endlich wird der innere Leibreiz so
wenig wie der äußere Sinnesreiz imstande sein, vom Traum mehr
zu erklären, als was der direkten Reaktion auf den Reiz entspricht.
Woher dann das übrige des Traumes kommt, bleibt dunkel.
Merken wir uns aber eine Eigentümlichkeit des Traumlebens,
die bei dem Studium dieser Reizeinwirkungen zum Vorschein kommt.
Der Traum bringt den Reiz nicht einfach wieder, sondern er verar-
beitet ihn, er spielt auf ihn an, reiht ihn in einen Zusammenhang
V. Schwierigkeiten und erste Annaherungen 95
ein, ersetzt ihn durch etwas anderes. Das ist eine Seite der Traum-
arbeit, die uns interessieren muß, weil sie vielleicht näher an das
Wesen des Traumes heranführt: Wenn jemand auf eine Anregung
hin etwas macht, so braucht diese Anregung darum das Werk nicht
zu erschöpfen. Der Macbeth Shakespeares z. B. ist ein Gelegen-
heitsstück, zur Thronbesteigung des Königs gedichtet, der zuerst die
Kronen der drei Länder auf seinem Haupt vereinigte. Aber deckt
diese historische Veranlassung den Inhalt des Dramas, erklärt sie uns
dessen Größen und Rätsel? Vielleicht sind die auf den Schlafenden
wirkenden Außen- und Innenreize auch nur die Anreger des T’raumes,
von dessen Wesen uns damit nichts verraten wird.
Das andere Gemeinsame des Traumes, seine psychische Besonder-
heit, ist einerseits schwer faßbar und gibt anderseits keinen Anhalts-
punkt zur weiteren Verfolgung. Im Traum erleben wir zumeist etwas
in visuellen Formen. Können dafür die Reize einen Aufschluß geben?
Ist es in Wirklichkeit der Reiz, den wir erleben? Warum ist dann
das Frleben visuell, wenn Augenreizung nur in den seltensten Fällen
den Traum angeregt hat? Oder läßt sich, wenn wir Reden träumen,
nachweisen, daß während des Schlafes ein Gespräch oder ihm ähn-
liche Geräusche an unser Ohr gedrungen sind? Diese Möglichkeit
getraue ich mich mit Entschiedenheit abzuweisen.
Wenn wir von den Gemeinsamkeiten der Träume nicht weiter
kommen, so wollen wir’s vielleicht mit ihren Verschiedenheiten ver-
suchen. Die Träume sind ja oft sinnlos, verworren, absurd; aber es
gibt sinnvolle, nüchterne, vernünftige. Sehen wir zu, ob uns die
letzteren, sinnvollen, etwas Aufschluß über die unsinnigen geben
können. Ich teile Ihnen den lezten vernünftigen Traum mit, der mir
erzählt worden ist, den Traum eines jungen Mannes: „Ich bin in der
Kärntnerstraße spazieren gegangen, habe dort den Herrn X. getroffen,
dem ich mich für eine Weile angeschlossen habe, dann bin ich ins
Restaurant gegangen. Zwei Damen und ein Herr haben sich an meinen
Tisch gesetzt. Ich habe mich zuerst darüber geärgert und wollte sie
nicht anschauen. Dann habe ich hingeschaut und gefunden, daß sie
>
94 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
ganz nett sind.“ Der Träumer bemerkt dazu, daß er am Abend vor
dem Traum wirklich in der Kärntnerstraße gegangen, was sein ge-
wohnter Weg ist, und dort den Herrn X: getroffen hat. Der andere
Teil des Traumes ist keine direkte Reminiszenz, sondern hat nur eine
gewisse Ähnlichkeit mit einem Frlebnis vor längerer Zeit. Oder ein
anderer nüchterner Traum, der einer Dame: „Ihr Mann fragt: Soll
man das Klavier nicht stimmen lassen? Sie: Es lohnt nicht, es muß
ohnedies neu beledert werden.“ Dieser Traum wiederholt ein Ge-
spräch, welches sich ohne viel Veränderung am Tage vor dem 'Traum
zwischen ihrem Mann und ihr abgespielt hat. Was lernen wir aus
diesen beiden nüchternen Träumen? Nichts anderes, als daß sich
Wiederholungen aus dem Leben des Tages oder Anknüpfungen an
dasselbe in ihnen finden. Das wäre schon etwas, wenn es sich von
den Träumen allgemein aussagen ließe. Aber davon ist keine Rede,
auch dies gilt nur für eine Minderzahl; in den meisten Träumen ist
von einer Anknüpfung an den Vortag nichts zu finden, und auf die
unsinnigen und absurden Träume fällt von hier aus kein Licht.
Wir wissen nur, daß wir auf eine neue Aufgabe gestoßen sind. Wir
wollen nicht nur wissen, was ein Traum sagt, sondern wenn er es,
wie in unseren Beispielen, deutlich sagt, wollen wir auch wissen,
warum und wozu man dies Bekannte, erst kürzlich Erlebte, im Traum
wiederholt.
Ich glaube, Sie werden wie ich müde sein, Versuche wie unsere
bisherigen fortzusetzen. Wir sehen eben, alles Interesse für ein Pro-
blem ist unzureichend, wenn man nicht auch einen Weg kennt, den
man einschlagen kann, daß er zur Lösung hinführe. Wir haben diesen
Weg bis jetzt nicht. Die experimentelle Psychologie hat uns nichts
gebracht als einige sehr schätzbare Angaben über die Bedeutung der
Reize als Traumanreger. Von der Philosophie haben wir nichts zu
erwarten, als daß sie uns neuerdings hochmütig die intellektuelle
Minderwertigkeit unseres Objekts vorhalte; bei den okkulten Wissen-
schaften wollen wir doch keine Anleihe machen. Geschichte und
Volksmeinung sagen uns, der Traum sei sinnreich und bedeutungsvoll,
r. RI Schwierigkeiten und erste Annäherungen | .95
er blicke in die Zukunft; das ist doch schwer anzunehmen und gewiß
nicht beweisbar. So läuft unsere erste Bemühung in volle Ratlosig-
keit aus. Sun | j
Unerwarteterweise kommt uns ein Wink von einer Seite zu, nach
der wir bisher nicht geblickthaben. Der Sprachgebrauch, der ja nichts
Zufälliges, sondern der Niederschlag alter Erkenntnis ist, der freilich:
nicht ohne Vorsicht verwertet werden darf — unsere Sprache also
kennt etwas, was sie merkwürdigerweise „Tagträumen“ heißt. Tag-
träume sind Phantasien (Produktionen der Phantasie); es sind sehr
allgemeine Phänomene, wiederum bei Gesunden ebenso zu beobachten
wie bei Kranken und bei der eigenen Person dem Studium leicht zu-
gänglich. Das Auffälligste an diesen phantastischen Bildungen ist, daß
sie den Namen „Tagträume“ erhalten haben, denn von beiden Ge-
meinsamen der 'Träume haben sie nichts an sich. Der Beziehung zum
Schlafzustande widerspricht schon ihr Name, und was das zweite Ge-
meinsame betrifft, so erlebt, halluziniert man in ihnen nichts, sondern
stellt sich etwas vor; man weiß, daß man phantasiert, sieht nicht,
sondern denkt. Diese Tagträume treten in der Vorpubertät, oft schon
in der späteren Kinderzeit auf, halten bis in die Jahre der Reife an, wer-
den dann entweder aufgegeben oder bis ins späteste Alter festgehalten.
Der Inhalt dieser Phantasien wird von einer sehr durchsichtigen Mo-
tivierung beherrscht. Es sind Szenen und Begebenheiten, in denen
die egoistischen, Ehrgeiz- und Machtbedürfnisse, oder die erotischen
Wünsche der Person Befriedigung finden. Beijungen Männern stehen
meist die ehrgeizigen Phantasien voran, bei den Frauen, die ihren Ehr-
geiz auf Liebeserfolge geworfen haben, die erotischen. Aber oft ge-
nug zeigt sich auch bei den Männern die erotische Bedürftigkeit im
Hintergrunde; alle Heldentaten und Erfolge sollen doch nur um die
Bewunderung und Gunst der Frauen werben. Sonst sind diese Tag-
träume sehr mannigfaltig und erfahren wechselvolle Schicksale. Sie
werden entweder, ein jeder von ihnen, nach kurzer Zeit fallen ge-
lassen und durch einen neuen ersetzt, oder sie werden festgehalten,
zu langen Geschichten ausgesponnen und passen sich den Verände-
96 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
rungen der Lebensverhältnisse an. Sie gehen sozusagen mit der Zeit
und empfangen von ihr eine „Zeitmarke“, die den Einfluß der neuen
Situation bezeugt. Sie sind das Rohmaterial der poetischen Produktion,
denn aus seinen Tagträumen macht der Dichter durch gewisse Um-
formungen, Verkleidungen und Verzichte die Situationen, die er in
seine Novellen, Romane, Theaterstücke einsetzt. Der Held der Tag-
träume ist aber immer die eigene Person, entweder direkt oder in
einer durchsichtigen Identifizierung mit einem anderen.
Vielleicht tragen die Tagträume diesen Namen wegen der gleichen
Beziehung zur Wirklichkeit, um anzudeuten, daß ihr Inhalt ebenso-
wenig real zu nehmen sei wie der der Träume. Vielleicht aber ruht
diese Namensgemeinschaft doch auf einem uns noch unbekannten
psychischen Charakter des 'Traumes, einem der von uns gesuchten.
Es ist auch möglich, daß wir überhaupt unrecht tun, wenn wir diese
Gleichheit der Bezeichnung als bedeutungsvoll verwerten wollen. Das
kann ja erst später geklärt werden.
VI. VORLESUNG
VORAUSSETZUNGEN UND TECHNIK.
DER DEUTUNG
Meine Damen und Herren! Also wir bedürfen eines neuen Weges,
einer Methode, um in der Erforschung des Traumes von der Stelle
zu kommen. Ich mache Ihnen nun einen naheliegenden Vorschlag.
Nehmen wir als Voraussetzung für alles Weitere an, daß der
Traum kein somatisches, sondern ein psychisches Phä-
nomenist. Was das bedeutet, wissen Sie, aber was berechtigt uns
zu dieser Annahme? Nichts, aber wir sind auch nicht gehindert, sie
zu machen. Die Sache liegt so: Wenn der Traum ein somatisches
Phänomen ist, geht er uns nichts an; er kann uns nur unter der Vor-
aussetzung, daß er ein seelisches Phänomen ist, interessieren. Wir
arbeiten also unter der Voraussetzung, er sei es wirklich, um zu sehen,
was dabei herauskommt. Das Ergebnis unserer Arbeit wird darüber
entscheiden, ob wir an der Annahme festhalten und sie nun ihrer-
seits als ein Resultat vertreten dürfen. Was wollen wir denn eigent-
lich erreichen, wozu arbeiten wir? Wir wollen, was man in der
Wissenschaft überhaupt anstrebt, ein Verständnis der Phänomene,
die Herstellung eines Zusammenhanges zwischen ihnen, und in letzter
Ferne, wo es möglich ist, eine Erweiterung unserer Macht über sie.
Wir setzen also die Arbeit unter der Annahme fort, daß der Traum
ein psychisches Phänomen ist. Dann ist er eine Leistung und Äuße-
rung des Träumers, aber eine solche, die uns nichts sagt, die wir
Freud, VII -
98 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
nicht verstehen. Was tun Sie nun in dem Falle, daß ich eine Ihnen
unverständliche Äußerung von mir gebe? Mich fragen, nicht wahr?
Warum sollen wir nicht dasselbe tun dürfen, den Träumer be-
fragen, was sein Traum bedeutet? |
Erinnern Sie sich, wir befanden uns schon einmal in dieser Situa-
tion. Es war bei der Untersuchung gewisser Fehlleistungen, eines
Falles von Versprechen. Jemand hatte gesagt: Da sind Dinge zum
Vorschwein gekommen, und darauf fragten wir — nein, zum Glück
nicht wir, sondern andere, die der Psychoanalyse ganz fernstehen,
da fragten ihn diese anderen, was er mit dieser unverständlichen Rede
wolle. Er antwortete sofort, daß er die Absicht gehabt hatte zu sagen:
das waren Schweinereien, daB er aber diese Absicht zurückgedrängt
gegen die andere, gemilderte: da sind Dinge zum Vorschein gekommen.
Ich erklärte Ihnen schon damals, diese Erkundigung sei das Vorbild
jeder psychoanalytischen Untersuchung, und Sie verstehen jetzt, daß
die Psychoanalyse die Technik befolgt, sich soweit es nur angeht,
die Lösung ihrer Rätsel von den Untersuchten selbst sagen zu lassen.
So soll uns auch der Träumer selbst sagen, was sein Traum bedeutet.
Aber so einfach geht das bekanntlich beim Traum nicht. Bei den
Fehlleistungen ging es in einer Anzahl von Fällen; dann kamen wir
zu anderen, in denen der Befragte nichts sagen wollte, ja sogar die
Antwort, die wir ihm nahelegten, entrüstet zurückwies. Beim Traum
fehlen uns die Fälle der ersten Art völlig; der Träumer sagt immer,
er weiß nichts. Zurückweisen kann er unsere Deutung nicht, da wir
ihm keine vorzulegen haben. So sollten wir also unseren Versuch
wieder aufgeben? Da er nichts weiß und wir nichts wissen und ein
Dritter erst recht nichts wissen kann, gibt’s wohl keine Aussicht, es
zu erfahren. Ja, wenn Sie wollen, geben Sie den Versuch auf. Wenn
Sie aber anders wollen, so können Sie den Weg mit mir fortsetzen.
Ich sage Ihnen nämlich, es ist doch sehr wohl möglich, ja sehr wahr-
scheinlich, daß der Träumer es doch weiß, was sein Traum bedeutet,
nur weiß er nicht, daß er es weiß, und glaubt darum,
daß er es nicht weiß.
VI. Voraussetzungen und Technik der Deutung 99
Sie werden mich aufmerksam machen, daß ich da wiederum eine
Annahme einführe, schon die zweite in diesem kurzen Zusammen-
hange, und den Anspruch meines Verfahrens auf Glaubwürdigkeit
enorm herabsetze. Unter der Voraussetzung, daß der Traum ein psy-
chisches Phänomen ist, unter der weiteren Voraussetzung, daß es
seelische Dinge im Menschen gibt, die er weiß, ohne zu wissen,
dal er sie weiß, usw. Dann braucht man nur die innere Unwahr-
scheinlichkeit jeder dieser beiden Voraussetzungen ins Auge zu fas-
sen, um beruhigt sein Interesse von den Schlüssen aus ihnen abzu-
wenden.
Ja, meine Damen und Herren, ich habe Sie nicht hieher kommen
lassen, um Ihnen etwas vorzuspiegeln oder zu verhehlen. Ich habe
zwar „Elementare Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“
angekündigt, aber damit habe ich keine Darstellung in usum delphini
beabsichtigt, die Ihnen einen glatten Zusammenhang zeigen soll mit
sorgfältigem Verstecken aller Schwierigkeiten, Ausfüllung der Lücken,
Übermalen der Zweifel, damit Sie ruhigen Gemüts glauben sollen,
Siehaben etwas Neues gelernt. Nein, gerade darum, weil Sie Anfänger
sind, wollte ich Ihnen unsere Wissenschaft zeigen, wie sie ist, mit
ihren Unebenheiten und Härten, Anforderungen und Bedenken. Ich
weiß nämlich, daß es in keiner Wissenschaft anders ist und besonders
in ihren Anfängen gar nicht anders sein kann. Ich weiß auch, daß
der Unterricht sich sonst bemüht, diese Schwierigkeiten und Unvoll-
kommenheiten dem Lernenden zunächst zu verbergen. Aber das
geht bei der Psychoanalyse nicht. Ich habe also wirklich zwei Vor-
aussetzungen gemacht, die eine innerhalb der anderen, und wem das
Ganze zu mühselig und zu unsicher ist, oder wer an höhere Sicher-
heiten und elegantere Ableitungen gewöhnt ist, der braucht nicht
weiter mitzugehen. Ich meine nur, der soll psychologische Probleme
überhaupt in Ruhe lassen, denn es ist zu besorgen, daß er die exakten
und sicheren Wege, die er zu begehen bereit ist, hier nicht gangbar
findet, Es ist auch ganz überflüssig, daß eine Wissenschaft, die etwas
zu bieten hat, um Gehör und um Anhänger werbe. Ihre Ergebnisse
y°
100 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
müssen für sie Stimmung machen, und sie kann abwarten, bis diese
sich Aufmerksamkeit erzwungen haben.
Diejenigen von Ihnen aber, die bei der Sache verbleiben wollen,
kann ich daran mahnen, daß meine beiden Annahmen nicht gleich-
wertig sind. Die erste, der Traum sei ein seelisches Phänomen, ist
die Voraussetzung, die wir durch den Erfolg unserer Arbeit erweisen
wollen; die andere ist bereits auf einem anderen Gebiete erwiesen,
und ich nehme mir bloß die Freiheit, sie von dorther auf unsere
Probleme zu übertragen.
Wo, auf welchem Gebiet sollte der Beweis erbracht worden sein,
daß es ein Wissen gibt, von dem der Mensch doch nichts weiß, wie
wir es hier für den Träumer annehmen wollen? Das wäre doch eine
merkwürdige, überraschende, unsere Auffassung des Seelenlebens
verändernde Tatsache, die sich nicht zu verbergen brauchte. Neben-
bei eine Tatsache, die sich in ihrer Benennung selbst aufhebt und
doch etwas Wirkliches sein will, eine contradictio in adjecto. Nun,
sie verbirgt sich auch gar nicht. Es liegt nicht an ihr, wenn man
nichts von ihr weiß oder sich nicht genügend um sie kümmert. So
wenig, wie es unsere Schuld ist, daß alle diese psychologischen Pro-
bleme von Personen abgeurteilt werden, die sich von all den hie-
für entscheidenden Beobachtungen und Erfahrungen ferngehalten
haben.
Der Beweis ist auf dem Gebiet der hypnotischen Erscheinungen
erbracht worden. Als ich im Jahre 1889 die ungemein eindrucks-
vollen Demonstrationen von Liebault und Bernheim in Nancy
mitansah, war ich auch Zeuge des folgenden Versuches. Wenn man
einen Mann in den somnambulen Zustand versetzt hatte, ihn in diesem
alles mögliche halluzinatorisch erleben ließ und ihn dann aufweckte,
so schien er zunächst von den Vorgängen während seines hypnotischen
Schlafes nichts zu wissen. Bernheim forderte ihn dann direkt auf
zu erzählen, was sich mit ihm während der Hypnose zugetragen.
Er behauptete, er wisse sich an nichts zu erinnern. Aber Bernheim
bestand darauf, er drang in den Mann, versicherte ihm, er wisse es,
VI. Voraussetzungen und Technik der Deutung 101
müsse sich daran erinnern, und siehe da, der Mann wurde schwan-
kend, begann sich zu besinnen, erinnerte zuerst wie schattenhaft eines
der ihm suggerierten Erlebnisse, dann ein anderes Stück, die Erinne-
rung wurde immer deutlicher, immer vollständiger und endlich war
sie lückenlos zu Tage gefördert. Da er es aber nachher wußte und
inzwischen von keiner anderen Seite etwas erfahren hatte, ist der
Schluß berechtigt, daß er um diese Erinnerungen auch vorher gewußt
hat. Sie waren ihm nur unzugänglich, er wußte nicht, daß er sie
wisse, er glaubte, daß er sie nicht wisse. Also ganz der Fall, den wir
beim "Träumer vermuten.
Ich hoffe, Sie werden von der Feststellung dieser Tatsache überrascht
sein und mich fragen: Warum haben Sie sich auf diesen Beweis nicht
schon früher, bei den Fehlleistungen berufen, als wir dazu kamen,
dem Mann, der sich versprochen hatte, Redeabsichten zuzuschreiben,
von denen er nichts wußte und die er verleugnete? Wenn jemand
von Erlebnissen nichts zu wissen glaubt, deren Erinnerung er doch
in sich trägt, so ist es nicht mehr so unwahrscheinlich, daß er auch
von anderen seelischen Vorgängen in seinem Innern nichts weiß.
Dies Argument hätte uns gewiß Eindruck gemacht und uns im Ver-
ständnis der Fehlleistungen gefördert. Gewiß hätte ich mich schon
damals darauf berufen können, aber ich sparte es auf bis zu einer
anderen Stelle, an der es notwendiger wäre. Die Fehlleistungen haben
sich zum Teil selbst aufgeklärt, zum anderen Teil hinterließen sie
uns die Mahnung, dem Zusammenhang der Erscheinungen zuliebe
die Existenz solcher seelischer Vorgänge, von denen man nichts weiß,
doch anzunehmen. Beim Traum sind wir gezwungen, Erklärungen
von anderswoher heranzuziehen, und überdies rechne ich damit, daß
Sie hier eine Übertragung von der Hypnose her leichter zulassen
werden. Der Zustand, in dem wir eine Fehlleistung vollziehen, muß
Ihnen als der normale erscheinen, er hat mit dem hypnotischen keine
Ähnlichkeit. Dagegen besteht eine deutliche Verwandtschaft zwischen
dem hypnotischen Zustand und dem Schlafzustand, welcher die Be-
dingung des Träumens ist. Die Hypnose heißt ja ein künstlicher Schlaf;
102 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
wir sagen der Person, die wir hypnotisieren: schlafen Sie, und die
Suggestionen, die wir erteilen, sind den Träumen des natürlichen
Schlafes vergleichbar. Die psychischen Situationen sind in beiden
Fällen wirklich analoge. Im natürlichen Schlaf ziehen wir unser In-
teresse von der ganzen Außenwelt zurück, im hypnotischen wiederum
von der ganzen Welt, aber mit Ausnahme der einen Person, die uns
hypnotisiert hat, mit welcher wir im Rapport bleiben. Übrigens ist
der sogenannte Ammenschlaf, bei dem die Amme im Rapport mit
dem Kind bleibt und nur von diesem zu erwecken ist, ein normales
Seitenstück zum hypnotischen. Die Übertragung eines Verhältnisses
von der Hypnose auf den natürlichen Schlaf scheint also kein so kühnes
Wagnis. Die Annahme, daß auch beim Träumer ein Wissen um seinen
Traum vorhanden ist, das ihm nur unzugänglich ist, so daß er es
selbst nicht glaubt, ist nicht völlig aus der Luft gegriffen. Merken
wir uns übrigens, daß sich an dieser Stelle ein dritter Zugang zum
Studium des 'Traumes eröffnet; von den schlafstörenden Reizen aus,
von den Tagträumen und jetzt noch von den suggerierten Träumen
des hypnotischen Zustandes.
Nun kehren wir vielleicht mit gesteigertem Zutrauen zu unserer
Aufgabe zurück. Es ist also sehr wahrscheinlich, daß der Träumer
um seinen Traum weiß; es handelt sich nur darum, ihm möglich zu
machen, daß er sein Wissen auffindet und es uns mitteilt. Wir ver-
langen nicht, daB er uns sofort den Sinn seines Traumes sage, aber
die Herkunft desselben, den Gedanken und Interessenkreis, aus dem
er stammt, wird er auffinden können. Im Falle der Fehlleistung, er-
innern Sie sich, wurde er gefragt, wie er zu dem Fehlwort ,„Vor-
schwein“ gekommen war, und sein nächster Einfall gab uns die Auf-
klärung. Unsere Technik beim Traume ist nun eine sehr einfache,
diesem Beispiel nachgeahmte. Wir werden ihn wiederum fragen,
wie er zu dem Traume gekommen ist und seine nächste Aussage soll
wieder als Aufklärung angesehen werden. Wir setzen uns also über
den Unterschied, ob er etwas zu wissen glaubt oder nicht glaubt,
hinaus und behandeln beide Fälle wie einen einzigen.
VI. Voraussetzungen und Technik der Deutung 105
Diese Technik ist gewiß sehr einfach, aber ich fürchte, sie wird
Ihre schärfste Opposition hervorrufen. Sie werden sagen: Eine neue
Annahme, die dritte! Und die unwahrscheinlichste von allen! Wenn
ich den Träumer frage, was ihm zum Traum einfällt, soll gerade sein
nächster Einfall die gewünschte Aufklärung bringen? Aber es braucht
ihm ja gar nichts einzufallen, oder es kann ihm Gott weiß was ein-
fallen. Wir können nicht einsehen, worauf sich eine solche Erwar-
tung stützt. Das heißt wirklich zuviel Gottvertrauen zeigen an einer
‘Stelle, wo etwas mehr Kritik besser passen würde. Überdies ist ja ein
Traum nicht ein einzelnes Fehlwort, sondern besteht aus vielen Ele-
menten. An welchen Einfall soll man sich da halten?
Sie haben in allem Nebensächlichen recht. Ein Traum unterscheidet
sich von einem Versprechen auch in der Vielheit seiner Elemente.
Dem muß die Technik Rechnung tragen. Ich schlage Ihnen also vor,
daß wir den Traum in seine Elemente zerteilen und die Untersuchung
für jedes Element gesondert anstellen; dann ist die Analogie mit dem
Versprechen wieder hergestellt. Auch darin haben Sie recht, daß der
zu den einzelnen Traumelementen Befragte antworten kann, es falle
ihm nichts ein. Es gibt Fälle, in denen wir diese Antwort gelten lassen,
und Sie werden später hören, welche. Es sind bemerkenswerterweise
solche Fälle, in denen wir selbst bestimmte Einfälle haben können.
Aber im allgemeinen werden wir dem Träumer, wenn er keinen Ein-
fall zu haben behauptet, widersprechen, wir werden in ihn drängen,
werden ihm versichern, daß er einen Einfall haben müsse und —
werden Recht bekommen. Er wird einen Einfall dazu bringen, irgend-
einen, uns gleichgültig, welchen. Gewisse Auskünfte, die man histo-
rische nennen kann, wird er besonders leicht erteilen. Er wird sagen:
Das ist etwas, was gestern vorgefallen ist (wie in den beiden uns be-
kannt gewordenen „nüchternen Träumen“), oder: Das erinnert mich
an etwas, was sich vor kurzer Zeit ereignet hat — und auf diese
Art werden wir bemerken, daß die Anknüpfungen der Träume
an Eindrücke der letzten Tage weit häufiger sind, als wir zuerst
geglaubt haben. Endlich wird er sich auch vom Traum aus an ferner
104 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
liegende, eventuell sogar an weit zurückliegende Begebenheiten er-
Innern.
In der Hauptsache aber haben Sie unrecht. Wenn Sie meinen, es
sei willkürlich anzunehmen, daß der nächste Einfall des Träumers
gerade das Gesuchte bringen oder zu ihm führen müsse, der Einfall
könne vielmehr: ganz beliebig und außer Zusammenhang mit dem
Gesuchten sein, es sei nur eine Äußerung meines Gottvertrauens,
wenn ich es anders erwarte, so irren Sie groß. Ich habe mir schon
einmal die Freiheit genommen, Ihnen vorzuhalten, daß ein tief wur-
zelnder Glaube an psychische Freiheit und Willkürlichkeit in Ihnen
steckt, der aber ganz unwissenschaftlich ist und vor der Anforderung
eines auch das Seelenleben beherrschenden Determinismus die Segel
streichen muß. Ich bitte Sie, es als eine Tatsache zu respektieren,
daß dem Gefragten dies eingefallen ist und nichts anderes. Aber ich
setze nicht dem einen Glauben einen anderen entgegen. Es läßt sich
beweisen, daß der Einfall, den der Gefragte produziert, nicht will-
kürlich, nicht unbestimmbar ist, nicht außer Zusammenhang mit dem
von uns Gesuchten steht. Ja, ich habe unlängst erfahren — ohne
übrigens zuviel Wert darauf zu legen —, daß auch die experimentelle
Psychologie solche Beweise vorgebracht hat.
Bei der Bedeutung des Gegenstandes bitte ich um Ihre besondere
| Aufmerksamkeit. Wenn ich jemand auffordere zu sagen, was ihm zu
einem bestimmten Element des Traumes einfällt, so verlange ich von
ihm, daß er sich der freien Assoziation unter Festhaltung einer
Ausgangsvorstellung überlasse. Dies erfordert eine besondere
Einstellung der Aufmerksamkeit, die ganz anders ist als beim Nach-
denken und das Nachdenken ausschließt. Manche treffen eine solche
Einstellung leicht; andere zeigen bei dem Versuch ein unglaublich
hohes Maß von Ungeschicklichkeit. Es gibt nun einen höheren Grad
von Freiheit der Assoziation, wenn ich nämlich auch diese Ausgangs-
vorstellung fallen lasse und etwa nur Art und Gattung des Einfalles
festlege, z.B. bestimme, daß man sich einen Eigennamen oder eine
Zahl frei einfallen lassen solle. Dieser Einfall müßte noch willkür-
VI. Voraussetzungen und Technik der Deutung 105
licher, noch unberechenbarer sein als der bei unserer Technik ver-
wendete. Es läßt sich aber zeigen, daß er jedesmal strenge determi-
niert wird durch wichtige innere Einstellungen, die im Moment, da
sie wirken, uns nicht bekannt sind, ebensowenig bekannt wie die
störenden Tendenzen der Fehlleistungen und die provozierenden der
Zufallshandlungen. |
Ich und viele andere nach mir haben wiederholt solche Unter-
suchungen für Namen und Zahlen, die man sich ohne jeden Anhalt
einfallen läßt, angestellt, einige derselben auch veröffentlicht. Man
verfährt dabei in der Weise, daß man zu dem aufgetauchten Namen
fortlaufende Assoziationen weckt, die also nicht mehr ganz frei, son-
dern wie die Einfälle zu den Traumelementen einmal gebunden sind,
‘ und dies so lange, bis man den Antrieb dazu erschöpft findet. Dann
hat man aber auch Motivierung und Bedeutung des freien Namen-
einfalls aufgeklärt. Die Versuche ergeben immer wieder das nämliche,
ihre Mitteilung erstreckt sich oft über reiches Material und macht
weitläufige Ausführungen notwendig. Die Assoziationen der frei auf-
getauchten Zahlen sind vielleicht die beweisendsten; sie laufen so
schnell ab und gehen mit so unbegreiflicher Sicherheit auf ein ver-
hülltes Ziel los, daß sie wirklich verblüffend wirken, Ich will Ihnen
nur ein Beispiel einer solchen Namenanalyse mitteilen, weil es sich
günstigerweise mit wenig Material erledigen läßt.
Im Laufe der Behandlung eines jungen Mannes komme ich auf
dieses Thema zu sprechen und erwähne den Satz, daß man sich trotz
der anscheinenden Willkür doch keinen Namen einfallen lassen kann,
der sich nicht als enge bedingt durch die nächstliegenden Verhält-
nisse, die Eigentümlichkeiten der Versuchsperson und ihre momen-
tane Situation erwiese. Da er zweifelt, schlage ich ihm vor, ohne Auf-
schub selbst einen solchen Versuch zu machen. Ich weiß, daß er
besonders zahlreiche Beziehungen jeder Art zu Frauen und Mädchen
unterhält, und meine darum, er werde eine besonders große Auswahl
haben, wenn er sich gerade einen Frauennamen einfallen lasse. Er ist
damit einverstanden. Zu meinem, oder vielleicht zu seinem Erstaunen,
106 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
bricht aber jetzt keineswegs eine Lawine von Frauennamen über
mich los, sondern er bleibt eine Weile stumm und gesteht dann, daß
ihm ein einziger Name in den Sinn gekommen sei, kein anderer
daneben: Albine. — Wie merkwürdig, aber was knüpft sich für
Sie an diesen Namen? Wieviel Albinen kennen Sie? Sonderbar, er
kannte keine Albine, und es fiel ihm zu diesem Namen auch weiter
nichts ein. So konnte man annehmen, die Analyse sei mißlungen;
aber nein, sie war nur bereits vollendet, es war kein weiterer Einfall
erforderlich. Der Mann hatte selbst ungewöhnlich helle Farben, in
den Gesprächen der Kur hatte ich ihn wiederholt scherzhaft einen
Albino genannt; wir waren eben damit beschäftigt, den weiblichen
Anteil an seiner Konstitution festzustellen. Er war also selbst diese
Albine, das derzeit interessanteste Frauenzimmer.
Ebenso erweisen sich Melodien, die einem unvermittelt einfallen,
als bedingt durch und zugehörig zu einem Gedankenzug, der ein
Recht hat, einen zu beschäftigen, ohne daß man um diese Aktivität
weiß. Es ist dann leicht zu zeigen, daß die Beziehung zur Melodie an
deren Text oder an ihre Herkunft anknüpft; ich muß aber so vorsichtig
sein, diese Behauptung nicht auf wirklich musikalische Menschen aus-
zudehnen, über die ich zufällig keine Erfahrung habe. Bei solchen mag
der musikalische Gehalt der Melodie für ihr Auftauchen maßgebend
sein. Häufiger ist gewiß der erstere Fall. So weiß ich von einem
jungen Manne, der von der allerdings reizenden Melodie des Paris-
liedes aus der „Schönen Helena“ eine Zeitlang geradezu verfolgt
wurde, bis ihn die Analyse auf die derzeitige Konkurrenz einer „Ida“
mit einer „Helene“ in seinem Interesse aufmerksam machte.
Wenn also die ganz frei auftauchenden Einfälle in solcher Weise
bedingt und in einen bestimmten Zusammenhang eingeordnet sind,
so werden wir wohl mit Recht schließen, daß Einfälle mit einer ein-
zigen Gebundenheit, der an eine Ausgangsvorstellung, nicht minder
bedingt sein können. Die Untersuchung zeigt wirklich, das sie außer
der Gebundenheit, die wir ihnen durch die Ausgangsvorstellung mit-
gegeben haben, eine zweite Abhängigkeit von affektmächtigen Ge-
VI. Voraussetzungen und Technik der Deutung 107
danken- und Interessenkreisen, Komplexen, erkennen lassen, deren
Mitwirkung im Moment nicht bekannt, also unbewußt ist.
Einfälle von solcher Gebundenheit sind Gegenstand sehr lehrreicher
experimenteller Untersuchungen gewesen, die in der Geschichte
der Psychoanalyse eine bemerkenswerte Rolle gespielt haben. Die
Wundtsche Schule hatte das sogenannte Assoziationsexperiment an-
gegeben, bei welchem der Versuchsperson der Auftrag erteilt wird,
auf ein ihr zugerufenes Reizwort möglichst rasch mit einer belie-
bigen Reaktionzu antworten. Man kann dann das Intervallstudieren,
das zwischen Reiz und Reaktion verläuft, die Natur der als Reaktion
gegebenen Antwort, den etwaigen Irrtum bei einer späteren Wieder-
holung desselben Versuches und ähnliches. Die Züricher Schule unter
der Führung von Bleuler und Jung hat die Erklärung der beim
Assoziationsexperiment erfolgenden Reaktionen gegeben, indem sie
die Versuchsperson aufforderte, die von ihr erhaltenen Reaktionen
durch nachträgliche Assoziationen zu erläutern, wenn sie etwas Auf-
fälliges an sich trugen. Es stellte sich dann heraus, daß diese auffälligen
Reaktionen in der schärfsten Weise durch die Komplexe der Versuchs-
person determiniert waren. Bleuler und Jung hatten damit die
erste Brücke von der Experimentalpsychologie zur Psychoanalyse
geschlagen.
In solcher Weise belehrt, werden Sie sagen können: Wir anerkennen
jetzt, daß freie Einfälle determiniert sind, nicht willkürlich, wie wir
geglaubt haben. Wir geben dies auch für die Einfälle zu den Ele-
menten des Traumes zu. Aber das ist es ja nicht, worauf es uns an-
kommt. Sie behaupten ja, daß der Einfall zum Traumelement durch
den uns nicht bekannten psychischen Hintergrund eben (dieses Ele-
ments determiniert sein wird. Das scheint uns nicht erwiesen. Wir
erwarten schon, daß sich der Einfall zum Traumelement durch einen
der Komplexe des Träumers bestimmt zeigen wird, aber was nützt
uns das? Das führt uns nicht zum Verständnis des Traumes, sondern
wie das Assoziationsexperiment zur Kenntnis dieser sogenannten Kom-
plexe. Was haben diese aber mit dem Traum zu tun?
108 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Sie haben recht, aber Sie übersehen ein Moment. Übrigens gerade
jenes, wegen dessen ich das Assoziationsexperiment nicht zum Aus-
gangspunkt für diese Darstellung gewählt habe. Bei diesem Experi-
ment wird die eine Determinante der Reaktion, nämlich das Reizwort,
von uns willkürlich gewählt. Die Reaktion ist dann eine Vermittlung
zwischen diesem Reizwort und dem eben geweckten Komplex der
Versuchsperson. Beim "Traum ist das Reizwort ersetzt durch etwas,
was selbst aus dem Seelenleben des Träumers, aus ihm unbekannten
Quellen, stammt, also sehr leicht selbst ein „Komplexabkömmling“ sein
könnte. Es ist darum die Erwartung nicht gerade phantastisch, daß
auch die an die Traumelemente angeknüpften weiteren Einfälle durch
keinen anderen Komplex als den des Elements selbst bestimmt sein
und auch zu dessen Aufdeckung führen werden.
Lassen Sie mich an einem anderen Falle zeigen, daß es tatsächlich
so ist, wie wir es für unseren Fall erwarten. Das Entfallen von Eigen-
namen ist eigentlich ein ausgezeichnetes Vorbild für den Fall der
Traumanalyse; nur ist hier in einer Person beisammen, was bei der
Traumdeutung auf zwei Personen verteilt ist. Wenn ich einen Namen
‚zeitweilig vergessen habe, so habe ich doch die Sicherheit in mir, daß
ich den Namen weiß; jene Sicherheit, die wir uns für den Träumer
erst auf dem Umwege über das Bernheimsche Experiment aneignen
konnten. Der vergessene und doch gewußte Name ist mir aber nicht
zugänglich. Nachdenken, wenn auch noch so angestrengtes, hilft da-
bei nichts, das sagt mir bald die Erfahrung. Ich kann mir aber jedes-
mal an Stelle des vergessenen Namens einen oder mehrere Ersatz-
namen einfallen lassen. Wenn mir ein solcher Ersatzname spontan
eingefallen ist, dann wird erst die Übereinstimmung dieser Situation
mit der der Traumanalyse evident. Das Traumelement ist ja auch
nicht das Richtige, nur ein Ersatz für etwas anderes, für das Eigent-
liche, das ich nicht kenne und durch die Traumanalyse auffinden soll.
Der Unterschied liegt wiederum nur darin, daß ich beim Namen-
vergessen den Ersatz unbedenklich als das Uneigentliche erkenne,
während wir diese Auffassung für das Traumelement erst mühselig
VI.V. oraussetzungen und Technik der Deutung | 109
erwerben mußten. Nun gibt es auch beim Namenvergessen einen Weg,
vom Ersatz zum unbewußten Eigentlichen, zum vergessenen Namen
zu kommen. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf diese Ersatznamen
richte und weitere Einfälle zu ihnen kommen lasse, so gelange ich
nach kürzeren oder längeren Umwegen zum vergessenen Namen und
finde dabei, daß die spontanen Ersatznamen wie die von mir hervor-
gerufenen mit dem vergessenen in Beziehung standen, durch ihn
determiniert waren.
Ich will Ihnen eine Analyse dieser Art vorführen: Eines Tages be-
merke ich, dal ich über den Namen jenes Ländchens an der Riviera,
dessen Hauptort Monte Carlo ist, nicht verfüge. Es ist zu ärgerlich,
aber es ist so. Ich versenke mich in all mein Wissen um dieses Land,
denke an den Fürsten Albert aus dem Hause Lusignan, an seine Ehen,
seine Vorliebe für Tiefseeforschungen, und was ich sonst zusammen-
tragen kann, aber es hilft mir nichts. Ich gebe also das Nachdenken
auf und lasse mir an Stelle des verlorenen Ersatznamen einfallen.
Sie kommen rasch. MonteCarloselbst, dann Piemont, Albanien,
Montevideo, Colico. Albanien fällt mir in dieser Reihe zuerst auf,
es ersetzt sich alsbald durch Montenegro, wohl nach dem Gegen-
satze von Weiß und Schwarz. Dann sehe ich, das vier dieser Ersatz-
namen die nämliche Silbe mon enthalten; ich habe plötzlich das ver-
gessene Wort und rufe laut: Monaco. Die Ersatznamen sind also
wirklich vom vergessenen ausgegangen, die vier ersten von der ersten
Silbe, der letzte bringt die Silbenfolge und die ganze Endsilbe wieder.
Nebenbei kann ich auch leicht finden, was mir den Namen für eine
Zeit weggenommen hat. Monaco gehört auch zuMünchen als dessen
italienischer Name; diese Stadt hat den hemmenden Einfluß ausgeübt.
Das Beispiel ist gewiß schön, aber zu einfach. In anderen Fällen
müßte man zu den ersten Ersatznamen eine größere Reihe von Einfäl-
len nehmen, dann wäre die Analogie mit der Traumanalyse deutli-
cher. Ich habe auch solche Erfahrungen gemacht. Als mich einmal ein
Fremder einlud, italienischen Wein mit ihm zu trinken, ergab es sich
im Wirtshause, das er den Namen jenes Weines vergessen hatte, den
110 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
er, weil er ihm im besten Gedenken geblieben war, zu bestellen be-
absichtigte. Aus einer Fülle von disparaten Ersatzeinfällen, die dem
Anderen an Stelle des vergessenen Namens kamen, konnte ich den
Schluß ziehen, daß die Rücksicht auf irgend eine Hedwig ihm den
Namen des Weines weggenommen hatte, und wirklich bestätigte er
nicht nur, das er diesen Wein zuerst in Gesellschaft einer Hedwig
verkostet, sondern fand auch durch diese Aufdeckung seinen Namen
wieder. Er war zu der Zeit glücklich verheiratet, und jene Hedwig
gehörte früheren, nicht gerne erinnerten Zeiten an.
Was beim Namenvergessen möglich ist, muß auch in der Traum-
deutung gelingen können, vom Ersatz aus durch anknüpfende Asso-
ziationen das verhaltene Eigentliche zugänglich zu machen. Von den
Assoziationen zum Traumelement dürfen wir nach dem Beispiel des
Namenvergessens annehmen, daß sie sowohl durch das Traumelement
als durch das unbewußte Eigentliche desselben determiniert sein wer-
den. Somit hätten wir einiges zur Rechtfertigung unserer Technik
vorgebracht.
VII. VORLESUNG
MANIFESTER TRAUMINHALT
UND LATENTE TRAUMGEDANKEN
Meine Damen und Herren! Sie sehen, wir haben die Fehlleistun-
gen nicht ohne Nutzen studiert. Dank diesen Bemühungen haben
wir — unter den Ihnen bekannten Voraussetzungen — zweierlei er-
worben, eine Auffassung des Traumelements und eine Technik der
Traumdeutung. Die Auffassung des Traumelements geht dahin, es
sei ein Uneigentliches, ein Ersatz für etwas anderes, dem "Träumer
Unbekanntes, ähnlich wie die Tendenz der Fehlleistung, ein Ersatz
für etwas, wovon das Wissen im Träumer vorhanden, aber ihm un-
zugänglich ist. Wir hoffen, dieselbe Auffassung auf den ganzen Traum,
der aus solchen Elementen besteht, übertragen zu können. Unsere
Technik besteht darin, durch freie Assoziation zu diesen Elementen
andere Ersatzbildungen auftauchen zu lassen, aus denen wir das Ver-
borgene erraten können.
Ich schlage Ihnen jetzt vor, eine Abänderung unserer Nomenklatur
eintreten zu lassen, die unsere Beweglichkeit erleichtern soll. Anstatt
verborgen, unzugänglich, uneigentlich sagen wir, indem wir die
richtige Beschreibung geben, dem Bewußtsein des Träumers unzu-
gänglich oder unbewußt. Wir meinen damit nichts anderes, als
was Ihnen die Beziehung auf das entfallene Wort oder auf die
störende Tendenz der Fehlleistung vorhalten kann, nämlich der-
zeit unbewußt. Natürlich dürfen wir im Gegensatz hierzu die
112 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Traumelemente selbst und die durch Assoziation neu gewonnenen
Ersatzvorstellungen bewußte heißen. Irgendeine theoretische Kon-
struktion ist mit dieser Namengebung noch nicht verbunden. Der
Gebrauch des Wortes „unbewußt“ als einer zutreffenden und leicht
verständlichen Beschreibung ist tadellos.
Übertragen wir unsere Auffassung vom einzelnen Element auf den
ganzen Traum, so ergibt sich also, daß der Traum als Ganzes der ent-
stellte Ersatz für etwas anderes, Unbewußtes, ist, und als die Aufgabe
der Traumdeutung, dieses Unbewußte zu finden. Daraus leiten sich
aber sofort drei wichtige Regeln ab, die wir während der Arbeit an
der Traumdeutung befolgen sollen:
ı) Man kümmere sich nicht um das, was der Traum zu besagen
scheint, sei er verständig oder absurd, klar oder verworren, da es doch
auf keinen Fall das von uns gesuchte Unbewußte ist (eine nahe-
liegende Einschränkung dieser Regel wird sich uns aufdrängen):
2) man beschränke die Arbeit darauf, zu jedem Element die Ersatz-
vorstellungen zu erwecken, denke nicht über sie nach, prüfe sie nicht,
ob sie etwas Passendes enthalten, kümmere sich nicht darum, wie
weit sie vom "ITraumelement abführen; 3) man warte ab, bis sich das
verborgene, gesuchte Unbewußte von selbst einstellt, genau so wie
das entfallene Wort Monaco bei dem beschriebenen Versuch.
Wir verstehen jetzt auch, inwiefern es gleichgültig ist, wie viel,
wie wenig, vor allem aber wie getreu oder wie unsicher man den
Traum erinnert. Der erinnerte Traum ist ja doch nicht das Eigent-
liche, sondern ein entstellter Ersatz dafür, der uns dazu verhelfen soll,
durch Erweckung von anderen Ersatzbildungen dem Eigentlichen
näherzukommen, das Unbewußte des Traumes bewußt zu machen.
War also unsere Erinnerung ungetreu, so hat sie einfach an diesem
Ersatz eine weitere Entstellung vorgenommen, die übrigens auch
nicht unmotiviert sein kann.
Man kann die Deutungsarbeit an eigenen Träumen wie an denen
anderer vollziehen. An eigenen lernt man sogar mehr, der Vorgang
fällt beweisender aus. Versucht man dies also, so bemerkt man, daß etwas
VII. Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanken 113
sich der Arbeit widersetzt. Man bekommt zwar Einfälle, läßt sie aber
nicht alle gewähren. Es machen sich prüfende und auswählende Ein-
flüsse geltend. Bei dem einen Einfall sagt man sich: Nein, das paßt
nicht dazu, gehört nicht hierher, bei einem anderen: das ist zu un-
sinnig, bei einem dritten: das ist ganz nebensächlich, und man kann
ferner beobachten, wie man mit solchen Einwendungen die Einfälle,
noch ehe sie ganz klar geworden sind, erstickt und endlich auch ver-
treibt. Also einerseits hängt man sich zu sehr an die Ausgangsvor-
stellung, ans 'Traumelement selbst, anderseits stört man durch eine
Auswahl das Ergebnis der freien Assoziation. Ist man bei der Traum-
deutung nicht allein, läßt man seinen Traum von einem anderen
deuten, so wird man sehr deutlich noch ein anderes Motiv bemerken,
welches man für diese unerlaubte Auswahl verwendet. Man sagt sich
dann gelegentlich: Nein, dieser Einfall ist zu unangenehm, den will
oder kann ich nicht mitteilen. '
Diese Einwendungen drohen offenbar den Erfolg unserer Arbeit
zu stören. Man muß sich gegen sie schützen, und man tut dies bei
der eigenen Person durch den festen Vorsatz, ihnen nicht nachzu-
geben; wenn man den Traum eines anderen deutet, indem man ihm
als unverbrüchliche Regel angibt, er dürfe keinen Einfall von der
Mitteilung ausschließen, auch wenn sich eine der vier Einwen-
dungen gegen ihn erhebe; er sei zu unwichtig, zu unsinnig, gehöre
nicht hierher, oder er sei zu peinlich für die Mitteilung. Er verspricht
diese Regel zu befolgen, und man darf sich dann darüber ärgern,
wie schlecht er vorkommendenfalls dies Versprechen hält. Man wird
sich dafür zuerst die Erklärung geben, daß ihm trotz der autoritativen
Versicherung die Berechtigung der freien Assoziation nicht einge-
leuchtet hat, und wird vielleicht daran denken, ihn zuerst theoretisch
zu gewinnen, indem man ihm Schriften zu lesen gibt oder ihn in
Vorlesungen schickt, durch welche er zum Anhänger unserer An-
schauungen über die freie Assoziation umgewandelt werden kann.
Aber von solchen Mißgriffen wird man durch die Beobachtung ab-
gehalten, daß bei der eigenen Person, deren Überzeugung man doch
Freud, VII. s
114 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
sicher sein darf, die nämlichen kritischen Einwendungen gegen ge-
wisse Einfälle auftauchen, die erst nachträglich, gewissermaßen in
zweiter Instanz, beseitigt werden.
Anstatt sich über den Ungehorsam des 'Träumers zu ärgern, kann
man diese Erfahrungen verwerten, um etwas Neues aus ihnen zu
lernen, etwas, was umso wichtiger ist, je weniger man darauf vor-
bereitet war. Man versteht, die Arbeit der Traumdeutung vollzieht
sich gegen einen Widerstand, der ihr entgegengesetzt wird, und
dessen Äußerungen jene kritischen Einwendungen sind. Dieser Wider-
stand ist unabhängig von der theoretischen Überzeugung des Träumers.
Ja, man lernt noch mehr. Man macht die Erfahrung, daß eine solche
kritische Einwendung niemals recht behält. Im Gegenteile, die Ein-
fälle, die man so unterdrücken möchte, erweisen sich ausnahmslos
als die wichtigsten, für das Auffinden des Unbewußten entscheidenden.
Es ist geradezu eine Auszeichnung, wenn ein Einfall von einer solchen
Einwendung begleitet wird.
Dieser Widerstand ist etwas völlig Neues, ein Phänomen, welches
wir auf Grund unserer Voraussetzungen gefunden haben, ohne daß
es in diesen enthalten gewesen wäre. Wir sind von diesem neuen
Faktor in unserer Rechnung nicht gerade angenehm überrascht. Wir
ahnen schon, er wird unsere Arbeit nicht erleichtern. Er könnte uns
dazu verführen, die ganze Bemühung um den Traum stehenzulassen.
Etwas so Unwichtiges wie der Traum und dazu solche Schwierig-
keiten anstatt einer glatten Technik! Aber anderseits könnten uns
gerade diese Schwierigkeiten reizen und vermuten lassen, daß die
Arbeit der Mühe wert sein wird. Wir stoßen regelmäßig auf Wider-
stände, wenn wir vom Ersatz, den das Traumelement bedeutet, zu
seinem versteckten Unbewußten vordringen wollen. Also dürfen wir
denken, es muß hinter dem Ersatz etwas Bedeutsames versteckt sein.
Wozu sonst die Schwierigkeiten, die das Verbergen aufrecht erhalten
wollen? Wenn ein Kind die geballte Hand nicht aufmachen will, um
zu zeigen, was es in ihr hat, dann ist es gewiß etwas Unrechtes, was
es nicht haben soll.
VII. Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanken 115
Im Augenblick, da wir die dynamische Vorstellung eines Wider-
standes in unseren Sachverhalt einführen, müssen wir auch daran
denken, daß dieses Moment etwas quantitativ Variables ist. Es kann
größere und kleinere Widerstände geben, und wir sind darauf vor-
bereitet, daß sich diese Unterschiede auch während unserer Arbeit
zeigen werden. Vielleicht bringen wir damit eine andere Erfahrung
zusammen, die wir auch bei der Arbeit der Traumdeutung machen.
Es bedarf nämlich manchmal nur eines einzigen oder einiger weniger
Einfälle, um uns vom Traumelement zu seinem Unbewußten zu
bringen, während andere Male lange Ketten von Assoziationen und
die Überwindung vieler kritischer Einwendungen dazu erfordert wird.
Wir werden uns sagen, diese Verschiedenheiten hängen mit den
wechselnden Größen des Widerstandes zusammen, und werden wahr-
scheinlich recht behalten. Wenn der Widerstand gering ist, so ist
auch der Ersatz vom Unbewußten nicht weit entfernt; ein großer
Widerstand bringt aber große Entstellungen des Unbewußten und
damit einen langen Rückzug vom Ersatz zum Unbewußten mit sich.
Jetzt wäre es vielleicht an der Zeit, einen Traum herzunehmen
und unsere Technik an ihm zu versuchen, ob sich unsere an sie ge-
knüpften Erwartungen bestätigen. Ja, aber welchen Traum sollen
wir dazu wählen? Sie glauben nicht, wie schwer mir diese Ent-
scheidung fällt, und ich kann Ihnen auch noch nicht begreiflich
machen, worin die Schwierigkeiten liegen. Es muß offenbar Träume
geben, die im ganzen wenig Entstellung erfahren haben, und es wäre
das beste, mit solchen anzufangen. Aber welche Träume sind die am
wenigsten entstellten? Die verständigen und nicht verworrenen, von
denen ich Ihnen bereits zwei Beispiele vorgelegt habe? Da würden
wir sehr irregehen. Die Untersuchung zeigt, daß diese Träume einen
außerordentlich hohen Grad von Entstellung erfahren haben. Wenn
ich aber unter Verzicht auf eine besondere Bedingung einen beliebigen
Traum herausgreife, so werden Sie wahrscheinlich sehr enttäuscht
werden. Es kann sein, daß wir eine solche Fülle von Einfällen zu
den einzelnen Traumelementen zu merken oder zu verzeichnen haben,
g*
ı16 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
daß die Arbeit vollkommen unübersichtlich wird. Schreiben wir uns
den Traum nieder und halten die Niederschrift aller dazu sich er-
gebenden Einfälle dagegen, so können diese leicht ein Vielfaches des
Traumtextes ausmachen. Am zweckmäßigsten schiene es also, mehrere
kurze Träume zur Analyse auszusuchen, von denen jeder uns wenigstens
etwas sagen oder bestätigen kann. Dazu werden wir uns auch ent-
schließen, wenn die Erfahrung uns nicht etwa anzeigen sollte, wo
wir die wenig entstellten Träume wirklich finden können.
Ich weiß aber noch eine andere Erleichterung, die überdies auf un-
serem Wege liegt. Anstatt die Deutung ganzer Träume in Angriff zu
nehmen, wollen wir uns auf einzelne Traumelemente beschränken
und an einer Reihe von Beispielen verfolgen, wie diese durch die An-
wendung unserer Technik Aufklärung finden.
a) Eine Dame erzählt, sie habe als Kind sehr oft geträumt, .der
liebe Gott habe einen spitzen Papierhut auf dem Kopf. Wie wollen
. Sie das ohne die Hilfe der Träumerin verstehen? Es klingt ja ganz
unsinnig. Es ist nicht mehr unsinnig, wenn uns die Dame berichtet,
daß man ihr als Kind bei Tische einen solchen Hut aufzusetzen
pflegte, weil sie es nicht unterlassen konnte, auf die Teller der Ge-
schwister zu schielen, ob eines von ihnen mehr bekommen habe als
sie. Der Hut sollte also wie ein Scheuleder wirken. Übrigens eine
historische Auskunft und ohne jede Schwierigkeit gegeben. Die Deu-
tung dieses Elements und damit des ganzen kurzen Traumes ergibt
sich leicht mit Hilfe eines weiteren Einfalls der Träumerin. „Da ich
gehört hatte, der liebe Gott sei allwissend und sehe alles,“ sagt sie,
„so kann der Traum nur bedeuten, daß ich alles weiß und alles sehe
wie der liebe Gott, auch wenn man mich daran hindern will.“ Dieses
Beispiel ist vielleicht zu einfach.
b) Eine skeptische Patientin hat einen längeren Traum, in dem es vor-
kommt, daß ihr gewisse Personen von meinem Buch über den „Witz“
erzählen und es sehr loben. Dann wird etwas erwähnt von einem
„Kanal“, vielleicht ein anderes Buch, in dem Kanal vorkommt, oder
sonst etwas mil Kanal... sie weiß es nicht... es ist ganz unklar.
VII. Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanken 117
Nun werden Sie gewiß zu glauben geneigt sein, daß das Element
„Kanal“ sich der Deutung entziehen wird, weil es selbst so unbe-
stimmt ist. Sie haben mit der vermuteten Schwierigkeit recht, aber
es ist nicht darum schwer, weil es undeutlich ist, sondern es ist un-
deutlich aus einem anderen Grund, demselben, der auch die Deu-
tung schwer macht. Der Träumerin fällt zu Kanal nichts ein; ich
weiß natürlich auch nichts zu sagen. Eine Weile später, in Wahrheit
am nächsten Tage, erzählt sie, es sei ihr eingefallen, was vielleicht
dazugehört. Auch ein Witz nämlich, den sie erzählen gehört hat.
Auf einem Schiff zwischen Dover und Calais unterhält sich ein be-
kannter Schriftsteller mit einem Engländer, welcher in einem ge-
wissen Zusammenhange den Satz zitiert: Du sublime au ridicule ıl
n’y a quun pas. Der Schriftsteller antwortet: Ouz, le pas de Calais,
— womit er sagen will, daß er Frankreich großartig und England
lächerlich findet. Der Pas de Calais ist aber doch ein Kanal, der Ärmel-
kanal nämlich, Canal la manche. Ob ich meine, dal dieser Einfall
etwas mit dem Traum zu tun hat? Gewiß, meine ich, er gibt wirk-
lich die Lösung des rätselhaften Traumelements. Oder wollen Sie
bezweifeln, daß dieser Witz bereits vor dem Traum als das Unbe-
wußte des Elements „Kanal“ vorhanden war, können Sie annehmen,
daß er nachträglich hinzugefunden wurde? Der Einfall bezeugt näm-
lich die Skepsis, die sich bei ihr hinter aufdringlicher Bewunderung
verbirgt, und der Widerstand ist wohl der gemeinsame Grund für
beides, sowohl, daß ihr der Einfall so zögernd gekommen, als auch
dafür, daß das entsprechende Traumelement so unbestimmt ausge-
fallen ist. Blicken Sie hier auf das Verhältnis des Traumelements zu
seinem Unbewußten. Es ist wie ein Stückchen dieses Unbewußten,
wie eine Anspielung darauf; durch seine Isolierung ist es ganz un-
verständlich geworden.
c) Ein Patient träumt in längerem Zusammenhange: Um einen
Tısch von besonderer Form sitzen mehrere Mitglieder seiner Familie
usw. Zu diesem Tisch fällt ihm ein, daß er ein solches Möbelstück
bei einem Besuch bei einer bestimmten Familie gesehen hat. Dann
118 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
setzen sich seine Gedanken fort: In dieser Familie hat es ein be-
sonderes Verhältnis zwischen Vater und Sohn gegeben, und bald
setzt er hinzu, daß es eigentlich zwischen ihm und seinem Vater
ebenso steht. Der Tisch ist also in den Traum aufgenommen, um
diese Parallele zu bezeichnen.
Dieser Träumer war mit den Anforderungen der Traumdeutung
längst vertraut. Ein anderer hätte vielleicht Anstoß daran genommen,
daß ein so geringfügiges Detail wie die Form eines 'Tisches zum
Objekt der Nachforschung genommen wird. Wir erklären wirklich
nichts im Traum für zufällig oder gleichgültig und erwarten uns
Aufschluß gerade von der Aufklärung so geringfügiger unmotivierter
Details. Sie werden sich vielleicht noch darüber verwundern, daß
die Traumarbeit den Gedanken „bei uns geht es ebenso zu wie bei
denen“ gerade durch die Auswahl des Tisches zum Ausdruck bringt.
‚Aber auch das erklärt sich, wenn Sie hören, dal die betreffende
Familie den Namen: Tischler trägt. Indem der Träumer seine
Angehörigen an diesem Tisch Platz nehmen läßt, sagt er, sie seien
auch Tischler. Bemerken Sie übrigens, wie man notgedrungen bei
der Mitteilung solcher Traumdeutungen indiskret werden muß. Sie
haben damit eine der Ihnen angedeuteten Schwierigkeiten in der
Auswahl von Beispielen erraten. Ich hätte dieses Beispiel leicht durch
ein anderes ersetzen können, aber wahrscheinlich hätte ich diese In-
diskretion nur um den Preis vermieden, daß ich an ihrer Statt eine
andere begehe.
Es scheint mir an der Zeit, zwei Termini einzuführen, die wir
längst hätten verwenden können. Wir wollen das, was der Traum
erzählt, den manifesten Trauminhalt nennen, das Verborgene,
zu dem wir durch die Verfolgung der Einfälle kommen sollen, die
latenten Traumgedanken. Wir achten dann auf die Be-
ziehungen zwischen manifestem Trauminhalt und latenten Traum-
gedanken, wie sie sich in diesen Beispielen zeigen. Es können sehr
verschiedene solche Beziehungen bestehen. In den Beispielen a) und
b) ist das manifeste Element auch ein Bestandteil der latenten Ge-
VII. Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanke
119
danken, aber nur ein kleines Stück davon. Von einem großen zu-
sammengesetzten psychischen Gebilde in den unbewußten Traum-
gedanken ist ein Stückchen auch in den manifesten Traum gelangt,
wie ein Fragment davon oder in anderen Fällen wie eine Anspielung
darauf, wie ein Stichwort, eine Verkürzung im Telegraphenstil.
Die Deutungsarbeit hat diesen Brocken oder diese Andeutung zum
Ganzen zu vervollständigen, wie es besonders schön im Beispiel b)
gelungen ist. Die eine Art der Entstellung, in welcher die Traum-
arbeit besteht, ist also der Ersatz durch ein Bruchstück oder eine
Anspielung. In c) ist überdies ein anderes Verhältnis zu erkennen,
welches wir in den nachfolgenden Beispielen reiner und deutlicher
ausgedrückt sehen.
d) Der Träumer zieht eine (bestimmte, ihm bekannte) Dame hinter
dem Bett hervor. Er findet selbst durch den ersten Einfall den Sinn
dieses Traumelements. Es heißt: er gibt dieser Dame den Vorzug.
e) Ein anderer träumt, sein Bruder stecke in einem Kasten. Der
erste Einfall ersetzt Kasten durch Schrank, und der zweite gibt
darauf die Deutung: der Bruder schränkt sich ein.
f) Der Träumer steigt auf einen Berg, von dem er eine außer-
ordentliche, weite dussicht hat. Das klingt ja ganz rationell, es ist
vielleicht nichts zu deuten daran, sondern nur zu erkunden, an
welche Reminiszenz der Traum rührt, und aus welchem Motiv sie
hier geweckt wurde. Allein Sie irren; es zeigt sich, daß dieser Traum
gerade so deutungsbedürftig war wie irgend ein anderer, ver-
worrener. Dem Träumer fällt dazu nämlich nichts von eigenen
Bergbesteigungen ein, sondern er gedenkt des Umstandes, daß ein
Bekannter von ihm eine „Rundschau“ herausgibt, die sich mit
unseren Beziehungen zu den fernsten Erdteilen beschäftigt. Der
latente Traumgedanke ist also hier eine Identifizierung des Träumers
mit dem „Rundschauer“.
Sie finden hier einen neuen Typus der Beziehung zwischen mani-
festem und latentem 'Traumelement. Das erstere ist nicht so sehr
eine Entstellung des letzteren als eine Darstellung desselben, eine
120 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
plastische, konkrete Verbildlichung, die ihren Ausgang vom Wort-
laute nimmt. Allerdings gerade dadurch wieder eine Entstellung,
denn wir haben beim Wort längst vergessen, aus welchem konkreten
Bild es hervorgegangen ist, und erkennen es darum in seiner Er-
setzung durch das Bild nicht wieder. Wenn Sie daran denken, daß
der manifeste "Traum vorwiegend aus visuellen Bildern, seltener aus
Gedanken und Worten besteht, können Sie erraten, daß dieser Art
der Beziehung eine besondere Bedeutung für die Traumbildung
zukommt. Sie sehen auch, daß es auf diesem Wege möglich wird,
für eine große Reihe abstrakter Gedanken Ersatzbilder im mani-
festen Traum zu schaffen, die doch der Absicht des Verbergens
dienen. Es ist dies die Technik unseres Bilderrätsels. Woher der
Anschein des Witzigen kommt, den solche Darstellungen an sich
tragen, das ist eine besondere Frage, die wir hier nicht zu berühren
brauchen.
Eine vierte Art der Beziehung zwischen manifestem und latentem
Element muß ich Ihnen noch verschweigen, bis ihr Stichwort in
der Technik gefallen ist. Ich werde Ihnen auch dann keine voll-
ständige Aufzählung gegeben haben, aber es reicht so für unsere
Zwecke aus. |
Haben Sie nun den Mut, die Deutung eines ganzen Traumes zu
wagen? Machen wir den Versuch, ob wir für diese Aufgabe gut
genug ausgerüstet sind. Ich werde natürlich keinen der dunkelsten
wählen, aber doch einen, der die Eigenschaften eines Traumes in
guter Ausprägung zeigt.
Also eine junge, aber schon seit vielen Jahren verheiratete Dame
träumt: Sie sitzt mit ihrem Manne im Theater, eine Seite des Parketts
ıst ganz unbesetzt. Ihr Mann erzählt ıhr, Elise L. und ihr Bräu-
tıgam hätten auch gehen wollen, hätten aber nur schlechte Sitze be-
kommen, 3 für I fl. 50 kr., und die konnten sie ja nicht nehmen.
Sie meint, es wäre auch kein Unglück gewesen.
Das erste, was uns die Träumerin berichtet, ist, daß der Anlaß
zum Traum im manifesten Inhalt desselben berührt wird. Ihr Mann
VII. Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanken 121
hatte ihr wirklich erzählt, daß Elise L., eine ungefähr gleichaltrige
Bekannte, sich jetzt verlobt hat. Der Traum ist die Reaktion auf
diese Mitteilung. Wir wissen bereits, daß es für viele Träume leicht
wird, einen solchen Anlaß vom Vortag für sie nachzuweisen, und
daß diese Herleitungen vom Träumer oft ohne Schwierigkeiten an-
gegeben werden. Auskünfte derselben Art stellt uns die Träumerin
auch für andere Elemente des manifesten Traumes zur Verfügung.
Woher das Detail, daß eine Seite des Parketts unbesetzt ist? Es ist
eine Anspielung auf eine reale Begebenheit der vorigen Woche. Sie
hatte sich vorgenommen, in eine gewisse T'heatervorstellung zu
gehen, und darum frühzeitig Karten genommen, so früh, daß sie
Vorverkaufsgebühr zahlen mußte. Als sie ins Theater kamen, zeigte
es sich, wie überflüssig ihre Sorge gewesen war, denn eine Seite
des Parketts war fast leer. Es wäre Zeit gewesen, wenn sie
die Karten am Tage der Vorstellung selbst gekauft hätte. Ihr Mann
unterließ es auch nicht, sie wegen dieser Voreiligkeit zu necken.
— Woher die ı fl. 50 kr.? Aus einem ganz anderen Zusammen-
hange, der mit dem vorigen nichts zu tun hat, aber gleichfalls auf
eine Nachricht vom letzten Tage anspielt. Ihre Schwägerin hatte
von ihrem Mann die Summe von 150 fl. zum Geschenk bekommen
und hatte nichts Eiligeres zu tun, die dumme Gans, als zum Juwelier
zu laufen und das Geld gegen ein Schmuckstück einzutauschen. —
Woher die 3? Dazu weiß sie nichts, wenn man nicht’etwa den Ein-
fall gelten lassen will, daß die Braut, Elise L., nur um 3 Monate
Jünger ist als sie, die seit fast zehn Jahren verheiratete Frau. Und
der Unsinn, daß man drei Karten nimmt, wenn man nur zu zweien
ist? Dazu sagt sie nichts, verweigert überhaupt alle weiteren Ein-
fälle und Auskünfte.
Sie hat uns aber doch soviel Material in ihren wenigen Einfällen
zugetragen, daß daraus das Erraten der latenten Traumgedanken mög-
lich wird. Es muß uns auffallen, daß in ihren Mitteilungen zum
Traum an mehreren Stellen Zeitbestimmungen hervortreten, die eine
Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen Partien des Materials begrün-
122 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
den. Sie hat die Eintrittskarten ins Theater zu früh besorgt, vor-
eilig genommen, so daß sie sie überzahlen mußte; die Schwägerin
hat sich in ähnlicher Weise beeilt, ihr Geld zum Juwelier zu tragen,
um sich einen Schmuck dafür zu kaufen, als ob sie es versäumen
würde. Nehmen wir zu dem so betonten „zu früh“, „voreilig‘“ die
Veranlassung des Traumes hinzu, die Nachricht, daß die nur um 3 Mo-
nate jüngere Freundin jetzt doch einen tüchtigen Mann bekommen
hat, und die in dem Schimpf auf die Schwägerin ausgedrückte Kri-
tik: es sei unsinnig, sich so zu übereilen, so tritt uns wie spontan
folgende Konstruktion der latenten Traumgedanken entgegen, für
welche der manifeste Traum ein arg entstellter Ersatz ist:
„Es war doch ein Unsinn von mir, mich mit der Heirat so zu
beeilen! An dem Beispiel der Elise sehe ich, daß ich auch noch später
einen Mann bekommen hätte.“ (Die Übereilung dargestellt durch ihr
Benehmen beim Kartenkauf und das der Schwägerin beim Schmuck-
einkauf. Für das Heiraten tritt als Ersatz das Instheatergehen ein.)
Das wäre der Hauptgedanke; vielleicht können wir fortsetzen, ob-
wohl mit geringerer Sicherheit, weil die Analyse, an diesen Stellen
auf Äußerungen der Träumerin nicht hätte verzichten sollen: „Und
einen 100mal besseren hätte ich für das Geld bekommen!“ (150 fl.
ist 100omal mehr als ı fl. 30.) Wenn wir für das Geld die Miitgift
einsetzen dürften, so hieße es, daß man sich den Mann durch die
Mitgift erkauft; sowohl der Schmuck wie auch die schlechten Kar-
ten stünden an Stelle des Mannes. Noch erwünschter wäre es,
wenn gerade das Element „z Karten“ etwas mit einem Mann zu
tun hätte. Aber soweit reicht unser Verständnis noch nicht. Wir
haben nur erraten, der Traum drückt die Geringschätzung
ihres eigenen Mannes und das Bedauern, so früh geheiratet zu
haben, aus.
Mein Urteil ist, daß wir von dem Ergebnis dieser ersten Traum-
deutung mehr überrascht und verwirrt als befriedigt sein werden.
Zuviel auf einmal dringt da auf uns ein, mehr, als wir jetzt schon
bewältigen können. Wir merken schon, daß wir die Lehren dieser
VII. Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanken 123
Traumdeutung nicht erschöpfen werden. Beeilen wir uns heraus-
zugreifen, was wir als gesicherte neue Einsicht erkennen.
Erstens: Es ist merkwürdig, in den latenten Gedanken fällt der
Hauptakzent auf das Element der Voreiligkeit; im manifesten Traum
ist gerade davon nichts zu finden. Ohne die Analyse hätten wir keine
Ahnung haben können, daß dieses Moment irgendeine Rolle spielt.
Es scheint also möglich, daß gerade die Hauptsache, das Zentrale der
unbewußten Gedanken, im manifesten Traum ausbleibt. Dadurch
muß der Eindruck des ganzen Traumes gründlich verwandelt werden.
Zweitens: Im Traum findet sich eine unsinnige Zusammenstellung,
5 für ı fl. 50; in den Traumgedanken erraten wir den Satz: Es war
ein Unsinn (so früh zu heiraten). Kann man es abweisen, daß dieser
Gedanke „es war ein Unsinn“ gerade durch die Aufnahme eines ab-
surden Elements in den manifesten Traum dargestellt wird? Drittens:
Ein vergleichender Blick lehrt, daß die Beziehung zwischen mani-
festen und latenten Elementen keine einfache ist, keinesfalls von der
Art, daß immer ein manifestes Element ein latentes ersetzt. Es muß
vielmehr eine Massenbeziehung zwischen beiden Lagern sein, inner-
halb deren ein manifestes Element mehrere latente vertreten oder
ein latentes durch mehrere manifeste ersetzt sein kann.
Was den Sinn des Traumes und das Verhalten der Träumerin zu
ihm betrifft, wäre gleichfalls viel Überraschendes zu sagen. Sie an-
erkennt wohl die Deutung, aber sie wundert sich über sie. Sie hat
nicht gewußt, daß sie ihren Mann so geringschätzt; sie weiß auch
nicht, warum sie ihn so geringschätzen sollte. Daran ist also noch
vieles unverständlich. Ich glaube wirklich, wir sind noch nicht für
eine Traumdeutung ausgerüstet und müssen uns erst weitere Unter-
weisung und Vorbereitung holen.
VII. VORLESUNG
KINDERTRÄUME
Meine Damen und Herren! Wir stehen unter dem Eindrucke,
daß wir zu rasch vorgegangen sind. Greifen wir um ein Stück zu-
rück. Ehe wir den letzten Versuch unternahmen, die Schwierigkeit
der Traumentstellung durch unsere Technik zu bewältigen, hatten
wir uns gesagt, es wäre das Beste, sie zu umgehen, indem wir uns
an Träume halten, bei denen die Entstellung weggefallen oder sehr
geringfügig ausgefallen ist, wenn es solche gibt. Wir weichen dabei
wiederum von der Entwicklungsgeschichte unserer Erkenntnis ab,
denn in Wirklichkeit ist man erst nach konsequenter Anwendung
der Deutungstechnik und nach vollzogener Analyse der entstellten
Träume auf die Existenz solcher von Entstellung freier aufmerksam
geworden.
Die Träume, die wir suchen, finden sich bei Kindern. Sıe sind
kurz, klar, kohärent, leicht zu verstehen, unzweideutig und doch un-
zweifelhafte Träume. Glauben Sie aber nicht, daß alle Träume von
Kindern dieser Art sind. Auch die Traumentstellung setzt sehr früh
ım Kindesalter ein, und es sind Träume von fünf- bis achtjährigen
Kindern verzeichnet worden, die bereits alle Charaktere der späteren
an sich tragen. Wenn Sie sich aber auf das Alter vom Beginn der
kenntlichen seelischen Tätigkeit bis zum vierten oder fünften Jahr
beschränken, werden Sie eine Reihe von Träumen aufbringen, die
den infantil zu nennenden Charakter haben, und dann in späteren
VIII. Kinderträume 125
Kinderjahren einzelne derselben Art finden können. Ja auch bei er-
wachsenen Personen fallen unter gewissen Bedingungen Träume
vor, die ganz den typisch infantilen gleichen.
An diesen Kinderträumen können wir nun mit großer Leichtig-
keit und Sicherheit Aufschlüsse über das Wesen des Traumes ge-
winnen, von denen wir hoffen wollen, daß sie sich als entscheidend
und allgemein gültig erweisen werden.
ı. Man bedarf zum Verständnis dieser Träume keiner Analyse,
keiner Anwendung einer Technik. Man braucht das Kind, welches
seinen Traum erzählt, nicht zu befragen. Aber man muß ein Stück
Erzählung aus dem Leben des Kindes dazu geben. Es gibt jedesmal
ein Erlebnis vom Tage vorher, welches uns den Traum erklärt. Der
Traum ist die Reaktion des Seelenlebens im Schlafe auf dieses Er-
lebnis des Tages.
Wir wollen uns einige Beispiele anhören, um unsere weiteren
Schlüsse an sie anzulehnen.
a) Ein Knabe von 22 Monaten soll als Gratulant einen Korb mit
Kirschen verschenken. Er tut es offenbar sehr ungern, obwohl man
ihm verspricht, daß er einige davon selbst bekommen wird. Am
nächsten Morgen erzählt er als seinen Traum: He(r)mann alle Kır-
schen aufgessen.
b) Ein Mädchen von 3'/, Jahren wird zum erstenmal über den
See gefahren. Beim Aussteigen will sie das Boot nicht verlassen und
weint bitterlich. Die Zeit der Seefahrt scheint ihr zu rasch vergangen
zu sein. Am nächsten Morgen: Heute nachts bin ich auf dem See
gefahren. Wir dürfen wohl ergänzen, daß diese Fahrt länger ange-
dauert hat.
c) Ein 5'/,jähriger Knabe wird auf einen Ausflug ins Eschern-
tal bei Hallstatt mitgenommen. Er hatte gehört, Hallstatt liege am
Fuße des Dachsteins. Für diesen Berg hatte er viel Interesse be-
zeugt. Von der Wohnung in Aussee war der Dachstein schön zu
sehen und mit dem Fernrohr konnte man die Simonyhütte auf
demselben ausnehmen. Das Kind hatte sich wiederholt bemüht, sie
126 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
durchs Fernrohr zu erblicken; es war unbekannt geblieben, mit
welchem Erfolge. Der Ausflug begann in erwartungsvoll heiterer
Stimmung. So oft ein neuer Berg in Sicht kam, fragte der Knabe:
Ist das der Dachstein? Er wurde immer mehr verstimmt, je öfter
man ihm diese Frage verneint hatte, verstummte später ganz und
wollte einen kleinen Steig zum Wasserfall nicht mitmachen. Man
hielt ihn für übermüdet, aber am nächsten Morgen erzählte er
ganz selig: Heute nachts habe ich geträumt, daß wir auf der
Simonyhütte gewesen sind. In dieser Erwartung hatte er sich also
an dem Ausflug beteiligt. Von Einzelheiten gab er nur an, was
er vorher gehört hatte: Man geht sechs Stunden lang auf Stufen
hinauf.
Diese drei Träume werden für alle gewünschten Auskünfte hin-
reichen.
2. Wir sehen, diese Kinderträume sind nicht sinnlos; es sind ver-
ständliche, vollgültige, seelische Akte. Erinnern Sie sich an
das, was ich Ihnen als das medizinische Urteil über den Traum vor-
gestellt habe, an das Gleichnis von den musikunkundigen Fingern,
die über die Tasten des Klaviers hinfahren. Es wird Ihnen nicht
entgehen, wie scharf sich diese Kinderträume dieser Auffassung
widersetzen. Es wäre aber auch zu sonderbar, wenn gerade das
Kind im Schlafe volle seelische Leistungen zustande brächte, wo
sich der Erwachsene im gleichen Falle mit zuckungsartigen Reak-
tionen begnügt. Wir haben auch allen Grund, dem Kinde den
besseren und tieferen Schlaf zuzutrauen.
3. Diese Träume entbehren der Traumentstellung; bedürfen
darum auch keiner Deutungsarbeit. Manifester und latenter Traum
fallen hier zusammen. Die Traumentstellung gehört also
nicht zum Wesen des Traumes. Ich darf annehmen, daß
Ihnen damit ein Stein vom Herzen fällt. Aber ein Stückchen
Traumentstellung, eine gewisse Differenz zwischen dem manifesten
Trauminhalt und den latenten Traumgedanken werden wir bei
näherer Überlegung auch diesen Träumen zugestehen.
VIII. Kinderträume 127
' 4. Der Kindertraum ist die Reaktion auf ein Erlebnis des Tages,
welches ein Bedauern, eine Sehnsucht, einen unerledigten Wunsch
zurückgelassen hat. Der Traum bringt die direkte, unver-
hüllte Erfüllung dieses Wunsches. Denken Sie nun an
unsere Erörterungen über die Rolle körperlicher Reize von außen
oder von innen als Schlafstörer und Anreger der Träume. Wir sind
mit ganz sicheren "Tatsachen darüber bekannt geworden, konnten
uns aber nur eine kleine Anzahl von Träumen auf solche Art er-
klären. In diesen Kinderträumen deutet nichts auf die Einwirkung
solcher somatischer Reize; wir können darin nicht irre gehen, denn
die Träume sind voll verständlich und leicht zu übersehen. Aber
darum brauchen wir die Reizätiologie des Traumes nicht aufzugeben.
Wir können nur fragen, warum haben wir von Anfang an vergessen,
daß es außer den körperlichen auch seelische schlafstörende Reize
gibt? Wir wissen doch, daß es diese Erregungen sind, welche die
Schlafstörung der Erwachsenen zumeist verschulden, indem sie ihn
daran verhindern, die seelische Verfassung des Einschlafens, die Ab-
ziehung des Interesses von der Welt, bei sich herzustellen. Er
möchte das Leben nicht unterbrechen, sondern lieber die Arbeit an
den Dingen, die ihn beschäftigen, fortsetzen, und darum schläft er
nicht. Ein solcher seelischer, den Schlaf störender Reiz ist also für
das Kind der unerledigte Wunsch, auf welchen es mit dem Traum
reagiert.
5. Von hier erhalten wir auf dem kürzesten Wege Aufschluß über
die Funktion des Traumes. Der Traum als Reaktion auf den psychi-
schen Reiz muß den Wert einer Erledigung dieses Reizes haben, so
daß er beseitigt ist und der Schlaf fortgesetzt werden kann. Wie
diese Erledigung durch den Traum dynamisch ermöglicht wird,
wissen wir noch nicht, aber wir merken bereits, daß der Traum
nicht der Schlafstörer ist, als den man ihn schilt, sondern
der Schlafhüter, der Beseitiger von Schlafstörungen.
Wir finden zwar, wir hätten besser geschlafen, wenn nicht der
Traum gewesen wäre, aber wir haben unrecht; in Wirklichkeit
128 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
hätten wir ohne die Hilfe des Traumes überhaupt nicht geschlafen.
Es ist sein Verdienst, daß wir soweit gut geschlafen haben. Er konnte
es nicht vermeiden, uns etwas zu stören, sowie der Nachtwächter oft
nicht umhin kann, einigen Lärm zu machen, während er die Ruhe-
störer verjagt, die uns durch den Lärm wecken wollen.
6. Daß ein Wunsch der Erreger des Traumes ist, die Erfüllung
dieses Wunsches der Inhalt des Traumes, das ist der eine Haupt-
charakter des Traumes. Der andere ebenso konstante ist, daß der
Traum nicht einfach einen Gedanken zum Ausdruck bringt, sondern
als halluzinatorisches Erlebnis diesen Wunsch als erfüllt darstellt.
Ich möchte auf dem See fahren, lautet der Wunsch, der den
Traum anregt; der Traum selbst hat zum Inhalt: ich fahre auf
dem See. Ein Unterschied zwischen latentem und manifestem
Traum, eine Entstellung des latenten Traumgedankens bleibt also
auch für diese einfachen Kinderträume bestehen, die Umsetzung
des Gedankens in Erlebnis. Bei der Deutung des Traumes
muß vor allem dieses Stück Veränderung rückgängig gemacht
werden. Wenn sich dies als ein allgemeinster Charakter des Traumes
herausstellen sollte, dann ist das vorhin mitgeteilte Traumfragment
„ich sehe meinen Bruder in einem Kasten“ also nicht zu
übersetzen „mein Bruder schränkt sich ein“, sondern „ich möchte,
daß mein Bruder sich einschränke, mein Bruder soll sich ein-
schränken“. Von den beiden hier aufgeführten allgemeinen
Charakteren des Traumes hat offenbar der zweite mehr Aussicht auf
Anerkennung ohne Widerspruch als der erstere. Wir werden eıst
durch weitausgreifende Untersuchungen sicherstellen können, daß
der Erreger des 'Traumes immer ein Wunsch sein muß, und nicht
auch eine Besorgnis, ein Vorsatz oder Vorwurf sein kann, aber davon
wird der andere Charakter unberührt bleiben, daß der Traum diesen
Reiz nicht einfach wiedergibt, sondern ihn durch eine Art von Er-
leben aufhebt, beseitigt, erledigt.
7. In Anknüpfung an diese Charaktere des Traumes können wir
auch die Vergleichung des Traumes mit der F ehlleistung wieder auf
VIII. Kinderträume 129
nehmen. Bei letzterer unterscheiden wir eine störende Tendenz und
eine gestörte, und die Fehlleistung war ein Kompromiß zwischen
beiden. In dasselbe Schema fügt sich auch der Traum. Die gestörte
Tendenz kann bei ihm keine andere sein als die zu schlafen. Die
störende ersetzen wir durch den psychischen Reiz, sagen wir also
durch den Wunsch, der auf seine Erledigung dringt, weil wir bisher
keinen anderen schlafstörenden seelischen Reiz kennen gelernt haben.
Der Traum ist auch hier ein Kompromißergebnis. Man schläft, aber
man erlebt doch die Aufhebung eines Wunsches; man befriedigt einen
Wunsch, setzt dabei aber den Schlaf fort. Beides ist zum Teil durch-
gesetzt und zum Teil aufgegeben.
8. Erinnern Sie sich, wir erhofften uns einmal einen Zugang zum
Verständnis der Traumprobleme aus der Tatsache, daß gewisse für
uns sehr durchsichtige Phantasiebildungen „Tagträume“ genannt
werden. Diese Tagträume sind nun wirklich Wunscherfüllungen,
Erfüllungen von ehrgeizigen und erotischen Wünschen, die uns wohl-
bekannt sind, aber es sind gedachte, wenn auch lebhaft vorgestellte,
niemals halluzinatorisch erlebte. Von den beiden Hauptcharakteren
des T'’raumes wird also hier der minder gesicherte festgehalten, wäh-
rend der andere als vom Schlafzustand abhängig und im Wachleben
nicht realisierbar ganz entfällt. Im Sprachgebrauch liegt also eine
Ahnung davon, daß die Wunscherfüllung ein Hauptcharakter des
Traumes ist. Nebenbei, wenn das Erleben im Traum nur ein durch
die Bedingungen des Schlafzustandes ermöglichtes, umgewandeltes
Vorstellen, also ein „nächtliches Tagträumen“ ist, so verstehen wir
bereits, daß der Vorgang der Traumbildung den nächtlichen Reiz
aufheben und Befriedigung bringen kann, denn auch das Tagträumen
ist eine mit Befriedigung verbundene Tätigkeit und wird ja nur dieser
wegen gepflegt.
Aber nicht nur dieser, auch anderer Sprachgebrauch äußert sich
in demselben Sinne. Bekannte Sprichwörter sagen: das Schwein
träumt von Eicheln, die Gans vom Mais; oder fragen: wovon träumt
das Huhn? von Hirse. Das Sprichwort steigt also noch weiter hinab
Freud, VII 9
130 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
als wir, vom Kind zum Tier, und behauptet, der Inhalt des Traumes
sei die Befriedigung eines Bedürfnisses. So viele Redewendungen
scheinen dasselbe anzudeuten wie: „traumhaft schön“, „das wäre mir
im Traum nicht eingefallen“, „das habe ich mir in meinen kühnsten
Träumen nicht vorgestellt“. Es liegt da eine offenbare Parteinahme
des Sprachgebrauchs vor. Es gibt ja auch Angstträume und Träume
mit peinlichem oder indifferentem Inhalt, aber sie haben den Sprach-
gebrauch nicht angeregt. Er kennt zwar „böse“ Träume, aber der
Traum schlechtweg ist ihm doch nur die holde Wunscherfüllung.
Es gibt auch kein Sprichwort, das uns versichern würde, das Schwein
oder die Gans träumen vom Geschlachtetwerden.
Es ist natürlich undenkbar, daB der wunscherfüllende Charakter
des Traumes von den Autoren über den Traum nicht bemerkt worden
wäre, Dies ist vielmehr sehr oft der Fall gewesen, aber es ist keinem
von ihnen eingefallen, diesen Charakter als allgemeinen anzuerkennen
und zum Angelpunkt der Traumerklärung zu nehmen. Wir können
uns wohl denken und werden auch darauf eingehen, was sie davon
abgehalten haben mag.
Sehen Sie nun aber, welche Fülle von Aufklärungen wir aus der
Würdigung der Kinderträume gewonnen haben, und dies fast mühe-
los! Die Funktion des Traumes als Hüter des Schlafes, seine Ent-
stehung aus zwei konkurrierenden Tendenzen, von denen die eine
konstant bleibt, das Schlafverlangen, die andere einen psychischen
Reiz zu befriedigen strebt, der Beweis, das der Traum ein sinnreicher,
psychischer Akt ist, seine beiden Hauptcharaktere: Wunscherfüllung
und halluzinatorisches Erleben. Und dabei konnten wir fast vergessen,
daß wir Psychoanalyse treiben. Außer der Anknüpfung an die Fehl-
leistungen hatte unsere Arbeit kein spezifisches Gepräge. Jeder Psycho-
loge, der von den Voraussetzungen der Psychoanalyse nichts weiß,
hätte diese Aufklärung der Kinderträume geben können. Warum
hat es keiner getan?
Gäbe es nur solche Träume wie die intantilen, so wäre das Problem
gelöst, unsere Aufgabe erledigt, und zwar ohne den Träumer aus-
VIII. Kindertraume 131
zufragen, ohne das Unbewußte heranzuziehen, und ohne die freie
Assoziation in Anspruch zu nehmen. Nun hier liegt offenbar die
Fortsetzung unserer Aufgabe. Wir haben schon wiederholt die Er-
fahrung gemacht, daß Charaktere, die für allgemein gültig ausgegeben
waren, sich dann nur für eine gewisse Art und Anzahl von Träumen
bestätigt haben. Es handelt sich also für uns darum, ob die aus den
Kinderträumen erschlossenen allgemeinen Charaktere haltbarer sind,
ob sie auch für jene Träume gelten, die nicht durchsichtig sind, deren
manifester Inhalt keine Beziehung zu einem erübrigten Tageswunsch
erkennen läßt. Wir haben die Auffassung, daß diese anderen Träume
eine weitgehende Entstellung erfahren haben und darum zunächst
nicht zu beurteilen sind. Wir ahnen auch, zur Aufklärung dieser
Entstellung werden wir der psychoanalytischen Technik bedürfen,
die wir für das eben gewonnene Verständnis der Kinderträume ent-
behren konnten. |
Es gibt jedenfalls noch eine Klasse von Träumen, die unentstellt
sind und sich wie die Kinderträume leicht als Wunscherfüllungen
erkennen lassen. Es sind jene, die das ganze Leben hindurch durch
dieimperativen Körperbedürfnisse hervorgerufen werden, den Hunger,
den Durst, das Sexualbedürfnis, also Wunscherfüllungen als Reak-
tionen auf innere Körperreize. So habe ich von einem ı9 Monate
alten Mädchen einen Traum notiert, der aus einem Menü unter Hin-
zufügung ihres Namens bestand (Anna F...., Er(d)beer, Hochbeer,
Eier(s)peis, Papp) als Reaktion auf einen Hungertag wegen gestörter
Verdauung, welche Erkrankung gerade auf die im Traum zweimal
auftretende Frucht zurückgeführt worden war. Gleichzeitig mußte
auch die Großmutter, deren Alter das der Enkelin eben zu siebzig
ergänzte, infolge der Unruhe ihrer Wanderniere einen Tag lang
fasten, und sie träumte in derselben Nacht, daß sie ausgebeten (zu
Gaste) sei und die besten Leckerbissen vorgesetzt erhalte. Beobach-
tungen an Gefangenen, die man hungern läßt, und an Personen, die
auf Reisen und Expeditionen Entbehrungen zu ertragen haben, lehren,
daß unter diesen Bedingungen regelmäßig von der Befriedigung dieser
9*
132 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Bedürfnisse geträumt wird. So berichtet Otto Nordenskjöld im
seinem Buche „Antarctic“ (1904) über die mit ihm überwinterte
Mannschaft (Bd. I, p. 336): „Sehr bezeichnend für die Richtung unserer
innersten Gedanken waren unsere Träume, die nie lebhafter und
zahlreicher waren als gerade jetzt. Selbst diejenigen unserer Kame-
raden, die sonst nur ausnahmsweise träumten, hatten jetzt des Morgens,
wenn wir unsere letzten Erfahrungen aus dieser Phantasiewelt mit-
einander austauschten, lange Geschichten zu erzählen. Alle handelten
sie von jener äußeren Welt, die uns jetzt so fern lag, waren aber oft
unseren jetzigen Verhältnissen angepaßt ... Essen und Trinken
waren übrigens die Mittelpunkte, um die sich unsere Träume am
häufigsten drehten. Einer von uns, der nächtlicherweise darin exzel-
lierte, auf große Mittagsgesellschaften zu gehen, war seelenfroh, wenn
er des Morgens berichten konnte, ‚daß er ein Diner von drei Gängen
eingenommen habe‘; ein anderer träumte von Tabak, von ganzen
Bergen Tabak; wieder andere von dem Schiff, das mit vollen Segeln
auf dem offenen Wasser daherkam. Noch ein anderer Traum verdient
der Erwähnung: Der Briefträger kommt mit der Post und gibt eine
lange Erklärung, warum diese so lange habe auf sich warten lassen,
er habe sie verkehrt abgeliefert und erst nach großer Mühe sei es
ihm gelungen, sie wieder zu erlangen. Natürlich beschäftigte man
sich im Schlaf mit noch unmöglicheren Dingen, aber der Mangel an
Phantasie in fast allen Träumen, die ich selbst träumte oder erzählen
hörte, war ganz auffallend. Es würde sicher von großem psycholo-
gischen Interesse sein, wenn alle diese Träume aufgezeichnet würden.
Man wird aber leicht verstehen können, wie ersehnt der Schlaf war,
da er uns alles bieten konnte, was ein jeder von uns am glühendsten
begehrte.“ Nach Du Prel zitiere ich noch: „Mungo Park, auf einer
Reise in Afrika dem Verschmachten nahe, träumte ohne Aufhören
von wasserreichen Tälern und Auen seiner Heimat. So sah sich auch
der von Hunger gequälte Trenck in der Sternschanze zu Magde-
burg von üppigen Mahlzeiten umgeben, und George Back, Teil-
nehmer der ersten Expedition F ranklins, als er infolge furchtbarer
VIII. Kinderträume 133
Entbehrungen dem Hungertode nahe war, träumte stets und gleich-
mäßig von reichen Mahlzeiten.“
Wer sich durch den Genuß scharf gewürzter Speisen zur Abend-
mahlzeit nächtlichen Durst erzeugt, der träumt dann leicht, daß er
trinke. Es ist natürlich unmöglich, ein stärkeres Eß- oder Trinkbe-
dürfnis durch den Traum zu erledigen; man wacht aus solchen Träumen
durstig aufund muß nun reales Wasser zu sich nehmen. Die Leistung
des Traumes ist in diesem Falle praktisch geringfügig, aber es ist
nicht minder klar, daß sie zu dem Zweck aufgeboten wurde, den
Schlaf gegen den zum Erwachen und zur Handlung drängenden
Reiz festzuhalten. Über geringere Intensitäten dieser Bedürfnisse helfen
die Befriedigungsträume oftmals hinweg.
Ebenso schafft der Traum unter dem Einfluß der Sexualreize Be-
friedigungen, die aber erwähnenswerte Besonderheiten zeigen. Infolge
der Eigenschaft des Sexualtriebs, von seinem Objekt um einen Grad
weniger abhängig zu sein als Hunger und Durst, kann die Befrie-
digung im Pollutionstraum eine reale sein, und infolge gewisser
später zu erwähnender Schwierigkeiten in der Beziehung zum Objekt
kommt es besonders häufig vor, daß sich die reale Befriedigung doch
mit einem undeutlichen oder entstellten Trauminhalt verbindet. Diese
Eigentümlichkeit der Pollutionsträume macht sie, wie OÖ. Rank be-
merkt hat, zu günstigen Objekten für das Studium der Traument-
stellung. Alle Bedürfnisträume Erwachsener pflegen übrigens außer
der Befriedigung noch anderes zu enthalten, was rein psychischen
Reizquellen entstammt und zu seinem Verständnis der Deutung
bedarf.
Wir wollen übrigens nicht behaupten, daß die nach infantiler Art
gebildeten Wunscherfüllungsträume der Erwachsenen nur als Reak-
tionen auf die genannten imperativen Bedürfnisse vorkommen. Wir
kennen ebensowohl kurze und klare Träume dieser Art unter dem
Einfluß gewisser dominierender Situationen, die aus unzweifelhaft
psychischen Reizquellen herrühren. So z.B. die Ungeduldsträume,
wenn jemand die Vorbereitungen zu einer Reise, zu einer für ıhn
134 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
bedeutsamen Schaustellung, zu einem Vortrag, Besuch getroffen hat
und nun die verfrühte Erfüllung seiner Erwartung träumt, sich
also in der Nacht vor dem Erlebnis an seinem Ziel angekommen
im Theater, im Gespräch mit dem Besuchten sieht. Oder, die mit
Recht so genannten Bequemlichkeitsträume, wenn jemand, der gerne
den Schlaf verlängert, träumt, daß er bereits aufgestanden ist, sich
_ wäscht, oder sich in der Schule befindet, während er in Wirklichkeit
weiterschläft, also lieber im Traum aufsteht als in Wirklichkeit. Der
Wunsch zu schlafen, den wir als regelmäßig an der Traumbildung
beteiligt erkannt haben, wird in diesen Träumen laut und zeigt sich
in ihnen als der wesentliche Traumbildner. Das Bedürfnis zu schlafen
stellt sich mit gutem Recht den anderen großen körperlichen Be-
dürfnissen zur Seite.
Ich zeigeIhnen hier an der Reproduktion eines Schwindschen Bil-
des aus der Schack galerie in München, wie richtig der Maler die Ent-
stehung eines Traumes aus einer dominierenden Situation erfaßt hat.'
Es ist der „Traum eines Gefangenen“, der nichts anderes als seine
Befreiung zum Inhalt haben kann. Es ist sehr hübsch, daß die Be-
freiung durch das Fenster erfolgen soll, denn durch das Fenster ist
der Lichtreiz eingedrungen, der dem Schlaf des Gefangenen ein Ende
macht. Die übereinander stehenden Gnomen repräsentieren wohl die
eigenen sukzessiven Stellungen, die er beim Emporklettern zur Höhe
des Fensters einzunehmen hätte, und irre ich nicht, lege ich dem
Künstler dabei nicht zuviel Absichtlichkeit unter, so trägt der oberste
der Gnomen, welcher das Gitter durchsägt, also das tut, was der Ge-
fangene selbst möchte, die nämlichen Züge wie er selbst.
Bei allen anderen Träumen außer den Kinderträumen und denen
von infantilem Typus tritt uns, wie gesagt, die Traumentstellung
hindernd in den Weg. Wir können zunächst nicht sagen, ob auch sie
Wunscherfüllungen sind, wie wir vermuten; wir erraten aus ihrem
manifesten Inhalt nicht, welchem psychischen Reiz sieihren Ursprung
verdanken, und wir können nicht erweisen, daß sie sich gleichfalls
ET TEST EST EEE:
VIII. Kinderträume 135
um die Wegschaffung oder Erledigung dieses Reizes bemühen. Sie
müssen wohl gedeutet, d. h. übersetzt werden, ihre Entstellung rück-
gängig gemacht, ihr manifester Inhalt durch den latenten ersetzt,
ehe wir ein Urteil darüber fällen können, ob das an den infantilen
Träumen gefundene für alle Träume Gültigkeit beanspruchen darf.
IX. VORLESUNG
DIE TRAUMZENSUR
Meine Damen und Herren! Entstehung, Wesen und Funktion des
Traumes haben wir aus dem Studium der Kinderträume kennen ge-
lernt. Die Träume sind Beseitigungen schlafstörender
(psychischer) Reize aufdem Wege der halluzinierten
Befriedigung. Von den Träumen der Erwachsenen haben wir
allerdings nur eine Gruppe aufklären können, jene, die wir als Träume
von infantilem Typus bezeichnet haben. Was es mit den anderen ist,
wissen wir noch nicht, aber wir verstehen sie auch nicht. Wir haben
vorläufig ein Resultat gewonnen, dessen Bedeutung wir nicht unter-
schätzen wollen. Jedesmal, wenn uns ein Traum voll verständlich ist,
erweister sich als einehalluzinierte Wunscherfüllung. DiesZusammen-
treffen kann nicht zufällig und nicht gleichgültig sein.
Von einem Traum anderer Art nehmen wir auf Grund verschie-
dener Überlegungen und in Analogie zur Auffassung der Fehlleistun-
gen an, daß er ein entstellter Ersatz für einen unbekannten Inhalt
ist und erst auf diesen zurückgeführt werden muß. Die Untersuchung,
das Verständnis dieser Traumentstellung ist nun unsere nächste
Aufgabe.
Die Traumentstellung ist dasjenige, was uns den Traum fremd-
artig und unverständlich erscheinen läßt. Wir wollen mehrerlei von
ihr wissen: erstens, wovon sie herrührt, ihren Dynamismus, zweitens,
was sie macht, und endlich, wie sie es macht. Wir können auch
IX. Die Traumzensur 137
sagen, die Traumentstellung ist das Werk der Traumarbeit. Wir
wollen die Traumarbeit beschreiben und auf die in ihr wirkenden
Kräfte zurückführen.
Und nun hören Sie folgenden Traum an. Er ist von einer Dame
unseres Kreises’ verzeichnet worden, stammt nach ihrer Auskunft
von einer hochangesehenen, feingebildeten älteren Dame her. Eine
Analyse dieses Traumes ist nicht angestellt worden. Unsere Refe-
rentin bemerkt, daß es für Psychoanalytiker keiner Deutung be-
dürfe. Die Träumerin selbst hat ihn auch nicht gedeutet, aber sie
hat ihn beurteilt und so verurteilt, als ob sie ihn zu deuten verstünde.
Denn sie äußerte über ihn: Und solches abscheuliche, dumme Zeug
träumt einer Frau von 50 Jahren, die Tag und Nacht keinen anderen
Gedanken hat als die Sorge um ıhr Kind!
Und nun der Traum von den „Liebesdiensten“. „Sie geht
ıns Garnisonsspital Nr. I und sagt dem Posten beim Tor, sie müsse
den Oberarzt .... (sie nennt einen ihr unbekannten Namen) sprechen,
da sie im Spitale Dienst tun wolle. Dabei betont sie das Wort ‚Dienst‘
so, daß der Unteroffizier sofort merkt, es handle sich um „Liebes‘-
dienste. Da sie eine alte Frau ıst, läßt er sie nach einigem Zögern
passieren. Statt aber zum Oberarzt zu kommen, gelangt sie in ein
großes, düsteres Zimmer, in dem viele Offiziere und Miltärärzte an
einem langen Tisch stehen und sitzen. Sie wendet sich mit ihrem An-
irag an einen Stabsarzt, der sie nach wenigen Worten schon versteht.
‚ Der Wortlaut ihrer Rede im Traum ist: ‚Ich und zahlreiche andere
Frauen und junge Mädchen Wiens sind bereit, den Soldaten, Mann-
schaft und Offiziere ohne Unterschied,.... Hier folgt im Traum ein
Gemurmel. Daß dasselbe aber von allen Anwesenden richtig verstanden
wird, zeigen ihr die teils verlegenen, teils hämischen Mienen der Offi-
ziere. Die Dame fährt fort: ‚Ich weiß, daß unser Entschluß be-
Jremdend klingt, aber es ist uns bitterernst. Der Soldat im Feld wird
auch nıcht gefragt, ob er sterben will oder nicht“ Ein minutenlanges
peinliches Schweigen folgt. Der Stabsarzt legt ihr den Arm um die
_ 1) Frau Dr. von Hug-Hellmuth 00 mn
138 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Mitte und sagt: ‚Gnädige Frau, nehmen sie den Fall, es würde tat-
sächlich dazu kommen, ... .“ (Gemurmel). Sie entzieht sich seinem Arm
mit dem Gedanken: Es ist doch einer wie der andere, und erwidert:
‚Mein Gott, ich bin eine alte Frau und werde vielleicht gar nicht ın
die Lage kommen. Übrigens eine Bedingung müßte eingehalten werden:
die Berücksichtigung des Alters; daß nicht eine ältere Frau einem
ganz jungen Burschen .... (Gemurmel); das wäre entsetzlich“ —
Der Stabsarzt: ‚Ich verstehe vollkommen‘ Einige Offiziere, darunter
einer, der sich in jungen Jahren um sie beworben hatte, lachen hell
auf, und die Dame wünscht zu dem ihr bekannten Oberarzt geführt
zu werden, damit alles ins reine gebracht werde. Dabei fällt ıhr zur
größten Bestürzung ein, daß sie seinen Namen nicht kennt. Der
Stabsarzt weist sie trotzdem sehr höflich und respektvoll an, über
eine sehr schmale eiserne Wendeltreppe, die direkt von dem Zimmer
aus in die oberen Stockwerke führt, in den zweiten Stock zu gehen.
Im Hinaufsteigen hört sie einen Offizier sagen: ‚Das ıst ein kolossaler
Entschluß, gleichgültig, ob eine jung oder alt ist; alle Achtung!“
Mit dem Gefühle, einfach ihre Pflicht zu Kid geht sie eine end-
lose Treppe hinauf.
Dieser Traum wiederholt sich innerhalb weniger Wochen noch
zweimal mit — wie die Dame bemerkt — ganz unbedeutenden
und recht sinnlosen Abänderungen.“
Der "Traum entspricht in seinem Fortlauf einer Tagesphantasie;
er hat nur wenige Bruchstellen, und manche Einzelheit in seinem
Inhalt hätte durch Erkundigung geklärt werden können, was, wie
Sie wissen, unterblieben ist. Das Auffällige und für uns Interessante
ist aber, daß der Traum mehrere Lücken zeigt, Lücken, nicht der
Erinnerung, sondern des Inhaltes. An drei Stellen ist der Inhalt wie
ausgelöscht; die Reden, in denen diese Lücken angebracht sind, wer-
den durch ein Gemurmel unterbrochen. Da wir keine Analyse an-
gestellt haben, steht uns strenge genommen auch kein Recht zu, etwas
über den Sinn des Traumes zu äußern. Allein es sind Andeutungen
gegeben, aus denen sich etwas folgern läßt, z. B. im Worte „Liebes-
IX. Die Traumzensur 139
dienste“, und vor allem nötigen die Stücke der Reden, welche dm
Gemurmel unmittelbar vorhergehen, zu Ergänzungen, welche nicht
anders als eindeutig ausfallen können. Setzen wir diese ein, so er-
gibt sich eine Phantasie des Inhalts, daß die Träumerin bereit ist, in
Erfüllung einer patriotischen Pflicht, ihre Person zur Befriedigung
der Liebesbedürfnisse des Militärs, Offiziere wie Mannschaft, zur Ver-
fügung zu stellen. Das ist gewiß höchst anstößig, ein Muster einer
frech libıdinösen Phantasie, aber — es kommt im Traume gar nicht
vor. Gerade dort, wo der Zusammenhang dieses Bekenntnis fordern
würde, findet sich im manifesten Traume ein undeutliches Gemurmel,
ist etwas verloren gegangen oder unterdrückt worden.
Ich hoffe, Sie erkennen es als naheliegend, daß eben die Anstößig-
keit dieser Stellen das Motiv zu ihrer Unterdrückung war. Wo finden
Sie aber eine Parallele zu diesem Vorkommnis? Sie brauchen in un-
seren Tagen nicht weit zu suchen. Nehmen Sie irgend eine politische
Zeitung zur Hand, Sie werden finden, daß von Stelle zu Stelle der
Text weggeblieben ist und an seiner Statt die Weiße des Papiers
schimmert. Sie wissen, das ist das Werk der Zeitungszensur. An
diesen leer gewordenen Stellen stand etwas, was der hohen Zensur-
behörde miBliebig war, und darum wurde es entfernt. Sie meinen,
es ıst schade darum, es wird wohl das Interessanteste gewesen sein,
es war „die beste Stelle“.
Andere Male hat die Zensur nicht auf den fertigen Satz gewirkt.
Der Autor hat vorhergesehen, welche Stellen die Beanständung, durch
die Zensur zu erwarten haben, und hat sie darum vorbeugend ge-
mildert, leicht modifiziert, oder sich mit Annäherungen und An-
spielungen an das, was ihm eigentlich aus der Feder fließen wollte,
begnügt. Dann hat auch das Blatt keine leeren Stellen, aber aus ge-
wissen Umschweifen und Dunkelheiten des Ausdrucks werden Sie die
im vorhinein geübte Rücksicht auf die Zensur erraten können.
Nun wir halten diese Parallele fest. Wir sagen, auch die ausge-
lassenen, durch ein Gemurmel verhüllten Traumreden sind einer
Zensur zum Opfer gebracht worden. Wir sprechen direkt von einer
140 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Traumzensur, der ein Stück Anteil an der Traumentstellung zu-
zuschreiben ist. Überall, wo Lücken im manifesten Traum sind,
hat die Traumzensur sie verschuldet. Wir sollten auch weitergehen
und eine Äußerung der Zensur jedesmal dort erkennen, wo ein Traum-
element besonders schwach, unbestimmt und zweifelhaft, unter an-
deren deutlicher ausgebildeten erinnert wird. Aber nur selten äußert
sich diese Zensur so unverhohlen, so naiv, möchte man sagen, wie
in dem Beispiel des Traumes von den „Liebesdiensten“. Weit öfter
bringt sich die Zensur nach dem zweiten T'ypus zur Geltung, durch
die Produktion von Abschwächungen, Annäherungen, Anspielungen
an Stelle des Eigentlichen.
Für eine dritte Wirkungsweise der Traumzensur weiß ich keine
Parallele aus dem Walten der Zeitungszensur; ich kann aber gerade
diese an dem einzigen bisher analysierten 'Traumbeispiel demon-
strieren. Sie erinnern sich an den "Traum von den „drei schlechten
Theaterkarten für ı fl. 30“. In den latenten Gedanken dieses Trau-
mes stand das Element „voreilig, zu früh“ im Vordergrunde. Es hieß:
Es war ein Unsinn, so früh zu heiraten, — es war auch unsinnig,
sich so früh Theaterkarten zu besorgen, — es war lächerlich von
der Schwägerin, ihr Geld so eilig auszugeben, um sich dafür einen
Schmuck zu. kaufen. Von diesem zentralen Element der Traumge-
danken ist nichts in den manifesten Traum übergegangen; hier ist
das Ins-Theater-Gehen und Karten-Bekommen in den Mittelpunkt
gerückt. Durch diese Verschiebung des Akzents, diese Umgruppie-
rung der Inhaltselemente, wird der manifeste Traum den latenten
Traumgedanken so unähnlich, daß niemand diese letzteren hinter
dem ersteren vermuten würde. Diese Akzentverschiebung ist ein
Hauptmittel der Traumentstellung und gibt dem Traum jene Fremd-
artigkeit, deren wegen ihn der Träumer selbst nicht als seine eigene
Produktion anerkennen möchte.
Auslassung, Modifikation, Umgruppierung des Materials sind also
die Wirkungen der Traumzensur und die Mittel der Traumentstel-
lung. Die Traumzensur selbst ist der Urheber oder einer der Urheber
IX. Die Traumzensur 141
der Traumentstellung, deren Untersuchung uns jetzt beschäftigt.
Modifikation und Umordnung sind wir auch gewohnt als „Ver-
schiebung“ zusammenzufassen.
Nach diesen Bemerkungen über die Wirkungen der Traumzensur
wenden wir uns nun ihrem Dynamismus zu. Ich hoffe, Sie nehmen
den Ausdruck nicht allzu anthropomorph und stellen sich unter dem
Traumzensor nicht ein kleines gestrenges Männlein oder einen Geist
vor, der in einem Gehirnkämmerlein wohnt und dort seines Amtes
waltet, aber auch nicht allzu lokalisatorisch, so daß Sie an ein „Ge-
hirnzentrum“ denken, von dem ein solcher zensurierender Einfluß
ausgeht, welcher mit der Beschädigung oder Entfernung dieses Zen-
trums aufgehoben wäre. Es ist vorläufig nichts weiter als ein gut
brauchbarer Terminus für eine dynamische Beziehung. Dieses Wort
hindert uns nicht zu fragen, von welchen Tendenzen solcher Einfluß
geübt wird und auf welche; wir werden auch nicht überrascht sein
zu erfahren, daß wir schon früher einmal auf die Traumzensur ge-
stoßen sind, vielleicht ohne sie zu erkennen.
Das ist nämlich wirklich der Fall gewesen. Erinnern Sie sich, daß
wir eine überraschende Erfahrung machten, als wir unsere Technik
der freien Assoziation anzuwenden begannen. Wir bekamen da zu
spüren, daß sich unseren Bemühungen, vom 'Traumelement zum un-
bewußten Element zu gelangen, dessen Ersatz es ist, ein Wider-
stand entgegenstellte. Dieser Widerstand, sagten wir, kann ver-
schieden groß sein, das eine Mal riesig, das andere Mal recht gering-
fügig. Im letzteren Falle brauchen wir für unsere Deutungsarbeit
nur wenige Zwischenglieder zu passieren; wenn er aber groß ist,
dann haben wir lange Assoziationsketten vom Element her zu durch-
messen, werden weit von diesem weggeführt und müssen unterwegs
alle die Schwierigkeiten überwinden, die sich als kritische Einwen-
dungen gegen den Einfall ausgeben. Was uns bei der Deutungsarbeit
als Widerstand entgegentritt, das müssen wir nun als Traumzensur
in die Traumarbeit eintragen. Der Deutungswiderstand ist nur die
Objektivierung der Traumzensur. Er beweist uns auch, daß die Kraft
142 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
der Zensur sich nicht damit erschöpft hat, die Traumentstellung
herbeizuführen, und seither erloschen ist, sondern, daß diese Zensur
als dauernde Institution mit der Absicht, die Entstellung aufrecht zu
halten, fortbesteht. Übrigens wie der Widerstand bei der Deutung
für jedes Element in seiner Stärke wechselte, so ist auch die durch
Zensur herbeigeführte Entstellung in demselben Traume für jedes
Element verschieden groß ausgefallen. Vergleicht man manifesten und
latenten Traum, so sieht man, einzelne latente Elemente sind völlig
eliminiert worden, andere mehr oder weniger modifiziert, und noch
andere sind unverändert, ja vielleicht verstärkt in den manifesten
Trauminhalt hinübergenommen worden.
Wir wollten aber untersuchen, welche Tendenzen die Zensur aus-
üben und gegen welche. Nun diese für das Verständnis des Traumes,
ja vielleicht des Menschenlebens, fundamentale Frage ist, wenn wir
die Reihe der zur Deutung gelangten "Träume überblicken, leicht
zu beantworten. Die Tendenzen, welche die Zensur ausüben, sind
solche, welche vom wachen Urteilen des Träumers anerkannt wer-
den, mit denen er sich einig fühlt. Seien Sie versichert, wenn Sie
eine korrekt durchgeführte Deutung eines eigenen Traumes ab-
lehnen, so tun Sie es aus denselben Motiven, mit denen die Traum-
zensur geübt, die Traumentstellung produziert und die Deutung not-
wendig gemacht wurde. Denken Sie an den Traum unserer 50-
jährigen Dame. Sie findet ihren Traum, ohne ihn gedeutet zu haben,
abscheulich, würde noch entrüsteter gewesen sein, wenn ihr Frau
Dr. v. Hug etwas von der unerläßlichen Deutung mitgeteilt hätte,
und eben dieser Verurteilung wegen haben sich in ihrem Traum die
anstößigsten Stellen durch ein Gemurmel ersetzt.
Die Tendenzen aber, gegen welche sich die Traumzensur richtet,
muß man zunächst vom Standpunkt dieser Instanz selbst beschreiben.
Dann kann man nur sagen, sie seien durchaus verwerflicher Natur,
anstöBig in ethischer, ästhetischer, sozialer Hinsicht, Dinge, an die
man gar nicht zu denken wagt oder nur mit Abscheu denkt. Vor
allem sind diese zensurierten und im Traum zu einem entstellten
IX. Die Traumzensur 143
Ausdruck gelangten Wünsche Äußerungen eines schranken- und
rücksichtslosen Egoismus. Und zwar kommt das eigene Ich in jedem
Traum vor und spielt in jedem die Hauptrolle, auch wenn es sich
für den manifesten Inhalt gut zu verbergen weiß. Dieser „sacro
egoismo“ des Traumes ist gewiß nicht außer Zusammenhang mit
der Einstellung zum Schlafen, die ja in der Abziehung des Interesses
von der ganzen Außenwelt besteht.
Das aller ethischen Fesseln entledigte Ich weiß sich auch einig mit
allen Ansprüchen des Sexualstrebens, solchen, die längst von unserer
ästhetischen Erziehung verurteilt worden sind, und solchen, die allen
' sittlichen Beschränkungsforderungen widersprechen. Das Lustbe-
streben — die Libido, wie wir sagen — wählt seine Objekte hem-
mungslos, und zwar die verbotenen am liebsten. Nicht nur das Weib
des anderen, sondern vor allem inzestuöse, durch menschliche Über-
einkunft geheiligte Objekte, die Mutter und die Schwester beim
Manne, den Vater und den Bruder beim Weibe. (Auch der Traum
unserer 5ojährigen Dame ist ein inzestuöser, seine Libido unver-
kennbar auf den Sohn gerichtet.) Gelüste, die wir ferne von der
menschlichen Natur glauben, zeigen sich stark genug, Träume zu
erregen. Auch der Haß tobt sich schrankenlos aus. Rache- und Todes-
wünsche gegen die nächststehenden, im Leben geliebtesten Personen,
die Eltern, Geschwister, den Ehepartner, die eigenen Kinder sind
nichts Ungewöhnliches. Diese zensurierten Wünsche scheinen aus
einer wahren Hölle aufzusteigen; keine Zensur scheint uns nach der
Deutung im Wachen hart genug gegen sie zu sein.
Machen Sie aber aus diesem bösen Inhalt dem Traum selbst keinen
Vorwurf. Sie vergessen doch nicht, daß er die harmlose, ja nützliche
Funktion hat, den Schlaf vor Störung zu bewahren. Solche Schlechtig-
keit liegt nicht im Wesen des Traumes. Sie wissen ja auch, daß es
Träume gibt, die sich als Befriedigung berechtigter Wünsche und
dringender körperlicher Bedürfnisse erkennen lassen. Diese haben
allerdings keine 'Traumentstellung; sie brauchen sie aber auch nicht,
sie können ihrer Funktion genügen, ohne die ethischen und ästheti-
144 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
schen Tendenzen des Ichs zu beleidigen. Auch halten Sie sich vor,
daß die Traumentstellung zwei Faktoren proportional ist. Einer-
seits wird sie um so größer, je ärger der zu zensurierende Wunsch
ist, anderseits aber auch, je strenger derzeit die Anforderungen der
Zensur auftreten. Ein junges, strenge erzogenes und sprödes Mädchen
wird darum mit unerbittlicher Zensur Traumregungen entstellen,
welche wir Ärzte z.B. als gestattete, harmlos libidinöse Wünsche an-
erkennen müßten, und die die Träumerin selbst ein Dezennium später
so beurteilen wird.
Im übrigen sind wir noch lange nicht so weit, uns über dies Er-
gebnis unserer Deutungsarbeit entrüsten zu dürfen. Ich glaube, daß
wir es noch nicht recht verstehen; vor allem aber obliegt uns die
Aufgabe, es gegen gewisse Anfechtungen sicherzustellen. Es ist gar
nicht schwer, einen Haken daran zu finden. Unsere Traumdeutungen
sind unter den Voraussetzungen gemacht, die wir vorhin einbekannt
haben, daß der Traum überhaupt einen Sinn habe, daß man die Exi-
stenz derzeit unbewußter seelischer Vorgänge vom hypnotischen auf
den normalen Schlaf übertragen dürfe und daß alle Einfälle deter-
miniert seien. Wären wir auf Grund dieser Voraussetzungen zu
plausiblen Resultaten der Traumdeutung gekommen, so hätten wir
mit Recht geschlossen, diese Voraussetzungen seien richtig gewesen.
Wie aber, wenn diese Ergebnisse so aussehen, wie ich es eben ge-
schildert habe? Dann liegt es doch nahe zu sagen: Es sind unmög-
liche, unsinnige, zum mindesten sehr unwahrscheinliche Resultate,
also war etwas an den Voraussetzungen falsch. Entweder ist der
Traum doch kein psychisches Phänomen, oder es gibt nichts Unbe-
wußtes im Normalzustand, oder unsere Technik hat irgendwo ein
Leck. Ist das nicht einfacher und befriedigender anzunehmen als
alle die Scheußlichkeiten, die wir auf Grund unserer Voraussetzungen
angeblich aufgedeckt haben?
Beides! Sowohl einfacher als auch befriedigender, aber darum nicht
notwendig richtiger. Lassen wir uns Zeit, die Sache ist noch nicht
spruchreif. Vor allem können wir die Kritik gegen unsere Traum-
IX. Die Traumzensur 145
deutungen noch verstärken. Daß die Ergebnisse derselben so uner-
freulich und unappetitlich sind, fiele vielleicht nicht so schwer ins
Gewicht. Ein stärkeres Argument ist es, daß die Träumer, denen wir
aus der Deutung ihrer Träume solche Wunschtendenzen zuschieben,
diese aufs nachdrücklichste und mit guten Gründen von sich weisen.
Was? sagt der eine, Sie wollen mir aus dem 'ITraume nachweisen,
daß es mir leid um die Summen tut, die ich für die Ausstattung
meiner Schwester und die Erziehung meines Bruders aufgewendet
habe? Aber das kann ja nicht sein; ich arbeite ja nur für meine Ge-
schwister, ich habe kein anderes Interesse im Leben, als meine Pflich-
ten gegen sie zu erfüllen, wie ich es als Ältester unserer seligen
Mutter versprochen habe. Oder eine Träumerin sagt: Ich soll meinem
Manne den Tod wünschen. Das ist ja ein empörender Unsinn! Nicht
nur, daß wir in der glücklichsten Ehe leben — das werden Sie mir
wahrscheinlich nicht glauben —, sein Tod würde mich auch um
alles bringen, was ich sonst in der Welt besitze. Oder ein anderer
wird uns erwidern: Ich soll sinnliche Wünsche auf meine Schwester
richten? Das ist lächerlich; ich mache mir gar nichts aus ihr; wir
stehen schlecht miteinander und ich habe seit Jahren kein Wort mit
ihr gewechselt. Wir würden es vielleicht noch leicht nehmen, wenn
diese Träumer die ihnen zugedeuteten 'Tendenzen nicht bestätigten
oder verleugneten; wir könnten sagen, das sind eben Dinge, die sie
von sich nicht wissen. Aber daß sie das genaue Gegenteil eines sol-
chen gedeuteten Wunsches in sich verspüren und uns die Vorherr-
schaft dieses Gegensatzes durch ihre Lebensführung beweisen können,
das muß uns doch endlich stutzig machen. Wäre es jetzt nicht an
der Zeit, die ganze Arbeit an der Traumdeutung als etwas, was durch
seine Resultate ad absurdum geführt ist, bei Seite zu werfen?
Nein, noch immer nicht. Auch dieses stärkere Argument zerbricht,
wenn wir es kritisch angreifen. Vorausgesetzt, daß es unbewußte
Tendenzen im Seelenleben gibt, so hat es gar keine Beweiskraft, wenn
die ihnen entgegengesetzten im bewußten Leben als herrschend nach-
gewiesen werden. Vielleicht gibt es im Seelenleben auch Raum für
Freud, VII. 10
146 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
gegensätzliche Tendenzen, für Widersprüche, die nebeneinander be-
stehen; ja möglicherweise ist gerade die Vorherrschaft der einen Re-
gung eine Bedingung für das Unbewußtsein ihres Gegensatzes. Es
bleibt also doch bei den zuerst erhobenen Einwendungen, die Resul-
tate der Traumdeutung seien nicht einfach und sehr unerfreulich.
Aufs erste ist zu erwidern, daß Sie mit aller Schwärmerei für das
Einfache nicht eines der Traumprobleme lösen können; Sie müssen
sich da schon zur Annahme komplizierter Verhältnisse bequemen.
Und zum zweiten, daß Sie offenbar unrecht daran tun, ein Wohl-
gefallen oder eine Abstoßung, die Sie verspüren, als Motiv für ein
wissenschaftliches Urteil zu verwenden. Was macht es, daß Ihnen
die Resultate der Traumdeutung unerfreulich, ja beschämend und
widerwärtig erscheinen? Ca n’empeche pas d’exister, habe ich als
junger Doktor meinen Meister Charcot in ähnlichem Falle sagen
gehört. Es heißt demütig sein, seine Sympathien und Antipathien
fein zurückstellen, wenn man erfahren will, was in dieser Welt real
ist. Wenn Ihnen ein Physiker beweisen kann, daß das organische
Leben dieser Erde binnen kurzer Frist einer völligen Erstarrung
weichen muß, getrauen Sie sich auch ihm zu entgegnen: Das kann
nicht sein; diese Aussicht ist zu unerfreulich? Ich meine, Sie werden
schweigen, bis ein anderer Physiker kommt und dem ersten einen
Fehler in seinen Voraussetzungen oder Berechnungen nachweist.,
Wenn Sie von sich weisen, was Ihnen unangenehm ist, so wieder-
holen Sie vielmehr den Mechanismus der Traumbildung, anstatt ihn
zu verstehen und ihn zu überwinden.
Sie versprechen dann vielleicht, von dem abstoßenden Charakter
der zensurierten Traumwünsche abzusehen, und ziehen sich auf das
Argument zurück, es sei doch unwahrscheinlich, daß man dem Bösen
in der Konstitution des Menschen einen so breiten Raum zugestehen
solle. Aber berechtigen Sie Ihre eigenen Erfahrungen dazu, das zu
sagen? Ich will nicht davon sprechen, wie Sie sich selbst erscheinen
mögen, aber haben Sie so viel Wohlwollen bei Ihren Vorgesetzten
und Konkurrenten gefunden, so viel Ritterlichkeit bei Ihren Feinden,
IX. Die Traumzensur 147
und so wenig Neid in Ihrer Gesellschaft, daß Sie sich verpflichtet '
fühlen müssen, gegen den Anteil des egoistisch Bösen an der mensch-
lichen Natur aufzutreten? Ist Ihnen nicht bekannt, wie unbeherrscht
und unzuverlässig der Durchschnitt der Menschen in allen Ange-
legenheiten des Sexuallebens ist? Oder wissen Sie nicht, daß alle
Übergriffe und Ausschreitungen, von denen wir nächtlich träumen,
alltäglich von wachen Menschen als Verbrechen wirklich begangen
werden? Was tut die Psychoanalyse hier anders als das alte Wort von
Plato bestätigen, daß die Guten diejenigen sind, welche sich be-
gnügen, von dem zu träumen, was die anderen, die Bösen wirklich
tun? |
Und nun blicken Sie vom Individuellen weg auf den großen Krieg,
der noch immer Europa verheert, denken Sie an das Unmaß von
Brutalität, Grausamkeit und Verlogenheit, das sich jetzt in der Kultur-
welt breitmachen darf. Glauben Sie wirklich, daß es einer Handvoll
gewissenloser Streber und Verführer geglückt wäre, all diese bösen
Geister zu entfesseln, wenn die Millionen von Geführten nicht mit-
schuldig wären? Getrauen Sie sich auch unter diesen Verhältnissen,
für den Ausschluß des Bösen aus der seelischen Konstitution des Men-
schen eine Lanze zu brechen?
Sie werden mir vorhalten, ich beurteile den Krieg einseitig; er
habe auch das Schönste und Edelste der Menschen zum Vorschein ge-
bracht, ihren Heldenmut, ihre Selbstaufopferung, ihr soziales Fühlen.
Gewiß, aber machen Sie sich hier nicht mitschuldig an der Unge-
rechtigkeit, die man so oft an der Psychoanalyse begangen hat, indem
man ihr vorgeworfen, das eine zu leugnen, weil sie das andere be-
hauptet. Es ist nicht unsere Absicht, die edlen Strebungen der mensch-
lichen Natur abzuleugnen, noch haben wir je etwas dazu getan, sie
in ihrem Wert herabzusetzen. Im Gegenteile; ich zeige Ihnen nicht
nur die zensurierten bösen Traumwünsche, sondern auch die Zensur,
welche sie unterdrückt und unkenntlich macht. Bei dem Bösen im
Menschen verweilen wir nur darum mit stärkerem Nachdruck, weil
die anderen es verleugnen, wodurch das menschliche Seelenleben
ı0*
148 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
zwar nicht besser, aber unverständlich wird. Wenn wir dann die ein-
seitig ethische Wertung aufgeben, werden wir für das Verhältnis des
Bösen zum Guten in der menschlichen Natur gewiß die richtigere
Formel finden können. |
Es bleibt also dabei. Wir brauchen die Ergebnisse unserer Arbeit
an der Traumdeutung nicht aufzugeben, wenn wir sie auch befrem-
dend finden müssen. Vielleicht können wir uns später auf anderem
Wege ihrem Verständnis nähern. Vorläufig halten wir fest: Die
Traumentstellung ist eine Folge der Zensur, welche von anerkannten
Tendenzen des Ichs gegen irgendwie anstößige Wunschregungen
ausgeübt wird, die sich nächtlicherweile, während des Schlafes, in
uns rühren. Freilich, warum gerade nächtlicherweile, und woher
diese verwerflichen Wünsche stammen, daran bleibt noch viel zu
fragen und zu erforschen.
Es wäre aber Unrecht, wenn wir jetzt versäumten, ein anderes
Ergebnis dieser Untersuchungen gebührend hervorzuheben. Die
Traumwünsche, die uns im Schlafe stören wollen, sind uns unbe-
kannt, wir erfahren von ihnen ja erst durch die Traumdeutung; sie
sind also als derzeit unbewußte im besprochenen Sinne zu bezeichnen.
Aber wir müssen uns sagen, sie sind auch mehr als derzeit unbewußt.
Der Träumer verleugnet sie ja auch, wie wir ın so vielen Fällen er-
fahren haben, nachdem er sie durch die Deutung des Iraumes kennen
gelernt hat. Es wiederholt sich dann der Fall, dem wir zuerst bei
der Deutung des Versprechens „Aufstoßen“ begegnet sind, als der
Toastredner empört versicherte, daß ihm weder damals noch je zu-
vor eine unehrerbietige Regung gegen seinen Chef bewußt geworden.
Wir hatten schon damals an dem Wert einer solchen Versicherung
gezweifelt und dieselbe durch die Annahme ersetzt, daß der Redner
dauernd nichts von dieser in ihm vorhandenen Regung weiß. Solches
wiederholt sich nun bei jeder Deutung eines stark entstellten Traumes
und gewinnt somit an Bedeutung für unsere Auffassung. Wir sind
nun bereit anzunehmen, daß es im Seelenleben Vorgänge, Tendenzen
gibt, von denen man überhaupt nichts weiß, seit langer Zeit nichts
IX. Die Traumzensur 149
weiß, vielleicht sogar niemals etwas gewußt hat. Das Unbewußte er-
hält damit für uns einen neuen Sinn; das „derzeit“ oder „zeitweilig“
schwindet aus seinem Wesen, es kann auch dauernd unbewußt
bedeuten, nicht bloß „derzeit latent“. Natürlich werden wir auch
darüber ein anderes Mal mehr hören müssen.
X. VORLESUNG
DIE SYMBOLIK IM TRAUM
Meine Damen und Herren! Wir haben gefunden, daß die Traum-
entstellung, welche uns im Verständnis des Traumes stört, Folge
einer zensurierenden Tätigkeit ist, die sich gegen die unannehm-
baren, unbewußten Wunschregungen richtet. Aber wir haben natür-
lich nicht behauptet, daß die Zensur der einzige Faktor ist, der die
Traumentstellung verschuldet, und wirklich können wir bei weiterem
Studium des Traumes die Entdeckung machen, daß an diesem Effekt
noch andere Momente beteiligt sind. Das ist soviel, als sagten wir,
auch wenn die Traumzensur ausgeschaltet wäre, wären wir doch
nicht imstande, die Träume zu verstehen, wäre der manifeste Traum
noch nicht mit den latenten 'Traumgedanken identisch.
Dieses andere Moment, das den Traum undurchsichtig macht,
diesen neuen Beitrag zur Traumentstellung entdecken wir, indem
wir auf eine Lücke in unserer Technik aufmerksam werden. Ich habe
Ihnen schon zugestanden, daß den Analysierten zu einzelnen Ele-
menten des Traumes mitunter wirklich nichts einfällt. Freilich ge-
schieht dies nicht so oft, wie diese es behaupten; in sehr vielen Fällen
läßt sich der Einfall doch noch durch Beharrlichkeit erzwingen. Aber
es bleiben doch Fälle übrig, in denen die Assoziation versagt, oder,
wenn erzwungen, nicht liefert, was wir von ihr erwarten. Geschieht
dies während einer psychoanalytischen Behandlung, so kommt ıhm
eine besondere Bedeutung zu, mit welcher wir es hier nicht zu tun
X. Die Symbolik im Traum 151
haben. Es ereignet sich aber auch bei der Traumdeutung mit nor-
malen Personen oder bei der Deutung eigener Träume. Überzeugt
man sich, daß in solchen Fällen alles Drängen nichts nützt, so macht
man endlich die Entdeckung, daß der unerwünschte Zufall regel-
mäßig bei bestimmten Traumelementen eintrifft, und fängt an, eine
neue Gesetzmäßigkeit dort zu erkennen, wo man zuerst nur ein aus-
nahmsweises Versagen der Technik zu erfahren glaubte.
Man kommt auf solche Weise zur Versuchung, diese „stummen“
Traumelemente selbst zu deuten, aus eigenen Mitteln eine Über-
setzung derselben vorzunehmen. Es drängt sich einem auf, daß man
jedesmal einen befriedigenden Sinn erhält, wenn man sich dieser
Ersetzung getraut, während der Traum sinnlos bleibt und der Zu-
sammenhang unterbrochen ist, solange man sich zu solchem Eingriff
nicht entschließt. Die Häufung vieler durchaus ähnlicher Fälle über-
nimmt es dann, unserem zunächst schüchternen Versuch die ge-
forderte Sicherheit zu geben.
Ich stelle das alles ein bißchen schematisch dar, aber zu Unter-
richtszwecken ist es doch gestattet, und es ist auch nicht verfälscht,
sondern bloß vereinfacht.
Auf diese Weise erhält man für eine Reihe von 'Traumelementen
konstante Übersetzungen, also ganz ähnlich, wie man es in unseren
populären Traumbüchern für alle geträumten Dinge findet. Sie ver-
gessen doch nicht, daß bei unserer Assoziationstechnik niemals kon-
stante Ersetzungen der 'Traumelemente zu Tage kommen.
Sie werden nun sofort sagen, dieser Weg zur Deutung erscheine
Ihnen noch weit unsicherer und angreifbarer als der frühere mittels
der freien Einfälle. Aber es kommt doch noch etwas anderes hinzu.
Wenn man nämlich durch die Erfahrung genug; solcher konstanter
Ersetzungen gesammelt hat, dann sagt man sich einmal, daß man
diese Stücke der "Traumdeutung tatsächlich aus eigener Kenntnis
hätte bestreiten sollen, daß sie wirklich ohne die Einfälle des Träumers
verständlich sein konnten. Woher man ihre Bedeutung kennen müßte,
das wird sich in der zweiten Hälfteunserer Auseinandersetzungergeben.
152 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Eine solche konstante Beziehung zwischen einem Traumelement
und seiner Übersetzung heißen wir einesymbolische, das Traum-
element selbst ein Symbol des unbewußten Traumgedankens. Sie
erinnern sich, daß ich früher, bei der Untersuchung der Beziehungen
zwischen Traumelementen und ihren Eigentlichen drei solcher Be-
ziehungen unterschieden habe, die des Teils vom Ganzen, die der
Anspielung und die der Verbildlichung. Eine vierte habe ich Ihnen
damals angekündigt, aber nicht genannt. Diese vierte ist nun die hier
eingeführte symbolische. An sie knüpfen sich sehr interessante Dis-
kussionen, denen wir uns zuwenden wollen, ehe wir unsere speziellen
Beobachtungen über Symbolik darlegen. Die Symbolik ist vielleicht
das merkwürdigste Kapitel der Traumlehre.
Vor allem: Indem die Symbole feststehende Übersetzungen sind,
realisieren sie im gewissen Ausmaße das Ideal der antiken wie der
populären Traumdeutung, von dem wir uns durch unsere Technik
weit entfernt hatten. Sie gestatten uns unter Umständen, einen Traum
zu deuten, ohne den Träumer zu befragen, der ja zum Symbol ohne-
dies nichts zu sagen weiß. Kennt man die gebräuchlichen 'Traum-
symbole und dazu die Person des Träumers, die Verhältnisse, unter
denen er lebt, und die Eindrücke, nach welchen der Traum vorge-
fallen ist, so ist man oft in der Lage, einen Traum ohne weiteres zu
deuten, ihn gleichsam vom Blatt weg zu übersetzen. Eın solches
Kunststück schmeichelt dem 'Traumdeuter und imponiert dem
Träumer; es sticht wohltuend von der mühseligen Arbeit beim Aus-
tragen des Träumers ab. Lassen Sie sich aber hierdurch nicht ver-
führen. Es ist nicht unsere Aufgabe, Kunststücke zu machen. Die
auf Symbolkenntnis beruhende Deutung ist keine Technik, welche
die assoziative ersetzen oder sich mit ihr messen kann. Sie ist eine
Ergänzung zu ihr und liefert nur in sie eingefügt brauchbare Resul-
tate. Was aber die Kenntnis der psychischen Situation des Träumers
betrifft, so wollen Sie erwägen, daß Sie nicht nur Träume von gut
Bekannten zur Deutung bekommen, daß Sie in der Regel die Tages-
ereignisse, welche die Traumerreger sind, nicht kennen, und daß die
X. Die Symbolik im Traum | 153
Einfälle des Analysierten Ihnen gerade die Kenntnis dessen, was man
die psychische Situation heißt, zutragen.
Es ist ferner ganz besonders merkwürdig, auch mit Rücksicht auf
später zu erwähnende Zusammenhänge, daß gegen die Existenz der
Symbolbeziehung zwischen Traum und Unbewußtem wiederum die
heftigsten Widerstände laut geworden sind. Selbst Personen von Ur-
teil und Ansehen, die sonst ein weites Stück Weges mit der Psycho-
analyse gegangen sind, haben hier die Gefolgschaft versagt. Um so
merkwürdiger aber ist dies Verhalten, als erstens die Symbolik nicht
allein dem "Traum eigentümlich oder für ihn charakteristisch ist, und
zweitens die Symbolik im Traume gar nicht von der Psychoanalyse
entdeckt wurde, wiewohl diese sonst nichtarm an überraschenden Ent-
deckungen ist. Als Entdecker der Traumsymbolik ist, wenn man ihr
überhaupt einen Anfang in modernen Zeiten zuschreiben will, der
Philosoph K.A.Scherner (1861) zu nennen. Die Psychoanalyse
hat die Funde Scherners bestätigt und in allerdings einschneidender
Weise modifiziert.
Nun werden Sie etwas vom Wesen der Traumsymbolik und Bei-
spiele für sie hören wollen. Ich will Ihnen gerne mitteilen, was ich
weiß, aber ich gestehe Ihnen, daß unser Verständnis nicht so weit
reicht, wie wir gerne möchten.
Das Wesen der Symbolbeziehung ist ein Vergleich, aber nicht
ein beliebiger. Man ahnt für diesen Vergleich eine besondere Bedingt-
heit, kann aber nicht sagen, worin diese besteht. Nicht alles, womit
wir einen Gegenstand oder einen Vorgang vergleichen können, tritt
auch im Traum als Symbol dafür auf. Anderseits symbolisiert der
Traum auch nicht alles Beliebige, sondern nur bestimmte Elemente
der latenten Traumgedanken. Es gibt also hier Beschränkungen nach
beiden Seiten hin. Man muß auch zugeben, daß der Begriff des Sym-
bols derzeit nicht scharf abzugrenzen ist, er verschwimmt gegen die
Ersetzung, Darstellung u. dgl., nähert sich selbst der Anspielung,
Bei einer Reihe von Symbolen ist der zu Grunde liegende Vergleich
sinnfällig. Daneben gibt es andere Symbole, bei denen wir uns die
154 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Frage stellen müssen, wo denn das Gemeinsame, das Tertium com-
parationis dieses vermutlichen Vergleichs zu suchen sei. Dann mögen
wir es bei näherer Überlegung auffinden, oder es kann uns wirklich
verborgen bleiben. Es ist ferner sonderbar, wenn das Symbol eine Ver-
gleichung ist, daß dieser Vergleich sich nicht durch die Assoziation
bloßlegen läßt, auch daß der Träumer den Vergleich nicht kennt,
sich seiner bedient, ohne um ihn zu wissen. Ja noch mehr, daß der
Träumer nicht einmal Lust hat, diesen Vergleich anzuerkennen,
nachdem er ihm vorgeführt worden ist. Sie sehen also, eine Symbol-
beziehung ist eine Vergleichung von ganz besonderer Art, deren Be-
gründung von uns noch nicht klar erfaßt wird. Vielleicht lassen sich
später Hinweise auf dieses Unbekannte finden.
Der Umfang der Dinge, die im Traume symbolische Darstellung
finden, ist nicht groß. Der menschliche Leib als Ganzes, die Eltern,
Kinder, Geschwister, Geburt, Tod, Nacktheit — und dann noch eines.
Die einzig typische, d.h. regelmäßige Darstellung der menschlichen
Person als Ganzes ist die als Haus, wie Scherner erkannt hat, der
diesem Symbol sogar eine überragende Bedeutung, die ihm nicht zu-
kommt, zuteilen wollte. Es kommt im Traume vor, daß man, bald
lustvoll, bald ängstlich von Häuserfassaden herabklettert. Die mit
ganz glatten Mauern sind Männer; die aber mit Vorsprüngen und
Balkonen versehen sind, an welchen man sich anhalten kann, das
sind Frauen. Die Eltern erscheinen im Traum als Kaiser und
Kaiserin, König und Königin oder als andere Respektspersonen;
der Traum ist also hier sehr pietätsvoll. Minder zärtlich verfährt er
gegen Kinder und Geschwister; diese werden als kleine Tiere,
Ungeziefer symbolisiert. Die Geburt findet fast regelmäßig eine
Darstellung durch eine Beziehung zum Wasser; entweder man
stürzt ins Wasser oder man steigt aus ihm heraus, man rettet eine
Person aus dem Wasser oder wird von ihr gerettet, d.h. man hat
eine mütterliche Beziehung zu ihr. Das Sterben wird im Traum
durch Abreisen, mit der Eisenbahn Fahren ersetzt, das Tot-
sein durch verschiedene dunkle, wie zaghafte Andeutungen, die Nackt-
X. Die Symbolik im Traum 155
heitdurch Kleiderund Uniformen. Sie sehen, wie hier die Grenzen
zwischen symbolischer und anspielungsartiger Darstellung ver-
schwimmen. |
Im Vergleich zur Armseligkeit dieser Aufzählung muß es auffallen,
daß Objekte und Inhalte eines anderen Kreises durch eine außer-
ordentlich reichhaltige Symbolik dargestellt werden. Es ist dies der
Kreis des Sexuallebens, der Genitalien, der Geschlechtsvorgänge, des
Geschlechtsverkehrs. Die übergroße Mehrzahl der Symbole im Traum
sind Sexualsymbole. Es stellt sich dabei ein merkwürdiges Mißver-
hältnis heraus. Der bezeichneten Inhalte sind nur wenige, der Sym-
bole für sie ungemein viele, so daß jedes dieser Dinge durch zahl-
reiche, nahezu gleichwertige Symbole ausgedrückt werden kann.
Bei der Deutung ergibt sich dann etwas, was allgemein Anstoß er-
regt. Die Symboldeutungen sind im Gegensatze zur Mannigfaltigkeit
der Traumdarstellungen sehr monoton. Das mißfällt jedem, der davon
erfährt; aber was ist dagegen zu tun?
Da es das erstemal ist, daß in dieser Vorlesung von Inhalten des
Sexuallebens gesprochen wird, bin ich Ihnen Rechenschaft über die
Artschuldig, wie ich dieses Thema zu behandeln gedenke. Die Psycho-
analyse findet keinen Anlaß zu Verhüllungen und Andeutungen, hält
es nicht für nötig, sich der Beschäftigung mit diesem wichtigen Stoff
zu schämen, meint, es sei korrekt und anständig, alles bei seinem
richtigen Namen zu nennen, und hofft, auf solche Weise störende
Nebengedanken am ehesten ferne zu halten. Daran kann der Um-
stand, daß man vor einem aus beiden Geschlechtern gemischten Zu-
hörerkreis spricht, nichts ändern. So wie es keine Wissenschaft in
usum delphini gibt, so auch keine für Backfischchen, und die Damen
unter Ihnen haben durch ihr Erscheinen in diesem Hörsaal zu ver-
stehen gegeben, daß sie den Männern gleichgestellt werden wollen.
Für das männliche Genitale also hat der Traum eine Anzahl von
symbolisch zu nennenden Darstellungen, bei denen das gemeinsame
der Vergleichung meist sehr einleuchtend ist. Vor allem ist für das
männliche Genitale im ganzen die heilige Zahl 3 symbolisch bedeut-
156 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
sam. Der auffälligere und beiden Geschlechtern interessante Bestand-
teil des Genitales, das männliche Glied, findet symbolischen Ersatz
erstens durch Dinge, die ihm in der Formähnlich, also lang und hoch-
ragend sind, wie: Stöcke, Schirme, Stangen, Bäume und dgl.
Ferner durch Gegenstände, die die Eigenschaft des In-den-Körper-
Eindringens und Verletzens mit dem Bezeichneten gemein haben,
also spitzige Waffen jeder Art, Messer, Dolche, Lanzen,
Säbel, aber ebenso durch Schießwaffen: Gewehre, Pistolen
und den durch seine Form so sehr dazu tauglichen Revolver. In
den ängstlichen Träumen der Mädchen spielt die Verfolgung durch
einen Mann mit einem Messer oder einer Schußwaffe eine große
Rolle. Es ist dies der vielleicht häufigste Fall der Traumsymbolik,
den Sie sich nun leicht übersetzen können. Ohne weiteres verständ-
lich ist auch der Ersatz des männlichen Gliedes durch Gegenstände,
aus denen Wasser fließt: Wasserhähne, Gießkannen, Spring-
brunnen, und durch andere Objekte, die einer Verlängerung fähig
sind, wie Hängelampen, vorschiebbare Bleistifte usw. Daß
Bleistifte, Federstiele, Nagelfeilen, Hämmer und andere
Instrumente unzweifelhafte männliche Sexualsymbole sind, hängt
mit einer gleichfalls nicht ferne liegenden Auffassung des Organs
zusammen.
Die merkwürdige Eigenschaft des Gliedes, sich gegen die Schwer-
kraft aufrichten zu können, eine Teilerscheinung der Erektion, führt
zur Symboldarstellung durch Luftballone, Flugmaschinen und
neuesten Datums durch dasZeppelinscheLuftschiff. Der'Traum
kennt aber noch eine andere, weit ausdrucksvollere Art, die Erektion
zu symbolisieren. Er macht das Geschlechtsglied zum Wesentlichen
der ganzen Person und läßt diese selbst fliegen. Lassen Sie sich’s
nicht nahe gehen, daß die oft so schönen Flugträume, die wir alle
kennen, als Träume von allgemeiner sexueller Erregung, als Erektions-
träume gedeutet werden müssen. Unter den psychoanalytischen
Forschern hat P. Federn diese Deutung gegen jeden Zweifel sicher-
gestellt, aber auch der für seine Nüchternheit vielbelobte Mourly
X. Die Symbolik im Traum 157
Vold, der jene Traumexperimente mit künstlichen Stellungen der
Arme und Beine durchgeführt hat, und der der Psychoanalyse wirk-
lich ferne stand, vielleicht nichts von ihr wußte, ist durch seine
Untersuchungen zu demselben Schluß gekommen. Machen Sie auch
keinen Einwand daraus, daß Frauen dieselben Flugträume haben
können. Erinnern Sie sich vielmehr daran, daß unsere Träume
Wunscherfüllungen sein wollen, und daß der Wunsch, ein Mann zu
sein, sich bei der Frau so häufig, bewußt oder unbewußt, findet.
Auch daß es der Frau möglich ist, diesen Wunsch durch dieselben
Sensationen wie der Mann zu realisieren, wird keinen der Anatomie
Kundigen irremachen können. Das Weib besitzt in seinen Genitalien
eben auch ein kleines Glied in der Ähnlichkeit des männlichen, und
dieses kleine Glied, die Clitoris, spielt sogar im Kindesalter und im
Alter vor dem Geschlechtsverkehr die nämliche Rolle wie das große
Glied des Mannes.
Zu den weniger gut verständlichen männlichen Sexualsymbolen
gehören gewisse Reptilien und Fische, vor allem das berühmte
Symbol der Schlange. Warum Hut und Mantel dieselbe Ver-
wendung gefunden haben, ist gewiß nicht leicht zu erraten, aber
deren Symbolbedeutung ist ganz unzweifelhaft. Endlich kann man
sich noch fragen, ob man den Ersatz des männlichen Gliedes durch
ein anderes Glied, den Fuß oder die Hand, als einen symbolischen
bezeichnen darf. Ich glaube, man wird durch den Zusammenhang
und durch die weiblichen Gegenstücke dazu genötigt.
Das weibliche Genitale wird symbolisch dargestellt durch alle jene
Objekte, die seine Eigenschaft teilen, einen Hohlraum einzuschließen,
der etwas in sich aufnehmen kann. Also durch Schachte, Gruben
und Höhlen, durch Gefäße und Flaschen, durch Schachteln,
Dosen, Koffer, Büchsen, Kisten, Taschen usw. Auch das
Schiff gehört in diese Reihe. Manche Symbole haben mehr Be-
ziehung auf den Mutterleib als auf das Genitale des Weibes, so:
Schränke, Öfen und vor allem das Zimmer. Die Zimmer-
symbolik stößt hier an die Haussymbolik, Türe und Tor werden
158 1% orlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
wiederum zu Symbolen der Genitalöffnung. Aber auch Stoffe sind
Symbole des Weibes, das Holz, das Papier, und Gegenstände, die
aus diesen Stoffen bestehen, wie der Tisch und das Buch. Von
Tieren sind wenigstens Schnecke und Muschel als unverkenn-
bare weibliche Symbole anzuführen; von Körperteilen der Mund zur
Vertretung der Genitalöffnung, von Bauwerken Kirche und Kapelle.
Wie Sie sehen, sind nicht alle Symbole gleich gut verständlich.
Zu den Genitalien müssen die Brüste gerechnet werden, die wie
die größeren Hemisphären des weiblichen Körpers ihre Darstellung
finden in Äpfeln, Pfirsichen, Früchten überhaupt. Die
Genitalbehaarung beider Geschlechter beschreibt der Traum als
Waldund Gebüsch. Die komplizierte Topographie der weiblichen
Geschlechtsteile macht es begreiflich, daß diese sehr häufig als Land-
schaft mit Fels, Wald und Wasser dargestellt werden, während der
imposante Mechanismus des männlichen Geschlechtsapparates dazu
führt, daß alle Arten von schwer zu beschreibenden komplizierten
Maschinen Symbole desselben werden.
Ein erwähnenswertes Symbol des weiblichen Genitales ist noch
das Schmuckkästchen; Schmuck und Schatz sind Bezeich-
nungen der geliebten Person auch im Traume; Süßigkeiten eine
häufige Darstellung des Geschlechtsgenusses. Die Befriedigung am
eigenen Genitale wird durch jede Art von Spielen angedeutet, auch
durch das Klavierspiel. Exquisit symbolische Darstellungen der
Onanie sind das Gleiten und Rutschen sowie das Abreißen
eines Astes. Ein besonders merkwürdiges Traumsymbol ist der
Zahnausfall oder das Zahnausziehen. Es bedeutet sicherlich
zunächst die Kastration als Bestrafung für die Onanie. Besondere
Darstellungen für den Verkehr der Geschlechter findet man im
Traume weniger zahlreich, als man nach den bisherigen Mitteilungen
erwarten konnte. Rihythmische Tätigkeiten wie Tanzen, Reiten
und Steigen sind hier zu nennen, auch gewaltsame Erlebnisse wie
das Überfahrenwerden. Dazu gewisse Handwerkstätig-
keiten und natürlich die Bedroh ung mit Waffen.
X, Die Symbolik im Traum 159
Sie müssen sich die Verwendung wie die Übersetzung dieser Sym-
bole nicht ganz einfach vorstellen. Es kommt dabei allerlei vor, was
unserer Erwartung widerspricht. So scheint es zum Beispiel kaum
glaublich, daß in diesen symbolischen Darstellungen die Geschlechts-
unterschiede oft nicht scharf auseinandergehalten werden. Manche
Symbole bedeuten ein Genitale überhaupt, gleichgültig ob ein männ-
liches oder weibliches, z. B. das kleine Kind, der kleine Sohn oder
die kleine Tochter. Ein andermal kann ein vorwiegend männliches
Symbol für ein weibliches Genitale gebraucht werden oder um-
gekehrt. Man versteht das nicht, ehe man Einsicht in die Entwicklung
der Sexualvorstellungen der Menschen gewonnen hat. In manchen
Fällen mag diese Zweideutigkeit der Symbole eine nur scheinbare
sein; die eklatantesten unter den Symbolen wie Waffen, Tasche,
Kiste sind auch von dieser bisexuellen Verwendung ausgenommen.
Ich will nun nicht von dem Dargestellten, sondern vom Symbol
ausgehen, eine Übersicht geben, aus welchen Gebieten die Sexual-
symbole zumeist entnommen werden, und einige Nachträge anfügen
mit besonderer Rücksicht auf die Symbole mit unverstandenem
Gemeinsamen. Solch ein dunkles Symbol ist der Hut, vielleicht die
Kopfbedeckung überhaupt, in der Regel mit männlicher Bedeutung,
doch auch der weiblichen fähig. Ebenso bedeutet der Mantel einen
Mann, vielleicht nicht immer mit Genitalbeziehung. Es steht Ihnen
frei, zu fragen, warum. Die herabhängende und vom Weib nicht
getragene Krawatte ist ein deutlich männliches Symbol. Weiße
Wäsche, Leinen überhaupt ist weiblich; Kleider, Uniformen
sind, wie wir schon gehört haben, Ersatz für Nacktheit, Körper-
formen; der Schuh, Pantoffel, ein weibliches Genitale, Tisch
und Holz wurden als rätselhafte, aber sicherlich weibliche Symbole
bereits erwähnt. Leiter, Stiege, Treppe, respektive das Gehen
auf ihnen, sind sichere Symbole des Geschlechtsverkehres. Bei näherer
Überlegung wird uns die Rhythmik dieses Gehens als Gemeinsames
auffallen, vielleicht auch das Anwachsen der Erregung, Atemnot, je
höher man steigt.
160 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Die Landschaft haben wir als Darstellung des weiblichen
Genitales schon gewürdigt. Berg und Fels sind Symbole des männ-
lichen Gliedes; der Garten ein häufiges Symbol des weiblichen
Genitales. Die Frucht steht nicht für das Kind, sondern für die
Brüste. Wilde Tiere bedeuten sinnlich erregte Menschen, des
weiteren böse Triebe, Leidenschaften. Blüten und Blumen be-
zeichnen das Genitale des Weibes oder spezieller die Jungfräulich-
keit. Sie vergessen nicht, daß die Blüten wirklich die Genitalien der
Pflanzen sind.
Das Zimmer kennen wir bereits als Symbol. Die Darstellung
kann sich hier fortsetzen, indem die Fenster, Ein- und Ausgänge des
Zimmers die Bedeutung der Körperöffnungen übernehmen. Auch
das Offen- oder Verschlossensein des Zimmers fügt sıch dieser
Symbolik, und der Schlüssel, der öffnet, ist ein sicheres männ-
liches Symbol.
Das wäre nun Material zur Traumsymbolik. Es ist nicht voll-
ständig und könnte sowohl vertieft als auch verbreitert werden. Aber
ich meine, es wird Ihnen mehr als genug scheinen, vielleicht Sie
unwillig machen. Sie werden fragen: Lebe ich also wirklich inmitten
von Sexualsymbolen? Sind alle Gegenstände, die mich umgeben, alle
Kleider, die ich anlege, alle Dinge, die ich in die Hand nehme, immer
wieder Sexualsymbole und nichts anderes? Es gibt wirklich Anlaß
genug zu verwunderten Fragen, und die erste derselben lautet: Woher
wir denn eigentlich die Bedeutung dieser Traumsymbole kennen
sollen, zu denen uns der Träumer selbst keine oder nur unzureichende
Auskunft gibt?
Ich antworte: aus sehr verschiedenen Quellen, aus den Märchen und
Mythen, Schwänken und Witzen, aus dem Folklore, d. i. der Kunde
von den Sitten, Gebräuchen, Sprüchen und Liedern der Völker, aus
dem poetischen und dem gemeinen Sprachgebrauch. Überall hier
findet sich dieselbe Symbolik vor, und an manchen dieser Stellen
verstehen wir sie ohne weitere Unterweisung. Wenn wir diesen
Quellen im einzelnen nachgehen, werden wir so viele Parallelen zur
X. Die Symbolik im Traum Ar 161
Traumsymbolik finden, daß wir unserer Deutungen sicher werden
müssen. |
Der menschliche Leib, sagten wir, findet nach Scherner im
'Iraum häufig eine Darstellung durch das Symbol des Hauses. In der
Fortführung dieser Darstellung sind dann Fenster, Türen und Tore,
die Eingänge in die Körperhöhlen, die Fassaden glatt oder mit Balkonen
und Vorsprüngen zum Anhalten versehen. Dieselbe Symbolik findet
sich aber in unserem Sprachgebrauch, wenn wir einen gut Bekannten
vertraulich als „altes Haus“ begrüßen, wenn wir davon sprechen,
einem eins aufs Dachl zu geben, oder von einem anderen behaupten,
es sei bei ihm nicht richtig im Oberstübchen. In der Anatomie
heißen die Körperöffnungen direkt die Leibespforten.
Daß wir die Eltern im Traume als kaiserliche und königliche
Paare antreffen, ist ja zunächst überraschend. Aber es findet seine
Parallele in den Märchen. Dämmert uns nicht die Einsicht, daß die
vielen Märchen, die anheben: Es war einmal ein König und eine
Königin, nichts anderes sagen wollen als: Es waren einmal ein
Vater und eine Mutter? In der Familie heißen wir die Kinder
scherzhaft Prinzen, den ältesten aber den Kronprinzen. Der König
selbst nennt sich Landesvater. Kleine Kinder bezeichnen wir
scherzhaft als Würmer und sagen mitleidig: das arme Wurm.
Kehren wir zur Haussymbolik zurück. Wenn wir die Vorsprünge
der Häuser im Traume zum Anhalten benützen, mahnt das nicht an
die bekannte Volksrede auf einen stark entwickelten Busen: Die hat
etwas zum Anhalten? Das Volk äußert sich in solchem Falle noch
anders, es sagt: Die hat viel Holz vor dem Haus, als wollte es unserer
Deutung zu Hilfe kommen, daß Holz ein weibliches, mütterliches
Symbol ist, |
Zu Holz noch anderes. Wir werden nicht verstehen, wie dieser
Stoff zur Vertretung des Mütterlichen, Weiblichen, gelangt ist. Da
mag uns die Sprachvergleichung an die Hand gehen. Unser deut-
sches Wort Holz soll gleichen Stammes sein wie das griechische öAn,
was Stoff, Rohstoff bedeutet. Es würde da der nicht gerade seltene
Freud, VI.
11
ı62 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Fall vorliegen, daß ein allgemeiner Stoffname schließlich für einen
besonderen Stoff reserviert worden ist. Nun gibt es eine Insel im
Ozean, die den Namen Madeira führt. Diesen Namen haben ihr
die Portugiesen bei der Entdeckung gegeben, weil sie damals über
und über bewaldet war. Madeira heißt nämlich in der Sprache der
Portugiesen: Holz. Sie erkennen aber, daß madeira nichts anderes
ist, als das wenig veränderte lateinische Wort materia, das wiederum
Stoff im allgemeinen bedeutet. Materia ist nun von mater, Mutter,
abgeleitet. Der Stoff aus dem etwas besteht, ist gleichsam sein mütter-
licher Anteil. In dem symbolischen Gebrauch von Holz für Weib,
Mutter, lebt also diese alte Auffassung fort.
Die Geburt wird im Traume regelmäßig durch eine Beziehung
zum Wasser ausgedrückt; man stürzt ins Wasser oder kommt aus
dem Wasser, das heißt: man gebärt oder man wird geboren. Nun
vergessen wir nicht, daß sich dies Symbol in zweifacher Weise auf
entwicklungsgeschichtliche Wahrheit berufen kann. Nicht nur, daß
alle Landsäugetiere, auch die Vorahnen des Menschen, aus Wasser-
tieren hervorgegangen sind, — das wäre die ferner liegende Tat-
sache, — auch jedes einzelne Säugetier, jeder Mensch, hat die erste
Phase seiner Existenz im Wasser zugebracht, nämlich als Embryo im
Fruchtwasser im Leib seiner Mutter gelebt und ist mit der Geburt
' aus dem Wasser gekommen. Ich will nicht behaupten, daß der
Träumer dies weiß, dagegen vertrete ich, daß er es nicht zu wissen
braucht. Etwas anderes weiß der Träumer wahrscheinlich daher,
daß man es ihm in seiner Kindheit gesagt hat, und selbst dafür will
ich behaupten, daß ihm dies Wissen nichts zur Symbolbildung bei-
getragen hat. Man hat ihm in der Kinderstube erzählt, daß der
Storch die Kinder bringt, aber woher holt er sie? Aus dem Teich,
aus dem Brunnen, also wiederum aus dem Wasser. Einer meiner
Patienten, dem diese Auskunft gegeben worden war, damals ein
kleines Gräflein, war hernach einen ganzen Nachmittag lang ver-
schollen. Man fand ihn endlich am Rande des Schloßteichs liegend,
das Gesichtchen über den Wasserspiegel gebeugt und eifrig spä-
X. Die Symbolik im Traum 163
hend, ob er die Kindlein auf dem Grunde des Wassers erschauen
könnte.
In den Mythen von der Geburt des Helden, die OÖ. Rank einer
vergleichenden Untersuchung unterzogen hat, — der älteste ist der
des Königs Sargon von Agade, etwa 2800 v. Chr. — spielt die
Aussetzung ins Wasser und die Rettung aus dem Wasser eine über-
wiegende Rolle. Rank hat erkannt, daß dies Darstellungen der
Geburt sind, analog der im Traume üblichen. Wenn man im Traum
eine Person aus dem Wasser rettet, macht man sie zu seiner Mutter
oder zur Mutter schlechtweg; im Mythus bekennt sich eine Person,
die ein Kind aus dem Wasser rettet, als die richtige Mutter des
Kindes. In einem bekannten Scherz wird der intelligente Juden-
knabe gefragt, wer denn die Mutter des Moses war. Er antwortet
unbedenklich: die Prinzessin. Aber nein, wird ihm vorgehalten, die
hat ıhn ja nur aus dem Wasser gezogen. So sagt sie, repliziert er
und beweist damit, daß er die richtige Deutung des Mythus ge-
funden hat.
Das Abreisen bedeutet im Traum Sterben. Es ist auch der Brauch
der Kinderstube, wenn sich das Kind nach dem Verbleib eines Ver-
storbenen erkundigt, den es vermißt, ihm zu sagen, er sei verreist.
Wiederum möchte ich dem Glauben widersprechen, daß das Traum-
symbol von dieser gegen das Kind gebrauchten Ausrede stammt.
Der Dichter bedient sich derselben Symbolbeziehung, wenn er vom
Jenseits als vom unentdeckten Land spricht, von dessen Bezirk kein
Reisender (no traveller) wiederkehrt. Auch im Alltag ist es uns
durchaus gebräuchlich, von der letzten Reise zu sprechen. Jeder
Kenner des alten Ritus weiß, wie ernst z.B. im altägyptischen Glau-
ben die Vorstellung von einer Reise ins Land des Todes genommen
wurde. In vielen Exemplaren ist uns das Totenbuch erhalten, wel-
ches wie ein Bädeker der Mumie auf diese Reise mitgegeben wurde.
Seitdem die Begräbnisstätten von den Wohnstätten abgesondert wor-
den sind, ist ja auch die letzte Reise des Verstorbenen eine Realität
geworden.
164 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Ebensowenig ist etwa die Genitalsymbolik etwas, was dem Traume
allein zukommt. Jeder von Ihnen wird wohl einmal so unhöflich
gewesen sein, eine Frau eine „alte Schachtel“ zu nennen, viel-
leicht ohne zu wissen, daß er sich dabei eines Genitalsymbols bedient.
Im Neuen Testament heißt es: Das Weib ist ein schwaches Gefäß.
Die heiligen Schriften der Juden sind in ihrem dem poetischen so
angenäherten Stil erfüllt von sexualsymbolischen Ausdrücken, die
nicht immer richtig verstanden worden sind, und deren Auslegung
z.B. im Hohen Lied zu manchen Mißverständnissen geführt hat. In
der späteren hebräischen Literatur ist die Darstellung des Weibes als
Haus, wobei die Tür die Geschlechtsöffnung vertritt, eine sehr ver-
breitete. Der Mann beklagt sich z. B. im Falle der fehlenden Jung-
fräulichkeit, daß er die Tür geöffnet gefunden hat. Auch das
Symbol Tisch für Weib ist in dieser Literatur bekannt. Die Frau sagt
von ihrem Manne: Ich ordnete ihm den Tisch, er aber wendete
ihn um. Lahme Kinder sollen dadurch entstehen, daß der Mann
den Tisch umwendet. Ich entnehme diese Belege einer Abhand-
lung von L. Levy in Brünn: Die Sexualsymbolik der Bibel und
des Talmuds. | |
'Daß auch die Schiffe des Traumes Weiber bedeuten, machen uns
die Etymologen glaubwürdig, die behaupten, Schiff sei ursprünglich
der Name eines tönernen Gefäßes gewesen und sei dasselbe Wort wie
Schaff. Daß der Ofen ein Weib und Mutterleib ist, wird uns durch
die griechische Sage von Periander von Korinth und seiner Frau
Melissa bestätigt. Als nach Herodots Bericht der Tyrann den
Schatten seiner heißgeliebten, aber aus Eifersucht-von ihm ermorde-
ten Gemahlin beschwor, um eine Auskunft von ihr zu bekommen,
beglaubigte sich die Tote durch die Mahnung, daß er, Periänder,
sein Brot in einen kalten Ofen geschoben, als Verhüllung
eines Vorganges, der keiner anderen Person bekannt sein konnte. In
der von F. S. Krauß herausgegebenen „Anthropophyteia“, einem
unersetzlichen Quellenwerk für alles, was das Geschlechtsleben der
Völker betrifft, lesen wir, daß man in einer bestimmten deutschen
A. Die Symbolik im Traum 165
Landschaft von einer Frau, die entbunden hat, sagt: Der Ofen ist
bei ihr zusammengebrochen. Die Feuerbereitung und alles,
was mit ihr zusammenhängt, ist auf das innigste von Sexualsymbolik
_ durchsetzt. Stets ist die Flamme ein männliches Genitale, und die
Feuerstelle, der Herd, ein weiblicher Schoß.
Wenn Sie sich vielleicht darüber verwundert haben, wie häufig
Landschaften im Traum zur Darstellung des weiblichen Genitales
verwendet werden, so lassen Sie sich von den Mythologen belehren,
welche Rolle Mutter Erde in den Vorstellungen und: Kulten der
alten Zeit gespielt hat, und wie die Auffassung des Ackerbaues von
dieser Symbolik bestimmt wurde. Daß das Zimmer im.’Traum ein
Frauenzimmer vorstellt, werden Sie geneigt sein aus unserem Sprach-
gebrauch abzuleiten, der Frauenzimmer. anstatt Frau setzt, also die
menschliche Person durch die für sie bestimmte Räumlichkeit ver-
treten werden läßt.. So ähnlich sprechen wir von der „Hohen Pforte‘
und meinen damit den Sultan und seine Regierung; auch der Name
des altägyptischen Herrschers Pharao bedeutete nichts anderes als
„großer Hofraum“. (Im alten Orient sind die Höfe zwischen den
Doppeltoren der Stadt Orte der Zusammenkunft wie in der klassischen
Welt ‘die Marktplätze.) Allein ich meine, diese Ableitung ist eine
allzu oberflächliche. Es ist mir wahrscheinlicher,; daß: das Zimmer
als der den Menschen umschließende Raum zum Symbol. des Weibes
geworden ist. Das Haus kennen wir ja schon in solcher Bedeutung; aus
der Mythologie und aus dem poetischen Stil dürfen. wir Stadt,
Burg, Schloß, Festung als weitere Symbole für das Weib hin-
zunehmen. Die Frage wäre an Träumen solcher Personen, die nicht
Deutsch sprechen, und es nicht verstehen, leicht zu entscheiden. Ich
habe in den letzten Jahren vorwiegend fremdsprachige Patienten
behandelt und glaube mich zu erinnern, daß in deren Träumen das
Zimmer gleichfalls ein Frauenzimmer bedeutete, obwohl sie keinen
analogen Sprachgebrauch in ihren Sprachen hatten. Es sind noch
andere Anzeichen dafür vorhanden, daß die Symbolbeziehung über
die Sprachgrenzen hinausgehen kann, was übrigens schon der alte
166 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Traumforscher Schubert (1862) behauptet hat. Indes, keiner meiner
Träumer war des Deutschen völlig unkundig, so daß ich diese Unter-
scheidung jenen Psychoanalytikern überlassen muß, die in anderen
Ländern an einsprachigen Personen Erfahrungen sammeln können.
Unter den Symboldarstellungen des männlichen Genitales ist kaum
eine, die nicht im scherzhaften, vulgären oder im poetischen Sprach-
gebrauch, zumal bei den altklassischen Dichtern, wiederkehrte. Es
kommen hierfür aber nicht nur die im Traume auftretenden Sym-
bole in Betracht, sondern auch neue, z. B. die Werkzeuge verschiedener
Verrichtungen, in erster Reihe der Pflug. Im übrigen nahen wir
mit der Symboldarstellung des Männlichen einem sehr ausgedehnten
und vielumstrittenen Gebiet, von dem wir uns aus ökonomischen
Motiven fernehalten wollen. Nur dem einen, gleichsam aus der Reihe
fallenden Symbol der 3 möchte ich einige Bemerkungen widmen.
Ob diese Zahl nicht etwa ihre Heiligkeit dieser Symbolbeziehung
verdankt, bleibe dahingestellt. Gesichert scheint aber, daß manche
in der Natur vorkommende dreiteilige Dinge ihre Verwendung zu
Wappen und Emblemen von solcher Symbolbedeutung ableiten, z.B.
das Kleeblatt. Auch die dreiteilige sogenannte französische Lilie und
das sonderbare Wappen zweier so weit voneinander entfernten Inseln
wie Sizilien und die Isle of Man, das Triskeles (drei halbgebeugte
Beine von einem Mittelpunkt ausgehend) sollen nur Umstilisierungen
eines männlichen Genitales sein. Ebenbilder des männlichen Gliedes
galten im Altertum als die kräftigsten Abwehrmittel (Apotropaea)
gegen böse Einflüsse, und es steht im Zusammenhange damit, daß
die glückbringenden Amulette unserer Zeit sämtlich leicht als Genital-
oder Sexualsymbole zu erkennen sind. Betrachten wir eine solche
Sammlung, wie sie etwa in Form kleiner silberner Anhängsel ge-
tragen wird: ein vierblättriges Kleeblatt, ein Schwein, ein Pilz, ein
Hufeisen, eine Leiter, ein Rauchfangkehrer. Das vierblättrige Klee-
blatt ist an die Stelle des eigentlich zum Symbol geeigneten drei-
blättrigen getreten; das Schwein ist ein altes F ruchtbarkeitssymbol;
der Pilz ist ein unzweifelhaftes Penissymbol, es gibt Pilze, die ihrer
X. Die Symbolik im Traum 167
unverkennbaren Ähnlichkeit mit dem männlichen Glied ihren syste-
matischen Namen verdanken (Phallus impudicus); das Hufeisen
wiederholt den Umriß der weiblichen Geschlechtsöffnung, und der
Rauchfangkehrer, der die Leiter trägt, taugt in diese Gemeinschaft,
weil er eine jener Hantierungen übt, mit denen der Geschlechts-
verkehr vulgärerweise verglichen wird (S. die Anthropophyteia).
Seine Leiter haben wir im Traume als Sexualsymbol kennen gelernt;
der deutsche Sprachgebrauch kommt uns hier zu Hilfe, der uns zeigt,
wie das Wort „steigen“ in exquisit sexuellem Sinn angewendet wird.
Man sagt: „Den Frauen nachsteigen“ und „ein alter Steiger“.
Im Französischen, wo die Stufe /a marche heißt, finden wir ganz
analog für einen alten Lebemann den Ausdruck „un vıeux mar-
cheur“. Daß der Geschlechtsverkehr vieler großer Tiere ein Steigen,
Besteigen des Weibchens, zur Voraussetzung hat, ist diesem Zu-
sammenhang wahrscheinlich nicht fremd.
Das Abreißen eines Astes als symbolische Darstellung der Onanie
stimmt nicht nur zu vulgären Bezeichnungen des onanistischen Aktes,
sondern hat auch weitgehende mythologische Parallelen. Besonders
merkwürdig ist aber die Darstellung der Onanie oder besser der
Strafe dafür, der Kastration, durch Zahnausfall und Zahnausreißen,
weil sich dazu ein Gegenstück aus der Völkerkunde findet, das den
wenigsten Träumern bekannt sein dürfte. Es scheint mir nicht
zweifelhaft, daß die bei so vielen Völkern geübte Beschneidung ein
Äquivalent und eine Ablösung der Kastration ist. Und nun wird uns
berichtet, daß in Australien gewisse primitive Stämme die Beschnei-
dung als Pubertätsritus ausführen (zur Mannbarkeitsfeier der Jugend),
während andere, ganz nahewohnende, an Stelle dieses Aktes das Aus-
schlagen eines Zahnes gesetzt haben.
Ich beende meine Darstellung mit diesen Proben. Es sind nur Pro-
ben; wir wissen mehr darüber, und Sie mögen sich vorstellen, um
wie viel reichhaltiger und interessanter eine derartige Sammlung aus-
fallen würde, die nicht von Dilettanten wie wir, sondern von den
richtigen Fachleuten in der Mythologie, Anthropologie, Sprachwissen-
168 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
schaft, im Folklore angestellt wäre. Es drängt uns zu einigen Folge-
rungen, die nicht erschöpfend sein können, aber uns viel zu denken
geben werden.
Fürs erste sind wir vor die Tatsache gestellt, daß dem Träumer
die:symbolische Ausdrucksweise zu Gebote steht, die er im Wachen
"nicht kennt und nicht wiedererkennt. Das ist so verwunderlich, wie
wenn Sie die Entdeckung machen würden, daß Ihr Stubenmädchen
Sanskrit versteht, obwohl Sie wissen, daß sie in einem böhmischen
Dorf geboren ist und es nie gelernt hat. Es ist nicht leicht, diese
Tatsache mit unseren psychologischen Anschauungen zu bewältigen.
Wir können nur sagen, die Kenntnis der Symbolik ist dem Träumer
unbewußt, sie gehört seinem unbewußten Geistesleben an. Wir
kommen aber auch mit dieser Annahme nicht nach. Bisher. hatten
wir nur notwendig, unbewußte Strebungen anzunehmen, solche,
von denen man zeitweilig oder dauernd nichts weiß. Jetzt aber han-
delt essich um mehr, geradezu um unbewußte Kenntnisse, um Denk-
‚beziehungen, Vergleichungen zwischen verschiedenen Objekten, die
dazu führen, daß das eine konstant an Stelle des anderen gesetzt
werden kann. Diese Vergleichungen werden nicht jedesmal neu an-
gestellt, sondern sie liegen bereit, sie sind ein- für allemal fertig; das
geht ja aus ihrer Übereinstimmung bei verschiedenen Personen, ja
vielleicht Übereinstimmung trotz der Sprachverschiedenheit, hervor.
Woher soll die Kenntnis dieser Symbolbeziehungen kommen?
Der Sprachgebrauch deckt nur einen kleinen Teil derselben. Die viel-
fältigen Parallelen aus anderen Gebieten sind dem Träumer zumeist
unbekannt; auch wir mußten sie erst mühsam zusammensuchen.
Zweitens sind diese Symbolbeziehungen nichts, was dem Träumer
oder der Traumarbeit, durch die sie zum Ausdruck kommen, eigen-
tümlich wäre. Wir haben ja erfahren, derselben Symbolik bedienen
sich Mythen und Märchen, das Volk in seinen Sprüchen und Liedern,
der gemeine Sprachgebrauch und die dichterische Phantasie. Das
Gebiet der Symbolik ist ein ungemein sroßes, die Traumsymbolik
ist nur ein kleiner Teil davon; es ist nicht einmal zweckmäßig, das
A, Die Symbolik im Traum 169
ganze Problem vom "Traum aus in Angriff zu nehmen. Viele der
anderswo gebräuchlichen Symbole kommen im Traum nicht oder
nur sehr selten vor; manche der Traumsymbole finden sich nicht
auf allen anderen Gebieten wieder, sondern, wie Sie gesehen haben,
nur hier oder dort. Man bekommt den Eindruck, daß hier eine alte,
aber untergegangene Ausdrucksweise vorliegt, von welcher sich auf
verschiedenen Gebieten Verschiedenes erhalten hat, das eine nur hier,
das andere nur dort, ein drittes vielleicht in leicht veränderten Formen
auf mehreren Gebieten. Ich muß hier der Phantasie eines interes-
santen Geisteskranken gedenken, welcher eine „Grundsprache“
imaginiert hatte, von welcher all diese Symbolbeziehungen die Über-
reste wären. | | |
Drittens muß Ihnen auffallen, daß die Symbolik auf den genannten
anderen Gebieten keineswegs nur Sexualsymbolik ist, während im
Traume die Symbole fast ausschließend zum Ausdruck sexueller Ob-
jekte und Beziehungen verwendet werden. Auch das ist nicht leicht
erklärlich. Sollten ursprünglich sexuell bedeutsame Symbole später
eine andere Anwendung erhalten haben, und hinge damit etwa noch
die Abschwächung von der symbolischen zur andersartigen Darstel-
lung zusammen? Diese Fragen sind offenbar nicht zu beantworten,
wenn man sich nur mit der 'Traumsymbolik beschäftigt hat. Man
darf nur an der Vermutung festhalten, daß eine besonders innige Be-
zıehung zwischen den richtigen Symbolen und dem Sexuellen besteht.
Ein wichtiger Fingerzeig ist uns hier in den letzten Jahren ge-
geben worden. Ein Sprachforscher, H. Sperber (Upsala), der unab-
hängig von der Psychoanalyse arbeitet, hat die Behauptung aufge-
stellt, daß sexuelle Bedürfnisse an der Entstehung und Weiterbildung
der Sprache den größten Anteil gehabt haben. Die anfänglichen
Sprachlaute haben der Mitteilung gedient und den sexuellen Partner
herbeigerufen: die weitere Entwicklung der Sprachwurzeln habe die
Arbeitsverrichtungen der Urmenschen begleitet. Diese Arbeiten seien
gemeinsame gewesen und unter rhythmisch wiederholten Sprach-
äußerungen vor sich gegangen. Dabei sei ein sexuelles Interesse auf
170 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
die Arbeit verlegt worden. Der Urmensch habe sich gleichsam die
Arbeit annehmbar gemacht, indem er sie als Äquivalent und Ersatz
der Geschlechtstätigkeit behandelte. Das bei der gemeinsamen Arbeit
hervorgestoßene Wort habe so zwei Bedeutungen gehabt, den Ge-
schlechtsakt bezeichnet wie die ihm gleichgesetzte Arbeitstätigkeit.
Mit der Zeit habe sich das Wort von der sexuellen Bedeutung los-
gelöst und an diese Arbeit fixiert. Generationen später sei es mit einem
neuen Wort, das nun die Sexualbedeutung hatte und auf eine neue
Art von Arbeit angewendet wurde, ebenso ergangen. Auf solche
Weise hätte sich eine Anzahl von Sprachwurzeln gebildet, die alle
sexueller Herkunft waren und ihre sexuelle Bedeutung abgegeben
hatten. Wenn die hier skizzierte Aufstellung das Richtige trifft, er-
öffnet sich uns allerdings eine Möglichkeit des Verständnisses für die
Traumsymbolik. Wir würden begreifen, warum es ım Traum, der
etwas von diesen ältesten Verhältnissen bewahrt, so außerordentlich
viele Symbole für das Geschlechtliche gibt, warum allgemein Waffen
und Werkzeuge immer für das Männliche, die Stoffe und das Be-
arbeitete fürs Weibliche stehen. Die Symbolbeziehung wäre der
Überrest der alten Wortidentität; Dinge, die einmal gleich geheißen
haben wie das Genitale, könnten jetzt im Traum als Symbole für das-
selbe eintreten. |
Aus unseren Parallelen zur Traumsymbolik können Sie aber auch
Schätzung für den Charakter der Psychoanalyse gewinnen, der sie
befähigt, Gegenstand des allgemeinen Interesses zu werden, wie weder
die Psychologie noch die Psychiatrie es konnten. Es spinnen sich bei
der psychoanalytischen Arbeit Beziehungen zu so vielen anderen
Geisteswissenschaften an, deren Untersuchung die wertvollsten Auf-
schlüsse verspricht, zur Mythologie wie zur Sprachwissenschaft, zum
Folklore, zur Völkerpsychologie und zur Religionslehre. Sie werden
es verständlich finden, daß auf psychoanalytischem Boden eine Zeit-
schrift erwachsen ist, welche sich die Pflege dieser Beziehungen zur
ausschließlichen Aufgabe gemacht hat, die ıgı2 gegründete, von
Hanns Sachs und Otto Rank geleitete „Imago“. In all diesen Be-
X. Die Symbolik im Traum 171
ziehungen ist die Psychoanalyse zunächst der gebende, weniger der
empfangende Teil. Sie hat zwar den Vorteil davon, daß uns ihre
fremdartigen Ergebnisse durch das Wiederfinden auf anderen Ge-
bieten vertrauter werden, aber im ganzen ist es die Psychoanalyse,
welche die technischen Methoden und die Gesichtspunkte beistellt,
deren Anwendung sich aufjenen anderen Gebieten fruchtbar erweisen
soll. Das seelische Leben des menschlichen Einzelwesens ergibt uns
bei psychoanalytischer Untersuchung die Aufklärungen, mit denen
wir manches Rätsel im Leben der Menschenmassen lösen oder doch
ins rechte Licht rücken können.
Übrigens habe ich Ihnen noch gar nicht gesagt, unter welchen
Umständen wir die tiefste Einsicht in jene supponierte „Grundsprache“
nehmen können, auf welchem Gebiet am meisten von ihr erhalten
ist. Solange Sie dies nicht wissen, können Sie auch die ganze Bedeu-
tung des Gegenstandes nicht würdigen. Dies Gebiet ist nämlich die
Neurotik, sein Material die Symptome und andere Äußerungen der
Nervösen, zu deren Aufklärung und Behandlung ja die Psychoanalyse
geschaffen worden ist.
Mein vierter Gesichtspunkt kehrt nun wieder zu unserem Aus-
gang zurück und lenkt in die uns vorgezeichnete Bahn ein. Wir
sagten, auch wenn es keine Traumzensur gäbe, würde der Traum
uns doch noch nicht leicht verständlich sein, denn dann tänden wir
uns vor der Aufgabe, die Symbolsprache des 'Traumes in die unseres
wachen Denkens zu übersetzen. Die Symbolik ist also ein zweites
und unabhängiges Moment der Traumentstellung neben der Traum-
zensur. Es liegt aber nahe anzunehmen, daß es der 'Traumzensur
bequem ist, sich der Symbolik zu bedienen, da diese zu demsel-
ben Ende, zur Fremdartigkeit und Unverständlichkeit des Traumes,
führt.
Ob wir bei weiterem Studium des Traumes nicht auf ein neues
Moment, welches zur Traumentstellung beiträgt, stoßen werden,
muß sich ja alsbald zeigen. Das Thema der Traumsymbolik möchte
ich aber nicht verlassen, ohne nochmals das Rätsel zu berühren, daß
172 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
sie auf so heftigen Widerstand bei den Gebildeten stoßen konnte,
wo die Verbreitung der Symbolik in Mythus, Religion, Kunst und
Sprache so unzweifelhaft ist. Ob nicht wiederum die Beziehung zur
Sexualität die Schuld daran trägt?
XI. VORLESUNG
DIE TRAUMARBEIT
.. Meine Damen und Herren! Wenn Sie die Traumzensur und die
Symboldarstellung bewältigt haben, haben Sie die Traumentstellung
zwar noch nicht gänzlich überwunden, aber Sie sind doch imstande,
die meisten 'Träume zu verstehen. Sie bedienen sich dabei der beiden
einander ergänzenden Techniken, rufen Einfälle des Träumers auf,
bis Sie vom Ersatz zum Eigentlichen vorgedrungen sind, und setzen
für die Symbole deren Bedeutung aus eigener Kenntnis ein. Von
gewissen Unsicherheiten, die sich dabei ergeben, werden wir später
handeln. |
Wir können nun eine Arbeit wieder aufnehmen, die wir seinerzeit
mit unzureichenden Mitteln versuchten, als wir die Beziehungen
zwischen den Traumelementen und ihren Eigentlichen studierten
und dabei vier solcher Hauptbeziehungen feststellten, die des Teils
vom Ganzen, die der Annäherung oder Anspielung, die symbolische
Beziehung und die plastische Wortdarstellung. Dasselbe wollen wir
im größeren Maßstabe unternehmen, indem wir den manifesten
Trauminhalt im ganzen mit dem durch Deutung gefundenen laten-
ten Iraum vergleichen.
Ich hoffe, Sie werden diese beiden nie wieder miteinander ver-
wechseln. Wenn Sie das zustande bringen, haben Sie im Verständ-
nis des Traumes mehr erreicht als wahrscheinlich die meisten Leser
meiner „Traumdeutung“. Lassen ‘Sie sich auch noch einmal vor-
174 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
halten, daß jene Arbeit, welche den latenten Traum ın den mani-
festen umsetzt, die Traumarbeit heißt. Die in entgegengesetzter
Richtung fortschreitende Arbeit, welche vom manifesten Traum zum
latenten gelangen will, ist unsere Deutungsarbeit. Die Deutungs-
arbeit will die Traumarbeit aufheben. Die als evidente Wunsch-
erfüllungen erkannten Träume vom infantilen Typus haben doch
ein Stück der Traumarbeit an sich erfahren, nämlich die Umsetzung
der Wunschform in die Realität und zumeist auch die der Gedanken
in visuelle Bilder. Hier bedarf es keiner Deutung, nur der Rück-
bildung dieser beiden Umsetzungen. Was bei den anderen Träumen
an Traumarbeit noch hinzugekommen ist, das heißen wir die Traum-
entstellung, und diese ist durch unsere Deutungsarbeit rückgängig
zu machen.
Durch die Vergleichung vieler Traumdeutungen bin ich in die
Lage versetzt, Ihnen in zusammenfassender Darstellung anzugeben,
was die Traumarbeit mit dem Material der latenten Traumgedanken
macht. Ich bitte Sie aber, davon nicht zuviel verstehen zu wollen.
Es ist ein Stück Deskription, welches mit ruhiger Aufmerksamkeit
angehört werden soll.
Die erste Leistung der Traumarbeit ist die Verdichtung. Wir
verstehen darunter die Tatsache, daß der manifeste Traum weniger
Inhalt hat als der latente, also eine Art von abgekürzter Übersetzung
des letzteren ist. Die Verdichtung kann eventuell einmal fehlen, sie
ist in der Regel vorhanden, sehr häufig enorm. Sie schlägt niemals
ins Gegenteil um, d. h. es kommt nicht vor, daß der manifeste Traum
umfang- und inhaltsreicher ist als der latente. Die Verdichtung kommt
dadurch zustande, daß 1. gewisse latente Elemente überhaupt ausge-
lassen werden, 2. daß von manchen Komplexen des latenten Traumes
nur ein Brocken in den manifesten übergeht, 3. daß latente Elemente,
die etwas Gemeinsames haben, für den manifesten Traum zusammen-
gelegt, zu einer Einheit verschmolzen werden. °
Wenn Sie wollen, können Sie den Namen „Verdichtung“ für diesen
letzten Vorgang allein reservieren. Seine Effekte sind besonders leicht
XI. Die Traumarbeit 175
zu demonstrieren. Aus ihren eigenen Träumen werden Sie sich mühe-
los an die Verdichtung verschiedener Personen zu einer einzigen er-
innern. Eine solche Mischperson sieht etwa aus wie A, ist aber ge-
kleidet wie B, tut eine Verrichtung, wie man sie von © erinnert, und
dabei ist noch ein Wissen, daß es die Person D ist. Durch diese Misch-
bildung wird natürlich etwas den vier Personen Gemeinsames beson-
ders hervorgehoben. Ebenso wieaus Personen kann man aus Gegenstän-
den oder aus Örtlichkeiten eine Mischbildung herstellen, wenn die Be-
dingung erfüllt ist, daß die einzelnen Gegenstände und Örtlichkeiten
etwas, was der latente Traum betont, miteinander gemein haben.
Es ist das wie eine neue und flüchtige Begriffsbildung mit diesem
Gemeinsamen als Kern. Durch das Übereinanderfallen der mitein-
ander verdichteten Einzelnen entsteht in der Regel ein unscharfes,
verschwommenes Bild, so ähnlich, wie wenn Sie mehrere Aufnahmen
auf die nämliche Platte bringen.
Der Traumarbeit muß an der Herstellung solcher Mischbildungen
viel gelegen sein, denn wir können nachweisen, daß die hierzu erfor-
derten Gemeinsamkeiten absichtlich hergestellt werden, wo sie zunächst
vermißt wurden, z. B. durch die Wahl des wörtlichen Ausdrucks für
einen Gedanken. Wir haben solche Verdichtungen und Mischbil-
dungen schon kennen gelernt; sie spielten in der Entstehung man-
cher Fälle von Versprechen eine Rolle. Erinnern Sie sich an den jungen
Mann, der eineDamebegleitdigen wollte. Außerdem gibt es Witze,
deren Technik sich auf eine solche Verdichtung zurückführt. Davon
abgesehen, darf man aber behaupten, daß dieser Vorgang etwas ganz.
Ungewöhnliches und Befremdliches ist. Die Bildung der Mischpersonen
des 'Traumes findet zwar Gegenstücke in manchen Schöpfungen un-
serer Phantasie, die leicht Bestandteile, welche in der Erfahrung nicht
zusammengehören, zu einer Einheit zusammensetzt, also z. B. in den
Centauren und Fabeltieren der alten Mythologie oder der Böck-
linschen Bilder. Die „schöpferische“ Phantasie kann ja überhaupt
nichts erfinden, sondern nur einander fremde Bestandteile zusammen-
setzen. Aber das Sonderbare an dem Verfahren der Traumarbeit ist
176 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
folgendes: Das Material, das der Traumarbeit vorliegt, sind ja Ge-
danken, Gedanken, von denen einige anstößig und unannehmbar
sein mögen, die aber korrekt gebildet und ausgedrückt sind, Diese
Gedanken werden durch die Traumarbeit in eine andere Form über-
geführt, und es ist merkwürdig und unverständlich, daß bei dieser
Übersetzung, Übertragung wie in eine andere Schrift oder Sprache,
die Mittel der Verschmelzung und Kombination Anwendung finden,
Eine Übersetzung ist doch sonst bestrebt, die im Text gegebenen
Sonderungen zu achten und gerade Ähnlichkeiten auseinander zu
halten. Die Traumarbeit bemüht sich ganz im Gegenteile, zwei ver-
schiedene Gedanken dadurch zu verdichten, daß sie ähnlich wie der
Witz ein mehrdeutiges Wort heraussucht, in dem sich die beiden Ge-
danken treffen können. Man muß diesen Zug nicht sofort verstehen
wollen, aber er kann für die Auffassung der 'Traumarbeit bedeutungs-
voll werden.
Obwohl die Verdichtung den Traum undurchsichtig macht, be-
kommt man doch nicht den Eindruck, daß sie eine Wirkung der
Traumzensur sei. Eher möchte man sie auf mechanische oder öko-
nomische Momente zurückführen; aber die Zensur findet jedenfalls
ihre Rechnung dabei. |
Die Leistungen der Verdichtung können ganz außerordentliche
sein. Mit ihrer Hilfe wird es gelegentlich möglich, zwei ganz ver-
schiedene latente Gedankengänge in einem manifesten Traum zu
vereinigen, so daß man eine anscheinend zureichende Deutung eines
Traumes erhalten und dabei doch eine mögliche Überdeutung über-
sehen kann.
Die Verdichtung hat auch für das Verhältnis zwischen dem latenien
und dem manifesten Traum die Folge, daß keine einfache Beziehung
zwischen den Elementen hier und dort bestehen bleibt. Ein manifestes
Element entspricht gleichzeitig mehreren latenten, und umgekehrt
kann ein latentes Element an mehreren manifesten beteiligt sein,
also nach Art einer Verschränkung. Bei der Deutung des Traumes
zeigt es sich auch, daß die Einfälle zu einem einzelnen manifesten
X]. Die Traumarbeit 177
Element nicht der Reihe nach zu kommen brauchen. Man muß oft
abwarten, bis der ganze Traum gedeutet ist.
Die Traumarbeit besorgt also eine sehr ungewöhnliche Art von
Transkription der Traumgedanken, nicht eine Übersetzung Wort für
Wort oder Zeichen für Zeichen, auch nicht eine Auswahl nach be-
stimmter Regel, wie wenn nur die Konsonanten eines Wortes wieder-
gegeben, die Vokale aber ausgelassen würden, auch nicht, was man
eine Vertretung heißen könnte, daß immer ein Element an Stelle
mehrerer herausgegriffen wird, sondern etwas anderes und weit
Komplizierteres.
Die zweite Leistung der Traumarbeit ist die Verschiebung. Für
diese haben wir zum Glück schon vorgearbeitet; wir wissen ja, sie
ist ganz das Werk der Traumzensur. Ihre beiden Äußerungen sind
erstens, daß ein latentes Element nicht durch einen eigenen Bestand-
teil, sondern durch etwas Entfernteres, also durch eine Anspielung
ersetzt wird, und zweitens, daß der psychische Akzent von einem
wichtigen Element auf ein anderes, unwichtiges übergeht, so daß der
Traum anders zentriert und fremdartig erscheint.
Die Ersetzung durch eine Anspielung ist auch in unserem wachen
Denken bekannt, aber es ist ein Unterschied dabei. Im wachen Denken
muß die Anspielung eine leicht verständliche sein, und der Ersatz
muß in inhaltlicher Beziehung zu seinem Eigentlichen stehen. Auch
der Witz bedient sich häufig der Anspielung, er läßt die Bedingung
der inhaltlichen Assoziation fallen und ersetzt diese durch ungewohnte
äußerliche Assoziationen wie Gleichklang und Wortvieldeutigkeit u. a.
Die Bedingung der Verständlichkeit hält er aber fest; der Witz käme
um jede Wirkung, wenn der Rückweg von der Anspielung zum
Eigentlichen sich nicht mühelos ergeben würde. Von beiden Ein-
schränkungen hat sich aber die Verschiebungsanspielung des Traumes
frei gemacht. Sie hängt durch die äußerlichsten und entlegensten
Beziehungen mit dem Element, das sie ersetzt, zusammen, ist darum
unverständlich, und wenn sie rückgängig gemacht wird, macht ihre
Deutung den Eindruck eines mißratenen Witzes oder einer gewalt-
Freud VI ı2
178 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
samen, gezwungenen, an den Haaren herbeigezogenen Auslegung. Die
Traumzensur hat eben nur dann ihr Ziel erreicht, wenn es ihr ge-
lungen ist, den Rückweg von der Anspielung zum Eigentlichen unauf-
findbar zu machen.
Die Akzentverschiebung ist als Mittel des Gedankenausdrucks un-
erhört. Wir lassen sie im wachen Denken manchmal zu, um einen
komischen Effekt zu erzielen. Den Eindruck der Verirrung, den sie
macht, kann ich etwa bei Ihnen hervorrufen, wenn ich Sie an die
Anekdote erinnere, daß es in einem Dorf einen Schmied gab, der sich
einestodeswürdigen Verbrechensschuldig gemacht hatte. Der Gerichts-
hof beschloß, daß die Schuld gesühnt werde, aber da der Schmied
allein im Dorfe und unentbehrlich war, dagegen drei Schneider im
Dorfe wohnten, wurde einer dieser drei an seiner Statt gehängt.
Die dritte Leistung der’Traumarbeit ist die psychologisch interessan-
teste. Sie besteht in der Umsetzung von Gedanken in visuelle Bilder.
Halten wir fest, daß nichtallesin den Traumgedanken diese Umsetzung
ertährt; manches behält seine Form und erscheint auch im manifesten
Traum als Gedanke oder als Wissen; auch sind visuelle Bilder nicht
die einzige Form, in welche die Gedanken umgesetzt werden. Aber
sie sind doch das Wesentliche an der Traumbildung; dieses Stück der
Traumarbeit ist das zweitkonstanteste, wie wir schon wissen, und für
‚ einzelne Traumelemente haben wir die „plastische Wortdarstellung“
bereits kennen gelernt.
Es ist klar, daß diese Leistung keine leichte ist. Um sich einen
Begriff von ihren Schwierigkeiten zu machen, müssen Sie sich vor-
stellen, Sie hätten die Aufgabe übernommen, einen politischen Leit-
artikel einer Zeitung durch eine Reihe von Illustrationen zu ersetzen;
Sie wären also von der Buchstabenschrift zur Bilderschrift zurück-
geworfen. Was in diesem Artikel von Personen und konkreten Gegen-
ständen genannt wird, das werden Sie leicht und vielleicht selbst mit
Vorteil durch Bilder ersetzen, aber die Schwierigkeiten erwarten Sie
bei der Darstellung aller abstrakten Worte und aller Redeteile, die
Denkbeziehungen anzeigen wie der Partikeln, Konjunktionen u. dgl.
AI. Die Traumarbeit 179
Bei den äbstrakten Worten werden Sie sich durch allerlei Kunstgriffe
helfen können. Sie werden z. B. bemüht sein, den Text des Artikels
in anderen Wortlaut umzusetzen, der vielleicht ungewohnter klingt,
aber mehr konkrete und der Darstellung fähige Bestandteile enthält.
Dann werden Sie sich erinnern, daß die meisten abstrakten Worte
abgeblaßte konkrete sind, und werden darum, so oft Sie können, auf
die ursprüngliche konkrete Bedeutung dieser Worte zurückgreifen.
Sie werden also froh sein, daß Sie ein „Besitzen“ eines Objekts als
ein wirkliches körperliches Daraufsitzen darstellen können. So macht
es auch die Traumarbeit. Große Ansprüche an die Genauigkeit der
Darstellung werden Sie unter solchen Umständen kaum machen
können. Sie werden es also auch der Traumarbeit hingehen lassen,
daß sie z. B. ein so schwer bildlich zu bewältigendes Element wie
Ehebruch durch einen anderen Bruch, einen Beinbruch, ersetzt." Auf
ı) Der Zufall führt mir während der Korrektur dieser Bogen eine Zeitungsnotiz zu,
die ich als unerwartete Erläuterung zu den obigen Sätzen hier abdrucke:
„DIE STRAFE GOTTES. (Armbruch für Ehebruch.) Frau Anna M., die can
eines Landstürmers, verklagte Frau KlementineK. wegenEhebruches. Inder Klage heißt
es, daß die K. mit Karl M. ein strafbares Verhältnis gepflogen habe, während ihr eigener
Mann im Felde steht, von wo er ihr sogar siebzig Kronen monatlich schickt. Die K. habe
von dem Gatten der Klägerin schon ziemlich viel Geld erhalten, während sie mit ihrem
Kinde in Hunger und Elend leben müsse. Kameraden ihres Mannes hatten ihr hinter-
bracht, daß die K. mit M. Weinstuben besucht und dort bis in die späte Nacht hinein-
gezecht habe. Einmal habe die Angeklagte den Mann der Klägerin vor mehreren Infante-
risten sogar gefragt, ob er sich denn nicht von seiner „Alten“ schon bald scheiden lasse,
um zu ihr zu ziehen. Auch die Hausbesorgerin der K. habe den Mann der Klägerin wieder-
holt im tiefsten Negligee in der Wohnung der K. gesehen.
Die K. leugnete gestern vor einem Richter der Leopoldstadt, den M. zu kennen, von
intimen Beziehungen könne schon gar keine Rede sein.
Die Zeugin Albertine M. gab jedoch an, daß die K. den Gatten der Klägerin geküßt
habe und dabei von ihr überrascht wurde.
Der schon in einer früheren Verhandlung als Zeuge’vernommene M. hatte damals die
intimen Beziehungen zur Angeklagten in Abrede gestellt. Gestern lag dem Richter ein
Brief vor, worin der Zeuge seine in der ersten Verhandlung gemachten Aussagen wider-
rief und zugibt, bis vorigen Juni mit der K. ein Liebesverhältnis unterhalten zu haben.
Er habe in der früheren Verhandlung seine Beziehungen zur Beschuldigten bloß deswegen
in Abrede gestellt, weil diese vor der Verhandlung bei ihm erschienen sei und ihn knie-
fällig gebeten habe, er möge sie doch retten und nichts aussagen. „Heute“ — schrieb
der Zeuge — „fühle ich mich dazu gedrängt, dem Gerichte ein volles Geständnis abzu-
legen, daichmeinenlinkenArm gebrochen habe und mir diesals eine Strafe Gottes
für mein Vergehen erscheint.“
Der Richter stellte fest, daß die strafbare Handlung bereits verjährt ist, Sour die
Klägerin ihre Klage zurückzog und der Freispruch der Angeklagten erfolgte,
ı2*
180° Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
solche Weise werden Sie es dazu bringen, die Ungeschicklichkeiten
der Bilderschrift, wenn sie die Buchstabenschrift ersetzen soll, einiger-
maßen auszugleichen.
Bei der Darstellung der Redeteile, welche Denkrelationen anzeigen,
des „weil, darum, aber“ usw., haben Sie keine derartigen Hilfsmittel;
diese Bestandteile des Textes werden also für ihre Umsetzung ın Bilder
verloren gehen. Ebenso wird durch die Traumarbeit der Inhalt der
Traumgedanken in sein Rohmaterial von Objekten und Tätigkeiten
aufgelöst. Sie können zufrieden sein, wenn sich Ihnen die Möglich-
keit ergibt, gewisse an sich nicht darstellbare Relationen ın der fei-
neren Ausprägung der Bilder irgendwie anzudeuten. Ganz so gelingt
es der Traumarbeit, manches vom Inhalt der latenten 'Traumgedanken
in formalen Eigentümlichkeiten desmanifesten Traumesauszudrücken,
in der Klarheit oder Dunkelheit desselben, in seiner Zerteilung in
mehrere Stücke u.ä. Die Anzahl der Partialträume, in welche ein
Traum zerlegt ist, korrespondiert in der Regel mit der Anzahl der
Hauptthemen, der Gedankenreihen im latenten Traum; ein kurzer
Vortraum steht zum nachfolgenden ausführlichen Haupttraum oft
in der Beziehung einer Einleitung oder einer Motivierung; ein Neben-
satz in den Traumgedanken wird durch einen eingeschalteten Szenen-
wechsel im manifesten Traum ersetzt usw. Die Form der Träume
ist also an sich keineswegs bedeutungslos und fordert selbst zur Deu-
tung heraus. Mehrfache Träume derselben Nacht haben oft die näm-
liche Bedeutung und zeigen die Bemühung an, einen Reiz von an-
steigender Dringlichkeit immer besser zu bewältigen. Im einzelnen
Traum selbst kann ein besonders schwieriges Element eine Darstellung
durch „Doubletten“, mehrfache Symbole, finden.
Bei fortgesetzten Vergleichungen der Traumgedanken mit den sie
ersetzenden manifesten Träumen erfahren wir allerlei, worauf wir
nicht vorbereitet sein konnten, z.B. daß auch der Unsinn und die
Absurdität der Träume ihre Bedeutung haben. Ja, in diesem Punkte
spitzt sich der Gegensatz der medizinischen und derpsychoanalytischen
Auffassung des Traumes zu einer sonst nicht erreichten Schärfe zu.
XI. Die Traumarbeit 181
Nach ersterer ist der Traum unsinnig, weil die träumende Seelen-
tätigkeit jede Kritik eingebüßt hat; nach unserer dagegen wird der
Traum dann unsinnig, wenn eine in den Traumgedanken enthaltene
Kritik, das Urteil „es ist unsinnig“, zur Darstellung gebracht werden
soll. Der Ihnen bekannte Traum vom Theaterbesuch (drei Karten
für ı fl. 50 kr.) ist ein gutes Beispiel dafür. Das so ausgedrückte Ur-
teil lautet: Es war ein Unsinn, so früh zu heiraten.
Ebenso erfahren wir bei der Deutungsarbeit, was den so häufig
vom Träumer mitgeteilten Zweifeln und Unsicherheiten entspricht,
ob ein gewisses Element im Traume vorgekommen, ob es dies oder
nicht vielmehr etwas anderes gewesen sei. Diesen Zweifeln und Un-
sicherheiten entspricht in der Regel in den latenten Traumgedanken
nichts; sie rühren durchwegs von der Wirkung der Traumzensur her
und sind einer versuchten, nicht voll gelungenen Ausmerzung gleich-
zusetzen.
Zu den überraschendsten Funden gehört die Art, wie die Traum-
arbeit Gegensätzlichkeiten des latenten Traumes behandelt. Wir wissen
schon, daß Übereinstimmungen im latenten Material durch Verdich-
tungen im manifesten Traum ersetzt werden. Nun, Gegensätze werden
ebenso behandelt wie Übereinstimmungen, mit besonderer Vorliebe
durch das nämliche manifeste Element ausgedrückt. Ein Element im
manifesten Traum, welches eines Gegensatzes fähig ist, kann also eben-
sowohl sich selbst bedeuten wie seinen Gegensatz oder beides zugleich;
erst der Sinn kann darüber entscheiden, welche Übersetzung zu wäh-
lenist. Damit hängt esdann zusammen, daß eine Darstellungdes „Nein“
im Traume nicht zu finden ist, wenigstens keine unzweideutige.
Eine willkommene Analogie für dies befremdende Benehmen der
Traumarbeit hat uns die Sprachentwicklung geliefert. Manche
Sprachforscher haben die Behauptung aufgestellt, daß in den ältesten
Sprachen Gegensätze wie stark—schwach, licht—dunkel, groß—klein
durch das nämliche Wurzelwort ausgedrückt wurden. („Der Gegen-
sinn der Urworte“.) So hieß im Altägyptischen ken ursprünglich
stark und schwach. In der Rede schützte man sich vor Mißverständ-
ı82 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
nissen beim Gebrauch so ambivalenter Worte durch den Ton und
die beigefügte Geste, in der Schrift durch die Hinzufügung eines so-
genannten Determinativs, d. h. eines Bildes, das selbst nicht zur Aus-
sprache bestimmt war. Ken — stark wurde also geschrieben, indem
nach den Buchstabenzeichen das Bild eines aufrechten Männchens
hingesetzt wurde; wenn ken — schwach gemeint war, so folgte das
Bild eines nachlässig hockenden Mannes nach. Erst später wurden
durch leichte Modifikationen des gleichlautenden Urwortes zwei Be-
zeichnungen für die darin enthaltenen Gegensätze gewonnen. So
entstand aus ken stark—schwach, ein ken stark und ein kan schwach.
Nicht nur die ältesten Sprachen in ihren letzten Entwicklungen, son-
dern auch weit jüngere und selbst heute noch lebende Sprachen
sollen reichlich Überreste dieses alten Gegensinnes bewahrt haben.
Ich will Ihnen einige Belege hierfür nach K. Abel (a 884) mit-
teilen.
Im Lateinischen sind solche immer noch ambivalente Worte: altus
(hoch—-tief) und sacer (heilig— verrucht).
Als Beispiele für Modifikationen derselben Wurzel Swähne ich:
clamare — schreien, clam — leise, still, geheim; siccus — trocken,
succus — Saft. Dazu aus dem Deutschen: Stimme — stumm.
Bezieht man verwandte Sprachen aufeinander, so ergeben sich
reichliche Beispiele. Englisch Zock — schließen; deutsch: Loch, Lücke.
Englisch: cleave — spalten; deutsch: kleben.
Das englische without eigentlich mit—ohne wird heute für ohne
verwendet; daß with außer seiner zuteilenden auch eine entziehende
Bedeutung hatte, geht noch aus den Zusammensetzungen withdraw—
withhold hervor. Ähnlich das deutsche wieder. |
Noch eine andere Eigentümlichkeit der Traumarbeit findet in der
Sprachentwicklung ihr Gegenstück. In der altägyptischen kam es wie
in anderen späteren Sprachen vor, daß die Lautfolge der Worte für
denselben Sinn umgekehrt wurde. Solche Beispiele zwischen dem Eng-
lischen und dem Deutschen sind: 7: opf — pot; boat — tub;. hurry
(eilen) — Ruhe; Balken — Kloben, club; wait (warten) — täuwen.
XT. Die Traumarbeit 183
Zwischen dem Lateinischen und dem Deutschen: capere — packen;
ren — Niere. AR)
Solche Umkehrungen, wie sie hier am einzelnen Wort genommen
werden, kommen durch die Traumarbeit in verschiedener Weise zu-
stande. Die Umkehrung des Sinnes, Ersetzung durch das Gegenteil,
kennen wir bereits. Außerdem finden sich in Träumen Umkehrungen
der Situation, der Beziehung zwischen zwei Personen, also wie in der
„verkehrten Welt“. Im Traum schießt häufig genug der Hase auf den
Jäger. Ferner Umkehrung in der Reihenfolge der Begebenheiten, so
daß die kausal vorangehende der ihr nachfolgenden im Traume nach-
gesetzt wird. Das ist dann wie in der Aufführung eines Stückes ın
einer schlechten Schmiere, wo zuerst der Held hinfällt und erst nach-
her aus der Kulisse der Schuß abgefeuert wird, der ihn tötet. Oder
es gibt Träume, in denen die ganze Ordnung der Elemente verkehrt
ist, so daß man in der Deutung ihr letztes zuerst und ihr erstes zu-
letzt nehmen muß, um einen Sinn herauszubekommen. Sie erinnern
sich auch aus unseren Studien über die Traumsymbolik, daß ins
Wasser gehen oder fallen dasselbe bedeutet wie aus dem Wasser
kommen, nämlich gebären oder geboren werden, und daß eine Treppe,
Leiter, hinaufsteigen dasselbe ist wie sie heruntergehen. Es ist unver-
kennbar, welchen Vorteil die Traumentstellung aus solcher Darstel-
lungsfreiheit ziehen kann. | |
Diese Züge der’Traumarbeit darf man als archaische bezeichnen.
Sie haften ebenso den alten Ausdruckssystemen, Sprachen und Schrif-
ten an, und bringen dieselben Erschwerungen mit sich, von denen
ın einem kritischen Zusammenhange noch die Rede sein wird.
Nun noch einige andere Gesichtspunkte. Bei der Traumarbeit
handelt es sich offenbar darum, die in Worte gefaßten latenten Ge-
danken in sinnliche Bilder, meist visueller Natur, umzusetzen. Nun
sind unsere Gedanken aus solchen Sinnesbildern hervorgegangen;
ihr erstes Material und ihre Vorstufen waren Sinneseindrücke, rich-
tiger gesagt, die Erinnerungsbilder von solchen. An diese wurden
erst später Worte geknüpft und diese dann zu Gedanken verbunden.
En EEE EEE EEE u En 1. ME
184 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Die Traumarbeit läßt also die Gedanken eine regressive Behand-
lung erfahren, macht deren Entwicklung rückgängig, und bei dieser
Regression muß all das wegfallen, was bei der Fortentwicklung der
Erinnerungsbilder zu Gedanken als neuer Erwerb dazugekommen ist,
Dies wäre also die Traumarbeit. Gegen die Vorgänge, die wir bei
ihr kennengelernt haben, mußte das Interesse am manifesten Traum
weit zurücktreten. Ich will aber diesem letzteren, der doch das einzige
uns unmittelbar bekannte ist, noch einige Bemerkungen widmen.
Es ist natürlich, daß der manifeste Traum für uns an Bedeutung
verliert. Es muß uns gleichgültig erscheinen, ob er gut komponiert
oder in eine Reihe von Einzelbildern ohne Zusammenhang aufgelöst
ist. Selbst wenn er eine anscheinend sinnvolle Außenseite hat, wissen
wir doch, daß diese durch 'Traumentstellung entstanden sein und
zum inneren Gehalt des Traumes so wenig organische Beziehung
haben kann wie die Fassade einer italienischen Kirche zu deren Struk-
tur und Grundriß. Andere Male hat auch diese Fassade des Traumes
ihre Bedeutung, indem sie einen wichtigen Bestandteil der latenten
Traumgedanken wenig oder gar nicht entstellt wiederbringt. Aber
wir können das nicht wissen, ehe wir den Traum der Deutung unter-
zogen und dadurch ein Urteil gewonnen haben, welches Maß von
Enistellung Platz gegriffen hat. Ein ähnlicher Zweifel gilt für den
Fall, daB zwei Elemente im Traum in nahe Beziehung zueinander
gebracht scheinen. Es kann darin ein wertvoller Wink enthalten
sein, daß man auch das diesen Elementen im latenten Traum Ent-
sprechende zusammenfügen darf, aber andere Male kann man sich
überzeugen, daß, was in Gedanken zusammengehört, im Traum aus-
einandergerissen worden ist.
Im allgemeinen muß man sich dessen enthalten, einen Teil des
manifesten 'Traumes aus einem anderen erklären zu wollen, als ob
der Traum kohärent konzipiert und eine pragmatische Darstellung
wäre. Er ist vielmehr zumeist einem Brecciagestein vergleichbar,
aus verschiedenen Gesteinsbrocken mit Hilfe eines Bindemittels her-
gestellt, so daß die Zeichnungen, die sich dabei ergeben, nicht den
XI. Die Traumarbeit 185
ursprünglichen Gesteinseinschlüssen angehören. Es gibt wirklich ein
Stück der Traumarbeit, die sogenannte s ekundäreBearbeitung,
dem daran gelegen ist, aus den nächsten Ergebnissen der Traumar-
beit etwas Ganzes, ungefähr Zusammenpassendes herzustellen. Dabei
wird das Material nach einem oft ganz mißverständlichen Sinn an-
geordnet und, wo es nötig scheint, Einschübe vorgenommen.
Anderseits darf man auch die Traumarbeit nicht überschätzen, ihr
nicht zuviel zutrauen. Mit den aufgezählten Leistungen ist ihre
Tätigkeit erschöpft; mehr als verdichten, verschieben, plastisch dar-
stellen und das Ganze dann einer sekundären Bearbeitung unter-
ziehen, kann sie nicht. Was sich im Traum von Urteilsäußerungen,
von Kritik, Verwunderung, Folgerung findet, das sind nicht Lei-
stungen der Traumarbeit, nur sehr selten Äußerungen des Nach-
denkens über den Traum, sondern zumeist Stücke der latenten Traum-
gedanken, die mehr oder weniger modifiziert und dem Zusammen-
hange angepaßt in den manifesten Traum übergetreten sind. Auch
Rieden komponieren kann die Traumarbeit nicht. Bis auf wenige an-
gebbare Ausnahmen sind die Traumreden Nachbildungen und Zu-
sammensetzungen von Reden, die man am T'raumtag gehört oder
selbst gehalten hat, und die als Material oder als Traumanreger in
die latenten Gedanken eingetragen worden sind. Ebensowenig kann
die Traumarbeit Rechnungen anstellen; was sich davon im mani-
iesten Traum findet, sind zumeist Zusammenstellungen von Zahlen,
Scheinrechnungen, als Rechnungen ganz unsinnig und wiederum
uur Kopien von Rechnungen in den latenten Traumgedanken. Bei
diesen Verhältnissen ist es auch nicht zu verwundern, daß das In-
teresse, welches sich der Traumarbeit zugewendet hat, bald von ihr
weg zu den latenten Traumgedanken strebt, die sich mehr oder we-
niger entstellt durch den manifesten Traum verraten. Es ist aber
uicht zu rechtfertigen, wenn dieser Wandel so weit geht, daß man
in der theoretischen Betrachtung die latenten Traumgedanken an
Stelle des Traumes überhaupt setzt und von letzterem etwas aussagt,
was nur für die ersteren gelten kann. Es ist sonderbar, daß die Er-
186 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
gebnisse der Psychoanalyse für eine solche Verwechslung mißbraucht
werden konnten. „Traum“ kann man nichts anderes nennen als das
Ergebnis der Traumarbeit, d. h. also die Form, in welche die laten-
ten Gedanken durch die Traumarbeit überführt worden sind.
Die Traumarbeit ist ein Vorgang ganz singulärer Art, dessen-
gleichen bisher im Seelenleben nicht bekannt geworden ist. Derartige
Verdichtungen, Verschiebungen, regressive Umsetzungen von Ge-
danken in Bilder sind Neuheiten, deren Erkenntnis die psychoanaly-
tischen Bemühungen bereits reichlich entlohnt. Sie entnehmen auch
wiederum aus den Parallelen zur Traumarbeit, welche Zusammen-
hänge der psychoanalytischen Studien mit anderen Gebieten, speziell
mit der Sprach- und Denkentwicklung, aufgedeckt werden. Die
weitere Bedeutung dieser Einsichten können Sie erst ahnen, wenn
Sie erfahren, daß die Mechanismen der Traumbildung vorbildlich
für die Entstehungsweise der neurotischen Symptome sind.
Ich weiß auch, daß wir den ganzen Neuerwerb, der aus diesen
Arbeiten für die Psychologie resultiert, noch nicht übersehen können.
Wir wollen nur darauf: hinweisen, welche neuen Beweise sich für
die Existenz unbewußter seelischer Akte — das sind ja die latenten
Traumgedanken — ergeben haben, und wie uns die Traumdeutung
einen ungeahnt breiten Zugang zur Kenntnis des unbewußten Seelen-
lebens verspricht. Hai
‘Nun wird es aber wohl an der Zeit sein, daß ich Ihnen an ver-
schiedenen kleinen Traumbeispielen einzeln vorführe, worauf ich
Sie im Zusammenhange vorbereitet habe.
XII. VORLESUNG
ANALYSEN VON TRAUMBEISPIELEN
Meine Damen und Herren! Seien Sie nun nicht enttäuscht, wenn
ich: Ihnen wiederum Bruchstücke von Traumdeutungen vorlege,
anstatt Sie zur Teilnahme an der Deutung eines schönen großen
'Traumes einzuladen. Sie werden sagen, nach so vielen Vorbereitungen
hätten Sie ein Recht darauf, und werden Ihrer Überzeugung, Aus-
druck geben, daß es nach gelungener Deutung von soviel tausend
Träumen längst hätte möglich werden müssen, eine Sammlung von
ausgezeichneten Traumbeispielen zusammenzutragen, an welchersich
alle unsere Behauptungen über Traumarbeit und Traumgedanken
demonstrieren ließen. Ja, aber der Schwierigkeiten, welche der Er-
füllung Ihres Wunsches im Wege stehen, sind zu viele.
Vor allem muß ich Ihnen gestehen, daß es niemand gibt, der die
Traumdeutung als seine Hauptbeschäftigung betreibt. Wann kommt
man denn dazu, Träume zu deuten? Gelegentlich kann man sich
ohne besondere Absicht mit den Träumen einer befreundeten Person
beschäftigen, oder man arbeitet eine Zeitlang seine eigenen "Träume
durch, um sich für psychoanalytische Arbeit zu schulen; zumeist hat
man es aber mit den Träumen nervöser Personen zu tun, die in ana-
Iytischer Behandlung stehen. Diese letzteren Träume sind ausgezeich-
netes Material und stehen in keiner Weise hinter denen Gesunder
zurück, aber man ist durch die Technik der Behandlung genötigt, die
Traumdeutung den therapeutischen Absichten unterzuordnen und
188 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
eine ganze Anzahl von Träumen stehen zu lassen, nachdem man
ihnen etwas für die Behandlung Brauchbares entnommen hat. Manche
Träume, die in den Kuren vorfallen, entziehen sich überhaupt einer
vollständigen Deutung. Da sie aus der Gesamtmenge des uns noch
unbekannten psychischen Materials erwachsen sind, wird ihr Ver-
ständnis erst nach Abschluß der Kur möglich. Die Mitteilung solcher
Träume würde auch die Aufdeckung aller Geheimnisse einer Neurose
notwendig machen; das geht also nicht bei uns, die wir den Traum
als Vorbereitung für das Studium der Neurosen in Angriff genommen
haben.
Nun würden Sie gerne auf dieses Material verzichten und wollten
lieber Träume von gesunden Menschen oder eigene Träume erläutert
hören. Das geht aber wegen des Inhalts dieser Träume nicht an. Man
kann weder sich selbst noch einen anderen, dessen Vertrauen man
in Anspruch genommen hat, so rücksichtslos bloßstellen, wie es die
eingehende Deutung seiner Träume mit sich brächte, die, wie Sie
bereits wissen, das Intimste seiner Persönlichkeit betreffen. Außer
dieser Schwierigkeit der Materialbeschaffung kommt für die Mit-
teilung eine andere in Betracht. Sie wissen, der Traum erscheint dem
Träumer selbst fremdartig, geschweige denn einem anderen, dem
die Person des Träumers unbekannt ist. Unsere Literatur ist nicht
arm an guten und ausführlichen 'Traumanalysen; ich selbst habe
einige im Rahmen von Krankengeschichten veröffentlicht; vielleicht
das schönste Beispiel einer Traumdeutung ist das von O. Rank mit-
geteilte, zwei aufeinander bezügliche Träume eines jungen Mädchens,
die im Druck etwa zwei Seiten einnehmen; die Analyse dazu um-
faßt aber 76 Seiten. Ich brauchte etwa ein ganzes Semester, um Sie
durch eine solche Arbeit hindurch zu geleiten. Wenn man irgend
einen längeren und stärker enistellten Traum vornimmt, so muß
man soviel Aufklärungen dazugeben, soviel Material von Einfällen
und Erinnerungen heranziehen, auf so viele Seitenwege eingehen,
daß ein Vortrag darüber ganz unübersichtlich und unbefriedigend
ausfallen würde. Ich muß Sie also bitten, sich mit dem zu begnügen,
XII. Analysen von Traumbeispielen 189
was leichter zu haben ist, mit der Mitteilung von kleinen Stücken
aus Träumen von neurotischen Personen, an denen man dies oder
jenes isoliert erkennen kann. Am leichtesten lassen sich die Traum-
symbole demonstrieren, dann noch gewisse Figentümlichkeiten der
regressiven Traumdarstellung. Ich werde Ihnen von jedem der nun
folgenden Träume angeben, weshalb ich ihn für mitteilenswert er-
achtet habe.
ı) Ein Traum besteht nur aus zwei kurzen Bildern: Sein Onkel
raucht eine Zigarette, obwohl es Samstag ist. — Eine Frau streichelt
und liebkost ihn wie ihr Kınd.
Zum ersten Bild bemerkt der Träumer (Jude), sein Onkel sei ein
frommer Mann, der etwas derart Sündhaftes nie getan hat und nie
tun würde. Zur Frau im zweiten Bild fällt ihm nichts anderes ein als
seine Mutter. Diese beiden Bilder oder Gedanken sind offenbar in
Beziehung zueinander zu setzen. Aber wie? Da er die Realität für das
Tun des Onkels ausdrücklich abgestritten hat, so liegt es nahe, ein
„Wenn“ einzufügen. „Wenn mein Onkel, der heilige Mann, am
Samstag eine Zigarette rauchen würde, dann dürfte ich mich auch
von der Mutter liebkosen lassen.“ Das heißt offenbar, das Kosen mit
der Mutter sei auch etwas Unerlaubtes wie das Rauchen am Sams-
tag für den frommen Juden. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen sagte,
bei der Traumarbeit fielen alle Relationen zwischen den Traum-
gedanken weg; diese werden in ihr Rohmaterial aufgelöst, und es ist
Aufgabe der Deutung, die weggelassenen Beziehungen wieder einzu-
setzen.
2) Durch meine Veröffentlichungen über den Traum bin ich in
gewisser Hinsicht öffentlicher Konsulent für Traumangelegenheiten
geworden und erhalte seit vielen Jahren Zuschriften von den ver-
schiedensten Seiten, ın denen mir Träume mitgeteilt oder zur Beur-
teilung vorgelegt werden. Ich bin natürlich allen jenen dankbar, die
zum Traum soviel Material hinzufügen, daß eine Deutung möglich
wird, oder die selbst eine solche Deutung geben. In diese Kategorie
gehört nun der folgende Traum eines Mediziners aus München vom
190 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Jahre. 1910. Ich bringe ihn vor, weil er Ihnen beweisen kann, wie
unzugänglich im allgemeinen ein Traum dem Verständnis ist, ehe
der Träumer uns seine Auskünfte dazu gegeben hat. Ich vermute
nämlich, daß Sie im Grunde die Traumdeutung durch Einsetzen der
Symbolbedeutung für die ideale halten, die Technik der Assoziation
zum Traum aber beiseite schieben möchten, und will Sie von diesem
schädlichen Irrtum freimachen.
13. Juli 1910: Gegen morgen träume ich: Ich fahre mit dem Rad
in Tübingen die Straße herunter, als ein brauner Dachshund hinter
mir dreinrast und mich an einer Ferse faßt. Ein Stück weiter steige
ich ab, setze mich auf eine Staffel und fange an, auf das Vieh loszu-
trommeln, das sich fest verbissen hat. (Unangenehme Gefühle habe
ich von dem Beißen und der ganzen Szene nicht.) Gegenüber sitzen
ein paar ältere Damen, die mir grinsend zusehen. Dann wache ich
auf und, wie schon öfter, ist mir in diesem Moment des Übergangs
zum Wachen der ganze Traum klar.
Mit Symbolen ist hier wenig auszurichten. Der Träumer berichtet
uns aber: „Ich habe mich in der letzten Zeit in ein Mädchen verliebt,
nur so vom Sehen auf der Straße, habe aber keinerlei Anknüpfungs-
punkte gehabt. Dieser Anknüpfungspunkt hätte für mich am an;
genehmsten der Dachshund sein können, zumal ich ein großer Tier-
freund bin und diese Eigenschaft auch bei dem Mädchen sympathisch
empfunden habe.“ Er fügt auch hinzu, daß er wiederholt mit großem
Geschick und oft zum Erstaunen der Zuschauer in die Kämpfe mit-
einander raufender Hunde eingegriffen habe. Wir erfahren also, daß
das Mädchen, welches ihm gefiel, stets in Begleitung dieses besonderen
Hundes zu sehen war. Dies Mädchen ist aber für den manifesten
Traum beseitigt worden, nur der mit ihr assoziierte Hund ist ge-
blieben. Vielleicht sind die älteren Damen, die ihn angrinsen, an die
Stelle des Mädchens getreten. Was er sonst noch mitteilt, reicht zur
Aufklärung dieses Punktes nicht aus. Daß er im Traume auf dem Rade
fährt, ist direkte Wiederholung der erinnerten Situation. Er war dem
Mädchen mit dem Hunde immer nur, wenn erzu Rade war, begegnet.
XII. Analysen von Traumbeispielen 191
7) Wenn jemand einen seiner teueren Angehörigen verloren hat,
so produziert er durch längere Zeit nachher Träume von besonderer
Art, in denen das Wissen um den Tod mit dem Bedürfnis, den Toten
wiederzubeleben, die merkwürdigsten Kompromisse abschließt. Bald
ist der Verstorbene tot und lebt dabei doch weiter, weil er nicht weiß,
daß er tot ist, und wenn er es wüßte, stürbe er erst ganz; bald ist er
halb tot und halb lebendig, und jeder dieser Zustände hat seine be-
sonderen Anzeichen. Man darf diese Träume nicht einfach unsinnige
nennen, denn das Wiederbelebtwerden ist für den Traum nicht un-
annehmbarer als z.B. für das Märchen, in dem es als ein sehr gewöhn-
liches Schicksal vorkommt. Soweit ich solche Träume analysieren
konnte, ergab es sich, daß sie einer vernünftigen Lösung fähig sind,
aber daß der pietätvolle Wunsch, den Toten ins Leben zurückzu-
rufen, mit den seltsamsten Mitteln zu arbeiten versteht. Ich lege Ihnen
hier einen solchen Traum vor, der sonderbar und unsinnig genug
klingt, und dessen Analyse Ihnen vieles von dem vorführen wird,
worauf Sie durch unsere theoretischen Ausführungen vorbereitet sind.
Der Traum eines Mannes, der seinen Vater vor mehreren Jahren
verloren hatte:
Der Vater ist gestorben, aber exhumiert worden und sieht schlecht
aus. Er lebt seitdem fort, und der Träumer tut alles, damit er es nicht
merkt. (Dann übergeht der Traum auf andere, scheinbar sehr fern-
liegende Dinge.) |
Der Vater ist gestorben, das wissen wir. Daß er exhumiert worden,
entspricht nicht der Wirklichkeit, die ja auch für alles weitere nicht
ın Betracht kommt. Aber der Träumer erzählt: Nachdem er vom
Begräbnis des Vaters zurückgekommen war, begann ihn ein Zahn zu
schmerzen. Er wollte diesen Zahn nach der Vorschrift der jüdischen
Lehre behandeln: Wenn dich dein Zahn ärgert, so reiße ihn aus, und
begab sich zum Zahnarzt. Der aber sagte: Einen Zahn reißt man nicht,
man muß Geduld mit ihm haben. Ich werde etwas einlegen, um ihn
zu töten; nach drei Tagen kommen Sie wieder, dann werde ich’s
herausnehmen.
192 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Dies „Herausnehmen“, sagt der Träumer plötzlich, das ist das
Exhumieren.
Sollte der Träumer Recht haben? Es stimmt zwar nicht ganz, nur
so ungefähr, denn der Zahn wird ja nicht herausgenommen, sondern
etwas, das Abgestorbene, aus ihm. Aber dergleichen Ungenauigkeiten
darf man der Traumarbeit nach anderen Erfahrungen wohl zutrauen.
Dann hätte der Träumer den verstorbenen Vater mit dem getöteten
und doch erhaltenen Zahn verdichtet, zu einer Einheit verschmolzen.
Kein Wunder dann, daß im manifesten Traum etwas Sinnloses zu-
stande kommt, denn es kann doch nicht alles auf den Vater passen,
was vom Zahn gesagt wird. Wo wäre überhaupt das Tertium com-
parationis zwischen Zahn und Vater, welches diese Verdichtung er-
möglicht?
Es muß aber doch wohl so sein, denn der Träumer fährt fort, es
sei ihm bekannt, wenn man von einem ausgefallenen Zahn träumi,
so bedeutet es, daß man ein Familienmitglied verlieren werde.
Wir wissen, daß diese populäre Deutung unrichtig oder wenigstens
nur in einem skurillen Sinne richtig ist. Umsomehr wird es uns
überraschen, das so angeschlagene "Thema doch hinter den anderen
Stücken des 'Trauminhalts aufzufinden.
Ohne weitere Aufforderung beginnt nun der Träumer von der
Krankheit und dem Tode des Vaters sowie von seinem Verhältnis zu
ihm zu erzählen. Der Vater war lange krank, die Pflege und Behand-
lung des Kranken kostete ihn, den Sohn, viel Geld. Und doch war
es ihm nie zuviel, er wurde nie ungeduldig, hatte nie den Wunsch,
es möge doch schon zu Ende sein. Er rühmt sich echt jüdischer Pietät
gegen den Vater, der strengen Befolgung des jüdischen Gesetzes. Fällt
uns da nicht ein Widerspruch in den zum Traum gehörigen Gedanken
auf? Er hatte Zahn und Vater identifiziert. Gegen den Zahn wollte
er nach dem jüdischen Gesetz verfahren, welches das Urteil mit sich
brachte, ihn auszureißen, wenn er Schmerz und Ärgernis bereitete.
Auch gegen den Vater wollte er nach der Vorschrift des Gesetzes
verfahren sein, welches aber hier lautet, Aufwand und Ärgernis nicht
XII. Analysen von Traumbeispielen 193
zu achten, alles Schwere auf sich zu nehmen und keine feindliche
Absicht gegen das Schmerz bereitende Objekt aufkommen zu lassen.
Wäre die Übereinstimmung nicht weit zwingender, wenn er wirk-
lich gegen den kranken Vater ähnliche Gefühle entwickelt hätte wie
gegen den kranken Zahn, d. h. gewünscht hätte, ein baldiger Tod
möge seiner überflüssigen, schmerzlichen und kostspieligen Existenz
ein Ende setzen?
Ich zweifle nicht, daß dies wirklich seine Einstellung gegen den
Vater während dessen langwieriger Krankheit war, und daß die prahle-
rischen Versicherungen seiner frommen Pietät dazu bestimmt sind,
von diesen Erinnerungen abzulenken. Unter solchen Bedingungen
pflegt der Todeswunsch gegen den Erzeuger rege zu werden und sich
mit der Maske einer mitleidigen Erwägung wie: es wäre nur eine
Erlösung für ihn, zu decken. Bemerken Sie aber wohl, daß wir hier
in den latenten Traumgedanken selbst eine Schranke überschritten
haben. Der erste Anteil derselben war gewiß nur zeitweilig, d. h.
während der Traumbildung, unbewußt, die feindseligen Regungen
gegen den Vater dürften aber dauernd unbewußt gewesen sein, viel-
leicht aus Kinderzeiten stammen und sich während der Krankheit
des Vaters gelegentlich schüchtern und verkleidet ins Bewußtsein
geschlichen haben. Mit noch größerer Sicherheit können wir dies
von anderen latenten Gedanken behaupten, die unverkennbare Bei-
träge an den Trauminhalt abgegeben haben. Von den feindseligen
Regungen gegen den Vater ist ja nichts im Traum zu entdecken.
Indem wir aber der Wurzel solcher Feindseligkeit gegen den Vater
ım Kinderleben nachforschen, erinnern wir uns, daß sich die Furcht
vor dem Vater herstellt, weil dieser sich schon in frühesten Jahren
der Sexualbetätigung des Knaben entgegensetzt, wie er esin der Regel
ım Alter nach der Pubertät aus sozialen Motiven wiederholen muß.
Diese Beziehung zum Vater trifft auch für unseren Träumer zu; seiner
Liebe zu ihm war genug Respekt und Angst beigemengt gewesen,
die aus der Quelle der frühzeitigen Sexualeinschüchterung geflossen
waren. |
Freud, VI, 13
194 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Aus dem Onaniekomplex erklären sich nun die weiteren Sätze des
manifesten Traumes. kr sieht schlecht aus spielt zwar auf eine
weitere Rede des Zahnarztes an, daß es schlecht aussieht, wenn man
einen Zahn an dieser Stelle eingebüßt hat; es bezieht sich aber gleich-
zeitig auf das schlechte Aussehen, durch welches der junge Mann in
der Pubertät seine übermäßige Sexualbetätigung verrät oder zu ver-
raten fürchtet. Nicht ohne eigene Erleichterung hat der Träumer ım
manifesten Inhalt das schlechte Aussehen von sich weg auf den Vater
geschoben, eine der Ihnen bekannten Umkehrungen der Traumarbeit.
Er lebt seitdem fort deckt sich mit dem Wiederbelebungswunsch
wie mit dem Versprechen des Zahnarztes, daß der Zahn erhalten
bleiben wird. Ganz raffiniert ist aber der Satz „der "Träumer tut
alles, damit er (der Vater) es nicht merkt“, darauf hergerichtet, uns
zur Ergänzung zu verleiten, daß er gestorben ist. Die einzig sinn-
reiche Ergänzung ergibt sich aber wieder aus dem Onaniekomplex,
wo esselbstverständlich ist, daß der Jüngling alles tut, um sein Sexual-
leben vor dem Vater zu verbergen. Erinnern Sie sich nun zum Schluß,
daß wir die sogenannten Zahnreizträume stets auf Onanie und auf die
gefürchtete Bestrafung für sie deuten mußten.
Siesehen nun, wiedieserunverständliche Traum zustande gekommen
ist. Durch die Herstellung einer sonderbaren und irreführenden Ver-
dichtung, durch die Übergehung aller Gedanken aus der Mitte des
latenten Gedankenganges, und durch die Schaffung von mehrdeutigen
Ersatzbildungen für die tiefsten und zeitlich entlegensten dieser Ge-
danken.
4) Wir haben schon wiederholt versucht, jenen nüchternen und
banalen Träumen beizukommen, die nichts Unsinniges oder Befrem-
dendes an sich tragen, bei denen sich aber die Frage erhebt: Wozu
träumt man so gleichgültiges Zeug? Ich will also ein neues Beispiel
dieser Art vorlegen, drei zusammengehörige, in einer Nacht vorgefallene
Träume einer jungen Dame.
a) Sie geht durch die Halle ihres Hauses und stößt sich den Kop 38
blutig an dem tief herabhängenden Luster.
XII. Analysen von Traumbeispielen 195
Keine Reminiszenz, nichts, was wirklich vorgefallen ist. Ihre Aus-
kunft dazu leitet auf ganz andere Wege. „Sie wissen, wie stark mir
die Haare ausgehen. Kind, hat die Mutter gestern zu mir gesagt, wenn
das so weitergeht, wirst du einen Kopf bekommen wie einen Popo.“
Der Kopf steht also hier für das andere Körperende. Den Luster können
wir ohne Nachhilfe symbolisch verstehen; alle der Verlängerung
fähigen Gegenstände sind Symbole des männlichen Gliedes. Also
handelt es sich um eine Blutung am unteren Körperende, die durch
den Zusammenstoß mit dem Penis entsteht. Das könnte noch mehr-
deutig sein; ihre weiteren Einfälle zeigen, daß es sich um den Glauben
handelt, die Menstruationsblutung entstehe durch den Geschlechts-
verkehr mitdem Mann, ein Stück der Sexualtheorie, das viele ange
unter den unreifen Mädchen hat.
b) Sie sieht im Weingarten eine tiefe Grube, von der sie weı :ß, daß
sie durch Ausreißen eines Baumes entstanden ist. Dazu ihre Bemer-
kung, der Baum fehle ihr dabei. Sie meint, sie habe im Traum den
Baum nicht gesehen, aber derselbe Wortlaut dient dem Ausdruck
eines anderen Gedankens, der nun die symbolische Deutung vollends
sicherstellt. Der Traum bezieht sich auf ein anderes Stück der in-
fantilen Sexualtheorien, auf den Glauben, daß die Mädchen ursprüng-
lich dasselbe Genitale hatten wie die Knaben, und daß dessen spätere
Gestaltung durch Kastration (Ausreißen eines Baumes) entstanden ist.
c) Sie steht vor ihrer Schreibtischlade, in der sie sich so gut aus-
kennt, daß sıe sofort weiß, wenn jemand darüber gekommen ist. Die
Schreibtischlade ist wie jede Lade, Kiste, Schachtel, ein weibliches
Genitale. Sie weiß, daß man die Anzeichen des Sexualverkehrs (wie
sie meint, auch der Berührung) am Genitale erkennen kann, und hat
sich lange vor solcher Überführung gefürchtet. Ich meine, der Akzent
ist in all diesen drei Träumen auf das Wissen zu legen. Sie gedenkt
der Zeit ihrer kindlichen Sexualforschung, auf deren Ergebnisse sie
damals recht stolz war.
5) Wiederum ein Stückchen Symbolik. Aber diesmal muß ich die
psychische Situation in einem kurzen Vorbericht voranstellen. Ein
13?
196 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Herr, der mit einer Frau eine Liebesnacht verbracht hat, schildert
seine Partnerin als eine jener mütterlichen Naturen, bei denen im
Liebesverkehre mit dem Manne der Wunsch nach dem Kinde un-
widerstehlich durchdringt. Die Verhältnisse jenes Zusammentreffens
nötigen aber zu einer Vorsicht, durch welche der befruchtende Samen-
erguß vom weiblichen Schoß ferngehalten wird. Beim Erwachen aus
dieser Nacht erzählt die Frau nachstehenden "Traum:
Ein Offizier mit einer roten Kappe läuft ihr auf der Straße nach.
Sie flieht vor ihm, läuft die Stiege hinauf, er immer nach. Atemlos
erreicht sie ihre Wohnung und wirft die Türe hinter sich ıns Schloß.
Er bleibt draußen, und wie sie durchs Guckloch schaut, sitzt er draußen
auf einer Bank und weint.
Sie erkennen wohl in der Verfolgung durch den Offizier mit der
roten Kappe und in dem atemlosen Steigen die Darstellung des Ge-
schlechtsaktes. Daß die Träumerin sich vor dem Verfolger verschließt,
mag Ihnen als Beispiel der im Traum so häufig angewendeten Um-
kehrungen gelten, denn in Wirklichkeit hatte sich ja der Mann der
Beendigung des Liebesaktes entzogen. Ebenso ist ihre Trauer auf den
Partner verschoben, er ist es ja, der im 'Iraume weint, womit gleich-
zeitig der Samenerguß angedeutet ist.
Sie werden gewiß einmal gehört haben, in der Psychoanalyse werde
behauptet, daß alle Träume sexuelle Bedeutung haben. Nun sind Sie
selbst in die Lage gekommen, sich über die Unkorrektheit dieses Vor-
wurfs ein Urteil zu bilden. Sie haben die Wunschträume kennenge-
lernt, die von der Befriedigung der klarliegendsten Bedürfnisse, des
Hungers, des Durstes, der Sehnsucht nach Freiheit handeln, die Be-
quemlichkeits- und Ungeduldsträume und ebenso rein habsüchtige
und egoistische. Aber daß die stark entstellten Träume vorwiegend
— wiederum nicht ausschließlich — sexuellen Wünschen Ausdruck
geben, dürfen Sie allerdings als Ergebnis der psychoanalytischen
Forschung im Gedächtnis behalten.
6) Ich habe ein besonderes Motiv, die Beispiele für die Symbol-
verwendung im Traume zu häufen. Ich habe mich bei unserem ersten
XIT. Analysen von Traumbrispielen 197
Zusammentreffen darüber beklagt, wie schwierig die Demonstration
und damit das Erwecken von Überzeugungen in der Unterweisung
der Psychoanalyse sei, und Sie haben mir seither gewiß beigestimmt.
Nun hängen aber die einzelnen Behauptungen der Psychoanalyse
doch so innig zusammen, daß die Überzeugung sich leicht von einem
Punkt her auf einen größeren Teil des Ganzen fortsetzen kann. Man
könnte von der Psychoanalyse sagen, wer ihr den kleinen Finger gibt,
den hält sie schon bei der ganzen Hand. Schon wem die Aufklärung
der Fehlleistungen eingeleuchtet hat, der kann sich logischerweise
dem Glauben an alles andere nicht mehr entziehen. Eine zweite
ebenso zugängliche Stelle ist in der Traumsymbolik gegeben. Ich
werde Ihnen den bereits publizierten Traum einer Frau aus dem Volke
vorlegen, deren Mann Wachmann ist, und die gewiß niemals etwas
von Traumsymbolik und Psychoanalyse gehört hat. Urteilen Sie dann
selbst, ob dessen Auslegung; mit Hilfe von Sexualsymbolen willkürlich
und gezwungen genannt werden kann. |
„... Dann seijemand indieWohnung eingebrochen und sie habe angst-
voll nach einem Wachmann gerufen. Dieser aber sei mit zwei ,,Pülchern“
einträchtig ın eine Kirche gegangen, zu der mehrere Stufen empor führ-
ten. Hınter der Kırche sei ein Berg gewesen und oben ein dichter Wald.
Der Wachmann sei mit einem Helm, Ringkragen und Mantel versehen
gewesen. Er habe einen braunen Vollbart gehabt. Die beiden Vaganten,
dıe friedlich mit dem Wachmann gegangen seien, hätten sackartig auf-
gebundene Schürzen um die Lenden geschlungen gehabt. Von der
Kirche habe zum Berge ein Weg geführt. Dieser sei beiderseits mit
Gras und Gestrüpp verwachsen gewesen, das immer dichter wurde
und auf der Höhe des Berges ein ordentlicher Wald geworden sei.“
Die verwendeten Symbole erkennen Sie ohne Mühe. Das männ-
liche Genitale ist durch eine Dreiheit von Personen dargestellt, das
weibliche durch eine Landschaft mit Kapelle, Berg und Wald. Wieder-
um begegnen Sie den Stufen als Symbol des Sexualaktes. Was im
Traume ein Berg genannt wird, heißt auch in der Anatomie so,
nämlich Mons Veneris, Schamberg.
198 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
7. Wiederum ein mittels Symboleinsetzung zu lösender Traum,
dadurch bemerkenswert und beweiskräftig, daß der Träumer selbst
alle Symbole übersetzt hat, obwohl er keinerlei theoretische Vor-
kenntnisse für die Traumdeutung mitbrachte. Dies Verhalten ist recht
ungewöhnlich, und die Bedingungen dafür sind nicht genau bekannt.
„Er geht mit seinem Vater an einem Ort spazieren, der gewiß der
Prater ıst, denn man sıeht dıe Rotunde, ‚vor dieser einen kleineren
Vorbau, an dem ein Fesselballon angebracht ıst, der aber ziemlich
schlaff scheint. Sein Vater fragt ıhn, wozu das alles ıst; er wundert
sich darüber, erklärt es ihm aber. Dann kommen sie in einen Hof, ın
dem eine große Platte von Blech ausgebreitet liegt. Sein Vater will
sich ein großes Stück davon abreißen, sieht sich aber vorher um, ob
es nicht jemand bemerken kann. Er sagt ihm, er braucht es doch nur
dem Aufseher zu sagen, dann kann er sich ohne weiteres davon nehmen.
Aus diesem Hof führt eine Treppe ın einen Schacht herunter, dessen
Wände weich ausgepolstert sind, etwa wie eın Lederfauteul. Am
Ende dieses Schachtes ıst eine längere Plattform und dann beginnt
ein neuer Schacht...“
Der Träumer deutet selbst: Die Rotunde ist mein Genitale, der
Fesselballon davor mein Penis, über dessen Schlaffheit ich zu klagen
habe. Man darf also eingehender übersetzen, die Rotunde sei das —
vom Kind regelmäßig zum Genitale gerechnete — Gesäß, der kleinere
Vorbau der Hodensack. Im Traum fragt ıhn der Vater, was das alles
ist, d.h. nach Zweck und Verrichtung der Genitalien. Es liegt nahe,
diesen Sachverhalt umzukehren, so daß er der fragende Teil wird.
Da eine solche Befragung des Vaters in Wirklichkeit nie stattgefunden
hat, muß man den Traumgedanken als Wunsch auffassen oder ihn
etwa konditionell nehmen: „Wenn ich den Vater um sexuelle Auf-
klärung gebeten hätte.“ Die F ortsetzung dieses Gedankens werden -
wir bald an anderer Stelle finden. |
Der Hof, in dem das Blech ausgebreitet liegt, ist nicht in erster
Linie symbolisch zu fassen, sondern stammt aus dem Geschäftslokal
des Vaters. Aus Gründen der Diskretion habe ich das „Blech“ für
XII. Analysen von Traumbeispielen 199
EN in. ER EIRRERNE.
das andere Material, mit dem der Vater handelt, eingesetzt, ohne
sonst etwas am Wortlaut des Traumes zu ändern. Der Träumer ist
in das Geschäft des Vaters eingetreten und hat an den eher unkorrekten
Praktiken, auf denen der Gewinn zum guten Teil beruht, gewaltigen
Anstoß genommen. Daher dürfte die Fortsetzung des obigen Traum-
gedankens lauten: („Wenn ich ihn gefragt hätte), würde er mich
betrogen haben, wie er seine Kunden betrügt.“ Für das Abreißen,
welches der Darstellung der geschäftlichen Unredlichkeit dient, gibt
der Träumer selbst die zweite Erklärung, es bedeute die Onanie. Dies
ist uns nicht nur längst bekannt, sondern stimmt auch sehr gut dazu,
daß das Geheimnis der Onanie durch das Gegenteil ausgedrückt ist
(man darf es ja offen tun). Es entspricht dann allen Erwartungen,
daß die onanistische Tätigkeit wieder dem Vater zugeschoben wird,
wie die Befragung in der ersten Traumszene. Den Schacht deutet
er sofort unter Berufung auf die weiche Polsterung der Wände als
Vagina. Daß das Herabsteigen wie sonst das Aufsteigen den Koitus-
verkehr in der Vagina beschreiben will, setze ich eigenmächtig ein.
Die Einzelheiten, daß auf den ersten Schacht eine längere Platt-
iorm folgt und dann ein neuer Schacht, erklärt er selbst biographisch.
Er hateineZeitlang koitiert, dann den Verkehr infolgevon Hemmungen
aufgegeben und hofft ihn jetzt mit Hilfe der Kur wieder armer
zu können.
8) Die beiden chenden Träume eines Fremden mit sehr
polygamer Veranlagung teile ich Ihnen als Beleg für die Behauptung
mit, daß das eigene Ich in jedem Traume vorkommt, auch wo es sich
für den manifesten Inhalt verborgen hat. Die Koffer in den Träumen
sind Weibsymbole.
a) Er reist ab, sein Gepäck wird auf einem Wagen zur Bahn
gebracht, viele Koffer aufgehäuft, darunter zwei große schwarze,
wie Musterkoffer. Er sagt tröstend zu jemand: Nun, die fahren ja
nur bıs zum Bahnhof mit.
Er reist in Wirklichkeit mit sehr viel Gepäck, bringt aber auch
sehr viel Geschichten von Frauen mit in die Behandlung. Die zwei
200 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
schwarzen Koffer entsprechen zwei schwarzen Frauen, die gegen-
wärtig in seinem Leben die Hauptrolle spielen. Eine von ihnen
wollte ihm nach Wien nachreisen; er hatte ihr auf meinen Rat
telegraphisch abgesagt.
b) Eine Szene bei der Douane: Ein Mitreisender macht seinen
Koffer auf und sagt, gleichgültig eine Zigarette rauchend: Da ist
nichts drin. Der Zollbeamte scheint ihm zu glauben, greift aber noch
einmal hinein und findet etwas ganz besonders Verbotenes. Der Reisende
sagt dann resıgniert!: Da ist nichts zu machen. Er ist selbst der
Reisende, ich der Zollbeamte. Er ist sonst sehr aufrichtig in seinen
Bekenntnissen, hatte sich aber vorgenommen, mireineneuangeknüpite
Beziehung zu einer Dame zu verschweigen, weil er mit Recht an-
nehmen konnte, daß sie mir nicht unbekannt sei. Die peinliche
Situation des Überführtwerdens verschiebt er auf eine fremde Person,
so daß er selbst in diesem Traum nicht vorzukommen scheint.
9) Hier ein Beispiel für ein Symbol, das ich noch nicht erwähnt habe:
Er begegnet seiner Schwester ın Begleitung von zwei Freundinnen,
die selbst Schwestern sınd. Er gıbt beiden die Hand, der Schwester
aber nıcht.
Keine Anknüpfung an eine wirkliche Begebenheit. Seine Gedanken
führen ihn vielmehr in eine Zeit, zu welcher ihm die Beobachtung
zu denken gab, daß sich der Busen der Mädchen so spät entwickelt.
Die beiden Schwestern sind also die Brüste, er möchte sie gerne mit
der Hand begreifen, wenn es nur nicht seine Schwester wäre.
10) Hier ein Beispiel für die Todessymbolik im Traum:
Er gehtmit zwei Personen, deren Namen erweiß,aber beim Erwachen
vergessen hat, über einen schr hohen, steilen eisernen Steg. Plötzlich
sind die beiden weg und er sieht einen gespenstischen Mann mit Kappe
und ım Leinenanzug. Er fragt ihn, ob er der Telegraphenbote sei...
Nein. Ob er der Fuhrmann sei? Nein. Er geht dann weiter, hat noch
im Traume große Angst und setzt den Traum nach dem Erwachen
mit der Phantasie fort, daß die eiserne Brücke plötzlich abbricht und
er ın den Aberund stürzt.
XII. Analysen von Traumbeispielen 201
NL nn
Personen, bei denen man betont, daß sie unbekannt sind, daß man
ihre Namen vergessen hat, sind meist sehr nahestehende. Der Träumer
hat zwei Geschwister; wenn er diesen beiden den Tod gewünscht
haben sollte, so wäre es nur gerecht, wenn ihn dafür die Todesangst
heimsuchte. Zum Telegraphenboten bemerkt er, daB solche Leute
immer Unheilsposten bringen. Es könnte auch nach der Uniform
ein Laternenanzünder gewesen sein, der aber auch die Laternen aus-
löscht, also wie der Genius des Todes die Fackel verlöscht. Zum
Fuhrmann assoziiert er das Uhlandsche Gedicht von König Karls
Meerfahrt und erinnert an eine gefahrvolle Seefahrt mitzwei Genossen,
auf welcher er die Rolle des Königs im Gedicht spielte. Zur Eisen-
brücke fällt ihm ein Unfall der letzten Zeit ein und die dumme
Redensart: Das Leben ist eine Kettenbrück’.
ı1) Als anderes Beispiel der Todesdarstellung mag der Traum
gelten: Ein unbekannter Herr gibt eine schwarzgeränderte Pisit-
karte für ıhn ab.
ı2) In mehrfacher Hinsicht wird Sie der folgende 'Traum inter-
essieren, zu dessen Voraussetzungen allerdings auch ein neurotischer
Zustand gehört.
Er fährt im Eisenbahnzug. Der Zug hält auf offenem Felde. Er
meint, es steht ein Unfall bevor, man muß daran denken, sıch zu
flüchten, geht durch alle Abteile des Zuges und erschlägt alle, die
ıhm begegnen, Schaffner, FL,okomotivführer usw.
Dazu die Erinnerung an die Erzählung eines Freundes. Auf einer
Strecke in Italien wurde ein Wahnsinniger in einem Halbcoupe
transportiert, aber aus Versehen ein Reisender zu ihm eingelassen.
Der Verrückte erschlug den Mitreisenden. Er identifiziert sich also
mit diesem Verrückten und begründet sein Anrecht darauf mit der
Zwangsvorstellung, die ihn zeitweilig quält, daß er alle „Mitwisser
beseitigen“ müsse. Dann findet er aber selbst eine bessere Motivierung,
die zum Anlaß des Traumes führt. Er hat gestern im Theater das
Mädchen wiedergesehen, das er heiraten wollte, von der er sich aber,
weil sie ihm Grund zur Eifersucht gegeben, zurückgezogen hat. Bei
202 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
der Intensität, zu welcher die Eifersucht bei ihm ansteigt, wäre er
wirklich verrückt, wenn er die heiraten wollte. Das heißt: Er hält
sie für so unverläßlich, daß er alle Leute, die ihm in den Weg
kommen, aus Eifersucht erschlagen müßte. Das Gehen durch eine
Reihe von Zimmern, hier von Abteilen, haben wir als Symbol des
Verheiratetseins (Gegensatz zur Einehe) bereits kennengelernt.
Zum Halten des Zuges auf offenem Felde und zur Befürchtung
eines Unfalles erzählt er: Als sich einmal auf einer Eisenbahnfahrt ein
solches plötzliches Stehenbleiben außerhalb einer Station ereignete,
erklärte eine mitreisende junge Dame, es stehe vielleicht ein Zu-
sammenstoß bevor, und da sei die zweckmäßigste Vorsicht, die Beine
hoch zu heben. Dieses „die Beine hoch“ hatte aber auch eine Rolle
in den vielen Spaziergängen und Ausflügen in die freie Natur gespielt,
die er in der glücklichen ersten Liebeszeit mit jenem Mädchen unter-
nommen hatte. Ein neues Argument dafür, daß er verrückt sein
müßte, um sie jetzt zu heiraten. Daß ein Wunsch, so verrückt zu sein,
bei ihm dennoch bestand, durfte ich nach meiner Kenntnis der Situation
als gesichert annehmen.
XII. VORLESUNG
ARCHAISCHE ZUGE
UND INFANTILISMUS DES TRAUMES
Meine Damen und Herren! Lassen Sie uns wieder an unser Resul-
tat anknüpfen, daß die Traumarbeit die latenten Traumgedanken
unter dem Einfluß der Traumzensur in eine andere Ausdrucksweise
überführt. Die latenten Gedanken sind nicht anders als die uns be-
kannten bewußten Gedanken unseres Wachlebens; die neue Aus-
drucksweise ist uns durch vielfältige Züge unverständlich. Wir haben
gesagt, daß sie auf Zustände unserer intellektuellen Entwicklung
zurückgreift, die wir längst überwunden haben, auf die Bilder-
sprache, die Symbolbeziehung, vielleicht auf Verhältnisse, die vor der
Entwicklung unserer Denksprache bestanden haben. Wir nannten
die Ausdrucksweise der Traumarbeit darum eine archaische oder
regressive,
Sie können daraus den Schluß ableiten, daß es durch das vertieftere
Studium der’ Traumarbeit gelingen müßte, wertvolle Aufschlüsse über
die nicht gut gekannten Anfänge unserer intellektuellen Entwicklung
zu gewinnen. Ich hoffe, es wird so sein, aber diese Arbeit ist bisher
noch nicht in Angriff genommen worden. Die Vorzeit, in welche die
Traumarbeit uns zurückführt, ist eine zweifache, erstens die in-
dividuelle Vorzeit, die Kindheit, anderseits, insofern jedes Individuum
in seiner Kindheit die ganze Entwicklung der Menschenart irgendwie
abgekürzt wiederholt, auch diese Vorzeit, die phylogenetische. Ob es
204 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
gelingen wird zu unterscheiden, welcher Anteil der latenten seelischen
Vorgänge aus der individuellen, und welcher aus der phylogenetischen
Urzeit stammt, — ich halte es nicht für unmöglich. So erscheint mir
z. B. die Symbolbeziehung, die der Einzelne niemals erlernt hat, zum
Anspruch berechtigt, als phylogenetisches Erbe betrachtet zu werden,
Indes ist dies nicht der einzige archaische Charakter des T’raumes.
Sie kennen alle wohl aus der Erfahrung an sich die merkwürdige
Amnesie der Kindheit. Ich meine die Tatsache, daß die ersten Lebens-
jahre, bis zum fünften, sechsten oder achten, nicht die Spuren im Ge-
dächtnis hinterlassen haben wie das spätere Erleben. Man trifft zwar
auf einzelne Menschen, welche sich einer kontinuierlichen Erinnerung
vom frühen Anfang bis auf den heutigen Tag rühmen können, aber
das andere Verhalten, das der Gedächtnislücke, ist das ungleich
häufigere. Ich meine, über diese Tatsache hat man sich nicht genug
verwundert. Das Kind kann mit zwei Jahren gut sprechen, es zeigt
bald, daß es sich in komplizierten seelischen Situationen zurechtfindet,
und gibt Äußerungen von sich, die ihm viele Jahre später wieder-
erzählt werden, die es selbst aber vergessen hat. Und dabei ist das
Gedächtnis in frühen Jahren leistungsfähiger, weil weniger überladen
als in späteren. Auch liegt kein Anlaß vor, die Gedächtnisfunktion
für eine besonders hohe oder schwierige Seelenleistung zu halten;
man kann im Gegenteile ein gutes Gedächtnis noch bei Personen
finden, die intellektuell sehr niedrig stehen.
Als zweite Merkwürdigkeit, die dieser ersten aufgesetzt ist, muß
ich aber anführen, daß aus der Erinnerungsleere, welche die ersten
Kindheitsjahre umfaßt, sich einzelne gut erhaltene, meist plastisch
empfundene Erinnerungen herausheben, welche diese Erhaltung nicht
rechtfertigen können. Mit dem Material von Eindrücken, welche uns
im späteren Leben treffen, verfährt unser Gedächtnis so, daß es eine
Auslese vornimmt. Es behält das irgend Wichtige und läßt Unwich-
tiges fallen. Mit den erhaltenen Kindheitserinnerungen ist es anders.
Sie entsprechen nicht notwendig wichtigen Erlebnissen der Kinder-
jahre, nicht einmal solchen, die vom Standpunkt des Kindes hätten
XIII. Archaische Züge und Infantilismus des Traumes 205
wichtig erscheinen müssen. Sie sind oft so banal und an sich be-
deutungslos, daß wir uns nur verwundert fragen, warum gerade diese
Einzelheit dem Vergessen entgangen ist. Ich habe seinerzeit versucht,
das Rätsel der Kindheitsamnesie und der sie unterbrechenden Erinne-
rungsreste mit Hilfe der Analyse anzugreifen, und bin zu dem Er-
gebnis gekommen, daß doch auch beim Kinde nur das Wichtige ın
der Erinnerung übriggeblieben ist. Nur daß durch die Ihnen bereits
bekannten Prozesse der Verdichtung und ganz besonders der Ver-
schiebung dies Wichtige durch anderes, was unwichtig erscheint, ın
der Erinnerung vertreten ist. Ich habe diese Kindheitserinnerungen
darum Deckerinnerungen genannt; man kann durch gründliche
Analyse alles Vergessene aus ihnen entwickeln.
In den psychoanalytischen Behandlungen ist ganz regelmäßig die
Aufgabe gestellt, die infantile Erinnerungslücke auszufüllen, und in-
soferne die Kur überhaupt einigermaßen gelingt, also überaus häufig,
bringen wir es auch zustande, den Inhalt jener vom Vergessen be-
deckten Kindheitsjahre wieder ans Licht zu ziehen. Diese Eindrücke
sind niemals wirklich vergessen gewesen, sie waren nur unzugänglich,
latent, haben dem Unbewußten angehört. Es kommt aber auch spontan
vor, daß sie aus dem Unbewußten auftauchen, und zwar geschieht
es im Anschluß an Träume. Es zeigt sich, daß das Traumleben den
Zugang zu diesen latenten, infantilen Erlebnissen zu finden weiß. Es
sind schöne Beispiele hierfür in der Literatur verzeichnet und ich
selbst habe einen solchen Beitrag leisten können. Ich träumte einmal
in einem gewissen Zusammenhange von einer Person, die mir einen
Dienst geleistet haben mußte, und die ich deutlich vor mir sah. Es
war ein einäugiger Mann von kleiner Gestalt, dick, den Kopf tief in
den Schultern steckend. Ich entnahm aus dem Zusammenhang, daß
er ein Arzt war. Zum Glück konnte ich meine noch lebende Mutter
befragen, wie der Arzt meines Geburtsortes, den ich mit drei Jahren
verlassen, ausgesehen, und erfuhr von ihr, daß er einäugig war, kurz,
dick, den Kopf tief in den Schultern steckend, lernte auch, bei welchem
von mir vergessenen Unfall er mir Hilfe geleistet hatte. Diese Ver-
206 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
fügung über das vergessene Material der ersten Kindheitsjahre ist also
ein weiterer archaischer Zug des Traumes.
Dieselbe Auskunft setzt sich nun auf ein anderes der Rätsel, auf
die wir bisher gestoßen sind, fort. Sie erinnern sich, mit welchem
Staunen es aufgenommen wurde, als wir zur Einsicht kamen, die
Erreger der Träume seien energisch böse und ausschweifend sexuelle
Wünsche, welche Traumzensur und Traumentstellung notwendig
gemacht haben. Wenn wir einen solchen Traum dem "Träumer ge-
deutet haben und er im günstigsten Falle die Deutung selbst nicht
angreift, so stellt er doch regelmäßig die Frage, woher ihm ein solcher
Wunsch komme, da er ihn doch als fremd empfinde und sich des
Gegenteils davon bewußt sei. Wir brauchen nicht zu verzagen, diese
Herkunft nachzuweisen. Diese bösen Wunschregungen stammen aus
der Vergangenheit, oft aus einer Vergangenheit, die nicht allzuweit
zurückliegt. Es läßt sich zeigen, daß sie einmal bekannt und bewußt
waren, wenn sie es auch heute nicht mehr sind. Die Frau, deren
Traum bedeutet, daß sie ihre einzige, jetzt 17jährige Tochter tot vor
sich sehen möchte, findet unter unserer Anleitung, daß sie diesen
Todeswunsch doch zu einer Zeit genährt hat. Das Kind ist die Frucht
einer verunglückten, bald getrennten Ehe. Als sie die Tochter noch
im Mutterleibe trug, schlug sie einmal nach einer heftigen Szene mit
ihrem Manne im Wutanfall mit den Fäusten auf ihren Leib los, um
das Kind darin zu töten. Wie viele Mütter, die ihre Kinder heute
zärtlich, vielleicht überzärtlich lieben, haben sie doch ungerne emp-
fangen und damals gewünscht, das Leben in ihnen möge sich nicht
weiter entwickeln; ja sie haben auch diesen Wunsch in verschiedene,
zum Glück unschädliche Handlungen umgesetzt. Der später so rätsel-
hafte Todeswunsch gegen die geliebte Person stammt also aus der
Frühzeit der Beziehung zu ihr. |
Der Vater, dessen Traum zur Deutung berechtigt, er wünsche den
Tod seines bevorzugten ältesten Kindes, muß sich ebenso daran er-
innern lassen, daß ihm dieser Wunsch einmal nicht fremd war. Als
dieses Kind noch Säugling war, dachte der mit seiner Ehewahl un-
XIIT. Archaische Züge und Infantilismus des Traumes 207
zufriedene Mann oft, wenn das kleine Wesen, das ihm nichts be-
deute, sterben sollte, dann wäre er wieder frei und würde von seiner
Freiheit einen besseren Gebrauch machen. Die gleiche Herkunft läßt
sich für eine große Anzahl ähnlicher Haßregungen erweisen; sie sind
Erinnerungen an etwas, was der Vergangenheit angehörte, einmal
bewußt war und seine Rolle im Seelenleben spielte. Sie werden dar-
ausdenSchlußziehen wollen, daß essolche Wünsche und solche Träume
nicht geben darf, wenn derartige Wandlungen im Verhältnis zu einer
Person nicht vorgekommen sind, wenn dies Verhältnis von Anfang
an gleichsinnig war. Ich bin bereit, Ihnen diese Folgerung zuzugeben,
will Sie nur daran mahnen, daß Sie nicht den Wortlaut des Traumes,
sondern den Sinn desselben nach seiner Deutung in Betracht ziehen.
Es kann vorkommen, daß der manifeste Traum vom Tode einer ge-
liebten Person nur eine schreckhafte Maske vorgenommen hat, aber
etwas ganz anderes bedeutet, oder daß die geliebte Person zum täu-
schenden Ersatz für eine andere bestimmt ist.
Derselbe Sachverhalt wird aber eine andere, weit ernsthaftere Frage
bei Ihnen wecken. Sie werden sagen: Wenn dieser Todeswunsch auch
einmal vorhanden war und von der Erinnerung bestätigt wird, so
ist das doch keine Erklärung. Er ist doch längst überwunden, er kann
heute doch nur als bloße effektlose Erinnerung im Unbewußten vor-
handen sein, aber nicht als kräftige Regung. Für letzteres spricht
doch nichts. Wozu wird er also überhaupt vom Traume erinnert? Diese
Frage ist wirklich berechtigt; der Versuch, sie zu beantworten, würde
uns zu weit führen und zur Stellungnahme in einem der bedeutsam-
sten Punkte der Traumlehre nötigen. Aberich bin genötigt, im Rahmen
unserer Erörterungen zu bleiben und Enthaltung zu üben. Bereiten
Sie sich auf den einstweiligen Verzicht vor. Begnügen wir uns mit dem
tatsächlichen Nachweis, daB dieser überwundeneWunsch als Traumer-
reger nachweisbar ist und setzen wir die Untersuchung fort, ob auch an-
dere böse Wünsche dieselbe Ableitung aus der Vergangenheit zulassen.
Bleiben wir bei den Beseitigungswünschen, die wir ja zumeist auf
den uneingeschränkten Egoismus des Träumers zurückführen dürfen.
208 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Ein solcher Wunsch ist als Traumbildner sehr häufig nachzuweisen.
So oft uns irgend jemand im Leben in den Weg getreten ist, und wie
häufig muß dies bei der Komplikation der Lebensbeziehungen der
Fall sein, sofort.ist der Traum bereit, ihn totzumachen, sei er auch
der Vater, die Mutter, ein Geschwister, ein Ehepartner u. dgl. Wir
hatten uns über diese Schlechtigkeit der menschlichen Natur genug
verwundert und waren gewiß nicht geneigt, die Richtigkeit dieses
Ergebnisses der Traumdeutung ohne weiteres anzunehmen. Wenn
wir aber einmal darauf gewiesen werden, den Ursprung solcher
Wünsche in der Vergangenheit zu suchen, so entdecken wir alsbald
die Periode der individuellen Vergangenheit, in welcher solcher Egois-
mus und solche Wunschregungen auch gegen die Nächsten nichts
Befremdendes mehr haben. Es ist das Kind gerade in jenen ersten
Jahren, welche später von der Amnesie verhüllt werden, das diesen
Egoismus häufig in extremer Ausprägung zeigt, regelmäßig aber
deutliche Ansätze dazu oder richtiger Überreste davon erkennen läßt.
Das Kind liebt eben sich selbst zuerst und lernt erst später andere
lieben, von seinem Ich etwas an andere opfern. Auch die Personen,
die es von Anfang an zu lieben scheint, liebt es zuerst darum, weil
es sie braucht, sie nicht entbehren kann, also wiederum aus egoisti-
schen Motiven. Erst später macht sich die Liebesregung vom Egois-
mus unabhängig. Es hat tatsächlich am Egoismus lieben ge-
lernt.
Es wird in dieser Beziehung lehrreich sein, die Einstellung des
Kindes gegen seine Geschwister mit der gegen seine Eltern zu ver-
gleichen. Seine Geschwister liebt das kleine Kind nicht notwendiger-
weise, oft offenkundig nicht. Es ist unzweifelhaft, daß es in ihnen
seine Konkurrenten haßt, und es ist bekannt, wie häufig diese Ein-
stellung durch lange Jahre bis zur Zeit der Reife, ja noch späterhin
ohne Unterbrechung anhält. Sie wird ja häufig genug durch eine
zärtlichere abgelöst oder sagen wir lieber: überlagert, aber die feind-
selige scheint sehr regelmäßig die frühere zu sein. Am leichtesten
kann man sie an Kindern von 2'/, bis 4 und 5 Jahren ‚beobachten,
XIII. Archaische Züge und Infantilismus des Traumes 209
wenn ein neues Geschwisterchen dazu kommt. Das hat meist einen
sehr unfreundlichen Empfang. Äußerungen wie „ich mag es nicht,
der Storch soll es wieder mitnehmen“ sind recht gewöhnlich. In der
Folge wird jede Gelegenheit benützt, um den Ankömmling herab-
zusetzen, und selbst Versuche ihn zu schädigen, direkte Attentate,
sind nichts Unerhörtes. Ist die Altersdifferenz geringer, so findet das
Kind beim Erwachen intensiverer Seelentätigkeit den Konkurrenten
bereits vor und richtet sich mit ihm ein. Ist sie größer, so kann das
neue Kind von Anfang an als ein interessantes Objekt, als eine Art
von lebender Puppe, gewisse Sympathien erwecken, und bei einem
Altersunterschied von acht Jahren und mehr können bereits, beson-
ders bei den Mädchen, vorsorgliche, mütterliche Regungen ins Spiel
treten. Aber aufrichtig gesagt, wenn man den Wunsch nach dem "Tode
der Geschwister hinter einem Traume aufdeckt, braucht man ihn
selten rätselhaft zu finden und weist sein Vorbild mühelos im frühen
Kindesalter, oft genug auch in späteren Jahren des Beisammenseins
nach. |
Es gibt walnschessich keine Kinderstube ohne heftige Konflikte
zwischen deren Einwohnern, Motive sind die Konkurrenz um die
Liebe der -Eltern, um den gemeinsamen Besitz, um den Wohnraum,
Die feindseligen Regungen richten sich gegen ältere wie gegen jüngere
Geschwister. Ich glaube, es war Bernard Shaw, der das Wort aus-
gesprochen hat: Wenn es jemand gibt, den eine junge englische Dame
mehr haßt als ihre Mutter, so ist es ihre ältere Schwester. An diesem
Ausspruch ist aber etwas, was uns befremdet. Geschwisterhaß und
Konkurrenz fänden wir zur Not begreiflich, aber wie sollen sich Haß-
empfindungen in das Verhältnis zwischen Tochter und Mutter, Eltern
und Kinder, eindrängen können? 269°
Dies Verhältnis ist ohne Zweifel auch von Seite der Kinder be-
trachtet das günstigere. So fordert es auch unsere Erwartung; wir
finden es weit anstößiger, wenn die Liebe zwischen Eltern und. Kin-
dern, als wenn sie zwischen Geschwistern mangelt. Wir haben so-
zusagen im ersten Falle etwas geheiligt, was wir im andern Falle
Freud, VI. 14
210 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
profan gelassen haben. Doch kann uns die täglıche Beobachtung zeigen,
wie häufig die Gefühlsbeziehungen zwischen Eltern und erwachsenen
Kindern hinter dem von der Gesellschaft aufgestellten Ideal zurück-
bleiben, wieviel Feindseligkeit da bereitliegt und sich äußern würde,
wenn nicht Zusätze von Pietät und von zärtlichen Regungen sie zu-
rückhielten. Die Motive hierfür sind allgemein bekannt und zeigen
eine Tendenz, die gleichen Geschlechter voneinander zu trennen,
die Tochter von der Mutter, den Vater vom Sohn. Die "Tochter findet
in der Mutter die Autorität, welche ihren Willen beschränkt und
mit der Aufgabe betraut ist, den von der Gesellschaft geforderten
Verzicht auf Sexualfreiheit bei ihr durchzusetzen, in einzelnen Fällen
auch noch die Konkurrentin, die der Verdrängung widerstrebt. Das-
selbe wiederholt sich in noch grellerer Weise zwischen Sohn und
Vater. Für den Sohn verkörpert sich ım Vater jeder widerwillig er-
tragene soziale Zwang; der Vater versperrt ihm den Zugang zur
Willensbetätigung, zum frühzeitigen Sexualgenuß und, wo gemein-
same Familiengüter bestehen, zum Genuß derselben. Das Lauern auf
den Tod des Vaters wächst im Falle des Thronfolgers zu einer das
Tragische streifenden Höhe. Minder gefährdet erscheint das Verhält-
nis zwischen Vater und Tochter, Mutter und Sohn. Das letztere gibt
die reinsten Beispiele einer durch keinerlei egoistische Rücksicht ge-
störten, unwandelbaren Zärtlichkeit.
Wozu ich von diesen Dingen spreche, die doch banal und allgemein
bekannt sind? Weil eine unverkennbare Neigung besteht, ihre Be-
deutung im Leben zu verleugnen und das sozial geforderte Ideal weit
öfter für erfüllt auszugeben, als es wirklich erfüllt wird. Es ist aber
besser, daß der Psychologe die Wahrheit sagt, als daß diese Aufgabe
dem Zyniker überlassen bleibt. Allerdings bezieht sich diese Verleug-
nung nur auf das reale Leben. Der Kunst der erzählenden und der
dramatischen Dichtung bleibt es freigestellt, sich der Motive zu be-
dienen, die aus der Störung dieses Ideals hervorgehen.
Bei einer großen Anzahl von Menschen brauchen wir uns also
nicht zu verwundern, wenn der Traum ihren Wunsch nach Beseiti-
XIII. Archaische Züge und Infantilismus des Traumes 211
gung der Eltern, speziell des gleichgeschlechtlichen Elternteiles, auf-
deckt. Wir dürfen annehmen, er ist auch im Wachleben vorhanden
und wird sogar manchmal bewußt, wenn er sich durch ein anderes
Motiv maskieren kann, wie im Falle unseres 'Träumers im Beispiele 3
durch das Mitleid mit dem unnützen Leiden des Vaters. Selten be-
herrscht die Feindseligkeit das Verhältnis allein, weit häufiger tritt
sie hinter zärtlicheren Regungen zurück, von denen sie unterdrückt
wird, und muß warten, bis ein Traum sie gleichsam isoliert. Was uns
der Traum infolge solcher Isolierung übergroß zeigt, das schrumpft
dann wieder zusammen, wenn es nach der Deutung von uns in den
Zusammenhang des Lebens eingereiht wird (H. Sachs). Wir finden
diesen Traumwunsch aber auch dort, wo er im Leben keinen Anhalt
hat, und wo der Erwachsene sich im Wachen nie zu ihm bekennen
müßte. Dies hat seinen Grund darin, daß das tiefste und regelmäßigste
Motiv zur Entfremdung, besonders zwischen den gleichgeschlecht-
lichen Personen, sich bereits im frühen Kindesalter geltend gemacht hat.
Ich meine die Liebeskonkurrenz mit deutlicher Betonung des Ge-
schlechtscharakters. Der Sohn beginnt schon als kleines Kind eine
besondere Zärtlichkeit für die Mutter zu entwickeln, die er als sein
eigen betrachtet, und den Vater als Konkurrenten zu empfinden, der
ihm diesen Alleinbesitz streitig macht, und ebenso sieht die kleine
Tochter in der Mutter eine Person, die ihre zärtliche Beziehung zum
Vater stört und einen Platz einnimmt, den sie sehr gut selbst aus-,
füllen könnte. Man muß aus den Beobachtungen erfahren, in wie
frühe Jahre diese Einstellungen zurückreichen, die wir als Ödipus-
komplex bezeichnen, weil diese Sage die beiden extremen Wünsche,
welche sich aus der Situation des Sohnes ergeben, den Vater zu töten,
und die Mutter zum Weib zu nehmen, mit einer ganz geringfügigen
Abschwächung realisiert. Ich will nicht behaupten, daß der Ödipus-
komplex die Beziehung der Kinder zu den Eltern erschöpft; diese kann
leicht viel komplizierter sein. Auch ist der Ödipuskomplex mehr oder
weniger stark ausgebildet, er kann selbst eine Umkehrung erfahren,
aber er ist ein regelmäßiger und sehr bedeutsamer Faktor des kind-
14*
212 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
lichen Seelenlebens, und man läuft eher Gefahr, seinen. Einfluß und
den der aus ihm hervorgehenden Entwicklungen zu unterschätzen,
- als ihn zu überschätzen. Übrigens reagieren die Kinder mit der Ödipus-
einstellung häufig auf eine Anregung der Eltern, die sich in ihrer
Liebeswahl oft genug vom Geschlechtsunterschied leiten lassen, so
daß der Vater die Tochter, die Mutter den Sohn bevorzugt oder im
Falle von Erkaltung in der Ehe zum Ersatz für das entwertete Liebes-
objekt nimmt.
Man kann nicht behaupten, daß die Welt der psychoanalytischen
Forschung für die Aufdeckung des Ödipuskomplexes sehr dankbar ge-
wesen ist. Diese hat im Gegenteile das heftigste Sträuben der Er-
wachsenen hervorgerufen, und Personen, die es versäumt hatten, an
der Ableugnung dieser verpönten oder tabuierten Gefühlsbeziehung
teilzunehmen, haben ihr Verschulden später gutgemacht, indem sie
dem Komplex durch Umdeutungen seinen Wert entzogen. Nach meiner
unveränderten Überzeugung ist dahier nichts zu verleugnen undnichts
zu beschönigen. Man befreunde sich mit der Tatsache, die von der
griechischen Sage selbst als unabwendbares Verhängnis anerkannt
wird. Interessant ist es wiederum, daß der aus dem Leben heraus-
geworfene Ödipuskomplex der Dichtung überlassen, gleichsam zur
freien Verfügung abgetreten wurde. O.Rank hatin einer sorgfältigen
Studie gezeigt, wie gerade der Ödipuskomplex der dramatischen
Dichtung reiche Motive in unendlichen Abänderungen, Abschwä-
chungen und Verkleidungen geliefert hat, in solchen Entstellungen
also, wie wirsie bereits als Werk einer Zensur erkennen. Diesen Ödipus-
komplex dürfen wir also auch jenen Träumern zuschreiben, die so
glücklich waren, im späteren Leben den Konflikten mit ihren Eltern
zu entgehen, und an ihn innig geknüpft finden wir, was wir den
Kastrationskomplex heißen, die Reaktion auf die dem Vater
zugeschriebene Sexualeinschüchterung oder Eindämmung der früh-
infantilen Sexualtätigkeit. a
Durch die bisherigen Ermittlungen auf das Studium des kindlichen
Seelenlebens verwiesen, dürfen wir nun auch die Erwartung hegen,
XIII. Archaische Züge und Infantilismus des Traumes 213
daß die Herkunft des anderen Anteils der verbotenen Traumwünsche,
der exzessiven Sexualregungen, auf ähnliche Weise Aufklärung finden
wird. Wir empfangen also den Antrieb, auch die Entwicklung des
kindlichen Sexuallebens zu studieren und erfahren hierbei ausmehreren
Quellen folgendes: Es ist vor allem ein unhaltbarer Irrtum, dem Kind
ein Sexualleben abzusprechen und anzunehmen, daß die Sexualität
erst zur Zeit der Pubertät mit der Reifung der Genitalien einsetze.
Das Kind hat im Gegenteile von allem Anfang an ein reichhaltiges
Sexualleben, welches sich von dem später als normal geltenden in
vielen Punkten unterscheidet. Was wir im Leben der Erwachsenen
„pervers“ nennen, weicht vom Normalen in folgenden Stücken ab:
erstens durch dasHinwegsetzen über die Artschranke (dieKluftzwischen |
Mensch und Tier), zweitens durch die Überschreitung der Ekel-
schranke, drittens der Inzestschranke (des Verbots, Sexualbefriedigung
an nahen Blutsverwandten zu suchen), viertens der Gleichgeschlecht-
lichkeit, und fünftens durch die Übertragung der Genitalrolleanandere
Organe und Körperstellen. Alle diese Schranken bestehen nicht von
Anfang an, sondern werden erst allmählich im Laufe der Entwicklung
und der Erziehung aufgebaut. Das kleine Kind ist frei von ihnen. Es
kennt noch keine arge Kluft zwischen Mensch und Tier; der Hoch-
mut, mit dem sich der Mensch vom Tier absondert, wächst ihm erst
später zu. Es zeigt anfänglich keinen Ekel vor dem Exkrementellen, _
sondern erlernt diesen langsam unter dem Nachdruck der Erziehung;
es legt keinen besonderen Wert auf den Unterschied der Geschlechter,
mutet vielmehr beiden die gleiche Genitalbildung zu; es richtet seine
ersten sexuellen Gelüste und seine Neugierde auf dieihm nächsten und
aus anderen Gründen liebsten Personen, Eltern, Geschwister, Pflege-
personen, und endlich zeigt sich bei ihm, was späterhin auf der Höhe
einer Liebesbeziehung wieder durchbricht, daß esnichtnurvonden Ge-
schlechtsteilen Lust erwartet, sondern daß viele andere Körperstellen
dieselbe Empfindlichkeit für sich in Anspruch nehmen, analoge Lust-
empfindungen vermitteln und somit die Rolle von Genitalien spielen
können. Das Kind kann also „polymorph pervers“ genannt werden,
214 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
und wenn esalle diese Regungen nur spurweise betätigt, so kommt dies
einerseits von deren geringer Intensität im Vergleiche zu späteren
Lebenszeiten, anderseits daher, daß die Erziehung alle sexuellen Äuße-
rungen des Kindes sofort energisch unterdrückt. Diese Unterdrückung
setzt sich sozusagen in die Theorie fort, indem die Erwachsenen sich
bemühen, einen Anteil der kindlichen Sexualäußerungen zu über-
sehen und einen anderen durch Umdeutung seiner sexuellen Natur
zu entkleiden, bis sie dann das Ganze ableugnen können. Es sind oft
dieselben Leute, die erst in der Kinderstube hart gegen alle sexuellen
Unarten der Kinder wüten und dann am Schreibtisch die sexuelle
Reinheit derselben Kinder verteidigen. Wo Kinder sich selbst über-
lassen werden oder unter dem Einfluß der Verführung, bringen sie
oft ganz ansehnliche Leistungen perverser Sexualbetätigung zustande.
Natürlich haben die Erwachsenen recht, dies als „Kinderei“ und
„Spielerei“ nicht schwer zu nehmen, denn das Kind ist weder vor
dem Richterstuhl der Sitte noch vor dem Gesetz als vollwertig und
verantwortlich zu beurteilen, aber diese Dinge existieren doch, sie
haben ihre Bedeutung sowohl als Anzeichen mitgebrachter Konstitution
sowie als Ursachen und Förderungen späterer Entwicklungen, siegeben
uns Aufschlüsse über das kindliche Sexualleben und somit über das
menschliche Sexualleben überhaupt. Wenn wir also hinter unseren
entstellten Träumen alle diese perversen. Wunschregungen wieder-
finden, so bedeutet es nur, daß der Traum auch auf diesem Gebiet
den Rückschritt zum infantilen Zustand vollzogen hat.
Eine besondere Hervorhebung unter diesen verbotenen Wünschen
verdienen noch die inzestuösen, d. h. die auf Geschlechtsverkehr mit
Eltern und Geschwistern gerichteten. Sie wissen, welcher Abscheu
in der menschlichen Gemeinschaft gegen solchen Verkehr verspürt
oder wenigstens vorgegeben wird, und welcher Nachdruck auf den
dagegen gerichteten Verboten ruht. Es sind die ungeheuerlichsten
Anstrengungen gemacht worden, diese Inzesischeu zu erklären. Die
einen haben angenommen, daß es Züchtungsrücksichten der Natur
sind, welche sich psychisch durch dieses Verbot repräsentieren lassen,
XIII. Archaische Züge und Infantilismus des Traumes 215
weil Inzucht die Rassencharaktere verschlechtern würde, die anderen
haben behauptet, daß durch das Zusammenleben von früher Kind-
heit an die sexuelle Begierde von den in Betracht kommenden Per-
sonen abgelenkt wird. In beiden Fällen wäre übrigens die Inzest-
vermeidung automatisch gesichert, und man verstünde nicht, wozu
es der strengen Verbote bedürfte, die eher auf das Vorhandensein
eines starken Begehrens deuten. Die psychoanalytischen Unter-
suchungen haben unzweideutig ergeben, daß die inzestuöse Liebes-
wahl vielmehr die erste und die regelmäßige ist, und daß erst später
ein Widerstand gegen sie einsetzt, dessen Herleitung aus der individu-
ellen Psychologie wohl abzulehnen ist.
Stellen wir zusammen, was uns die Vertiefung in die Kinder-
psychologie für das Verständnis des Traumes gebracht hat. Wir fanden
nicht nur, daß das Material der vergessenen Kindererlebnisse dem
Traum zugänglich ist, sondern wir sahen auch, daß das Seelenleben
der Kinder mit all seinen Eigenheiten, seinem Egoismus, seiner inzes-
tuösen Liebeswahl usw. für den Traum, also im Unbewußten, noch
fortbesteht, und daß uns der Traum allnächtlich auf diese infantile
Stufe zurückführt. Es wird uns so bekräftigt, daß das Unbewußte
des Seelenlebens das Infantile ist. Der befremdende Ein-
druck, daß soviel Böses im Menschen steckt, beginnt nachzulassen.
Dieses entsetzlich Böse ist einfach das Anfängliche, Primitive, Infantile
des Seelenlebens, das wir beim Kinde in Wirksamkeit finden können,
das wir aber bei ihm zum Teil wegen seiner kleinen Dimensionen
übersehen, zum Teil nicht schwer nehmen, weil wir vom Kinde keine
ethische Höhe fordern. Indem der Traum auf diese Stufe regrediert,
erweckt er den Anschein, als habe er das Böse in uns zum Vorschein
gebracht. Es ist aber nur ein täuschender Schein, von dem wir uns
haben schrecken lassen. Wir sind nicht so böse, wie wir nach der
Deutung der 'Träume annehmen wollten.
Wenn die bösen Regungen der Träume nur Infantilismen sind,
eine Rückkehr zu den Anfängen unserer ethischen Entwicklung, indem
der Traum uns einfach wieder zu Kindern im Denken und Fühlen
216 ‘ Vorlesungen zur Einführung in.die Psychoanalyse
macht, so brauchen wir uns vernünftigerweise dieser bösen "Träume
nicht zu schämen. Allein das Vernünftige ist nur ein Anteil des Seelen-
lebens, es geht außerdem in der Seele noch mancherlei vor, was nicht
vernünftig ist, und so geschieht es, daß wir uns unvernünitigerweise
doch solcher Träume schämen. Wir unterwerfen sie der Iraumzensur,
schämen und ärgern uns, wenn es einem dieser Wünsche ausnahms-
weise gelungen ist, in so unentstellter Form zum Bewußtsein zu
dringen, daß wir ihn erkennen müssen, ja wir schämen uns gelegent-
lich der entstellten Träume genau so, als ob wir sie verstehen würden.
Denken Sie nur an das entrüstete Urteil jener braven alten Dame
über ihren nicht gedeuteten Traum von den „Liebesdiensten“. Das
Problem ist also noch nicht erledigt, und es bleibt möglich, daß wir
bei weiterer Beschäftigung mit dem Bösen im "Traum zu einem
anderen Urteil und zu einer anderen Schätzung der menschlichen
Natur gelangen.
. Als Ergebnis der ganzen Untersuchung erfassen wir zwei Ein-
sichten, die aber nur den Anfang von neuen Rätseln, neuen Zweifeln
bedeuten. Erstens: Die Regression der Traumarbeit istnicht nur eine
formale, sondern auch eine materielle. Sie übersetzt nicht nur unsere
Gedanken in eine primitive Ausdrucksform, sondern sie weckt auch
die Eigentümlichkeiten unseres primitiven Seelenlebens wieder auf,
die alte Übermacht des Ichs, die anfänglichen Regungen unseres
Sexuallebens, ja selbst unseren alten intellektuellen Besitz, wenn wir
die Symbolbeziehung als solchen auffassen dürfen. Und zweitens: All
dies alte Infantile, was einmal herrschend und alleinherrschend war,
müssen wir heute dem Unbewußten zurechnen, von dem unsere Vor-
stellungen sich nun verändern und erweitern. Unbewußt ist nicht
mehr ein. Name für das derzeit Latente, das Unbewußte ist ein be-
sonderes seelisches Reich mit eigenen Wunschregungen, eigener Aus-
drucksweise und ihm eigentümlichen seelischen Mechanismen, die
sonst nicht in Kraft sind. Aber die latenten Traumgedanken, die wir
durch die Traumdeutung erraten haben, sind doch nicht von diesem
Reich; sie sind vielmehr so, wie wir sie auch im Wachen hätten
XIII. Archaische Züge und Infantilismus des Traumess 217
denken können. Unbewußt sind sie aber doch; wie löst sich also dieser
Widerspruch? Wir beginnen zu ahnen, daß hier eine Sonderung vor-
zunehmen ist. Etwas, was aus unserem bewußten Leben stammt
und dessen Charaktere teilt — wir heißen es: die Tagesreste — tritt
mit etwas anderem aus jenem Reich des Unbewußten zur 'Traum-
bildung zusammen. Zwischen diesen beiden Anteilen vollzieht sich
die Traumarbeit. Die Beeinflussung der Tagesreste durch das hinzu-
tretende Unbewußte enthält wohl die Bedingung für die Regression.
Es ist dies die tiefste Einsicht über das Wesen des 'Traumes, zu
welcher wir hier, ehe wir weitere seelische Gebiete durchforscht
haben, gelangen können. Es wird aber bald an der Zeit sein, den
unbewußten Charakter der latenten Traumgedanken mit einem
anderen Namen zu belegen, zur Unterscheidung von dem Unbewußten
aus jenem Reich des Infantilen.
Wir können natürlich auch die Frage aufwerfen: Was nötigt die
psychische Tätigkeit während des Schlafens zu solcher Regression?
Warum erledigt sie die schlafstörenden seelischen Reize nicht ohne
diese? Und wenn sie aus Motiven der Traumzensur sich der Ver-
kleidung durch diealte, jetzt unverständliche Ausdrucksform bedienen
muß, wozu dient ihr die Wiederbelebung der alten, jetztüberwundenen
Seelenregungen, Wünsche und Charakterzüge, also die materielle
Regression, die zu der formalen hinzukommt? Die einzige Antwort,
die uns befriedigen würde, wäre, daß nur auf solche Weise ein Traum
gebildet werden kann, daß dynamisch die Aufhebung des Traum-
reizes nicht anders möglich ist. Aber wir haben vorläufig nicht das
Recht, eine solche Antwort zu geben.
XIV. VORLESUNG
DIE WUNSCHERFÜLLUNG
Meine Damen und Herren! Soll ich Ihnen nochmals vorhalten,
welchen Weg wir bisher zurückgelegt haben? Wie wir bei der An-
wendung unserer Technik auf die Traumentstellung gestoßen sind,
uns besonnen haben, ihr zunächst auszuweichen, und uns die ent-
scheidenden Auskünfte über das Wesen des Traumes an den infantilen
Träumen geholt haben? Wie wir dann, mit den Ergebnissen dieser
Untersuchung ausgerüstet, die Traumentstellung direkt angegriffen
und sie, ich hoffe es, auch schrittweise überwunden haben? Nun aber
müssen wir uns sagen, was wir auf dem einen und auf dem anderen
Weg gefunden, trifft nicht ganz zusammen. Es wird uns zur Auf-
gabe, beiderlei Ergebnisse zusammenzusetzen und gegeneinander
auszugleichen.
Von beiden Seiten her hat sich uns ergeben, die Traumarbeit be-
stehe wesentlich in der Umsetzung von Gedanken in ein halluzina-
torisches Erleben. Wie das geschehen kann, ist rätselhaft genug, aber
es ist ein Problem der allgemeinen Psychologie, das uns hier nicht
beschäftigen soll. Aus den Kinderträumen haben wir erfahren, die
Traumarbeit beabsichtige die Beseitigung eines den Schlaf störenden
seelischen Reizes durch eine Wunscherfüllung. Von den entstellten
Träumen konnten wir nichts Ähnliches aussagen, ehe wir sie zu
deuten verstanden. Unsere Erwartung ging aber von Anfang an dahin,
die entstellten Träume unter dieselben Gesichtspunkte bringen zu
XIV. Die Wunscherfüllung 219
können wie die infantilen. Die erste Erfüllung dieser Erwartung
brachte uns die Einsicht, daß eigentlich alle Träume — die Träume
von Kindern sind, mit dem infantilen Material, den kindlichen Seelen-
regungen und Mechanismen arbeiten. Nachdem wir die Traum-
entstellung für überwunden halten, müssen wir an die Untersuchung
gehen, ob die Auffassung als Wunscherfüllungen auch für die ent-
stellten Träume Geltung hat. |
Wir haben erst kürzlich eine Reihe von Träumen der Deutung
unterzogen, aber die Wunscherfüllung ganz außer Betracht gelassen.
Ich bin überzeugt, daß sich Ihnen dabei wiederholt die Frage auf-
gedrängt hat: Wo bleibt denn die Wunscherfüllung, die angeblich das
Ziel der ’Traumarbeit ist? Diese Frage ist bedeutsam; sie ist nämlich die
Frage unserer Laienkritiker geworden. Wie sie wissen, hat die Mensch-
heit ein instinktives Abwehrbestreben gegen intellektuelle Neuheiten.
Zu den Äußerungen desselben gehört, daß eine solche Neuheit sofort
auf den geringsten Umfang reduziert, womöglich in ein Schlagwort
komprimiert wird. Für die neue Traumlehre ist die Wunscherfüllung
dies Schlagwort geworden. Der Laie stellt die Frage: Wo ist die
Wunscherfüllung? Sofort, nachdem er gehört hat, daß der Traum
eine Wunscherfüllung sein soll, und indem er sie stellt, beantwortet
er sie ablehnend. Es fallen ihm sofort ungezählte eigene Traum-
erfahrungen ein, in denen sich Unlust bis zu schwerer Angst an das
Träumen geknüpft hat, so daß ihm die Behauptung der psycho-
analytischen 'Traumlehre recht unwahrscheinlich wird. Wir haben
es leicht, ihm zu antworten, daß bei den entstellten Träumen die
Wunscherfüllung nicht offenkundig sein kann, sondern erst gesucht
werden muß, so daß sie vor der Deutung des Traumes nicht anzugeben
ist. Wir wissen auch, daß die Wünsche dieser entstellten Träume
verbotene, von der Zensur abgewiesene Wünsche sind, deren Existenz
eben die Ursache der Traumentstellung, das Motiv für das Eingreifen
der Traumzensur geworden ist. Aber dem Laienkritiker ist es schwer
beizubringen, daß man vor der Deutung des Traumes nicht nach
dessen Wunscherfüllung fragen darf. Er wird es doch immer wieder
220 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
vergessen. Seine ablehnende Haltung gegen die Theorie der Wunsch-
erfüllung ist eigentlich nichts anderes als eine Konsequenz der Traum-
zensur, ein Ersatz und ein Ausfluß der Ablehnung dieser zensurierten
Traumwünsche.
Natürlich werden auch wir das Bedürfnis haben, uns zu erklären,
daß es so viele Träume mit peinlichem Inhalt und besonders, daß es
Angstträume gibt. Wir stoßen dabei zum erstenmal auf das Problem
der Affekte im Traum, welches ein Studium für sich verdiente, uns
aber leider nicht beschäftigen darf. Wenn der Traum eine Wunsch-
erfüllung ist, so sollten peinliche Empfindungen im 'Traume unmög-
lich sein; darin scheinen die Laienkritiker recht zu haben. Es kommen
aber dreierlei Komplikationen in Betracht, an welche diese nicht
gedacht haben. |
Erstens: es kann sein, daß es der 'Traumarbeit nicht voll gelungen
ist, eine Wunscherfüllung zu schaffen, so daß von dem peinlichen
Affekt der 'Traumgedanken ein Anteil für den manifesten Traum er-
übrigt wird. Die Analyse müßte dann zeigen, daß diese Traum-
gedankennoch weitpeinlicher waren, als der ausihnen gestaltete Traum.
‚Soviel läßt sich auch jedesmal nachweisen. Wir geben dann zu, die
Traumarbeit hat ihren Zweck nicht erreicht, so wenig wie der Trink-
traum auf den Durstreiz seine Absicht erreicht, den Durst zu löschen.
Man bleibt durstig und muß erwachen, um zu trinken. Aber es war
doch ein richtiger Traum, er hatte nichts von seinem Wesen aufge-
geben. Wir müssen sagen: Ut desint vires, tamen est laudanda vo-
luntas. Die klar zu erkennende Absicht wenigstens bleibt lobenswert.
Sclche Fälle des Mißlingens sind kein seltenes Vorkommnis. Es wirkt
dazu mit, daß es der 'Traumarbeit soviel schwerer gelingt, Affekte
als Inhalte in ihrem Sinne zu verändern; die Affekte sind manchmal
sehr resistent. So geschieht es denn, daß die Traumarbeit den pein-
lichen Inhalt der Traumgedanken zu einer Wunscherfüllung umge-
arbeitet hat, während sich der peinliche Affekt noch unverändert
durchsetzt. In solchen Träumen paßt der Affekt dann gar nicht zum
Inhalt, und unsere Kritiker können sagen, der Traum sei so wenig
XIV. Die Wunscherfiillung 221
eine Wunscherfüllung, daß in ihm selbst ein harmloser Inhalt pein-
lich empfunden werden kann. Wir werden gegen diese unverstän-
dige Bemerkung einwenden, daß die Wunscherfüllungstendenz der |
Traumarbeit gerade an solchen Träumen am deutlichsten, weil iso-
liert, zum Vorschein kommt. Der Irrtum kommt daher, daß, wer die
Neurosen nicht kennt, sich die Verknüpfung von Inhalt und Affekt
als eine zu innige vorstellt und darum nicht fassen kann, daß ein In-
halt abgeändert wird, ohne daß die dazu gehörige Affektäußerung
mitverändert werde,
Ein zweites, weit wichtigeres und tiefer reichendes Moment, welches
der Laie gleichfalls vernachlässigt, ist das folgende. Eine Wunscher-
füllung müßte gewiß Lust bringen, aber es fragt sich auch, wem?
Natürlich dem, der den Wunsch hat. Vom "Träumer ist uns aber be-
kannt, daß er zu seinen Wünschen ein ganz besonderes Verhältnis
unterhält. Er verwirft sie, zensuriert sie, kurz er mag sie nicht. Eine
Erfüllung derselben kann ihm also keine Lust bringen, sondern nur
das Gegenteil davon. Die Erfahrung zeigt dann, daß dieses Gegenteil,
was noch zu erklären ist, in der Form der Angst auftritt. Der Träumer
kann also in seinem Verhältnis zu seinen Traumwünschen nur einer
Summation von zwei Personen gleichgestellt werden, die doch durch
eine starke Gemeinsamkeit verbunden sind. Anstatt aller weiteren
Ausführungen biete ich Ihnen ein bekanntes Märchen, in welchem
Sie die nämlichen Beziehungen wiederfinden werden. Eine gute Fee
verspricht einem armen Menschenpaar, Mann und Frau, die: Erfül-
lung ihrer drei ersten Wünsche. Sie sind selig und nehmen sich vor,
diese drei Wünsche sorgfältig auszuwählen. Die Frau läßt sich aber
durch den Duft von Bratwürstchen aus der nächsten Hütte verleiten,
sich ein solches Paar Würstchen herzuwünschen. Flugs sind sie auch
da; das ist die erste Wunscherfüllung. Nun wird der Mann böse und
wünscht in seiner Erbitterung, daß die Würste der Frau an der Nase
hängen mögen. Das vollzieht sich auch, und die Würste sind von
ihrem neuen Standort nicht wegzubringen, das ist nun die zweite
Wunscherfüllung, aber der Wunsch ist der des Mannes; der F rau ist
222 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
diese Wunscherfüllung sehr unangenehm. Sie wissen, wie es im
Märchen weitergeht. Da die beiden im Grunde doch eines sind, Mann
und Frau, muß der dritte Wunsch lauten, daß die Würstchen von
der Nase der Frau weggehen mögen. Wir könnten dieses Märchen
noch mehrmals in anderem Zusammenhange verwerten; hier diene
es uns nur als Illustration der Möglichkeit, daß die Wunscherfüllung
des einen zur Unlust für den anderen führen kann, wenn die beiden
miteinander nicht einig sind.
Es wird uns nun nicht schwer werden, zu einem noch besseren Ver-
ständnis der Angstträume zu kommen. Wir werden nur noch eine
Beobachtung verwerten und uns dann zu einer Annahme entschließen,
für die sich mancherlei anführen läßt. Die Beobachtung ist, daß die
Angstträume häufig einen Inhalt haben, welcher der Entstellung völlig
entbehrt, sozusagen der Zensur entgangen ist. Der Angsttraum ist
oft eine unverhüllte Wunscherfüllung, natürlich nicht die eines ge-
nehmen, sondern eines verworfenen Wunsches. An Stelle der Zensur
ist die Angstentwicklung getreten. Während man vom infantilen
Traum aussagen kann, er sei die offene Erfüllung eines zugelassenen
Wunsches, vom gemeinen entstellten Traum, er sei die verkappte
Erfüllung eines verdrängten Wunsches, taugt für den Angsttraum
nur dieFormel, daß er die offene Erfüllung eines verdrängten Wunsches
sei. Die Angst ist das Anzeichen dafür, daß der verdrängte Wunsch
sich stärker gezeigt hat als die Zensur, daß er seine Wunscherfüllung
gegen dieselbe durchgesetzt hat oder durchzusetzen im Begriffe war.
Wir begreifen, daß, was für ihn Wunscherfüllung ist, für uns, die
wir auf der Seite der Traumzensur stehen, nur Anlaß zu peinlichen
Empfindungen und zur Abwehr sein kann. Die dabei im Traum auf-
tretende Angst ist, wenn Sie so wollen, Angst vor der Stärke dieser
sonst niedergehaltenen Wünsche. Warum diese Abwehr inder Form der
Angst auftritt, das kann man aus dem Studium des Traumes allein
nicht erraten ; man muß die Angst offenbar an anderen Stellen studieren.
Dasselbe, was für die unentstellten Angstträume gilt, dürfen wir
auch für diejenigen annehmen, die ein Teil Entstellung erfahren
AIV. Die Wunscherfüllung
223
haben, und für die sonstigen Unlustträume, deren peinliche Emp-
findungen wahrscheinlich Annäherungen an die Angst entsprechen.
Der Angsttraum ist gewöhnlich auch ein Wecktraum; wir pflegen
den Schlaf zu unterbrechen, ehe der verdrängte Wunsch des Traumes
seine volle Erfüllung gegen die Zensur durchgesetzt hat. In diesem
Falle ist die Leistung des Traumes mißglückt, aber sein Wesen ist
darum nicht verändert. Wir haben den Traum mit dem Nachtwächter
oder Schlafwächter verglichen, der unseren Schlaf vor Störung be-
hüten will. Auch der Nachtwächter kommt in die Lage, die Schlafenden
zu wecken, wenn er sich nämlich zu schwach fühlt, die Störung oder
Gefahr allein zu verscheuchen. Dennoch gelingt es uns manchmal,
den Schlaf festzuhalten, selbst wenn der Traum bedenklich zu werden
und sich zur Angst zu wenden beginnt. Wir sagen uns im Schlaf:
Es ist doch nur ein Traum und schlafen weiter.
Wann sollte es geschehen, daß der Traumwunsch in die Lage
kommt, die Zensur zu überwältigen? Die Bedingung hierfür kann
ebensowohl von Seiten des Traumwunsches wie der Traumzensur
erfüllt werden. Der Wunsch mag aus unbekannten Gründen einmal
überstark werden; aber man gewinnt den Eindruck, daß häufiger das
Verhalten der Traumzensur die Schuld an dieser Verschiebung des
Kräfteverhältnisses trägt. Wir haben schon gehört, daß die Zensur
in jedem einzelnen Falle mit verschiedener Intensität arbeitet, jedes
Element mit einem anderen Grade von Strenge behandelt; jetzt
möchten wir die Annahme hinzufügen, daß sie überhaupt recht
varlabel ist und gegen (das nämliche anstößige Element nicht jedes-
mal die gleiche Strenge anwendet. Hat es sich so gefügt, daß sie sich
einmal ohnmächtig gegen einen Traumwunsch fühlt, der sie zu über-
rumpeln droht, so bedient sie sich anstatt der Entstellung des letzten
Mittels, das ihr bleibt, den Schlafzustand unter Angstentwicklung
aufzugeben.
Dabei fällt uns auf, daß wir ja überhaupt noch nicht wissen, war-
um diese bösen, verworfenen Wünsche sich gerade zur Nachtzeit
regen, um uns im Schlafe zu stören. Die Antwort kann kaum anders
224 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
als in einer Annahme bestehen, die auf die Natur des Schlafzustandes
zurückgreift. Bei Tage lastet der schwere Druck einer Zensur auf
diesen Wünschen, der es ihnen in der Regel unmöglich macht, sich
durch irgendeine Wirkung zu äußern. Zur Nachtzeit wird diese.Zen-
sur wahrscheinlich wie alle anderen Interessen des seelischen Lebens
zu Gunsten des einzigen Schlafwunsches eingezogen oder wenigstens
stark herabgesetzt. Diese Herabsetzung der Zensur zur Nachtzeit ist
es dann, der die verbotenen Wünsche es verdanken, daß sie sich wie-
derum regen dürfen. Es gibt schlaflose Nervöse, die uns gestehen,
daß ihre Schlaflosigkeit anfänglich eine gewollte war. Sie getrauten
sich nicht einzuschlafen, weil sie sich vor ihren Träumen, also vor
den Folgen dieser Verminderung der Zensur fürchteten. Daß diese
Einziehung der Zensur darum doch keine grobe Unvorsichtigkeit be-
deutet, sehen Sie wohl mit Leichtigkeit ein. Der Schlafzustand lähmt
unsere Motilität; unsere bösen Absichten können, wenn sie sich auch
zu rühren beginnen, doch nichts anderes machen als eben einen
Traum, der praktisch unschädlich ist, und an diesen beruhigenden
Sachverhalt mahnt die höchst vernünftige, zwar der Nacht, aber doch
nicht dem Traumleben angehörige Bemerkung des Schläfers: Es ist
ja nur ein Traum. Also lassen wir ihn gewähren und schlafen wir
weiter. |
Wenn Sie drittens sich an die Auffassung erinnern, daß der gegen
seine Wünsche sich sträubende Träumer gleichzusetzen ist einer
Summation von zwei gesonderten, aber irgendwie innig verbundenen
Personen, so werden Sie eine andere Möglichkeit begreiflich finden,
wie durch Wunscherfüllung etwas zustande kommen kann, was höchst
unlustig ist, nämlich eine Bestrafung. Hier kann uns wiederum das
Märchen von den drei Wünschen zur Erläuterung dienen: die Brat-
würstchen auf dem Teller sind die direkte Wunscherfüllung der ersten
Person, der Frau; die Würstchen an ihrer Nase sind die Wunscher-
füllung der zweiten Person, des Mannes, aber gleichzeitig auch die
Strafe für den törichten Wunsch der Frau. Bei den Neurosen werden
wir dann die Motivierung des dritten Wunsches, der im Märchen
XIV. Die Wunscherfüllung 225
allein noch übrig bleibt, wiederfinden. Solcher Straftendenzen gibt
es nun viele im Seelenleben des Menschen; sie sind sehr stark, und
man darf sie für einen Anteil der peinlichen Träume verantwortlich
machen. Vielleicht sagen Sie jetzt, auf diese Weise bleibt von der
gerühmten Wunscherfüllung nicht viel übrig. Aber bei näherem Zu-
sehen werden Sie zugeben, daß Sie unrecht haben. Entgegen der
später anzuführenden Mannigfaltigkeit dessen, was der Traum sein
könnte, — und nach manchen Autoren auch ist, — ist die Lösung
Wunscherfüllung — Angsterfüllung—Straferfüllung doch eine recht
eingeengte. Dazu kommt, daß die Angst der direkte Gegensatz des
Wunsches ist, daß Gegensätze einander in der Assoziation besonders
nahe stehen und im Unbewußten, wie wir gehört haben, zusammen-
fallen. Ferner, daß die Strafe auch eine Wunscherfüllung ist, die der
anderen, zensurierenden Person.
Im ganzen habe ich also Ihrem Einspruch gegen die "Theorie der
Wunscherfüllung keine Konzession gemacht. Wir sind aber ver-
pflichtet, an jedem beliebigen entstellten Traum die Wunscherfül-
lung nachzuweisen, und wollen uns dieser Aufgabe gewiß nicht ent-
ziehen. Greifen wir auf jenen bereits gedeuteten Traum von den
drei schlechten Theaterkarten für ı fl. 50 zurück, an dem wir schon
so manches gelernt haben. Ich hoffe, Sie erinnern sich noch an ıhn.
Eine Dame, der ihr Mann am Tage mitgeteilt, daß ihre nur um drei
Monate jüngere Freundin Elise sich verlobt hat, träumt, daß sie mit
ihrem Manne im Theater sitzt. Eine Seite des Parketts ist fast leer.
Ihr Mann sagt ihr, die Elise und ihr Bräutigam hätten auch ins
Theater gehen wollen, konnten aber nicht, da sie nur schlechte Kar-
ten bekamen, drei um einen Gulden fünfzig. Sie meint, es wäre auch
kein Unglück gewesen. Wir hatten erraten, daß sich die Traumge-
danken auf den Ärger, so früh geheiratet zu haben und auf die Un-
zufriedenheit mit ihrem Mann beziehen. Wir dürfen neugierig sein,
wie diese trüben Gedanken zu einer Wunscherfüllung umgearbeitet
worden sind, und wo sich deren Spur im manifesten Inhalt findet.
Nun wissen wir schon, daß das Element „zu früh, voreilig“ durch
Freud, VI. 15
226 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
die Zensur aus dem Traum eliminiert wurde. Das leere Parkett ist
eine Anspielung darauf. Das rätselhafte „z um einen Gulden fünf-
zig“ wird uns jetzt mit Hilfe der Symbolik, die wir seither gelernt
haben, besser verständlich.” Die 3 bedeutet wirklich einen Mann und
das manifeste Element ist leicht zu übersetzen: sich einen Mann für
die Mitgift kaufen. („Einen zehnmal besseren hätte ich mir für meine
Mitgift kaufen können.“) Das Heiraten ist offenbar ersetzt durch das
Ins-Theater-Gehen. Das „zu früh Theaterkarten besorgen“ steht ja
direkt an Stelle des zu früh Heiratens. Diese Ersetzung ist aber das
Werk der Wunscherfüllung. Unsere 'Träumerin war nicht immer so
unzufrieden mit ihrer frühen Heirat wie am Tage, da sie die Nach-
richt von der Verlobung ihrer Freundin erhielt. Sie war seinerzeit
stolz darauf und fand sich vor der Freundin bevorzugt. Naive Mäd-
chen sollen häufig nach ihrer Verlobung ihre Freude darüber ver-
raten haben, daß sie nun bald zu allen bisher verbotenen Stücken
ins Theater gehen, alles mitansehen dürfen. Das Stück Schaulust
oder Neugierde, das hier zum Vorschein kommt, war gewiß anfäng-
lich sexuelle Schaulust, dem Geschlechtsleben, besonders der Eltern,
zugewendet, und wurde dann zu einem starken Motiv, das die Mäd-
chen zum frühen Heiraten drängte. Auf solche Art wird der T'heater-
besuch zu einem naheliegenden Andeutungsersatz für das Verheiratet-
sein. In dem gegenwärtigen Ärger über ihre frühe Heirat greift sie
also auf jene Zeit zurück, in welcher ihr die frühe Heirat Wunsch-
erfüllung. war, weil sie ihre Schaulust befriedigte, und ersetzt von
dieser alten Wunschregung geleitet das Heiraten durch das Ins-
Theater-Gehen.
Wir können sagen, daß wir uns für den Nachweis einer versteck-
ten Wunscherfüllung nicht gerade das bequemste Beispiel herausge-
sucht haben. In analoger Weise müßten wir bei anderen entstellten
Jräumen verfahren. Ich kann das vor Ihnen nicht tun und will bloß
die Überzeugung aussprechen, daß es überall gelingen wird. Aber
ı) Eine andere naheliegende Deutung dieser 3 bei der espggniiggen Frau erwähne ich
nicht, weil diese Analyse kein Material hierfür brachte.
XIV. Die Wunscher füllung 227
ich will bei diesem Punkte der Theorie noch länger verweilen. Die
Erfahrung hat mich belehrt, daß er einer der gefährdetsten der ganzen
Traumlehre ist, und daß viele Widersprüche und Mißverständnisse
an ihn anknüpfen. Außerdem werden Sie vielleicht noch unter dem
Eindruck stehen, daß ich bereits ein Stück meiner Behauptung zu-
rückgenommen, indem ich äußerte, der Traum sei ein erfüllter
Wunsch oder das Gegenteil davon, eine verwirklichte Angst oder Be-
strafung, und werden meinen, es sei die Gelegenheit, mir weitere
Einschränkungen abzunötigen. Ich habe auch den Vorwurf gehört,
daß ich Dinge, die mir selbst evident scheinen, zu knapp und darum
nicht überzeugend genug darstelle.
Wenn jemand in der Traumdeutung so weit mit uns gegangen
ist und alles angenommen hat, was sie bisher gebracht, so macht er
nicht selten bei der Wunscherfüllung halt und fragt: Zugegeben, daß
der Traum jedesmal einen Sinn hat, und daß dieser Sinn durch die
psychoanalytische Technik aufgedeckt werden kann, warum muß
dieser Sinn aller Evidenz zum Trotze immer wieder in die Formel
der Wunscherfüllung gepreßt werden? Warum soll der Sinn dieses
nächtlichen Denkens nicht so mannigfaltig sein können wie der des
Denkens bei Tage, also der Traum das eine Mal einem erfüllten Wunsch
entsprechen, das andere Mal, wie Sie selbst sagen, dem Gegenteil davon,
einer verwirklichten Befürchtung, dann aber auch einen Vorsatz aus-
drücken können, eine Warnung, eine Überlegung mit ihrem Für und
Wider, oder einen Vorwurf, eine Gewissensmahnung, einen Versuch,
sich für eine bevorstehende Leistung vorzubereiten usw? Warum
gerade immer nur einen Wunsch oder höchstens noch sein Gegenteil?
Man könnte meinen, eine Differenz in diesem Punkte sei nicht
wichtig, wenn man sonst einig ist. Genug, daß wir den Sinn des
Traumes und die Wege, ihn zu erkennen, aufgefunden; es tritt da-
gegen zurück, wenn wir diesen Sinn zu enge bestimmt haben sollten;
aber es ist nicht so, Ein Mißverständnis in diesem Punkte trifft das
Wesen unserer Erkenntnis vom Traum und gefährdet dessen Wert
für das Verständnis der Neurose. Auch ist jene Art von Entgegen-
15*
228 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
kommen, die im kaufmännischen Leben als „Kulanz“ geschätzt wird,
im wissenschaftlichen Betrieb nicht an ihrem Platze und eher schädlich.
Meine erste Antwort auf die Frage, warum der Traum nicht im
angegebenen Sinn vieldeutig sein soll, lautet wie gewöhnlich in solchen
Fällen: Ich weiß nicht, warum es nicht so sein soll. Ich hätte nichts
dagegen. Meinetwegen sei es so. Nur eine Kleinigkeit widersetzt
sich dieser breiteren und bequemeren Auffassung des 'Traumes, daß
es nämlich in Wirklichkeit nicht so ist. Meine zweite Antwort wird
betonen, daß die Annahme, der Traum entspreche mannigfaltigen
Denkformen und intellektuellen Operationen, mir selbst nicht fremd
ist. Ich habe einmal in einer Krankengeschichte einen "Traum be-
richtet, der drei Nächte hintereinander auftrat und dann nicht mehr,
und habe dies Verhalten damit erklärt, daß der Traum einem Vor-
satz entsprach, der nicht wiederzukehren brauchte, nachdem er aus-
geführt worden war. Später habe ich einen 'Traum veröffentlicht, der
einem Geständnis entsprach. Wie kann ich also doch widersprechen
und behaupten, daß der Traum immer nur ein erfüllter Wunsch sei?
Ich tue das, weil ich ein einfältiges Mißverständnis nicht zulassen
will, welches uns die Frucht unserer Bemühung um den Traum
kosten kann, ein Mißverständnis, das den Traum mit den latenten
Traumgedanken verwechselt und von ihm etwas aussagt, was einzig
und allein zu den letzteren gehört. Es ist nämlich ganz richtig, daß
der Traum all das vertreten und durch das ersetzt werden kann, was
wir vorhin aufgezählt haben: einen Vorsatz, eine Warnung, Über-
legung, Vorbereitung, einen Lösungsversuch einer Aufgabe usw. Aber
wenn Sie richtig zusehen, erkennen Sie, daß dies alles nur von den
latenten Traumgedanken gilt, die in den Traum umgewandelt worden
‚sind. Sie erfahren aus den Deutungen der Träume, daß das unbewußte
Denken der Menschen sich mit solchen Vorsätzen, Vorbereitungen,
Überlegungen usw. beschäftigt, aus denen dann die Traumarbeit die
Träume macht. Wenn Sie sich für die Traumarbeit derzeit nicht
interessieren, für die unbewußte Denkarbeit des Menschen aber sehr
interessieren, dann eliminieren Sie die Traumarbeit und sagen von
XIV. Die Wunscher füllung 229
dem Traum praktisch ganz richtig aus, er entspreche einer Warnung,
einem Vorsatz u. dgl. In der psychoanalytischen Tätigkeit trifft dieser
Fall oft zu: Man strebt meist nur danach, die Traumform wieder zu
zerstören und die latenten Gedanken, aus denen der Traum geworden
ist, an seiner statt in den Zusammenhang einzufügen.
So ganz nebenbei erfahren wir also aus der Würdigung der latenten
Traumgedanken, daß alle die genannten, hoch komplizierten seelischen
Akte unbewußt vor sich gehen können, ein ebenso großartiges wie
verwirrendes Resultat!
Aber um zurückzukehren, Sie haben nur recht, wenn Sie sich klar-
machen, daß Sie sich einer abgekürzten Redeweise bedient haben,
und wenn Sie nicht glauben, daß Sie jene angeführte Mannigfaltig-
keit auf das Wesen des Traumes beziehen müssen. Wenn Sie vom
„Traum“ sprechen, so müssen Sie entweder den manifesten Traum.
meinen, d.i. das Produkt der Traumarbeit, oder höchstens noch die
Traumarbeit selbst, d.i. jenen psychischen Vorgang, der ausdenlatenten
Traumgedanken den manifesten Traum formt. Jede andere Ver-
wendung des Wortes ist Begriffsverwirrung, die nur Unheil stiften
kann. Zielen Sie mit Ihren Behauptungen auf die latenten Gedanken
hinter dem Traum, so sagen Sie es direkt und verhüllen Sie nicht
das Problem des Traumes durch die lockere Ausdrucksweise, deren
Sie sich bedienen. Die latenten Traumgedanken sind der Stoff, den
die Traumarbeit zum manifesten Traum umbildet. Warum wollen
Sie durchaus den Stoff mit der Arbeit verwechseln, die ihn formt?
Haben Sie dann etwas vor jenen voraus, die nur das Produkt der
Arbeit kannten und sich nicht erklären konnten, woher es stammt
und wie es gemacht wird?
Das einzig Wesentliche am Traum ist die Traumarbeit, die auf
den Gedankenstoff eingewirkt hat. Wir haben kein Recht, uns in der
Theorie über sie hinwegzusetzen, wenn wir sie auch in gewissen
praktischen Situationen vernachlässigen dürfen. Die analytische Be-
obachtung zeigt denn auch, daß die Traumarbeit sich nie darauf
beschränkt, diese Gedanken in die Ihnen bekannte archaische oder
230 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
regressive Ausdrucksweise zu übersetzen. Sondern sie nimmt regel-
mäßig etwas hinzu, was nicht zu den latenten Gedanken des Tages
gehört, was aber der eigentliche Motor der Traumbildung ist. Diese
unentbehrliche Zutat ist der gleichfalls unbewußte Wunsch, zu dessen
Erfüllung der Trauminhalt umgebildet wird. Der Traum mag also
alles mögliche sein, insoweit Sie nur die durch ihn vertretenen
Gedanken berücksichtigen, Warnung, Vorsatz, Vorbereitung usw.;
er ist immer auch die Erfüllung eines unbewußten Wunsches, und
er ist nur dies, wenn Sie ihn als Ergebnis der Traumarbeit betrachten.
Ein Traum ist also auch nie ein Vorsatz, eine Warnung schlechtweg,
sondern stets ein Vorsatz u. dgl., mit Hilfe eines unbewußten Wunsches
in die archaische Ausdrucksweise übersetzt und zur Erfüllung dieser
Wünsche umgestaltet. Der eine Charakter, die Wunscherfüllung, ist
‘der konstante; der andere mag variieren; er kann seinerseits auch ein
Wunsch sein, so daß der Traum einen latenten Wunsch vom Tage
mit Hilfe eines unbewußten Wunsches als erfüllt darstellt.
Ich verstehe das alles sehr gut, aber ich weiß nicht, ob es mir
gelungen ist, es auch für Sie verständlich zu machen. Auch habe ich
Schwierigkeiten, es Ihnen zu beweisen. Das geht einerseits nicht ohne
die sorgfältige Analyse vieler Träume, und anderseits ist dieser heikelste
und bedeutsamste Punkt unserer Auffassung des Traumes nicht ohne
Beziehung auf Späteres überzeugend darzustellen. Können Sie es über-
haupt glauben, daß man bei dem innigen Zusammenhang aller Dinge
sehr tief in die Natur des einen eindringen kann, ohne sich um andere
Dinge von ähnlicher Natur bekümmert zu haben? Da wir von den
nächsten Verwandten des Traumes, von den neurotischen Symptomen,
noch nichts wissen, müssen wir uns auch hier bei dem Erreichten
bescheiden. Ich will nur noch ein Beispiel vor Ihnen erläutern und
eine neue Betrachtung anstellen. '
Nehmen wir wieder jenen Traum vor, zu dem wir schon mehr-
mals zurückgekehrt sind, den Traum von den 3 Theaterkarten für
ı 1.50. Ich kann Ihnen versichern, daß ich ihn zuerst absichtslos
als Beispiel aufgegriffen habe. Die latenten Traumgedanken kennen
XIV. Die Wunscherfüllung 231
Sie. Ärger, daß sie sich mit dem Heiraten so beeilt hatte bei der
Nachricht, daß ihre Freundin sich erst jetzt verlobt hat; Gering-
schätzung ihres Mannes, die Idee, daß sie einen besseren bekommen,
wenn sie nur gewartet hätte. Den Wunsch, der aus diesen Gedanken
einen Traum gemacht hat, kennen wir auch bereits, es ist die Schau-
lust, ins Theater gehen zu können, sehr wahrscheinlich eine Ab-
zweigung der alten Neugierde, endlich einmal zu erfahren, was denn
vorgeht, wenn man verheiratet ist. Diese Neugierde richtet sich bei
Kindern bekanntlich regelmäßig auf das Sexualleben der Eltern, ist
also eine infantile, und soweit sie später noch vorhanden ist, eine mit
ihren Wurzeln ins Infantile reichende Triebregung. Aber zur Er-
weckung dieser Schaulust gab die Nachricht vom Tage keinen An-
laß, bloß zum Ärger und zur Reue. Zu den latenten Traumgedanken
gehörte diese Wunschregung zunächst nicht, und wir konnten das
Ergebnis der Traumdeutung in die Analyse einreihen, ohne auf sie
Rücksicht zu nehmen. Der Ärger war auch an sich nicht traumfähig;
ein Traum konnte aus den Gedanken: Es war ein Unsinn, so früh
zu heiraten, nicht eher werden, als bis von ihnen aus der alte Wunsch,
endlich einmal zu sehen, was beim Heiraten vorgeht, erweckt worden
war. Dann formte dieser Wunsch den Trauminhalt, indem er das
Heiraten durch Ins-Theater-Gehen ersetzte, und gab ihm die Form
einer früheren Wunscherfüllung: So, ich darf ins Theater gehen und
alles Verbotene ansehen und du darfst es nicht; ich bin verheiratet
und du mußt warten. Auf solche Weise wurde die gegenwärtige
_ Situation in ihr Gegenteil verwandelt, ein alter Triumph an die Stelle
der rezenten Niederlage gesetzt. Nebenbei eine Schaulustbefriedigung
mit einer egoistischen Konkurrenzbefriedigung verquickt. Diese Be:
friedigung bestimmt nun den manifesten Trauminhalt, in dem es
wirklich heißt, daß sie im Theater sitzt, während die Freundin nicht
Einlaß finden konnte. Alsunpassende und unverständliche Modifikation
sind dieser Befriedigungssituation jene Stücke des Trauminhalts: auf-
gesetzt, hinter welchen sich die latenten Traumgedanken noch ver-
bergen. Die Traumdeutung hat von allem abzusehen, was zur Dar-
232 p; orlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
stellung der Wunscherfüllung dient, und aus jenen Andeutungen die
peinlichen latenten Traumgedanken wiederherzustellen.
Die eine Betrachtung, die ich vorbringen will, soll Ihre Aufmerk-
samkeit auf die jetzt in den Vordergrund gerückten latenten Traum-
gedanken einstellen. Ich bitte Sie, nicht zu vergessen, daß sie erstens
dem Träumer unbewußt, zweitens vollkommen verständig und zu-
sammenhängend sind, so daß sie sich als begreifliche Reaktionen auf
den Traumanlaß verstehen lassen, drittens, daß sie den Wert einer
beliebigen seelischen Regung oder intellektuellen Operation haben
können. Ich werde diese Gedanken jetzt strenger als vorhin „Tages-
reste“ heißen, der Träumer mag sich zu ihnen bekennen oder nicht.
Ich sondere jetzt Tagesreste und latente Traumgedanken, indem ich
im Einklang mit unserem früheren Gebrauch als latente Traumge-
danken alles bezeichne, was wir bei der Deutung des Traumes er-
fahren, während die Tagesreste nur ein Teil der latenten Traumge-
danken sind. Dann geht unsere Auffassung eben dahin, zu den Tages-
resten ist etwas hinzugekommen, etwas, was auch dem Unbewußten
angehörte, eine starke, aber verdrängte Wunschregung, und diese
allein ist es, die die Traumbildung ermöglicht hat. Die Einwirkung
dieser Wunschregung auf die Tagesreste schafft den weiteren Anteil
der latenten Traumgedanken, jenen, der nicht mehr rationell und
aus dem Wachleben begreiflich erscheinen muß.
Für das Verhältnis der Tagesreste zu dem unbewußten Wunsch
habe ich mich eines Vergleiches bedient, den ich hier nur wieder-
holen kann. Bei jeder Unternehmung bedarf es eines Kapitalisten, der
den Aufwand bestreitet, und eines Unternehmers, der die Idee hat
und sie auszuführen versteht. Die Rolle des Kapitalisten spielt für die
Traumbildung immer nur der unbewußte Wunsch; er gibt die psy-
chische Energie für die Traumbildung ab; der Unternehmer ist der
Tagesrest, der über die Verwendung dieses Aufwandes entscheidet.
Nun kann der Kapitalist selbst die Idee und die Sachkenntnis haben
oder der Unternehmer selbst Kapital besitzen. Das vereinfacht die
praktische Situation, erschwert aber ihr theoretisches Verständnis. In
XIV. Die Wunscherfüllung 233
der Volkswirtschaft wird man immer wieder die eine Person in ihre
beiden Aspekte als Kapitalist und als Unternehmer zerlegen und so-
mit die Grundsituation, von der unser Vergleich ausgegangen ist,
wiederherstellen. Bei der Traumbildung kommen dieselben Varia-
tionen vor, deren weitere Verfolgung ich Ihnen überlasse.
Weiter können wir hier nicht gehen, denn Sie sind wahrschein-
lich schon längst durch ein Bedenken gestört worden, das angehört
zu werden verdient. Sind die Tagesreste, fragen Sie, wirklich in dem-
selben Sinne unbewußt wie der unbewußte Wunsch, der hinzu-
kommen muß, um sie traumfähig zu machen? Sie ahnen richtig.
Hier liegt der springende Punkt der ganzen Sache. Sie sind nicht un-
bewußt in demselben Sinne. Der Traumwunsch gehört einem anderen
Unbewußten an, jenem, das wir als infantiler Herkunft, mit beson-
deren Mechanismen ausgestattet, erkannt haben. Es wäre durchaus
angebracht, diese beiden Weisen des Unbewußten durch verschiedene
Bezeichnungen voneinander zu sondern. Aber wir wollen doch lieber
damit warten, bis wir uns mit dem Erscheinungsgebiet der Neurosen
vertraut gemacht haben. Hält man uns doch das eine Unbewußte als
phantastisch vor; was wird man erst sagen, wenn wir bekennen, daß
wir erst bei zweierlei Unbewußtem unser Auslangen finden’?
Brechen wir hier ab. Sie haben wiederum nur Unvollständiges ge-
hört; aber ist es nicht hoffnungsvoll zu denken, daß dieses Wissen
eine Fortsetzung hat, die entweder wir selbst oder andere nach uns
zutage fördern werden? Und haben wir selbst nicht Neues und
Überraschendes genug erfahren?
XV. VORLESUNG
UNSICHERHEITEN UND KRITIKEN
Meine Damen und Herren! Wir wollen das Gebiet des Traumes
doch nicht verlassen, ohne die gewöhnlichsten Zweifel und Unsicher-
heiten zu behandeln, die sich an unsere bisherigen Neuheiten und
Auffassungen geknüpft haben. Einiges Material hierzu werden auf-
merksame Hörer unter Ihnen bei sich selbst zusammengetragen haben.
1. Es mag ihr Eindruck geworden sein, daß die Resultate unserer
Deutungsarbeit am 'Traume trotz korrekter Einhaltung der Technik
so viel Unbestimmtheiten zulassen, daß dadurch eine sichere Über-
setzung des manifesten Traumes in die latenten Traumgedanken doch
vereitelt wird. Sie werden dafür anführen, daß man erstens nie weiß,
ob ein bestimmtes Element des 'Traumes im eigentlichen Sinne oder
symbolisch zu verstehen ist, denn die als Symbole verwendeten Dinge
hören darum doch nicht auf, sie selbst zu sein. Hat man aber keinen
objektiven Anhalt, um dies zu entscheiden, so bleibt die Deutung in
diesem Punkte der Willkür des Traumdeuters überlassen. Ferner ist
es infolge des Zusammenfallens von Gegensätzen bei der Traumarbeit
jederzeit unbestimmt gelassen, ob ein gewisses Traumelement im
positiven oder im negativen Sinne, als es selbst oder als sein Gegen-
teil verstanden werden soll. Eine neue Gelegenheit zur Betätigung
der Willkür des Deutenden. Drittens steht es dem Traumdeuter in-
folge der im Traume so beliebten Umkehrungen jeder Art frei, an
XV. Unsicherheiten und Kritiken 235
ihm beliebigen Stellen des 'Traumes eine solche Umkehrung vorzu-
nehmen. Endlich werden Sie sich darauf berufen, gehört zu haben,
daß man selten sicher ist, die gefundene Deutung des 'Traumes sei
die einzig mögliche. Man läuft Gefahr, eine durchaus zulässige Über-
deutung desselben Traumes zu übersehen. Unter diesen Umständen,
werden Sie schließen, bleibt der Willkür des Deuters ein Spielraum
eingeräumt, dessen Weite mit der objektiven Sicherheit der Resul-
tate unverträglich scheint. Oder sie können auch annehmen, der
Fehler liege nicht am 'Traume, sondern die Unzulänglichkeiten un-
serer Traumdeutung ließen sich auf Unrichtigkeiten unserer Auf-
fassungen und Voraussetzungen zurückführen.
All Ihr Material ist untadelig gut, aber ich glaube, es rechtfertigt
nicht Ihre Schlüsse nach den beiden Richtungen, daß die Traum-
deutung, wie wir \sie betreiben, der Willkür preisgegeben ist, und
dal3 die Mängel der Ergebnisse die Berechtigung unseres Verfahrens
in Frage stellen. Wenn Sie anstatt der Willkür des Deuters einsetzen
wollen: der Geschicklichkeit, der Erfahrung, dem Verständnis des-
selben, so pflichte ich Ihnen bei. Ein solches persönliches Moment
werden wir freilich nicht entbehren können, zumal nicht bei schwie-
rigeren Aufgaben der Traumdeutung. Das ist aber bei anderen wissen-
schaftlichen Betrieben auch nicht anders. Es gibt kein Mittel, um
hintanzuhalten, daß der eine eine gewisse Technik nicht schlechter
handhabe oder nicht besser ausnütze als ein anderer. Was sonst, z.B.
bei der Deutung der Symbole, als Willkür imponiert, das wird da-
durch beseitigt, daß in der Regel der Zusammenhang der Traumge-
danken untereinander, der des Traumes mit dem Leben des Träumers
und die ganze psychische Situation, in welche der Traum fällt, von
‚den gegebenen Deutungsmöglichkeiten die eine auswählt, die anderen
als unbrauchbar zurückweist. Der Schluß aus den Unvollkommen-
heiten der Traumdeutung auf die Unrichtigkeit unserer Aufstellungen
wird aber durch eine Bemerkung entkräftet, welche die Mehrdeutig-
keit oder Unbestimmtheit des Traumes vielmehr als eine notwendig
zu erwartende Eigenschaft desselben erweist. |
236 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Erinnern wir uns daran, daß wir gesagt haben, die Traumarbeit
nehme eine Übersetzung der Traumgedanken in eine primitive, der
Bilderschrift analoge Ausdrucksweise vor. Alle diese primitiven Aus-
druckssysteme sind aber mit solchen Unbestimmtheiten und Zwei-
deutigkeiten behaftet, ohne daß wir darum ein Recht hätten, deren
Gebrauchsfähigkeit anzuzweifeln. Sie wissen, das Zusammenfallen der
Gegensätze bei der Traumarbeit ist analog dem sogenannten „Gegen-
sinn der Urworte“ in den ältesten Sprachen. Der Sprachforscher
K. Abel (1884), dem wir diesen Gesichtspunkt verdanken, ersucht
uns, ja nicht zu glauben, daß die Mitteilung, welche eine Person der
anderen mit Hilfe so ambivalenter Worte machte, darum eine zwei-
deutige gewesen sei. Ton und Geste müssen es vielmehr im Zu-
sammenhang der Rede ganz unzweifelhaft gemacht haben, welchen
der beiden Gegensätze der Sprecher zur Mitteilung im Sinne hatte.
In der Schrift, wo die Geste entfällt, wurde sie durch ein hinzu-
gesetztes, zur Aussprache nicht bestimmtes Bildzeichen ersetzt, z.B.
durch das Bild eines lässig hockenden oder eines stramm dastehenden
Männchens, je nachdem das zweideutige ken der Hieroglyphenschrift
„schwach“ oder „stark“ bedeuten sollte. So wurde trotz der Mehrdeu-
tigkeit der Laute und der Zeichen das Mißverständnis vermieden.
Die alten Ausdruckssysteme, z. B. die Schriften jener ältesten
Sprachen, lassen uns eine Anzahl von Unbestimmtheiten erkennen, die
wir in unserer heutigen Schrift nicht dulden würden. So werden in
manchen semitischen Schriften nur die Konsonanten der Worte be-
zeichnet. Die weggelassenen Vokale hat der Leser nach seiner Kenntnis
und nach dem Zusammenhange einzusetzen. Nicht ganz so, aber recht
ähnlich verfährt die Hieroglyphenschrift, weshalb uns die Aussprache
des Altägyptischen unbekannt geblieben ist. Die heilige Schrift der
Ägypter kennt noch andre Unbestimmtheiten. So ist es z.B. der Will-
kür des Schreibers überlassen, ob er die Bilder von rechts nach links
oder von links nach rechts aneinanderreihen will. Um lesen zu können,
muß man sich an die Vorschrift halten, daß man auf die Gesichter
der Figuren, Vögel u. dgl. hin zu lesen hat. Der Schreiber konnte
XV. Unsicherheiten und Kritiken 237
aber auch die Bilderzeichen in Vertikalreihen anordnen, und bei In-
schriften an kleineren Objekten ließ er sich durch Rücksichten der
Gefälligkeit und der Raumausfüllung bestimmen, die Folge der Zeichen
noch anders abzuändern. Das Störendste an der Hieroglyphenschrift
ist wohl, daß sie eine Worttrennung nicht kennt. Die Bilder laufen
in gleichen Abständen voneinander über die Seite, und man kann
im allgemeinen nicht wissen, ob ein Zeichen noch zum vorstehenden
gehört oder den Anfang eines neuen Wortes macht. In der persischen
Keilschrift dient dagegen ein schräger Keil als „Wortteiler“.
Fine überaus alte, aber heute noch von 400 Millionen gebrauchte
Sprache und Schrift ist die chinesische. Nehmen Sie nicht an, daß ich
etwas von ihr verstehe; ich habe mich nur über sie instruiert, weil
ich Analogien zu den Unbestimmtheiten des Traumes zu finden hoffte.
Meine Erwartung ist auch nicht getäuscht worden. Die chinesische
Sprache ist voll von solchen Unbestimmtheiten, die uns Schrecken
einjagen können. Sie besteht bekanntlich aus einer Anzahl von Sil-
benlauten, die für sich allein oder zu zweien kombiniert gesprochen
werden. Einer der Hauptdialekte hat etwa 4.00 solcher Laute. Da nun
der Wortschatz dieses Dialekts auf etwa 4000 Worte berechnet wird,
ergibt sich, daß jeder Laut im Durchschnitt zehn verschiedene Be-
deutungen hat, einige davon weniger, aber andere dafür um so mehr.
Fs gibt dann eine ganze Anzahl von Mitteln, um der Vieldeutigkeit
zu entgehen, da man nicht aus dem Zusammenhang allein erraten
kann, welche der zehn Bedeutungen des Silbenlautes der Sprecher
beim Hörer zu erwecken beabsichtigt. Darunter ist die Verbindung
zweier Laute zu einem zusammengesetzten Wort und die Verwen-
dung von vier verschiedenen „Tönen“, mit denen diese Silben ge-
sprochen werden. Für unsere Vergleichung ist der Umstand noch
interessanter, daß es in dieser Sprache so gut wie keine Grammatik
gibt. Man kann von keinem der einsilbigen Worte sagen, ob es Haupt-,
Zeit-, Eigenschaftswort ist, und es fehlen alle Abänderungen der Worte,
durch welche man Geschlecht, Zahl, Endung, Zeit oder Modus er-
kennen könnte. Die Sprache besteht also sozusagen nur aus dem Roh-
238 V orlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
material, ähnlich wie unsere Denksprache durch die 'Traumarbeit in
ihr Rohmaterial unter Hinweglassung des Ausdrucks der Relationen
aufgelöst wird. Im Chinesischen wird in allen Fällen von Unbestimmt-
heit die Entscheidung dem Verständnis des Hörers überlassen, der sich
dabei vom Zusammenhange leiten läßt. Ich habe mir ein Beispiel eines
chinesischen Sprichwortes notiert, das wörtlich übersetzt lautet:
Wenig was sehen viel was wunderbar.
Das ist nicht schwer zu verstehen. Es mag heißen: Je weniger einer
gesehen hat, desto mehr findet er zu bewundern, oder: Vieles gibt's
zu bewundern für den, der wenig gesehen hat. Eine Entscheidung
zwischen diesen nur grammatikalisch verschiedenen Übersetzungen
kommt natürlich nicht in Betracht. Trotz dieser Unbestimmtheiten,
wird uns versichert, ist die chinesische Sprache ein ganz ausgezeich-
netes Mittel des Gedankenausdrucks. Die Unbestimmtheit muß also
nicht notwendig zur Vieldeutigkeit führen. |
Nun müssen wir freilich zugestehen, daß die Sachlage für das Aus-
druckssystem des Traumes weit ungünstiger liegt als für alle diese
alten Sprachen und Schriften. Denn diese sind doch im Grunde zur
Mitteilung bestimmt, d. h. darauf berechnet, auf welchen Wegen und
mit welchen Hilfsmitteln immer verstanden zu werden. Gerade dieser
Charakter geht aber dem 'Traume ab. Der Traum will niemandem et-
was sagen, er ist kein Vehikel der Mitteilung, er ist im Gegenteile
darauf angelegt, unverstanden zu bleiben. Darum dürften wir uns
nicht verwundern und nicht irre werden, wenn sich herausstellen
sollte, daß eine Anzahl von Vieldeutigkeiten und Unbestimmtheiten
des Traumes der Entscheidung entzogen bleibt. Als sicherer Gewinn
unserer Vergleichung bleibt uns nur die Einsicht, daß solche Unbe-
stimmtheiten, wie man sie als Einwand gegen die Triftigkeit unserer
Traumdeutungen verwerten wollte, vielmehr regelmäßige Charak-
tere aller primitiven Ausdruckssysteme sind.
Wie weit die Verständlichkeit des Traumes in Wirklichkeit reicht,
läßt sich nur durch Übung und Erfahrung feststellen. Ich meine, sehr
weit, und die Vergleichung der Resultate, welche sich korrekt ge-
XV. Unsicherheiten und Kritiken 239
schulten Analytikern ergeben, bestätigt meine Ansicht. Das Laien-
publikum, auch das wissenschaftliche Laienpublikum, gefällt sich be-
kanntlich darin, angesichts der Schwierigkeiten und Unsicherheiten
einer wissenschaftlichen Leistung mit überlegener Skepsis zu prunken.
Ich meine, mit Unrecht. Es ist Ihnen vielleicht nicht allen bekannt,
daß sich eine ähnliche Situation in der Geschichte der Entzifferung
der babylonisch-assyrischen Inschriften ergeben hat. Da gab es eine
Zeit, zu welcher die öffentliche Meinung weit darin ging, die Keil-
schriftentzifferer für Phantasten und diese ganze Forschung für einen
„Schwindel“ zu erklären. Im Jahre 1857 machte aber die Royal Asiatic
Society eine entscheidende Probe. Sie forderte vier der angesehensten
Keilschriftforscher, Rawlinson, Hincks, Fox Talbot und Op-
pert, auf, ihr von einer neugefundenen Inschrift unabhängige Über-
setzungen im versiegelten Kuvert einzusenden, und konnte nach der
Vergleichung der vier Lesungen verkünden, die Übereinstimmung
derselben gehe weit genug, um das Zutrauen in das bisher Erreichte
und die Zuversicht auf weitere Fortschritte zu rechtfertigen. Der Spott
der gelehrten Laienwelt nahm dann allmählich ein Ende, und die
Sicherheit in der Lesung der Keilschriftdokumente ist seither .außer-
ordentlich gewachsen.
2. Eine zweite Reihe von Bedenken hängt tief an dem Eindruck,
von dem wohl auch Sie nicht frei geblieben sind, daß eine Anzahl
von Lösungen der Traumdeutung, zu denen wir uns genötigt sehen,
gezwungen, erkünstelt, an den Haaren herbeigezogen, also gewaltsam
oder selbst komisch und witzelnd erscheinen. Diese Äußerungen sind
so häufig, daß ich aufs Geratewohl die letzte, von der mir Kunde ge-
worden ist, herausgreifen will. Hören Sie also: In der freien Schweiz
ist kürzlich ein Seminardirektor wegen Beschäftigung mit der Psycho-
analyse seiner Stellung enthoben worden. Er hat Einspruch erhoben,
und eine Berner Zeitung hat das Gutachten der Schulbehörde über
ihn zur öffentlichen Kenntnis gebracht. Aus diesem Schriftstück ziehe
ich einige Sätze, die sich auf die Psychoanalyse beziehen, aus: „Ferner
überrascht das Gesuchte und Gekünstelte in vielen Beispielen, die sich
240 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
auch in dem angeführten Buche von Dr. Pfister in Zürich vorfinden .....
Es müßte also eigentlich überraschen, daß ein Seminardirektor alle
diese Behauptungen und Scheinbeweise kritiklos entgegennimmt.“
Diese Sätze werden als die Entscheidung eines „ruhig Urteilenden“
hingestellt. Ich meine vielmehr, diese Ruhe ist „erkünstelt“. Treten
wir diesen Äußerungen in der Erwartung näher, daß etwas Nach-
denken und etwas Sachkenntnis auch einem ruhigen Urteil keinen
Nachteil bringen kann.
Es ist wahrhaft erfrischend zu sehen, wie rasch und unbeirrt je-
mand in einer heiklen Frage der Tiefenpsychologie nach seinen ersten
Eindrücken urteilen kann. Die Deutungen erscheinen ihm gesucht
und gezwungen, sie gefallen ihm nicht, also sind sie falsch und die
ganze Deuterei taugt nichts; nicht einmal ein flüchtiger Gedanke
streift an die andere Möglichkeit, daß diese Deutungen aus guten
Gründen so erscheinen müssen, woran sich die weitere Frage knüpfen
würde, welches diese guten Gründe sind.
Der beurteilte Sachverhalt bezieht sich wesentlich auf die Ergeb-
nisse der Verschiebung, die Sie als das stärkste Mittel der Traumzen-
sur kennengelernt haben. Mit Hilfe der Verschiebung schafft die
Traumzensur Ersatzbildungen, die wir als Anspielungen bezeichnet
haben. Es sind aber Anspielungen, die als solche nicht leicht zu er-
kennen sind, von denen der Rückweg zum Eigentlichen nicht leicht
auffindbar ist, und die. mit diesem Eigentlichen durch die sonderbarsten,
ungebräuchlichsten, äußerlichen Assoziationen in Verbindung stehen.
In all diesen Fällen handelt es sich aber um Dinge, die versteckt
werden sollen, die zur Verheimlichung bestimmt sind; dies will ja
die Traumzensur erreichen. Etwas, das versteckt worden ist, darf man
aber nicht an seinem Orte, an der ihm zukommenden Stelle, zu finden
erwarten. Die heute amtierenden Grenzüberwachungskommissionen
sind in dieser Hinsicht schlauer als die Schweizer Schulbehörde. Sie
begnügen sich bei der Suche nach Dokumenten und Aufzeichnungen
nicht damit, in Mappen und Brieftaschen nachzusehen, sondern sie
ziehen die Möglichkeit in Betracht, daß die Spione und Schmuggler
XV. Unsicherheiten und Kritiken 241
solche verpönte Dinge an den verborgensten Stellen ihrer Kleidung
tragen könnten, wo sie entschieden nicht hingehören, wie z. B. zwi-
schen den doppelten Sohlen ihrer Stiefel. Finden sich die verheim-
lichten Dinge dort, so waren sie allerdings sehr gesucht, aber auch
sehr — gefunden.
Wenn wir die entlegensten, sonderbarsten, bald komisch, bald
witzig erscheinenden Verknüpfungen zwischen einem latenten Traum-
element und seinem manifesten Ersatz als möglich anerkennen, so
folgen wir dabei reichlichen Erfahrungen an Beispielen, deren Auf-
lösung, wir in der Regel nicht selbst gefunden haben. Es ist oft nicht
möglich, solche Deutungen aus Eigenem zu geben; kein sinniger
"Mensch könnte die vorliegende Verknüpfung erraten. Der Träumer
gibt uns die Übersetzung entweder mit einem Schlage durch seinen
direkten Einfall — er kann es ja, denn bei ihm hat sich diese Ersatz-
bildung hergestellt, — oder er liefert uns so viel Material, daß die
Lösung keinen besonderen Scharfsinn mehr fordert, sondern sich wie
notwendig aufdrängt. Hilft uns der’Träumer nicht auf eine dieser beiden
Weisen, so bleibt uns das betreffende manifeste Element auch ewig un-
verständlich. Gestatten Sie, daß ich Ihnen noch ein solches kürzlich er-
lebtes Beispiel nachtrage. Eine meiner Patientinnen hat während der
Behandlung ihren Vater verloren. Sie bedient sich seitdem jedes An-
lasses, um ihn im Traume wieder zu beleben. In einem ihrer Träume
kommt der Vaterin einem gewissen, weiter nicht verwertbaren Zusam-
menhange vor und sagt: Es ist ein Viertel zwölf,es ist halb zwölf,
es ist drei Viertel zwölf. Zur Deutung dieser Sonderbarkeit stellte
sich nur der Einfall ein, daß der Vater es gerne gesehen hatte, wenn
die erwachsenen Kinder die gemeinschaftliche Speisestunde pünktlich
einhielten. Das hing gewiß mit dem Traumelement zusammen, ge-
stattete aber keinen Schluß auf dessen Herkunft. Es bestand ein durch
die damalige Situation der Kur gerechtfertigter Verdacht, daß eine
sorgfältig unterdrückte, kritische Auflehnung gegen den geliebten
und verehrten Vater ihren Anteil an diesem Traum hätte. In weiterer
Verfolgung ihrer Einfälle, anscheinend weit vom Traum entfernt,
Freud, VII. 16
242 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
erzählt die Träumerin, gestern sei in ihrer Gegenwart viel Psycho-
logisches besprochen worden, und ein Verwandter habe die Äußerung
getan: Der Urmensch lebt in uns allen fort. Jetzt glauben wir zu
verstehen. Das gab eine ausgezeichnete Gelegenheit für sie, den ver-
storbenen Vater wieder einmal fortleben zu lassen. Sie machte ihn
also im Traum zum Uhr menschen, indem sie ihn die Viertelstunden
der Mittagszeit ansagen ließ.
Sie werden an diesem Beispiel die Ähnlichkeit mit einem Witz
nicht von sich weisen können, und es ist wirklich oft genug vorge-
kommen, daß man den Witz des 'Träumers für den des Deuters ge-
halten hat. Es gibt noch andere Beispiele, in denen es gar nicht leicht
wird zu entscheiden, ob man es mit einem Witz oder einem Traum
zu tun hat. Sie erinnern sich aber, daß uns der nämliche Zweifel bei
manchen Fehlleistungen des Versprechens gekommen ist. Ein Mann
erzählt als seinen Traum, sein Onkel habe ihm, während sie in dessen
Auto (mobil) saßen, einen Kuß gegeben. Er fügt selbst sehr rasch
die Deutung hinzu. Es bedeutet: Autoerotismus (ein Terminus
aus der Libidolehre, der die Befriedigung ohne fremdes Objekt be-
zeichnet). Hat sich nun der Mann einen Scherz mit uns erlaubt und
einen Witz, der ihm eingefallen ist, für einen Traum ausgegeben?
Ich glaube es nicht; er hat wirklich so geträumt. Woher kommt aber
diese verblüffende Ähnlichkeit? Diese Frage hat mich seinerzeit ein
Stück von meinem Wege abgeführt, indem sie mir die Notwendig-
keit auferlegte, den Witz selbst einer eingehenden Untersuchung zu
unterziehen. Es hat sich dabei für die Entstehung des Witzes ergeben,
daß ein vorbewußter Gedankengang für einen Moment der unbe-
wußten Bearbeitung überlassen wird, aus welcher er dann als Witz
auftaucht. Unter dem Einfluß des Unbewußten ertährt er die Ein-
wirkung der dort waltenden Mechanismen, der Verdichtung und der
Verschiebung, also derselben Vorgänge, die wir bei der Traumarbeit
beteiligt fanden, und dieser Gemeinsamkeit ist die Ähnlichkeit von
Witz und Traum, wo sie zustande kommt, zuzuschreiben. Vom Lust-
gewinn des Witzes bringt der unbeabsichtigte „Traumwitz“ aber
XV. Unsicherheiten und Kritiken 243
nichts mit. Warum, mag Sie die Vertiefung in das Studium des Witzes
lehren. Der „Traumwitz“ erscheint uns als schlechter Witz, er macht
uns nicht lachen, läßt uns kalt.
Wir treten dabei aber auch in die Fußstapfen der antiken 'Traum-
deutung, die uns neben vielem Unbrauchbaren manches gute Beispiel
einer Traumdeutung hinterlassen hat, welches wir selbst nicht zu
übertreffen wüßten. Ich erzähle Ihnen nun einen historisch bedeut-
samen Traum, den mit gewissen Abweichungen Plutarchund Arte-
midorus aus Daldis von Alexander dem Großen berichten. Als der
König mit der Belagerung der hartnäckig verteidigten Stadt Tyrus
beschäftigt war (322 v. Chr.), träumte er einmal, er sehe einen tan-
zenden Satyr. Der Traumdeuter Aristandros, der sich beim Heere
befand, deutete ihm diesen Traum, indem er das Wort „Satyros“ in
oa Töoos (dein ist Tyrus) zerlegte und ihm darum den Triumph über
die Stadt versprach. Alexander ließ sich durch diese Deutung, be-
stimmen, die Belagerung fortzusetzen, und nahm endlich Tyrus ein.
Die Deutung, die gekünstelt genug aussieht, war unzweifelhaft die
richtige.
3. Ich kann mir vorstellen, daß es Ihnen einen besonderen Ein-
druck machen wird zu hören, daß Einwendungen gegen unsere Auf-
fassung des Traumes auch von solchen Personen erhoben worden sind,
die sich selbst längere Zeit als Psychoanalytiker mit der Deutung von
Träumen beschäftigt haben. Es wäre zu ungewöhnlich gewesen, daß
ein so reichhaltiger Anreiz zu neuen Irrtümern ungenützt geblieben
wäre, und so haben sich durch begriffliche Verwechslungen und un-
berechtigte Verallgemeinerungen Behauptungen ergeben, die hinter
der medizinischen Auffassung des Traumes an Unrichtigkeit nicht
weit zurückstehen. Die eine davon kennen Sie bereits. Sie sagt aus,
daß sich der Traum mit Anpassungsversuchen an die Gegenwart und
Lösungsversuchen der Zukunftsaufgaben beschäftige, also eine „pro-
spektive Tendenz“ verfolge (A. Maeder). Wir haben bereits ange-
führt, daß diese Behauptung auf Verwechslung des Traumes mit den
latenten Traumgedanken beruht, also das Übersehen der Traumarbeit
16*
244 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
zur Voraussetzung hat. Als Charakteristik der unbewußten Geistes-
tätigkeit, der die latenten Traumgedanken angehören, ist sie einerseits
keine Neuheit, anderseits nicht erschöpfend, denn die unbewußte
Geistestätigkeit beschäftigt sich mit vielem anderen neben der Vor-
bereitung der Zukunft. Eine weit ärgere Verwechslung scheint der
Versicherung zugrunde zu liegen, daß man hinter jedem "Traum die
„Todesklausel“ finde. Ich weiß nicht genau, was diese Formel besagen
. will, aber ich vermute, hinter ihr steckt die Verwechslung des Traumes
mit der ganzen Persönlichkeit des Iräumers.
Eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung aus wenigen guten Bei-
spielen liegt in dem Satze, daß jeder Traum zwei Deutungen zulasse,
eine solche, wie wir sie aufgezeigt haben, die sogenannte psychoana-
lytische, und eine andere, die sogenannte anagogische, welche von
den Triebregungen absieht und auf eine Darstellung der höheren
Seelenleistungen hinzielt (H. Silberer.) Es gibt solche Träume, aber
Sie werden diese Auffassung vergeblich auch nur auf eine Mehrzahl
der Träume auszudehnen versuchen. Ganz unbegreiflich wird Ihnen
nach allem, was Sie gehört haben, die Behauptung erscheinen, daß
alle Träume bisexuell zu deuten seien, als Zusammentreffen einer
männlichen mit einer weiblich zu nennenden Strömung (A. Adler).
Es gibt natülich auch einzelne solche Träume, und Sie könnten später
erfahren, daß diese so gebaut sind wie gewisse hysterische Symptome.
Ich erwähne alle diese Entdeckungen neuer allgemeiner Charaktere
des Traumes, um Sie vor ihnen zu warnen oder um Sie wenigstens
nicht im Zweifel zu lassen, wie ich darüber urteile.
4. Eines "Tages schien der objektive Wert der Traumforschung
durch die Beobachtung in Frage gestellt, daß die analytisch bebandel-
ten Patienten den Inhalt ihrer Träume’ nach den Lieblingstheorien
ihrer Ärzte einrichten, indem die einen vorwiegend von sexuellen
Triebregungen träumen, die anderen vom Machitstreben und noch
andere sogar von der Wiedergeburt (W. Stekel). Das Gewicht dieser
Beobachtung wird durch die Erwägung verringert, daß die Menschen
bereits geträumt haben, ehe es eine psychoanalytische Behandlung
en re Dr
XV. Unsicherheiten und Kritiken 245
gab, die ihre Träume lenken konnte, und daß die jetzt in Behandlung
Stehenden auch zur Zeit vor der Behandlung zu träumen pflegten.
Das Tatsächliche dieser Neuheit läßt sich bald als selbstverständlich
und für die Theorie des Traumes belanglos erkennen. Die den Traum
anregenden Tagesreste erübrigen von den starken Interessen des Wach-
lebens. Wenn die Reden des Arztes und die Anregungen, die er gibt,
für den Analysierten bedeutungsvoll geworden sind, so treten sie in
den Kreis der Tagesreste ein, können die psychischen Reize für die
Traumbildung abgeben wie die anderen affektbetonten unerledigten
Interessen des Tages und wirken ähnlich wie die somatischen Reize,
die während des Schlafes auf den Schläfer einwirken. Wie diese anderen
Anreger des Traumes können auch die vom Arzt angeregten Gedanken-
gänge im manifesten Trauminhalt erscheinen oder im latenten nach-
gewiesen werden. Wir wissen ja, daß man Träume experimentell
erzeugen, richtiger gesagt, einen Teil des Traummaterials in den
Traum einführen kann. Der Analytiker spielt also bei diesen Beein-
flussungen seiner Patienten keine andere Rolle als der Experimentator,
der wieMourly Vold den Gliedern seiner Versuchspersonen gewisse
Stellungen erteilt.
Man kann oftmals den T'räumer beeinflussen, worüber erträumen
soll, nie aber darauf einwirken, was er träumen wird. Der Mechanis-
mus der Traumarbeit und der unbewußte Traumwunsch sind jedem
fremden Einfluß entzogen. Wir haben bereits bei der Würdigung der
somatischen Reizträume erkannt, daß die Eigenart und Selbständig-
keit des Traumlebens sich in der Reaktion erweist, mit welcher der
Traum auf die zugeführten körperlichen oder seelischen Reize ant-
wortet. Der hier besprochenen Behauptung, welche die Objektivität
der Traumforschung in Zweifel ziehen will, liegt also wiederum eine
Verwechslung, die des Traumes mit dem 'Traummaterial zugrunde.
Soviel, meine Damen und Herren, wollte ich Ihnen von den Pro-
blemen des Traumes erzählen. Sie ahnen, daß ich vieles übergangen
habe, und haben selbst erfahren, daß ich fast in allen Punkten unvoll-
ständig sein mußte. Das liegt aber am Zusammenhang der Traum-
246 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
phänomene mit denen der Neurosen. Wir haben den "Traum als Ein-
führung in die Neurosenlehre studiert und das war gewiß richtiger,
als wenn wir das Umgekehrte getan hätten. Aber wie der Traum für
das Verständnis der Neurosen vorbereitet, so kann anderseits dierichtige
Würdigung des Traumes erst nach der Kenntnis der neurotischen Er-
scheinungen gewonnen werden.
Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken werden, aber ich muß
versichern, daß ich nicht bereue, soviel von Ihrem Interesse und von
der für uns verfügbaren Zeit für die Probleme des Traumes in Anspruch
genommen zu haben. An keinem anderen Objekt kann man sich so
rasch die Überzeugung von der Richtigkeit der Behauptungen holen,
mit denen die Psychoanalyse steht und fällt. Es bedarf der angestrengten
Arbeit von vielen Monaten und selbst Jahren, um zu zeigen, daß die
Symptome eines Falles von neurotischer Erkrankung ihren Sinn haben,
einer Absicht dienen und aus den Schicksalen der leidenden Person
hervorgehen. Dagegen kann es einer Bemühung von wenigen Stunden
gelingen, denselben Sachverhalt für eine zunächst unverständlich ver-
worrene I raumleistung zu erweisen und damit alle die Voraussetzungen
der Psychoanalyse zu bestätigen, die Unbewußtheit seelischer Vor-
gänge, die besonderen Mechanismen, denen sie gehorchen, und die
Triebkräfte, die sich in ihnen äußern. Und wenn wir die durch-
sreifende Analogie im Aufbau von Traum und neurotischem Symptom
mit der Raschheit der Verwandlung zusammenhalten, die aus dem
Träumer einen wachen und vernünftigen Menschen macht, gewinnen
wir die Sicherheit, daß auch die Neurose nur auf verändertem Kräfte-
spiel zwischen den Mächten des Seelenlebens beruht.
BRETT TER EERE
ALLGEMEINE NEUROSENLEHRE
„N
7 m
we x
er 5
7
ur +
each he )
Iy R a - N ,
mei, Te
.. ur ME) y
»3 BR : >, ER
|
{rt
Ä
. \
\ -
j 1%
Eu [2 4
f a
5 FT
2:77 4
Lt
N ‚
. ‚4
- f
je I 7
5 It
Da}
; vis Huf
= r
“. ae 2
1 f \ ®
a BE
Bea
5
Er
R Uhrie) Bel,
THE
} er N Y
# i 7 Ir
” wi
a - \ a
} RE 5
Y Ku mell|
/ 5 % ee
“ zur a IE
1 er r
. Rn
EZ
4 w
i
» i
‚
N
5
E
I, er
r» 2
ER
en
Y
%
a
P)
Pr
N
Zi
l
2
Sauter,
voll
v
f
175,8 x
CAAANEE
#
XVI. VORLESUNG
PSYCHOANALYSE UND PSYCHIATRIE
Meine Damen und Herren! Ich freue mich, Sie nach Jahresfrist
zur Fortsetzung unserer Besprechungen wiederzusehen. Ich habeIhnen
im Vorjahre die psychoanalytische Behandlung der Fehlleistungen und
des 'Traumes vorgetragen; ich möchte Sie heuer in das Verständnis
der neurotischen Erscheinungen einführen, die, wie Sie bald entdecken
werden, mit beiden vielerlei Gemeinsames haben. Aber ich sage es
Ihnen vorher, ich kann Ihnen diesmal nicht dieselbe Stellung mir
gegenüber einräumen wie im Vorjahre. Damals lag mir daran, keinen
Schritt zu tun, ohne mit Ihrem Urteil im Einvernehmen zu bleiben;
ich diskutierte viel mit Ihnen, unterwarf mich Ihren Einwendungen,
anerkannte eigentlich Sie und Ihren „gesunden Menschenverstand“
als entscheidende Instanz. Das geht jetzt nicht länger, und zwar wegen
eines einfachen Sachverhaltes. Fehlleistungen und Träume waren Ihnen
als Phänomene nicht fremd; man konnte sagen, Sie besaßen ebensoviel
Erfahrung wie ich oder hatten es leicht, sich ebensoviel Erfahrung
zu verschaffen. Das Erscheinungsgebiet der Neurosen ist Ihnen aber
fremd; insofern Sie nicht selbst Ärzte sind, haben Sie keinen anderen
Zugang dahin als eben meine Mitteilungen, und was hilft das beste
Urteil, wenn die Vertrautheit mit dem zu beurteilenden Material nicht
mit dabei ist.
Fassen Sie aber meine Ankündigung nicht in der Weise auf, als
ob ich dogmatische Vorträge halten und Ihren unbedingten Glauben
250 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
heischen würde. Das Mißverständnis täte mir grob Unrecht. Ich will
keine Überzeugungen erwecken — ich will Anregungen geben und
Vorurteile erschüttern. Wenn Sie infolge materieller Unkenntnis nicht
in der Lage sind zu urteilen, so sollen Sie weder glauben noch ver-
werfen. Sie sollen anhören und auf sich wirken lassen, was ich
Ihnen erzähle. Überzeugungen erwirbt man sich nicht so leicht, oder
wenn man so mühelos zu ihnen gekommen ist, erweisen sie sich bald
als wertlos und widerstandsunfähig. Ein Anrecht auf Überzeugung
hat erst derjenige, der ähnlich wie ich viele Jahre lang an demselben
Material gearbeitet und dabei dieselben neuen und überraschenden
Erfahrungen selbst erlebt hat. Wozu denn überhaupt auf intellek-
tuellem Gebiet diese raschen Überzeugungen, blitzähnlichen Be-
kehrungen, momentanen AbstoßBungen? Merken sie nicht, daß der
„coup de foudre“, die Liebe auf den ersten Blick, von einem ganz
verschiedenen, affektiven Gebiet hergenommen sind? Wir verlangen
nicht einmal von unseren Patienten, daß sie eine Überzeugung oder
Anhängerschaft an die Psychoanalyse mitbringen. Das macht sie uns
oft verdächtig. Eine wohlwollende Skepsis ist uns die erwünschteste
Einstellung bei ihnen. Versuchen Sie also auch, die psychoanalytische
Auffassung neben der populären oder der psychiatrischen ruhig in
sich aufwachsen zu lassen, bis sich die Gelegenheiten ergeben, bei
denen die beiden sich beeinflussen, sich messen und sich zu einer
Entscheidung vereinigen können.
Anderseits sollen Sie aber auch keinen Augenblick meinen, daß das,
was ich Ihnen als psychoanalytische Auffassung vortrage, ein speku-
latives System ist. Es ist vielmehr Erfahrung, entweder direkter Aus-
druck der Beobachtung oder Ergebnis einer Verarbeitung derselben.
Ob diese Verarbeitung auf zureichende und auf berechtigte Weise
erfolgt ist, das wird sich im weiteren Fortschritt der Wissenschaft
herausstellen, und zwar darf ich, nach Ablauf von fast zweieinhalb
Dezennien und im Leben ziemlich weit vorgerückt, ohne Ruhm-
redigkeit behaupten, daß es besonders schwere, intensive und vertiefte
Arbeit war, welche diese Beobachtungen geliefert hat. Ich habe oft den
ÄXVI. Psychoanalyse und Psychiatrie 251
Eindruck empfangen, als ob unsere Gegner diese Herkunft unserer
Behauptungen gar nicht in Rücksicht ziehen wollten, als meinten sie,
es handle sich um nur subjektiv bestimmte Eintälle, denen ein anderer
sein eigenes Belieben entgegensetzen kann. Ganz verständlich ist mir
dieses gegnerische Benehmen nicht. Vielleicht kommt es daher, daß
man sich als Arzt sonst so wenig mit den Nervösen einläßt, so unauf-
merksam zuhört, was sie zusagen haben, daß man sich der Möglichkeit
entfremdet hat, ausihren Mitteilungen etwas Wertvolleszu entnehmen,
also an Ihnen eingehende Beobachtungen zu machen. Ich verspreche
Ihnen bei dieser Gelegenheit, daß ich im Verlaufe meiner Vorträge
wenig polemisieren werde, am wenigsten mit einzelnen Personen.
Ich habe mich von der Wahrheit des Satzes, daß der Streit der Vater
aller Dinge sei, nicht überzeugen können. Ich glaube, er stammt von
der griechischen Sophistik her und fehlt, wie diese, durch Überschät-
zung der Dialektik. Mir schien es im Gegenteil, als ob die sogenannte
wissenschaftliche Polemik im ganzen recht unfruchtbar sei, abgesehen
davon, daß sie fast immer höchst persönlich betrieben wird. Bis vor
einigen Jahren konnte ich auch von mir rühmen, daß ich nur mit
einem einzigen Forscher (Löwenfeld in München) einmal einen
regelrechten wissenschaftlichen Streit eingegangen bin. Das Ende war,
daß wir Freunde geworden und bis auf den heutigen Tag so geblieben
sind. Aber ich habe den Versuch lange nicht wiederholt, weil ich
des gleichen Ausganges nicht sicher war.
Sie werden nun gewiß urteilen, daß eine solche Ablehnung litera-
rischer Diskussion einen besonders hohen Grad von Unzugänglichkeit
gegen Einwürfe, von Eigensinn, oder wie man es in der liebenswür-
digen, wissenschaftlichen Umgangssprache ausdrückt, von „Verrannt-
heit“ bezeugt. Ich möchte Ihnen antworten, wenn Sie einmal eine
Überzeugung mit so schwerer Arbeit erworben haben werden, wird
Ihnen auch ein gewisses Recht zufallen, mit einiger Zähigkeit an dieser
Überzeugung festzuhalten. Ich kann ferner geltend machen, daß ich
im Laufe meiner Arbeiten meine Ansichten über einige wichtige
Punkte modifiziert, geändert, durch neue ersetzt habe, wovon ich
252 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
natürlich jedesmal öffentlich Mitteilung machte. Und der Erfolg dieser
Aufrichtigkeit? Die einen haben von meinen Selbstkorrekturen über-
haupt nicht Kenntnis genommen und kritisieren mich noch heute
wegen Aufstellungen, die mir längst nicht mehr dasselbe bedeuten.
Die anderen halten mir gerade diese Wandlungen vor und erklären
mich darum für unzuverlässig. Nicht wahr, wer einige Male seine
Ansichten geändert hat, der verdient überhaupt keinen Glauben, denn
er legt es zu nahe, daß er sich auch mit seinen letzten Behauptungen
geirrt haben kann? Wer aber an dem einmal Geäußerten unbeirrt
festhält oder sich nicht rasch genug davon abbringen läßt, der heißt
eigensinnig und verrannt. Was kann man angesichts dieser einander
entgegengesetzten Einwirkungen der Kritik anderes tun als bleiben,
wie man ist, und sich benehmen, wie das eigene Urteil es billigt?
Dazu bin ich auch entschlossen und ich lasse mich nicht abhalten,
an all meinen Lehren zu modeln und zurechtzurücken, wie es meine
fortschreitende Erfahrung erfordert. An den grundlegenden Einsichten
habe ich bisher nichts zu ändern gefunden und hoffe, es wird auch
weiterhin so bleiben.
Ich soll Ihnen also die psychoanalytische Auffassung der neuro-
tischen Erscheinungen vorführen. Es liegt mir dabei nahe, an die
bereits behandelten Phänomene anzuknüpfen, sowohl der Analogie als
auch desKontrastes wegen. Ich greifeeineSymptomhandlungauf, dieich
viele Personen in meiner Sprechstunde begehen sehe. Mit den Leuten,
die uns in der ärztlichen Ordination besuchen, um in einer Viertel-
stunde den Jammer ihres langen Lebens vor uns auszubreiten, weiß
ja der Analytiker nicht viel anzufangen. Sein tieferes Wissen macht
es ihm schwer, wie ein anderer Arzt das Gutachten von sich zu geben:
Es fehlt ihnen nichts, — und den Rat zu erteilen: Gebrauchen Sie
eine leichte Wasserkur. Einer unserer Kollegen hat denn auch auf
die Frage, was er mit seinen Ordinationspatienten anstelle, achsel-
zuckend geantwortet: Er lege ihnen eine Mutwillensstrafe von sound-
soviel Kronen auf. Es wird Sie also nicht verwundern zu hören, daß
selbst bei beschäftigten Psychoanalytikern die Sprechstunde nicht sehr
XVI. Psychoanalyse und Psychiatrie 255
belebt zu sein pflegt. Ich habe die einfache Tür zwischen meinem
Warte- und meinem Behandlungs- und Ordinationszimmer verdoppeln
und durch einen Filzüberzug verstärken lassen. Die Absicht dieser
kleinen Vorrichtung leidet ja keinen Zweifel. Nun geschieht es immer
wieder, daß Personen, die ich aus dem Wartezimmer einlasse, es ver-
säumen, die Türe hinter sich zu schließen, und zwar lassen sie fast
immer beide Türen offen stehen. So wie ich das bemerke, bestehe
ich in ziemlich unfreundlichem Ton darauf, daß der oder die Ein-
tretende zurückgehe, um das Versäumte nachzuholen, mag es auch
ein eleganter Herr oder eine sehr geputzte Dame sein. Das macht
den Eindruck von unangebrachter Pedanterie. Ich habe mich auch
gelegentlich mit solcher Forderung blamiert, da es sich um Personen
handelte, die selbst keine Türklinke anfassen können und es gern
sehen, wenn ihre Begleitung ihnen diese Berührung erspart. Aber in
der Überzahl der Fälle hatte ich recht, denn wer sich so benimmt,
wer die Türe vom Wartezimmer zum Sprechzimmer des Arztes offen
stehen läßt, der gehört zum Pöbel und verdient, unfreundlich emp-
fangen zu werden. Nehmen Sie jetzt nicht Partei, ehe Sie auch das.
Weitere angehört haben. Diese Nachlässigkeit des Patienten ereignet
sich nämlich nur dann, wenn er sich allein im Wartezimmer befunden
hat und also ein leeres Zimmer hinter sich zurückläßt, niemals wenn
andere, Fremde, mit ihm gewartet haben. In diesem letzteren Falle
versteht er sehr wohl, daß es in seinem Interesse liegt, nicht belauscht
zu werden, während er mit dem Arzt spricht, und versäumt es nie,
beide Türen sorgfältig zu schließen.
So determiniert ist das Versäumnis des Patienten weder zufälliis
noch sinnlos, ja nicht einmal unwichtig, denn wir werden sehen, es.
beleuchtet das Verhältnis des Eintretenden zum Arzt. Der Patient
ist von der großen Menge jener, die weltliche Autorität verlangen,
die geblendet, eingeschüchtert werden wollen. Er hat vielleicht durchs
Telephon anfragen lassen, um welche Zeit eram leichtesten vorkommen
karin, er hat sich auf ein Gedränge von Hilfesuchenden gefaßt ge-
macht, etwa wie vor einer Filiale von Julius Meinl. Nun tritt er in
254 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
einen leeren, überdies höchst bescheiden ausgestatteten Warteraum
und ist erschüttert. Er muß es den Arzt entgelten lassen, daß er ihm
einen so überflüssigen Aufwand von Respekt entgegenbringen wollte,
und da —- unterläßt er es, die Türe zwischen Warte- und Ordinations-
zimmer zu schließen. Er will dem Arzt damit sagen: Ach, hier ist
ja niemand und wahrscheinlich wird auch, so lange ich hier bin,
niemand kommen. Er würde sich auch während der Besprechung
ganz unmanierlich und respektlos benehmen, wenn man seine Über-
hebung nicht gleich anfangs durch eine scharfe Zurechtweisung ein-
dämmen würde. |
Sie finden an der Analyse dieser kleinen Symptomhandlung nichts,
was Ihnen nicht bereits bekannt wäre: Die Behauptung, daß sie nicht
zufällig ist, sondern ein Motiv hat, einen Sinn und eine Absicht, daB
sie in einen angebbaren seelischen Zusammenhang gehört, und daß
sie als ein kleines Anzeichen von einem wichtigeren seelischen Vor-
gang Kunde gibt. Vor allem anderen aber, daß dieser so angezeigte
Vorgang dem Bewußtsein dessen, der ihn vollzieht, unbekannt ist,
denn keiner der Patienten, welche die beiden Türen offen gelassen
haben, würde zugeben können, daß er mir durch dieses Versäumnis
seine Geringschätzung bezeugen wollte. Auf eine Regung von Ent-
täuschung beim Betreten des leeren Wartezimmers würde sich wahr-
scheinlich mancher besinnen, aber der Zusammenhang zwischen diesem
Eindruck und der darauffolgenden Symptomhandlung ist seinem Be-
wußtsein sicherlich unerkannt geblieben.
Nun wollen wir dieser kleinen Analyse einer Symptomhandlung
eine Beobachtung an einer Kranken an die Seite stellen. Ich wähle
eine solche, die mir in frischer Erinnerung ist, auch darum, weil sie
sich verhältnismäßig kurz darstellen läßt. Ein gewisses Maß von Aus-
führlichkeit ist bei jeder solchen Mitteilung unerläßlich.
Ein auf kurzen Urlaub heimgekehrter junger Offizier bittet mich,
seine Schwiegermutter in Behandlung zu nehmen, die in den glück-
lichsten Verhältnissen sich und den Ihrigen das Leben durch eine
unsinnige Idee vergällt. Ich lerne eine 53 jährige, wohlerhaltene Dame
XVI,. Psychoanalyse und Psychiatrie 255
von freundlichem, einfachem Wesen kennen, die ohne Widerstreben
folgenden Bericht gibt. Sie lebt in glücklichster Ehe auf dem Lande
mit ihrem Manne, der eine große Fabrik leitet. Sie weiß die liebens-
würdige Sorgfalt ihres Mannes nicht genug zu loben. Liebesheirat
vor 30 Jahren, seither nie eine 'Trübung, Zwist oder Anlaß zur Eifer-
sucht. Ihre beiden Kinder gut verheiratet, der Mann und Vater will
sich aus Pflichtgefühl noch nicht zur Ruhe setzen. Vor einem Jahre
ereignete sich das Unglaubliche, ihr selbst Unverständliche, daß sie
einem anonymem Briefe, welcher ihren ausgezeichneten Mann des
Liebesverhältnisses mit einem jungen Mädchen bezichtigte, sofortigen
Glauben schenkte, und seither ist ihr Glück zerstört. Der nähere
Hergang war etwa der folgende: sie hatte ein Stubenmädchen, mit
dem sie vielleicht zu oft Intimes besprach. Dieses Mädchen verfolgte
ein anderes mit einer geradezu gehässigen Feindschaft, weil diese es
im Leben soviel weiter gebracht hatte, obwohl sie von nicht besserer
Herkunft war. Anstatt Dienst anzunehmen, hatte das Mädchen sich
eine kommerzielle Ausbildung verschafft, war in die Fabrik eingetreten
und infolge des Personalmangels durch die Einberufungen von Be-
amten zu einer guten Stellung vorgerückt. Sie wohnte jetzt in der
Fabrik selbst, verkehrte mit allen Herren und hieß sogar Fräulein.
Die im Leben Zurückgebliebene war natürlich bereit, der ehemaligen
Schulkameradin alles mögliche Böse nachzusagen. Eines Tages unter-
hielt sich unsere Dame mit dem Stubenmädchen über einen alten
Herrn, der zu Gast gewesen war, von dem man wußte, daß er nicht
mit seiner Frau lebte, sondern ein Verhältnis mit einer anderen
unterhielt. Sie weiß nicht, wie es kam, daß sie plötzlich äußerte: Für
mich wäre es das Schrecklichste, wenn ich erfahren würde, daß mein
guter Mann auch ein Verhältnis hat. Am nächsten Tage erhielt sie
von der Post einen anonymen Brief, der ihr in verstellter Schrift
diese gleichsam heraufbeschworene Mitteilung machte, Sie schloß
— wahrscheinlich mit Recht —, daB der Brief das Werk ihres bösen
Stubenmädchens sei, denn als Geliebte des Mannes war eben jenes
Fräulein bezeichnet, das die Dienerin mit ihrem Haß verfolgte. Aber
256 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
obwohl sie die Intrige sofort durchschaute und an ihrem Wohnorte
Beispiele genug erlebt hatte, wie wenig Glauben solche feige Denun-
ziationen verdienten, geschah es, daß jener Brief sie augenblicklich
niederwarf. Sie geriet in eine schreckliche Aufregung und schickte
sofort um ihren Mann, um ihm die heftigsten Vorwürfe zu machen.
Der Mann wies die Beschuldigung lachend ab und tat das Beste, was
zu tun war. Er ließ den Haus- und Fabrikarzt kommen, der sein
Bemühen dazutat, um die unglückliche Frau zu beruhigen. Auch
das weitere Vorgehen der beiden war durchaus verständig. Das Stuben-
mädchen wurde entlassen, die angebliche Nebenbuhlerin aber nicht.
Seither will sich die Kranke wiederholt soweit beruhigt haben, daß
sie an den Inhalt des anonymen Briefes nicht mehr glaubte, aber nie
gründlich und nie für lange Zeit. Es reichte hin, den Namen des
Fräuleins aussprechen zu hören oder ihr auf der Straße zu begegnen,
um einen neuen Anfall von Mißtrauen, Schmerz und Vorwürfen bei
ihr auszulösen.
Das ist nun die Krankengeschichte dieser braven Frau. Es gehörte
nicht viel psychiatrische Erfahrung dazu, um zu verstehen, daß sie
im Gegensatz zu anderen Nervösen ihren Fall eher zu milde dar-
stellte, also wie wir sagen: dissimulierte, und daß sie den Glauben
an die Beschuldigung des anonymen Briefes eigentlich niemals über-
wunden hatte.
Welche Stellung nimmt nun der Psychiater zu einem solchen
Krankheitsfalle ein? Wie er sich gegen die Symptombehandlung des
Patienten benehmen würde, der die Türen zum Wartezimmer nicht
schließt, das wissen wir bereits. Er erklärt sie für eine Zufälligkeit
ohne psychologisches Interesse, die ihn weiter nichts angeht. Aber
dies Verhalten läßt sich auf den Krankheitsfall der eifersüchtigen Frau
nicht fortsetzen. Die Symptomhandlung scheint etwas Gleichgültiges
zu sein, das Symptom aber drängt sich als etwas Bedeutsames auf. Es ist
mit intensivem subjektiven Leiden verbunden, es bedroht objektiv das
Zusammenleben einer Familie; es ist also ein unabweisbarer Gegen-
stand des psychiatrischen Interesses. Der Psychiater versucht zunächst
XVI. Psychoanalyse und Psychiatrie 257
das Symptom durch eine wesentliche Eigenschaft zu charakterisieren.
Die Idee, mit welcher diese Frau sich quält, ist nicht an sich un-
sinnig zu nennen; es kommt ja vor, daß ältere Ehemänner Liebes-
beziehungen zu jungen Mädchen unterhalten. Aber etwas anderes
daran ist unsinnig und unbegreiflich. Die Patientin hat gar keinen
anderen Grund daran zu glauben, daß ihr zärtlicher und treuer Gatte
zu dieser sonst nicht so seltenen Kategorie von Ehemännern gehört,
als die Behauptung des anonymen Briefes. Sie weiß, daß diesem Schrift-
stück keine Beweiskraft zukommt, sie kann sich dessen Herkunft be-
friedigend aufklären; sie sollte sich also sagen können, daß sie gar
keinen Grund für ihre Eifersucht hat, sie sagt es sich auch, aber sie
leidet trotzdem ebenso, als ob sie diese Eifersucht als vollberechtigt
anerkennen würde. Ideen dieser Art, die logischen und aus der Realität
geschöpften Argumenten zugänglich sind, ist man übereingekommen,
Wahnideen zu heißen. Die gute Dame leidet also an Eifersuchts-
wahn. Das ist wohl die wesentliche Charakteristik dieses Krankheits-
falles.
Nach dieser ersten Feststellung wird unser psychiatrisches Interesse
sich noch lebhafter regen wollen. Wenn eine Wahnidee durch den
Bezug auf die Realität nicht abzutun ist, so wird sie wohl auch nicht
aus der Realität stammen. Woher stammt sie sonst? Es gibt Wahn-
ideen des verschiedenartigsten Inhaltes; warum ist der Inhalt des
Wahnes in unserem Falle gerade Eifersucht? Bei welchen Personen
bilden sich Wahnideen oder besonders Wahnideen der Eifersucht?
Hier möchten wir nun dem Psychiater lauschen, aber hier läßt er
uns im Stiche. Er geht überhaupt nur auf eine einzige unserer Frage-
stellungen ein. Er wird in der Familiengeschichte dieser Frau nach-
forschen und uns vielleicht die Antwort bringen: Wahnideen kom-
men bei solchen Personen vor, in deren Familien ähnliche und andere
psychische Störungen wiederholt vorgekommen sind. Mit anderen
Worten, wenn diese Frau eine Wahnidee entwickelt hat, so war sie
durch erbliche Übertragung dazu disponiert. Das ist gewiß etwas,
aber ist das alles, was wir wissen wollen? Alles, was zur Verursachung,
Freud, VII. 17
258 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
dieses Krankheitsfalles mitgewirkt hat? Sollen wir uns damit begnügen
anzunehmen, daß es gleichgültig, willkürlich oder unerklärlich ist,
wenn sich ein Eifersuchtswahn entwickelt hat an Stelle irgendeines
anderen? Und dürfen wir den Satz, der die Vorherrschaft des erb-
lichen Einflusses verkündet, auch im negativen Sinne dahin verstehen,
es sei gleichgültig, welche Erlebnisse an diese Seele herangetreten
sind, sie war dazu bestimmt, irgendeinmal einen Wahn zu produ-
zieren? Sie werden wissen wollen, warum uns die wissenschaftliche
Psychiatrie keine weiteren Aufschlüsse geben will. Aber ich antworte
Ihnen: Ein Schelm, wer mehr gibt, als er hat. Der Psychiater kennt
eben keinen Weg, der in der Aufklärung eines solchen Falles weiter-
führt. Er muß sich mit der Diagnose und einer trotz reichlicher Er-
fahrung unsicheren Prognose des weiteren Verlaufes begnügen.
Kann aber die Psychoanalyse hier mehr leisten? Ja doch; ich hoffe
Ihnen zu zeigen, daß sie selbst in einem so schwer zugänglichen
Falle etwas aufzudecken vermag, was das nächste Verständnis ermög-
licht. Zunächst bitte ich Sie, das unscheinbare Detail zu beachten,
daß die Patientin den anonymen Brief, der nun ihre Wahnidee stützt,
geradezu provoziert hat, indem sie tags zuvor gegen das intrigante
Mädchen die Äußerung tat, es wäre ihr größtes Unglück, wenn ihr
Mann ein Liebesverhältnis mit einem jungen Mädchen hätte. Da-
durch brachte sie das Dienstmädchen erst auf die Idee, ihr den ano-
nymen Brief zu schicken. Die Wahnidee gewinnt so eine gewisse
Unabhängigkeit von dem Briefe; sie ist schon vorher als Befürchtung
— oder als Wunsch? — in der Kranken vorhanden gewesen. Nehmen
Sie nun weiter hinzu, was nur zwei Stunden Analyse an weiteren
kleinen Anzeichen ergeben haben. Die Patientin verhielt sich zwar
sehr ablehnend, als sie aufgefordert wurde, nach der Erzählung ihrer
Geschichte ihre weiteren Gedanken, Einfälle und Erinnerungen mit-
zuteilen. Sie behauptete, es fiele ihr nichts ein, sie habe schon alles
gesagt, und nach zwei Stunden mußte der Versuch mit ihr wirklich
abgebrochen werden, weil sie verkündet hatte, sie fühle sich bereits
gesund und sei sicher, daß die krankhafte Idee nicht wiederkommen
XVI. Psychoanalyse und Psychiatrie 259
werde. Das sagte sie natürlich nur aus Widerstand und aus Angst vor
der Fortsetzung der Analyse, Aber in diesen zwei Stunden hatte sie
doch einige Bemerkungen fallen lassen, die eine bestimmte Deutung
gestatteten, ja unabweisbar machten, und diese Deutung wirft ein
helles Licht auf die Genese ihres Eifersuchtswahnes. Es bestand bei
ihr selbst eine intensive Verliebtheit in einen jungen Mann, in den-
selben Schwiegersohn, auf dessen Drängen sie mich als Patientin auf-
gesucht hatte. Von dieser Verliebtheit wußte sie nichts oder vielleicht
nur sehr wenig; bei dem bestehenden Verwandtschaftsverhältnis hatte
diese verliebte Neigung es leicht, sich als harmlose Zärtlichkeit zu
maskieren. Nach all unseren sonstigen Erfahrungen wird es uns nicht
schwer, uns in das Seelenleben dieser anständigen Frau und braven
Mutter von 53 Jahren einzufühlen. Eine solche Verliebtheit konnte
als etwas Ungeheuerliches, Unmögliches nicht bewußt werden; sie
blieb aber bestehen und übte als unbewußte einen schweren Druck
aus. Irgend etwas mußte mit ihr geschehen, irgendeine Abhilfe ge-
sucht werden, und die nächste Linderung bot wohl der Verschiebungs-
mechanismus, der an der Entstehung der wahnhaften Eifersucht so
_ regelmäßig Anteil hat. Wenn nicht nur sie alte Frau in einen jungen
Mann verliebt war, sondern auch ihr alter Mann ein Liebesverhält-
nis mit einem jungen Mädchen unterhielt, dann war sie ja vom Ge-
wissensdruck der Untreue entlastet. Die Phantasie von der Untreue
des Mannes war also ein kühlendes Pflaster aufihre brennende Wunde.
Ihre eigene Liebe war ihr nicht bewußt geworden, aber die Spiege-
lung derselben, die ihr solche Vorteile brachte, wurde nun zwangs-
artig, wahnhaft, bewußt. Alle Argumente dagegen konnten natür-
lich nichts fruchten, denn sie richteten sich nur gegen das Spiegel-,
nicht gegen das Urbild, dem jenes seine Stärke verdankte, und das
unantastbar im Unbewußten geborgen lag.
Stellen wir nun zusammen, was eine kurze und erschwerte psycho-
analytische Bemühung zum Verständnis dieses Krankheitsfalles ge-
bracht hat. Vorausgesetzt natürlich, daß unsere Ermittlungen korrekt
zustande gekommen sind, was ich hier Ihrem Urteil nicht unter-
17*
260 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
werfen kann. Fürs erste: Die Wahnidee ist nichts Unsinniges oder
Unverständliches mehr, sie ist sinnreich, gut motiviert, gehört in den
Zusammenhang eines affektvollen Erlebnisses der Kranken. Zweitens:
Sie ist notwendig als Reaktion auf einen aus anderen Anzeichen er-
ratenen unbewußten seelischen Vorgang und verdankt gerade dieser
Beziehung ihren wahnhaften Charakter, ihre Resistenz gegen logische
und reale Angriffe. Sie ist selbst etwas Erwünschtes, eine Art von
Tröstung. Drittens: Es ist durch das Erlebnis hinter der Erkrankung
unzweideutig bestimmt, daß es gerade eine eifersüchtige Wahnidee
wurde und keine andere. Sie erinnern sich doch, daß sie tags zuvor
gegen das intrigante Mädchen die Äußerung tat, es wäre ihr das
Schrecklichste, wenn ihr Mann ihr untreu würde. Sie übersehen
auch nicht die beiden wichtigen Analogien mit der von uns analy-
sierten Symptomhandlung in der Aufklärung des Sinnes oder der Ab-
sicht und in der Beziehung auf ein in der Situation gegebenes Un-
bewußtes.
Natürlich sind damit nicht alle Fragen beantwortet, die wir aus
Anlaß dieses Falles stellen durften. Der Krankheitsfall starrt vielmehr
von weiteren Problemen, solchen, die überhaupt noch nicht lösbar
geworden sind, und anderen, die sich wegen der Ungunst der beson-
deren Verhältnisse nicht lösen ließen. Z. B. warum erliegt diese in
glücklicher Ehe lebende Frau einer Verliebtheit in ihren Schwieger-
sohn, und warum erfolgt die Erleichterung, die auch aufandere Weise
möglich wäre, in der Form einer solchen Spiegelung, einer Projektion
ihres eigenen Zustandes auf ihren Mann? Glauben Sie nicht, daß es
müßig und mutwillig ist, solche Fragen aufzuwerfen. Es steht uns
bereits manches Material für eine mögliche Beantwortung derselben
zu Gebote. Die Frau befindet sich in dem kritischen Alter, das dem
weiblichen Sexualbedürfnis eine unerwünschte plötzliche Steigerung
bringt; das mag für sich allein hinreichen. Oder es mag hinzukommen,
daß ihr guter und treuer Ehemann seit manchen Jahren nicht mehr
im Besitze jener sexuellen Leistungstähigkeit ist, deren die wohler-
haltene Frau zu ihrer Befriedigung bedürfte. Die Erfahrung hat uns
XVI. Psychoanalyse und Psychiatrie 261
darauf aufmerksam gemacht, daß gerade solche Männer, deren Treue
dann selbstverständlich ist, sich durch besondere Zartheit in der Be-
handlung ihrer Frauen und durch ungewöhnliche Nachsicht mit deren
nervösen Beschwerden auszeichnen. Oder es ist weiters nicht gleich-
gültig, daß es gerade der junge Ehemann einer Tochter ist, welcher
zum Objekt dieser pathogenen Verliebtheit wurde. Eine starke ero-
tische Bindung an die Tochter, die im letzten Grunde auf die Sexual-
konstitution der Mutter zurückführt, findet oft den Weg dazu, sich
in solcher Umwandlung fortzusetzen. Ich darf Sie vielleicht in diesem
Zusammenhange daran erinnern, daß das Verhältnis zwischen Schwie-
germutter und Schwiegersohn den Menschen von jeher als ein be-
sonders heikles gegolten und bei den Primitiven Anlaß zu sehr mäch-
tigen Tabuvorschriften und „Vermeidungen“ gegeben hat.‘ Es geht
häufig nach der positiven wie nach der negativen Seite über das kul-
turell erwünschte Maß hinaus. Welches dieser drei Momente nun
in unserem Falle zur Wirkung gekommen ist, ob zwei davon, ob sie
alle zusammengetroffen sind, das kann ich Ihnen freilich nicht sagen,
aber nur darum nicht, weil es mir nicht gestattet war, die Analyse
des Falles über die zweite Stunde hinaus fortzusetzen.
Ich merke jetzt, meine Herren, daß ich von lauter Dingen ge-
sprochen habe, für die Ihr Verständnis noch nicht vorbereitet ist. Ich
tat es, um die Vergleichung der Psychiatrie mit der Psychoanalyse
durchzuführen. Aber eines darf ich Sie jetzt fragen: Haben Sieirgend
etwas von einem Widerspruch zwischen den beiden bemerkt? Die
Psychiatrie wendet die technischen Methoden der Psychoanalyse nicht
an, sie unterläßt es, etwas an den Inhalt der Wahnidee anzuknüpfen,
und sie gibt uns im Hinweis auf die Heredität eine sehr allgemeine
und entfernte Ätiologie, anstatt zuerst die speziellere und näher-
liegende Verursachung aufzuzeigen. Aber liegt darin ein Wider-
spruch, ein Gegensatz? Ist’s nicht vielmehr eine Vervollständigung?
Widerspricht denn das hereditäre Moment der Bedeutung des Erleb-
nisses, setzen sich nicht vielmehr beide in der wirksamsten Weise zu-
ı) Vgl. „Totem und Tabu“, 1913.
262 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
sammen? Sie werden mir zugeben, daß im Wesen der psychiatri-
schen Arbeit nichts liegt, was sich gegen die psychoanalytische For-
schung sträuben könnte. Die Psychiater sind’s also, die sich der
Psychoanalyse widersetzen, nicht die Psychiatrie. Die Psychoanalyse
verhält sich zur Psychiatrie etwa wie die Histologie zur Anato-
mie; die eine studiert die äußeren Formen der Organe, die andere
den Aufbau derselben aus den Geweben und Elementarteilen. Ein
Widerspruch zwischen diesen beiden Arten des Studiums, von denen
das eine das andere fortsetzt, ist nicht gut denkbar. Sie wissen, die
Anatomie gilt uns heute als die Grundlage einer wissenschaftlichen
Medizin, aber es gab eine Zeit, in der es ebenso verboten war, mensch-
liche Leichen zu zerlegen, um den inneren Bau des Körpers kennen
zu lernen, wie es heute verpönt erscheint, Psychoanalyse zu üben,
um das innere Getriebe des Seelenlebens zu erkunden. Und voraus-
sichtlich bringt uns eine nicht zu ferne Zeit die Einsicht, daß eine
wissenschaftlich vertiefte Psychiatrie nicht möglich ist ohne eine gute
Kenntnis der tieferliegenden, der unbewußten Vorgänge im Seelen-
leben.
Vielleicht hat nun die viel befehdete Psychoanalyse auch Freunde
unter Ihnen, welche es gern sehen, wenn sie sich auch von anderer,
von der therapeutischen Seite her rechtfertigen ließe. Sie wissen, daß
unsere bisherige psychiatrische Therapie Wahnideen nicht zu beein-
flussen vermag. Kann es vielleicht die Psychoanalyse dank ihrer Ein-
sicht in den Mechanismus dieser Symptome? Nein, meine Herren,
sie kann es nicht; sie ist gegen diese Leiden — vorläufig wenigstens —
ebenso ohnmächtig wie jede andere Therapie. Wir können zwar ver-
stehen, was in dem Kranken vor sich gegangen ist, aber wir haben
kein Mittel, um es den Kranken selbst verstehen zu machen. Sie
haben ja gehört, daß ich die Analyse dieser Wahnidee nicht über die
ersten Ansätze hinaus fördern konnte. Werden sie darum behaupten
wollen, daß die Analyse solcher Fälle verwerflich ist, weil sie un-
fruchtbar bleibt? Ich glaube doch nicht. Wir haben das Recht, ja
die Pflicht, die Forschung ohne Rücksicht auf einen unmittelbaren
ÄVI. Psychoanalyse und Psychiatrie
263
Nutzeffekt zu betreiben. Am Ende — wir wissen nicht, wo und
wann — wird sich jedes Stückchen Wissen in Können umsetzen,
auch in therapeutisches Können. Zeigte sich die Psychoanalyse bei
allen anderen Formen nervöser und psychischer Erkrankung ebenso
erfolglos wie bei den Wahnideen, so bliebe sie doch als unersetzliches
Mittel der wissenschaftlichen Forschung voll gerechtfertigt. Wir
würden dann allerdings nicht in die Lage kommen, sie auszuüben;
das Menschenmaterial, an dem wir lernen wollen, das lebt, seinen
eigenen Willen hat und seiner Motive bedarf, um bei der Arbeit mit-
zutun, würde sich uns verweigern. Lassen Sie mich darum für heute
mit der Mitteilung schließen, daß es umfassende Gruppen von ner-
vösen Störungen gibt, bei denen sich die Umsetzung unseres besseren
Verstehens in therapeutisches Können tatsächlich erwiesen hat, und
daß wir bei diesen sonst schwer zugänglichen Erkrankungen unter
gewissen Bedingungen Erfolge erzielen, die hinter keinen anderen
auf dem Gebiete der internen Therapie zurückstehen.
XVII. VORLESUNG
DER SINN DER SYMPTOME
Meine Damen und Herren! Ich habe Ihnen im vorigen Vortrag
auseinandergesetzt, daß die klinische Psychiatrie sich um die Er-
scheinungsform und den Inhalt des einzelnen Symptoms wenig be-
kümmert, daß aber die Psychoanalyse gerade hier angesetzt und zu-
nächst festgestellt hat, das Symptom sei sinnreich und hänge mit dem
Erleben des Kranken zusammen. Der Sinn der neurotischen Symptome
ist zuerst von J. Breuer aufgedeckt worden durch das Studium und
die glückliche Herstellung eines seither berühmt gewordenen Falles
von Hysterie (1880—82). Es ist richtig das P. Janet unabhängig
denselben Nachweis erbracht hat; dem französischen Forscher gebührt
sogar die literarische Priorität, denn Breuer hat seine Beobachtung
erst mehr als ein Dezennium später (18953—.95) während der Mit-
arbeiterschaft mit mir veröffentlicht. Es mag uns übrigens ziemlich
gleichgültig sein, von wem diese Entdeckung herrührt, denn Sie
wissen, jede Entdeckung wird mehr als einmal gemacht, und keine
wird auf einmal gemacht, und der Erfolg geht ohnedies nicht mit
dem Verdienst. Amerika heißt nicht nach Kolumbus. Vor Breuer
und Janet hat der große Psychiater Leuret die Meinung ausge-
sprochen, selbst die Delirien der Geisteskranken müßten sich als sinn-
voll erkennen lassen, wenn wir erst verstünden, sie zu übersetzen.
Ich gestehe, daß ich lange Zeit bereit war, das Verdienst P. Janets
an der Aufklärung der neurotischen Symptome sehr hoch anzuschlagen,
XVII. Der Sinn der Symptome 265
weil er sie als Äußerungen von idees inconscientes auffaßte, welche
die Kranken beherrschten. Aber Janet hat sich seitdem in über-
großer Zurückhaltung so geäußert, als ob er bekennen wollte, daß
das Unbewußte für ihn weiter nichts gewesen sei als eine Redensart, ein
Behelf, une fagon de parler; er habe an nichts Reales dabei gedacht.
Seither verstehe ich Janets Ausführungen nicht mehr, ich meine
aber, daß er sich überflüssigerweise um viel Verdienst geschädigt hat.
Die neurotischen Symptome haben also ihren Sinn wie die Fehl-
leistungen, wie die Träume, und so wie diese ihren Zusammenhang
mit dem Leben der Personen, die sie zeigen. Ich möchte Ihnen nun
diese wichtige Einsicht durch einige Beispiele näher bringen. Daß
es immer und in allen Fällen so ist, kann ich ja nur behaupten, nicht
beweisen. Wer selbst Erfahrungen sucht, wird sich davon die Über-
zeugung verschaffen. Ich werde aber diese Beispiele aus gewissen
Motiven nicht der Hysterie entnehmen, sondern einer anderen, höchst
merkwürdigen, ihr im Grunde sehr nahestehenden Neurose, von der
ich Ihnen einige einleitende Worte zu sagen habe. Diese, die soge-
nannte Zwangsneurose, ist nicht so populär wie die allbekannte Hy-
sterie; sie ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, nicht so aufdringlich
lärmend, benimmt sich mehr wie eine Privatangelegenheit des
Kranken, verzichtet fast völlig auf Erscheinungen am Körper und
schafft alle ihre Symptome auf seelischem Gebiet. Die Zwangsneu-
rose und die Hysterie sind diejenigen Formen neurotischer Erkrankung,
auf deren Studium die Psychoanalyse zunächst aufgebaut wurde, in
deren Behandlung unsere Therapie auch ihre Triumphe feiert. Aber
die Zwangsneurose, welcher jener rätselhafte Sprung aus dem See-
lischen ins Körperliche abgeht, ist uns durch die psychoanalytische
Bemühung eigentlich durchsichtiger und heimlicher geworden als
die Hysterie, und wir haben erkannt, daß sie gewisse extreme Cha-
raktere der Neurotik weit greller zur Erscheinung; bringt.
Die Zwangsneurose äußert sich darin, daß die Kranken von Ge-
danken beschäftigt werden, für die sie sich eigentlich nicht interessieren,
Impulse in sich verspüren, die ihnen sehr fremdartig vorkommen,
266 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
und zu Handlungen veranlaßt werden, deren Ausführung ihnen zwar
kein Vergnügen bereitet, deren Unterlassung ihnen aber ganz un-
möglich ist. Die Gedanken (Zwangsvorstellungen) können an sich
unsinnig sein oder auch nur für das Individuum gleichgültig, oft sind
sie ganz und gar läppisch, ın allen Fällen sind sie der Ausgang einer
angestrengten Denktätigkeit, die den Kranken erschöpft, und der er
sich nur sehr ungern hingibt. Er muß gegen seinen Willen grübeln
und spekulieren, als ob es sich um seine wichtigsten Lebensaufgaben
handelte. Die Impulse, die der Kranke in sich verspürt, können gleich-
falls einen kindischen und unsinnigen Eindruck machen, meist haben
sie aber den schreckhaftesten Inhalt wie Versuchungen zu schweren
Verbrechen, so daß der Kranke sie nicht nur als fremd verleugnet,
sondern entsetzt vor ihnen flieht und sich durch Verbote, Verzichte
und Einschränkungen seiner Freiheit vor ihrer Ausführung schützt.
Dabei dringen sie niemals, aber wirklich kein einziges Mal, zur Aus-
führung durch; der Erfolg ist immer, daß die Flucht und die Vorsicht
siegen. Was der Kranke wirklich ausführt, die sogenannten Zwangs-
handlungen, das sind sehr harmlose, sicherlich geringfügige Dinge,
meist Wiederholungen, zeremoniöse Verzierungen an Tätigkeiten des
gewöhnlichen Lebens, wodurch aber diese notwendigenVerrichtungen,
das Zubettegehen, das Waschen, Toilettemachen, Spazierengehen zu
höchst langwierigen und kaum lösbaren Aufgaben werden. Die krank-
haften Vorstellungen, Impulse und Handlungen sind in den einzelnen
Formen und Fällen der Zwangsneurose keineswegs zu gleichen An-
teilen vermengt; vielmehr ist es Regel, daß das eine oder das andere
dieser Momente das Bild beherrscht und der Krankheit den Namen
gibt, aber das Gemeinsame all dieser Formen ist unverkennbar genug.
Das ist doch gewiß ein tolles Leiden. Ich glaube, der ausschwei-
fendsten psychiatrischen Phantasie wäre es nicht gelungen, etwas der-
gleichen zu konstruieren, und wenn man es nicht alle Tage vor sich
sehen könnte, würde man sich nicht entschließen, daran zu glauben.
Nun denken Sie aber nicht, daß Sie dem Kranken etwas leisten, wenn
Sie ihm zureden sich abzulenken, sich nicht mit diesen dummen Ge-
XVII. Der Sinn der Symptome 267
danken zu beschäftigen und an Stelle seiner Spielereien etwas Ver-
nünftiges zu tun. Das möchte er selbst, denn er ist vollkommen klar,
teilt ihr Urteil über seine Zwangssymptome, ja er trägt es Ihnen ent-
gegen. Er kann nur nicht anders; was sich bei der Zwangsneurose zur
Tat durchsetzt, das wird von einer Energie getragen, für die uns
wahrscheinlich der Vergleich aus dem normalen Seelenleben abgeht.
Er kann nur eines: verschieben, vertauschen, anstatt der einen dummen
Idee eine andere, irgendwie abgeschwächte setzen, von einer Vorsicht
oder Verbot zu einem anderen fortschreiten, anstatt des einen Zere-
moniells ein anderes ausführen. Er kann den Zwang verschieben, aber
nicht aufheben. Die Verschiebbarkeit aller Symptome, weit von ihrer
ursprünglichen Gestaltung weg, ist ein Hauptcharakter seiner Krank-
heit; außerdem fällt es auf, daß die Gegensätze (Polaritäten), von
denen das Seelenleben durchzogen ist, in seinem Zustand besonders
scharf gesondert hervortreten. Neben dem Zwang mit positivem und
negativem Inhalt macht sich auf intellektuellem Gebiet der Zweifel
geltend, der allmählich auch das für gewöhnlich Gesichertste annagt.
Das Ganze läuft in eine immer mehr zunehmende Unentschlossen-
heit, Energielosigkeit, Freiheitsbeschränkung aus. Dabei ist derZwangs-
neurotiker ursprünglich ein sehr energisch angelegter Charakter ge-
wesen, oft von außerordentlichem Eigensinn, in der Regel über das
durchschnittliche Maß intellektuell begabt. Er hat es zumeist zu
einer erfreulichen Höhe der ethischen Entwicklung gebracht, zeigt
sich übergewissenhaft, mehr als gewöhnlich korrekt. Sie können sich
denken, daß ein tüchtiges Stück Arbeit dazugehört, bis man sich in
diesem widerspruchsvollen Ensemble von Charaktereigenschaften und
Krankheitssymptomen halbwegs zurechtgefunden hat. Wir streben
auch vorläufig gar nichts anderes an, als einige Symptome dieser
Krankheit zu verstehen, deuten zu können. | |
Vielleicht wollen Sie im Hinblick auf unsere Besprechungen vor-
her wissen, wie sich die gegenwärtige Psychiatrie zu den Problemen
der Zwangsneurose verhält. Das ist aber ein armseliges Kapitel. Die
Psychiatrie gibt den verschiedenen Zwängen Namen, sagt sonst weiter
268 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
nichts über sie. Dafür betont sie, daß die Träger solcher Symptome
„Degenerierte“ sind. Das ist wenig Befriedigung, eigentlich ein Wert-
urteil, eine Verurteilung anstatt einer Erklärung. Wir sollen uns etwa
denken, bei Leuten, die aus der Art geschlagen sind, kämen eben
alle möglichen Sonderbarkeiten vor. Nun glauben wir ja, daß Personen,
die solche Symptome entwickeln, von Natur aus etwas anders sein
müssen als andere Menschen. Aber wir möchten fragen: Sind sie
mehr „degeneriert“ als andere Nervöse, z. B. die Hysteriker oder als
die an Psychosen Erkrankenden? Die Charakteristik ist offenbar wieder
zu allgemein. Ja man kann bezweifeln, ob sie auch nur berechtigt
ist, wenn man erfährt, daß solche Symptome auch bei ausgezeichneten
Menschen von besonders hoher und für die Allgemeinheit bedeut-
samer Leistungsfähigkeit vorkommen. Für gewöhnlich erfahren wir
ja, dank ihrer eigenen Diskretion und der Verlogenheit ihrer Bio-
graphen von unseren vorbildlich großen Männern wenig Intimes,
aber es kommt doch vor, daß einer ein Wahrheitsfanatiker ist wie
Emile Zola ‚ und dann hören wir von ihm, an wieviel sonderbaren
Zwangsgewohnheiten er sein Leben über gelitten hat.‘
Die Psychiatrie hat sich da die Auskunft geschaffen, von Degeneres
superleurs zu sprechen. Schön — aber durch die Psychoanalyse
haben wir die Erfahrung gemacht, daß man diese sonderbaren Zwangs-
symptome wie andere Leiden und wie bei anderen nicht degenerierten
Menschen dauernd beseitigen kann. Mir selbst ist solches wiederholt
gelungen.
Ich will Ihnen nur zwei Beispiele von Analyse eines Zwangs-
symptoms mitteilen, eines aus alter Beobachtung, das ich durch kein
schöneres zu ersetzen weiß, und ein kürzlich gewonnenes. Ich be-
schränke mich auf eine so geringe Anzahl, weil man bei einer solchen
Mitteilung sehr weitläufig werden, in alle Einzelheiten eingehen muß.
Eine nahe an 30 Jahre alte Dame, die an den schwersten Zwangs-
erscheinungen litt, und der ich vielleicht geholfen hätte, wenn eın
tückischer Zufall nicht meine Arbeit zunichte gemacht hätte 27
ı)E. Toulouse, Emile Zola. Enquete medico-psychologique, Paris 1896.
XVII. Der Sinn der Symptome 269
vielleicht erzähle ich ihnen noch davon —, führte unter anderen
folgende merkwürdige Zwangshandlung vielmals im Tage aus. Sie
lief aus ihrem Zimmer in ein anderes nebenan, stellte sich dort an
eine bestimmte Stelle bei dem in der Mitte stehenden Tisch hin,
schellte ihrem Stubenmädchen, gab ihr einen gleichgültigen Auftrag
oder entließ sie auch ohne solchen und lief dann wieder zurück. Das
war nun gewiß kein schweres Leidenssymptom, aber es durfte doch
die Wißbegierde reizen. Die Aufklärung ergab sich auch auf die
unbedenklichste, einwandfreieste Weise unter Ausschluß jedes Bei-
trages von Seiten des Arztes. Ich weiß gar nicht, wie ich zu einer Ver-
mutung über den Sinn dieser Zwangshandlung, zu einem Vorschlag
ihrer Deutung hätte kommen können. So oft ich die Kranke gefragt
hatte: Warum tun Sie das? Was hat das für einen Sinn? — hatte sie
geantwortet: Ich weiß es nicht. Aber eines Tages, nachdem es mir
gelungen war, ein großes prinzipielles Bedenken bei ihr niederzu-
kämpfen, wurde sie plötzlich wissend und erzählte, was zur Zwangs-
handlung gehörte. Sie hatte vor mehr als zehn Jahren einen weit-
aus älteren Mann geheiratet, der sich in der Hochzeitsnacht impotent
erwies. Er war ungezählte Male in dieser Nacht aus seinem Zimmer
in ihres gelaufen, um den Versuch zu wiederholen, aber jedesmal er-
folglos. Am Morgen sagte er ärgerlich: Da muß man sich ja vor dem
Stubenmädchen schämen, wenn sie das Bett macht, ergriff eine Flasche
roter Tinte, die zufällig im Zimmer war, und goß ihren Inhalt aufs
Bettuch, aber nicht gerade auf eine Stelle, die ein Anrecht auf einen
solchen Fleck gehabt hätte. Ich verstand anfangs nicht, was diese
Erinnerung mit der fraglichen Zwangshandlung zu tun haben sollte,
da ich nur in dem wiederholten Aus-einem-Zimmer-in-das-andere-
Laufen eine Übereinstimmung fand und etwa noch im Auftreten des
Stubenmädchens. Da führte mich die Patientin zu dem Tisch im
zweiten Zimmer hin und ließ mich auf dessen Decke einen großen
Fleck entdecken. Sie erklärte auch, sie stelle sich so zum Tisch hin,
daß das zu ihr gerufene Mädchen den Fleck nicht übersehen könne.
Nun war an der intimen Beziehung zwischen jener Szene nach der
270 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Brautnacht und ihrer heutigen Zwangshandlung nicht mehr zu
zweifeln, aber auch noch allerlei daran zu lernen.
Vor allem wird es klar, daß sich die Patientin mit ihrem Mann
identifiziert; sie spieltihn ja, indem sie sein Laufen aus einem Zimmer
ins andere nachahmt. Dann müssen wir, um in der Gleichstellung
zu bleiben, wohl zugeben, daß sie das Bett und Bettuch durch den
Tisch und die Tischdecke ersetzt. Das schiene willkürlich, aber wir
sollen nicht ohne Nutzen Traumsymbolik studiert haben. Im Traum
wird gleichfalls sehr häufig ein Tisch gesehen, der aber als Bett zu
deuten ist. Tisch und Bett machen mitsammen die Ehe aus, da steht
dann leicht eines für das andere.
‘Der Beweis, daß die Zwangshandlung sinnreich ist, wäre bereits
erbracht; sie scheint eine Darstellung, Wiederholung jener bedeutungs-
vollen Szene zu sein. Aber wir sind nicht genötigt, bei diesem Schein
Halt zu machen; wenn wir die Beziehung zwischen den beiden ein-
gehender untersuchen, werden wir wahrscheinlich Aufschluß über
etwas Weitergehendes, über die Absicht der Zwangshandlung erhalten.
Der Kern derselben ist offenbar das Herbeirufen des Stubenmädchens,
dem sie den Fleck vor Augen führt, im Gegensatz zur Bemerkung
ihres Mannes: Da müßte man sich vor dem Mädchen schämen. Er
— dessen Rolle sie agiert — schämt sich also nicht vor dem Mäd-
ehen, der Fleck ist demnach an der richtigen Stelle. Wir sehen also,
sie hat die Szene nicht einfach wiederholt, sondern sie fortgesetzt
und dabei korrigiert, zum Richtigen gewendet. Damit korrigiert sie |
aber auch das andere, was in jener Nacht so peinlich war und jene
Auskunft mit der roten Tinte notwendig machte, die Impotenz. Die
Zwangshandlung sagt also: Nein, es ist nicht war, er hatte sich nicht
vor dem Stubenmädchen zu schämen, er war nicht impotent; sie
stellt diesen Wunsch nach Art eines 'Traumes in einer gegenwärtigen
Handlung als erfüllt dar, sie dient der Tendenz, den Mann über sein
damaliges Mißgeschick zu erheben.
' Dazu kommit alles andere, was ich ihnen von dieser Frau erzählen
könnte; richtiger gesagt: alles, was wir sonst von ihr wissen, weist
XVII. Der Sinn der Symptome 271
uns den Weg zu dieser Deutung der an sich unbegreiflichen Zwangs-
handlung. Die Frau lebt seit Jahren von ihrem Mann getrennt und
kämpft mit der Absicht, ihre Ehe gerichtlich scheiden zu lassen. Es
ist aber keine Rede, daß sie frei von ihm wäre; sie ist gezwungen,
ihm treu zu bleiben, sie zieht sich von aller Welt zurück, um nicht
in Versuchung zu geraten, sie entschuldigt und vergrößert sein Wesen
in ihrer Phantasie. Ja, das tiefste Geheimnis ihrer Krankheit ist, daß
sie durch diese ihren Mann vor übler Nachrede deckt, ihre örtliche
Trennung von ihm rechtfertigt und ihm ein behagliches Sonderleben
ermöglicht. So führt die Analyse einer harmlosen Zwangshandlung
auf geradem Wege zum innersten Kern eines Krankheitsfalles, ver-
rät uns aber gleichzeitig ein nicht unansehnliches Stück des Geheim-
nisses der Zwangsneurose überhaupt. Ich lasse Sie gern bei diesem
Beispiel verweilen, denn es vereinigt Bedingungen, die man billiger-
weise nicht von allen Fällen fordern wird. Die Deutung des Sym-
ptoms wurde hier von der Kranken mit einem Schlage gefunden
ohne Anleitung oder Einmengung des Analytikers, und sie erfolgte
durch die Beziehung auf ein Erlebnis, welches nicht, wie sonst, einer
vergessenen Kindheitsperiode angehört hatte, sondern im reifen Leben
der Kranken vorgefallen und unverlöscht in ihrer Erinnerung ge-
blieben war. Alle die Einwendungen, welche die Kritik sonst gegen
unsere Symptomdeutungen vorzubringen pflegt, gleiten von diesem
Einzelfalle ab. So gut können wir es freilich nicht immer haben.
Und noch eines! Ist es Ihnen nicht aufgefallen, wie uns diese un-
scheinbare Zwangshandlung in die Intimitäten der Patientin einge-
führt hat? Eine Frau hat nicht viel Intimeres zu erzählen als die
Geschichte ihrer Hochzeitsnacht, und daß wir gerade auf Intimitäten
des Geschlechtslebens gekommen sind, sollte das zufällig und ohne
weiteren Belang sein? Es könnte freilich die Folge der Auswahl sein,
die ich diesmal getroffen habe. Urteilen wir nicht zu rasch und
wenden wir uns dem zweiten Beispiel zu, welches von ganz anderer
Art ist, ein Muster einer häufig vorkommenden Gattung, nämlich
ein Schlafzeremoniell.
272 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Ein ı9jähriges, üppiges, begabtes Mädchen, das einzige Kind seiner
Eltern, denen es an Bildung und intellektueller Regsamkeit über-
legen ist, war als Kind wild und übermütig und hat sich im Laufe
der letzten Jahre ohne sichtbare äußere Einwirkung zu einer Ner-
vösen umgewandelt. Sie ist besonders gegen ihre Mutter sehr reiz-
bar, immer unzufrieden, deprimiert, neigt zur Unentschlossenheit
und zum Zweifel und macht endlich das Geständnis, daß sie auf
Plätzen und in größeren Straßen nicht mehr allein gehen kann. Wir
werden uns mit ihrem komplizierten Krankheitszustand, der zum
mindesten zwei Diagnosen erheischt, die einer Agoraphobie und einer
Zwangsneurose, nicht viel abgeben, sondern nur dabei verweilen, daß
dieses Mädchen auch ein Schlafzeremoniell entwickelt hat, unter
dem sie ihre Eltern leiden läßt. Man kann sagen, in gewissem Sinne
hat jeder Normale sein Schlafzeremoniell oder er hält auf die Her-
stellung von gewissen Bedingungen, deren Nichterfüllung ıhn am
Einschlafen stört; er hat den Übergang aus dem Wachleben in den
Schlafzustand in gewisse Formen gebracht, die er allabendlich in
gleicher Weise wiederholt. Aber alles, was der Gesunde an Schlaf-
bedingung fordert, läßt sich rationell verstehen, und wenn die äußeren
Umstände eine Änderung notwendig machen, so fügt er sich leicht
und ohne Zeitaufwand. Das pathologische Zeremoniell ist aber un-
nachgiebig, es weiß sich mit den größten Opfern durchzusetzen, es
deckt sich gleichfalls mit einer rationellen Begründung und scheint
sich bei oberflächlicher Betrachtung nur durch eine gewisse über-
triebene Sorgfalt vom Normalen zu entfernen. Sieht man aber näher
zu, so kann man bemerken, daß die Decke zu kurz ist, daß das Zere-
moniell Bestimmungen umfaßt, die weit über die rationelleBegründung
hinausgehen, und andere, die ihr direkt widersprechen. Unsere Pa-
tientin schützt als Motiv ihrer nächtlichen Vorsichten vor, daß sie
zum Schlafen Ruhe braucht und alle Quellen des Geräusches aus-
schließen muß. In dieser Absicht tut sie zweierlei: Die große Uhr
in ihrem Zimmer wird zum Stehen gebracht, alle anderen Uhren
aus dem Zimmer entfernt, nicht einmal ihre winzige Armbanduhr
XVII. Der Sinn der Symptome 273
wird im Nachtkästchen geduldet. Blumentöpfe und Vasen werden
auf dem Schreibtische so zusammengestellt, daß sie nicht zur Nacht-
zeit herunterfallen, zerbrechen und sie im Schlafe stören können.
Sie weiß, daß diese Maßregeln durch das Gebot der Ruhe nur eine
scheinbare Rechtfertigung finden können; die kleine Uhr würde
man nicht ticken hören, auch wenn sie auf dem Nachtkästchen liegen
bliebe, und wir haben alle die Erfahrung gemacht, daß das regel-
mäßige Ticken einer Pendeluhr niemals eine Schlafstörung macht,
sondern eher einschläfernd wirkt. Sie gibt auch zu, daß die Be-
fürchtung, Blumentöpfe und Vasen könnten, an ihrem Platze ge-
lassen, zur Nachtzeit von selbst herunterfallen und zerbrechen, jeder
Wahrscheinlichkeit entbehrt. Für andere Bestimmungen des Zere-
moniells wird die Anlehnung an das Ruhegebot fallen gelassen. Ja,
die Forderung, daß die Türe zwischen ihrem Zimmer und dem
Schlafzimmer der Eltern halb offen bleibe, deren Erfüllung sie da-
durch sichert, daß sie verschiedene Gegenstände in die geöffnete Türe
rückt, scheint im Gegenteil eine Quelle von störenden Geräuschen
zu aktivieren. Die wichtigsten Bestimmungen beziehen sich aber auf
das Bett selbst. Das Polster am Kopfende des Bettes darf die Holzwand
des Bettes nicht berühren. Das kleine Kopfpolsterchen darf auf diesem
großen Polster nicht anders liegen, als indem es eine Raute bildet;
ihren Kopf legt sie dann genau in den Längsdurchmesser der Raute.
Die Federdecke („Duchent“, wie wir in Österreich sagen) muß vor
dem Zudecken so geschüttelt werden, daß ihr Fußende ganz dick
wird, dann aber versäumt sie es nicht, diese Anhäufung durch Zer-
drücken wieder zu verteilen.
Lassen Sie mich die anderen, oft sehr kleinlichen Einzelheiten
dieses Zeremoniells übergehen; sie würden uns nichts Neues lehren
und zu weit von unseren Absichten abführen. Aber übersehen Sie
nicht, daß dies alles sich nicht so glatt vollzieht. Es ist immer die
Sorge dabei, daß nicht alles ordentlich gemacht worden ist; es muß
nachgeprüft, wiederholt werden, der Zweifel zeichnet bald die eine,
bald die andere der Sicherungen aus, und der Erfolg ist, daß ein bis
Freud, VII. 18
274 | Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
zwei Stunden hingebracht werden, während welcher das Mädchen
selbst nicht schlafen kann und die eingeschüchterten Eltern nicht
schlafen läßt.
Die Analyse dieser Quälereien ging nicht so einfach von statten
wie die der Zwangshandlung bei unserer früheren Patientin. Ich
mußte dem Mädchen Andeutungen geben und Vorschläge zur Deu-
tung machen, die von ihr jedesmal mit einem entschiedenen Nein
abgelehnt oder mit geringschätzigem Zweifel aufgenommen wurden.
Aber auf diese erste ablehnende Reaktion folgte eine Zeit, in welcher
sie sich selbst mit den ihr vorgelegten Möglichkeiten beschäftigte,
' Einfälle zu ihnen sammelte, Erinnerungen produzierte, Zusammen-
hänge herstellte, bis sie alle Deutungen aus eigener Arbeit ange-
nommen hatte. In dem Maße, als dies geschah, ließ sie auch in der
Ausführung der Zwangsmaßregeln nach, und noch vor Ende der Be-
handlung hatte sie auf das gesamte Zeremoniell verzichtet. Sie müssen
auch wissen, daß die analytische Arbeit, wie wir sie heute ausführen,
die konsequente Bearbeitung des einzelnen Symptoms, bis man mit
dessen Aufhellung zu Ende gekommen ist, geradezu ausschließt.
Man ist vielmehr genötigt, das eine Thema immer wieder zu ver-
lassen, und ist sicher, von anderen Zusammenhängen her von neuem
darauf zurückzukommen. Die Symptomdeutung, die ich Ihnen jetzt
mitteilen werde, ist also eine Synthese von Ergebnissen, deren För-
derung sich, von anderen Arbeiten unterbrochen, über die Zeit von
Wochen und Monaten erstreckt. |
Unsere Patientin lernt allmählich verstehen, daß sie die Uhr als
Symbol des weiblichen Genitales aus ihren Zurüstungen für die Nacht
verbannt hatte. Die Uhr, für die wir sonst auch andere Symboldeu-
tungen kennen, gelangt zu dieser genitalen Rolle durch ihre Be-
ziehung zu periodischen Vorgängen und gleichen Intervallen. Eine
Frau kann etwa von sich rühmen, ihre Menstruation benehme sich
so regelmäßig: wie ein Uhrwerk. Die Angst unserer Patientin rich-
tete sich aber besonders dagegen, durch das Ticken der Uhr im Schlaf
gestört zu werden. Das Ticken der Uhr ist dem Klopfen der Klitoris
XVII. Der Sinn der Symptome 275
bei sexueller Erregung gleichzusetzen. Durch diese ihr nun pein-
liche Empfindung war sie in der Tat wiederholt aus dem Schlafe ge-
weckt worden, und jetzt äußerte sich diese Erektionsangst in dem
Gebot, welches gehende Uhren zur Nachtzeit aus ihrer Nähe ent-
fernen hieß. Blumentöpfe und Vasen sind wie alle Gefäße gleichfalls
weibliche Symbole. Die Vorsicht, daß sie nicht zur Nachtzeit fallen
und zerbrechen, entbehrt also nicht eines guten Sinnes. Wir kennen
die vielverbreitete Sitte, daß bei Verlobungen ein Gefäß oder Teller
zerschlagen wird. Jeder der Anwesenden eignet sich ein Bruchstück
an, welches wir als Ablösung seiner Ansprüche an die Braut auf dem
Standpunkt einer Eheordnung vor der Monogamie auffassen dürfen.
Zu diesem Stück ihres Zeremoniells brachte das Mädchen auch eine
Erinnerung und mehrere Einfälle. Sie war einmal als Kind mit einem
Glas- oder Tongefäß hingefallen, hatte sich in die Finger geschnitten
und heftig geblutet. Als sie heranwuchs und von den Tatsachen des
Sexualverkehrs Kenntnis bekam, stellte sich die ängstliche Idee bei
ihr ein, sie werde in der Hochzeitsnacht nicht bluten und sich nicht
als Jungfrau erweisen. Ihre Vorsichten gegen das Zerbrechen der
Vasen bedeuten also eine Abweisung des ganzen Komplexes, der mit
der Virginität und dem Bluten beim ersten Verkehr zusammenhängt,
ebensowohl eine Abweisung der Angst zu bluten wie der entgegen-
gesetzten, nicht zu bluten. Mit der Geräuschverhütung, welcher sie
diese Maßnahmen unterordnete, hatten sie nur entfernt etwas zu tun.
Den zentralen Sinn ihres Zeremoniells erriet sie eines Tages, als
sie plötzlich die Vorschrift, das Polster dürfe die Bettwand nicht be-
rühren, verstand. Das Polster sei ihr immer ein Weib gewesen,
sagte sie, die aufrechte Holzwand ein Mann. Sie wollte also — auf
magische Weise, dürfen wir einschalten — Mann und Weib ausein-
anderhalten, das heißt die Eltern voneinander trennen, nicht zum ehe-
lichen Verkehr kommen lassen. Dasselbe Ziel hatte sie in früheren
Jahren vor der Einrichtung des Zeremoniells auf direktere Weise zu
erreichen gesucht. Sie hatte Angst simuliert oder eine vorhandene
Angstneigung dahin ausgebeutet, daß die Verbindungstüre zwischen
ı8*
276 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
dem Schlafzimmer der Eltern und dem Kinderzimmer nicht geschlossen
werden dürfe. Dies Gebot war ja noch in ihrem heutigen Zeremoniell
erhalten geblieben. Auf solche Art schaffte sie sich die Gelegenheit,
die Eltern zu belauschen, zog sich aber in der Ausnützung derselben
einmal eine durch Monate anhaltende Schlaflosigkeit zu. Nicht zu-
frieden mit solcher Störung der Eltern setzte sie es dann zeitweise
durch, daß sie im Ehebett selbst zwischen Vater und Mutter schlafen
durfte. „Polster“ und „Holzwand“ konnten dann wirklich nicht zu-
sammenkommen. Endlich, als sie schon so groß war, daß ihr Kör-
perliches nicht mehr bequem im Bette zwischen den Eltern Platz
finden konnte, erreichte sie es durch bewußte Simulation von Angst,
daß die Mutter den Schlafplatz mit ihr tauschte und ihr die eigene
Stelle neben dem Vater abtrat. Diese Situation war gewiß der Aus-
gang von Phantasien geworden, deren Nachwirkung man im Zere-
moniell verspürt. |
Wenn ein Polster ein Weib war, so hatte auch das Schütteln der
Federdecke, bis alle Federn unten waren und dort eine Anschwellung
hervorriefen, einen Sinn. Es hieß, das Weib schwanger machen;
aber sie versäumte es nicht, diese Schwangerschaft wieder wegzu-
streichen, denn sie hatte Jahre hindurch unter der Furcht gestanden,
der Verkehr der Eltern werde ein anderes Kind zur Folge haben und
ihr so eine Konkurrenz bescheren. Anderseits, wenn das große Polster
ein Weib, die Mutter, war, so konnte das kleine Kopfpölsterchen nur
die Tochter vorstellen. Warum mußte dieses Polster als Raute ge-
legt werden und ihr Kopf genau in der Mittellinie derselben kommen?
Sie ließ sich leicht daran erinnern, daß die Raute die an allen Mauern
wiederholte Rune des offenen weiblichen Genitales sei. Sie selbst
spielte dann den Mann, den Vater, und ersetzte durch ihren Kopf
das männliche Glied. (Vgl. Die Symbolik des Köpfens für Kastration.)
Wüste Dinge, werden Sie sagen, die da in dem Kopf des jung-
fräulichen Mädchens spuken sollen. Ich gebe es zu, aber vergessen
Sie nicht, ich habe diese Dinge nicht gemacht, sondern bloß gedeutet.
Solch ein Schlafzeremoniell ist auch etwas Sonderbares, und Sie werden
XVII. Der Sinn der Symptome 277
die Entsprechung zwischen dem Zeremoniell und den Phantasien,
die uns die Deutung ergibt, nicht verkennen dürfen. Wichtiger ist
mir aber, daß Sie bemerken, es habe sich da nicht eine einzige Phan-
tasieimZeremoniell niedergeschlagen, sondern eine Anzahlvonsolchen,
die allerdings irgendwo ihren Knotenpunkt haben. Auch daß die Vor-
schriften des Zeremoniells die sexuellen Wünsche bald positiv, bald
negativ wiedergeben, zum Teil der Vertretung und zum Teil der
Abwehr derselben dienen. |
Man könnte auch aus der Analyse dieses Zeremoniells mehr machen,
wenn man es in die richtige Verknüpfung mit den anderen Sym-
ptomen der Kranken brächte. Aber unser Weg führt uns nicht dahin.
Lassen sie sich die Andeutung genügen, daß dieses Mädchen einer
erotischen Bindung an den Vater verfallen ist, deren Anfänge in
frühe Kinderjahre zurückgehen. Vielleicht benimmt sie sich auch
darum so unfreundlich gegen ihre Mutter. Wir können auch nicht
übersehen, daß uns die Analyse dieses Symptoms wiederum auf das
Sexualleben der Kranken hingeführt hat. Vielleicht werden wir uns
darüber um so weniger verwundern, je öfter wir in den Sinn und
in die Absicht neurotischer Symptome Einsicht gewinnen.
So habe ich Ihnen denn an zwei ausgewählten Beispielen gezeigt, daß
die neurotischen Symptome einen Sinn haben wie die Fehlleistungen
und wie die Träume, und daß sie in intimer Beziehung zum Erleben
der Patienten stehen. Kann ich erwarten, daß Sie mir diesen über-
aus bedeutsamen Satz auf zwei Beispiele hin glauben? Nein. Aber
können Sie von mir verlangen, daß ich Ihnen soviel weitere Bei-
spiele erzähle, bis Sie sich für überzeugt erklären? Auch nicht, denn
bei der Ausführlichkeit, mit der ich den einzelnen Fall behandle,
müßte ich ein fünfstündiges Semestralkolleg der Erledigung dieses
einzelnen Punktes der Neurosenlehre widmen. Ich bescheide mich
also damit, Ihnen eine Probe für meine Behauptung gegeben zu
haben, und verweise Sie im übrigen auf die Mitteilungen in der
Literatur, auf die klassischen Symptomdeutungen im ersten Fall von
Breuer (Hysterie), auf die frappanten Aufhellungen ganz dunkler
278 V orlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Symptome bei der sogenannten Dementia praecox durch C. G.J ung
aus der Zeit, da dieser Forscher bloß Psychoanalytiker war und noch
nicht Prophet sein wollte, und auf alle die Arbeiten, die seither
unsere Zeitschriften gefüllt haben. Wir haben gerade an solchen
Untersuchungen keinen Mangel. Die Analyse, Deutung, Übersetzung
der neurotischen Symptome hat die Psychoanalytiker so angezogen,
daß sie zunächst die anderen Probleme der Neurotik dagegen ver-
nachlässigten.
Wer von Ihnen sich einer solchen Bemühung unterzieht, der wird
gewiß einen starken Eindruck von der Fülle des Beweismaterials
empfangen. Aber er wird auch auf eine Schwierigkeit stoßen. Der
Sinn eines Symptoms liegt, wie wir erfahren haben, in einer Be-
ziehung zum Erleben des Kranken. Je individueller das Symptom
ausgebildet ist, desto eher dürfen wir erwarten diesen Zusammen-
hang herzustellen. Die Aufgabe stellt sich dann geradezu, für eine
sinnlose Idee und eine zwecklose Handlung jene vergangene Situation
aufzufinden, in welcher die Idee gerechtfertigt und die Handlung
zweckentsprechend war. Die Zwangshandlung unserer Patientin,
die zum Tisch lief und dem Stubenmädchen schellte, ist direkt vor-
bildlich für diese Art von Symptomen. Aber es gibt, und zwar sehr
häufig, Symptome von ganz anderem Charakter. Man muß sie „ty-
pische“ Symptome der Krankheit nennen, sie sind in allen Fällen
ungefähr gleich, die individuellen Unterschiede verschwinden bei
ihnen oder schrumpfen wenigstens so zusammen, daß es schwer fällt,
sie mit dem individuellen Erleben der Kranken zusammenzubringen
und auf einzelne erlebte Situationen zu beziehen. Richten wir unseren
Blick wiederum auf die Zwangsneurose. Schon das Schlafzimmer-
zeremoniell unserer zweiten Patientin hat viel Typisches an sich,
dabei allerdings genug individuelle Züge, um die sozusagen histo-
rische Deutung zu ermöglichen. Aber alle diese Zwangskranken
haben die Neigung zu wiederholen, Verrichtungen zu rhythmieren
und von anderen zu isolieren. Die meisten von ihnen waschen zu
viel. Die Kranken, welche an Agoraphobie (Topophobie, Raumangst)
XVII. Der Sinn der Symptome 279
leiden, was wir nicht mehr zur Zwangsneurose rechnen, sondern als
Angsthysterie bezeichnen, wiederholen ın ihren Krankheitsbildern
oft in ermüdender Monotonie dieselben Züge, sie fürchten geschlossene
Räume, große offene Plätze, lange sich hinziehendeStraßen und Alleen.
Sie halten sich für geschützt, wenn Bekannte sie begleiten oder wenn ein
Wagen ihnen nachfährt usw. Auf diesem gleichartigen Untergrund
tragen aber doch die einzelnen Kranken ihre individuellen Bedingun-
gen, Launen, möchte mansagen, auf, dieeinanderindeneinzelnen Fällen
direkt widersprechen. Der eine scheut nur enge Straßen, der andere
nur weite, der eine kann nur gehen, wenn wenig, der andere, wenn
viele Menschen auf der Straße sind. Ebenso hat die Hysterie bei
allem Reichtum an individuellen Zügen einen Überfluß an gemein-
samen, typischen Symptomen, die einer leichten historischen Zurück-
führung zu widerstreben scheinen. Vergessen wir nicht, es sind ja
diese typischen Symptome, nach denen wir uns für die Stellung der
Diagnose orientieren. Haben wir nun wirklich in einem Falle von
Hysterie ein typisches Symptom auf ein Erlebnis oder auf eine Kette
von ähnlichen Erlebnissen zurückgeführt, z. B. ein hysterisches Er-
brechen auf eine Folge von Ekeleindrücken, so werden wir irre, wenn
uns die Analyse in einem anderen Fall von Erbrechen eine durchaus
andersartige Reihe von angeblich wirksamen Erlebnissen aufdeckt.
Es sieht dann bald so aus, als müßten die Hysterischen aus unbe-
kannten Gründen Erbrechen äußern, und die von der Analyse ge-
lieferten historischen Anlässe seien nur Vorwände, die von dieser
inneren Notwendigkeit verwendet werden, wenn sie sich zufällig er-
geben.
So kommen wir bald zur betrübenden Einsicht, daß wir zwar den
Sinn der individuellen neurotischen Symptome durch die Beziehung
zum Erleben befriedigend aufklären können, daß uns aber unsere
Kunst für die weit häufigeren typischen Symptome derselben im
Stiche läßt. Dazu kommt, daß ich Sie noch gar nicht mit allen
Schwierigkeiten vertraut gemacht habe, die sich bei der konsequenten
Verfolgung der historischen Symptomdeutung herausstellen. Ich will
280 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
es auch nicht tun, denn ich habe zwar die Absicht, Ihnen nichts zu
beschönigen oder zu verhehlen, aber ich darf Sie doch nicht zu Be-
ginn unserer gemeinsamen Studien ratlos machen und in Verwirrung
bringen. Es ist richtig, daß wir erst den Anfang zu einem Verständ-
nis der Symptombedeutung gemacht haben, aber wir wollen an dem
Gewonnenen festhalten und uns schrittweise zur Bewältigung des
noch Unverstandenen durchringen. Ich versuche es also, Sie mit der
Überlegung zu trösten, daß eine fundamentale Verschiedenheit zwi-
schen der einen und der anderen Art von Symptomen doch kaum
anzunehmen ist. Hängen die individuellen Symptome so unverkenn-
bar vom Erleben des Kranken ab, so bleibt für die typischen Sym-
ptome die Möglichkeit, daß sie auf ein Erleben zurückgehen, das an
sich typisch, allen Menschen gemeinsam ist. Andere in der Neurose
regelmäßig wiederkehrende Züge mögen allgemeine Reaktionen sein,
welche den Kranken durch die Natur der krankhaften Veränderung
aufgezwungen werden, wie das Wiederholen oder das Zweifeln der
Zwangsneurose. Kurz, wir haben keinen Grund zum vorzeitigen
Verzagen; wir werden ja sehen, was sich weiter ergibt.
Vor einer ganz ähnlichen Schwierigkeit stehen wir auch in der
Traumlehre. Ich konnte sie in unseren früheren Besprechungen über
den Traum nicht behandeln. Der manifeste Inhalt der Träume ist
ja ein höchst mannigfaltiger und individuell verschiedener, und wir
haben ausführlich gezeigt, was man aus diesem Inhalt durch die
Analyse gewinnt. Aber daneben gibt es Träume, die man gleichfalls
„typische“ heißt, die bei allen Menschen in gleicher Weise vor-
kommen, Träume von gleichförmigem Inhalt, welche der Deutung
dieselben Schwierigkeiten entgegensetzen. Es sind dies die Träume
vom Fallen, Fliegen, Schweben, Schwimmen, Gehemmitsein, vom
Nacktsein und andere gewisse Angstträume, die uns bald diese, bald
jene Deutung bei einzelnen Personen ergeben, ohne daß die Mono-
tonie und das typische Vorkommen derselben dabei seine Aufklärung
fände. Auch bei diesen Träumen beobachten wir aber, daß ein ge-
meinsamer Untergrund durch individuell wechselnde Zutaten belebt
XVII. Der Sinn der Symptome 281
wird, und wahrscheinlich werden auch sie sich in das Verständnis
des ’Traumlebens, das wir an den anderen Träumen gewonnen haben,
ohne Zwang, aber unter Erweiterung unserer Einsichten einfügen
lassen.
XVIII. VORLESUNG
DIE FIXIERUNG AN DAS TRAUMA,
DAS UNBEWUSSTE
Meine Damen und Herren! Ich sagte das letztemal, wir wollten
die Fortsetzung unserer Arbeit nicht an unsere Zweifel, sondern an
unsere Funde anknüpfen. Zwei der interessantesten Folgerungen,
die sich aus den zwei vorbildlichen Analysen ableiten, haben wir
überhaupt noch nicht ausgesprochen.
Fürs erste: Beide Patienten machen uns den Eindruck, als wären
sie an ein bestimmtes Stück ihrer Vergangenheit fixiert, verständen
nicht davon freizukommen, und seien deshalb der Gegenwart und
der Zukunft entfremdet. Sie stecken nun in ihrer Krankheit, wie
man sich in früheren Zeiten in ein Kloster zurückzuziehen pflegte,
um dort ein schweres Lebensschicksal auszutragen. Für unsere erste
Patientin istes die in Wirklichkeit aufgegebene Ehe mitihrem Manne,
die ihr dieses Verhängnis bereitet hat. Durch ihre Symptome setzt
sie den Prozeß mit ihrem Manne fort; wir haben jene Stimmen ver-
stehen gelernt, die für ihn plaidieren, die ihn entschuldigen, erhöhen,
seinen Verlust beklagen. Obwohl sie jung und für andere Männer
begehrenswert ist, hat sie alle realen und imaginären (magischen)
Vorsichten ergriffen, um ihm die Treue zu bewahren. Sie zeigt sich
nicht vor fremden Augen, vernachlässigt ihre Erscheinung, aber sie
vermag es auch nicht, so bald von einem Sessel aufzustehen, auf dem
sie gesessen ist, und sie verweigert es, ihren Namen zu unterschreiben,
XVIII. Die Fixierung an das Trauma, das Unbrwußte 283
kann keinem ein Geschenk machen, mit der Motivierung, es dürfe
niemand etwas von ihr haben. |
Bei unserer zweiten Patientin, dem jungen Mädchen, ist es eine
erotische Bindung an den Vater, welche sich in den Jahren vor der
Pubertät hergestellt hatte, die für ihr Leben dasselbe leistet. Sie hat
auch für sich den Schluß gezogen, daß sie nicht heiraten kann, solange
sie so krank ist. Wir dürfen vermuten, sie ist so krank geworden, um
nicht heiraten zu müssen und um beim Vater zu bleiben.
Wir dürfen die Frage nicht abweisen, wie, auf welchem Wege und
kraft welcher Motive kommt man in eine so merkwürdige und so
unvorteilhafte Einstellung zum Leben? Vorausgesetzt, daß dieses Ver-
halten ein allgemeiner Charakter der Neurose und nicht eine besondere
Eigentümlichkeit dieser zwei Kranken ist. Es ist aber in der Tat ein
allgemeiner, praktisch sehr bedeutsamer Zug einer jeden Neurose.
Die erste hysterische Patientin von Breuer war in ähnlicher Weise
an die Zeit fixiert, da sie ihren schwer erkrankten Vater pflegte. Sie
hat trotz ihrer Herstellung seither in gewisser Hinsicht mit dem
Leben abgeschlossen, sie ist zwar gesund und leistungsfähig geblieben,
ist aber dem normalen Frauenschicksal ausgewichen. Bei jedem
unserer Kranken können wir durch die Analyse ersehen, daß er sich
in seinen Krankheitssymptomen und durch die Folgerungen aus ihnen
in eine gewisse Periode seiner Vergangenheit zurückversetzt hat. In
der Überzahl der Fälle hat er sogar eine sehr frühe Lebensphase dazu
gewählt, eine Zeit seiner Kindheit, ja so lächerlich es klingen mag,
selbst seiner Säuglingsexistenz.
Die nächste Analogie zu diesem Verhalten unserer Nervösen bieten
Erkrankungen, wie sie gerade jetzt der Krieg in besonderer Häufig-
keit entstehen läßt, die sogenannten traumatischen Neurosen. Es hat
solche Fälle nach Eisenbahnzusammenstößen und anderen schreck-
haften Lebensgefahren natürlich auch vor dem Kriege gegeben. Die
traumatischen Neurosen sind im Grunde nicht dasselbe wie die spon-
tanen Neurosen, die wir analytisch zu untersuchen und zu behandeln
pflegen; es ist uns auch noch nicht gelungen, sie unseren Gesichts-
284 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
punkten zu unterwerfen, und ich hoffe, Ihnen einmal klarmachen
zu können, woran diese Einschränkung liegt. Aber in dem einen
Punkt dürfen wir eine völlige Übereinstimmung hervorheben. Die
traumatischen Neurosen geben deutliche Anzeichen dafür, daß ihnen
eine Fixierung an den Moment des traumatischen Unfalles zu Grunde
liegt. In ihren Träumen wiederholen diese Kranken regelmäßig die
traumatische Situation; wo hysteriforme Anfälle vorkommen, die eine
Analyse zulassen, erfährt man, daß der Anfall einer vollen Versetzung
in diese Situation entspricht. Es ist so, als ob diese Kranken mit der
traumatischen Situation nicht fertig geworden wären, als ob diese
noch als unbezwungene aktuelle Aufgabe vor ihnen stände, und wir
nehmen diese Auffassung in allem Ernst an; sie zeigt uns den Weg
zu einer, heißen wir es ökonomischen Betrachtung der seelischen
Vorgänge. Ja, der Ausdruck traumatisch hat keinen anderen als einen
solchen ökonomischen Sinn. Wir nennen so ein Erlebnis, welches
dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs
bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal-
gewohnter Weise mißglückt, woraus dauernde Störungen im Energie-
betrieb resultieren müssen.
Diese Analogie muß uns dazu verlocken, auch jene Erlebnisse, an
welche unsere Nervösen fixiert erscheinen, als traumatische zu be-
zeichnen. Auf solche Weise würde uns eine einfache Bedingung für
die neurotische Erkrankung verheißen werden. Die Neurose wäre
einer traumatischen Erkrankung gleichzusetzen und entstünde durch
die Unfähigkeit, ein überstark affektbetontes Erlebnis zu erledigen.
So lautete auch wirklich die erste Formel, in welcher Breuer und ich
1893/95 theoretische Rechenschaft von unseren neuen Beobachtungen
ablegten. Ein Fall wie der unserer ersten Patientin, der jungen, von
ihrem Mann getrennten Frau, unterwirft sich dieser Auffassung sehr
gut. Sie hat die Undurchführbarkeit ihrer Ehe nicht verwunden und
ist an diesem Trauma hängen geblieben. Aber schon unser zweiter
Fall, das an ihren Vater fixierte Mädchen, zeigt uns, daß die Formel
nicht umfassend genug ist. Einerseits ist eine solche Kleinmädchen-
XVIII. Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte 285
verliebtheit in den Vater etwas so Gewöhnliches und so häufig Über-
wundenes, daß die Bezeichnung „traumatisch“ allen Gehalt verlieren
würde, anderseits lehrt uns die Geschichte der Kranken, daß diese
erste erotische Fixierung zunächst anscheinend schadlos vorüberging
und erst mehrere Jahre später in den Symptomen der Zwangsneu-
rose wieder zum Vorschein kam. Wir sehen da also Komplikationen,
eine größere Reichhaltigkeit der Erkrankungsbedingungen voraus,
aber wir ahnen auch, der traumatische Gesichtspunkt wird nicht
etwa als irrig aufzugeben sein; er wird sich anderswo einfügen und
unterordnen müssen.
Wir brechen hier wieder den Weg ab, den wir eingeschlagen
haben. Er führt zunächst nicht weiter, und wir haben allerlei an-
deres zu erfahren, ehe wir seine richtige Fortsetzung finden können.
Bemerken wir noch zum Thema der Fixierung an eine bestimmte Phase
der Vergangenheit, daß ein solches Vorkommen weit über die Neurose
hinausgeht. Jede Neurose enthält eine solche Fixierung, aber nicht jede
Fixierung führt zur Neurose, fällt mit Neurose zusammen oder stellt sich
auf dem Wege der Neurose her. Ein Mustervorbild einer affektiven
Fixierung an etwas Vergangenes ist die Trauer, die selbst die vollste
Abwendung von Gegenwart und Zukunft mit sich bringt. Aber die
Trauer scheidet sich selbst für das Laienurteil scharf von der Neu-
rose. Dagegen gibt es Neurosen, die man als eine pathologische Form
der Trauer bezeichnen kann.
Es kommt auch vor, daß Menschen durch ein traumatisches, die
bisherigen Grundlagen ihres Lebens erschütterndes Ereignis so zum
Stillstand gebracht werden, daß sie jedes Interesse für Gegenwart
und Zukunft aufgeben und dauernd in der seelischen Beschäftigung
mit der Vergangenheit verharren, aber diese Unglücklichen brauchen
dabei nicht neurotisch zu werden. Wir wollen also diesen einen Zug
für die Charakteristik der Neurose nicht überschätzen, so regelmäßig
und so bedeutsam er sonst sein mag.
Nun aber zum zweiten Ergebnis unserer Analysen, für welches
wir eine nachträgliche Einschränkung nicht zu besorgen haben. Wir
286 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
haben von unserer ersten Patientin mitgeteilt, welche sinnlose Zwangs-
handlung sie ausführte und welche intime Lebenserinnerung sie als
dazugehörig erzählte, haben auch später das Verhältnis zwischen den
beiden untersucht und die Absicht der Zwangshandlung aus dieser
Beziehung zur Erinnerung erraten. Aber ein Moment haben wir
völlig beiseite gelassen, das unsere ganze Aufmerksamkeit verdient.
Solange die Patientin auch die Zwangshandlung wiederholte, wußte
sie nichts davon, daß sie mit ihr an jenes Erlebnis anknüpfte. Der
Zusammenhang zwischen den beiden war ihr verborgen; sie mußte
wahrheitsgemäß antworten, sie wisse nicht, unter welchen Antrieben
sie dies tue. Dann traf es sich unter dem Einflusse der Kurarbeit
plötzlich einmal, daß sie jenen Zusammenhang auffand und mitteilen
konnte. Aber noch immer wußte sie von der Absicht nichts, in deren
Dienst sie die Zwangshandlung ausführte, der Absicht, ein peinliches
Stück der Vergangenheit zu korrigieren und den von ihr geliebten
Mann auf ein höheres Niveau zu stellen. Es dauerte ziemlich lange
und kostete viel Mühe, bis sie begriffen und mir zugestanden hatte,
daß ein solches Motiv allein die treibende Kraft der Zwangshandlung
gewesen sein könnte.
Der Zusammenhang mit der Szene nach der verunglückten Hoch-
zeitsnacht und das zärtliche Motiv der Kranken ergeben mitsammen
das, was wir den „Sinn“ der Zwangshandlung genannt haben. Aber
dieser Sinn war ihr nach beiden Richtungen, dem „woher“ wie dem
„wozu“ unbekannt gewesen, während sie die Zwangshandlung aus-
führte. Es hatten also seelische Vorgänge in ihr gewirkt, dieZwangs-
handlung war eben deren Wirkung; sie hatte die Wirkung in nor-
maler seelischer Verfassung wahrgenommen, aber nichts von den
seelischen Vorbedingungen dieser Wirkung war zur Kenntnis ihres
Bewußtseins gekommen. Sie hatte sich ganz ebenso benommen, wie
ein Hypnotisierter, dem Bernheim den Auftrag erteilte, fünf Minuten
nach seinem Erwachen im Krankensaal einen Regenschirm aufzu-
spannen, der diesen Auftrag im Wachen ausführte, aber kein Motiv
für sein Tun anzugeben wußte. Einen solchen Sachverhalt haben
XVIII. Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte 287
wir im Auge, wenn wir von der Existenz unbewußter seelischer
Vorgänge reden. Wir dürfen alle Welt herausfordern, von diesem
Sachverhalt auf eine korrektere wissenschaftliche Art Rechenschaft
zu geben, und wollen dann gern auf die Annahme unbewußter see-
licher Vorgänge verzichten. Bis dahin werden wir aber an dieser
Annahme festhalten und wir müssen es mit resigniertem Achsel-
zucken als unbegreiflich abweisen, wenn uns jemand einwenden
will, das Unbewußte sei hier nichts im Sinne der Wissenschaft Reales,
ein Notbehelf, une fagon de parler. Etwas nicht Reales, von dem so
real greifbare Wirkungen ausgehen wie eine Zwangshandlung!
Im Grunde das nämliche treffen wir bei unserer zweiten Patientin
an. Sie hat ein Gebot geschaffen, das Polster dürfe die Bettwand
nicht berühren, und muß dieses Gebot befolgen, aber sie weiß nicht,
woher es stammt, was es bedeutet und welchen Motiven es seine
Macht verdankt. Ob sie es selbst als indifferent betrachtet oder sich
dagegen sträubt, dagegen wütet, sich vornimmt, es zu übertreten, ist
für seine Ausführung gleichgültig. Es muß befolgt werden, und sie
fragt sich vergeblich, warum. Man muß doch bekennen, in diesen
Symptomen der Zwangsneurose, diesen Vorstellungen und Impulsen,
die auftauchen, man weiß nicht woher, sich so resistent gegen alle
Einflüsse des sonst normalen Seelenlebens benehmen, den Kranken
selbst den Eindruck machen, als wären sie übergewaltige Gäste aus
einer fremden Welt, Unsterbliche, die sich in das Gewühl der Sterb-
lichen gemengt haben, ist wohl der deutlichste Hinweis auf einen
besonderen, vom übrigen abgeschlossenen Bezirk des Seelenlebens
gegeben. Von ihnen aus führt ein nicht zu verfehlender Weg zur
Überzeugung von der Existenz des Unbewußten in der Seele, und
gerade darum weiß die klinische Psychiatrie, die nur eine Bewußt-
seinspsychologie kennt, mit ihnen nichts anderes anzufangen, als daß
sie sie für die Anzeichen einer besonderen Degenerationsweise aus-
gibt. Natürlich sind die Zwangsvorstellungen und Zwangsimpulse
nicht selbst unbewußt, so wenig wie die Ausführung der Zwangs-
handlungen der bewußten Wahrnehmung entgeht. Sie wären nicht
288 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Symptome geworden, wenn sie nicht zum Bewußtsein durchge-
drungen wären. Aber die psychischen Vorbedingungen, die wir
durch die Analyse für sie erschließen, die Zusammenhänge, in welche
wir sie durch die Deutung einsetzen, sind unbewußte, wenigstens
so lange, bis wir sie dem Kranken durch die Arbeit der Analyse zu
bewußten gemacht haben.
Nun nehmen Sie hinzu, daß dieser bei unseren beiden Fällen fest-
gestellte Sachverhalt sich bei allen Symptomen aller neurotischen
Erkrankungen bestätigt, daß immer und überall der Sinn der Sym-
ptome dem Kranken unbekannt ist, daB die Analyse regelmäßig zeigt,
diese Symptome seien Abkömmlinge unbewußter Vorgänge, die sich
aber unter mannigfaltigen günstigen Bedingungen bewußt machen
lassen, so werden Sie verstehen, daß wir in der Psychoanalyse das
unbewußte Seelische nicht entbehren können und gewohnt sind,
mit ihm wie mit etwas sinnlich Greifbarem zu operieren. Sie werden
aber vielleicht auch begreifen, wie wenig urteilsfähig in dieser Frage
alle anderen sind, die das Unbewußte nur als Begriff kennen, die nie
analysiert, nie Träume gedeutet oder neurotische Symptome in Sinn
und Absicht umgesetzt haben. Um es für unsere Zwecke nochmals
auszusprechen: Die Möglichkeit, den neurotischen Symptomen durch
analytische Deutung einen Sinn zu geben, ist ein unerschütterlicher
Beweis für die Existenz — oder, wenn Sie so lieber wollen, für die
Notwendigkeit der Annahme — unbewußter seelischer Vorgänge.
Das ıst aber nicht alles. Dank einer zweiten Entdeckung von
Breuer, die mir sogar als die inhaltsreichere erscheint, und in welcher
er keine Genossen hat, erfahren wir von der Beziehung zwischen
dem Unbewußten und den neurotischen Symptomen noch mehr.
Nicht nur, daß der Sinn der Symptome regelmäßig unbewußt ist;
es besteht auch ein Verhältnis von Vertretung zwischen dieser Un-
bewußtheit und der Existenzmöglichkeit der Symptome. Sie werden
mich bald verstehen. Ich will mit Breuer folgendes behaupten:
Jedesmal, wenn wir auf ein Symptom stoßen, dürfen wir schließen,
es bestehen bei dem Kranken bestimmte unbewußte Vorgänge, die
XVIII. Die Fixierung an das Trauma, das Unhewußte 289
eben den Sinn des Symptoms enthalten. Aber es ist auch erforder-
lich, daß dieser Sinn unbewußt sei, damit das Symptom zustande
komme. Aus bewußten Vorgängen werden Symptome nicht gebildet;
sowie die betreffenden unbewußten bewußt geworden sind, muß das
Symptom verschwinden. Sie erkennen hier mit einem Male einen
Zugang zur Therapie, einen Weg, Symptome zum Verschwinden zu
bringen. Auf diesem Wege hat Breuer in. der Tat seine hysterische
Patientin hergestellt, daß heißt von ihren Symptomen befreit; er
fand eine Technik, ihr die unbewußten Vorgänge, die den Sinn des
Symptoms enthielten, zum Bewußtsein zu bringen, und die Sym-
ptome verschwanden.
Diese Entdeckung von Breuer war nicht das Ergebnis einer Spe-
kulation, sondern einer glücklichen, durch das Entgegenkommen des
Kranken ermöglichten Beobachtung. Sie sollen sich jetzt auch nicht
damit quälen wollen, sie durch Zurückführung auf etwas anderes,
bereits Bekanntes zu verstehen, sondern sollen eine neue fundamen-
tale Tatsache in ihr erkennen, mit deren Hilfe vieles andere erklär-
lich werden wird. Gestatten Sie mir darum, daß ich Ihnen dasselbe
in anderen Ausdrucksweisen wiederhole.
Die Symptombildung ist ein Ersatz für etwas anderes, was unter-
blieben ist. Gewisse seelische Vorgänge hätten sich normalerweise
so weit entwickeln sollen, daß das Bewußtsein Kunde von ihnen er-
hielte. Das ist nicht geschehen, und dafür ist aus den unterbrochenen,
irgendwie gestörten Vorgängen, die unbewußt bleiben mußten, das
Symptom hervorgegangen. Es ist also etwas wie eine Vertauschung
vorgefallen; wenn es gelingt, diese rückgängig zu machen, hat die
Therapie der neurotischen Symptome ihre Aufgabe gelöst.
Der Breuersche Fund ist noch heute die Grundlage der psycho-
analytischen Therapie. Der Satz, daß die Symptome verschwinden,
wenn man ihre unbewußten Vorbedingungen bewußt gemacht hat,
ist durch alle weitere Forschung bestätigt worden, obgleich man den
merkwürdigsten und unerwartetsten Komplikationen begegnet, wenn
man den Versuch seiner praktischen Durchführung unternimmt.
Freud, VII, 19
290 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Unsere Therapie wirkt dadurch, daß sie Unbewußtes in Bewußtes
verwandelt, und wirkt nur, insoweit sie in die Lage kommt, diese
Verwandlung durchzusetzen.
Nun rasch eine kleine Abschweifung, damit Sie nicht in die Ge-
fahr kommen, sich diese therapeutische Arbeit als zu leicht vorzu-
stellen. Nach unseren bisherigen Ausführungen wäre ja die Neurose
die Folge einer Art von Unwissenheit, des Nichtwissens um seelische
Vorgänge, von denen man wissen sollte. Das würde eine starke An-
näherung an bekannte sokratische Lehren sein, denen zufolge selbst
die Laster auf einer Unwissenheit beruhen. Nun wird es dem in der
Analyse erfahrenen Arzt in der Regel sehr leicht zu erraten, welche
seelische Regungen bei dem einzelnen Kranken unbewußt geblieben
sind. Es dürfte ihm also auch nicht schwer fallen, den Kranken her-
zustellen, indem er ihn durch Mitteilung seines Wissens von seiner
eigenen Unwissenheit befreit. Wenigstens der eine Anteil des unbe-
wußten Sinnes der Symptome wäre auf diese Weise leicht erledigt, vom
anderen, vom Zusammenhang der Symptome mit den Erlebnissen der
Kranken kann der Arzt freilich nicht viel erraten, denn er kennt
diese Erlebnisse nicht, er muß warten, bis der Kranke sie erinnert
und ihm erzählt. Aber auch dafür ließe sich in manchen Fällen ein
Ersatz finden. Man kann sich bei den Angehörigen des Kranken nach
dessen Erlebnissen erkundigen, und diese werden häufig in der Lage
sein, die traumatisch wirksamen unter ihnen zu erkennen, vielleicht
sogar solche Erlebnisse mitzuteilen, von denen der Kranke nichts
weiß, weil sie in sehr frühe Jahre seines Lebens gefallen sind. Durch
eine Vereinigung dieser beiden Verfahren hätte man also Aussicht,
der pathogenen Unwissenheit des Kranken in kurzer Zeit und mit
geringer Mühe abzuhelfen.
Ja, wenn das so ginge! Wir haben da Erfahrungen gemacht, auf
welche wir anfangs nicht vorbereitet waren. Wissen und Wissen ist
nicht dasselbe; es gibt verschiedene Arten von Wissen, die psycho-
logisch gar nicht gleichwertig sind. 2 y a fagots et fagots, heißt es
einmal bei Moliere. Das Wissen des Arztes ist nicht dasselbe wie
XVIII. Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte 291
das des Kranken und kann nicht dieselben Wirkungen äußern. Wenn
der Arzt sein Wissen durch Mitteilung auf den Kranken überträgt,
so hat dies keinen Erfolg. Nein, es wäre unrichtig, es so zu sagen.
Es hat nicht den Erfolg, die Symptome aufzuheben, sondern den
anderen, die Analyse in Gang zu bringen, wovon Äußerungen des
Widerspruches häufig die ersten Anzeichen sind. Der Kranke weißdann
etwas, was er bisher nicht gewußt hat, den Sinn seines Symptoms,
und er weiß ihn doch ebensowenig wie vorhin. Wir erfahren so,
es gibt mehr als eine Art von Unwissenheit. Es wird eine gewisse
Vertiefung unserer psychologischen Kenntnisse dazugehören, um uns
zu zeigen, worin die Unterschiede bestehen. Aber unser Satz, daß die
Symptome mit dem Wissen um ihren Sinn vergehen, bleibt darum
doch richtig. Es kommt nur dazu, daß das Wissen auf einer inneren
Veränderung im Kranken beruhen muß, wie sie nur durch eine
psychische Arbeit mit bestimmtem Ziel hervorgerufen werden kann.
Hier stehen wir vor Problemen, die sich uns bald zu einer Dynamik
der Symptombildung zusammenfassen werden.
Meine Herren! Ich muß jetzt die Frage aufwerfen, ist Ihnen das,
was ich Ihnen sage, nicht zu dunkel und kompliziert? Verwirre ich
Sie nicht dadurch, daß ich so oft zurücknehme und einschränke, Ge-
dankengänge anspinne und dann fallen lasse? Es sollte mir leid tun,
wenn es so wäre. Ich habe aber eine starke Abneigung gegen Ver-
einfachungen auf Kosten der Wahrheitstreue, habe nichts dagegen,
wenn Sie den vollen Eindruck von der Vielseitigkeit und Verwoben-
heit des Gegenstandes empfangen, und denke mir auch, es ist kein
Schaden dabei, wenn ich Ihnen zu jedem Punkte mehr sage, als Sie
augenblicklich verwerten können. Ich weiß doch, daß jeder Hörer
und Leser das ihm Dargebotene in Gedanken zurichtet, verkürzt,
vereinfacht und herauszieht, was er behalten möchte. Bis zu einem
gewissen Maß ist es wohl richtig, daß um so mehr übrig bleibt, je
reichlicher vorhanden war. Lassen Sie mich hoffen, daß Sie dasWesent-
liche an meinen Mitteilungen, das über den Sinn der Symptome, über
das Unbewußte und die Beziehung zwischen beiden, trotz alles Bei-
ı9*
292 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
werkes klar erfaßt haben. Sie haben wohl auch verstanden, daß unsere
weitere Bemühung nach zwei Richtungen gehen wird, erstens um
zu erfahren, wie Menschen erkranken, zur Lebenseinstellung der
Neurose gelangen können, was ein klinisches Problem ist, und zweitens,
wie sich aus den Bedingungen der Neurose die krankhaften Symptome
entwickeln, was ein Problem der seelischen Dynamik bleibt. Für die
beiden Probleme muß es auch irgendwo einen Treffpunkt geben.
Ich will auch heute nicht weiter gehen, aber da unsere Zeit noch
nicht um ist, gedenke ich, Ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen
Charakter unserer beiden Analysen zu lenken, dessen volle Würdi-
gung wiederum erst später erfolgen kann, auf die Erinnerungslücken
oder Amnesien. Sie haben gehört, daß man die Aufgabe der psycho-
analytischen Behandlung in die Formel fassen kann, alles pathogene
Unbewußte in Bewußtes umzusetzen. Nun werden Sie vielleicht er-
staunt sein zu erfahren, daß man diese Formel auch durch die andere
ersetzen kann, alle Erinnerungslücken der Kranken auszufüllen, seine
Amnesien aufzuheben. Das käme auf dasselbe hinaus. Den Amnesien
des Neurotikers wird also eine wichtige Beziehung zur Entstehung
seiner Symptome zugeschrieben. Wenn Sie aber den Fall unserer
' ersten Analyse in Betracht ziehen, werden Sie diese Einschätzung
der Amnesie nicht berechtigt finden. Die Kranke hat die Szene, an
welche ihre Zwangshandlung anknüpft, nicht vergessen, im Gegen-
teil in lebhafter Erinnerung bewahrt, und etwas anderes Vergessenes
ist bei der Entstehung dieses Symptoms auch nicht im Spiele. Minder
deutlich, aber doch im ganzen analog ist die Sachlage bei unserer
zweiten Patientin, dem Mädchen mit dem Zwangszeremoniell. Auch
sie hat das Benehmen ihrer früheren Jahre, die Tatsachen, daß sie
auf der Eröffnung der Türe zwischen dem Schlafzimmer der Eltern
und ihrem eigenen bestand, und daß sie die Mutter aus ihrer Stelle
im Ehebett vertrieb, eigentlich nicht vergessen; sie erinnert sich daran
sehr deutlich, wenn auch zögernd und ungern. Als auffällige können
wir nur betrachten, daß die erste Patientin, wenn sie ihre Zwangs-
handlung ungezählte Male ausführte, nicht ein Mal an deren Ähn-
XVIII. Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte 295
lichkeit mit dem Erlebnis nach der Hochzeitsnacht gemahnt wurde,
und daß sich diese Erinnerung auch nicht einstellte, als sie durch
direkte Fragen zur Nachforschung über die Motivierung der Zwangs-
handlung aufgefordert wurde. Dasselbe gilt für das Mädchen, bei
dem das Zeremoniell und seine Anlässe überdies auf die näm-
liche, allabendlich wiederholte Situation bezogen wird. In beiden
Fällen besteht keine eigentliche Amnesie, kein Erinnerungsausfall,
aber es ist ein Zusammenhang unterbrochen, der die Reproduktion,
das Wiederauftauchen in der Erinnerung, herbeiführen sollte. Eine
derartige Störung des Gedächtnisses reicht für die Zwangsneurose
hin, bei der Hysterie ist es anders. Diese letztere Neurose ist meist
durch ganz großartige Amnesien ausgezeichnet. In der Regel wird
man bei der Analyse jedes einzelnen hysterischen Symptoms auf eine
ganze Kette von Lebenseindrücken geleitet, die bei ihrer Wiederkehr
ausdrücklich als bisher vergessen bezeichnet werden. Diese Kette
reicht einerseits bis in die frühesten Lebensjahre zurück, so daß sich
die hysterische Amnesie als unmittelbare Fortsetzung der infantilen
Amnesie erkennen läßt, die uns Normalen die Anfänge unseres Seelen-
lebens verdeckt. Anderseits erfahren wir mit Erstaunen, daß auch
die jüngsten Erlebnisse der Kranken dem Vergessen verfallen sein
können, und daß insbesondere die Anlässe, bei denen die Krankheit
ausgebrochen oder verstärkt worden ist, von der Amnesie angenagt,
wenn nicht ganz verschlungen worden sind. Regelmäßig sind aus
dem Gesamtbild einer solchen rezenten Erinnerung wichtige Einzel-
heiten geschwunden oder durch Erinnerungsfälschungen ersetzt
worden. Ja es ereignet sich wiederum fast regelmäßig, daß erst kurz
vor dem Abschluß einer Analyse gewisse Erinnerungen an frisch Er-
lebtes auftauchen, die so lange zurückgehalten werden konnten und
fühlbare Lücken im Zusammenhange gelassen hatten. |
Solche Beeinträchtigungen des Erinnerungsvermögens sind, wie
gesagt, für die Hysterie charakteristisch, bei welcher ja auch als Sym-
ptome Zustände auftreten (die hysterischen Anfälle), die in der Er-
innerung keine Spur zu hinterlassen brauchen. Wenn es bei der
294 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Zwangsneurose anders ist, so mögen Sie daraus schließen, daß es sich
bei diesen Amnesien um einen psychologischen Charakter der hyste-
rischen Veränderung und nicht um einen allgemeinen Zug der Neu-
rosen überhaupt handelt. Die Bedeutung dieser Differenz wird durch
folgende Betrachtung eingeschränkt werden. Wir haben als den „Sinn“
eines Symptoms zweierlei zusammengefaßt, sein Woher und sein
Wohin oder Wozu, das heißt die Eindrücke und Erlebnisse, von denen
es ausgeht, und die Absichten, denen es dient. Das Woher eines Sym-
ptoms löst sich also in Eindrücke auf, die von außen gekommen sind,
die notwendigerweise einmal bewußt waren und seither durch Ver-
gessen unbewußt geworden sein mögen. Das Wozu des Symptoms,
seine Tendenz, ist aber jedesmal ein endopsychischer Vorgang, der mög-
licherweise zuerst bewußt geworden ist, aber ebensowohl niemals
bewußt war und von jeher im Unbewußten verblieben ist. Es ist
also nicht sehr wichtig, ob die Amnesie auch das Woher, die Erleb-
nisse, auf die sich das Symptom stützt, ergriffen hat, wie es bei der
Hysterie geschieht; das Wohin, die Tendenz des Symptoms, die von
Anfang an unbewußt gewesen sein kann, ist es, die die Abhängig-
keit desselben vom Unbewußten begründet, und zwar bei der Zwangs-
neurose nicht weniger fest als bei der Hysterie.
Mit dieser Hervorhebung des Unbewußten im Seelenleben haben
wir aber die bösesten Geister der Kritik gegen die Psychoanalyse
aufgerufen. Wundern Sie sich darüber nicht und glauben Sie auch
nicht, daß der Widerstand gegen uns nur an der begreiflichen
Schwierigkeit des Unbewußten oder an der relativen Unzugänglich-
keit der Erfahrungen gelegen ist, die es erweisen. Ich meine, er
kommt von tiefer her. Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigen-
liebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft
erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nichi
der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines
in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich
für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandri-
nische Wissenschaft ähnliches verkündet hatte. Die zweite dann, als
XVIII. Die Fixierung an das Trauma, das Unbewußte 295
die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des
Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tier-
reich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies.
Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluß von
Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste
Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfindlichste
Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige
psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will,
daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche
Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem,
Seelenleben vorgeht. Auch diese Mahnung zur Einkehr haben wir
Psychoanalytiker nicht zuerst und nicht als die einzigen vorgetragen,
aber es scheint uns beschieden, sie am eindringlichsten zu vertreten und
durch Erfahrungsmaterial, das jedem einzelnen nahegeht, zu erhärten.
Daher die allgemeine Auflehnung gegen unsere Wissenschaft, die
Versäumnis aller Rücksichten akademischer Urbanität und die Ent-
fesselung der Opposition von allen Zügeln unparteiischer Logik, und
dazu kommt noch, daß wir den Frieden dieser Welt noch auf andere
Weise stören mußten, wie Sie bald hören werden.
XIX. VORLESUNG
WIDERSTAND UND VERDRÄNGUNG
Meine Damen und Herren! Um im Verständnis der Neurosen wei-
ter zu kommen, bedürfen wir neuer Erfahrungen, und wir machen
deren zwei. Beide sehr merkwürdig und seinerzeit sehr überraschend.
Sie sind freilich auf beide durch unsere vorjährigen Besprechungen
vorbereitet. |
Erstens: Wenn wir es unternehmen, einen Kranken herzustellen,
von seinen Leidenssymptomen zu befreien, so setzt er uns einen hef-
tigen, zähen, über die ganze Dauer der Behandlung anhaltenden Wider-
stand entgegen. Das ist eine so sonderbare Tatsache, daß wir nicht
viel Glauben für sie erwarten dürfen. Den Angehörigen des Kranken
sagen wir am besten nichts davon, denn diese meinen nie etwas an-
deres, als es sei eine Ausrede von uns, um die lange Dauer oder den
Mißerfolg unserer Behandlung zu entschuldigen. Auch der Kranke
produziert alle Phänomene dieses Widerstandes, ohne ihn als solchen
zu erkennen, und es ist bereits ein großer Erfolg, wenn wir ihn da-
zu gebracht haben, sich in diese Auffassung zu finden und mit ihr zu
rechnen. Denken Sie doch, der Kranke, der unter seinen Symptomen
so leidet und seine Nächsten dabei mitleiden läßt, der so viele Opfer
an Zeit, Geld, Mühe und Selbstüberwindung auf sich nehmen will,
um von ihnen befreit zu werden, der sollte sich im Interesse seines
Krankseins gegen seinen Helfer sträuben. Wie unwahrscheinlich muß
diese Behauptung klingen! Und doch ist es so, und wenn man uns
XIX, Widerstand und Verdrängung 297
diese Unwahrscheinlichkeit vorhält, so brauchen wir nur zu ant-
worten, es sel nicht ohne seine Analogien, und jeder, der wegen un-
erträglicher Zahnschmerzen den Zahnarzt aufgesucht hat, sei diesem
wohl in den Arm gefallen, wenn er sich dem kranken Zahn mit der
Zange nähern wollte. | | |
Der Widerstand der Kranken ist sehr mannigfaltig, höchst raffiniert,
oft schwer zu erkennen, wechselt proteusartig die Form seiner Er-
scheinung. Es heißt für den Arzt mißtrauisch sein und auf seiner
Hut gegen ihn bleiben. Wir wenden ja in der psychoanalytischen
Therapie die Technik an, die Ihnen von der Traumdeutung her be-
kannt ist. Wir legen es dem Kranken auf, sich in einen Zustand von
ruhiger Selbstbeobachtung ohne Nachdenken zu versetzen und alles
mitzuteilen, waser dabei an inneren Wahrnehmungen machen kann:
Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, in der Reihenfolge, in der sie in
ihm auftauchen. Wir warnen ihn dabei ausdrücklich, irgendeinem
Motiv nachzugeben, welches eine Auswahl oder AusschlieBung unter
den Einfällen erzielen möchte, möge es lauten, das ist zu unange-
nehm oder zu indiskret, um es zu sagen, oder das ist zu unwich-
tig, es gehört nicht hierher, oder das ist unsinnig, braucht nicht
gesagt zu werden. Wir schärfen ihm ein, immer nur der Ober-
fläche seines Bewußtseins zu folgen, jede wie immer geartete Kritik
gegen das, was er findet, zu unterlassen, und vertrauen ihm an, daß
der Erfolg der Behandlung, vor allem aber die Dauer derselben von
der Gewissenhaftigkeit abhängt, mit der er diese technische Grund-
regel der Analyse befolgt. Wir wissen ja von der Technik der Traum-
deutung, daß gerade solche Einfälle, gegen welche sich die aufge-
zählten Bedenken und Einwendungen erheben, regelmäßig das Ma-
terial enthalten, welches zur Aufdeckung des Unbewußten hinführt.
Durch die Aufstellung dieser technischen Grundregel erreichen wir
zunächst, daß sie zum Angriffspunkt des Widerstandes wird. Der
Kranke sucht sich ihren Bestimmungen auf jede Art zu entwinden.
Bald behauptet er, es fiele ihm nichts ein, bald, es dränge sich ihm
so vieles auf, daß er nichts zu erfassen vermöge. Dann merken wir
298 | Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
mit mißvergnügtem Erstaunen, daß er bald dieser, bald jener kritischen
Einwendung nachgegeben hat; er verrät sich uns nämlich durch die
langen Pausen, die er in seinen Reden eintreten läßt. Er gesteht dann
zu, das könne er wirklich nicht sagen, er schäme sich, und läßt dieses
Motiv gegen sein Versprechen gelten. Oder es sei ihm etwas einge-
fallen, aber es betreffe eine andere Person als ihn selbst und sei dar-
um von der Mitteilung ausgenommen. Oder, was ihm jetzt einge-
fallen, sei wirklich zu unwichtig, zu dumm und zu unsinnig; ich
könne doch nicht gemeint haben, daß er auf solche Gedanken ein-
gehen solle, und so geht es in unübersehbaren Variationen weiter,
wogegen man zu erklären hat, daß alles sagen wirklich alles sagen be-
. deutet.
Man trifft kaum auf einen Kranken, der nicht den Versuch machte,
irgendein Gebiet für sich zu reservieren, um der Kur den Zutritt zu
demselben zu verwehren. Einer, den ich zu den Höchstintelligenten
zählen mußte, verschwieg so wochenlang eine intime Liebesbeziehung
und verteidigte sich, wegen der Verletzung der heiligen Regel zur
Rede gestellt, mit dem Argument, er habe geglaubt, diese eine Ge-
schichte sei seine Privatsache. Natürlich verträgt die analytische Kur
ein solches Asylrecht nicht. Man versuche es etwa in einer Stadt wie
Wien für einen Platz wie der Hohe Markt oder für die Stephanskirche
die Ausnahme zuzulassen, daß dort keine Verhaftungen stattfinden
dürfen, und mühe sich dann ab, einen bestimmten Missetäter einzu-
fangen. Er wird an keiner anderen Stelle als an dem Asyl zu finden
sein. Ich entschloß mich einmal, einem Mann, an dessen Leistungs-
fähigkeit objektiv viel gelegen war, ein solches Ausnahmsrecht zuzu-
gestehen, denn er stand unter einem Diensteid, der ihm verbot, von
bestimmten Dingen einem anderen Mitteilung zu machen. Er war
allerdings mit dem Erfolg zufrieden, aber ich nicht; ich setzte mir vor,
einen Versuch unter solchen Bedingungen nicht zu wiederholen.
Zwangsneurotiker verstehen es ausgezeichnet, die technische Regel
fast unbrauchbar zu machen, dadurch, daßsie ihre Übergewissenhaftig-
keit und ihren Zweifel auf sie einstellen. Angsthysteriker bringen es
XIX. Widerstand und Verdrängung 299 -
gelegentlich zustande, sie ad absurdum zu führen, indem sie nur Ein-
fälle produzieren, die so weit von dem Gesuchten entfernt sind, daß
sie der Analyse keinen Ertrag bringen. Aber ich beabsichtige nicht,
Siein die Behandlung dieser technischen Schwierigkeiten einzuführen.
Genug, es gelingt endlich, durch Entschiedenheit und Beharrung dem
Widerstand ein gewisses Ausmaß von Gehorsam gegen die technische
Grundregel abzuringen, und dann wirft er sich auf ein anderes Ge-
biet. Er tritt als intellektueller Widerstand auf, kämpft. mit Argu-
menten, bemächtigt sich der Schwierigkeiten und Unwahrscheinlich-
keiten, welche das normale, aber nicht unterrichtete Denken an den
analytischen Lehren findet. Wir bekommen dann alle Kritiken und
Einwendungen von dieser einzelnen Stimme zu hören, die uns in der
wissenschaftlichen Literatur als Chorus umbrausen. Daher uns auch
nichts unbekannt klingt, was man uns von draußen zuruft. Es ist ein
richtiger Sturm im Wasserglas. Doch der Patient läßt mit sich reden;
er will uns gern dazu bewegen, daß wir ihn unterrichten, belehren,
widerlegen, ihn zur Literatur führen, an welcher er sich weiterbilden
kann. Er ist gern bereit, ein Anhänger der Psychoanalyse zu werden,
unter der Bedingung, daß die Analyse ihn persönlich verschont. Aber
wir erkennen diese Wißbegierde als Widerstand, als Ablenkung von
unseren speziellen Aufgaben, und weisen sie ab. Bei dem Zwangs-
neurotiker haben wir eine besondere Taktik des Widerstandes zu er-
warten. Er läßt die Analyse oft ungehemmt ihren Weg machen, so
daß sie eine immer zunehmende Helligkeit über die Rätsel des Krank-
heitsfalles verbreiten kann, aber wir wundern uns endlich, daß dieser
Aufklärung kein praktischer Fortschritt, keine Abschwächung der
Symptome entspricht. Dann können wir entdecken, daß der Wider-
stand sich auf den Zweifel der Zwangsneurose zurückgezogen hat und
uns in dieser Position erfolgreich die Spitze bietet. Der Kranke hat
sich ungefähr gesagt: Das ist ja alles recht schön und interessant. Ich:
will es auch gern weiter verfolgen. Es würde meine Krankheit sehr
ändern, wenn es wahr wäre. Aber ich glaube ja gar nicht, daß es
wahr ist, und solange ich es nicht glaube, geht es meine Krankheit
300 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
nichts an. So kann es lange fortgehen, bis man endlich an diese reser-
vierte Stellung selbst herangekommen ist, und nun der entscheidende
Kampf losbricht.
Die intellektuellen Widerstände sind nicht die schlimmsten; man
bleibt ihnen immer überlegen. Aber der Patient versteht es auch,
indem er im Rahmen der Analyse bleibt, Widerstände herzustellen,
deren Überwindung zu den schwierigsten technischen Aufgaben ge-
hört. Anstatt sich zu erinnern, wiederholt er aus seinem Leben solche
Einstellungen und Gefühlsregungen, die sich mittels der sogenannten
„Übertragung“ zum Widerstand gegen Arzt und Kur verwenden
lassen. Er entnimmt dieses Material, wenn es ein Mann ist, in der
Regel seinem Verhältnis zum Vater ‚ an dessen Stelle er den Arzt
treten läßt, und macht somit Widerstände aus seinem Bestreben nach
Selbständigkeit der Person und des Urteiles, aus seinem Ehrgeiz, der
sein erstes Ziel darin fand, es dem Vater gleichzutun oder ihn zu über-
winden, aus seinem Unwillen, die Last der Dankbarkeit ein zweites
Mal'im Leben auf sich zu laden. Streckenweise empfängt man so den
Eindruck, als hätte beim Kranken die Absicht, den Arzt ins Unrecht
zu setzen, ihn seine Ohnmacht empfinden zu lassen, über ihn zu
triumphieren, die bessere Absicht, der Krankheit ein Ende zu machen,
völlig ersetzt. Die Frauen verstehen es meisterhaft, eine zärtliche,
erotisch betonte Übertragung auf den Arzt für die Zwecke des Wider-
standes auszubeuten. Bei einer gewissen Höhe dieser Zuneigung er-
lischt jedes Interesse für die aktuelle Situation der Kur, jede der Ver-
pflichtungen, die sie beim Eingehen in dieselbe auf sich genommen
hatten, und die nie ausbleibende Eifersucht sowie die Erbitterung
über die unvermeidliche, wenn auch schonend vorgebrachte Abwei-
sung müssen dazu dienen, das persönliche Einvernehmen mit dem
Arzt zu verderben und so eine der mächtigsten Triebkräfte der Ana-
lyse auszuschalten.
Die Widerstände dieser Art dürfen nicht einseitig verurteilt wer-
den. Sie enthalten so viel von dem wichtigsten Material aus der Ver-
gangenheit des Kranken und bringen es in so überzeugender Art
XIX. Widerstand und Verdrängung 301
wieder, daß sie zu den besten Stützen der Analyse werden, wenn
eine geschickte Technik es versteht, ihnen die richtige Wendung zu
geben. Es bleibt nur bemerkenswert, daß dieses Material zunächst
immer im Dienste des Widerstandes steht und seine der Behandlung
feindselige Fassade voranstellt. Man kann auch sagen, es seien Cha-
raktereigenschaften, Einstellungen des Ichs, welche zur Bekämpfung
der angestrebten Veränderungen mobil gemacht werden. Man erfährt
dabei, wie diese Charaktereigenschaften im Zusammenhang mit den
Bedingungen der Neurose und in der Reaktion gegen deren Ansprüche
gebildet worden sind, und erkennt Züge dieses Charakters, die sonst
nicht, oder nicht in diesem Ausmaße, hervortreten können, die man
als latent bezeichnen kann. Sie sollen auch nicht den Eindruck ge-
winnen, als erblickten wir in dem Auftreten dieser Widerstände eine
unvorhergesehene Gefährdung der analytischen Beeinflussung. Nein,
wir wissen, daß diese Widerstände zum Vorschein kommen müssen;
wir sind nur unzufrieden, wenn wir sie nicht deutlich genug her-
vorrufen und dem Kranken nicht klarmachen können. Ja, wir ver-
stehen endlich, daß die Überwindung dieser Widerstände die wesent-
liche Leistung der Analyse und jenes Stück der Arbeit ist, welches
uns allein zusichert, daß wir etwas beim Kranken zustande gebracht
haben.
Nehmen Sie noch hinzu, daß der Kranke alle Zufälligkeiten, die
sich während der Behandlung ergeben, im Sinne einer Störung aus-
nützt, jedes ablenkende Ereignis außerhalb, jede Äußerung einer der
Analyse feindseligen Autorität in seinem Kreise, eine zufällige oder
die Neurose komplizierende organische Erkrankung, ja daß er selbst
jede Besserung seines Zustandes als Motiv für ein Nachlassen seiner
Bemühung verwendet, so haben Sie ein ungefähres, noch immer
nicht vollständiges Bild der Formen und der Mittel des Widerstandes
gewonnen, unter dessen Bekämpfung jede Analyse verläuft. Ich habe
diesem Punkt eine so ausführliche Behandlung geschenkt, weil ich
Ihnen mitzuteilen habe, daß diese unsere Erfahrung mit dem Wider-
stande der Neurotiker gegen die Beseitigung ıhrer Symptome die
302 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Grundlage unserer dynamischen Auffassung der Neurosen geworden
ist. Breuer und ich selbst haben ursprünglich die Psychotherapie
mit dem Mittel der Hypnose betrieben; Breuers erste Patientin ist
durchwegs im Zustande hypnotischer Beeinflussung behandelt wor-
_ den; ich bin ihm zunächst darin gefolgt. Ich gestehe, die Arbeit ging
damals leichter und angenehmer, auch in viel kürzerer Zeit, vor sich.
Die Erfolge aber waren launenhaft und nicht andauernd; darum ließ
ich endlich die Hypnose fallen. Und dann verstand ich, daß eine Ein-
sicht in die Dynamik dieser Affektionen nicht möglich gewesen war,
solange man sich der Hypnose bedient hatte. Dieser Zustand wußte
gerade die Existenz des Widerstandes der Wahrnehmung des Arztes
zu entziehen. Er schob ihn zurück, machte ein gewisses Gebiet für
die analytische Arbeit frei und staute ihn an den Grenzen dieses Ge-
bietes so auf, daß er undurchdringlich wurde, ähnlich wie es der
Zweifel bei der Zwangsneurose tut. Darum durfte ich auch sagen,
die eigentliche Psychoanalyse hat mit dem Verzicht auf die Hilfe der
Hypnose eingesetzt.
Wenn aber die Konstatierung des Widerstandes so bedeutsam ge-
' worden ist, so dürfen wir wohl einem vorsichtigen Zweifel Raum
geben, ob wir nicht allzu leichtfertig in der Annahme von Wider-
ständen sind. Vielleicht gibt es wirklich neurotische Fälle, in denen
die Assoziationen sich aus anderen Gründen versagen, vielleicht ver-
dienen die Argumente gegen unsere Voraussetzungen wirklich eine
inhaltliche Würdigung und wir tun Unrecht daran, die intellektuelle
Kritik der Analysierten so bequem als Widerstand beiseite zu schieben.
Ja, meine Herren, wir sind aber nicht leichthin zu diesem Urteil ge-
kommen. Wir haben Gelegenheit gehabt, jeden solchen kritischen
Patienten bei dem Auftauchen und nach dem Schwinden eines Wider-
standes zu beobachten. Der Widerstand wechselt nämlich im Laufe
einer Behandlung beständig seine Intensität; er steigt immer an, wenn
man sich einem neuen Thema nähert, ist am stärksten auf der Höhe
der Bearbeitung desselben und sinkt mit der Erledigung des Themas
wieder zusammen. Wir haben es auch niemals, wenn wir nicht be-
XIX. Widerstand und Verdrängung 303
sondere technische Ungeschicklichkeiten begangen haben, mit dem
vollen Ausmaß des Widerstandes, den ein Patient leisten kann, zu
tun. Wir konnten uns also überzeugen, daß derselbe Mann unge-
zählte Male im Laufe der Analyse seine kritische Einstellung weg-
wirft und wieder aufnimmt. Stehen wir davor, ein neues und ihm
besonders peinliches Stück des unbewußten Materials zum Bewußt-
sein zu fördern, so ist er aufs äußerste kritisch; hatte er früher vieles
verstanden und angenommen, so sind diese Erwerbungen jetzt wie
weggewischt; er kann in seinem Bestreben nach Opposition um jeden
Preis völlig das Bild eines affektiv Schwachsinnigen ergeben. Ist es
gelungen, ihm zur Überwindung dieses neuen Widerstandes zu ver-
helfen, so bekommt er seine Einsicht und sein Verständnis wieder.
Seine Kritik ist also keine selbständige, als solche zu respektierende
Funktion, sie ıst der Handlanger seiner affektiven Einstellungen und
wird von seinem Widerstand dirigiert. Ist ihm etwas nicht recht,
so kann er sich sehr scharfsinnig dagegen wehren und sehr kritisch
erscheinen; paßt ihm aber etwas in seinen Kram, so kann er sich da-
gegen sehr leichtgläubig zeigen. Vielleicht sind wir alle nicht viel
anders; der Analysierte zeigt diese Abhängigkeit des Intellekts vom
Affektleben nur darum so deutlich, weil wir ihn in der Analyse in
so große Bedrängnis bringen. |
Auf welche Weise tragen wir nun der Beobachtung Rechnung,
daß sich der Kranke so energisch gegen die Abstellung seiner Sym-
ptome und die Herstellung eines normalen Ablaufes in seinen seeli-
schen Vorgängen wehrt? Wir sagen uns, wir haben da starke Kräfte
zu spüren bekommen, die sich einer Veränderung des Zustandes
widersetzen; es müssen dieselben sein, die seinerzeit diesen Zustand
erzwungen haben. Es muß bei der Symptombildung etwas vor sich
gegangen sein, was wir nun aus unseren Erfahrungen bei der Sym-
ptomlösung rekonstruieren können. Wir wissen schon aus der Breuer-
schen Beobachtung, die Existenz des Symptoms hat zur Voraussetzung,
daß irgendein seelischer Vorgang nicht in normaler Weise zu Ende
geführt wurde, so daß er bewußt werden konnte. Das Symptom ist
304 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
ein Ersatz für das, was da unterblieben ist. Nun wissen wir, an welche
Stelle wir die vermutete Kraftwirkung zu versetzen haben. Es muß
sich ein heftiges Sträuben dagegen erhoben haben, daß der fragliche
seelische Vorgang bis zum Bewußtsein vordringe; er blieb darum un-
bewußt. Als Unbewußtes hatte er die Macht, ein Symptom zu bilden.
Dasselbe Sträuben widersetzt sich während der analytischen Kur dem
Bemühen, das Unbewußte ins Bewußte überzuführen, von neuem.
Dies verspüren wır als Widerstand. Der pathogene Vorgang, der uns
durch den Widerstand erwiesen wird, soll den Namen Verdrängung
erhalten.
Über diesen Prozeß der Verdrängung müssen wir uns nun bestimm-
tere Vorstellungen machen. Er ist die Vorbedingung der Symptom-
bildung, aber er ist auch etwas, wozu wir nichts Ähnliches kennen.
Nehmen wir einen Impuls, einen seelischen Vorgang mit dem Be-
streben, sich in eine Handlung umzusetzen, als Vorbild, so wissen
wir, daß er einer Abweisung unterliegen kann, die wir Verwerfung
oder Verurteilung heißen. Dabei wird ihm die Energie, über die er
verfügt, entzogen, er wird machtlos, aber er kann als Erinnerung
bestehen bleiben. Der ganze Vorgang der Entscheidung über ihn läuft
unter dem Wissen des Ichs ab. Ganz anders, wenn wir uns denken,
daß derselbe Impuls der Verdrängung unterworfen würde. Dann be-
hielte er seine Energie und es würde keine Erinnerung an ihn übrig
bleiben; auch würde sich der Vorgang der Verdrängung vom Ich
unbemerkt vollziehen. Durch diese Vergleichung kommen wir dem
Wesen der Verdrängung also nicht näher.
Ich will Ihnen auseinandersetzen, welche theoretischen Vorstel-
lungen sich allein brauchbar erwiesen haben, um den Begriff der
Verdrängung an eine bestimmtere Gestalt zu binden. Es ist vor allem
dazu notwendig, daß wir von dem rein deskriptiven Sinn des Wortes
„unbewußt“ zum systematischen Sinn desselben Wortes fortschreiten,
das heißt wir entschließen uns zu sagen, die Bewußtheit oder Un-
bewußtheit eines psychischen Vorganges ist nur eine der Eigenschaften
desselben und nicht notwendig eine unzweideutige. Wenn ein solcher
XIX. Widerstand und Verdrängung 305
Vorgang unbewußt geblieben ist, so ist diese Abhaltung vom Bewußt-
sein vielleicht nur ein Anzeichen des Schicksals, das er erfahren hat,
und nicht dieses Schicksal selbst. Um uns dieses Schicksal zu versinn-
lichen, nehmen wir an, daß jeder seelische Vorgang — .es-muß da
eine später zu erwähnende Ausnahme zugegeben werden — zuerst
in einem unbewußten Stadium oder Phase existiert und erst aus die-
sem in die bewußte Phase übergeht, etwa wie ein photographisches
Bild zuerst ein Negativ ist und dann durch den Positivprozeß zum
Bild wird. Nun muß aber nicht aus jedem Negativ ein Positiv wer-
den, und ebensowenig ist es notwendig, daß jeder unbewußte Seelen-
vorgang sich in einen bewußten umwandle. Wir drücken uns mit
Vorteil so aus, der einzelne Vorgang gehöre zuerst dem psychischen
System des Unbewußten an und könne dann unter Umständen in
das System des Bewußten übertreten. |
Die roheste Vorstellung.von diesen Systemen ist die für uns be-
quemste; es ist die räumliche. Wir ‚setzen also das System des Un-
bewußten einem großen Vorraum gleich, in dem sich die seelischen
Peegungen wie Einzelwesen tummeln. An diesen Vorraum schließe
sich ein zweiter, engerer, eine Art Salon, in welchem auch das Bewußt-
sein verweilt. Aber an der Schwelle zwischen beiden Räumlichkeiten
walte ein Wächter seines Amtes, der die einzelnen Seelenregungen
mustert, zensuriert und sie nicht in den Salon einläßt, wenn sie sein
Mißfallen erregen. Sie sehen sofort ein, daß es nicht viel Unterschied
macht, ob der Wächter eine einzelne Regung bereits von der Schwelle
abweist, oder ob er sie wieder über sie hinausweist, nachdem sie in
den Salon eingetreten ist. Es handelt sich dabei nur um den Grad
seiner Wachsamkeit und um sein frühzeitiges Erkennen. Das Fest-
halten an diesem Bilde gestattet uns nun eine weitere Ausbildung
unserer Nomenklatur. Die Regungen im Vorraum des Unbewußten
sind dem Blick des Bewußtseins, das sich ja im anderen Raum befin-
det, entzogen; sie müssen zunächst unbewußt bleiben. Wenn sie sich
bereits zur Schwelle vorgedrängt haben und vom Wächter zurück-
gewiesen worden sind, dann sind sie bewußtseinsuntähig; wir heißen
Freud, VL. 20
306 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
sie verdrängt. Aber auch die Regungen, welche der Wächter über
die Schwelle gelassen, sind darum nicht notwendig auch bewußt ge-
worden; sie können es bloß werden, wenn es ihnen gelingt, die Blicke
des Bewußtseins auf sich zu ziehen. Wir heißen darum diesen zweiten
Raum mit gutem Recht das System des Vorbewußten. Das Bewußt-
werden behält dann seinen rein deskriptiven Sinn. Das Schicksal der
Verdrängung besteht aber für eine einzelne Regung darin, daß sie
vom Wächter nicht aus dem System des Unbewußten in das des
Vorbewußten eingelassen wird. Es ist derselbe Wächter, den wir als
Widerstand kennen lernen, wenn wir durch die analytische Behand-
lung die Verdrängung aufzuheben versuchen.
Nun weiß ich ja, Sie werden sagen, diese Vorstellungen sind ebenso
roh wie phantastisch und in einer wissenschaftlichen Darstellung gar
nicht zulässig. Ich weiß, daß sie roh sind; ja noch mehr, wir wissen
auch, daß sie unrichtig sind, und wenn wir nicht sehr irren, so haben
wir bereits einen besseren Ersatz für sie bereit. Ob sie Ihnen dann
auch noch so phantastisch erscheinen werden, weiß ich nicht. Vor-
läufig sind es Hilfsvorstellungen wie die vom Ampereschen Männ-
chen, das im elektrischen Stromkreis schwimmt, und nicht zu ver-
achten, insofern sie für das Verständnis der Beobachtungen brauchbar
sind. Ich möchte Ihnen versichern, daß diese rohen Annahmen von
den zwei Räumlichkeiten, dem Wächter an der Schwelle zwischen
beiden und dem Bewußtsein als Zuschauer am Ende des zweiten
Saales doch sehr weitgehende Annäherungen an den wirklichen Sach-
verhalt bedeuten müssen. Ich möchte auch von Ihnen das Zugeständnis
hören, daß unsere Bezeichnungen: unbewußt, vorbewußt, be-
wußt weit weniger präjudizieren und leichter zu rechtfertigen sind
als andere, die in Vorschlag; oder in Gebrauch gekommen sind, wie:
unterbewußt, nebenbewußt, binnenbewußt und dergleichen.
Bedeutsamer wird es mir darum sein, wenn Sie mich daran mah-
nen, daß eine solche Einrichtung des seelischen Apparates, wie ich sie
hier zugunsten der Erklärung neurotischer Symptome angenommen
habe, nur eine allgemein gültige sein und also auch über die normale
XIX. Widerstand und Verdrängung. 307
Funktion Auskunft geben müßte. Darın haben Sie natürlich recht.
Wir können dieser Folgerung jetzt nicht nachgehen, aber unser In-
teresse für die Psychologie der Symptombildung muß eine außer-
ordentliche Steigerung erfahren, wenn die Aussicht besteht, durch
das Studium pathologischer Verhältnisse Aufschluß über das so gut
verhüllte normale seelische Geschehen zu bekommen.
Erkennen Sie übrigens nicht, worauf sich unsere Aufstellungen
von den beiden Systemen, dem Verhältnis zwischen ihnen und zum
Bewußtsein stützen? Der Wächter zwischen dem Unbewußten und
dem Vorbewußten ist doch nichts anderes als die Zensur, der wir die
Gestaltung des manifesten 'Traumes unterworfen fanden. Die Tages-
reste, in denen wir die Anreger des Traumes erkannten, waren vor-
bewußtes Material, welches zur Nachtzeit im Schlafzustande den Ein-
fluß unbewußter und verdrängter Wunschregungen erfahren hatteund
in Gemeinschaft mit ihnen, dank ihrer Energie, den latenten Traum
hatte bilden können. Unter der Herrschaft des unbewußten Systems
hatte dieses Material eine Verarbeitung gefunden — die Verdichtung
und Verschiebung —, wie sie im normalen Seelenleben, das heißt im
vorbewußten System, unbekannt oder nur ausnahmsweise zulässig
ist. Diese Verschiedenheit der Arbeitsweisen wurde uns zur Charak-
teristik der beiden Systeme; das Verhältnis zum Bewußtsein, welches
dem Vorbewußten anhängt, galt uns nur als Zeichen der Zugehörig-
keit zu einem der beiden Systeme. Der Traum ist eben kein patho-
logisches Phänomen mehr; er kann bei allen Gesunden unter den
Bedingungen des Schlafzustandes auftreten. Jene Annahme über die
Struktur des seelischen Apparates, welche uns in einem die Bildung
des Traumes und die der neurotischen Symptome verstehen läßt, hat
einen unabweisbaren Anspruch darauf, auch für das normale Seelen-
leben in Betracht gezogen zu werden.
Soviel wollen wir jetzt von der Verdrängung sagen. Sie ist aber
nur die Vorbedingung für die Symptombildung. Wir wissen, das
Symptom ist ein Ersatz für etwas, was durch die Verdrängung ver-
hindert wurde. Aber von der Verdrängung bis zum Verständnis dieser
20*
308 Vorlesungen zur Einfihrung in die Psychoanalyse
Ersatzbildung ist noch ein weiter Weg. Auf der anderen Seite des
Problems erheben sich im Anschluß an die Konstatierung der Ver-
drängung die Fragen: Welche Art von seelischen Regungen unter-
liegt der Verdrängung, von welchen Kräften wird sie durchgesetzt,
aus welchen Motiven? Dazu ist uns bisher nur eines gegeben. Wir
haben bei der Untersuchung des Widerstandes gehört, daß er von
Kräften des Ichs ausgeht, von bekannten und latenten Charakter-
eigenschaften. Diese sind es also auch, die die Verdrängung besorgt
haben, oder sie sind wenigstens an ihr beteiligt gewesen. Alles weitere
ist uns noch unbekannt.
Da hilft uns nun die zweite Erfahrung, die ich angekündigt hatte,
weiter. Wir können aus der Analyse ganz allgemein angeben, was die
Absicht der neurotischen Symptome ist. Auch das wird Ihnen nichts
Neues sein. Ich habe es Ihnen an zwei Fällen von Neurose schon ge-
zeigt. Aber freilich, was bedeuten zwei Fälle? Sie haben das Recht
zu verlangen, daB es Ihnen zweihundertmal, ungezählte Male gezeigt
werde. Nur das eine, daß ich dies nicht kann. Da muß wieder die
eigene Erfahrung dafür eintreten oder der Glaube, der sich in diesem
Punkt auf die übereinstimmende Angabe aller Psychoanalytiker be-
rufen kann. | | |
Sie erinnern sich daran, daß in den zwei Fällen, deren Symptome
wir einer eingehenden Untersuchung unterzogen, die Analyse uns in
das Intimste des Sexuallebens dieser Kranken einweihte. Im ersten
Falle haben wir außerdem die Absicht oder Tendenz des untersuchten
Symptoms besonders deutlich erkannt; vielleicht war sie im zweiten
Falle durch ein später zu erwähnendes Moment etwas verdeckt. Nun,
dasselbe, was wir an diesen beiden Beispielen gesehen haben, würden
uns alle anderen Fälle zeigen, welche wir der Analyse unterziehen.
Jedesmal würden wir durch die Analyse in die sexuellen Erlebnisse
und Wünsche des Kranken eingeführt werden, und jedesmal müßten
wir feststellen, daß ihre Symptome der gleichen Absicht dienen. Als
diese Absicht gibt sich uns die Befriedigung sexueller Wünsche zu
erkennen; die Symptome dienen der Sexualbefriedigung der Kran-
XIX. Widerstand und Verdrängung 309
ken, sie sind ein Ersatz für solche Befriedigung, die sie im Leben
entbehren. |
Denken Sie an die Zwangshandlung, unserer ersten Patientin. Die
Frau entbehrt ihren intensiv geliebten Mann, mit dem sie wegen
seiner Mängel und Schwächen das Leben nicht teilen kann. Sie muß
-ihm treu bleiben, sie kann keinen anderen an seine Stelle setzen. Ihr
Zwangssymptom gibt ihr, wonach sie sich sehnt, erhöht ihren Mann,
verleugnet, korrigiert seine Schwächen, vor allem seine Impotenz.
Dieses Symptom ist im Grunde eine Wunscherfüllung, ganz wie ein
Traum, und zwar, was der Traum nicht jedesmal ist, eine erotische
Wunscherfüllung. Bei unserer zweiten Patientin konnten Sie wenig-
stens entnehmen, daß ihr Zeremoniell den Verkehr der Eltern ver-
hindern oder hintanhalten will, daß aus demselben ein neues Kind
hervorgehe. Sie haben wohl auch erraten, daß es im Grunde dahin
strebt, sie selbst an die Stelle der Mutter zu setzen: Also wiederum
Beseitigung von Störungen in der Sexualbefriedigung und Erfüllung
eigener sexueller Wünsche. Von der angedeuteten Komplikation wird
bald die Rede sein. | |
Meine Herren! Ich möchte dem vorbeugen, daß ich an der All-
gemeinheit dieser Behauptungen nachträglich Abzüge anzubringen
‚habe, und mache Sie darum aufmerksam, daß alles, was ich hier über
Verdrängung, Symptombildung und Symptombedeutung sage, an drei
Formen von Neurosen, der Angsthysterie, der Konversionshysterie
und der Zwangsneurose gewonnen worden ist und zunächst auch nur
für diese Formen gilt. Diese drei Affektionen, die wir als „Über-
tragungsneurosen“ in einer Gruppe zu vereinigen gewohnt sind,’
umschreiben auch das Gebiet, auf welchem sich die psychoanalytische
Therapie betätigen kann. Die anderen Neurosen sind von der Psycho-
analyse weit weniger gut studiert worden; bei einer Gruppe derselben
ist wohl die Unmöglichkeit einer therapeutischen Beeinflussung ein
Grund für die Zurücksetzung gewesen. Vergessen Sie auch nicht, daß
die Psychoanalyse eine noch sehr junge Wissenschaft ist, daß sie viel
Mühe und Zeit zur Vorbereitung erfordert, und daß sie vor gar nicht
310 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
langer Zeit noch auf zwei Augen gestanden ist. Doch sind wir an
allen Stellen im Begriffe, in das Verständnis dieser anderen Affektionen,
die nicht Übertragungsneurosen sind, einzudringen. Ich hoffe, Ihnen
noch vorführen zu können, welche Erweiterungen unsere Annahmen
und Ergebnisse bei der Anpassung; an dieses neue Material erfahren,
und Ihnen zu zeigen, daß diese weiteren Studien nicht zu Wider-
sprüchen, sondern zur Herstellung von höheren Einheitlichkeiten
geführt haben. Wenn also jetzt alles, was hier gesagt wird, für die
drei Übertragungsneurosen gilt, so lassen Sie mich zunächst den Wert
der Symptome durch eine neue Mitteilung steigern. Eine verglei-
chende Untersuchung über die Anlässe der Erkrankung ergibt näm-
lich ein Resultat, welches sich in die Formel fassen läßt, diese Per-
sonen erkranken an der Versagung in irgend einer Weise, wenn
ihnen die Realität die Befriedigung ihrer sexuellen Wünsche vor-
enthält. Sie erkennen, wie vortrefflich diese beiden Ergebnisse mit-
einander stimmen. Die Symptome sind dann erst recht als Ersatz-
befriedigung für die im Leben vermißte zu verstehen.
Gewiß sind noch allerlei Einwendungen gegen den Satz, daß die
neurotischen Symptome sexuelle Ersatzbefriedigungen sind, möglich.
Zwei davon will ich heute noch erörtern. Sie werden, wenn Sie selbst
eine größere Anzahl von Neurotikern analytisch untersucht haben,
mir vielleicht kopfschüttelnd berichten: bei einer Reihe von Fällen
treffe dies aber gar nicht zu; die Symptome scheinen da eher die
gegenteilige Absicht zu enthalten, die Sexualbefriedigung auszu-
schließen oder aufzuheben. Ich werde die Richtigkeit Ihrer Deutung
nicht bestreiten. Der psychoanalytische Sachverhalt pflegt gern etwas
komplizierter zu sein, als uns lieb ist. Wenn er so einfach wäre, hätte
es vielleicht nicht der Psychoanalyse bedurft, um ihn ans Licht zu
bringen. Wirklich lassen bereits einige Züge des Zeremoniells bei
unserer zweiten Patientin diesen asketischen, der Sexualbefriedigung
feindlichen Charakter erkennen, z. B. wenn sie die Uhren beseitigt,
was den magischen Sinn hat, nächtliche Erektionen zu vermeiden,
oder das Fallen und Brechen von Gefäßen verhüten will, was einem
XIX. Widerstand und Verdrängung zıı
Schutze ihrer Jungfräulichkeit gleichkommt. In anderen Fällen: von
Bettzeremoniell, die ich analysieren konnte, war dieser negative
Charakter weit mehr ausgesprochen; das Zeremoniell konnte durch-
wegs aus Abwehrmaßregeln gegen sexuelle Erinnerungen und Ver-
suchungen bestehen. Indessen haben wir schon so oft in der Psycho-
analyse erfahren, daß Gegensätze keinen Widerspruch bedeuten. Wir
könnten unsere Behauptung dahin erweitern, die Symptome beab-
sichtigen entweder eine sexuelle Befriedigung oder eine Abwehr
derselben, und zwar wiegt bei der Hysterie der positive, wunsch-
erfüllende, bei der Zwangsneurose der negative, asketische Charakter
im ganzen vor. Wenn die Symptome sowohl der Sexualbefriedigung
als auch ihrem Gegensatz dienen können, so hat diese Zweiseitigkeit
oder Polarität eine ausgezeichnete Begründung in einem Stück ihres
Mechanismus, welches wir noch nicht erwähnen konnten. Sie sind
nämlich, wie wir hören werden, Kompromißergebnisse, aus der In-
terferenz zweier gegensätzlichen Strebungen hervorgegangen, und
vertreten ebensowohl das Verdrängte wie das Verdrängende, das bei
ihrer Entstehung mitgewirkt hat. Die Vertretung kann dann mehr
zugunsten der einen oder anderen Seite geraten, nur selten fällt ein
Einfluß völlig aus. Bei der Hysterie wird zumeist das Zusammen-
treffen beider Absichten in dem nämlichen Symptom erreicht. Bei
der Zwangsneurose fallen beide Anteile oft auseinander; das Sym-
ptom wird dann zweizeitig, es besteht aus zwei Aktionen, einer nach
der anderen, die einander aufheben.
Nicht so leicht werden wir ein zweites Bedenken erledigen. Wenn
Sie eine größere Reihe von Symptomdeutungen überschauen, werden
Sie wahrscheinlich zunächst urteilen, daß der Begriff einer sexuellen
Ersatzbefriedigung bei ihnen bis zu seinen äußersten Grenzen ge-
dehnt worden sei. Sie werden nicht versäumen zu betonen, daß diese
Symptome nichts Reales an Befriedigung bieten, daß sie sich oft genug
auf die Belebung einer Sensation oder die Darstellung einer Phantasie
aus einem sexuellen Komplex beschränken. Ferner, daß die angebliche
Sexualbefriedigung so häufig einen kindischen und unwürdigen
332 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Charakter zeigt, sich etwa einem masturbatorischen Akt annähert,
oder an die schmutzigen Unarten erinnert, die man schon den Kindern
verbietet und abgewöhnt. Und darüber hinaus werden Sie auch Ihre
Verwunderung äußern, daß man für eine Sexualbefriedigung aus-
geben will, was vielleicht als Befriedigung von grausamen oder gräß-
lichen, selbst unnatürlich zu nennenden Gelüsten beschrieben werden
müßte. Über diese letzteren Punkte, meine Herren, werden wir kein
Einvernehmen erzielen, ehe wir nicht das menschliche Sexualleben
einer gründlichen Untersuchung unterzogen und dabei festgestellt
haben, was man berechtigt ist, sexuell zu nennen. |
XX. VORLESUNG
DAS MENSCHLICHE SEXUALLEBEN
Meine Damen und Herren! Man sollte doch meinen, es sei nicht
zweifelhaft, was man unter dem „Sexuellen“ zu verstehen habe.
Vor allem ist doch das Sexuelle das Unanständige, das, von dem man
nicht sprechen darf. Man hat mir erzählt, daß die Schüler eines be-
rühmten Psychiaters sich einmal die Mühe nahmen, ihren Meister
davon zu überzeugen, daß die Symptome der Hysterischen so häufig
sexuelle Dinge darstellen. In dieser Absicht führten sie ihn an das
Bett einer Hysterika, deren Anfälle unverkennbar den Vorgang einer
Entbindung mimten. Er aber äußerte abweisend: Nun, eine Ent-
bindung ist doch nichts Sexuelles. Gewiß, eine Entbindung muß
nicht unter allen Umständen etwas Unanständiges sein.
Ich bemerke, Sie verübeln es mir, daß ich in so ernsthaften Dingen
scherze. Aber es ist nicht so ganz Scherz. Im Ernst, es ist nicht leicht
anzugeben, was den Inhalt des Begriffes „sexuell“ ausmacht. Alles,
was mit dem Unterschied der zwei Geschlechter zusammenhängt,
wäre vielleicht das einzig 'Treffende, aber Sie werden es farblos und
zu umfassend finden. Wenn Sie die Tatsache des Sexualaktes in den
Mittelpunkt stellen, werden Sie vielleicht aussagen, sexuell sei all
das, was sich in der Absicht der Lustgewinnung mit dem Körper,
speziell den Geschlechtsteilen des anderen Geschlechtes beschäftigt
und im letzten Sinne auf die Vereinigung der Genitalien und die
Ausführung des Geschlechtsaktes hinzielt. Aber dann sind Sie von
314 | Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
der Gleichstellung, das Sexuelle sei das Unanständige, wirklich nicht
weit entfernt und die Entbindung gehört wirklich nicht zum Sexuellen.
Machen Sie aber die Fortpflanzungsfunktion zum Kern der Sexualität,
so laufen Sie Gefahr, eine ganze Anzahl von Dingen, die nicht auf
die Fortpflanzung zielen und doch sicher sexuell sind, auszuschließen,
wie die Masturbation oder selbst das Küssen. Aber wir sind ja be-
reits darauf gefaßt, daß Definitionsversuche immer zu Schwierigkeiten
führen; verzichten wir darauf, es gerade in diesem Falle besser zu
machen. Wir können ahnen, daß in der Entwicklung des Begriffes
„sexuell“ etwas vor sich gegangen ist, was nach einem guten Aus-
druck von H. Silberer einen „Überdeckungsfehler“ zur Folge hatte.
Im ganzen sind wir ja nicht ohne Orientierung darüber, was die
Menschen sexuell heißen.
Etwas, was aus der Berücksichtigung des Gegensatzes der Ge-
schlechter, des Lustgewinnes, der Fortpflanzungsfunktion und des
Charakters des geheimzuhaltenden Unanständigen zusammengesetzt
ist, wird im Leben für alle praktischen Bedürfnisse genügen. Aber
es genügt nicht mehr in der Wissenschaft. Denn wir sind durch
sorgfältige, gewiß nur durch opferwillige Selbstüberwindung ermög-
lichte Untersuchungen mit Gruppen von menschlichen Individuen
bekannt worden, deren „Sexualleben“ in der auffälligsten Weise von
dem gewohnten Durchschnittsbilde abweicht. Die einen von diesen
„Perversen“ haben sozusagen die Geschlechtsdifferenz aus ihrem Pro-
gramm gestrichen. Nur das ihnen gleiche Geschlecht kann ihre
sexuellen Wünsche erregen; das andere, zumal die Geschlechtsteile
desselben, ist ihnen überhaupt kein Geschlechtsobjekt, in extremen
Fällen ein Gegenstand des Abscheus. Sie haben damit natürlich auch
auf jede Beteiligung an der Fortpflanzung verzichtet. Wir nennen
solche Personen Homosexuelle oder Invertierte. Es sind Männer und
Frauen, sonst oft — nicht immer —- tadellos gebildet, intellektuell
wie ethisch hochentwickelt, nur mit dieser einen verhängnisvollen
Abweichung behaftet. Sie geben sich durch den Mund ihrer wissen-
schaftlichen Wortführer für eine besondere Varietät der Menschen-
XX. Das menschliche Sexualleben 315
art, für ein „drittes Geschlecht“ aus, welches gleichberechtigt neben
den beiden anderen steht. Wir werden vielleicht Gelegenheit haben,
ihre Ansprüche kritisch zu prüfen. Natürlich sind sie nicht, wie sie
auch gern behaupten möchten, eine „Auslese“ der Menschheit, sondern
enthalten mindestens ebensoviel minderwertige und nichtsnutzige
Individuen wie die in sexueller Hinsicht anders Gearteten.
Diese Perversen nehmen mit ihrem Sexualobjekt wenigstens noch
ungefähr dasselbe vor wie die Normalen mit dem ıihrigen. Aber nun
folgt eine lange Reihe von Abnormen, deren sexuelle Betätigung
sich immer weiter von dem entfernt, was einem vernünftigen Men-
. schen begehrenswert erscheint. In ihrer Mannigfaltigkeit und Son-
derbarkeit sind sie nur vergleichbar den grotesken Mißgestalten, die
P. Breughel als Versuchung des heiligen Antonius gemalt hat, oder
den verschollenen Göttern und Gläubigen, die G. Flaubert in langer
Prozession an seinem frommen Büßer vorbeiziehen läßt. Ihr Ge-
wimmel ruft nach einer Art von Ordnung, wenn es unsere Sinne
nicht verwirren soll. Wir scheiden sie in solche, bei denen sich, wie
bei den Homosexuellen, das Sexualobjekt gewandelt hat, und in
andere, bei denen in erster Linie das Sexualziel verändert worden
ist. Zur ersten Gruppe gehören die, welche auf die Vereinigung der
beiden Genitalien verzichtethaben und beidem einen Partnerim Sexual-
akt das Genitale durch einen anderen Körperteil oder Körperregion
ersetzen; sie setzen sich dabei über die Mängel der organischen Ein-
richtung wie über die Abhaltung des Ekels hinweg. (Mund, After
an Stelle der Scheide.) Dann folgen andere, die zwar noch am Ge-
nitale festhalten, aber nicht wegen seiner sexuellen, sondern wegen
anderer Funktionen, an denen es aus anatomischen Gründen und
Anlässen der Nachbarschaft beteiligt ist. Wir erkennen an ihnen,
dal3 die Ausscheidungsfunktionen, die in der Erziehung des Kindes
als unanständig abseits geschafft worden sind, imstande bleiben, das
volle sexuelle Interesse an sich zu reißen. Dann andere, die das Ge-
nitale überhaupt als Objekt aufgegeben haben, an seiner Statt einen
anderen Körperteil zum begehrten Objekt erheben, die weibliche
316 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Brust, den Fuß, den Haarzopf. In weiterer Folge die, denen auch
‚ein Körperteil nichts bedeutet, aber ein Kleidungsstück alle Wünsche
erfüllt, ein Schuh, ein Stück weißer Wäsche, die Fetischisten. Weiter
im Zuge die Personen, die zwar das ganze Objekt verlangen, aber
ganz bestimmte, seltsame oder gräßliche, Anforderungen an dasselbe
stellen, auch die, daB es zur wehrlosen Leiche geworden sein muß,
und die esin verbrecherischem Zwang dazu machen, um es genießen
zu können. Genug der Greuel von dieser Seite!
Die andere Schar wird von den Perversen angeführt, die sich zum
Ziele der sexuellen Wünsche gesetzt haben, was normalerweise nur
einleitende und vorbereitende Handlung ist. Also die das Beschauen
und Betasten der anderen Person oder das Zuschauen bei intimen
Verrichtungen derselben anstreben, oder die ihre eigenen zu ver-
bergenden Körperteile entblößen in einer dunkeln Erwartung, durch
eine gleiche Gegenleistung belohnt zu werden. Dann folgen die
rätselhaften Sadisten, deren zärtliches Streben kein anderes Ziel kennt,
alsihrem Objekt Schmerzen und Qualen zu bereiten, von Andeutungen
_ der Demütigung bis zu schweren körperlichen Schädigungen, und wie
zur Ausgleichung ihre Gegenstücke, die Masochisten, deren einzige Lust
es ist, von ihrem geliebten Objekt alle Demütigungen und Qualen in
symbolischer wie in realer Form zu erleiden. Andere noch, bei denen
mehrere solcher abnormer Bedingungen sich vereinigen und sich ver-
schränken, und endlich müssen wir noch erfahren, daß jede dieser
Gruppen zweifach vorhanden ist, daß es neben den einen, die ihre
Sexualbefriedigung in der Realität suchen, noch andere gibt, die sich
damit begnügen, sich solche Befriedigung bloß vorzustellen, die über-
haupt kein wirkliches Objekt brauchen, sondern es sich durch die
Phantasie ersetzen können.
Dabei kann es nicht den leisesten Zweifel leiden, daß in diesen Toll-
heiten, Sonderbarkeiten und Gräßlichkeiten wirklich die Sexualbe-
tätigung dieser Menschen gegeben ist. Nicht nur, daß sie es selbst so
auffassen und das Ersatzverhältnis verspüren, wir müssen uns auch
sagen, es spielt die nämliche Rolle in ihrem Leben wie die normale
XX. Das menschliche Sexualleben 517
Sexualbefriedigung in unserem, sie bringen dafür die nämlichen, oft
übergroßen Opfer, und es läßt sich im Groben wie im feineren Detail
verfolgen, wo sich diese Abnormitäten an das Normale anlehnen und
wo sie davon abgehen. Auch daß Sie den Charakter des Unanstän-
digen, welcher der Sexualbetätigung anhaftet, hier wiederfinden,
kann Ihnen nicht entgehen; er ist aber zumeist zum Schändlichen
gesteigert. | |
Nun, meine Damen und Herren, wie stellen wir uns zu diesen un-
gewöhnlichen Arten der Sexualbefriedigung? Mit der Entrüstung, der
Äußerung unseres persönlichen Widerwillens und der Versicherung,
daß wir diese Gelüste nicht teilen, ist offenbar nichts getan. Danach
werden wir ja nicht gefragt. Am Ende ist es ein Erscheinungsgebiet
wie ein anderes. Eine ablehnende Ausflucht wie, es seien ja nur Rari-
täten und Kuriositäten, wäre selbst leicht abzuweisen. Es handelt sich
im Gegenteil um recht häufige, weit verbreitete Phänomene. Wollte
man uns aber sagen, wir brauchten unsere Ansichten über das
Sexualleben durch sie nicht beirren zu lassen, weil siesamt und sonders
Verirrungen uud Entgleisungen des Sexualtriebes darstellen, so wäre
eine ernste Antwort am Platze. Wenn wir diese krankhaften Gestal-
tungen der Sexualität nicht verstehen und sie nicht mit dem normalen
Sexualleben zusammenbringen können, so verstehen wir eben auch
die normale Sexualität nicht. Kurz, es bleibt eine unabweisbare Auf-
gabe, von der Möglichkeit der genannten Perversionen und von ihrem
Zusammenhang mit der sogenannt normalen Sexualität volle theore- |
tische Rechenschaft zu geben. |
Dazu werden uns eine Einsicht und zwei neue Erfahrungen ver-
helfen. Die erstere verdanken wir Iwan Bloch; sie berichtigt die Auf-
fassung all dieser Perversionen als „Degenerationszeichen“ durch den
Nachweis, daß solche Abirrungen vom Sexualziel, solche Lockerungen
des Verhältnisses zum Sexualobjekt von jeher, zu allen uns bekannten
Zeiten, bei allen, den primitivsten wie den höchsizivilisierten Völkern
vorgekommen sind und sich gelegentlich Duldung und allgemeine
Geltung errungen haben. Die beiden Erfahrungen sind bei der psycho-
318 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
analytischen Untersuchung der Neurotiker gemacht worden; siemüssen
unsere Auffassung der sexuellen Perversionen in entscheidender Weise
beeinflussen.
‚Wir haben gesagt, daß die neurotischen Symptome sexuelle Ersatz-
befriedigungen sind, und ich habe Ihnen angedeutet, daß die Bestä-
tigung dieses Satzes durch die Analyse der Symptome auf manche
Schwierigkeiten stoßen wird. Er ist nämlich erst dann berechtigt,
wenn wir unter „sexueller Befriedigung“ die der sogenannten per-
versen sexuellen Bedürfnisse mit einschließen, denn eine solche Deu-
tung der Symptome drängt sich uns mit überraschender Häufigkeit
auf. Der Ausnahmsanspruch der Homosexuellen oder Invertierten
sinkt sofort zusammen, wenn wir erfahren, daß der Nachweis homo-
sexueller Regungen bei keinem einzigen Neurotiker mißlingt, und
daß eine gute Anzahl von Symptomen dieser latenten Inversion Aus-
druck gibt. Die sich selbst Homosexuelle nennen, sind eben nur die
bewußt und manifest Invertierten, deren Anzahl neben jener der
latent homosexuellen verschwindet. Wir sind aber genötigt, die Ob-
jektwahl aus dem eigenen Geschlecht geradezu als eine regelmäßige
Abzweigung des Liebeslebens zu betrachten, und lernen immer mehr,
ihr eine besonders hohe Bedeutung zuzuerkennen. GewißB sind die
Unterschiede zwischen der manifesten Homosexualität und dem nor-
malen Verhalten dadurch nicht aufgehoben; ihre praktische Bedeu-
tung bleibt bestehen, aber ıhr theoretischer Wert wird ungemein
verringert. Von einer bestimmten Affektion, die wir nicht mehr zu
den Übertragungsneurosen rechnen können, der Paranoia, nehmen
wir sogar an, daß sie gesetzmäßig aus dem Versuch der Abwehr über-
starker homosexueller Regungen hervorgeht. Vielleicht erinnern Sie
sich noch, daß die eine unserer Patientinnen (S. 270) in ihrer Zwangs-
handlung einen Mann, ihren eigenen verlassenen Ehemann, agierte;
eine solche Produktion von Symptomen in der Person eines Mannes
ist bei neurotischen Frauen sehr gewöhnlich. Wenn es auch nicht
selbst der Homosexualität zuzurechnen ist, so hat es doch mit den
Voraussetzungen derselben viel zu tun.
XX. Das menschliche Sexualleben 319
Wie Sie wahrscheinlich wissen, kann die hysterische Neurose ihre
Symptome an allen Organsystemen machen und dadurch alle Funk-
tionen stören. Die Analyse zeigt, daß dabei alle pervers genannten
Regungen zur Äußerung kommen, welche das Genitale durch andere
Organe ersetzen wollen. Diese Organe benehmen sich dabei wie Er-
satzgenitalien; wir sind gerade durch die Symptomatik der Hysterie
zur Auffassung gelangt, daß den Körperorganen außer ihrer funktio-
nellen Rolle eine sexuelle — erogene — Bedeutung zuzuerkennen
ist, und daß sie in der Erfüllung dieser ersteren Aufgabe gestört werden,
wenn die letztere sie allzusehr in Anspruch nimmt. Ungezählte Sen-
sationen und Innervationen, welche uns als Symptome der Hysterie
entgegentreten, an Organen, die anscheinend nichts mit der Sexualität
zu tun haben, enthüllen uns so ihre Natur als Erfüllungen perverser
Sexualregungen, bei denen andere Organe die Bedeutung der Ge-
schlechtsteile an sich gerissen haben. Dann ersehen wir auch, in wie
ausgiebiger Weise gerade die Organe der Nahrungsaufnahme und der
Exkretion zu Trägern der Sexualerregung werden können. Es ist also
dasselbe, was uns die Perversionen gezeigt haben, nur war es bei die-
sen ohne Mühe und unverkennbar zu sehen, während wir bei der
Hysterie erst den Umweg über die Symptomdeutung machen müssen
und dann die betreffenden perversen Sexualregungen nicht dem Be-
wußtsein der Individuen zuschreiben, sondern sie in das Unbewußte
derselben versetzen.
Von den vielen Symptombildern, unter denen die Zwangsneurose
auftritt, erweisen sich die wichtigsten als hervorgerufen durch den
Drang überstarker sadistischer, also in ihrem Ziel perverser, Sexual-
regungen, und zwar dienen die Symptome, wie es der Struktur einer
Zwangsneurose entspricht, vorwiegend der Abwehr dieser Wünsche,
oder drücken den Kampf zwischen Befriedigung und Abwehr aus.
Aber auch die Befriedigung selbst kommt dabei nicht zu kurz; sie
weiß sich auf Umwegen im Benehmen der Kranken durchzusetzen
und wendet sich mit Vorliebe gegen deren eigene Person, macht sie
zu Selbstquälern. Andere Formen der Neurose, die grüblerischen, ent-
320 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
sprechen einer übermäßigen Sexualisierung von Akten, die sich sonst
als Vorbereitungen in den Weg zur normalen Sexualbefriedigung
einfügen, vom Sehen-, Berührenwollen und Forschen. Die große Be-
deutung der Berührungsangst und des Waschzwanges findet hier ihre
Aufklärung. Von den Zwangshandlungen geht ein ungeahnt großer
Anteil als verkappte Wiederholung und Modifikation auf die Mastur-
bation zurück, welche bekanntlich als einzige, gleichförmige Hand-
lung die verschiedenartigsten Formen des sexuellen Phantasierens
begleitet. |
Es würde mich nicht viel Mühe kosten, Ihnen die Beziehungen
zwischen Perversion und Neurose noch weit inniger darzustellen, aber
ich glaube, das Bisherige wird für unsere Absicht genügen. Wir müssen
uns aber dagegen verwahren, daß wir nach diesen Aufklärungen über
die Symptombedeutung Häufigkeit und Intensität der perversen
Neigungen der Menschen überschätzen. Sie haben gehört, daB
man an der Versagung der normalen Sexualbefriedigung neurotisch
erkranken kann. Bei dieser realen Versagung wirft sich aber das Be-
dürfnis auf die abnormen Wege der Sexualerregung. Sie werden später
einsehen können, wie das zugeht. Jedenfalls verstehen Sie, daß durch
eine solche „kollaterale“ Rückstauung die perversen Regungen
stärker erscheinen müssen, als sie ausgefallen wären, wenn sich der
normalen Sexualbefriedigung kein reales Hindernis entgegengestellt
hätte. Ein ähnlicher Einfluß ist übrigens auch für die manifesten
Perversionen anzuerkennen. Sie werden in manchen Fällen dadurch
provoziert oder aktiviert, daß einer normalen Befriedigung des Sexual-
triebes allzu große Schwierigkeiten gemacht werden, infolge vorüber-
gehender Umstände oder dauernder sozialer Einrichtungen. In anderen
Fällen sind die Perversionsneigungen freilich von solchen Begünsti-
gungen ganz unabhängig; sie sind sozusagen für dieses Individuum
die normale Art des Sexuallebens.
Vielleicht haben Sie im Augenblicke den Eindruck, als hätten wir
das Verhältnis zwischen normaler und perverser Sexualität eher ver-
wirrt als geklärt. Halten Sie sich aber an folgende Überlegung: Wenn
XX. Das menschliche Sexualleben 521
es richtig ist, daß die reale Erschwerung oder die Entbehrung einer
normalen Sexualbefriedigung bei Personen perverse Neigungen zum
Vorschein bringen, die sonst keine solchen gezeigt hatten, so muß
bei diesen Personen etwas anzunehmen sein, was den Perversionen
entgegenkommt; oder wenn Sie so wollen, sie müssen in latenter
Form bei ihnen vorhanden sein. Auf diesem Wege kommen wir aber
auf die zweite Neuheit, die ich Ihnen angekündigt habe, Die psycho-
analytische Forschung ist nämlich genötigt worden, sich auch um
das Sexualleben des Kindes zu bekümmern, und zwar dadurch, daß
die Erinnerungen und Einfälle bei der Analyse der Symptome regel-
mäßig bis in frühe Jahre der Kindheit zurückführten. Was wir dabei
erschlossen haben, ist dann Punkt für Punkt durch unmittelbare Be-
obachtungen an Kindern bestätigt worden. Und da hat sich dann
ergeben, daß alle Perversionsneigungen in der Kindheit wurzeln, daß
die Kinder zu ihnen alle Anlage haben und sie in dem ihrer Unreife
entsprechenden Ausmaß betätigen, kurz, daß die perverse Sexualität
nichts anderes ist als die vergrößerte, in ihre Einzelregungen zerlegte
infantile Sexualität.
Jetzt werden Sie die Perversionen allerdings in einem anderen Lichte
sehen und deren Zusammenhang mit dem menschlichen Sexualleben
nicht mehr verkennen, aber auf Kosten welcher Überraschungen und
für Ihr Gefühl peinlichen Inkongruenzen! Sie werden gewiß geneigt
sein, zuerst alles zu bestreiten, die Tatsache, daß die Kinder etwas
haben, was man als Sexualleben bezeichnen darf, die Richtigkeit un-
serer Beobachtungen und die Berichtigung, an dem Benehmen der
Kinder eine Verwandtschaft mit dem, was späterhin als Perversion
verurteilt wird, zu finden. Gestatten Sie also, daß ich Ihnen zuerst
die Motive Ihres Sträubens aufkläre und dann die Summe unserer
Beobachtungen vorlege. Daß die Kinder kein Sexualleben — sexuelle
Erregungen, Bedürfnisse und eine Art der Befriedigung —- haben,
sondern es plötzlich zwischen 12 und 14 Jahren bekommen sollten,
wäre — von allen Beobachtungen abgesehen — biologisch ebenso
unwahrscheinlich, ja unsinnig, wie daß sie keine Genitalien mit auf
Freud, VII. 21
322 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
die: Welt brächten und die ihnen erst um die Zeit der Pubertät
wüchsen. Was um diese Zeit bei ihnen erwacht, ist die Fortpflanzungs-
funktion, die sich eines bereits vorhandenen körperlichen und seeli-
schen Materials für ihre Zwecke bedient. Sie begehen den Irrtum,
Sexualität und Fortpflanzung miteinander zu verwechseln, und ver-
sperren sich durch ihn den Weg zum Verständnis der Sexualität, der
Perversionen und der Neurosen. Dieser Irrtum ist aber tendenziös.
Er hat seine Quelle merkwürdigerweise darin, daß Sie selbst Kinder
gewesen und als Kinder dem Einfluß der Erziehung unterlegen sind.
Die Gesellschaft muß es nämlich unter ihre wichtigsten Erziehungs-
aufgaben aufnehmen, den Sexualtrieb, wenn er als Fortpflanzungs-
drang hervorbricht, zu bändigen, einzuschränken, einem individuellen
Willen zu unterwerfen, der mit dem sozialen Geheiß identisch ist.
Sie hat auch Interesse daran, seine volle Entwicklung aufzuschieben;,
bis das Kind eine gewisse Stufe der intellektuellen Reife erreicht hat,
denn mit dem vollen Durchbruch des Sexualtriebes findet auch die
Erziehbarkeit praktisch ein Ende. Der Trieb würde sonst über alle
Dämme brechen und das mühsam errichtete Werk der Kultur hin-
'wegschwemmen. Die Aufgabe, ihn zu bändigen, ist auch nie eine
leichte, sie gelingt bald zu wenig, bald allzu gut. Das Motiv der mensch-
lichen Gesellschaft ist im letzten Grunde ein ökonomisches; da sie
nicht genug Lebensmittel hat, um ihre Mitglieder ohne deren Arbeit
zu erhalten, muß sie die Anzahl ihrer Mitglieder beschränken und
ihre Energien von der Sexualbetätigung weg auf die Arbeit lenken.
‘Also die ewige, Ve bis auf die Gegenwart fortgesetzte Le-
bensnot. |
‘Die Erfahrung muß wohl den Erziehern gezeigt haben, daß die
PR den Sexualwillen der neuen Generation lenksam zu machen,
nur dann lösbar ist, wenn man mit den Beeinflussungen sehr früh-
zeitig beginnt, nicht erst den Sturm der Pubertät abwartet, sondern
bereits in das Sexualleben der Kinder eingreift, welches ihn vorbe-
reitet. In dieser Absicht werden fast alle infantilen Sexualbetätigungen
dem Kinde verboten und verleidet; man setzt sich das ideale Ziel,
XX. Das menschliche Sexuallehen 323
das Leben des Kindes asexuell zu gestalten, und hat es im Laufe der
Zeit endlich dahin gebracht, daß man es wirklich für asexuell hält,
was dann die Wissenschaft als ihre Lehre verkündet. Um sich mit
seinem Glauben und seinen Absichten nicht in Widerspruch zu setzen,
übersieht man dann die Sexualbetätigung des Kindes, was keine ge-
ringe Leistung ist, oder begnügt sich in der Wissenschaft damit, sie
anders aufzufassen. Das Kind gilt als rein, als unschuldig, und wer
es anders beschreibt, darf als ruchloser Frevler an zarten und heiligen
Gefühlen der Menschheit verklagt werden. |
Die Kinder sind die einzigen, die an diesen Konventionen nicht
mittun, in aller Naivität ihre animalischen Rechte geltend machen
und immer wieder beweisen, daß sie den Weg zur Reinheit erst zu-
rückzulegen haben. Merkwürdig genug, daß die Leugner der kind-
lichen Sexualität darum in der Erziehung nicht nachlassen, sondern
gerade die Äußerungen des Verleugneten unter dem Titel der „kind-
lichen Unarten“ aufs strengste verfolgen. Von hohem theoretischen
Interesse ist es auch, daß die Lebenszeit, welche dem Vorurteil einer
asexuellen Kindheit am grellsten widerspricht, die Kinderjahre bis
fünf oder sechs, dann bei den meisten Personen von dem Schleier
einer Amnesie verhüllt wird, den erst eine analytische Erforschung
gründlich zerreißt, der aber schon vorher für einzelne Traumbildungen
durchlässig gewesen ist. |
Nun will ich Ihnen vorführen, was sich vom Sexualleben des Kindes
am deutlichsten erkennen läßt. Lassen Sie mich zweckmäßigkeithalber
auch den Begriff der Libido einführen. Libido soll, durchaus dem
Hunger analog, die Kraft benennen, mit welcher der Trieb, hier der
Sexualtrieb wie beim Hunger der Ernährungstrieb, sich äußert.
Andere Begriffe, wie Sexualerregung und Befriedigung, bedürfen
keiner Frläuterung. Daß bei den Sexualbetätigungen des Säuglings
die Deutung am meisten zu tun hat, werden Sie selbst leicht einsehen
oder wahrscheinlich als Einwand benützen. Diese Deutungen ergeben
sich auf Grund der analytischen Untersuchungen durch Rückver-
folgung vom Symptom her. Die ersten Regungen der Sexualität zeigen
21ı*
324 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
sich beim Säugling in Anlehnung an andere lebenswichtige Funktionen.
Sein Hauptinteresse ist, wie Sie wissen, auf die Nahrungsaufnahme
gerichtet; wenn er an der Brust gesättigt einschläft, zeigt er den Aus-
druck einer seligen Befriedigung, der sich später nach dem Erleben
des sexuellen Orgasmus wiederholen wird. Das wäre zu wenig, um
einen Schluß darauf zu gründen. Aber wir beobachten, daß der Säug-
ling die Aktion der Nahrungsaufnahme wiederholen will, ohne neue
Nahrung zu beanspruchen; er steht also dabei nicht unter dem An-
trieb des Hungers. Wir sagen, er lutscht oder ludelt, und daß er bei
diesem Tun wiederum mit seligem Ausdruck einschläft, zeigt uns,
daß die Aktion des Lutschens ihm an und für sich Befriedigung ge-
bracht hat. Bekanntlich richtet er sich’s bald so ein, daß er nicht ein-
schläft, ohne gelutscht zu haben. Die sexuelle Natur dieser Betätigung
hat ein alter Kinderarztin Budapest, Dr. Lindner, zuerst behauptet.
Die Pflegepersonen des Kindes, die keine theoretische Stellungnahme
beabsichtigen, scheinen das Lutschen ähnlich zu beurteilen. Sie zwei-
feln nicht daran, daß es nur einem Lustgewinn dient, stellen es zu
den Unarten des Kindes und zwingen das Kind durch peinliche Ein-
drücke zum Verzicht darauf, wenn es die Unart nicht selbst aufgeben
will. Wir erfahren also, daß der Säugling Handlungen ausführt, die
keine andere Absicht als die des Lustgewinnes haben. Wir glauben,
daß er diese Lust zuerst bei der Nahrungsaufnahme erlebt, aber bald
gelernt hat, sie von dieser Bedingung abzutrennen. Wir können den
Lustgewinn nur auf die Erregung der Mund- und Lippenzone be-
ziehen, heißen diese Körperteile erogene Zonen und bezeichnen
die durch Lutschen erzielte Lust als eine sexuelle. Über die Be-
rechtigung dieser Benennung werden wir gewiß noch diskutieren
müssen.
Wenn der Säugling sich äußern könnte, würde er gewiß den Akt
des Saugens an der Mutterbrust als das weitaus Wichtigste im Leben
anerkennen. Er hat für sich nicht so unrecht, denn er befriedigt durch
diesen Akt in einem beide großen Lebensbedürfnisse. Wir erfahren
dann aus der Psychoanalyse nicht ohne Überraschung, wieviel von
XX. Das menschliche Sexualleben 325
der psychischen Bedeutung, des Aktes fürs ganze Leben erhalten bleibt.
Das Saugen an der Mutterbrust wird der Ausgangspunkt des ganzen
Sexuallebens, das unerreichte Vorbild jeder späteren Sexualbefrie-
digung, zu dem die Phantasie in Zeiten der Not oft genug zurück-
kehrt. Es schließt die Mutterbrust als erstes Objekt des Sexualtriebes
ein; ich kann Ihnen keine Vorstellung davon vermitteln, wie bedeut-
sam dies erste Objekt für jede spätere Objektfindung ist, welch tief-
greifende Wirkungen es in seinen Wandlungen und Ersetzungen
noch auf die entlegensten Gebiete unseres Seelenlebens äußert. Aber
zunächst wird es vom Säugling in der Tätigkeit des Lutschens auf-
gegeben und durch einen Teil des eigenen Körpers ersetzt. Das Kind
lutscht am Daumen, an der eigenen Zunge. Es macht sich dadurch
für den Lustgewinn von der Zustimmung der Außenwelt unabhän-
gig und zieht überdies die Erregung einer zweiten Körperzone zur
Verstärkung heran. Die erogenen Zonen sind nicht gleich ausgiebig;
es wird darum ein wichtiges Erlebnis, wenn der Säugling, wie Lindner
berichtet, bei dem Herumsuchen am eigenen Körper die besonders
erregbaren Stellen seiner Genitalien entdeckt und so den Weg vom
Lutschen zur Onanie gefunden hat.
Durch die Würdigung des Lutschens sind wir bereits mit zwei ent-
scheidenden Charakteren der infantilen Sexualität bekannt geworden.
Sie erscheint in Anlehnung an die Befriedigung der großen organischen
Bedürfnisse und sie benimmt sich autoerotisch, das heißt, sie sucht
und findet ihre Objekte am eigenen Körper. Was sich am deutlichsten
bei der Nahrungsaufnahme gezeigt hat, wiederholt sich zum Teil bei
den Ausscheidungen. Wir schließen, daß der Säugling Lustempfinden
bei der Entleerung von Harn und von Darminhalt hat, und daß er
sich bald bemüht, diese Aktion so einzurichten, daß sie ihm durch
entsprechende Erregungen der erogenen Schleimhautzonen einen
möglichst großen Lustgewinn bringen. An diesem Punkte tritt ihm,
wie die feinsinnige Lou Andreas ausgeführt hat, zuerst die Außen-
welt als hemmende, seinem Luststreben feindliche Macht entgegen
und läßt ihn spätere äußere wie innere Kämpfe ahnen. Er soll seine
326 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Exkrete nicht in dem ihm beliebigen Moment von sich geben, son-
dern wann andere Personen es bestimmen. Um ıhn zum Verzicht
auf diese Lustquellen zu bewegen, wird ihm alles, was diese Funktionen
betrifft, als unanständig, zur Geheimhaltung bestimmt, erklärt. Er
soll hier zuerst soziale Würde für Lust eintauschen. Sein Verhältnis
zu den Exkreten selbst ist von Anfang an ein ganz anderes. Er empfindet
keinen Ekel vor seinem Kot, schätzt ihn als einen Teil seines Körpers,
von dem er sich nicht leicht trennt, und verwendet ihn als erstes
„Geschenk“, um Personen auszuzeichnen, die er besonders schätzt.
Noch nachdem der Erziehung die Absicht gelungen ist, ihn diesen
Neigungen zu entfremden, setzt er die Wertschätzung des Kotes auf
das „Geschenk“ und auf das „Geld“ fort. Seine Leistungen im Uri-
nieren scheint er dagegen mit besonderem Stolz zu betrachten.
Ich weiß, daß Sie mich schon längst unterbrechen wollten, um
mir zuzurufen: Genug der Ungeheuerlichkeiten! Die Stuhlentleerung
soll eine Quelle der sexuellen Lustbefriedigung 'sein, die schon der
Säugling ausbeutet! Der Kot eine wertvolle Substanz, der After eine
Art von Genitale! Das glauben wir nicht, aber wir verstehen, warum
Kinderärzte und Pädagogen die ‚Psychoanalyse und ihre Resultate
weit von sich weg gewiesen haben. Nein, meine Herren! Sie haben
bloß vergessen, daß ich Ihnen die Tatsachen des infantilen Sexual-
lebens im Zusammenhang mit den Tatsachen der sexuellen Perversio-
nen vorführen wollte. Warum sollen Sie nicht wissen, daß der After
bei: einer großen Anzahl von Erwachsenen, Homösexuellen wie He-
terosexuellen, wirklich im Geschlechtsverkehr die Rolle der Scheide
übernimmt? Und daß es viele Individuen gibt, welche die Wollust-
empfindung bei der Stuhlentleerung durch ihr ganzes Leben behalten
und sie als gar nicht so gering beschreiben? Was das Interesse am
Akt der Defäkation und das Vergnügen beim Zuschauen der Defäka-
tion eines anderen betrifft, so können Sie es von den Kindern selbst
bestätigt hören, wenn sie einige Jahre älter geworden sind und Mit-
teilung davon machen können. Nadürlich dürfen Sie diese Kinder
nicht vorher systematisch eingeschüchtert haben, sonst verstehen sie
XX, Das menschliche Sexualleben 327
wohl, daß sie darüber zu schweigen haben. Und für dieanderen Dinge,
die Sie nicht glauben wollen, verweise ich Sie auf die Ergebnisse der
Analyse und der direkten Kinderbeobachtung und sage Ihnen, es ist.
geradezu eine Kunst, dies alles nicht oder es anders zu sehen. Ich
habe auch gar nichts dagegen, wenn Ihnen die Verwandtschaft der
kindlichen Sexualtätigkeit mit den sexuellen Perversionen recht auf-
fällig wird. Es ist eigentlich selbstverständlich; wenn das Kind über-
haupt ein Sexualleben hat, so muß es von perverser Art sein, denn
dem Kinde fehlt noch bis auf wenige dunkle Andeutungen, was die
Sexualität zur Fortpflanzungsfunktion ‘macht. Anderseits ist es der
gemeinsame Charakter aller Perversionen, daß sie das Fortpflanzungs-
ziel aufgegeben haben. In dem Falle heißen. wir eine Sexualbetäti-
gung eben pervers, wenn sie auf das Fortpflanzungsziel verzichtet
hat und die Lustgewinnung als davon unabhängiges Ziel verfolgt;
Sie. verstehen also, der Bruch und Wendepunkt in der Entwicklung
des Sexuallebens liegt in der Unterordnung, desselben unter die Ab-
sichten der Fortpflanzung. Alles was vor dieser Wendung ‚vorfällt,
ebenso alles, was sich ihr entzogen hat, was allein dem Lustgewinn
dient, wird mit dem nicht ehrenvollen Namen des „Perversen“ be-
legt und als solches geächtet. | 4 hit;
‚.. Lassen Sie mich darum in meiner knappen Schillers de infan-
tilen Sexualität fortfahren. Was ich von zwei Organsystemen berich-
tet habe, könnte ich durch die Berücksichtigung der anderen vervoll-
ständigen. Das Sexualleben des Kindes erschöpft sich eben in der Be-
tätigung einer Reihe von Partialtrieben, die unabhängig voneinan-
der teils am eigenen Körper teils schon am äußeren Objekt Lust zu
gewinnen suchen.. Unter diesen Organen treten die Genitalien sehr
bald hervor; es gibt Menschen, bei denen sich die Lustgewinnung am
eigenen Genitale, ohne Beihilfe eines anderen Genitales oder Objekts,
ohne Unterbrechung von der Säuglingsonanie bis zur Notonanie der
Pubertätsjahre fortsetzt und dann unbestimmt lange darüber hinaus
anhält. Mit dem Thema der Onanie würden wir übrigens nicht so
bald fertig werden; es ist ein Stoff für vielseitige Betrachtung, -,
528 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Trotz meiner Neigung, das Thema noch weiter zu verkürzen, muß
ich Ihnen doch noch einiges über die Sexualforschung der Kinder
sagen. Sie ist zu charakteristisch für die kindliche Sexualität und zu
bedeutsam für die Symptomatik der Neurosen. Die infantile Sexual-
forschung beginnt sehr früh, manchmal vor dem dritten Lebensjahr.
Sie knüpft nicht an den Geschlechtsunterschied an, der dem Kinde
nichts besagt, da es — wenigstens die Knaben — beiden Geschlechtern
das nämliche männliche Genitalezuschreibt. Macht der Knabe dann an
einer kleinen Schwester oder Gespielin die Entdeckung der Vagina, so
versucht er zuerst das Zeugnis seiner Sinne zu verleugnen, denn er
kann sich ein ihm ähnliches menschliches Wesen ohne den ihm so
wertvollen Teil nicht vorstellen. Später erschrickt er über die ıhm
eröffnete Möglichkeit, und etwaige frühere Drohungen wegen zu
intensiver Beschäftigung mit seinem kleinen Glied gelangen nach-
träglich zur Wirkung. Er gelangt unter die Herrschaft des Kastrations-
komplexes, dessen Gestaltung an seiner Charakterbildung, wenn er
gesund bleibt, an seiner Neurose, wenn er erkrankt, und an seinen
Widerständen, wenn er in analytische Behandlung gerät, großen An-
teil hat. Von dem kleinen Mädchen wissen wir, daß es sich wegen
des Mangels eines großen sichtbaren Penis für schwer benachteiligt
hält, dem Knaben diesen Besitz neidet und wesentlich aus diesem
Motiv den Wunsch entwickelt, ein Mann zu sein, welcher Wunsch
späterhin in der Neurose, die wegen Mißgeschicks in ihrer weiblichen
Rolle auftritt, wieder aufgenommen wird. Die Clitoris des Mädchens
spielt übrigens im Kindesalter durchaus die Rolle des Penis, sie ist
der Träger einer besonderen Erregbarkeit, die Stelle, an welcher die
autoerotische Befriedigung erzielt wird. Es kommt für die Weibwer-
dung des kleinen Mädchens viel darauf an, daß die Clitoris diese Emp-
findlichkeitrechtzeitigund vollständig an den Scheideneingang abgebe.
In den Fällen von sogenannter sexueller Anästhesie der Frauen hat
die Clitoris die Empfindlichkeit hartnäckig festgehalten.
Das sexuelle Interesse des Kindes wendet sich vielmehr zuerst dem
Problem zu, woher die Kinder kommen, demselben, welches der
XX,. Das menschliche Sexualleben 329
Fragestellung der thebaischen Sphinx zugrunde liegt, und wird meist
durch egoistische Befürchtung bei der Ankunft eines neuen Kindes
geweckt. Die Antwort, welche die Kinderstube bereit hält, daß der
Storch die Kinder bringe, stößt viel häufiger, als wir wissen, schon
bei kleinen Kindern auf Unglauben. Die Empfindung, von den Er-
wachsenen um die Wahrheit betrogen zu werden, trägt viel zur Ver-
einsamung des Kindes und zur Entwicklung seiner Selbständigkeit
bei. Aber das Kind ist nicht imstande, dies Problem aus eigenen Mitteln
zu lösen. Seiner Erkenntnisfähigkeit sind durch seine unentwickelte
Sexualkonstitution bestimmte Schranken gesetzt. Es nimmt zuerst
an, daß die Kinder davon kommen, daB man etwas Besonderes in der
Nahrung zu sich nimmt, und weiß auch nichts davon, daß nur Frauen
Kinder bekommen können. Später erfährt man von dieser Einschrän-
kung und gibt die Ableitung des Kindes vom Essen auf, sie bleibt
für das Märchen erhalten. Das größer gewordene Kind merkt bald,
daß der Vater irgendeine Rolle beim Kinderbekommen spielen müsse,
kann aber nicht erraten, welche. Wenn es zufällig Zeuge eines ge-
schlechtlichen Aktes wird, so sieht es in ihm einen Versuch der Über-
wältigung, eine Rauferei, das sadistische Mißverständnis des Koitus.
Es bringt diesen Akt aber zunächst nicht mit dem Werden des Kindes
in Zusammenhang. Auch wenn es Blutspuren in Bett und Wäsche
der Mutter entdeckt, nimmt es sie als Beweis einer durch den Vater
zugefügten Verletzung. In noch späteren Kinderjahren ahnt es wohl,
daß das Geschlechtsglied des Mannes einen wesentlichen Anteil an
der Entstehung der Kinder hat, kann diesem Körperteil aber keine
andere Leistung zutrauen als die der Harnentleerung.
Von Anfang an sind die Kinder darin einig, daß die Geburt des
Kindes durch den Darm erfolgen müsse, das Kind also zum Vorschein
komme wie ein Kotballen. Erst nach der Entwertung aller analen
Interessen wird diese Theorie verlassen und durch die Annahme er-
setzt, daß der Nabel sich öffne oder daß die Region der Brust zwischen
beiden Mammae die Geburtsstätte sei. In solcher Weise nähert sich
das forschende Kind der Kenntnis der sexuellen Tatsachen oder geht
330 Vorlesungen zur Einfihrung in die Psychoanalyse
durch seine Unwissenheit beirrt an ihnen vorbei, bis es, meist in den
Jahren der Vorpubertät, eine gewöhnlich herabsetzende und unvoll-
ständige Aufklärung erfährt, die nicht selten traumatische Wir-
kungen äußert.
Sie werden gewiß gehört haben, meine Herren, daß der Begriff
des Sexuellen in der Psychoanalyse eine ungebührliche Erweiterung
erleidet, in der Absicht, die Sätze von der sexuellen Verursachung
der Neurosen und von der sexuellen Bedeutung der Symptome auf-
recht zu erhalten. Sie können nun selbst darüber urteilen, ob diese Er-
weiterung eine unberechtigte ist. Wir haben den Begriff der Sexualität
nur soweit ausgedehnt, daß er auch das Sexualleben der Perversen
und das.der Kinder umfassen kann. Das heißt, wir haben ihm seinen
richtigen Umfang wiedergegeben. Was man außerhalb der Psycho-
analyse Sexualität heißt, bezieht sich nur auf ein eingeschränktes, im
Diensteder Fortpflanzungstehendes undnormalgenanntesSexualleben.
XXI VORLESUNG
LIBIDOENTWICKLUNG
UND SEXUALORGANISATIONEN -
Meine Herren! Ich stehe unter dem Eindruck, daß es mir nicht
gelungen ist, Ihnen die Bedeutung; der Perversionen für unsere Auf-
fassung der Sexualität so recht überzeugend nahe zu bringen. Ich
möchte darum bessern und nachtragen, soviel ich nur kann.
Es verhält sich ja nicht so, daß die Perversionen allein uns zu jener
Abänderung des Begriffes Sexualität genötigt. hätten, welche uns so
heftigen Widerspruch eingetragen hat. Das Studium der infantilen.
Sexualität hat noch mehr dazu getan, und die Übereinstimmung der
beiden wurde für uns entscheidend. Aber die Äußerungen derinfantilen
Sexualität,so unverkennbarsieindenspäteren Kinderjahrenseinmögen,
scheinen sich doch gegen ihre Anfänge hin ins Unbestimmbare zu
verflüchtigen. Wer auf Entwicklungsgeschichte und analytischen
Zusammenhang nicht achten will, wird ihnen den Charakter des Sexu-
ellen bestreiten und ihnen dafür irgend einen undifferenzierten Cha-
rakter zuerkennen. Vergessen Sie nicht, wir sind derzeit nicht im Besitze
eines allgemein anerkannten Kennzeichens für die sexuelle Natur eines
Vorganges, es sei denn wiederum dieZugehörigkeitzur Fortpflanzungs-
funktion, die wir als zu engherzig ablehnen müssen. Die biologischen
Kriterien, wie die von W. Fließ aufgestellten Periodizitäten zu 23
und 28 Tagen, sind noch durchaus strittig; die chemischen Eigen-
tümlichkeiten der Sexualvorgänge, die wir vermuten dürfen, harren
352 | Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
erst ihrer Entdeckung. Die sexuellen Perversionen der Erwachsenen
hingegen sind etwas Greifbares und Unzweideutiges. Wie schon ihre
allgemein zugestandene Benennung erweist, sind sie unzweifelhaft
Sexualität. Mag man sie Degenerationszeichen oder anders heißen,
es hat noch niemand den Mut gefunden, sie anderswohin als zu den
Phänomenen des Sexuallebens zu stellen. Um ihretwillen allein sind wir
zur Behauptung berechtigt, daß Sexualität und Fortpflanzung nicht
zusammenfallen, denn es ist offenkundig, daß sie sämtlich das Ziel
der Fortpflanzung verleugnen,
Ich sehe da eine nicht uninteressante Parallele. Während für die
meisten „bewußt“ und „psychisch“ dasselbe ist, waren wir genötigt,
eine Erweiterung des Begriffes „psychisch“ vorzunehmen und ein
Psychisches anzuerkennen, das nicht bewußt ist. Und ganz ähnlich
ist es, wenn die anderen „sexuell“ und „zur Fortpflanzung gehörig“
— oder wenn Sie es kürzer sagen wollen: „genital“ — für identisch
erklären, während wir nicht umhin können, ein „sexuell“ gelten zu
lassen, das nicht „genital“ ist, nichts mit der Fortpflanzung zu tun
hat. Es ist nur eine formale Ähnlichkeit, aber nicht ohne tiefere Be-
gründung.
Wenn aber die Existenz der sexuellen Perversionen ein sozwingendes
Argument in dieser Frage ist, warum hat es nicht bereits längst seine
Wirkung getan und diese Frage erledigt? Ich weiß es wirklich nicht
zu sagen. Es scheint mir daran zu liegen, daß diese sexuellen Perver-
sionen mit einer ganz besonderen Acht belegt sind, die auf die Theorie
übergreift und auch ihrer wissenschaftlichen Würdigung in den Weg
tritt. Als ob niemand vergessen könnte, daß sie nicht nur etwas Ab-
scheuliches, sondern auch etwas Ungeheuerliches, Gefährliches sind,
als ob man sie für verführerisch hielte und im Grunde einen geheimen
Neid gegen die sie Genießenden niederzukämpfen hätte, etwa wie
ihn der strafende Landgraf in der berühmten Tannhäuserparodie ein-
gesteht: |
„Im Venusberg vergaß er Ehr’ und Pflicht!
— Merkwürdig, unser einem passiert so etwas nicht.“
XXI, Libidoentwicklung und Sexualorganisationen 335
In Wahrheit sind die Perversen eher arme Teufel, die außerordent-
lich hart für ihre schwer zu erringende Befriedigung büßen.
Was die perverse Betätigung trotz aller Fremdheit des Objektes
und der Ziele zu einer so unverkennbar sexuellen macht, ist
der Umstand, daß der Akt der perversen Befriedigung doch zumeist
in vollen Orgasmus und in Entleerung der Genitalprodukte ausgeht.
Das ist natürlich nur die Folge der Erwachsenheit der Personen; beim
Kinde sind Orgasmus und Genitalexkretion nicht gut möglich, sie
werden durch Andeutungen ersetzt, die wiederum nicht als sicher
sexuell anerkannt werden.
Ich muß noch etwas hinzufügen, um die Würdigung der sexuellen
Perversionen zu vervollständigen. So verrufen sie auch sein mögen,
so scharf man sie auch der normalen Sexualbetätigung gegenüber-
stellt, so zeigt doch die bequeme Beobachtung, daß dem Sexualleben
der Normalen nur selten der eine oder andere perverse Zug abgeht.
Schon der Kuß hat Anspruch auf den Namen eines perversen Aktes,
denn er besteht in der Vereinigung zweier erogener Mundzonen an
Stelle der beiderlei Genitalien. Aber niemand verwirft ihn als pervers,
er wird im Gegenteil in der Bühnendarstellung als gemilderte An-
deutung des Sexualaktes zugelassen. Gerade das Küssen kann aber leicht
zur vollen Perversion werden, wenn es nämlich so intensiv ausfällt,
daß sich Genitalentladung und Orgasmus direkt daranschließen, was
gar nicht so selten vorkommt. Im übrigen kann man erfahren, daß
Betasten und Beschauen des Objektes für den einen unentbehrliche
Bedingungen des Sexualgenusses sind, daß ein anderer auf der Höhe
der sexuellen Erregung kneift oder beißt, daß die größte Erregtheit
beim Liebenden nicht immer durch das Genitale, sondern durch eine
andere Körperregion des Objektes hervorgerufen wird, und ähnliches
in beliebiger Auswahl mehr. Es hat gar keinen Sinn, Personen mit
einzelnen solchen Zügen aus der Reihe der Normalen auszuscheiden
und zu den Perversen zu stellen, vielmehr erkennt man immer deut-
licher, daß das Wesentliche der Perversionennichtinder Überschreitung
des Sexualzieles, nicht in der Ersetzung der Genitalien, ja nicht ein-
534 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
mäl immer in der Variation des Objektes besteht, sondern allein in
der Ausschließlichkeit,mitwelchersich diese Abweichungen vollziehen,
und durch welche der der Fortpflanzung dienende Sexualakt beiseite
geschoben wird. So wiesich die perversen Handlungen als vorbereitende
oder als verstärkende Beiträge in die Herbeiführung des normalen
Sexualaktes einfügen, sind sie eigentlich keine Perversionen mehr.
Natürlich wird die Kluft zwischen der normalen und der perversen
Sexualität durch Tatsachen dieser Art sehr verringert. Es ergibt sich
ungezwungen, daß die normale Sexualität aus etwas hervorgeht, was
vor ihr bestanden hat, indem sie einzelne Züge dieses Materials als
unbrauchbar ausscheidet und die anderen zusammenfaßt, um sie einem
neuen, dem Fortpflanzungsziel, unterzuordnen. Eur
Ehe wir unsere Vertrautheit mit den Perversionen dazu verwenden,
um uns mit geklärten Voraussetzungen neuerlich in das Studium der
infantilen Sexualität zu vertiefen, muß ich Sie auf einen wichtigen
Unterschied zwischen beiden aufmerksam machen. Die perverse Sexu-
alität ist in der Regel ausgezeichnet zentriert, alles Tun drängt zu
einem —- meist zu einem einzigen — Ziel, ein Partialtrieb hat bei
ihr die Oberhand, er ist entweder der einzig nachweisbare oder hat
die anderen seinen Absichten unterworfen. In dieser Hinsicht ist
zwischen der perversen und der normalen Sexualität kein anderer
Unterschied, als daß die herrschenden Partialtriebe und somit die
Sexualziele verschiedene sind, Es ist sozusagen hier wie dort eine gut
organisierte Tyrannis, nur daß hier die eine, dort eine andere Familie
die Herrschaft an sich gerissen hat. Die infantile Sexualität ist dagegen
im großen und ganzen ohne solche Zentrierung und Organisation, ihre
einzelnen Partialtriebe sind gleichberechtigt, ein jeder geht auf eigene
Faust dem Lusterwerb nach. Der Mangel wie die Anwesenheit der
Zentrierung stimmen natürlich gut zu der Tatsache, daß beide, die
perverse wie dienormale Sexualität aus der infantilen hervorgegangen
sind. Es gibt übrigens auch Fälle von perverser Sexualität, die weit
mehr Ähnlichkeit mit der infantilen haben, indem sich zahlreiche
Partialtriebe unabhängig voneinander mit ihren Zielen durchgesetzt
XXI. Libidoentwicklung und Sexualorganisationen 335
oder besser: fortgesetzt haben. Man spricht in diesen F ällen richtiger
von Infantilismus des Sexuallebens als von Perversion.
Sovorbereitetkönnen wir an die Erörterung eines Vorschlages gehen,
der uns sicherlich nicht erspart werden wird. Man wird uns sagen:
Warum steifen Sie sich darauf, die nach ihrem eigenen Zeugnis un-
bestimmbaren Äußerungen der Kindheit, aus denen später Sexuelles
wird, auch schon Sexualität zu nennen? Warum wollen Sie sich nicht
lieber mit der physiologischen Beschreibung begnügen und einfach
sagen, beim Säugling beobachte man bereits Tätigkeiten, wie das
Lutschen oder das Zurückhalten der Exkremente, die uns zeigen, daß
er nach Organluststrebt? Dadurch würden Sie doch die jedes Gefühl
beleidigende Aufstellung eines Sexuallebens für das kleinste Kind ver-
mieden haben. — Ja, meine Herren, ich habe gar nichts gegen die
Organlust einzuwenden; ich weiß, daß die höchste Lust der sexuellen
Vereinigung auch nur einean die Tätigkeit der Genitalien gebundene
Organlust ist. Aber können Sie mir sagen, wann diese ursprünglich
indifferente Organlust den sexuellen Charakter bekommt, den sie in
späteren Phasen der Entwicklung unzweifelhaft besitzt? Wissen wir
von der „Organlust“ mehr als von der Sexualität? Sie werden ant-
worten, der sexuelle Charakter käme eben hinzu, wenn die Genitalien
ihre Rolle zu spielen beginnen; sexuell deckt sich mit genital. Sie
werden selbst die Einwendung der Perversionen ablehnen, indem Sie
mir vorhalten, daß es bei den meisten Perversionen doch auf die Er-
zielung des genitalen Orgasmus ankomme, wenn auch auf einem
anderem Wege als durch die Vereinigung der Genitalien. Sie schaffen
sich wirklich eine weit bessere Position, wenn Sie aus der Charakte-
ristik des Sexuellen die infolge der Perversionen unhaltbare Beziehung
zur Fortpflanzung streichen und dafür die Genitaltätigkeit voranstellen.
Aber dann sind wir nicht mehr weit auseinander; es stehen einfach
die Genitalorgane gegen die anderen Organe. Was machen Sie nun
aber gegen die vielfachen Erfahrungen, die Ihnen zeigen, daB die
Genitalien für die Lustgewinnung durch andere Organe vertreten
werden können, wie beim normalen Kuß, wie in den perversen Prak-
356 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
tiken der Lebewelt, wie in der Symptomatik der Hysterie? Bei dieser
Neurose ist es ganz gewöhnlich, daß Reizerscheinungen, Sensationen
und Innervationen, selbst die Vorgänge der Erektion, die an den
Genitalien daheim sind, auf andere entfernte Körperregionen ver-
schoben werden (z. B. bei der Verlegung nach oben auf Kopf und
Gesicht). In solcher Weise überführt, daß Sie nichts haben, was sie
zur Charakteristik Ihres Sexuellen festhalten können, werden Sie sich
wohl entschließen müssen, meinem Beispiel zu folgen und die Be-
zeichnung „sexuell“ auch auf die nach Organlust strebenden Betäti-
gungen der frühen Kindheit auszudehnen.
Und nun wollen Sie zu meiner Rechtfertigung noch zwei weiteren
Erwägungen Raum geben. Wie Sie wissen, heißen wir die zweifel-
haften und unbestimmbaren Lustbetätigungen der frühesten Kind-
heit sexuell, weil wir auf dem Wege der Analyse von den Symptomen
aus über unbestreitbar sexuelles Material zu ihnen gelangen. Es müßte
nicht darum auch selbst sexuell sein, zugestanden. Aber nehmen Sie
einen analogen Fall. Stellen Sie sich vor, wir hätten keinen Weg, die
Entwicklung zweier dikotyledonen Pflanzen, des Apfelbaumes und
der Bohne, aus ihren Samen zu beobachten, aber es sei uns in beiden
Fällen möglich, ihre Entwicklung vom voll ausgebildeten pflanzlichen
Individium bis zum ersten Keimling mit zwei Keimblättern rück-
schreitend zu verfolgen. Die beiden Keimblättchen sehen indifferent
aus, sindin beiden Fällen ganz gleichartig. Werdeich darumannehmen,
daß sie wirklich gleichartig sind, und daß die spezifische Differenz
zwischen Apfelbaum und Bohne erst später in die Vegetation eintritt?
Oder ist es biologisch korrekter zu glauben, daß diese Differenz schon
ım Keimling vorhanden ist, obwohl ich den Keimblättern eine Ver-
schiedenheit nicht ansehen kann. Dasselbe tun wir aber, wenn wir
die Lust bei Säuglingsbetätigungen eine sexuelle heißen. Ob alle und
jede Organlust eine sexuelle genannt werden darf, oder ob es neben
der sexuellen eine andere gibt, welche diesen Namen nicht verdient,
das kann ich hier nicht diskutieren. Ich weiß zu wenig von der Organ-
lust und von ihren Bedingungen unddarfmich beidemrückschreitenden
XXI. Libidoentwicklung und Sexualorganisationen 337
Charakter der Analyse überhaupt nicht verwundern, wenn ich am
letzten Ende bei derzeit unbestimmbaren Momenten anlange.
Und noch eins! Sie haben im ganzen für das, was Sie behaupten
wollen, für die sexuelle Reinheit des Kindes, sehr wenig, gewonnen,
auch wenn Sie mich davon überzeugen können, daß die Säuglings-
betätigungen besser als nicht sexuelle eingeschätzt werden sollen.
Denn schon vom dritten Lebensjahre an ist das Sexualleben des Kin-
des all diesen Zweifeln entzogen; um diese Zeit beginnen bereits die
Genitalien sich zu regen, es ergibt sich vielleicht regelmäßig eine
Periode von infantiler Masturbation, also Genitalbefriedigung. Die
seelischen und sozialen Äußerungen des Sexuallebens brauchen nicht
mehr vermißt zu werden; Objektwahl, zärtliche Bevorzugung ein-
zelner Personen, ja Entscheidung für eines der beiden Geschlechter,
Eifersucht, sind durch unpartelische Beobachtungen unabhängig und
vor der Zeit der Psychoanalyse festgestellt worden und können von
jedem Beobachter, der es sehen will, bestätigt werden. Sie werden
einwenden, an dem frühen Erwachen der Zärtlichkeit haben Sie nicht
gezweifelt, nur daran, daß diese Zärtlichkeit den „sexuellen“ Cha-
rakter trägt. Diesen zu verbergen haben die Kinder allerdings zwischen
drei und acht Jahren bereits gelernt, aber wenn Sie aufmerksam sind,
können Sie für die „sinnlichen“ Absichten dieser Zärtlichkeit immer-
hin genug Beweise sammeln, und was Ihnen dann noch abgeht,
werden die analytischen Ausforschungen mühelos in reichem Maße
ergeben. Die Sexualziele dieser Lebenszeit stehen in innigstem Zu-
sammenhang mit der gleichzeitigen Sexualforschung, von der ich
Ihnen einige Proben gegeben habe. Der perverse Charakter einiger
dieser Ziele hängt natürlich von der konstitutionellen Unreife des
Kindes ab, welches das Ziel des Begattungsaktes noch nicht entdeckt
hat.
Etwa vom sechsten bis achten Lebensjahr an macht sich ein Still-
stand und Rückgang in der Sexualentwicklung bemerkbar, der in den
kulturell günstigsten Fällen den Namen einer Latenzzeit verdient,
Die Latenzzeit kann auch entfallen, sie braucht keine Unterbrechung
Freud, VII, 22
358 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
———
der Sexualbetätigung und der Sexualinteressen auf der ganzen Linie
mit sich zu bringen. Die meisten Erlebnisse und seelischen Regungen
vor dem Eintritt der Latenzzeit verfallen dann der infantilen Am-
nesie, dem bereits erörterten Vergessen, welches unsereersteJugendver-
hüllt und uns ihr entfremdet. In jeder Psychoanalyse stellt sich die Auf-
gabe her, diese vergessene Lebensperiode in die Erinnerung zurück-
zuführen; man kann sich der Vermutung nicht erwehren, daß die
in ihr enthaltenen Anfänge des Sexuallebens das Motiv zu diesem
Vergessen ergeben haben, daß dies Vergessen also ein Erfolg der Ver-
drängung ist.
Das Sexualleben des Kindes zeigt vom dritten Lebensjahr an viel
Übereinstimmung mit dem des Erwachsenen; es unterscheidet sich
von dem letzteren, wie wir bereits wissen, durch den Mangel einer
festen Organisation unter dem Primat der Genitalien, durch die un-
vermeidlichen Züge von Perversion und natürlich auch durch weit
geringere Intensität der ganzen Strebung. Aber die für die Theorie
interessantesten Phasen der Sexual-, oder wie wir sagen wollen, der
Libidoentwicklung, liegen hinter diesem Zeitpunkt. Diese Entwick-
lung wird so rasch durchlaufen, daß es der direkten Beobachtung
wahrscheinlich niemals gelungen wäre, ihre flüchtigen Bilder fest-
zuhalten. Erst mit Hilfe der psychoanalytischen Durchforschung der
Neurosen ist es möglich geworden, noch weiter zurückliegende Phasen
der Libidoentwicklung zu erraten. Es sind dies gewiß nichts anderes
als Konstruktionen, aber wenn Sie die Psychoanalyse praktisch be-
treiben, werden Sie finden, daß es notwendige und nutzbringende
Konstruktionen sind. Wie es zugeht, daß die Pathologie uns hier Ver-
hältnisse verraten kann, welche wir am normalen Objekt übersehen
müssen, werden Sie bald verstehen.
Wir können also jetzt angeben, wie sich das Sexualleben des Kindes
gestaltet, ehe der Primat der Genitalien hergestellt ist, der sich ın
der ersten infantilen Epoche vor der Latenzzeit vorbereitet und von
der Pubertät an dauernd organisiert. Es besteht in dieser Vorzeit eine
Art von lockerer Organisation, die wir prägenital nennen wollen.
XXI. Libidoentwicklung und Sexualorganisationen 339
Im Vordergrunde dieser Phase stehen aber nicht die genitalen Partial-
triebe, sondern die sadistischen und analen. Der Gegensatz von
männlich und weiblich spielt hier noch keine Rolle; seine Stelle
nimmt der Gegensatz zwischen aktiv und passiv ein, den man als
den Vorläufer der sexuellen Polarität bezeichnen kann, mit welcher
er sich auch späterhin verlötet. Was uns an den Betätigungen dieser
Phase als männlich erscheint, wenn wir sie von der Genitalphase her
betrachten, erweist sich als Ausdruck eines Bemächtigungstriebes, der
leicht ins Grausame übergreift. Strebungen mit passivem Ziel knüpfen
sich an die um diese Zeit sehr bedeutsame erogene Zone des Darm-
ausganges. Schau- und Wißtrieb regen sich kräftig;; das Genitale nimmt _
am Sexualleben eigentlich nur in seiner Rolle als Exkretionsorgan
für den Harn Anteil. Es fehlt den Partialtrieben dieser Phase nicht
an Objekten, aber diese Objekte fallen nicht notwendig zu einem Ob-
jekt zusammen. Die sadistisch-anale Organisation ist die nächste Vor-
stufe für die Phase des Genitalprimats. Ein eingehenderes Studium
weist nach, wieviel von ihr für die spätere endgültige Gestaltung er-
halten bleibt, und auf welchen Wegen ihre Partialtriebe zur Ein-
reihung in die neue Genitalorganisation genötigt werden. Hinter der
sadistisch-analen Phase der Libidoentwicklung gewinnen wir noch
den Ausblick auf eine frühere, noch mehr primitive Organisations-
stufe, auf welcher die erogene Mundzone die Hauptrolle spielt. Sie
können erraten, daß die Sexualbetätigung des Lutschens ihr angehört,
und dürfen das Verständnis der alten Ägypter bewundern, deren
Kunst das Kind, auch den göttlichen Horus, durch den Finger im
Munde charakterisiert. Abraham hat erst kürzlich Mitteilungen
darüber gemacht, welche Spuren diese primitive orale Phase für das
Sexualleben späterer Jahre hinterläßt.
Meine Herren! Ich kann ja vermuten, daß die letzten Mitteilungen
über die Sexualorganisationen Ihnen mehr Belastung als Belehrung
gebracht haben. Vielleicht bin ich auch wieder zu weit in Einzel-
heiten eingegangen. Aber haben Sie Geduld; was Sie da gehört haben,
wird Ihnen durch spätere Verwendung wertvoller werden. Halten
22*
340 Vorlesungen. zur Einführung in die Psychoanalyse
Sie für jetzt an dem Eindruck fest, daß das Sexualleben — wie wir
sagen: die Libidofunktion — nicht als etwas Fertiges auftritt, auch
nicht in seiner eigenen Ähnlichkeit weiterwächst, sondern eine Reihe
von aufeinanderfolgenden Phasen durchmacht, die einander nicht
gleichsehen, daß es also eine mehrmals wiederholte Entwicklung ist
wie von der Raupe zum Schmetterling. Wendepunkt der Entwick-
lung ist die Unterordnung aller sexuellen Partialtriebe unter den
Primat der Genitalien und damit die Unterwerfung der Sexualität
unter die Fortpflanzungsfunktion. Vorher ein sozusagen zerfahrenes
Sexualleben, selbständige Betätigung der einzelnen, nach Organlust
strebenden Partialtriebe. Diese Anarchie gemildert durch Ansätze zu
„prägenitalen“ Organisationen, zunächst die sadistisch-anale Phase,
hinter ihr die orale, vielleicht die primitivste. Dazu die verschiedenen,
noch ungenau bekannten Prozesse, welche die eine Organisationsstufe
in die spätere und nächsthöhere überführen. Welche Bedeutung es
für die Einsicht in die Neurosen hat, daß die Libido einen so langen
und absatzreichen Entwicklungsweg zurücklegt, werden wir ein
nächstes Mal erfahren.
Heute werden wir noch eine andere Seite dieser Entwicklung ver-
folgen, nämlich die Beziehung der sexuellen Partialtriebe zum Ob-
jekt. Vielmehr wir werden einen flüchtigen Überblick über diese
Entwicklung nehmen, um bei einem ziemlich späten Ergebnis der-
selben länger zu verweilen. Also einige der Komponenten des Sexual-
triebes haben von vorneherein ein Objekt und halten es fest, so der
Bemächtigungstrieb (Sadismus), der Schau- und Wißtrieb. Andere,
die deutlicher an bestimmte erogene Körperzonen geknüpft sind,
haben es nur im Anfang, solange sie sich noch an die nicht sexuellen
Funktionen anlehnen, und geben es auf, wenn sie sich von diesen
loslösen. So ist das erste Objekt der oralen Komponente des Sexual-
triebes die Mutterbrust, welche das Nahrungsbedürfnis des Säuglings
befriedigt. Im Akte des Lutschens macht sich die beim Saugen mit-
befriedigte erotische Komponente selbständig, gibt das fremde Objekt
auf und ersetzt es durch eine Stelle am eigenen Körper. Der orale
XXI. Libidoentwicklung und Sexualorganisationen 341
Trieb wird autoerotisch, wie es die analen und die anderen ero-
genen 'Iriebe von vornherein sind. Die weitere Entwicklung hat,
um es aufs knappste auszudrücken, zwei Ziele: erstens den Autoero-
tismus zu verlassen, das Objekt am eigenen Körper wiederum gegen
ein fremdes Objekt zu vertauschen, und zweitens: die verschiedenen
Objekte der einzelnen Triebe zu unifizieren, durch ein einziges Ob-
jekt zu ersetzen. Das kann natürlich nur gelingen, wenn dies eine
Objekt wiederum ein ganzer, dem eigenen ähnlicher Körper ist. Es
kann sich auch nicht vollziehen, ohne daß eine Anzahl der autoero-
tischen 'Triebregungen als unbrauchbar zurückgelassen wird.
Die Prozesse der Objektfindung sind ziemlich verwickelt, haben
bisher auch noch keine übersichtliche Darstellung gefunden. Heben
wir für unsere Absicht hervor, daß, wenn der Prozeß in den Kinder-
jahren vor der Latenzzeit einen gewissen Abschluß erreicht hat, das
gefundene Objekt sich als fast identisch erweist mit dem ersten, durch
Anlehnung gewonnenen Objekt des oralen Lusttriebes. Es ist, wenn
auch nicht die Mutterbrust, so doch die Mutter. Wir nennen die
Mutter das erste Liebesobjekt. Von Liebe sprechen wir nämlich,
wenn wir die seelische Seite der Sexualstrebungen in den Vorder-
grund rücken und die zu Grunde liegenden körperlichen oder „sinn-
lichen“ Triebanforderungen zurückdrängen oder für einen Moment
vergessen wollen. Um die Zeit, da die Mutter Liebesobjekt wird, hat
auch bereits beim Kinde die psychische Arbeit der Verdrängung be-
gonnen, welche seinem Wissen die Kenntnis eines Teiles seiner
Sexualziele entzieht. An diese Wahl der Mutter zum Liebesobjekt
knüpft nun all das an, was unter dem Namen des „Ödipuskom-
plexes“ in der psychoanalytischen Aufklärung der Neurosen zu so
großer Bedeutung gekommen ist und einen vielleicht nicht geringeren
Anteil an dem Widerstand gegen die Psychoanalyse gewonnen hat.
Hören Sie eine kleine Begebenheit an, die sich im Laufe dieses
Krieges zugetragen hat: Einer der wackeren Jünger der Psychoana-
lyse befindet sich als Arzt an der deutschen Front irgendwo in Polen
und erregt die Aufmerksamkeit der Kollegen dadurch, daß er ge-
342 V: orlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
legentlich eine unerwartete Beeinflussung eines Kranken zu stande
bringt. Auf Befragen bekennt er, daß er mit den Mitteln der Psycho-
analyse arbeitet, und muß sich bereit erklären, den Kollegen von
seinem Wissen mitzuteilen. Allabendlich versammeln sich nun die
Ärzte des Korps, Kollegen und Vorgesetzte, um den Geheimlehren
der Analyse zu lauschen. Das geht eine Weile gut, aber nachdem er
den Hörern vom Ödipuskomplex gesprochen hat, erhebt sich ein Vor-
gesetzter und äußert, das glaube er nicht, es sei eine Gemeinheit des
Vortragenden, ıhnen, braven Männern, die für ihr Vaterland kämpfen,
und Familienvätern solche Dinge zu erzählen, und er verbiete die
Fortsetzung der Vorträge. Damit war es zu Ende. Der Analytiker
ließ sich an einen anderen Teil der Front versetzen. Ich glaube aber,
es steht schlecht, wenn der deutsche Sieg einer solchen „Organisation “
der Wissenschaft bedarf, und die deutsche Wissenschaft wird diese
Organisation nicht gut vertragen.
Nun werden Sie darauf gespannt sein zu erfahren, was dieser
schreckliche Ödipuskomplex enthält. Der Name sagt es Ihnen. Sie
kennen alle die griechische Sage vom König Ödipus, der durch das
Schicksal dazu bestimmt ist, seinen Vater zu töten und seine Mutter
zum Weibe zu nehmen, der alles tut, um dem Orakelspruch zu ent-
gehen, und sich dann durch Blendung bestraft, nachdem er erfahren,
daß er diese beiden Verbrechen unwissentlich doch begangen hat.
Ich hoffe, viele von Ihnen haben die erschütternde Wirkung der Tra-
gödie, in welcher Sophokles diesen Stoff behandelt, an sich selbst
erlebt. Das Werk des attischen Dichters stellt dar, wie die längst ver-
gangene Tat des Ödipus durch eine kunstvoll verzögerte und durch
immer neue Anzeichen angefachte Untersuchung allmählich enthüllt
wird; es hat insofern eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Fortgang
einer Psychoanalyse. Im Verlaufe des Dialogs kommt es vor, daß die
verblendete Mutter-Gattin Jokaste sich der Fortsetzung der Unter-
suchung widersetzt. Sie beruft sich darauf, daß vielen Menschen im
Traum zuteil geworden, daß sie der Mutter beiwohnen, aber Träume
dürfe man gering achten. Wir achten Träume nicht gering, am we-.
XXI. Libidoentwicklung und Sexualorganisationen 343
nigsten typische Träume, solche, die sich vielen Menschen ereignen,
und zweifeln nicht daran, daß der von Jokaste erwähnte Traum innig
mit dem befremdenden und erschreckenden Inhalt der Sage zusam-
menhänsgt.
Es ist zu verwundern, daß die Tragödie des Sophokles nicht viel-
mehr empörte Ablehnung beim Zuhörer hervorruft, eine ähnliche
und weit mehr berechtigte Reaktion als die unseres schlichten Mili-
tärarztes. Denn sie ist im Grunde ein unmoralisches Stück, sie hebt die
sittliche Verantwortlichkeit des Menschen auf, zeigt göttliche Mächte
als die Anordner des Verbrechens und die Ohnmacht der sittlichen
Regungen des Menschen, die sich gegen das Verbrechen wehren.
Man könnte leicht glauben, daß der Sagenstoff eine Anklage der Götter
und des Schicksals beabsichtige, und in den Händen des kritischen,
mit den Göttern zerfallenen, Euripides wäre es wahrscheinlich eine
solche Anklage geworden. Aber beim gläubigen Sophokles ist von
dieser Verwendung keine Rede; eine fromme Spitzfindigkeit, es sei
die höchste Sittlichkeit, sich dem Willen der Götter, auch wenn er
Verbrecherisches anordne, zu beugen, hilft über die Schwierigkeit
hinweg. Ich kann nicht finden, daß diese Moral zu den Stärken des
Stückes gehört, aber sie ist für die Wirkung desselben gleichgültig.
Der Zuhörer reagiert nicht auf sie, sondern auf den geheimen Sinn
und Inhalt der Sage. Er reagiert so, als hätte er durch Selbstanalyse
den Ödipuskomplex in sich erkannt und den Götterwillen sowie das
Orakel als erhöhende Verkleidungen seines eigenen Unbewußten ent-
larvt. Als ob er sich der Wünsche, den Vater zu beseitigen und an
seiner Statt die Mutter zum Weibe zu nehmen, erinnern und sich
über sie entsetzen müßte. Er versteht auch die Stimme des Dichters
so, als ob sie ihm sagen wollte: Du sträubst dich vergebens gegen
deine Verantwortlichkeit und beteuerst, was du gegen diese verbre-
cherischen Absichten getan hast. Du bist doch schuldig, denn du
hast sie nicht vernichten können; sie bestehen noch unbewußt in dir.
Und darin ist psychologische Wahrheit enthalten. Auch wenn der
Mensch seine bösen Regungen ins Unbewußte verdrängt hat und
344 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
sich dann sagen möchte, daß er für sie nicht verantwortlich ist, wird
er doch gezwungen, diese Verantwortlichkeit als ein Schuldgefühl
von ihm unbekannter Begründung zu verspüren.
Es ist ganz unzweifelhaft, daß man in dem Ödipuskomplex eine
der wichtigsten Quellen des Schuldbewußtseins sehen darf, von dem
die Neurotiker so oft gepeinigt werden. Aber noch mehr: in einer
Studie über die Anfänge der menschlichen Religion und Sittlichkeit,
die ich 1913 unter dem Titel „Totem und Tabu“ veröffentlicht habe,
ist mir die Vermutung nahe gekommen, daß vielleicht die Mensch-
heit als Ganzes ihr Schuldbewußtsein, die letzte Quelle von Religion
und Sittlichkeit, zu Beginn ihrer Geschichte am Ödipuskomplex er-
worben hat. Ich möchte Ihnen gerne mehr darüber sagen, aber ich
unterlasse es besser. Es ist schwer, von diesem "Thema abzubrechen,
wenn man mit ihm begonnen hat, und wir müssen zur individuellen
Psychologie zurückkehren.
Was läßt also die direkte Beobachtung des Kindes zur Zeit der
Objektwahl vor der Latenzzeit vom Ödipuskomplex erkennen? Nun,
man sieht leicht, daß der kleine Mann die Mutter für sich allein
haben will, die Anwesenheit des Vaters als störend empfindet, unwillig
wird, wenn dieser sich Zärtlichkeiten gegen die Mutter erlaubt, seine
Zufriedenheit äußert, wenn der Vater verreist oder abwesend ist.
Häufig gibt er seinen Gefühlen direkten Ausdruck in Worten, ver-
spricht der Mutter, daß er sie heiraten wird. Man wird meinen, das
sei wenig im Vergleich zu den Taten des Ödipus, aber es ist tatsächlich
genug, es ist im Keime dasselbe. Die Beobachtung wird häufig durch
den Umstand verdunkelt, daß dasselbe Kind gleichzeitig bei anderen
Gelegenheiten eine große Zärtlichkeit für den Vater kundgibt; allein
solche gegensätzliche — oder besser gesagt: ambivalente — Ge-
fühlseinstellungen, die beim Erwachsenen zum Konflikt führen wür-
den, vertragen sich beim Kinde eine lange Zeit ganz gut miteinander,
wie sie später im Unbewußten dauernd nebeneinander Platz finden.
Man wird auch einwenden wollen, daß das Benehmen des kleinen
Knaben egoistischen Motiven entspringt und keine Berechtigung zur
XXI. Libidoentwicklung und Sexualorganisationen 345
Aufstellung eines erotischen Komplexes gibt. Die Mutter sorgt für
alle Bedürfnisse des Kindes, und das Kind hat darum ein Interesse
daran, daß sie sich um keine andere Person bekümmere. Auch das
ist richtig, aber es wird bald klar, daß in dieser wie in ähnlichen
Situationen das egoistische Interesse nur die Anlehnung bietet, an
welche die erotische Strebung anknüpft. Zeigt der Kleine die un-
verhüllteste sexuelle Neugierde für seine Mutter, verlangt er, nachts
bei ihr zu schlafen, drängt sich zur Anwesenheit bei ihrer Toilette
auf oder unternimmt er gar Verführungsversuche, wie es die Mutter
so oft feststellen und lachend berichten kann, so ist die erotische
Natur der Bindung an die Mutter doch gegen jeden Zweifel gesichert.
Man darf auch nicht vergessen, daß die Mutter dieselbe Fürsorge für
ihr Töchterchen entfaltet, ohne dieselbe Wirkung zu erzielen, und
daß der Vater oft genug mit ihr in der Bemühung um den Knaben
wetteifert, ohne daß es ihm gelänge, sich dieselbe Bedeutung wie die
Mutter zu erwerben. Kurz, daß das Moment der geschlechtlichen Be-
vorzugung durch keine Kritik aus der Situation zu eliminieren ist.
Vom Standpunkt des egoistischen Interesses wäre es nur unklug von
dem kleinen Mann, wenn er nicht lieber zwei Personen in seinen
Diensten dulden würde, als nur eine von ihnen.
Ich habe, wie Sie merken, nur das Verhältnis des Knaben zu Vater
und Mutter geschildert. Für das kleine Mädchen gestaltet es sich mit
den notwendigen Abänderungen ganz ähnlich. Die zärtliche Anhäng-
lichkeit an den Vater, das Bedürfnis, die Mutter als überflüssig zu
beseitigen und ihre Stelle einzunehmen, eine bereits mit den Mitteln
der späteren Weiblichkeit arbeitende Koketterie ergeben gerade beim
kleinen Mädchen ein reizvolles Bild, welches uns an den Ernst und
die möglichen schweren Folgen hinter dieser infantilen Situation ver-
gessen läßt. Versäumen wir nicht hinzuzufügen, daß häufig die Eltern
selbst einen entscheidenden Einfluß auf die Erweckung der Ödipus-
einstellung des Kindes üben, indem sie selbst der geschlechtlichen An-
ziehung folgen, und wo mehrere Kinder sind, in der deutlichsten
Weise der Vater das Töchterchen und die Mutter den Sohn in ihrer
34.6 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Zärtlichkeit bevorzugen. Aber die spontane Natur des kindlichen Ödi-
puskomplexes kann nicht einmal durch dieses Moment ernstlich er-
schüttert werden. Der Ödipuskomplex erweitert sich zum Familien-
komplex, wenn andere Kinder dazukommen. Er motiviert nun mit
neuerlicher Anlehnung an die egoistische Schädigung, daß diese Ge-
schwister mit Abneigung empfangen und unbedenklich durch den
Wunsch beseitigt werden. Diesen Haßempfindungen geben die Kinder
sogar in der Regel weit eher wörtlichen Ausdruck als den aus dem
Elternkomplex entspringenden. Geht ein solcher Wunsch in Erfüllung
und nimmt der Tod den unerwünschten Zuwachs binnen kurzem
wieder weg, so kann man aus späterer Analyse erfahren, ein wie
wichtiges Erlebnis dieser Todesfall für das Kind gewesen ist, wiewohl
er im Gedächtnis desselben nicht gehaftet zu haben braucht. Das
durch die Geburt eines Geschwisterchens in die zweite Linie ge-
drängte, für die erste Zeit von der Mutter fast isolierte Kind, vergißt
ihr diese Zurückstellung nur schwer; Gefühle, die man beim Er-
wachsenen als schwere Erbitterung bezeichnen würde, stellen sich
bei ihm ein und werden oft zur Grundlage einer dauernden Ent-
fremdung. Daß die Sexualforschung mit all ihren Konsequenzen ge-
wöhnlich an diese Lebenserfahrung des Kindes anknüpft, haben wir
schon erwähnt. Mit dem Heranwachsen dieser Geschwister erfährt
die Einstellung zu ihnen die bedeutsamsten Wandlungen. Der Knabe
kann die Schwester zum Liebesobjekt nehmen als Ersatz für die treu-
lose Mutter; zwischen mehreren Brüdern, die um ein jüngeres Schwe-
sterchen werben, ergeben sich schon in der Kinderstube die für das
spätere Leben bedeutsamen Situationen einer feindseligen Rivalıtät.
Ein kleines Mädchen findet im älteren Bruder einen Ersatz für den
Vater, der sich nicht mehr wie in den frühesten Jahren zärtlich um
sie kümmert, oder sie nimmt eine jüngere Schwester zum Ersatz für
das Kind, das sie sich vergeblich vom Vater gewünscht hat.
Solches und sehr viel mehr von ähnlicher Natur zeigt Ihnen die
direkte Beobachtung der Kinder und die Würdigung ihrer klar er-
haltenen, von der Analyse nicht beeinflußten Erinnerungen aus den
XXI. Libidoentwicklung und Sexualorganisationen 347
Kinderjahren. Sie werden daraus unter anderem den Schluß ziehen,
daß die Stellung eines Kindes in der Kinderreihe ein für die Gestaltung
seines späteren Lebens überaus wichtiges Moment ist, welches in jeder
Lebensbeschreibung Rücksicht finden sollte. Aber, was wichtiger ist,
Sie werden sich angesichts dieser mühelos zu gewinnenden Auf-
klärungen der Äußerungen der Wissenschaft zur Erklärung des In-
zestverbotes nicht ohne Lächeln erinnern können. Was ist da nicht
alles erfunden worden! Die geschlechtliche Neigung soll durch das
Zusammenleben von Kindheit her von den andersgeschlechtlichen
Mitgliedern derselben Familie abgelenkt worden sein, oder eine bio-
logische Tendenz zur Vermeidung der Inzucht soll in der angeborenen
Inzestscheu seine psychische Repräsentanz finden! Wobei noch ganz
vergessen wird, daß es keines so unerbittlichen Verbotes durch Ge-
setz und Sitte bedürfte, wenn es irgend verläßliche natürliche Schran-
ken gegen die Inzestversuchung gäbe. Im Gegenteil liegt die Wahr-
heit. Die erste Objektwahl derMenschen istregelmäßig eineinzestuöse,
beim Manne auf Mutter und Schwester gerichtete, und es bedarf der
schärfsten Verbote, um diese fortwirkende infantile Neigung von der
Wirklichkeit abzuhalten. Bei den heute noch lebenden Primitiven,
den wilden Völkern, sind die Inzestverbote noch viel schärfer als bei
uns, und kürzlich hat Th. Reik in einer glänzenden Arbeit gezeigt,
daß die Pubertätsriten der Wilden, die eine Wiedergeburt darstellen,
den Sinn haben, die inzestuöse Bindung der Knaben an ihre Mutter
aufzuheben -und ihre Versöhnung mit dem Vater herzustellen.
Die Mythologie belehrt Sie, daß der von den Menschen angeblich
so verabscheute Inzest unbedenklich den Göttern zugestanden wird,
und aus der alten Geschichte können Sie erfahren, daß die inzestuöse
Schwesterehe für die Person des Herrschers geheiligte Vorschrift war
(bei den alten Pharaonen, den Incas von Peru). Es handelt sich also
um ein der gemeinen Menge versagtes Vorrecht. |
Der Mutterinzest ist das eine Verbrechen des Ödipus, der Vater-
mord das andere. Nebenbei erwähnt, es sind auch die beiden großen
Verbrechen, welche die erste sozial-religiöse Institution der Menschen,
348 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
der Totemismus, verpönt. Wenden wir uns nun von der direkten
Beobachtung des Kindes zur analytischen Erforschung des neurotisch
gewordenen Erwachsenen. Was leistet die Analyse zur weiteren Kennt-
nis des Ödipuskomplexes? Nun, das ist kurz zu sagen. Sie weist ihn
so auf, wie ihn die Sage erzählt; sie zeigt, daB jeder dieser Neurotiker
selbst ein Ödipus war oder, was auf dasselbe ausgeht, in der Reaktion
auf den Komplex ein Hamlet geworden ist. Natürlich ist die ana-
lytische Darstellung des Ödipuskomplexes eine Vergrößerung und
Vergröberung; der infantilen Skizze. Der Haß gegen den Vater, die
Todeswünsche gegen ihn, sind nicht mehr schüchtern angedeutet,
die Zärtlichkeit für die Mutter bekennt sich zum Ziel, sie als Weib
zu besitzen. Dürfen wir diese grellen und extremen Gefühlsregungen
wirklich jenen zarten Kinderjahren zutrauen oder täuscht uns die
Analyse durch die Einmengung eines neuen Moments? Es ist nicht
schwer, ein solches aufzufinden. Jedesmal, wenn ein Mensch über
Vergangenes berichtet, und sei er auch ein Geschichtschreiber, haben
wir in Betracht zu ziehen, was er unabsichtlich aus der Gegenwart
oder aus dazwischenliegenden Zeiten in die Vergangenheit zurück-
versetzt, so daB er das Bild derselben fälscht. Im Falle des Neurotikers
ist es sogar fraglich, ob diese Rückversetzung eine ganz und gar un-
absichtliche ist; wir werden Motive für sie später kennenlernen und
der Tatsache des „Rückphantasierens“ in frühe Vergangenheit über-
haupt gerecht werden müssen. Wir entdecken auch leicht, daß der
Haß gegen den Vater durch eine Anzahl von Motiven verstärkt ist,
die aus späteren Zeiten und Beziehungen stammen, daß die sexuellen
Wünsche auf die Mutter in Formen gegossen sind, die dem Kinde
noch fremd sein mußten. Aber es wäre ein vergebliches Bemühen,
wenn wir das Ganze des Ödipuskomplexes durch Rückphantasieren
erklären und auf spätere Zeiten beziehen wollten. Der infantile Kern
und auch mehr oder weniger vom Beiwerk bleibt bestehen, wie ıhn
die direkte Beobachtung des Kindes bestätigt.
Die klinische Tatsache, die uns hinter der analytisch festgestellten
Form des Ödipuskomplexes entgegentritt, ist nun von der höchsten
XXT. Libidoentwicklung und Sexualorganisationen 349
praktischen Bedeutung. Wir erfahren, daß zur Zeit der Pubertät,
wenn der Sexualtrieb zuerst in voller Stärke seine Ansprüche erhebt,
die alten familiären und inzestuösen Objekte wieder aufgenommen
und von neuem libidinös besetzt werden. Die infantile Objektwahl
war nur ein schwächliches, aber Richtung gebendes Vorspiel der
Objektwahl in der Pubertät. Hier spielen sich nun sehr intensive Ge-
fühlsvorgänge in der Richtung des Ödipuskomplexes oder in der
Reaktion auf ihn ab, die aber, weil ihre Voraussetzungen unerträglich
geworden sind, zum großen Teil dem Bewußtsein ferne bleiben
müssen. Von dieser Zeit an muß sich das menschliche Individuum
der großen Aufgabe der Ablösung von den Eltern widmen, nach
deren Lösung es erst aufhören kann Kind zu sein, um ein Mitglied
der sozialen Gemeinschaft zu werden, Die Aufgabe besteht für den
Sohn darin, seine libidinösen Wünsche von der Mutter zu lösen, um
sie für die Wahl eines realen fremden Liebesobjektes zu verwenden,
und sich mit dem Vater zu versöhnen, wenn er in Gegnerschaft zu
ihm verblieben ist, oder sich von seinem Druck zu befreien, wenn
er in Reaktion auf die infantile Auflehnung in die Unterwürfigkeit
gegen ihn geraten ist. Diese Aufgaben ergeben sich für jedermann;
es ist beachtenswert, wie selten ihre Erledigung in idealer Weise,
d. h. psychologisch wie sozial korrekt, gelingt. Den Neurotikern aber
gelingt diese Lösung überhaupt nicht, der Sohn bleibt sein lebelang
unter die Autorität des Vaters gebeugt und ist nicht imstande, seine
Libido auf ein fremdes Sexualobjekt zu übertragen. Dasselbe kann
mit Veränderung der Beziehung das Los der Tochter werden. In
diesem Sinne gilt der Ödipuskomplex mit Recht als der Kern der
Neurosen.
Sie ahnen, meine Herren, wie flüchtig ich über eine große Anzahl
von praktisch wie theoretisch bedeutsamen Verhältnissen, die mit dem
Ödipuskomplex zusammenhängen, hinwegsetze. Ich gehe auch auf
seine Variationen und seine mögliche Umkehrung nicht ein. Von den
entfernteren Beziehungen desselben will ich Ihnen nur noch andeuten,
daß er sich als höchst bestimmend für die dichterische Produktion
350 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
erwiesen hat. Otto Rank hat in einem verdienstvollen Buch gezeigt,
daß die Dramatiker aller Zeiten ihre Stoffe hauptsächlich dem Ödipus-
und Inzestkomplex, dessen Variationen und Verschleierungen, ent-
nommen haben. Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, daß die beiden
verbrecherischen Wünsche des Ödipuskomplexes längst vor der Zeit
der Psychoanalyse als die richtigen Repräsentanten des ungehemmten
Trieblebens erkannt worden sind. Unter den Schriften des Enzyklo-
pädisten Diderot finden Sie einen berühmten Dialog „Le neveu de
Rameau“, den kein Geringerer als Goethe deutsch bearbeitet hat.
Dort können Sie den merkwürdigen Satz lesen: Si le petit sauvage
etait abandonne a lui-meme, quwil conserva toute son imbecillite et quil
reunit au peu de raison de lenfant au berceau la violence des passions
de ’homme de trente ans, ıl tordrait le cou a son pere et coucherait
avec sa mere.
Aber etwas anderes kann ich nicht übergehen. Die Mutter-Gattin
des Ödipus soll uns nicht vergeblich an den Traum gemahnt haben.
Erinnern Sie sich noch des Resultates unserer Traumanalysen, daß
die traumbildenden Wünsche so häufig perverser, inzestuöser Natur
sind oder eine nicht geahnte Feindseligkeit gegen nächste und ge-
liebte Angehörige verraten? Wir haben es damals unaufgeklärt ge-
lassen, woher diese bösen Regungen stammen. Nun können Sie sich’s
selbst sagen. Es sind frühinfantile, fürs bewußte Leben längst auf-
gegebene Unterbringungen der Libido und Objektbesetzungen, die
sich nächtlicherweile noch als vorhanden und als in gewissem Sinne.
leistungsfähig erweisen. Da aber alle Menschen solche perverse, inze-
stuöse und todeswütige Träume haben, nicht bloß die Neurotiker,
dürfen wir den Schluß ziehen, daß auch die heute Normalen den
Entwicklungsweg über die Perversionen und die Objektbesetzungen
des Ödipuskomplexes zurückgelegt haben, daß dieser Weg der der
normalen Entwicklung ist, daß die Neurotiker uns nur vergrößert
und vergröbert zeigen, was uns die Traumanalyse auch beim Gesunden
verrät.Unddiesisteinesder Motive, weshalb wirdasStudium der Träume
dem der neurotischen Symptome vorangeschickt haben.
XXI. VORLESUNG
GESICHTSPUNKTE DER ENTWICKLUNG
UND REGRESSION. ÄTIOLOGIE
Meine Damen und Herren! Wir haben gehört, daß die Libido-
funktion eine weitläufige Entwicklung durchmacht, bis sie in der
normal genannten Weise in den Dienst der Fortpflanzung treten kann.
Ich möchte Ihnen nun vorführen, welche Bedeutung diese "Tatsache
für die Verursachung der Neurosen hat.
Ich glaube, wir befinden uns im Einklang mit den Lehren der all-
gemeinen Pathologie, wenn wirannehmen, daßeinesolcheEntwicklung
zweierlei Gefahren mit sich bringt, erstens die der Hemmung und
zweitens die der Regression. Das heißt, bei der allgemeinen Neigung
biologischer Vorgänge zur Variation wird es sich ereignen müssen,
daß nicht alle vorbereitenden Phasen gleich gut durchlaufen und voll-
ständig überwunden werden; Anteile der Funktion werden dauernd
auf diesen frühen Stufen zurückgehalten werden, und dem Gesamt-
bild der Entwicklung wird ein gewisses Maß von Entwicklungs-
hemmung beigemengt sein.
Suchen wir uns Analogien zu diesen Vorbäubin auf anderen Ge-
bieten. Wenn ein ganzes Volk seine Wohnsitze verläßt, um neue auf-
zusuchen, wie es in früheren Perioden der Menschengeschichte oft-
mals geschah, so ist es gewiß nicht in seiner Vollzahl an dem neuen
Orte angekommen. Von anderen Verlusten abgesehen, muß es sich
regelmäßig zugetragen haben, daß kleine Haufen oder Verbände der
352 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Wanderer unterwegs Halt machten und sich an diesen Stationen nie-
derließen, während die Hauptmenge weiterzog. Oder, um näherlie-
gende Vergleiche zu suchen, Sie wissen, daß bei den höchsten Säuge-
tieren die männlichen Keimdrüsen, die ursprünglich tief im Inneren
des Bauchraumes lagern, zu einer gewissen Zeit des Intrauterinlebens
eine Wanderung antreten, die sie fast unmittelbar unter die Haut
des Beckenendes geraten läßt. Als Folge dieser Wanderung findet
man bei einer Anzahl von männlichen Individuen, daß eines der
paarigen Organe in der Beckenhöhle zurückgeblieben ist, oder daß
es eine dauernde Lagerung im sogenannten Leistenkanal gefunden
hat, den beide auf ihrer Wanderung passieren müssen, oder daß we-
nigstens dieser Kanal offen geblieben ist, der normalerweise nach Ab-
schluß des Lagewechsels der Keimdrüsen verwachsen soll. Als ich als
junger Student meine erste wissenschaftliche Arbeit unter der Leitung
v. Brückes ausführte, beschäftigte ich mich mit dem Ursprung
der hinteren Nervenwurzeln im Rückenmark eines kleinen, noch
sehr archaisch gebildeten Fisches. Ich fand, daß die Nervenfasern die-
ser Wurzeln aus großen Zellen im Hinterhorn der grauen Substanz
hervorgehen, was bei anderen Rückenmarktieren nicht mehr der
Fall ist. Aber ich entdeckte auch bald darauf, daß solche Nervenzellen
sich außerhalb der grauen Substanz an der ganzen Strecke bis zum
sogenannten Spinalganglion der hinteren Wurzel vorfinden, woraus
ich den Schluß zog, daß die Zellen dieser Ganglienhaufen aus dem
Rückenmark in die Wurzelstrecke der Nerven gewandert sind. Dies
zeigt auch die Entwicklungsgeschichte; bei diesem kleinen Fisch war
aber der ganze Weg der Wanderung durch zurückgebliebene Zellen
kenntlich gemacht. Bei tieferem Eingehen wird es Ihnen nicht schwer
fallen, die schwachen Punkte dieser Vergleichungen aufzuspüren.
Wir wollen es darum direkt aussprechen, dal wir es für jede einzelne
Sexualstrebung für möglich halten, daß einzelne Anteile von ihr auf
früheren Stufen der Entwicklung zurückgeblieben sind, wenngleich
andere Anteile das Endziel erreicht haben mögen. Sie erkennen
dabei, daß wir uns jede solche Strebung als eine seit Lebensbeginn
XXII. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie 253
kontinuierliche Strömung vorstellen, die wir gewissermaßen künst-
lich in gesondert aufeinanderfolgende Schübe zerlegen. Ihr Ein-
druck, daß diese Vorstellungen einer weiteren Klärung bedürftig
sind, hat Recht, aber der Versuch würde uns zu weit abführen. Lassen
Sie uns noch feststellen, daß ein solches Verbleiben einer Partialstre-
bung auf einer früheren Stufe eine Fixierung (des Triebes nämlich)
heißen soll. | lieh:
.. Die zweite Gefahr einer so stufenweisen Entwicklung liegt darin,
daß auch die Anteile, die es weiter gebracht haben, leicht in rück-
: läufiger Bewegung auf eine dieser früheren Stufen zurückkehren kön-
nen, was wir eine Regression nennen. Zu einer solchen Regression
wird sich die Strebung veranlaßt finden, wenn die Ausübung ihrer
Funktion, also die Erreichung ihres Befriedigungszieles, in der späteren
oder höher entwickelten Form auf starke äußere Hindernisse stößt.
Es liegt uns nahe anzunehmen, daß Fixierung und Regression nicht
unabhängig voneinander sind. Je stärker die Fixierungen auf dem
Entwicklungsweg, desto eher wird die Funktion den äußeren Schwie-
rigkeiten durch Regression bis zu jenen Fixierungen ausweichen,
‚desto widerstandsunfähiger erweist sich also die ausgebildete Funktion
gegen äußere Hindernisse ihres Ablaufes, Denken Sie daran, wenn
ein Volk in Bewegung starke Abteilungen an den Stationen seiner
Wanderung zurückgelassen hat, so wird es den weiter Vorgerückten
naheliegen, sich bis zu diesen Stationen zurückzuziehen, wenn sie ge-
schlagen werden oder auf einen überstarken Feind stoßen. Sie wer-
den aber auch um so eher in die Gefahr der Niederlage kommen, je
mehr sie von ihrer Anzahl auf der Wanderung zurückgelassen haben.
Es ist für Ihr Verständnis der Neurosen wichtig, daß Sie dies Ver-
hältnis zwischen Fixierung und Regression nicht aus den Augen
lassen. Sie gewinnen dann einen sicheren Halt in der Frage nach
der Verursachung der Neurosen, in der Frage der Neurosenätiologie,
‚an welche wir bald herantreten werden,
. »Zunächst wollen wir noch bei der Regression verbleiben, Nach
‚dem, was Ihnen von der Entwicklung der Libidofunktion bekannt
Freud, VII, 23
554 . Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
geworden ist, dürfen Sie Regressionen von zweierlei Art erwarten,
Rückkehr zu den ersten von der Libido besetzten Objekten, die be-
‚kanntlich inzestuöser Natur sind, und Rückkehr der gesamten Sexual-
organisation zu früheren Stufen. Beide kommen bei den Übertragungs-
neurosen vor und spielen in deren Mechanismus eine große Rolle.
Besonders die Rückkehr zu den ersten inzestuösen Objekten der
Libido ist ein Zug, der sich bei den Neurotikern mit geradezu er-
müdender Regelmäßigkeit findet. Weit mehr läßt sich über die Re-
gressionen der Libido sagen, wenn man eine andere Gruppe der
Neurosen, die sogenannten narzißtischen, mit heranzieht, was wir
ja gegenwärtig nicht beabsichtigen. Diese Affektionen geben uns
Aufschluß über noch andere, bisher nicht erwähnte Entwicklungs-
vorgänge der Libidofunktion und zeigen uns dementsprechend auch
neue Arten der Regression. Ich glaube aber, daß ich Sie jetzt vor
allem mahnen muß, Regression und Verdrängung nicht zu
verwechseln, und Ihnen dazu verhelfen muß, sich die Beziehungen
zwischen den beiden Prozessen zu klären. Verdrängung ist, wie Sie
sich erinnern, jener Vorgang, durch welchen ein bewußtseinsfähiger
Akt, also einer, der dem System Vbw. angehört, unbewußt gemacht,
also in das System Ubw. zurückgeschoben wird. Und ebenso nennen
wir es Verdrängung, wenn der unbewußte seelische Akt überhaupt
nicht ins nächste vorbewußte System zugelassen, sondern an der
Schwelle von der Zensur zurückgewiesen wird. Dem Begriff der Ver-
drängung haftet also keine Beziehung zur Sexualität an; bitte, be-
merken Sie das wohl. Er bezeichnet einen rein psychologischen Vor-
gang, den wir noch besser charakterisieren können, wenn wir ihn
einen topischen heißen. Wir wollen damit sagen, er habe mit den
angenommenen psychischen Räumlichkeiten zu tun, oder, wenn wir
diese grobe Hilfsvorstellung wieder fallen lassen, mit dem Aufbau
‚des seelischen Apparates aus gesonderten psychischen Systemen.
Durch die angestellte Vergleichung werden wir erst aufmerksam
'gemacht, daß wir das Wort „Regression“ bisher nicht in seiner all-
gemeinen, sondern in einer ganz speziellen Bedeutung gebraucht
XÄXII. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Atiologie 355
haben. Geben Sie ihm seinen allgemeinen Sinn, den einer Rückkehr
von einer höheren zu einer niedrigeren Stufe der Entwicklung, so
ordnet sich auch die Verdrängung der Regression unter, denn sie
kann auch als Rückkehr zu einer früheren und tieferen Stufe in der
Entwicklung eines psychischen Aktes beschrieben werden. Nur daß |
es uns bei der Verdrängung auf diese rückläufige Richtung nicht
ankommt, denn wir heißen es auch Verdrängung im dynamischen
Sinne, wenn ein psychischer Akt auf der niedrigeren Stufe des Un-
bewußten festgehalten wird. Verdrängung ist eben ein topisch-dyna-
mischer Begriff, Regression ein rein deskriptiver. Was wir aber bis-
her Regression genannt und zur Fixierung in Beziehung gebracht
haben, damit meinten wir ausschließlich die Rückkehr der Libido
zu früheren Stationen ihrer Entwicklung, also etwas, was von der
Verdrängung im Wesen ganz verschieden und von ihr ganz unab-
hängig ist. Wir können die Libidoregression auch nicht einen rein
psychischen Vorgang heißen und wissen nicht, welche Lokalisation
im seelischen Apparat wir ihr anweisen sollen. Wenn sie auch den
stärksten Einfluß auf das seelische Leben ausübt, so ist doch der or-
ganische Faktor an ihr der hervorragendste.
Erörterungen wie diese, meine Herren, müssen etwas dürr geräten.
Wenden wir uns an die Klinik, um etwas eindrucksvollere Anwen-
dungen von ihnen zu machen. Sie wissen, daß Hysterie und Zwangs-
neurose die beiden Hauptvertreter der Gruppe der Übertragungs-
neurosen sind. Bei der Hysterie gibt es nun zwar eine Regression
der Libido zu den primären inzestuösen Sexualobjekten, und. diese
ganz regelmäßig, aber so gut wie keine Regression auf eine frühere
Stufe der Sexualorganisation. Dafür fällt der Verdrängung im hyste-
rischen Mechanismus die Hauptrolle zu. Wenn ich mir gestatten
darf, unsere bisherige gesicherte Kenntnis dieser Neurose durch eine
Konstruktion zu vervollständigen, so könnte ich den Sachverhalt in
folgender Weise beschreiben: Die Einigung der Partialtriebe unter
dem Primat der Genitalien ist vollzogen, ihre Ergebnisse stoßen aber
auf den Widerstand des mit dem Bewußtsein verknüpften vorbe-
23*
356 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
wußten Systems. Die Genitalorganisation gilt also fürs Unbewußte,
nicht ebenso fürs Vorbewußte, und diese Ablehnung von seiten des
Vorbewußten bringt ein Bild zustande, welches mit dem Zustand vor
dem Genitalprimat gewisse Ähnlichkeiten hat. Es ist aber doch et-
was ganz anderes. — Von den beiden Libidoregressionen ist die auf
eine frühere Phase der Sexualorganisation die bei weitem auffälligere.
Da sie bei der Hysterie fehlt und unsere ganze Auffassung der Neu-
rosen noch viel zu sehr unter dem Einflusse des Studiums der Hysterie
steht, welches zeitlich voranging, so ist die Bedeutung der Libido-
regression uns auch viel später klar geworden als die der Verdrän-
gung. Seien wir gefaßt darauf, daß unsere Gesichtspunkte noch andere
Erweiterungen und Umwertungen erfahren werden, wenn wir außer
Hysterie und Zwangsneurose noch die anderen, narzißtischen Neu-
rosen in unsere Betrachtungen einbeziehen können.
Bei der Zwangsneurose ist im Gegenteil die Regression der Libido
auf die Vorstufe der sadistisch-analen Organisation das auffälligste
und das für die Äußerung in Symptomen maßgebende Faktum. Der
Liebesimpuls muß sich dann als sadistischer Impuls maskieren. Die
Zwangsvorstellung: ich möchte dich ermorden, heißt im Grunde,
wenn man sie von gewissen, aber nicht zufälligen, sondern unerläß-
lichen Zutaten befreit hat, nichts anderes als: ich möchte dich in
Liebe genießen. Nehmen Sie dazu, daß gleichzeitig eine Objektsre-
gression stattgehabt hat, so daß diese Impulse nur den nächsten und
den geliebtesten Personen gelten, so können Sie sich von dem Ent-
setzen eine Vorstellung machen, welches diese Zwangsvorstellungen
beim Kranken erwecken, und gleichzeitig von der Fremdartigkeit,
in welcher sie seiner bewußten Wahrnehmung entgegentreten. Aber
auch die Verdrängung hat an dem Mechanismus dieser Neurosen
ihren großen Anteil, der in einer flüchtigen Einführung wie der un-
serigen allerdings nicht leicht auseinanderzusetzen ist. Regression
der Libido ohne Verdrängung würde nie eine Neurose ergeben, son-
dern in eine Perversion auslaufen. Daraus ersehen Sie, daß die Ver-
drängung jener Prozeß ist, welcher der Neurose am ehesten eigen-
XXII. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie 357
tümlich zukommt und sie am besten charakterisiert. Vielleicht habe
ich aber auch einmal Gelegenheit, ihnen vorzuführen, was wir über
den Mechanismus der Perversionen wissen, und Sie werden dann
sehen, daß auch hier nichts so einfach vor sich geht, wie man es sich
gerne konstruieren möchte.
Meine Herren! Ich meine, Sie werden sich mit den eben ange-
hörten Ausführungen über Fixierung und Regression der Libido am
ehesien versöhnen, wenn Sie sie als Vorbereitung für die Erforschung
der Ätiologie der Neurosen gelten lassen wollen. Ich habe Ihnen
hierüber erst eine einzige Mitteilung gemacht, nämlich daß die
Menschen neurotisch erkranken, wenn ihnen die Möglichkeit be-
nommen ist, ihre Libido zu befriedigen, also an der „Versagung“,
wie ich mich ausdrückte, und daß ihre Symptome eben der Ersatz
für die versagte Befriedigung sind. Natürlich sollte das nicht heißen,
daß jede Versagung der libidinösen Befriedigung jeden, den sie trifft,
neurotisch macht, sondern bloß, daß in allen untersuchten Fällen
von Neurose das Moment der Versagung nachweisbar war. Der Satz
ist also nicht umkehrbar. Sie werden wohl auch verstanden haben,
daß jene Behauptung nicht das ganze Geheimnis der Neurosenätio-
logie aufdecken sollte, sondern eben nur eine wichtige und unerläß-
liche Bedingung hervorhob. |
Man weiß jetzt nicht, soll man sich für die weitere Diskussion
dieses Satzes an die Natur der Versagung oder an die Eigenart des
von ihr Betroffenen halten. Die Versagung ist doch höchst selten
eine allseitige und absolute; um pathogen wirksam zu werden, muß
sie wohl jene Weise der Befriedigung betreffen, nach der die Person
allein verlangt, deren sie allein fähig ist. Es gibt im allgemeinen
sehr viele Wege, die Entbehrung der libidinösen Befriedigung zu
vertragen, ohne an ihr zu erkranken. Vor allem kennen wir Men-
schen, die imstande sind, eine solche Entbehrung ohne Schaden auf
sich zu nehmen; sie sind dann nicht glücklich, sie leiden an Sehn-
sucht, aber sie werden nicht krank. Sodann müssen wir in Betracht
ziehen, daß gerade die sexuellen Triebregungen außerordentlich
358 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
plastisch sind, wenn ich so sagen darf. Sie können die eine für
die andere eintreten, eine kann die Intensität der anderen auf sich
nehmen; wenn die Befriedigung der einen durch die Realität ver-
sagt ist, kann die Befriedigung einer anderen volle Entschädigung
bieten. Sie verhalten sich zueinander wie ein Netz von kommuni-
zierenden, mit Flüssigkeit gefüllten Kanälen, und dies trotz ihrer
Unterwerfung unter den Genitalprimat, was gar nicht so bequem
in einer Vorstellung zu vereinen ist. Ferner zeigen die Partialtriebe
der Sexualität, ebenso wie die aus ihnen zusammengefaßte Sexual-
strebung, eine große Fähigkeit, ihr Objekt zu wechseln, es gegen ein
anderes, also auch gegen ein bequemer erreichbares, zu vertauschen;
diese Verschiebbarkeit und Bereitwilligkeit, Surrogate anzunehmen,
müssen der pathogenen Wirkung einer Versagung mächtig entgegen-
arbeiten. Unter diesen gegen die Erkrankung durch Entbehrung
schützenden Prozessen hat einer eine besondere kulturelle Bedeutung
gewonnen. Er besteht darin, daß die Sexualbestrebung ihr auf Par-
tiallust oder Fortpflanzungslust gerichtetes Ziel aufgibt und ein ande-
res annimmt, welches genetisch mit dem aufgegebenen zusammen-
hängt, aber selbst nicht mehr sexuell, sondern sozial genannt werden
muß. Wir heißen den Prozeß „Sublimierung“, wobei wir uns der
allgemeinen Schätzung fügen, welche soziale Ziele höher stellt als
die im Grunde selbstsüchtigen sexuellen. Die Sublimierung ist übri-
gens nur ein Spezialfall der Anlehnung von Sexualstrebungen an
andere nicht sexuelle. Wir werden in anderem Zusammenhange
nochmals von ihr reden müssen. |
Sie werden nun den Eindruck haben, daß die Entbehrung durch
alle diese Mittel, sie zu ertragen, zur Bedeutungslosigkeit herabge-
drückt worden sei. Aber nein, sie behält ihre pathogene Macht. Die
Gegenmittel sind allgemein nicht ausreichend. Das Maß von unbe-
friedigter Libido, das die Menschen im Durchschnitt auf sich nehmen
können, ist begrenzt. Die Plastizität oder freie Beweglichkeit der
Libido ist keineswegs bei allen voll erhalten, und die Sublimierung
kann immer nur einen gewissen Bruchteil der Libido erledigen, ab-
XXTI. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie 359,
gesehen davon, daß die Fähigkeit zu sublimieren vielen Menschen.
nur in geringem Ausmaße zugeteilt ist. Die wichtigste unter diesen
Einschränkungen ist offenbar die in der Beweglichkeit der Libido,
da sie die Befriedigung des Individuums von der Frreichung einer
sehr geringen Anzahl von Zielen und Objekten abhängig macht.
Erinnern Sie sich nur daran, daß eine unvollkommene Libidoent-
wicklung sehr ausgiebige, eventuell auch mehrfache Libidofixie-
rungen an frühe Phasen der Organisation und Objektfindung hinter-
läßt, welche einer realen Befriedigung meist nicht fähig sind, so
werden Sie in der Libidofixierung den zweiten mächtigen Faktor:
erkennen, der mit der Versagung zur Krankheitsverursachung zu-
sammentritt. In schematischer Verkürzung können Sie es aussprechen,
daß die Libidofixierung den disponierenden, internen, die Versagung
den akzidentellen, externen Faktor der Neurosenätiologie repräsen-
tiert. | dir
Ich ergreife hier die Gelegenheit, Sie vor der Parteinahme in
einem ganz überflüssigen Streit zu warnen. Im wissenschaftlichen
Betrieb ist es sehr beliebt, einen Anteil der Wahrheit herauszugrei-
fen, ihn an die Stelle des Ganzen zu setzen und nun zu seinen Gun-
sten das übrige, was nicht minder wahr ist, zu bekämpfen. Auf die-
sem Wege haben sich auch bereits aus der psychoanalytischen Be-
wegung mehrere Richtungen abgespalten, von denen die eine nur
die egoistischen Triebe anerkennt, die sexuellen dagegen verleugnet,
die andere nur den Einfluß der realen Lebensaufgaben würdigt, den
der individuellen Vergangenheit aber übersieht u. dgl. mehr. Nun
bietet sich hier ein Anlaß zu einer ähnlichen Entgegenstellung und
Streitfrage: Sind die Neurosen exogene oder endogene Krank-
heiten, die unausbleibliche Folge einer gewissen Konstitution oder
das Produkt gewisser schädigender (traumatischer) Lebenseindrücke,
im besonderen: werden sie durch die Libidofixierung (und die son-
stige Sexualkonstitution) oder durch den Druck der Versagung her-
vorgerufen? Dies Dilemma scheint mir im ganzen nicht weiser als
ein anderes, das ich Ihnen vorlegen könnte: Entsteht das Kind durch
60 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
die Zeugung des Vaters oder durch die Empfängnis von seiten der
Mutter? Beide Bedingungen sind gleich unentbehrlich, werden Sie
mit Recht antworten. In der Verursachung der Neurosen ist das
Verhältnis, wenn nicht ganz das nämliche, doch ein sehr ähnliches.
Für die Betrachtung der Verursachung ordnen sich die Fälle der
neurotischen Erkrankungen zu einer Reihe, innerhalb welcher beide
Momente — Sexualkonstitution und Erleben, oder wenn Sie wollen:
Libidofixierung und Versagung — so vertreten sind, daß das eine
wächst, wenn das andere abnimmt. An dem einen Ende der Reihe
stehen die extremen Fälle, von denen Sie mit Überzeugung sagen
können: Diese Menschen wären infolge ihrer absonderlichen Libido-
entwicklung auf jeden Fall erkrankt, was immer sie erlebt hätten,
wie sorgfältig sie. das Leben auch geschont hätte. Am anderen Ende
stehen die Fälle, bei denen Sie umgekehrt urteilen müssen, sie wären
gewiß der Krankheit entgangen, wenn das Leben sie nicht in diese
oder jene Lage gebracht hätte. Bei den Fällen innerhalb der Reihe
trifft ein Mehr oder Minder von disponierender Sexualkonstitution
mit einem Minder oder Mehr von schädigenden Lebensanforderungen
zusammen. Ihre Sexualkonstitution hätte ihnen nicht die Neurose
gebracht, wenn sie nicht solche Erlebnisse gehabt hätten, und diese
Erlebnisse hätten nicht traumatisch auf sie gewirkt, wenn die Ver-
hältnisse der Libido andere gewesen wären. Ich kann in dieser
Reihe vielleicht ein gewisses Übergewicht an Bedeutung für die dis-
ponierenden Momente zugestehen, aber auch dies Zugeständnis hängt
davon ab, wie weit Sie die Grenzen der Nervosität abstecken wollen.
Meine Herren! Ich mache Ihnen den Vorschlag, Reihen wie
diese als Ergänzungsreihen-zu bezeichnen, und bereite Sie
darauf vor, daß wir Anlaß finden werden, noch andere solche Reihen
aufzustellen. |
Die Zähigkeit, mit welcher die Libido an bestimmten Richtungen
und Objekten haftet, sozusagen die Klebrigkeit der Libido, erscheint
uns als ein selbständiger, individuell variabler Faktor, dessen Abhängig-
keiten uns völlig unbekannt sind, dessen Bedeutung für die Ätiologie
XXII. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie 361
der Neurosen wir gewiß nicht mehr unterschätzen werden. Wir sollen
aber auch die Innigkeit dieser Beziehung nicht überschätzen. Eine
ebensolche „Klebrigkeit“ der Libido — aus unbekannten Gründen
— kommt nämlich unter zahlreichen Bedingungen beim Normalen
vor und wird als bestimmendes Moment bei den Personen gefunden,
welche in gewissem Sinne der Gegensatz der Nervösen sind, bei den
Perversen. Es warschonvorderZeitderPsychoanalysebekannt (Binet),
daß in der Anamnese der Perversen recht häufig ein sehr frühzeitiger
Eindruck von abnormer Triebrichtung oder Objektwahl aufgedeckt
wird, an dem nun die Libido dieser Person fürs Leben haften geblieben
ist. Man weiß oft nicht zu sagen, was diesen Eindruck dazu befähigt
hat, eine so intensive Anziehung auf die Libido auszuüben. Ich will
Ihnen einen selbstbeobachteten Fall dieser Art erzählen. Ein Mann,
dem heute das Genitale und alle anderen Reize des Weibes nichts
bedeuten, der nur durch einen beschuhten Fuß von gewisser Form
in unwiderstehliche sexuelle Erregung versetzt werden kann, weiß
sich an ein Erlebnis aus seinem sechsten Jahre zu erinnern, welches
maßgebend für die Fixierung seiner Libido geworden ist. Er saß auf
einem Schemel neben der Gouvernante, bei der er englische Stunde
nehmen sollte. Die Gouvernante, ein altes, dürres, unschönes Mädchen
mit wasserblauen Augen und aufgestülpter Nase, hatte an diesem Tage
einen kranken Fuß und ließ ihn darum, mit einem Samtpantoffel be-
kleidet, ausgestreckt auf einem Polster ruhen; ihr Bein selbst war
dabei in dezentester Weise verhüllt. Ein so magerer sehniger Fuß,
wie er ıhn damals an der Gouvernante gesehen, wurde nun, nach
einem schüchternen Versuch normaler Sexualbetätigung in der Puber-
tät, sein einziges Sexualobjekt, und der Mann war widerstandslos hin-
gerissen, wenn sich zu diesem Fuß noch andere Züge gesellten, welche
an den Typus der englischen Gouvernante erinnerten. Durch diese
Fixierung seiner Libido wurde der Mann aber nicht zum Neurotiker,
sondern zum Perversen, zum Fußfetischisten, wie wir sagen. Sie sehen
also, obwohl die übermäßige, zudem noch vorzeitige, Fixierung der
Libido für die Verursachung der Neurosen unentbehrlich ist, geht
362 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
ihr Wirkungskreis doch weit über das Gebiet der Neurosen hinaus.
Auch diese Bedingung ist für sich allein so wenig entscheidend, wie
die früher erwähnte der Versagung.
Das Problem der Verursachung der Neurosen scheint sich also zu
komplizieren. In der Tatmachtunsdiepsychoanalytische Untersuchung
mit einem neuen Moment bekannnt, welches in unserer ätiologischen
Reihe nicht berücksichtigt ist, und das man am besten bei Fällen er-
kennt, deren bisheriges Wohlbefinden plötzlich durch die neurotische
Erkrankung gestört wird. Man findet bei diesen Personen regelmäßig
die Anzeichen eines Widerstreites von Wunschregungen oder, wie
wir zu sagen gewohnt sind, eines psychischen Konfliktes. Ein Stück
der Persönlichkeit vertritt gewisse Wünsche, ein anderes sträubt sich
dagegen und wehrt sie ab. Ohne solchen Konflikt gibt es keine Neu-
rose. Das schiene nun nichts Besonderes. Sie wissen, daß unser see-
lisches Leben unaufhörlich von Konflikten bewegt wird, deren Entschei-
dung wir zu treffen haben. Es müssen also wohl besondere Bedingungen
erfüllt sein, wenn ein solcher Konflikt pathogen werden soll. Wir
dürfen fragen, welches diese Bedingungen sind, zwischen welchen
seelischen Mächten sich diese pathogenen Konflikte abspielen, welche
Beziehung der Konflikt zu den anderen verursachenden Momenten
hat. |
Ich hoffe, Ihnen auf diese Fragen ausreichende Antworten geben
zu können, wenn sie auch schematisch verkürzt sein mögen. Der
Konflikt wird durch die Versagung heraufbeschworen, indem die
ihrer Befriedigung verlustige Libido nun darauf angewiesen ist, sich
andere Objekte und Wege zu suchen. Er hat zur Bedingung, daß
diese anderen Wege und Objekte bei einem Anteil der Persönlich-
keit ein Mißfallen erwecken, so daß ein Veto erfolgt, welches die
neue Weise der Befriedigung zunächst unmöglich macht. Von hier
aus geht der Weg zur Symptombildung weiter, den wir später ver-
folgen werden. Die abgewiesenen libidinösen Strebungen bringen
es zustande, sich auf gewissen Umwegen doch durchzusetzen, aller-
dings nicht ohne dem Einspruch durch gewisse Entstellungen und
XAILI. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie 363
Milderungen Rechnung zu tragen. Die Umwege sind die Wege der
Symptombildung, die Symptome sind die neue oder Ersatzbefriedi-
gung, die durch die Tatsache der Versagung notwendig geworden ist.
Man kann der Bedeutung des psychischen Konflikts auch durch
eine andere Ausdrucksweise gerecht werden, indem man sagt: zur
äußeren Versagung muß, damit sie pathogen wirke, noch die
innere Versagung hinzutreten. Äußere und innere Versagung be-
ziehen sich dann natürlich auf verschiedene Wege und Objekte. Die
äußere Versagung nimmt die eine Möglichkeit der Befriedigung weg,
die innere Versagung möchte eine andere Möglichkeit ausschließen,
um welche dann der Konflikt losbricht. Ich gebe dieser Art der Dar-
stellung den Vorzug, weil sie einen geheimen Gehalt besitzt. Sie
deutet nämlich auf die Wahrscheinlichkeit hin, daß die inneren Ab-
haltungen in den Vorzeiten menschlicher Entwicklung aus realen
äußeren Hindernissen hervorgegangen sind.
Welches sind aber die Mächte, von denen der Einspruch gegen
die libidinöse Strebung ausgeht, die andere Partei im pathogenen
Konflikt? Es sind, ganz allgemein gesagt, die nicht sexuellen Trieb-
kräfte. Wir fassen sie als „Ichtriebe“ zusammen; die Psychoanalyse
der Übertragungsneurosen gibt uns keinen guten Zugang zu ihrer
weiteren Zerlegung, wir lernen sie höchstens einigermaßen durch
die Widerstände kennen, die sich der Analyse entgegensetzen. Der
pathogene Konflikt ist also ein solcher zwischen den Ichtrieben und
den Sexualtrieben. Es hat in einer ganzen Reihe von Fällen den
Anschein, als ob es auch ein Konflikt zwischen verschiedenen, rein
sexuellen Strebungen sein könnte; aber das ist im Grunde dasselbe,
denn von den beiden im Konflikt befindlichen Sexualstrebungen ist
immer die eine sozusagen ichgerecht, während die andere die Ab-
wehr des Ichs herausfordert. Es bleibt also beim Konflikt zwischen
Ich und Sexualität. |
Meine Herren! Oft und oft, wenn die Psychoanalyse ein seelisches
Geschehen als Leistung der Sexualtriebe in Anspruch genommen hat,
wurde ihr in ärgerlicher Abwehr vorgehalten, der Mensch bestehe
364 ' Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
nicht nur aus Sexualität, es gebe im Seelenleben noch andere Triebe
und Interessen als die sexuellen, man dürfe nicht „alles“ von der
Sexualität ableiten u. dgl. Nun, es ist hocherfreulich, sich auch ein-
mal eines Sinnes mit seinen Gegnern zu finden. Die Psychoanalyse
hat nie vergessen, daß es auch nicht sexuelle Triebkräfte gibt, sie hat
sich auf der scharfen Sonderung der sexuellen Triebe von den Ich-
trieben aufgebaut und vor jedem Einspruch behauptet, nicht daß die
Neurosen aus der Sexualität hervorgehen, sondern daß sie dem Kon-
flikt zwischen Ich und Sexualität ihren Ursprung danken. Sie hat auch
gar kein denkbares Motiv, Existenz oder Bedeutung der Ichtriebe zu
bestreiten, während sie die Rolle der sexuellen Triebe in der Krank-
heit und im Leben verfolgt. Nur daß es ihr Schicksal geworden ist,
sich in erster Linie mit den Sexualtrieben zu beschäftigen, weil diese
durch die Übertragungsneurosen der Einsicht am ehesten zugänglich
geworden sind, und weil es ihr obgelegen hat, das zu studieren, was
andere vernachlässigt hatten.
Es trifft auch nicht zu, daß sich die Psychoanalyse um den nicht
sexuellen Anteil der Persönlichkeit gar nicht gekümmert hat. Gerade
die Sonderung von Ich und Sexualität hat uns mit besonderer Klar-
heit erkennen lassen, daß auch die Ichtriebe eine bedeutsame Ent-
wicklung durchmachen, eine Entwicklung, die weder ganz unab-
hängig von der Libido, noch ohne Gegenwirkung auf diese ist. Wir
kennen allerdings die Ichentwicklung sehr vıel schlechter als die
der Libido, weil nämlich erst das Studium der narzißtischen Neu-
rosen eine Einsicht in den Aufbau des Ichs verspricht. Doch liegt
bereits ein beachtenswerter Versuch von Ferenczi vor, die Ent-
wicklungsstufen des Ichs theoretisch zu konstruieren, und an wenig-
stens zwei Stellen haben wir feste Anhaltspunkte für die Beurteilung
dieser Entwicklung gewonnen. Wir denken ja nicht daran, daß sich
die libidinösen Interessen einer Person von vornherein im Gegen-
satz zu ihren Selbsterhaltungsinteressen befinden; vielmehr wird das
Ich auf jeder Stufe bestrebt sein, mit seiner derzeitigen Sexualorga-
nisation im Einklang zu bleiben und sie sich einzuordnen. Die Ab-
XXLI. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie 365
lösung der einzelnen Phasen in der Libidoentwicklung folgt wahr-
scheinlich einem vorgeschriebenen Programm; es ist aber nicht ab-
zuweisen, daß dieser Ablauf von seiten des Ichs beeinflußt werden
kann, und ein gewisser Parallelismus, eine bestimmte Entsprechung
der Entwicklungsphasen von Ich und Libido dürfte gleichfalls vor-
gesehen sein; ja, die Störung dieser Entsprechung könnte ein patho-
genes Moment ergeben. Ein für uns wichtiger Gesichtspunkt ist es
nun, wie sich das Ich verhält, wenn seine Libido an einer Stelle
ihrer Entwicklung eine starke Fixierung hinterläßt. Es kann'dieselbe
zulassen und wird dann in dem entsprechenden Maß pervers oder,
was dasselbe ist, infantil. Es kann sich aber auch ablehnend gegen
diese Festsetzung der Libido verhalten, und dann hat das Ich dort
eine Verdrängung, wo die Libido eine Fixierung erfah-
ren hat. | |
Auf diesem Wege gelangen wir zur Kenntnis, daß der dritte Fak-
tor der Neurosenätiologie, die Konfliktneigung, von der Ent-
wicklung des Ichs ebensosehr abhängt wie von der der Libido.
Unsere Einsicht in die Verursachung der Neurosen hat sich also ver-
vollständigt. Zuerst als allgemeinste Bedingung die Versagung, dann
die Fixierung der Libido, welche sie in bestimmte Richtungen drängt,
und zu dritt die Konfliktneigung aus der Ichentwicklung, die solche
Libidoregungen abgelehnt hat. Der Sachverhalt ist also nicht so sehr
verworren und schwer zu durchschauen, wie es Ihnen wahrschein-
lich während des Fortschrittes meiner Ausführungen erschienen ist.
Aber freilich, wir werden finden, daß wir noch nicht fertig sind.
Wir müssen noch etwas Neues hinzufügen und etwas bereits Be-
kanntes weiter zerlegen.
Um Ihnen den Einfluß der Ichentwicklung auf die Konfliktbil- .
dung und somit auf die Verursachung der Neurosen zu demonstrie-
ren, möchte ich Ihnen ein Beispiel vorführen, das zwar durchaus
erfunden ist, aber sich in keinem Punkte von der Wahrscheinlich-
keit entfernt. Ich will es in Anlehnung an den Titel einer Nestroy-
schen Posse mit der Charakteristik „Zu ebener Erde und: im ersten
|
366 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Stock“ versehen. Zu ebener Erde wohnt der Hausbesorger, im ersten
Stock der Hausherr, ein reicher und vornehmer Mann. Beide haben
Kinder, und wir wollen annehmen, daß es dem Töchterchen des
Hausherrn gestattet ist, unbeaufsichtigt mit dem Proletarierkind zu
spielen. Dann kann es sehr leicht geschehen, daß die Spiele der Kin-
der einen ungezogenen, das heißt sexuellen Charakter annehmen,
daß sie „Vater und Mutter“ spielen, einander bei den intimen Ver-
richtungen beschauen und an den Genitalien reizen. Das Hausmei-
stermädchen, das trotz seiner fünf oder sechs Jahre manches von der
Sexualität der Erwachsenen beobachten konnte, mag dabei die Rolle
der Verführerin übernehmen. Diese Erlebnisse reichen hin, auch
wenn sie sich nicht über lange Zeit fortsetzen, um bei beiden Kin-
dern gewisse sexuelle Regungen zu aktivieren, die sich nach dem
Aufhören der gemeinsamen Spiele einige Jahre hindurch als Mastur-
bation äußern. Soweit die Gemeinsamkeit; der endliche Erfolg wird
bei beiden Kindern sehr verschieden sein. Die Tochter des Hausbe-
sorgers wird die Masturbation eiwa bis zum Auftreten der Periode
fortsetzen, sie dann ohne Schwierigkeit aufgeben, wenige Jahre spä-
ter einen Geliebten nehmen, vielleicht auch ein Kind bekommen,
diesen oder jenen Lebensweg einschlagen, der sie vielleicht zur popu-
lären Künstlerin führt, die als Aristokratin endigt. Wahrscheinlich
wird ihr Schicksal minder glänzend ausfallen, aber jedenfalls wird
sie ungeschädigt durch die vorzeitige Betätigung ihrer Sexualität,
frei von Neurose, ihr Leben erfüllen. Anders das Töchterchen des
Hausherrn. Dies wird frühzeitig und noch als Kind die Ahnung be-
kommen, daß es etwas Unrechtes getan habe, wird nach kürzerer
Zeit, aber vielleicht erst nach hartem Kampf, auf die masturbatorische
Befriedigung verzichten und trotzdem etwas Gedrücktes in seinem
Wesen behalten. Wenn sie in den Jungmädchenjahren in die Lage
kommt, etwas vom menschlichen Sexualverkehr zu erfahren, wird
sie sich mit unerklärtem Abscheu davon abwenden und unwissend
bleiben wollen. Wahrscheinlich unterliegt sie jetzt auch einem von
neuem auftretenden unbezwingbaren Drang zur Masturbation, über
XXII. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie 367
den sich zu beklagen sie nicht wagt. In den Jahren, da sie einem
Manne als Weib gefallen soll, wird die Neurose bei ıhr losbrechen,
die sie um Ehe und Lebenshoffnung betrügt. Gelingt es nun durch
Analyse Einsicht in diese Neurose zu gewinnen, so zeigt sich, daß
dies wohlerzogene, intelligente und hochstrebende Mädchen seine
Sexualregungen vollkommen verdrängt hat, daß diese aber, ihr un-
bewußt, an den armseligen Erlebnissen mit ihrer. Kinderfreundin
haften.
Die Verschiedenheit der beiden Schicksale trotz gleichen Erlebens
rührt daher, daß das Ich der einen eine Entwicklung erfahren hat,
welche bei der anderen nicht eingetreten ist. Der Tochter des Haus-
besorgers ist die Sexualbetätigung später ebenso natürlich und unbe-
denklich erschienen wie in der Kindheit. Die Tochter des Hausherrn
hat die Einwirkung der Erziehung erfahren und deren Ansprüche
angenommen. Ihr Ich hat aus den ihm dargebotenen Anregungen
Ideale von weiblicher Reinheit und Unbedürftigkeit gebildet, mit
denen sich die sexuelle Betätigung nicht verträgt; ihre intellektuelle
Ausbildung hat ihr Interesse für die weibliche Rolle, zu der sie be-
stimmt ist, erniedrigt. Durch diese höhere moralische und intellek-
tuelle Entwicklung: ihres Ich ist sie in den Konflikt mit den An-
sprüchen ihrer. Sexualität geraten. ar
. Ich will heute noch bei einem zweiten Punkt in der Ichentwick-
lung verweilen, sowohl wegen gewisser weitschauender Ausblicke,
als auch darum, weil gerade das Folgende geeignet ist, die von uns
beliebte, scharfe und nicht selbstverständliche Sonderung der Ich-
triebe von den Sexualtrieben zu rechtfertigen. In der Beurteilung
der beiden Entwicklungen, des Ichs wie der Libido, müssen wir einen
Gesichtspunkt voranstellen, der bisher noch nicht oft gewürdigt
worden ist. Beide sind ja im Grunde Erbschaften, abgekürzte ‚Wie-
derholungen der Entwicklung, welche die ganze Menschheit von
ihren Urzeiten an durch sehr lange Zeiträume zurückgelegt hat.
Der Libidoentwicklung, möchte ich meinen, sieht man diese phylo-
‚genetische Herkunft ohne weiteres an. Denken Sie daran, wie
368 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
bei der einen Tierklasse der Genitalapparat in die innigste Bezie-
hung zum Mund gebracht ist, bei der anderen sich vom Exkretions-
apparat nicht sondern läßt, bei noch anderen an die Bewegungs-
organe geknüpft ist, Dinge, die Sie in dem wertvollen Buch von
W.Bölsche anziehend geschildert finden. Man sieht bei den Tieren
sozusagen alle Arten von Perversion zur Sexualorganisation erstarrt.
Nur wird der phylogenetische Gesichtspunkt beim Menschen zum
Teil durch den Umstand verschleiert, daß das, was im Grunde ver-
erbt ist, doch in der individuellen Entwicklung neu erworben wird,
wahrscheinlich darum, weil dieselben Verhältnisse noch fortbestehen
und auf jeden einzelnen wirken, die seinerzeit zur Erwerbung genö-
tigt haben. Ich möchte sagen, sie haben seinerzeit schaffend gewirkt,
sie wirken jetzt hervorrufend. Außerdem ist es unzweifelhaft, daß
der Lauf der vorgezeichneten Entwicklung bei jedem einzelnen durch
rezente Einflüsse von außen gestört und abgeändert werden kann.
Die Macht aber, welche der Menschheit eine solche Entwicklung
aufgenötigt hat und ihren Druck nach der gleichen Richtung heute
ebenso aufrechthält, kennen wir; es ist wiederum die Versagung der
Realität, oder wenn wir ihr ihren richtigen großen Namen geben,
die Not des Lebens: die ’Avayxn. Sie ist eine strenge Erzieherin ge-
wesen und hat viel aus uns gemacht. Die Neurotiker gehören zu
den Kindern, bei welchen diese Strenge üble Erfolge gebracht hat,
aber das ist bei jeder Erziehung zu riskieren. — Diese Würdigung
der Lebensnot als des Motors der Entwicklung braucht uns übrigens
nicht gegen die Bedeutung von „inneren Entwicklungstendenzen“
einzunehmen, wenn sich solche beweisen lassen.
Nun ist es sehr beachtenswert, daß Sexualtriebe und Selbsterhal-
tungstriebe sich nicht in gleicher Weise gegen die reale Not beneh-
men. Die Selbsterhaltungstriebe und alles, was mit ihnen zusammen-
hängt, sind leichter zu erziehen; sie lernen es frühzeitig, sich der
Not zu fügen und ihre Entwicklungen nach den Weisungen der Rea-
lität einzurichten. Das ist begreiflich, denn sie können sich die Ob-
jekte, deren sie bedürfen, auf keine andere Art verschaffen; ohne diese
XXII. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie 369
Objekte muß das Individuum zugrunde gehen. Die Sexualtriebe
sind schwerer erziehbar, denn sie kennen zu Anfang die Objektnot.
nicht. Da sie sich gleichsam schmarotzend an die anderen Körper-
funktionen anlehnen und am eigenen Körper autoerotisch befriedi-
gen, sind sie dem erziehlichen Einfluß der realen Not zunächst ent-
zogen, und sie behaupten diesen Charakter der Eigenwilligkeit, Un-
beeinflußbarkeit, das, was wir „Unverständigkeit“ nennen, bei den
meisten Menschen in irgend einer Hinsicht durchs ganze Leben.
Auch hat die Erziehbarkeit einer jugendlichen Person in der Regel
ein Ende, wenn ihre Sexualbedürfnisse in endgültiger Stärke erwachen.
Das wissen die Erzieher und handeln danach; aber vielleicht lassen
sie sich durch die Ergebnisse der Psychoanalyse noch dazu bewegen,
den Hauptnachdruck der Erziehung auf die ersten Kinderjahre, vom
Säuglingsalter an, zu verlegen. Der kleine Mensch ist oft mit dem
vierten oder fünften Jahr schon fertig und bringt später nur allmäh-
lich zum Vorschein, was bereits in ihm steckt.
Um die volle Bedeutung des angezeigten Unterschiedes zwischen
beiden Triebgruppen zu würdigen, müssen wir weit ausholen und
eine jener Betrachtungen einführen, die ökonomische genannt zu
werden verdienen. Wir begeben uns damit auf eines der wichtigsten,
aber leider auch dunkelsten Gebiete der Psychoanalyse. Wir stellen
uns die Frage, ob an der Arbeit unseres seelischen Apparates eine
Hauptabsicht zu erkennen sei, und beantworten sie in erster An-
näherung, daß diese Absicht auf Lustgewinnung gerichtet ist. Es
scheint, daß unsere gesamte Seelentätigkeit darauf gerichtet ist, Lust
zu erwerben und Unlust zu vermeiden, daß sie automatisch durch
das Lustprinzip reguliert wird. Nun wüßten wir um alles in der
Welt gerne, welches die Bedingungen der Entstehung von Lust und
Unlust sind, aber daran fehlt es uns eben. Nur soviel darf man sich
getrauen zu behaupten, daß die Lust irgendwie an die Verringe-
rung, Herabsetzung oder das Erlöschen der im Seelenapparat wal-
tenden Reizmenge gebunden ist, die Unlust aber an eine Erhöhung
derselben. Die Untersuchung der intensivsten Lust, welche dem Men-
Freud, VII. 24
370 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
schen zugänglich ist, der Lust bei der Vollziehung des Sexualaktes,
läßt über diesen einen Punkt wenig Zweifel. Da es sich bei solchen
Lustvorgängen um die Schicksale von Quantitäten seelischer Erregung
oder Energie handelt, bezeichnen wir Betrachtungen dieser Art als
ökonomische. Wir merken, daß wir die Aufgabe und Leistung des
Seelenapparates auch anders und allgemeiner beschreiben können
als durch die Betonung des Lustgewinnes. Wir können sagen, der
seelische Apparat diene der Absicht, die von außen und von innen
an ihn herantretenden Reizmengen, Erregungsgrößen, zu bewältigen
und zu erledigen. Von den Sexualtrieben ist es ohne weiteres evident,
daß sie zu Anfang wie zu Ende ihrer Entwicklung auf Lustgewinn
arbeiten; sie behalten diese ursprüngliche Funktion ohne Abänderung
bei. Das nämliche streben auch die anderen, die Ichtriebe, antänglich
an. Aber unter dem Einfluß der Lehrmeisterin Not lernen die Ich-
triebe bald, das Lustprinzip durch eine Modifikation zu ersetzen. Die
Aufgabe, Unlust zu verhüten, stellt sich für sie fast gleichwertig neben
die des Lustgewinns; das Ich erfährt, daß es unvermeidlich ist, auf
unmittelbare Befriedigung zu verzichten, den Lustgewinn aufzuschie-
ben, ein Stück Unlust zu ertragen und bestimmte Lustquellen über-
haupt aufzugeben. Das so erzogene Ich ist „verständig“ geworden,
es läßt sich nicht mehr vom Lustprinzip beherrschen, sondern folgt
dem Realitätsprinzip, das im Grunde auch Lust erzielen will,
aber durch die Rücksicht auf die Realität gesicherte, wenn auch auf-
geschobene und verringerte Lust.
Der Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip ist einer der wich-
tigsten Fortschritte in der Entwicklung des Ichs. Wir wissen schon,
daß die Sexualtriebe dieses Stück der Ichentwicklung spät und nur
widerstrebend mitmachen, und werden später hören, welche Folgen
es für den Menschen hat, daß seine Sexualität sich mit einem so
lockeren Verhältnis zur äußeren Realität begnügt. Und nun zum
Schlusse noch eine hierher gehörige Bemerkung. Wenn das Ich des
Menschen seine Entwicklungsgeschichte hat wie die Libido, so werden
Sie nicht überrascht sein zu hören, daß es auch „Ichregressionen“
XXII. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie 371
gibt, und werden auch wissen wollen, welche Rolle diese Rückkehr
des Ichs zu früheren Entwicklungsphasen bei den neurotischen Er-
krankungen spielen kann.
248
XXIII. VORLESUNG
DIE WEGE DER SYMPTOMBILDUNG
Meine Damen und Herren! Für den Laien sind es die Symptome,
die das Wesen der Krankheit bilden, und Heilung ist ihm die Auf-
hebung der Symptome. Der Arzt legt Wert darauf, die Symptome
von der Krankheit zu unterscheiden, und sagt, daß die Beseitigung
der Symptome noch nicht die Heilung der Krankheit ist. Aber was
nach Beseitigung der Symptome Greifbares von der Krankheit übrig-
bleibt, ist nur die Fähigkeit, neue Symptome zu bilden. Darum wollen
wir uns für jetzt auf den Standpunkt des Laien stellen und die Er-
gründung der Symptome für gleichbedeutend mit dem Verständnis
der Krankheit halten.
Die Symptome — wir handeln hier natürlich von psychischen (oder
psychogenen) Symptomen und psychischem Kranksein — sind für
das Gesamtleben schädliche oder wenigstens nutzlose Akte, häufig von
der Person als widerwillig beklagt und mit Unlust oder Leiden für
sie verbunden. Ihr Hauptschaden liegt in dem seelischen Aufwand, den
sie selbst kosten, und in dem weiteren, der durch ihre Bekämpfung not-
wendig wird. Diese beiden Kosten können bei ausgiebiger Symptombil-
dung eine außerordentliche Verarmung der Person an verfügbarer see-
lischer Energie und somit eine Lähmung derselben für alle wichtigen
Lebensaufgaben zur Folge haben. Da es für diesen Erfolg hauptsächlich
auf die Quantität der so in Anspruch genommenen Energie ankommt,
so erkennen Sie leicht, daß „Kranksein“ ein im Wesen praktischer Be-
XXIII. Die Wege der Symptombildung 375
griff ist. Stellen Sie sich aber auf einen theoretischen Standpunkt und
sehen von diesen Quantitäten ab, so können Sie leicht sagen, daß wir
alle krank, d. 1. neurotisch sind, denn die Bedingungen für dieSymptom-
bildung sind auch bei den Normalen nachzuweisen.
Von den neurotischen Symptomen wissen wir bereits, daß sie der
Erfolg eines Konflikts sind, der sich um eine neue Art der Libido-
befriedigung erhebt. Die beiden Kräfte, die sich entzweit haben, treffen
im Symptom wieder zusammen, versöhnen sich gleichsam durch das
Kompromiß der Symptombildung. Darum ist das Symptom auch so
widerstandsfähig; es wird von beiden Seiten her gehalten. Wir wissen
auch, daß der eine der beiden Partner des Konflikts die unbefriedigte,
von der Realität abgewiesene Libido ist, dienun andere Wege zu ıhrer
Befriedigung suchen muß. Bleibt die Realität unerbittlich, auch wenn
die Libido bereit ist, ein anderes Objekt an Stelle des versagten an-
zunehmen, so wird diese endlich genötigt sein, den Weg der Regression
einzuschlagen und die Befriedigung in einer der bereits überwundenen
Organisationen oder durch eines der früher aufgegebenen Objekte an-
zustreben. Auf den Weg der Regression wird die Libido durch die
Fixierung gelockt, die sie an diesen Stellen ihrer Entwicklung zurück-
gelassen hat. Kur,
Nun scheidet sich der Weg zur Perversion scharf von dem der
Neurose. Erwecken diese Regressionen nicht den Widerspruch des
Ichs, so kommt es auch nicht zur Neurose, und die Libido gelangt
zu irgendeiner realen, wenn auch nicht mehr normalen Befriedigung.
Wenn aber das Ich, das nicht nur über das Bewußtsein, sondern auch
über die Zugänge zur motorischen Innervation und somit zur Reali-
sierung der seelischen Strebungen verfügt, mit diesen Regressionen
nicht einverstanden ist, dann ist der Konflikt gegeben. Die Libido ist
wie abgeschnitten und muß versuchen irgendwohin auszuweichen,
wo sie nach der Forderung des Lustprinzips einen Abfluß für ihre
Energiebesetzung findet. Sie muß sich dem Ich entziehen. Ein solches
Ausweichen gestatten ihr aber die Fixierungen auf ihrem jetzt re-
gressiv beschrittenen Entwicklungsweg, gegen welche sich das Ich
374 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
seinerzeit durch Verdrängungen geschützt hatte. Indem die Libido
rückströmend diese verdrängten Positionen besetzt, hat sie sich dem
Ich und seinen Gesetzen entzogen, dabei aber auch auf alle unter
dem Einfluß dieses Ichs erworbene Erziehung verzichtet. Sie war
lenksam, solange ihr Befriedigung winkte; unter dem doppelten Druck
der äußern und der innern Versagung /wird sie unbotmäßig und be-
sinnt sich früherer besserer Zeiten. {Das ist so ihr im Grund unver-
änderlicher Charakter. Die Vorstellungen, denen jetzt die Libido ihre
Energie als Besetzung überträgt, gehören dem System des Unbewuß-
ten an und unterliegen den Vorgängen, die daselbst möglich sind,
insbesondere der Verdichtung und Verschiebung. Hiermit sind nun
Verhältnisse hergestellt, die vollkommen denen bei der Traumbildung
gleichen. Wie dem im Unbewußten fertig gewordenen eigentlichen
Traum, der die Erfüllung einer unbewußten Wunschphantasie ist,
ein Stück (vor)bewußter Tätigkeit entgegenkommt, welches die Zen-
surtätigkeit ausübt und nach deren Abfindung die Bildung eines
manifesten Traumes als Kompromiß gestattet, so hat auch noch die
Libidovertretung im Unbewußten mit der Macht des vorbewußten
Ichs zu rechnen. Der Widerspruch, der sich gegen sie im Ich er-
hoben hatte, geht ihr als „Gegenbesetzung“ nach und nötigt sie,
jenen Ausdruck zu wählen, der gleichzeitig sein eigener Ausdruck
werden kann. So entsteht denn das Symptom als vielfach entstellter
Abkömmling der unbewußten libidinösen Wunscherfüllung, eine
kunstvoll ausgewählte Zweideutigkeit mit zwei einander voll wider-
sprechenden Bedeutungen. Allein in diesem letzteren Punkte ist ein
Unterschied zwischen der Traum- und der Symptombildung zu er-
kennen, denn die vorbewußte Absicht bei der Traumbildung geht
nur dahin, den Schlaf zu erhalten, nichts, was ihn stören würde, zum
Bewußtsein dringen zu lassen; sie besteht aber nicht darauf, der un-
bewußten Wunschregung ein scharfes: Nein, im Gegeniteile! ent-
gegenzurufen. Sie darf toleranter sein, weil die Situation des Schla-
fenden eine minder gefährdete ist. Der Ausweg in die Realität ist
durch den Schlafzustand allein gesperrt.
XXIII. Die Wege der Symptombildung 375
Sie sehen, das Ausweichen der Libido unter den Bedingungen des
Konflikts ist durch das Vorhandensein von Fixierungen ermöglicht.
Die regressive Besetzung dieser Fixierungen führt zur Umgehung
der Verdrängung und zu einer Abfuhr — oder Befriedigung — der
Libido, bei welcher die Bedingungen des Kompromisses eingehalten
werden müssen. Auf dem Umwege über das Unbewußte und die
alten Fixierungen ist es der Libido endlich gelungen, zu einer aller-
dings außerordentlich eingeschränkten und kaum mehr kenntlichen
realen Befriedigung durchzudringen. Lassen Sie mich zwei Bemer-
kungen zu diesem Endausgang hinzufügen. Wollen Sie erstens be-
achten, wie enge sich hier die Libido und das Unbewußte einerseits,
das Ich, das Bewußtsein und die Realität anderseits verbunden er-
weisen, obwohl sie von Anfang an keineswegs zusammengehören,
und hören Sie ferner meine Mitteilung an, daß alles hier Gesagte
und im weiteren Folgende sich nur auf die Symptombildung bei der
hysterischen Neurose bezieht.
Wo findet nun die Libido die Fixierungen, deren sie zum Durch-
bruch der Verdrängungen bedarf? In den Betätigungen und Erleb-
nissen der infantilen Sexualität, in den verlassenen Partialbestrebungen
und aufgegebenen Objekten der Kinderzeit. Zu ihnen kehrt die Libido
also wieder zurück. Die Bedeutung dieser Kinderzeit ist eine zwei-
fache; einerseits haben sich in ihr die Triebrichtungen zuerst gezeigt,
die das Kind in seiner angeborenen Anlage mitbrachte, und zweitens
sind durch äußere Einwirkungen, akzidentelle Erlebnisse, andere
seiner Triebe zuerst geweckt, aktiviert worden. Ich glaube, es ist
kein Zweifel daran, daß wir ein Recht haben, diese Zweiteilung auf-
zustellen. Die Äußerung der angeborenen Anlage unterliegt ja keinem
kritischen Bedenken, aber die analytische Erfahrung nötigt uns ge-
radezu anzunehmen, daß rein zufällige Erlebnisse der Kindheit im-
stande sind, Fixierungen der Libido zu hinterlassen. Ich sehe auch
keine theoretische Schwierigkeit darin. Die konstitutionellen Anlagen
sind sicherlich auch die Nachwirkungen der Erlebnisse früherer Vor-
fahren, auch sie sind einmal erworben worden; ohne solche Erwer-
376 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
bung gäbe es keine Heredität. Und ist es denkbar, daß solche zur
Vererbung führende Erwerbung gerade bei der von uns betrachteten
Generation ein Ende nimmt? Die Bedeutung der infantilen Erleb-
nisse sollte aber nicht, wie es mit Vorliebe geschieht, gegen die der
Erlebnisse der Vorfahren und der eigenen Reife völlig vernachlässigt
werden, sondern im Gegenteile eine besondere Würdigung finden.
Sie sind um so folgenschwerer, weil sie in die Zeiten der unvollen-
deten Entwicklung fallen, und gerade durch diesen Umstand geeignet,
traumatisch zu wirken. Die Arbeiten über Entwicklungsmechanik
von Roux und anderen haben uns gezeigt, daß ein Nadelstich in die
ın Zellteilung begriffene Keimanlage eine schwere Entwicklungs-
störung zur Folge hat. Dieselbe Verletzung, der Larve oder dem ter-
tigen Tier zugefügt, würde schadlos vertragen werden.
Die Libidofixierung des Erwachsenen, die wir als Repräsentanten
des konstitutionellen Faktors in die ätiologische Gleichung der Neu-
rosen eingeführt haben, zerlegt sich also jetzt für uns in zwei weitere
Momente, in die ererbte Anlage und in die in der frühen Kindheit
erworbene Disposition. Wir wissen, daß ein Schema der Sympathie
des Lernenden sicher ist. Fassen wir also diese Verhältnisse in einem
Schema zusammen:
Verursachung __ Disposition durch , Akzidentelles Erleben
der Neurose ° Libidofixierung ! __(traumatisches)
Sexuelle Konstitution Infantiles Erleben
(Prähistorisches Erleben)
Die hereditäre Sexualkonstitution bietet uns eine große Mannigfaltig-
keit von Anlagen, je nachdem dieser oder jener Partialtrieb für sich
allein oder im Verein mit anderen in besonderer Stärke angelegt ist.
Mit dem Faktor des infantilen Erlebens bildet die Sexualkonstitution
wiederum eine „Ergänzungsreihe“, ganz ähnlich der uns zuerst be-
kannt gewordenen zwischen Disposition und akzidentellem Erleben
des Erwachsenen. Hier wie dort finden sich dieselben extremen Fälle
und die nämlichen Beziehungen der Vertretung. Es liegt nahe, hier
X.XILI. Die Wege der Symptombildung 377
die Frage aufzuwerfen, ob die auffälligste der Libidoregressionen, die
auf frühere Stufen der Sexualorganisation, nicht überwiegend durch
das hereditär konstitutionelle Moment bedingt wird; aber die Beant-
wortung der Frage wird am besten aufgeschoben, bis man eine größere
Reihe der neurotischen Erkrankungsformen in Betracht ziehen kann.
Verweilen wir nun bei der Tatsache, daß die analytische Unter-
suchung die Libido der Neurotiker an ihre infantilen Sexualerlebnisse
gebunden zeigt. Sie verleiht diesen so den Schein einer enormen Be-
deutsamkeit für das Leben und die Erkrankung des Menschen. Solche
Bedeutung verbleibt ihnen ungeschmälert, insoweit dietherapeutische
Arbeit in Betracht kommt. Sehen wir aber von dieser Aufgabe ab,
so erkennen wir doch leicht, daß hier die Gefahr eines Mißverständ-
nisses vorliegt, das uns verleiten könnte, das Leben allzu einseitig
nach der neurotischen Situation zu orientieren. Man muß doch von
der Bedeutung der Infantilerlebnisse in Abzug bringen, daß die Libido
regressiv zu Ihnen zurückgekehrt ist, nachdem sie aus ihren späteren
Positionen vertrieben wurde. Dann liegt aber der Schluß nach der
Gegenseite sehr nahe, daß die Libidoerlebnisse zu ihrer Zeit gar
keine Bedeutung gehabt, sondern sie erst regressiv erworben haben.
Erinnern Sie sich, daß wir zu einer solchen Alternative bereits bei
der Erörterung des Ödipuskomplexes Stellung genommen haben.
Die Entscheidung wird uns auch diesmal nicht schwer werden.
Die Bemerkung, daß die Libidobesetzung — und also die pathogene
Bedeutung — der Infantilerlebnisse in großem Maße durch die Libido-
regression verstärkt worden ist, hat unzweifelhaft recht, aber sie würde
zum Irrtum führen, wenn man sie einzig maßgebend werden ließe.
Man muß noch andere Erwägungen gelten lassen. Fürs erste zeigt
die Beobachtung in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise, daß
die infantilen Erlebnisse ihre eigene Bedeutung haben und sie auch
bereits in den Kinderjahren beweisen. Es gibt ja auch Kinderneu-
rosen, bei denen das Moment der zeitlichen Zurückschiebung not-
wendigerweise sehr herabgesetzt wird oder ganz entfällt, indem die.
Erkrankung als unmittelbare Folge an die traumatischen Frlebnisse
378 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
anschließt. Das Studium dieser infantilen Neurosen schützt gegen
manch ein gefährliches Mißverständnis der Neurosen Erwachsener,
ähnlich wie uns die Träume der Kinder den Schlüssel zum Verständ-
nis der Träume von Erwachsenen gegeben haben. Die Neurosen der
Kinder sind nun sehr häufig, viel häufiger, als man glaubt. Sie werden
oft übersehen, als Zeichen von Schlimmheit oder Unartigkeit beur-
teilt, oft auch durch die Autoritäten der Kinderstube niedergehalten,
aber sie lassen sich in der Rückschau von später her immer leicht er-
kennen. Sie treten zumeist in der Form einer Angsthysterie auf.
Was das heißt, werden wir noch bei einer anderen Gelegenheit er-
fahren. Wenn in späteren Lebenszeiten eine Neurose ausbricht, so
enthüllt sie sich durch die Analyse regelmäßig als die direkte Fort-
setzung jener vielleicht nur schleierhaften, nur andeutungsweise aus-
gebildeten infantilen Erkrankung. Es gibt aber, wie gesagt, Fälle, in
denen sich diese kindliche Nervosität ohne jede Unterbrechung in
lebenslanges Kranksein fortsetzt. Einige wenige Beispiele von Kinder-
neurosen haben wir noch am Kind selbst — im Zustande der Aktuali-
tät — analysieren können; weit häufiger mußte es uns genügen, daß
uns der im reifen Leben Erkrankte eine nachträgliche Einsicht in
seine Kinderneurose gestattete, wobei wir dann gewisse Korrekturen
und Vorsichten nicht vernachlässigen durften.
An zweiter Stelle muß man doch sagen, daß es unbegreiflich wäre,
daß die Libido so regelmäßig auf Zeiten der Kindheit regrediert,
wenn dort nichts wäre, was eine Anziehung auf sie ausüben könnte.
Die Fixierung, die wir an den einzelnen Stellen des Entwicklungs-
weges annehmen, hat nur dann einen Gehalt, wenn wir sie in der
Festlegung eines bestimmten Betrages von libidinöser Energie be-
stehen lassen. Endlich kann ich Sie daran mahnen, daß hier zwischen
der Intensität und pathogenen Bedeutung der infantilen und der
späteren Erlebnisse ein ähnliches Ergänzungsverhältnis besteht wie
in den früher von uns studierten Reihen. Es gibt Fälle, in denen das
ganze Schwergewicht der Verursachung auf die Sexualerlebnisse der
Kindheit fällt, in denen diese Eindrücke eine sicher traumatische
XXIII. Die Wege der Symptombildung 379
Wirkung äußern und keiner anderen Unterstützung dabei bedürfen,
als ihnen die durchschnittliche Sexualkonstitution und deren 'Unfer-
tigkeit bieten kann. Daneben andere, bei welchen aller Akzent auf
den späteren Konflikten liegt und die analytische Betonung der Kin-
dereindrücke durchaus als das Werk der Regression erscheint; also
Extreme der „Entwicklungshemmung“ und der „Regression“ und
zwischen ihnen jedes Ausmaß von Zusammenwirken der beiden Mo-
mente.
Diese Verhältnisse haben ein gewisses Interesse für die Pädagogik,
die sich eine Verhütung der Neurosen durch frühzeitiges Eingreifen
in die Sexualentwicklung des Kindes zum Vorsatz nimmt. Solange
man seine Aufmerksamkeit vorwiegend auf die infantilen Sexualer-
lebnisse gerichtet hält, muß man meinen, man habe alles für die
Prophylaxe nervöser Erkrankungen getan, wenn man dafür sorgt,
daß diese Entwicklung verzögert werde, und daß dem Kinde derartige
Erlebnisse erspart bleiben. Allein wir wissen schon, daß die Bedin-
gungen der Verursachung für die Neurosen komplizierte sind und
durch die Berücksichtigung eines einzigen Faktors nicht allgemein
beeinflußt werden können. Die strenge Behütung der Kindheit ver-
liert an Wert, weil sie gegen den konstitutionellen Faktor ohnmächtig
ist; sie ist überdies schwerer durchzuführen, als die Erzieher sich
vorstellen, und sie bringt zwei neue Gefahren mit sich, die nicht ge-
ring zu schätzen sind: daß sie zu viel erreicht, nämlich ein für die
Folge schädliches Übermaß von Sexualverdrängung begünstigt, und
daß sie das Kind widerstandslos gegen den in der Pubertät zu er-
wartenden Ansturm der Sexualforderungen ins Leben schickt. So
bleibt es durchaus zweifelhaft, wie weit die Kindheitsprophylaxe mit
Vorteil gehen kann, und ob nicht eine veränderte Einstellung zur
Aktualität einen besseren Angriffspunkt zur Verhütung der Neurosen
verspricht.
Kehren wir nun zu den Symptomen zurück. Sie schaffen also Er-
satz für die versagte Befriedigung durch eine Regression der Libido
auf frühere Zeiten, womit die Rückkehr zu früheren Entwicklungs-
80 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
stufen der Objektwahl oder der Organisation untrennbar verbunden
ist. Wir haben frühzeitig gehört, dal der Neurotiker irgendwo in
seiner Vergangenheit festhaftet; wir wissen jetzt, daß es eine Periode
seiner Vergangenheit ist, in welcher seine Libido die Befriedigung
nicht vermißte, in der er glücklich war. Er sucht so lange in seiner
Lebensgeschichte, bis er eine solche Zeit gefunden hat, und müßte
er auch bis in seine Säuglingszeit zurückgehen, wie er sie erinnert
oder sich nach späteren Anregungen vorstellt. Das Symptom wieder-
holt irgendwie jene frühinfantile Art der Befriedigung, entstellt durch
die aus dem Konflikt hervorgehende Zensur, in der Regel zur Emp-
findung des Leidens gewendet und mit Elementen aus dem Anlaß
der Erkrankung vermengt. Die Art der Befriedigung, welche das
Symptom bringt, hat viel Befremdendes an sich. Wir sehen davon
ab, daß sie für die Person unkenntlich ist, welche die angebliche Be-
friedigung vielmehr als Leiden empfindet und beklagt. Diese Ver-
wandlung gehört dem psychischen Konflikt an, unter dessen Druck
sich das Symptom bilden mußte. Was dereinst dem Individuum eine
Befriedigung war, muß eben heute seinen Widerstand oder seinen Ab-
scheu erwecken. Wir kennen für solche Sinnesänderung ein unschein-
bares, aber lehrreiches Vorbild. Dasselbe Kind, das mit Gier die Milch
aus der Mutterbrust gesogen hat, pflegt einige Jahre später einen
starken Widerwillen gegen Milchgenuß zu äußern, dessen Überwin-
dung der Erziehung Schwierigkeiten bereitet. Dieser Widerwille
steigert sich bis zum Abscheu, wenn die Milch oder das mit ihr ver-
setzte Getränk von einem Häutchen überzogen ist. Es ist vielleicht
nicht abzuweisen, daß diese Haut die Erinnerung an die einst so
heiß begehrte Mutterbrust heraufbeschwört. Dazwischen liegt aller-
dings das traumatisch wirkende Erlebnis der Abgewöhnung.
Es ist noch etwas anderes, was uns die Symptome merkwürdig und
als Mittel der libidinösen Befriedigung unverständlich erscheinen
läßt. Sie erinnern uns so gar nicht an all das, wovon wir normaler-
weise eine Befriedigung zu erwarten pflegen. Sie sehen meist vom
Objekt ab und geben damit die Beziehung zur äußeren Realität auf.
XAIII. Die Wege der Symptombildung 581
Wir verstehen dies als Folge der Abwendung vom Realitäts- und der
Rückkehr zum Lustprinzip. Es ist aber auch eine Rückkehr zu einer
Art von erweitertem Autoerotismus, wie er dem Sexualtrieb die ersten
Befriedigungen bot. Sie setzen an die Stelle einer Veränderung der
Außenwelt eine Körperveränderung, also eine innere Aktion an die
Stelle einer äußeren, eine Aupassung anstatt einer Handlung, was
wiederum einer in phylogenetischer Hinsicht höchst bedeutsamen
Regression entspricht. Wir werden das erst im Zusammenhange mit
einer Neuheit verstehen, die wir noch aus den analytischen Unter-
suchungen über die Symptombildung zu erfahren haben. Ferner er--
innern wir uns, daß bei der Symptombildung die nämlichen Prozesse
des Unbewußten wie bei der 'Traumbildung mitgewirkt haben, die
Verdichtung und Verschiebung. Das Symptom stellt wie der Traum
etwas als erfüllt dar, eine Befriedigung nach Art der infantilen, aber
durch äußerste Verdichtung kann diese Befriedigung in eine einzige
Sensation oder Innervation gedrängt, durch extreme Verschiebung
auf eine kleine Einzelheit des ganzen libidinösen Komplexes einge-
schränkt sein. Es ist kein Wunder, wenn auch wir häufig Schwierig-
keiten haben, in dem Symptom die vermutete und jedesmal bestä-
tigte libidinöse Befriedigung zu erkennen.
Ich habe Ihnen angekündigt, daß wir noch etwas Neues zu erfah-
ren haben; es ist wirklich etwas Überraschendes und Verwirrendes.
Sie wissen, durch die Analyse von den Symptomen aus kommen wir
zur Kenntnis der infantilen Erlebnisse, an welche die Libido fixiert
ist, und aus denen die Symptome gemacht werden. Nun, die Über-
raschung liegt darin, daß diese Infantilszenen nicht immer wahr
sind. Ja, sie sind in der Mehrzahl der Fälle nicht wahr, und in ein-
zelnen Fällen im direkten Gegensatz zur historischen Wahrheit. Sie
sehen ein, daß dieser Fund wie kein anderer dazu geeignet ist, ent-
weder die Analyse zu diskreditieren, die zu solchem Ergebnis geführt
hat, oder die Kranken, auf deren Aussagen die Analyse wie das ganze
Verständnis der Neurosen aufgebaut ist. Außerdem ist aber noch
etwas ungemein Verwirrendes dabei. Wenn die durch die Analyse
Rp
382 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
zutage geförderten infantilen Erlebnisse jedesmal real wären, hätten
wir das Gefühl, uns auf sicherem Boden zu bewegen; wenn sie regel-
mäßig gefälscht wären, sich als Erfindungen, als Phantasien der
Kranken enthüllten, müßten wir diesen schwankenden Boden ver-
lassen und uns auf einen anderen retten. Aber es ist weder so noch
so, sondern der Sachverhalt ist nachweisbar der, daß die in der Ana-
lyse konstruierten oder erinnerten Kindererlebnisse einmal unstreitig
falsch sind, das andere Mal aber ebenso sicher richtig und in den
meisten Fällen aus Wahrem und Falschem gemengt. Die Symptome
sind also dann bald die Darstellung von Erlebnissen, die wirklich
stattgefunden haben, und denen man einen Einfluß auf die Fixierung
der Libido zuschreiben darf, und bald die Darstellung von Phanta-
sien des Kranken, die sich zu einer ätiologischen Rolle natürlich gar
nicht eignen. Es ist schwer, sich darin zurechtzufinden. Einen ersten
Anhalt finden wir vielleicht an einer ähnlichen Entdeckung, daß
nämlich die vereinzelten Kindheitserinnerungen, welche die Men-
schen von jeher und vor jeder Analyse bewußt in sich getragen
haben, gleichfalls gefälscht sein können oder wenigstens reichlich
Wahres mit Falschem vermengen. Der Nachweis der Unrichtigkeit
macht hier selten Schwierigkeiten, und so haben wir wenigstens die
eine Beruhigung, daß an dieser unerwarteten Enttäuschung nicht
die Analyse, sondern irgendwie die Kranken die Schuld tragen.
Nach einiger Überlegung verstehen wir leicht, was uns an dieser
Sachlage so verwirrt. Es ist die Geringschätzung der Realität, die
Vernachlässigung des Unterschiedes zwischen ihr und der Phantasie.
Wir sind in Versuchung beleidigt zu sein, daß uns der Kranke mit
erfundenen Geschichten beschäftigt hat. Die Wirklichkeit erscheint
uns als etwas von der Erfindung himmelweit Verschiedenes, und sie
genießt bei uns eine ganz andere Einschätzung. Denselben Stand-
punkt nimmt übrigens auch der Kranke in seinem normalen Denken
ein. Wenn er jenes Material vorbringt, welches hinter den Sym-
ptomen zu den Wunschsituationen führt, die den Kindererlebnissen
nachgebildet sind, so sind wir allerdings anfangs im Zweifel, ob es
XXIII. Die Wege der Symptombildung 383
sich um Wirklichkeit oder um Phantasien handelt. Später wird uns
die Entscheidung durch gewisse Kennzeichen ermöglicht, und wir
stehen vor der Aufgabe, sie auch dem Kranken bekanntzugeben.
Dabei geht es nun auf keinen Fall ohne Schwierigkeiten ab. Eröff-
nen wir ihm gleich zu Beginn, daß er jetzt im Begriffe ist, die Phan-
tasien zum Vorschein zu bringen, mit denen er sich seine Kindheits-
geschichte verhüllt hat, wie jedes Volk durch Sagenbildung seine
vergessene Vorzeit, so bemerken wir, daß sein Interesse für die wei-
tere Verfolgung des Themas plötzlich in unerwünschter Weise ab-
sinkt. Er will auch Wirklichkeiten erfahren und verachtet alle
„Einbildungen“. Lassen wir ihn aber bis zur Erledigung dieses
Stückes der Arbeit im Glauben, daß wir mit der Erforschung der
realen Begebenheiten seiner Kinderjahre beschäftigt sind, so riskieren
wir, daß er uns später Irrtum vorwirft und uns wegen unserer schein-
baren Leichtgläubigkeit verlacht. Für den Vorschlag, Phantasie und
Wirklichkeit gleichzustellen und sich zunächst nicht darum zu küm-
mern, ob die zu klärenden Kindererlebnisse das eine oder das andere
seien, hat er lange Zeit kein Verständnis. Und doch ist dies offenbar
die einzig richtige Einstellung zu diesen seelischen Produktionen.
Auch sie besitzen eine Art von Realität; es bleibt eine Tatsache, daß
der Kranke sich solche Phantasien geschaffen hat, und diese Tatsache
hat kaum geringere Bedeutung für seine Neurose, als wenn er den
Inhalt dieser Phantasien wirklich erlebt hätte. Diese Phantasien
besitzen psychische Realität im Gegensatz zur materiellen,
und wir lernen allmählich verstehen, daß in der Weltder Neu-
rosen die psychische Realität die maßgebende ist.
Unter den Begebenheiten, die in der Jugendgeschichte der Neu-
rotiker immer wiederkehren, kaum je zu fehlen scheinen, sind einige
von besonderer Wichtigkeit, die ich darum auch einer Hervorhebung
vor den anderen für würdig halte. Ich zähle Ihnen als Muster dieser
Gattung auf: die Beobachtung des elterlichen Verkehres, die Ver-
führung durch eine erwachsene Person und die Kastrationsandrohung.
Es wäre ein großer Irrtum anzunehmen, daß ihnen niemals materielle
384 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Realität zukommt; diese ist im Gegenteil oft einwandfrei durch Nach-
forschung bei älteren Angehörigen zu erweisen. So ist es z. B. gar
keine Seltenheit, daß dem kleinen Knaben, welcher unartig mit seinem
Glied zu spielen beginnt und noch nicht weiß, daß man solche Be-
schäftigung verbergen muß, von Eltern oder von Pflegepersonen ge-
droht wird, man werde ihm das Glied oder die sündigende Hand ab-
schneiden. Die Eltern gestehen es auf Nachfrage oft ein, da sie mit
solcher Einschüchterung etwas Zweckmäßiges getan zu haben glau-
‚ben; manche Menschen haben eine korrekte, bewußte Erinnerung
an diese Drohung, besonders dann, wenn sie in etwas späteren Jahren
erfolgt ist. Wenn die Mutter oder eine andere weibliche Person die
Drohung ausspricht, so schiebt sie ihre Ausführung gewöhnlich dem
Vater oder dem — Arzt zu. In dem berühmten „Struwelpeter“ des
Frankfurter Kinderarztes Hoffmann, der seine Beliebtheit gerade
dem Verständnis für die sexuellen und andere Komplexe des Kindes-
alters verdankt, finden Sie die Kastration gemildert, durch das Ab-
schneiden der Daumen als Strafe für hartnäckiges Lutschen ersetzt.
Es ist aber in hohem Grade unwahrscheinlich, daß die Kastrations-
drohung so oft an die Kinder ergeht, als sie in den Analysen der Neu-
rotiker vorkommt. Wir sind damit zufrieden zu verstehen, daß sich
das Kind eine solche Drohung auf Grund von Andeutungen, mit Hilfe
des Wissens, daß die autoerotische Befriedigung verboten ist, und unter
dem Eindruck seiner Entdeckung des weiblichen Genitales in der
Phantasie zusammensetzt. Ebenso ist es keineswegs ausgeschlossen,
daß das kleine Kind, solange man ihm kein Verständnis und kein
Gedächtnis zutraut, auch in anderen als Proletarierfamilien zum
Zeugen eines Geschlechtsaktes zwischen den Eltern oder anderen
Erwachsenen wird, und es ist nicht abzuweisen, daß das Kind nach-
träglich diesen Eindruck verstehen und auf ihn reagieren kann.
Wenn aber dieser Verkehr mit den ausführlichsten Details beschrie-
ben wird, die der Beobachtung Schwierigkeiten bereiten, oder wenn
er sich, wie überwiegend häufig, als ein Verkehr von rückwärts,
more ferarum, herausstellt, so bleibt wohl kein Zweifel über die
XXIII. Die Wege der Symptombildung 385
Anlehnung dieser Phantasie an die Beobachtung; des Verkehres von
Tieren (Hunden) und die Motivierung derselben durch die unbefrie-
digte Schaulust des Kindes in den Pubertätsjahren. Die äußerste Lei-
stung dieser Art ıst dann die Phantasie von. der Beobachtung des
elterlichen Koitus, während man sich noch ungeboren im Mutterleib
befunden hat. Besonderes Interesse hat die Phantasie der Verführung,
weil sie nur zu oft keine Phantasie, sondern reale Erinnerung ist.
Aber zum Glück ist sie doch nicht so häufig real, wie es nach den
Ergebnissen der Analyse zuerst den Anschein hatte. Die Verführung
durch ältere oder gleichaltrige Kinder ist immer noch häufiger als
die durch Erwachsene, und wenn bei den Mädchen, welche diese
Begebenheit in ihrer Kindergeschichte vorbringen, ziemlich regel-
mäßig der Vater als Verführer auftritt, so leidet weder die phan-
tastische Natur dieser Beschuldigung noch das zu ihr drängende
Motiv einen Zweifel. Mit der Verführungsphantasie, wo keine Ver-
führung stattgehabt hat, deckt das Kind in der Regel die autoerotische
Periode seiner Sexualbetätigung. Es erspart sich die Beschämung über
die Masturbation, indem es ein begehrtes Objekt in diese frühesten
Zeiten zurückphantasiert. Glauben Sie übrigens nicht, daß sexueller
Mißbrauch des Kindes durch die nächsten männlichen Verwandten
durchaus dem Reiche der Phantasie angehört. Die meisten Analytiker
werden Fälle behandelt haben, in denen solche Beziehungen real
waren und einwandfrei festgestellt werden konnten; nur gehörten
sie auch dann späteren Kindheitsjahren an und waren in frühere ein-
getragen worden.
Man empfängt keinen anderen Erlaruck, als daß Solche Kisider.
begebenheiten irgendwie notwendig verlangt werden, zum eisernen
Bestand der Neurose gehören. Sind sie in der Realität enthalten, dann
ist es gut; hat sie die Realität verweigert, so werden sie aus Andeu-
tungen hergestellt und durch die Phantasie ergänzt. Das Ergebnis
ist das gleiche, und es ist uns bis heute nicht gelungen, einen Unter-
schied in den Folgen nachzuweisen, wenn die Phantasie oder die
Realität den größeren Anteil an diesen Kinderbegebenheiten hat.
Freud, VI. 25
386 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Hier besteht eben wieder nur eines der so oft erwähnten Ergänzungs-
verhältnisse; es ist allerdings das Befremdendste von allen, die wir
kennen gelernt haben. Woher rührt das Bedürfnis nach diesen Phan-
tasien und das Material für sie? Über die Triebquellen kann wohl
kein Zweifel sein, aber es Ist zu erklären, daß jedesmal die nämlichen
Phantasien mit demselben Inhalt geschaffen werden. Ich habe hier
eine Antwort bereit, von der ich weiß, daß sie Ihnen gewagt er-
scheinen wird. Ich meine, diese Urphantasien — so möchte ich
sie und gewiß noch einige andere nennen — sind phylogenetischer
Besitz. Das Individuum greift in ihnen über sein eigenes Erleben hin-
aus in das Erleben der Vorzeit, wo sein eigenes Erleben allzu rudi-
mentär geworden ist. Es scheint mir sehr wohl möglich, daß alles,
was uns heute in der Analyse als Phantasie erzählt wird, die Kinder-
verführung, die Entzündung der Sexualerregung an der Beobachtung
des elterlichen Verkehrs, die Kastrationsdrohung, — oder vielmehr
die Kastration, — in den Urzeiten der menschlichen Familie einmal
Realität war, und daß das phantasierende Kind einfach die Lücken
der individuellen Wahrheit mit prähistorischer Wahrheit ausgefüllt
hat. Wir sind wiederholt auf den Verdacht gekommen, daß uns die
Neurosenpsychologie mehr von den Altertümern der menschlichen
Entwicklung aufbewahrt hat als alle anderen Quellen.
Meine Herren! Die letzterörterten Dinge nötigen uns, auf die Ent-
stehung und Bedeutung jener Geistestätigkeit näher einzugehen, die
„Phantasie“ genannt wird. Sie genießt, wie Ihnen bekannt ist, all-
gemein eine hohe Schätzung, ohne daß man über ihre Stellung im
Seelenleben klar geworden wäre. Ich kann Ihnen folgendes darüber
sagen. Wie Sie wissen, wird das Ich des Menschen durch die Ein-
wirkung der äußeren Not langsam zur Schätzung der Realität und
zur Befolgung des Realitätsprinzips erzogen und muß dabei auf ver-
schiedene Objekte und Ziele seines Luststrebens — nicht allein des
sexuellen — vorübergehend oder dauernd verzichten. Aber Lustver-
zicht ist dem Menschen immer schwer gefallen; er bringt ıhn nicht
obne eine Art von Entschädigung zustande. Er hat sich daher eine
XXIII. Die Wege der Symptombildung 387
seelische Tätigkeit vorbehalten, in welcher all diesen aufgegebenen
Lustquellen und verlassenen Wegen der Lustgewinnung eine weitere
Existenz zugestanden ist, eine Form der Existenz, in welcher sie von
dem Realitätsanspruch und dem, was wir Realitätsprüfung nennen,
frei gelassen sind. Jedes Streben erreicht bald die Form einer Erfüllungs-
vorstellung; es ist kein Zweifel, daß das Verweilen bei den Wunsch-
erfüllungen der Phantasie eine Befriedigung mit sich bringt, obwohl
das Wissen, es handle sich nicht um Realität, dabei nicht getrübt ist.
In der Phantasietätigkeit genießt also der Mensch die Freiheit vom
äußeren Zwang, weiter, auf die er in Wirklichkeit längst verzichtet
hat. Er hat es zustande gebracht, abwechselnd noch Lusttier zu sein
und dann wieder ein verständiges Wesen. Er findet mit der kargen
Befriedigung, die er der Wirklichkeit abringen kann, eben nicht sein
Auskommen. „Es geht überhaupt nicht ohne Hilfskonstruktionen,“
hat Th. Fontane einmal gesagt. Die Schöpfung des seelischen Reiches
der Phantasie findet ein volles Gegenstück in der Einrichtung von
„Schonungen“, „Naturschutzparks“ dort, wo die Anforderungen des
Ackerbaues, des Verkehres und der Industrie das ursprüngliche Gesicht
der Erde rasch bis zur Unkenntlichkeit zu verändern drohen. Der
Naturschutzpark erhält diesen alten Zustand, welchen man sonst über-
all mit Bedauern der Notwendigkeit geopfert hat. Alles darf darin
wuchern und wachsen, wie es will, auch das Nutzlose, selbst das Schäd-
liche. Eine solche dem Realitätsprinzip entzogene Schonung ist auch
das seelische Reich der Phantasie.
Die bekanntesten Produktionen der Phantasie sind die sogenannten
„Tagträume“, die wir schon kennen, vorgestellte Befriedigungen ehr-
geiziger, großsüchtiger, erotischer Wünsche, die um so üppiger ge-
deihen, je mehr die Wirklichkeit zur Bescheidung oder zur Geduldung
mahnt. Das Wesen des Phantasieglücks, die Wiederherstellung der
Unabhängigkeit der Lustgewinnung von derZustimmung der Realität,
zeigt sich in ihnen unverkennbar. Wir wissen, solche Tagträume sınd
Kern und Vorbilder der nächtlichen Träume. Der Nachttraum ist im
Grunde nichts anderes als ein durch die nächtliche Freiheit der Trieb-
25*
388 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
regungen verwendbar gewordener, durch die nächtliche Form der
seelischen Tätigkeit entstellter Tagtraum. Wir haben uns bereits mit
der Idee vertraut gemacht, daß auch ein Tagtraum nicht notwendig
bewußt ist, daß es auch unbewußte Tagträume gibt. Solche unbewußte
Tagträume sind also ebensowohl die Quelle der nächtlichen Träume
wie — der neurotischen Symptome.
Die Bedeutung der Phantasie für die Sabre wird Ihnen
durch die folgende Mitteilung klar werden. Wir haben gesägt, im
Falle der Versagung besetze dieL.ibido regressiv dievonihraufgelassenen
Positionen, an denen sie doch mit gewissen Beträgen haften geblieben
ist. Das werden wir nicht zurücknehmen oder korrigieren, aber wir
haben ein Zwischenglied einzusetzen. Wie findet die Libido ihren
Weg zu diesen Fixierungsstellen? Nun, alle aufgegebenen Objekte
und Richtungen der Libido sind noch nicht in jedem Sinne aufgegeben.
Sie oder ihre Abkömmlinge werden noch mit einer gewissen Intensi-
tät in den Phantasievorstellungen festgehalten. Die Libido braucht
sich also nur auf die Phantasien zurückzuziehen, um von ihnen aus
den Weg zu allen verdrängten Fixierungen offen zu finden, Diese
Phantasien erfreuten sich einer gewissen Duldung, es kam nicht zum
Konflikt zwischen ihnen und dem Ich, so scharf auch die Gegensätze
sein mochten, solange eine gewisse Bedingung eingehalten wurde,
. Eine Bedingung quantitativer Natur, die nun durch das Rückfluten
der Libido auf die Phantasien gestört wird. Durch diesen Zuschuß
wird die Energiebesetzung der Phantasien so erhöht, daß sie anspruchs-
voll werden, einen Drang nach der Richtung der Realisierung ent-
wickeln. Das macht aber den Konflikt zwischen ihnen und dem Ich
unvermeidlich. Ob sie früher vorbewußt oder bewußt waren, sie unter-
liegen jetzt der Verdrängung von seiten des Ichs und sind der An-
ziehung von seiten des Unbewußten preisgegeben. Von den jetzt un-
bewußten Phantasien wandert die Libido bis zu deren Ursprüngen
im Unbewußten, bis zu ihren eigenen Fixierungsstellen zurück.
Der Rückgang der Libido auf die Phantasie ist eine Zwischenstufe
des Weges zur Symptombildung, welche wohl eine besondere Be-
XXIII. Die Wege der Symptombildung 389
zeichnung verdient. C. G. Jung hat den sehr geeigneten Namen der
Introversion für sie geprägt, ihn aber in unzweckmäßiger Weise
auch anderes bedeuten lassen. Wir wollen daran festhalten, daß die
Introversion die Abwendung der Libido von den Möglichkeiten der
realen Befriedigung und die Überbesetzung der bisher als harmlos
geduldeten Phantasien bezeichnet. Ein Introvertierter ist noch kein
Neurotiker, aber er befindet sich in einer labilen Situation; er muß
bei der nächsten Kräfteverschiebung Symptome entwickeln, wenn er
nicht noch für seine gestaute Libido andere Auswege findet. Der irreale
Charakter der neurotischen Befriedigung und die Vernachlässigung
des Unterschiedes zwischen Phantasie und Wirklichkeit sind hingegen
bereits durch das Verweilen auf der Stufe der Introversion bestimmt.
Sie haben gewiß bemerkt, daß ich in den letzten Erörterungen einen
neuen Faktor in das Gefüge der ätiologischen Verkettung eingeführt
habe, nämlich die Quantität, die Größe der in Betracht kommenden
Energien; diesen Faktor müssen wirüberall noch in Rechnung bringen.
Mit rein qualitativer Analyse der ätiologischen Bedingungen reichen
wir nicht aus. Oder um es anders zu sagen, eine bloß dynamische
Auffassung dieser seelischen Vorgänge ist ungenügend, es bedarf noch
des ökonomischen Gesichtspunktes. Wir müssen uns sagen, daß der
Konflikt zwischen zwei Strebungen nicht losbricht, ehe nicht gewisse
Besetzungsintensitäten erreicht sind, mögen auch die inhaltlichen Be-
dingungen längst vorhanden sein. Ebenso richtet sich die pathogene
Bedeutung der konstitutionellen Faktoren danach, wie viel mehr von
dem einen Partialtrieb als von einem anderen in der Anlage gegeben
ist; man kann sich sogar vorstellen, die Anlagen aller Menschen seien
qualitativ gleichartig und unterscheiden sich nur durch diese quanti-
tativen Verhältnisse. Nicht minder entscheidend ist das quantitative
Moment für die Widerstandsfähigkeit gegen neurotische Erkrankung.
Es kommt darauf an, welchen Betrag der unverwendeten Libido
eine Person in Schwebe erhalten kann, und einen wiegroßenBruch-
teil ihrer Libido sie vom Sexuellen weg auf die Ziele der Sublimierung
zu lenken vermag. Das Endziel der seelischen Tätigkeit, das sich
390 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
qualitativ als Streben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung be-
schreiben läßt, stellt sich für die ökonomische Betrachtung als die
Aufgabe dar, die im seelischen Apparat wirkenden Erregungsgrößen
(Reizmengen) zu bewältigen und deren Unlust schaffende Stauung
hintanzuhalten.
Soviel wollte ich Ihnen also über die Symptombildung bei den
Neurosen sagen. Ja aber, daß ich nicht versäume, es nochmals aus-
drücklich zu betonen: Alles hier Gesagte bezieht sich nur auf die
Symptombildung bei der Hysterie. Schon bei der Zwangsneurose ist
— bei Erhaltung des Grundsätzlichen — vieles anders zu finden.
Die Gegenbesetzungen gegen die 'Triebanforderungen, von denen
wir auch bei der Hysterie gesprochen haben, drängen sich bei der
Zwangsneurose vor und beherrschen durch sogenannte „Reaktions-
bildungen“ das klinische Bild. Ebensolche und noch weiter reichende
Abweichungen entdecken wir bei den anderen Neurosen, wo die
Untersuchungen über die Mechanismen der Symptombildung noch an
keinem Punkte abgeschlossen sind.
Ehe ich Sie heute entlasse, möchte ich aber Ihre Aufmerksamkeit
noch eine Weile für eine Seite des Phantasielebens in Anspruch neh-
men, die des allgemeinsten Interesses würdig ist. Es gibt nämlich
einen Rückweg von der Phantasie zur Realität, und das ist — die
Kunst. Der Künstler ist im Ansatze auch ein Introvertierter, der es
nicht weit zur Neurose hat. Er wird von überstarken 'Triebbedürf-
nissen gedrängt, möchte Ehre, Macht, Reichtum, Ruhm und die Liebe
der Frauen erwerben; es fehlen ihm aber die Mittel, um diese Be-
friedigungen zu erreichen. Darum wendet er sich wie ein anderer
Unbefriedigter von der Wirklichkeit ab und überträgt all sein Inter-
esse, auch seine Libido, auf die Wunschbildungen seines Phantasie-
lebens, von denen aus der Weg zur Neurose führen könnte. Es muß
wohl vielerlei zusammentreffen, damit dies nicht der volle Ausgang
seiner Entwicklung werde; es ist ja bekannt, wie häufig gerade Künst-
ler an einer partiellen Hemmung ihrer Leistungsfähigkeit durch
Neurosen leiden. Wahrscheinlich enthält ihre Konstitution eine
XXIII. Die Wege der Symptombildung 391
starke Fähigkeit zur Sublimierung und eine gewisse Lockerheit der
den Konflikt entscheidenden Verdrängungen. Den Rückweg zur Rea-
lität findet der Künstler aber auf folgende Art. Er ist ja nicht der
einzige, der ein Phantasieleben führt. Das Zwischenreich der Phan-
tasie ist durch allgemein menschliche Übereinkunft gebilligt, und
jeder Entbehrende erwartet von daher Linderung und Trost. Aber
den Nichtkünstlern ist der Bezug von Lustgewinn aus den Quellen
der Phantasie sehr eingeschränkt. Die Unerbittlichkeit ihrer Verdrän-
gungen nötigt sie, sich mit den spärlichen Tagträumen, die noch be-
wußt werden dürfen, zu begnügen. Wenn einer ein rechter Künstler
ist, dann verfügt er über mehr. Er versteht es erstens, seine Tag-
träume so zu bearbeiten, daß sie das allzu Persönliche, welches Fremde
abstößt, verlieren und für die anderen mitgenießbar werden. Er weiß
sie auch soweit zu mildern, daß sie ihre Herkunft aus den verpönten
Quellen nicht leicht verraten. Er besitzt ferner das rätselhafte Vermö-
gen, ein bestimmtes Material zu formen, bis es zum getreuen Eben-
bilde seiner Phantasievorstellung geworden ist, und dann weiß er an
diese Darstellung seiner unbewußten Phantasie so viel Lustgewinn
zu knüpfen, daß durch sie die Verdrängungen wenigstens zeitweilig
überwogen und aufgehoben werden. Kann er das alles leisten, so er-
möglicht er es den Anderen, aus den eigenen unzugänglich gewor-
denen Lustquellen ihres Unbewußten wiederum Trost und Linde-
rung zu schöpfen, gewinnt ihre Dankbarkeit und Bewunderung und
hat nun durch seine Phantasie erreicht, was er vorerst nur in seiner
Phantasie erreicht hatte: Ehre, Macht und Liebe der Frauen,
XXIV. VORLESUNG |
DIE GEMEINE NERVOSITÄT
Meine Damen und Herren! Nachdem wir in den letzten Bespre-
® chungen ein so schweres Stück Arbeit hinter uns gebracht haben,
verlasse ich für eine Weile den Gegenstand und wende mich zu Ihnen.
Ich weiß nämlich, daß Sie unzufrieden sind. Sie haben sich eine
„Einführung in die Psychoanalyse“ anders vorgestellt. Sie haben
lebensvolle Beispiele zu hören erwartet, nicht Theorie. Sie sagen mir,
das eine Mal, da ich Ihnen die Parallele vortrug „Zu ebener Erde und
im ersten Siock“, da haben Sie etwas von der Verursachung der Neu-
rosen begriffen, nur hätten es wirkliche Beobachtungen sein sollen
und nicht konstruierte Geschichten. Oder als ich Ihnen zu Beginn
zwei — hoffentlich nicht auch erfundene — Symptome erzählte,
deren Auflösung und Beziehung zum Leben der Kranken entwickelte,
da leuchtete Ihnen der „Sinn“ der Symptome ein; Sie hofften, ich
würde ‚in dieser Art fortsetzen. Anstatt dessen gab ich Ihnen weit-
läufige, schwer übersehbare "Theorien, die nie vollständig waren, zu
denen immer noch etwas Neues hinzukam, arbeitete mit Begriffen,
die ich Ihnen noch nicht vorgestellt hatte, fiel aus der deskriptiven
Darstellung in die dynamische Auffassung, aus dieser in eine soge-
nannte „ökonomische“, machte es Ihnen schwer zu verstehen, wie
viele von den angewendeten Kunstworten dasselbe bedeuten und nur
aus Gründen des Wohllautes miteinander abwechseln, ließ so weitaus-
greifende Gesichtspunkte wie das Lust- und Realitätsprinzip und den
XXIV. Die gemeine Nervosität | 395
phylogenetisch ererbten Besitz vor Ihnen auftauchen, und anstatt Sie
in etwas einzuführen, ließ ich etwas, was sich immer mehr von Ihnen
entfernte, vor Ihren Augen vorüberziehen.
Warum habe ich die Einführung in die Neurosenlehre nicht mit
dem begonnen, was sie selbst von der Nervosität kennen und was
längst Ihr Interesse erweckt hat? Mit dem eigentümlichen Wesen
der Nervösen, ihren unverständlichen Reaktionen auf menschlichen
Verkehr und äußere Einflüsse, ihrer Reizbarkeit, Unberechenbarkeit
und Untauglichkeit? Warum Sie nicht schrittweise vom Verständnis
der einfacheren alltäglichen Formen bis zu den Problemen der rätsel-
haften extremen Erscheinungen der Nervosität geführt?
Ja, meine Herren, ich kann Ihnen nicht einmal Unrecht geben.
Ich bin nicht so vernarrt in meine Darstellungskunst, daß ich jeden
ihrer Schönheitsfehler für einen besonderen Reiz ausgeben sollte. Ich
glaube selbst, es hätte sich mit mehr Vorteil für Sie anders machen
lassen; es lag auch in meiner Absicht. Aber man kann seine verstän-
digen Absichten nicht immer durchführen. Im Stoff selbst ist oft et-
was, wodurch man kommandiert und von seinen ersten Absichten
abgelenkt wird. Selbst eine so unscheinbare Leistung wie die Anord-
nung eines wohlbekannten Materials unterwirft sich nicht ganz der
Willkür des Autors; sie gerät, wie sie will, und man kann sich nur
nachträglich befragen, warum sie so und nicht anders ausgefallen ist.
Einer der Gründe ist wahrscheinlich, daß der Titel „Einführung
in die Psychoanalyse“ für diesen Abschnitt, der die Neurosen behan-
deln soll, nicht mehr zutrifft. Die Einführung in die Psychoanalyse
gibt das Studium der Fehlleistungen und des’Traumes; die Neurosen- |
lehre ist die Psychoanalyse selbst. Ich glaube nicht, daß ich vom In-
halt der Neurosenlehre in so kurzer Zeit Ihnen anders als in so kon-
zentrierter Form hätte Kenntnis geben können. Es handelte sich darum,
Ihnen Sinn und Bedeutung der Symptome, äußere und innere Bedin-
gungen und Mechanismus der Symptombildung im Zusammenhange
vorzuführen. Das habe ich zu tun versucht; es ist so ziemlich der Kern
dessen, was die Psychoanalyse heute zu. lehren hat. Dabei war von
394 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
der Libido und ihrer Entwicklung vieles zu sagen, einiges auch von
der des Ichs. Auf die Voraussetzungen unserer Technik, auf die großen
Gesichtspunkte des Unbewußten und der Verdrängung (des Wider-
standes) waren Sie schon durch die Einführung vorbereitet. Sie werden
in einer der nächsten Vorlesungen erfahren, an welchen Stellen die
psychoanalytische Arbeit ihren organischen Fortgang nimmt. Vor-
läufig habe ich Ihnen nicht verheimlicht, daß alle unsere Ermittlungen
nur aus dem Studium einer einzigen Gruppe von nervösen Affek-
tionen, den sogenannten Übertragungsneurosen, stammen. Den Me-
chanismus der Symptombildung habe ich sogar nur für die hysterische
Neurose verfolgt. Wenn Sie auch kein solides Wissen erworben und
nicht jede Einzelheit behalten haben sollten, so hoffe ich doch, daß
Sie so ein Bild davon gewonnen haben, mit welchen Mitteln die
Psychoanalyse arbeitet, welche Fragen sie angreift, und welche Er-
gebnisse sie geliefert hat.
Ich habe Ihnen den Wunsch unterlegt, daß ich die Darstellung
der Neurosen mit dem Gehaben der Nervösen hätte beginnen sollen,
mit der Schilderung der Art, wie sie unter ihrer Neurose leiden, wie
sie sich ihrer erwehren und sich mit ihr einrichten. Das ist gewiß
ein interessanter und wissenswerter Stoff, auch nicht sehr schwierig
zu behandeln, aber es ist nicht unbedenklich, mit ihm zu beginnen.
Man läuft Gefahr, das Unbewußte nicht zu entdecken, dabei die große
Bedeutung der Libido zu übersehen und alle Verhältnisse so zu be-
urteilen, wie sie dem Ich des Nervösen erscheinen. Daß dieses Ich
keine verläßliche und unparteiische Instanz ist, liegt auf der Hand.
Das Ich ist ja die Macht, welche das Unbewußte verleugnet und es
zum Verdrängten herabgesetzt hat, wie sollte man ihm zutrauen,
diesem Unbewußten gerecht zu werden? Unter diesem Verdrängten
stehen die abgewiesenen Ansprüche der Sexualität in erster Linie; es
ist ganz selbstverständlich, daß wir deren Umfang und Bedeutung
nie aus den Auffassungen des Ichs erraten können. Von dem Moment
an, da uns der Gesichtspunkt der Verdrängung aufdämmert, sind wir
auch gewarnt davor, daß wir nicht die eine der beiden streitenden
XXIV. Die gemeine Nervosität 305
Parteien, überdies noch die siegreiche, zum Richter über den Streit
einsetzen. Wir sind vorbereitet darauf, daß uns die Aussagen des Ichs
irreführen werden. Wenn man dem Ich glauben will, so war es in
allen Stücken aktiv, so hat es selbst seine Symptome gewollt und ge-
macht. Wir wissen, daß es ein gutes Stück Passivität über sich er-
gehen ließ, die es sich dann verheimlichen und beschönigen will.
Allerdings getraut es sich dieses Versuches nicht immer; bei den
Symptomen der Zwangsneurose muß es sich eingestehen, daß etwas
Fremdes sich ihm entgegenstellt, dessen es sich nur mühsam erwehrt.
Wer sich durch diese Mahnungen nicht abhalten läßt, die Verfäl-
schungen des Ichs für bare Münze zu nehmen, der hat freilich dann
ein leichtes Spiel und ist all den Widerständen entgangen, die sich
der psychoanalytischen Betonung des Unbewußten, der Sexualität und
der Passivität des Ichs entgegensetzen. Der kann wie Alfred Adler
behaupten, daß der „nervöse Charakter“ die Ursache der Neurose
sei, anstatt die Folge derselben, aber er wird auch nicht imstande sein,
ein einziges Detail der Symptombildung oder einen einzelnen Traum
zu erklären.
Sie werden fragen: Sollte es denn nicht möglich sein, dem Anteil
des Ichs an der Nervosität und an der Symptombildung gerecht zu
werden, ohne dabei die von der Psychoanalyse aufgedeckten Mo-
mente in gröblicher Weise zu vernachlässigen? Ich antworte: Gewiß
muß es möglich sein und es wird auch irgend einmal geschehen; es
liegt aber nicht in der Arbeitsrichtung der Psychoanalyse, gerade da-
mit zu beginnen. Es läßt sich wohl vorhersagen, wann diese Auf-
gabe an die Psychoanalyse herantreten wird. Es gibt Neurosen, bei
welchen das Ich weit intensiver beteiligt ist als bei den bisher von
uns studierten; wir nenen sie „narzißtische“ Neurosen. Die analy-
tische Bearbeitung dieser Affektionen wird uns befähigen, die Be-
teiligung des Ichs an der neurotischen Erkrankung in unpartelischer
und zuverlässiger Weise zu beurteilen.
Eine der Beziehungen des Ichs zu seiner Neurose ist aber so augen-
fällig, daß sie von Anfang an Berücksichtigung finden konnte. Sie
396 Vi orlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
scheint in keinem Falle zu fehlen; man erkennt sie aber am deut-
lichsten bei einer Affektion, die unserem Verständnis heute noch
fernsteht, bei der traumatischen Neurose. Sie müssen nämlich
wissen, daß in der Verursachung und im Mechanismus aller mög-
lichen Formen von Neurosen immer wieder dieselben Momente in
Tätigkeit treten, nur fällt hier dem einen, dort dem anderen dieser
Momente die Hauptbedeutung für die Symptombildung zu. Es ist
wie mit dem Personal einer Schauspielertruppe, unter dem jeder sein
festes Rollenfach hat: Held, Vertrauter, Intrigant usw.; es wird aber
jeder ein anderes Stück für seine Benefizvorstellung wählen. So sind
die Phantasien, die sich in die Symptome umsetzen, nirgends greif-
. barer als in der Hysterie; die Gegenbesetzungen oder Reaktionsbil-
dungen des Ichs beherrschen das Bild bei der Zwangsneurose; was wir
für den Traum sekundäre Bearbeitung genannt haben, steht
als Wahn obenan in der Paranoia usw.
So drängt sich uns bei den traumatischen Neurosen, besonders bei
solchen, wie sie durch die Schrecken des Krieges entstehen, unver-
kennbar ein selbstsüchtiges, nach Schutz und Nutzen strebendes Ich-
motiv auf, welches die Krankheit nicht etwa allein schaffen kann,
aber seine Zustimmung zu ihr gibt und sie erhält, wenn sie einmal
zustande gekommen ist. Dies Motiv will das Ich vor den Gefahren
bewahren, deren Drohung der Anlaß der Erkrankung ward, und wird
die Genesung nicht eher zulassen, als bis die Wiederholung dieser
Gefahren ausgeschlossen scheint, oder erst nachdem eine Entschädi-
gung für die ausgestandene Gefahr erreicht ist. |
Aber ein ähnliches Interesse nimmt das Ich in allen anderen Fäl-
len an der Entstehung und dem Fortbestand der Neurose. Wir haben
schon gesagt, daß das Symptom auch vom Ich gehalten wird, weil
es eine Seite hat, mit welcher es der verdrängenden Ichtendenz Be-
friedigung bietet. Überdies ist die Erledigung ' des Konflikts durch
die Symptombildung die bequemste und die dem Lustprinzip ge-
nehmste Auskunft; sie erspart dem Ich unzweifelhaft eine große und
peinlich empfundene innere Arbeit. Ja, es gibt Fälle, in denen selbst
XXIV,. Die gemeine Nervosität 397
der Arzt zugestehen muß, daß der Ausgang eines Konflikts in Neurose
die harmloseste und sozial erträglichste Lösung darstellt. Erstaunen
Sie nicht, wenn Sie hören, daß also selbst der Arzt mitunter die Partei
der von ihm bekämpften Krankheit nimmt. Es steht ihm ja nicht an,
sich gegen alle Situationen des Lebens auf die Rolle des Gesundheits-
fanatikers einzuengen, er weiß, daß es nicht nur neurotisches Elend
in der Welt gibt, sondern auch reales, unabstellbares Leiden, daß die
Notwendigkeit von einem Menschen auch fordern kann, daß er
seine Gesundheit zum Opfer bringe, und er erfährt, daß durch ein
solches Opfer eines einzelnen oft unübersehbares Unglück für viele
andere hintangehalten wird. Wenn man also sagen konnte, daß der
Neurotiker jedesmal vor einem Konflikt die Flucht in die Krank-
heit nimmt, so muß man zugeben, in manchen Fällen sei diese Flucht
vollberechtigt, und der Arzt, der diesen Sachverhalt erkannt hat, wird
sich schweigend und schonungsvoll zurückziehen.
Aber sehen wir von diesen Ausnahmefällen für die weitere Er-
örterung ab. Unter durchschnittlichen Verhältnissen erkennen wir,
daß dem Ich durch das Ausweichen in die Neurose ein gewisser
innerer Krankheitsgewinn zuteil wird. Zu diesem gesellt sich in
manchen Lebenslagen ein greifbarer äußerer, in der Realität mehr
oder weniger hoch einzuschätzender Vorteil. Betrachten Sie den
häufigsten Fall dieser Art. Eine Frau, die von ihrem Manne roh be-
handelt und schonungslos ausgenützt wird, findet ziemlich regelmäßig
den Ausweg in dieNeurose, wennihre Anlagenesihrermöglichen, wenn
sie zu feige oder zu sittlich ist, um sich im geheimen bei einem anderen
Mannezu trösten, wennsie nicht stark genug ist, sich gegen alle äußeren
Abhaltungen von ihrem Mann zu trennen, wenn sie nicht die Aussicht
hat, sich selbst zu erhalten oder einen besseren Mann zu gewinnen,
und wenn sie überdies durch ihr sexuelles Empfinden noch an diesen
brutalen Mann gebunden ist. Ihre Krankheit wird nun ihre Waffe
im Kampfe gegen den überstarken Mann, eine Waffe, die sie zu ihrer
Verdeidigung gebrauchen und für ihre Rache mißbrauchen kann.
Sie darf über ihre Krankheit klagen, während sie sich wahrscheinlich
398 Vorlesungen zur Einführung in die Psychcanalyse
über ihre Ehe nicht beklagen dürfte. Sie findet einen Helfer im Arzt,
sienötigtdensonstrücksichtslosen Mann, siezuschonen, Aufwendungen
für sie zu machen, ihr Zeiten der Abwesenheit vom Hause und somit
der Befreiung von der ehelichen Unterdrückung zu gestatten. Wo ein
solcher äußerer oder akzidenteller Krankheitsgewinn recht erheblich
ist und keinen realen Ersatz finden kann, da werden Sie die Möglich-
keit einer Beeinflussung der Neurose durch Ihre Therapie nicht groß
veranschlagen dürfen.
Sie werden mir vorhalten, wasich Ihnen da vom Krankheitsgewinn
erzählt habe, spricht ja durchaus zu Gunsten der von mir zurück-
gewiesenen Auffassung, daß das Ich selbst die Neurose will und sie
schafft. Gemach, meine Herren, es bedeutet vielleicht weiter nichts,
als daß das Ich sich die Neurose gefallen läßt, die es doch nicht ver-
hindern kann, und daß es das Beste aus ihr macht, wenn sich über-
haupt etwas aus ihr machen läßt. Es ist nur die eine Seite der Sache,
die angenehme allerdings. Soweit die Neurose Vorteile hat, ist das Ich
wohl mit ihr einverstanden, aber sie hat nicht nur Vorteile. In der
Regel stellt sich bald heraus, daß das Ich ein schlechtes Geschäft ge-
macht hat, indem es sich auf die Neurose einließ. Es hat eine Er-
leichterung des Konflikts zu teuer erkauft, und die Leidensemp-
findungen, welche an den Symptomen haften, sınd vielleicht ein
äquivalenter Ersatz für die Qualen des Konflikts, wahrscheinlich aber
ein Mehrbetrag von Unlust. Das Ich möchte diese Unlust der Sym-
ptome loswerden, den Krankheitsgewinn aber nicht herausgeben, und
das bringt es eben nicht zustande. Dabei erweist sich dann, daß es
nicht so durchaus aktiv war, wie es sich geglaubt hat, und das wollen
wir uns gut merken.
Meine Herren, wenn Sie als Arzt mit Neurotikern umgehen, werden
Sıe bald die Erwartung aufgeben, daß diejenigen, die über ihre Krank-
heit am stärksten jammern und klagen, der Hilfeleistung am bereit-
willigsten entgegenkommen und ihr die geringsten Widerstände be-
reiten werden. Eher das Gegenteil. Wohl aber werden Sie es leicht
verstehen, daß alles, was zum Krankheitsgewinn beiträgt, den Ver-
AÄXIV. Die gemeine Nervosität 399
drängungswiderstand verstärken und die therapeutische Schwierigkeit
vergrößern wird. Zu dem Stück des Krankheitsgewinnes, welches
sozusagen mit dem Symptom geboren wird, haben wir aber auch noch
ein anderes hinzuzufügen, das sich später ergibt. Wenn solch eine
psychische Organisation wie dieKrankheit durch längere Zeit bestanden
hat, so benimmt sie sich endlich wie ein selbständiges Wesen; sie
äußert etwas wie einen Selbsterhaltungstrieb, es bildet sich eine Art von
modusvivendizwischenihrundanderen Anteilen desSeelenlebens,selbst
solchen, die ihr im Grunde feindselig sind, und es kann kaum fehlen,
daß sich Gelegenheiten ergeben, bei denen sie sich wieder nützlich
und verwertbar erweist, gleichsam eine Sekundärfunktion erwirbt,
die ihren Bestand von neuem kräftigt. Nehmen Sie anstatt eines Bei-
spiels aus der Pathologie eine grelle Erläuterung aus dem täglichen
Leben. Ein tüchtiger Arbeiter, der seinen Unterhalt erwirbt, wird
durch einen Unfall in seiner Beschäftigung zum Krüppel; mit der
Arbeit ist es jetzt aus, aber der Verunglückte empfängt mit der Zeit
eine kleine Unfallsrente und lernt es, seine Verstümmlung als Bettler
zu verwerten. Seine neue, wiewohl verschlechterte Existenz gründet
sich jetzt gerade auf dasselbe, was ihn um seine erste Existenz gebracht
hat. Wenn Sie seine Verunstaltung beheben können, so machen Sie
ihn zunächst subsistenzlos; es eröffnet sich die Frage, ob er noch fähig
ist, seine frühere Arbeit wieder aufzunehmen. Was bei der Neurose
einer solchen sekundären Nutzung der Krankheit entspricht, können
wir als sekundären Krankheitsgewinn zum primären hinzuschlagen.
Im allgemeinen aber möchte ich Ihnen sagen, unterschätzen Sie
die praktische Bedeutung des Krankheitsgewinnes nicht und lassen
Sie sich in theoretischer Hinsicht nicht von ihm imponieren. Von
jenen früher anerkannten Ausnahmen abgesehen, mahnt er doch im-
mer an die Beispiele „von der Klugheit der Tiere“, die Oberländer
in den „Fliegenden Blättern“ illustriert hat. Ein Araber reitet auf
seinem Kamel einen schmalen Pfad, der in die steile Bergwand ein-
geschnitten ist. Bei einer Wendung des Weges sieht er sich plötzlich
einem Löwen gegenüber, der sich sprungbereit macht. Er sieht kei-
400 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
nen Ausweg; auf der einen Seite die senkrechte Wand, auf der ander-
ren der Abgrund; Umkehr und Flucht sind unmöglich; er gibt sich
verloren, Anders das Tier. Es macht mit seinem Reiter einen Satz in
den Abgrund — und der Löwe hat das Nachsehen. Besseren Erfolg
für den Kranken haben in der Regel auch die Hilfeleistungen der
Neurose nicht. Es mag daher kommen, daß die Erledigung eines
Konflikts durch Symptombildung doch ein automatischer Vorgang
ist, der sich den Anforderungen des Lebens nicht gewachsen zeigen
kann, und bei dem der Mensch auf die Verwertung seiner besten und
höchsten Kräfte verzichtet hat. Wenn es eine Wahl gäbe, sollte man
es vorziehen, im ehrlichen Kampf mit dem Schicksal unterzugehen.
Meine Herren! Ich bin Ihnen aber noch die weitere Motivierung
schuldig, weshalb ich in einer Darstellung der Neurosenlehre nicht
von der gemeinen Nervosität ausgegangen bin. Vielleicht nehmen
Sie an, ich tat es darum, weil mir dann der Nachweis der sexuellen
Verursachung der Neurosen größere Schwierigkeiten bereitet hätte.
Aber da würden Sie irre gehen. Bei den Übertragungsneurosen muß
man sich erst durch die Symptomdeutung durcharbeiten, um zu dieser
Einsicht zu kommen. Bei den gemeinen Formen der sogenannten
Aktualneurosen ist die ätiologische Bedeutung des Sexuallebens
eine grobe, der Beobachtung entgegenkommende Tatsache. Ich bin vor
mehr als zwanzig Jahren auf sie gestoßen, als ich mir eines Tages
die Frage vorlegte, warum man denn beim Examen der Nervösen so
regelmäßig ihre sexuellen Betätigungen von der Berücksichtigung
ausschließt. Ich habe damals diesen Untersuchungen meine Beliebt-
heit bei den Kranken zum Opfer gebracht, aber ich konnte schon
nach kurzer Bemühung den Satz aussprechen, daß es bei normaler
vita sexualis keine Neurose — ich meinte: Aktualneurose — gibt.
Gewiß, der Satz setzt sich zu leicht über die individuellen Verschie-
denheiten der Menschen hinweg, er leidet auch an der Unbestimmt-
heit, die von dem Urteil „normal“ nicht zu trennen ist, aber er hat
für die grobe Orientierung noch heute seinen Wert behalten. Ich bin
damals so weit gekommen, spezifische Beziehungen zwischen be-
X XIV. Die gemeine Nervosität 401
stimmten Formen der Nervosität und besonderen sexuellen Schädlich-
keiten aufzustellen, und ich zweifle nicht daran, daß ich heute die-
selben Beobachtungen wiederholen könnte, wenn mir noch ein ähn-
liches Material von Kranken zu Gebote stünde. Ich erfuhr oft genug,
daß ein Mann, der sich mit einer gewissen Art von unvollständiger
sexueller Befriedigung begnügte, z. B. mit der manuellen Onanie, an
einer bestimmten Form von Aktualneurose erkrankt war, und daß
diese Neurose prompt einer anderen den Platz räumte, wenn er ein
anderes, ebensowenig untadeliges sexuelles Regime an die Stelle tre-
ten ließ. Ich war dann imstande, aus der Änderung im Zustand des
Kranken den Wechsel in seiner sexuellen Lebensweise zu erraten. Ich
erlernte es damals auch, hartnäckig bei meinen Vermutungen zu ver-
harren, bis ich die Unaufrichtigkeit der Patienten überwunden und
sie zur Bestätigung gezwungen hatte. Es ist wahr, sie zogen es dann
vor, zu anderen Ärzten zu gehen, die sich nicht so eifrig nach ihrem
Sexualleben erkundigten.
Es konnte mir auch damals nicht entgehen, daß die Verursachung
der Erkrankung nicht immer auf das Sexualleben hinwies. Der eine
war zwar direkt an einer sexuellen Schädlichkeit erkrankt, der andere
aber, weil er sein Vermögen verloren oder eine erschöpfende or-
ganische Krankheit durchgemacht hatte. Die Erklärung für diese
Mannigfaltigkeit ergab sich später, als wir in die vermuteten Wech-
selbeziehungen zwischen dem Ich und der Libido Einsicht bekamen,
und sie wurde um so befriedigender, je tiefer diese Einsicht reichte.
Eine Person erkrankt nur dann neurotisch, wenn ihr Ich die Fähig-
keit eingebüßt hat, die Libido irgendwie unterzubringen. Je stärker
das Ich ist, desto leichter wird ihm die Erledigung dieser Aufgabe;
jede Schwächung des Ichs aus irgendeiner Ursache muß dieselbe Wir-
kung tun wie eine übergroße Steigerung des Anspruches der Libido,
also die neurotische Erkrankung ermöglichen. Es gibt noch andere und
intimere Beziehungen zwischen Ich und Libido, die aber noch nicht in
unseren Gesichtskreis getreten sind, und die ich darum zur Erklärung
hier nicht heranziehe. Wesentlich und aufklärend für uns bleibt, daß
Freud, VII. 26
402 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
in jedem Falle und gleichgültig, auf welchem Wege die Erkrankung
hergestellt wurde, die Symptome der Neurose von der Libido bestrit-
ten werden und so eine abnorme Verwendung derselben bezeugen.
Nun muß ich Sie aber auf den entscheidenden Unterschied zwi-
schen den Symptomen der Aktualneurosen und denen der Psycho-
neurosen aufmerksam machen, von denen uns die erste Gruppe, die
der Übertragungsneurosen bisher so viel beschäftigt hat. In beiden
Fällen gehen die Symptome aus der Libido hervor, sind also abnorme
Verwendungen. derselben, Befriedigungsersatz. Aber die Symptome
der Aktualneurosen, einKopfdruck, eineSchmerzempfindung, ein Reiz-
zustand ineinem Organ,dieSchwächungoder Hemmungeiner Funktion
haben keinen „Sinn“, keine psychische Bedeutung. Sieäußern sichnicht
nur vorwiegend amKörper, wie auch z. B. die hysterischen Symptome,
sondern sie sind auch selbst durchaus körperliche Vorgänge, bei deren
Entstehung alle die komplizierten seelischen Mechanismen, die wir
kennengelernt haben, entfallen. Sie sind also wirklich das, wofür man die
psychoneurotischen Symptome so lange gehalten hat. Aber wiekönnen
sie dann Verwendungen der Libido entsprechen, die wir als eine im
Psychischen wirkende Kraft kennengelernt haben? Nun, meine
Herren, das ist sehr einfach. Lassen Sie mich einen der allerersten
Einwürfe auffrischen, die man gegen die Psychoanalyse vorgebracht
hat. Man sagte damals, sie bemühe sich um eine rein psychologische
Theorie der neurotischen Erscheinungen, und das sei ganz aussichts-
los, denn psychologische "Theorien könnten nie eine Krankheit er-
klären. Man hatte zu vergessen beliebt, daß die Sexualfunktion nichts
rein Seelisches ist, ebensowenig, wie etwas bloß Somatisches. Sie be- |
. einflußt das körperliche wie das seelische Leben. Haben wir in den
Symptomen der Psychoneurosen die Äußerungen der Störung in
ihren psychischen Wirkungen kennen gelernt, so werden wir nicht
erstaunt sein, in den Aktualneurosen die direkten somatischen Folgen
der Sexualstörungen zu finden.
Für die Auffassung der letzteren gibt uns die medizinische Klinik
einen wertvollen, auch von verschiedenen Forschern berücksichtigten
XXIV. Die gemeine Nervosität 403
Fingerzeig. Die Aktualneurosen bekunden in den Einzelheiten ihrer
Symptomatik, aber auch in der Eigentümlichkeit, alle Organsysteme
und alle Funktionen zu beeinflussen, eine unverkennbare Ähnlichkeit
mit den Krankheitszuständen, die durch den chronischen Einfluß von
fremden Giftstoffen und durch die akute Entziehung derselben ent-
stehen, mit den Intoxikationen und Abstinenzzuständen. Noch enger
werden die beiden Gruppen von Affektionen aneinandergerückt durch
die Vermittlung von solchen Zuständen, die wir wie den M. Basedowii
gleichfalls auf die Wirkung von Giftstoffen zu beziehen gelernt haben,
aber von Giften, die nicht als fremd in.den Körper eingeführt werden,
sondern in seinem eigenen Stoffwechsel entstehen. Ich meine, wir
können nach diesen Analogien nicht umhin, die Neurosen als Folgen
von Störungen in einem Sexualstoffwechsel anzusehen, sei es, daß von
diesen Sexualtoxinen mehr produziert wird, als die Person bewältigen
kann,seies, daßinnereundselbstpsychische Verhältnissedierichtige Ver-
wendung dieser Stoffe beeinträchtigen. Die Volksseele hat von jeher
solchen Annahmen für die Natur des sexuellen Verlangens gehuldigt,
sie nennt die Liebe einen „Rausch“ und läßt die Verliebtheit durch
Liebestränke entstehen, wobei sie das wirkende Agens gewissermaßen
nach außen verlegt. Für uns wäre hier der Anlaß, der erogenen Zonen
und der Behauptung zu gedenken, daß die Sexualerregung in den ver-
schiedensten Organen entstehen kann. Im übrigen aber ist uns das
Wort „Sexualstoffwechsel“ oder „Chemismus der Sexualität“ ein Fach
ohne Inhalt; wir wissen nichts darüber und können uns nicht einmal
entscheiden, ob wir zwei Sexualstoffe annehmen sollen, die dann
„männlich“ und „weiblich“ heißen würden, oder ob wir uns mit
einem Sexualtoxin bescheiden können, in dem wir den Träger aller
Reizwirkungen der Libido zu erblicken haben. Das Lehrgebäude der
Psychoanalyse, das wir geschaffen haben, ist in Wirklichkeit ein Über-
bau, der irgend einmal auf sein organisches Fundament UNSERE
werden soll; aber wir kennen dieses noch nicht.
Die Psychoanalyse wird als Wissenschaft nicht durch den Stoff, den
sie behandelt, sondern durch die Technik, mit der sie arbeitet,
26*
404 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
charakterisiert. Man kann sie auf Kulturgeschichte, Religionswissen-
schaft und Mythologie ebensowohl anwenden wie auf die Neurosen-
lehre, ohne ihrem Wesen Gewalt anzutun. Sie beabsichtigt und leistet
nichts anderes als die Aufdeckung des Unbewußten im Seelenleben.
Die Probleme der Aktualneurosen, deren Symptome wahrscheinlich
durch direkte toxische Schädigung entstehen, bieten der Psychoanalyse
keine Angriffspunkte, sie kann nur wenig für deren Aufklärung leisten
und muß diese Aufgabe der biologisch-medizinischen Forschung über-
lassen. Sie verstehen jetzt vielleicht besser, warum ich keine andere
Anordnung meines Stoffes gewählt habe. Hätte ich Ihnen eine „Ein-
führung in die Neurosenlehre“ zugesagt, so wäre der Weg von den ein-
fachen Formen der Aktualneurosen zu den komplizierterenpsychischen
Erkrankungen durch Libidostörung der unzweifelhaftrichtigegewesen.
Ich hätte bei den ersteren zusammentragen müssen, was wir von ver-
schiedenen Seiten her erfahren haben oder zu wissen glauben, und
bei den Psychoneurosen wäre dann die Psychoanalyse als das wichtigste
technische Hilfsmittel zur Durchleuchtung dieser Zustände zur Sprache
gekommen. Ich hatte aber eine „Einführung in die Psychoanalyse“
beabsichtigt und angekündigt; es war mir wichtiger, daB Sie eine
Vorstellung von der Psychoanalyse, als daB Sie gewisse Kenntnisse von
den Neurosen gewinnen, und da durfte ich die für die Psychoanalyse
unfruchtbaren Aktualneurosen nicht mehr in den Vordergrund rücken.
Ich glaube auch, ich habe die für Sie günstigere Wahl getroffen, denn
die Psychoanalyse verdient wegen ihrer tiefgreifenden Voraussetzungen
und weitumfassenden Beziehungen einen Platz im Interesse eines
jeden Gebildeten; die Neurosenlehre aber ist ein Kapitel der Medizin
wie andere auch.
Sie werden indes mit Recht erwarten, daß wir auch für die Aktual-
neurosen einiges Interesse aufbringen müssen. Schon ihr intimer kli-
nischer Zusammenhang mit den Psychoneurosen nötigt uns dazu. Ich
will Ihnen also berichten, daß wir drei reine Formen der Aktual-
neurosen unterscheiden: die Neurasthenie, die Angstneurose und
dieHypochondrie. Auch diese Aufstellung istnichtohne Widerspruch
XXJIV. Die gemeine Nervosität 405
geblieben. Die Namen sind zwar alleim Gebrauch, aber ihrInhaltistun-
bestimmt und schwankend. Es gibt auch Ärzte, die jeder Sonderung
in der wirren Welt von neurotischen Erscheinungen, jeder Heraus-
hebung von klinischen Einheiten, Krankheitsindividuen, widerstreben
und selbst die Scheidung von Aktual- und Psychoneurosen nicht an-
erkennen. Ich meine, sie gehen zu weit und haben nicht den Weg
eingeschlagen, der zum Fortschritt führt. Die genannten Formen von
Neurose kommen gelegentlich rein vor; häufiger vermengen sie sich
allerdings miteinander und mit einer psychoneurotischen Affektion.
Dieses Vorkommen braucht uns nicht zu bewegen, ihre Sonderung
aufzugeben. Denken Sie an den Unterschied von Mineralkunde und
Gesteinkunde in der Mineralogie. Die Mineralien werden als Indi-
viduen beschrieben, gewiß mit Anlehnung an den Umstand, daß sie
häufig als Kristalle, von ihrer Umgebung scharf abgegrenzt, auftreten.
Die Gesteine bestehen aus Gemengen von Mineralien, die sicherlich
nicht zufällig, sondern infolge ihrer Entstehungsbedingungen zu-
samınengetroffen sind. In der Neurosenlehre verstehen wir noch zu
wenig von dem Hergang der Entwicklung, um etwas der Gestein-
lehre Ähnliches zu schaffen. Wir tun aber gewiß das Richtige, wenn
wir zunächst aus der Masse die für uns kenntlichen klinischen Indivi-
duen isolieren, die den Mineralien vergleichbar sind.
Eine beachtenswerte Beziehung zwischen den Symptomen der
Aktual- und der Psychoneurosen bringt uns noch einen wichtigen
Beitrag zur Kenntnis der Symtombildung bei den letzteren; das Sym-
ptom der Aktualneurose ist nämlich häufig der Kern und die Vorstufe
des psychoneurotischen Symptoms. Man beobachtet ein solches Ver-
hältnisam deutlichsten zwischen der Neurasthenieundder Konversions-
hysterie genannten Übertragungsneurose, zwischen der Angstneurose
und der Angsthysterie, aber auch zwischen der Hypochondrie und den
späteralsParaphrenie(Dementiapraecox und Paranoia) zuerwähnenden
Formen. Nehmen wir als Beispiel den Fall eines hysterischen Kopf- oder
Kreuzschmerzes. Die Analyse zeigt uns, daß er durch Verdichtung und
Verschiebung zum Befriedigungsersatz für eine ganze Reihe von libidi-
406 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
nösen Phantasien oder Erinnerungen geworden ist. Aber dieserSchmerz
war auch einmalreal,und damals warer ein direkt sexualtoxisches Sym-
ptom, der körperliche Ausdruck einer libidinösen Erregung. Wir wollen
keineswegs behaupten, daß alle hysterischen Symptome einen solchen
Kern enthalten, aber es bleibt bestehen, daß es besonders häufig der Fall
ist, und daß alle — normalen oder pathologischen — Beeinflussungen
des Körpers durch die libidinöse Erregung geradezu für die Symptom-
bildung der Hysterie bevorzugt sind. Sie spielen dann die Rolle jenes
Sandkorns, welches das Muscheltier mit den Schichten von Perlmutter-
substanz umhüllt hat. In derselben Weise werden die vorübergehenden
Zeichen der sexuellen Erregung, welche den Geschlechtsakt begleiten,
von der Psychoneurose als das bequemste und geeignetste Material
zur Symptombildung verwendet.
Ein ähnlicher Vorgang bietet ein besonderes diagnostisches und
therapeutisches Interesse. Es kommt bei Personen, die zur Neurose
disponiert sind, ohne gerade an einer floriden Neurose zu leiden, gar
nicht selten vor, daß eine krankhafte Körperveränderung — etwa
durch Entzündung oder Verletzung — die Arbeit der Symptombil-
dung weckt, so daß diese das ihr von der Realität gegebene Symptom
eiligst zum Vertreter aller jener unbewußten Phantasien macht, die
nur darauf gelauert hatten, sich eines Ausdrucksmittels zu bemäch-
tigen. Der Arzt wird in solchem Falle bald den einen, bald den an-
deren Weg der Therapie einschlagen, entweder die organische Grund-
lage wegschaffen wollen, ohne sich um deren lärmende neurotische
Verarbeitung zu bekümmern, oder die zur Gelegenheit entstandene
Neurose bekämpfen und deren organischen Anlaß gering achten. Der
Erfolg wird bald dieser bald jener Art der Bemühung recht oder
unrecht geben; allgemeine Vorschriften lassen sich für solche Misch-
fälle kaum aufstellen.
XXV. VORLESUNG
DIE ANGST
Meine Damen und Herren! Was ich Ihnen in der letzten Vorle-
sung über die allgemeine Nervosität gesagt habe, werden Sie sicher-
lich als die unvollständigste und unzulänglichste meiner Mitteilungen
erkannt haben. Ich weiß das und ich denke mir, nichts anderes wird
Sie mehr verwundert haben, als daß darin von der Angst nicht die
Rede war, über die doch die meisten Nervösen klagen, die sie selbst
als ihr schrecklichstes Leiden bezeichnen, und die wirklich die groß-
artigste Intensität bei ihnen erreichen und die tollsten Maßnahmen
zur Folge haben kann. Aber darin wenigstens wollte ich Sie nicht
verkürzen; ich habe mir im Gegenteil vorgenommen, das Problem der
Angst bei den Nervösen besonders scharf einzustellen und es aus-
führlich vor Ihnen zu erörtern. | SR
Die Angst selbst brauche ich Ihnen ja nicht vorzustellen; jeder
von uns hat diese Empfindung, oder richtiger gesagt, diesen Affekt-
zustand irgend einmal aus eigenem kennengelernt. Aber ich meine,
man hat sich nie ernsthaft genug gefragt, warum gerade die Nervösen
so viel mehr und so viel stärkere Angst haben als die anderen. Viel-
leicht hielt man es für selbstverständlich; man verwendet ja gewöhn-
lich die Worte „nervös“ und „ängstlich“ so für einander, als ob sie
dasselbe bedeuten würden. Dazu hat man aber kein Recht; es gibt
ängstliche Menschen, die sonst gar nicht nervös sind, und außerdem
408 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Nervöse, die an vielen Symptomen leiden, unter denen aber die Nei-
gung zur Angst nicht aufgefunden wird.
Wie immer das sein mag, es steht fest, daß das Angstproblem ein
Knotenpunkt ist, an welchem die verschiedensten und wichtigsten
Fragen zusammentreffen, ein Rätsel, dessen Lösung eine Fülle von
Licht über unser ganzes Seelenleben ergießen müßte. Ich werde nicht
behaupten, daß ich Ihnen diese volle Lösung geben kann, aber Sie
werden gewiß erwarten, daß die Psychoanalyse auch dieses Thema
ganz anders angreifen wird als die Medizin der Schulen. Dort scheint
man sich vor allem dafür zu interessieren, auf welchen anatomischen
Wegen der Angstzustand zustande gebracht wird. Es heißt, die Me-
dulla oblongata sei gereizt, und der Kranke erfährt, daß er an einer
Neurose des Nervus vagus leidet. Die Medulla oblongata ist ein sehr
ernsthaftes und schönes Objekt. Ich erinnere mich ganz genau, wie-
viel Zeit und Mühe ich vor Jahren ihrem Studium gewidmet habe.
Aber heute muß ich sagen, ich weiß nichts, was mir für das psycho-
logische Verständnis der Angst gleichgültiger sein könnte als die Kennt-
nis des Nervenweges, auf dem ihre Erregungen ablaufen.
Von der Angst kann man zunächst eine ganze Weile handeln, ohne
der Nervosität überhaupt zu gedenken. Sie verstehen mich ohne
weiteres, wenn ich diese Angst als Realangst bezeichne, im Gegen-
satz zu einer neurotischen. Die Realangst erscheint uns nun als
etwas sehr Rationelles und Begreifliches. Wir werden von ihr aus-
sagen, sie ist eine Reaktion auf die Wahrnehmung einer äußeren
Gefahr, d. h. einer erwarteten, vorhergesehenen Schädigung, sie ist
mit dem Fluchtreflex verbunden, und man darf sie als Äußerung des
Selbsterhaltungstriebes ansehen. Bei welchen Gelegenheiten, d. h. vor
welchen Objekten und in welchen Situationen die Angst auftritt,
wird natürlich zum großen Teil von dem Stande unseres Wissens und
von unserem Machtgefühl gegen die Außenwelt abhängen. Wir finden
es ganz begreiflich, daß der Wilde sich vor einer Kanone fürchtet
und bei einer Sonnenfinsternis ängstigt, während der Weiße, der das
Instrument handhaben und das Ereignis vorhersagen kann, unter diesen
XAÄV. Die Angst 409
Bedingungen angstfrei bleibt. Ein andermal ist es gerade das Mehr-
wissen, was die Angst befördert, weil es die Gefahr frühzeitig erkennen
läßt. So wird der Wilde vor einer Fährte im Walde erschrecken, die
dem Unkundigen nichts sagt, ihm aber die Nähe eines reißenden
Tieres verrät, und der erfahrene Schiffer mit Entsetzen ein Wölkchen
am Himmel betrachten, das dem Passagier unscheinbar dünkt, während
es ıhm das Herannahen des Orkans verkündet.
Bei weiterer Überlegung muß man sich sagen, daß das Urteil über
die Realangst, sie sei rationell und zweckmäßig, einer gründlichen
Revision bedarf. Das einzig zweckmäßige Verhalten bei drohender
Gefahr wäre nämlich die kühle Abschätzung der eigenen Kräfte im
Vergleich zur Größe der Drohung und darauf die Entscheidung, ob
die Flucht oder die Verteidigung, möglicherweise selbst der Angriff,
größere Aussicht auf einen guten Ausgang verspricht. In diesem Zu-
sammenhang ist aber für die Angst überhaupt keine Stelle; alles, was
geschieht, würde ebensowohl und wahrscheinlich besser vollzogen
werden, wenn es nicht zur Angstentwicklung käme. Sie sehen ja
auch, wenn die Angst übermäßig stark ausfällt, dann erweist sie sich
als äußerst unzweckmäßig, sie lähmt dann jede Aktion, auch die der
Flucht. Für gewöhnlich besteht die Reaktion auf die Gefahr aus einer
Vermengung von Angstaffekt und Abwehraktion. Das geschreckte
Tier ängstigt sich und flieht, aber das Zweckmäßige daran ist die
„Flucht“, nicht das „sich ängstigen“.
Man fühlt sich also versucht zu behaupten, daß die Angstent-
wicklung niemals etwas Zweckmäßiges ist. Vielleicht verhilft es zu
besserer Einsicht, wenn man sich die Angstsituation sorgfältiger zer-
legt. Das Erste an ihr ist die Bereitschaft auf die Gefahr, die sich in
gesteigerter sensorischer Aufmerksamkeit und motorischer Spannung
äußert. Diese Erwartungsbereitschaft ist unbedenklich als vorteilhaft
anzuerkennen, ja ihr Wegfall mag für ernste Folgen verantwortlich
gemacht werden. Aus ihr geht nun einerseits die motorische Aktion
hervor, zunächst Flucht, auf einer höheren Stufe tätige Abwehr, ander-
seits das, was wir als den Angstzustand empfinden. Je mehr sich die
410 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Angstentwicklung auf einen bloßen Ansatz, auf ein Signal einschränkt,
desto ungestörter vollzieht sich die Umsetzung der Angstbereitschaft
in Aktion, desto zweckmäßiger gestaltet sich der ganze Ablauf. Die
Angstbereitschaft scheint mir also das Zweckmäßige, die Angstent-
wicklung das Zweckwidrige an dem, was wir Angst heißen, zu sein.
Ich vermeide es, auf die Frage näher einzugehen, ob unser Sprach-
gebrauch mit Angst, Furcht, Schreck das Nämliche oder deutlich Ver-
schiedenes bezeichnen will. Ich meine nur, Angst bezieht sich auf
den Zustand und sieht vom Objektab, während Furcht die Aufmerksam-
keit gerade auf das Objekt richtet. Schreck scheint hingegen einen
besonderen Sinn zu haben, nämlich die Wirkung einer Gefahr hervor-
zuheben, welche nicht von einer Angstbereitschaft empfangen wird.
So daß man sagen könnte, der Mensch schütze sich durch die Angst
vor dem Schreck. |
Die gewisse Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit im Gebrauche des
Wortes „Angst“ wird Ihnen nicht entgangen sein. Zumeist versteht
man unter Angst den subjektiven Zustand, in den man durch die
Wahrnehmung der „Angstentwicklung“ gerät, und heißt diesen einen
Affekt. Was ist nun im dynamischen Sinne ein Affekt? Jedenfalls et-
was sehr Zusammengesetztes. Ein Affekt umschließt erstens bestimmte
motorische Innervationen oder Abfuhren, zweitens gewisse Empfin-
dungen, und zwar von zweierlei Art, die Wahrnehmungen der statt-
gehabten motorischen Aktionen und die direkten Lust- und Unlust-
empfindungen, die dem Affekt, wie man sagt, den Grundton geben.
Ich glaube aber nicht, daß mit dieser Aufzählung das Wesen des
Affektes getroffen ist. Bei einigen Affekten glaubt man tiefer zu blicken
und zu erkennen, daß der Kern, welcher das genannte Ensemble zu-
sammenhält, die Wiederholung eines bestimmten bedeutungsvollen
Erlebnisses ist. Dies Erlebnis könnte nur ein sehr frühzeitiger Eın-
druck von sehr allgemeiner Natur sein, der in die Vorgeschichte nicht
des Individuums, sondern der Art zu verlegen ist. Um mich verständ-
licher zu machen, der Affektzustand wäre ebenso gebaut wie ein hy-
sterischer Anfall, wie dieser der Niederschlag einer Reminiszenz.
XXV. Die Angst Nah 411
Der hysterische Anfall ist also vergleichbar einem neugebildeten in-
dividuellen Affekt, der normale Affekt dem Ausdruck einer a
rellen, zur Erbschaft gewordenen Hysterie.
Nehmen Sie nicht an, daß dasjenige, was ich Ihnen Kier über die
Affekte gesagt habe, ein anerkanntes Gut der Normalpsychologie ist.
Es sind im Gegenteil Auffassungen, die auf dem Boden der Psycho-
analyse erwachsen und nur dort heimisch sind. Was Sie in der Psy-
chologie über die Affekte erfahren können, z.B. die James-Lange-
sche "Theorie, ist für uns Psychoanalytiker geradezu unverständlich
und undiskutierbar. Für sehr gesichert halten wir aber unser Wissen
um die Affekte auch nicht; es ist ein erster Versuch, sich auf diesem
dunkeln Gebiet zu orientieren. Ich setze nun fort: Beim Angstaffekt
glauben wir zu wissen, welchen frühzeitigen Eindruck er als Wieder-
holung wiederbringt. Wir sagen uns, es ist der Geburtsakt, bei
welchem jene Gruppierung von Unlustempfindungen, Abfuhrregun-
gen und Körpersensationen zustande kommt, die das Vorbild für die
Wirkung einer Lebensgefahr geworden ist und seither als Angstzu-
stand von uns wiederholt wird. Die enorme Reizsteigerung durch
die Unterbrechung der Bluterneuerung (der inneren Atmung) war
damals die Ursache des Angsterlebnisses, die erste Angst also eine
toxische. Der Name Angst — angustiae, Enge — betont den Cha-
rakter der Beengung im Atmen, die damals als Folge der realen Si-
tuation vorhanden war und heute im Affekt fast regelmäßig wieder-
hergestellt wird. Wir werden es auch als beziehungsreich erkennen,
daß jener erste Angstzustand aus der Trennung von der Mutter her-
vorging. Natürlich sind wir der Überzeugung, die Disposition zur .
Wiederholung des ersten Angstzustandes sei durch die Reihe un-
zählbarer Generationen dem Organismus so gründlich einverleibt,
daß ein einzelnes Individuum dem Angstaffekt nicht entgehen kann,
auch wenn es wie der sagenhafte Macduff „aus seiner Mutter Leib
geschnitten wurde“, den Geburtsakt selbst also nicht erfahren hat.
Was bei anderen als Säugetieren das Vorbild des Angstzustandes ge-
worden ist, können wir nicht sagen. Dafür wissen wir auch nicht,
412 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
welcher Empfindungskomplex bei diesen Geschöpfen unserer Angst
äquivalent ist.
Es wird Sie vielleicht interessieren zu hören, wie man auf eine
solche Idee kommen kann, wie daß der Geburtsakt die Quelle und
das Vorbild des Angstaffektes ist. Die Spekulation hat den geringsten
Anteil daran; ich habe vielmehr bei dem naiven Denken des Volkes
eine Anleihe gemacht. Als wir vor langen Jahren junge Spitalärzte
um den Mittagstisch im Wirtshause saßen, erzählte ein Assistent der
geburtshilflichen Klinik, was für lustige Geschichte sich bei der letz-
ten Hebammenprüfung zugetragen. Eine Kandidatin wurde gefragt,
was es bedeute, wenn sich bei der Geburt Mekonium (Kindspech, Ex-
kremente) im abgehenden Wasser zeigen, und sie antwortete prompt:
Daß das Kind Angst habe. Sie wurde ausgelacht und war durchge-
fallen. Aber ich nahm im Stillen ihre Partei und begann zu ahnen,
daß das arme Weib aus dem Volke unbeirrten Sinnes einen wichti-
gen Zusammenhang bloßgelegt hatte.
Übergehen wir nun zur neurotischen Angst, welche neue Er-
scheinungsformen und Verhältnisse zeigt uns die Angst bei den Ner-
vösen? Da ist viel zu beschreiben. Wir finden erstens eine allgemeine
Ängstlichkeit, eine sozusagen frei flottierende Angst, die bereit ist,
sich an jeden irgendwie passenden Vorstellungsinhalt anzuhängen,
die das Urteil beeinflußt, die Erwartungen auswählt, auf jede Ge-
legenheit lauert, um sich rechtfertigen zu lassen. Wir heißen diesen
Zustand „Erwartungsangst“ oder „ängstliche Erwartung“. Personen,
die von dieser Art Angst geplagt werden, sehen von allen Möglich-
. keiten immer die schrecklichste voraus, deuten jeden Zufall als An-
zeige eines Unheils, nützen jede Unsicherheit im schlimmen Sinne
aus. Die Neigung zu solcher Unheilserwartung findet sich als Cha-
rakterzug bei vielen Menschen, die man sonst nicht als krank be-
zeichnen kann, man schilt sie überängstlich oder pessimistisch; ein
auffälliges Maß von Erwartungsangst gehört aber regelmäßig einer
nervösen Affektion an, die ich als „Angstneurose“ benannt habe
und zu den Aktualneurosen rechne.
XXV,. Die Angst 413
Eine zweite Form der Angst ist im Gegensatze zu der eben be-
schriebenen vielmehr psychisch gebunden und an gewisse Objekte
oder Situationen geknüpft. Es ist die Angst der überaus mannig-
faltigen und oft sehr sonderbaren „Phobien“. Stanley Hall, der
angesehene amerikanische Psychologe, hat sich erst kürzlich die
Mühe genommen, uns die ganze Reihe dieser Phobien in prunken-
der griechischer Namengebung vorzuführen. Das klingt wie die Auf-
zählung der zehn ägyptischen Plagen, nur daß ihre Anzahl weit
über die Zehn hinausgeht. Hören Sie, was alles Objekt oder Inhalt
einer Phobie werden kann: Finsternis, freie Luft, offene Plätze,
Katzen, Spinnen, Raupen, Schlangen, Mäuse, Gewitter, scharfe
Spitzen, Blut, geschlossene Räume, Menschengedränge, Einsamkeit,
Überschreiten von Brücken, See- und Eisenbahnfahrt usw. Bei einem
ersten Versuch der Orientierung in diesem Gewimmel liegt es nahe,
drei Gruppen zu unterscheiden. Manche der gefürchteten Objekte
und Situationen haben auch für uns Normale etwas Unheimliches,
eine Beziehung zur Gefahr, und diese Phobien erscheinen uns darum
nicht unbegreiflich, wiewohl in ihrer Stärke sehr übertrieben. So
empfinden die meisten von uns ein widerwärtiges Gefühl beim Zu-
sammentreffen mit einer Schlange. Die Schlangenphobie, kann man
sagen, ist eine allgemein menschliche, und Ch. Darwin hat sehr
eindrucksvoll beschrieben, wie er sich der Angst vor einer auf ihn
losfahrenden Schlange nicht erwehren konnte, wiewohl er sich durch
eine dicke Glasscheibe vor ihr geschützt wußte. Zu einer zweiten
Gruppe stellen wir die Fälle, in denen noch eine Beziehung zu einer
Gefahr besteht, wobei wir aber gewöhnt sind, diese Gefahr gering-
zuschätzen und sie nicht voranzustellen. Hierher gehören die meisten
Situationsphobien. Wir wissen, daß es auf der Eisenbahnfahrt eine
Chance des Verunglückens mehr gibt, als wenn wir zu Hause blei-
ben, nämlich die des Eisenbahnzusammenstoßes, wissen auch, daß
ein Schiff untergehen kann, wobei man dann in der Regel ertrinkt,
aber wir denken nicht an diese Gefahren und reisen angstfrei mit
Eisenbahn und Schiff. Es ist auch nicht zu leugnen, daß man in den
414 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Fluß stürzen würde, wenn die Brücke in dem Moment einstürzte,
in dem man sie passiert, aber das geschieht so überaus selten, daß
es als Gefahr gar nicht in Betracht kommt. Auch die Einsamkeit hat
ihre Gefahren, und wir vermeiden sie auch unter gewissen Umstän-
den; es ist aber nicht die Rede davon, daß wir sie unter irgendwelcher
Bedingung auch nur einen Moment lang nicht vertragen. Ähnliches
gilt für das Menschengedränge, für den geschlossenen Raum, das
Gewitter u. dgl. Was uns an diesen Phobien der Neurotiker befrem-
det, ist überhaupt nicht so sehr der Inhalt als die Intensität der-
selben. Die Angst der Phobien ist geradezu inappellabel! Und manch-
mal bekommen wir den Eindruck, als ängstigten sich die Neurotiker
gar nicht vor denselben Dingen und Situationen, die unter gewissen
Umständen auch bei uns Angst hervorrufen können, und die sie mit
denselben Namen belegen.
. Es erübrigt uns eine dritte Gruppe von Phobien, denen unser Ver-
ständnis überhaupt nicht mehr nachkommt. Wenn ein starker, er-
wachsener Mann vor Angst nicht durch eine Straße oder über einen
Platz der ihm so wohlvertrauten Heimatstadt gehen kann, wenn eine
gesunde, gut entwickelte Frau in eine besinnungslose Angst verfällt,
weil: eine Katze an ihren Kleidersaum gestreift hat oder ein Mäuschen
durchs Zimmer gehuscht ist, wie sollen wir da die Verbindung mit
der Gefahr herstellen, die offenbar doch für die Phobischen besteht?
Bei den hierher gehörigen 'Tierphobien kann es sich nicht um die
Steigerung allgemein menschlicher Antipathien handeln, denn es
gibt wie zur Demonstration des Gegensatzes zahlreiche Menschen,
die an keiner Katze vorbeigehen können, ohne sie zu locken und zu
streicheln. Die von den Frauen so gefürchtete Maus ist gleichzeitig
ein Zärtlichkeitsname erster Ordnung; manches Mädchen, das sich
mit Befriedigung von seinem Geliebten so nennen hört, schreit doch
entsetzt auf, wenn es das niedliche Tierchen dieses Namens erblickt.
Für den Mann mit Straßen- oder Platzangst drängt sich uns die ein-
zige Erklärung auf, daß er sich benehme wie ein kleines Kind. Ein
Kind wird durch die Erziehung direkt angehalten, solche Situationen
XXV. Die Angst | 415
als gefährlich zu vermeiden, und unser Agoraphobiker ist wirklich
vor seiner Angst geschützt, wenn man ihn über den Platz begleitet.
Die beiden hier beschriebenen Formen der Angst, die frei flot-
tierende Erwartungsangst und die an Phobien gebundene, sind unab-
hängig voneinander. Die eine ist nicht etwa eine höhere Stufe der
anderen, sie kommen auch nur ausnahmsweise und dann wie zufällig
miteinander vor. Die stärkste allgemeine Ängstlichkeit braucht sich
nicht in Phobien zu äußern; Personen, deren ganzes Leben durch
eine Agoraphobie eingeschränkt wird, können von der pessimistischen
Erwartungsangst völlig frei sein. Manche der Phobien, z.B. Platzangst,
Eisenbahnangst, werden nachweisbar erstin reiferen Jahren erworben,
andere, wie Angst vor Dunkelheit, Gewitter, Tieren, scheinen von An-
fang an bestanden zu haben. Die der ersteren Art haben die Bedeu-
tung von schweren Krankheiten; die letzteren erscheinen eher wie
Sonderbarkeiten, Launen. Wer eine von diesen letzteren zeigt, bei
dem darf man in der Regel noch andere, ähnliche vermuten. Ich
muß. hinzufügen, daß wir diese Phobien sämtlich zur Angsthysterie
rechnen, d. h. also sie als eine der bekannten Konversionshysterie
sehr verwandte Affektion betrachten. | |
Die dritte der Formen neurotischer Angst stellt uns vor das Rätsel,
daß wir den Zusammenhang zwischen Angst und drohender Gefahr
völlig aus den Augen verlieren. Diese Angst tritt z.B. bei der Hysterie
auf als Begleitung der hysterischen Symptome, oder unter beliebigen
Bedingungen der Aufregung, .wo wir zwar eine Affektäußerung, er-
warten würden, aber gerade den Angstaffekt am wenigsten, oder los-
gelöst von allen Bedingungen, für uns und den Kranken gleich un-
verständlich, als freier Angstanfall. Von einer Gefahr oder einem
Anlaß, der durch Übertreibung dazu erhoben werden könnte, ist dann
weit und breit keine Rede. Bei diesen spontanen Anfällen erfahren
wir dann, daß der Komplex, den wir als Angstzustand bezeichnen,
einer Aufsplitterung fähig ist. Das Ganze des Anfalles kann durch
ein einzelnes, intensiv ausgebildetes Symptom vertreten werden, durch
ein Zittern, einen Schwindel, eine Herzpalpitation, eine Atemnot,
416 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
und das Gemeingefühl, an dem wir die Angst erkennen, kann dabei
fehlen oder undeutlich geworden sein. Und doch sind diese Zustände,
die wir als „Angstäquivalente“ beschreiben, in allen klinischen und
ätiologischen Beziehungen der Angst gleichzustellen.
Nun erheben sich zwei Fragen. Kann man die neurotische Angst,
bei welcher die Gefahr keine oder eine so geringe Rolle spielt, in
Zusammenhang mit der Realangst bringen, welche durchwegs eine
Reaktion auf die Gefahr ist? Und wie läßt sich die neurotische Angst
verstehen? Wir werden doch zunächst die Erwartung festhalten
wollen: wo Angst ist, muß auch etwas vorhanden sein, vor dem man
sich ängstigt.
Für das Verständnis der neurotischen Angst ergeben sich nun aus
der klinischen Beobachtung mehrere Hinweise, deren Bedeutung ich
vor Ihnen erörtern will.
a) Es ist nicht schwer festzustellen, daß die Erwartungsangst oder
allgemeine Ängstlichkeit in enger Abhängigkeit von bestimmten
Vorgängen im Sexualleben, sagen wir: von gewissen Verwendungen
der Libido, steht. Der einfachste und lehrreichste Fall dieser Art er-
gibt sich bei Personen, die sich der sogenannten frustranen Erregung
aussetzen, d.h. bei denen heftige sexuelle Erregungen keine genügende
Abfuhr erfahren, nicht zu einem befriedigenden Abschluß geführt
werden. Also z.B. bei Männern während des Brautstandes, und bei
Frauen, deren Männer ungenügend potent sind oder die den Ge-
schlechtsakt aus Vorsicht verkürzt oder verkümmert ausführen. Unter
diesen Umständen schwindet die libidinöse Erregung und an ihrer
Stelle tritt Angst auf, sowohl in der Form der Erwartungsangst als auch
in Anfällen und Anfallsäquivalenten. Die vorsichtige Unterbrechung
des Geschlechtsaktes wird, wenn sie als sexuelles Regime geübt wird,
so regelmäßig Ursache der Angstneurose bei Männern, besonders aber
bei Frauen, daß es sich in der ärztlichen Praxis empfiehlt, bei der-
artigen Fällen in erster Linie nach dieser Ätiologie zu forschen. Man
kann dann auch ungezählte Male die Erfahrung machen, daß die
Angstneurose erlischt, wenn der sexuelle Mißbrauch abgestellt wird.
AXV. Die Angst 497
Die Tatsache eines Zusammenhanges zwischen sexueller Zurück-
haltung und Angstzuständen wird, soviel ich weiß, auch von Ärzten,
die der Psychoanalyse fernestehen, nicht mehr bestritten. Allein ich
kann mir wohl denken, daß der Versuch nicht unterlassen wird, die
Beziehung umzukehren, indem man die Auffassung vertritt, es handle
sich dabei um Personen, die von vornherein zur Ängstlichkeit neigen
und darum auch in sexuellen Dingen Zurückhaltung üben. Dagegen
spricht aber mit Entschiedenheit das Verhalten der Frauen, deren
Sexualbetätigung ja wesentlich passiver Natur ist, d.h. durch die Be-
handlung von seiten des Mannes bestimmt wird. Je temperament-
voller, also je geneigter zum Sexualverkehr und befähigter zur Be-
friedigung eine Frau ist, desto sicherer wird sie auf die Impotenz des
Mannes oder auf den Coitus interruptus mit Angsterscheinungen re-
agieren, während solche Mißhandlung bei anästhetischen oder wenig
libidinösen Frauen eine weit geringere Rolle spielt.
Dieselbe Bedeutung für die Entstehung von Angstzuständen hat
die jetzt von den Ärzten so warm empfohlene sexuelle Abstinenz na-
türlich nur dann, wenn die Libido, der die befriedigende Abfuhr ver-
sagt wird, entsprechend stark und nicht zum größten Teil durch
Sublimierung erledigt ist. Die Entscheidung über den Krankheits-
erfolg liegt ja immer bei den quantitativen Faktoren. Auch wo nicht
Krankheit sondern Charaktergestaltung in Betracht kommt, erkennt
man leicht, daß sexuelle Einschränkung mit einer gewissen Ängst-
lichkeit und Bedenklichkeit Hand in Hand geht, während Uner-
schrockenheit und kecker Wagemut ein freies Gewährenlassen der
sexuellen Bedürftigkeit mit sich bringen. So sehr sich diese Beziehun-
gen durch mannigfache Kultureinflüsse abändern und komplizieren
lassen, so bleibt es doch für den Durchschnitt der Menschen bestehen,
daß die Angst mit der sexuellen Beschränkung zusammengehörig ist.
Ich habe Ihnen noch lange nicht alle Beobachtungen mitgeteilt,
die für die behauptete genetische Beziehung zwischen Libido und
Angst sprechen. Dazu gehört z.B. noch der Einfluß gewisser Lebens-
phasen auf die Angsterkrankungen, denen man, wie der Pubertät
Freud, VII. 27
418 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
und der Zeit der Menopause, eine erhebliche Steigerung in der Pro-
duktion der Libido zuschreiben darf. In manchen Zuständen von
Aufregung kann man auch die Vermengung von Libido und Angst
und die endliche Ersetzung der Libido durch die Angst direkt be-
obachten. Der Eindruck, den man von all diesen Tatsachen empfängt,
ist ein zweifacher, erstens daß es sich um eine Anhäufung von Li-
bido handelt, die von ihrer normalen Verwendung abgehalten wird,
zweitens, daß man sich dabei durchaus auf dem Gebiete somatischer
Vorgänge befindet. Wie aus der Libido die Angst entsteht, ist zu-
nächst nicht ersichtlich; man stellt nur fest, daß Libido vermißt
und an ihrer Statt Angst beobachtet wird.
b) Einen zweiten Fingerzeig entnehmen wir aus der Analyse der
Psychoneurosen, speziell der Hysterie. Wir haben gehört, daß bei
dieser Affektion häufig Angst in Begleitung der Symptome auftritt,
aber auch ungebundene Angst, die sich als Anfall oder als Dauerzu-
stand äußert. Die Kranken wissen nicht zu sagen, wovor sie sich
ängstigen, und verknüpfen sie durch eine unverkennbare sekundäre
Bearbeitung mit den nächstliegenden Phobien, wie: Sterben, Ver-
rücktwerden, Schlaganfall. Wenn wir die Situation, aus welcher die
Angst oder von Angst begleitete Symptome hervorgegangen sind,
der Analyse unterziehen, so können wir in der Regel angeben,
welcher normale psychische Ablauf unterblieben ist und sich durch
das Angstphänomen ersetzt hat. Drücken wir uns anders aus: Wir
konstruieren den unbewußten Vorgang so, als ob er keine Verdrän-
gung erfahren und sich ungehindert zum Bewußtsein fortgesetzt
hätte. Dieser Vorgang wäre auch von einem bestimmten Affekt be-
gleitet gewesen, und nun erfahren wir zu unserer Überraschung,
daß dieser den normalen Ablauf begleitende Affekt nach der Ver-
drängung in jedem Falle durch Angst ersetzt wird, gleichgültig, was
seine eigene Qualität ist. Wenn wir also einen hysterischen Angst-
zustand vor uns haben, so kann sein unbewußtes Korrelat eine Re-
gung von ähnlichem Charakter sein, also von Angst, Scham, Ver-
legenheit, ebensowohl eine positiv libidinöse Erregung oder eine
XXV. Die Angst 419
feindselig aggressive, wie Wut und Ärger. Die Angst ist also die all-
gemein gangbare Münze, gegen welche alle Affektregungen einge-
tauscht werden oder werden können, wenn der dazugehörige Vor-
stellungsinhalt der Verdrängung unterlegen ist.
c) Eine dritte Erfahrung machen wir bei den Kranken mit Zwangs-
handlungen, die in bemerkenswerter Weise von der Angst verschont
zu sein scheinen. Wenn wir sie an der Ausführung ihrer Zwangs-
handlung, ihres Waschens, ihres Zeremoniells zu hindern versuchen,
oder wenn sie selbst den Versuch wagen, einen ihrer Zwänge auf-
zugeben, so werden sie durch eine entsetzliche Angst zur Gefügig-
keit gegen den Zwang genötigt. Wir verstehen, daß die Angst durch
die Zwangshandlung gedeckt war, und daß diese nur ausgeführt
wurde, um die Angst zu ersparen. Es wird also bei der Zwangsneu-
rose die Angst, die sich sonst einstellen müßte, durch Symptom-
bildung ersetzt, und wenn wir uns zur Hysterie wenden, finden wir
bei dieser Neurose eine ähnliche Beziehung: als Erfolg des Verdrän-
gungsvorganges entweder reine Angstentwicklung oder Angst mit
Symptombildung oder vollkommenere Symptombildung ohne Angst.
Es schiene also in einem abstrakten Sinne nicht unrichtig zu sagen,
daß Symptome überhaupt nur gebildet werden, um der sonst un-
vermeidlichen Angstentwicklung zu entgehen. Durch diese Auffas-
sung wird die Angst gleichsam in den Mittelpunkt unseres Interesses
für die Neurosenprobleme gerückt.
Aus den Beobachtungen an der Angstneurose hatten wir ge-
schlossen, daß die Ablenkung der Libido von ihrer normalen Ver-
wendung, welche die Angst entstehen läßt, auf dem Boden der so-
matischen Vorgänge erfolgt. Aus den Analysen der Hysterie und der
Zwangsneurose ergibt sich der Zusatz, daß die nämliche Ablenkung
mit demselben Ergebnis auch die Wirkung einer Verweigerung der
psychischen Instanzen sein kann. Soviel wissen wir also über die
Entstehung der neurotischen Angst; es klingt noch ziemlich unbe-
stimmt. Ich sehe aber vorläufig keinen Weg, der weiterführen
würde. Die zweite Aufgabe, die wir uns gestellt haben, die Her-
27?
4.20 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
stellung einer Verbindung zwischen der neurotischen Angst, die ab-
norm verwendete Libido ist, und der Realangst, welche einer Re-
aktion auf die Gefahr entspricht, scheint noch schwieriger lösbar.
Man möchte glauben, es handle sich da um ganz disparate Dinge,
und doch haben wir kein Mittel, Realangst und neurotische Angst
ın der Empfindung voneinander zu unterscheiden.
Die gesuchte Verbindung stellt sich endlich her, wenn wir den
oft behaupteten Gegensatz zwischen Ich und Libido zur Voraus-
setzung nehmen. Wie wir wissen, ist die Angstentwicklung die Re-
aktion des Ichs auf die Gefahr und das Signal für die Einleitung der
Flucht; da liegt uns denn die Auffassung nahe, daß bei der neuroti-
schen Angst das Ich einen ebensolchen Fluchtversuch vor dem An-
spruch seiner Libido unternimmt, diese innere Gefahr so behandelt,
als ob sie eine äußere wäre. Damit wäre die Erwartung erfüllt, daß
dort, wo sich Angst zeigt, auch etwas vorhanden ist, wovor man sich
ängstigt. Die Analogie ließe sich aber weiter fortführen. So wie der
Fluchtversuch vor der äußeren Gefahr abgelöst wird durch Stand-
halten und zweckmäßige Maßnahmen zur Verteidigung, so weicht
auch die neurotische Angstentwicklung der Symptombildung, welche
eine Bindung der Angst herbeiführt.
Die Schwierigkeit des Verständnisses liegt jetzt an anderer Stelle.
Die Angst, welche eine Flucht des Ichs vor seiner Libido bedeutet,
soll doch aus dieser Libido selbst hervorgegangen sein. Das ist un-
durchsichtig und enthält die Mahnung, nicht zu vergessen, daß die
Libido einer Person doch im Grunde zu ihr gehört und sich ihr
nicht wie etwas Äußerliches entgegenstellen kann. Es ist die topische
Dynamik der Angstentwicklung, die uns noch dunkel ist, was für
seelische Energien dabei ausgegeben werden und von welchen psy-
chischen Systemen her. Ich kann Ihnen nicht versprechen, auch
diese Frage zu beantworten, aber wir wollen es nicht unterlassen,
zwei andere Spuren zu verfolgen und uns dabei wieder der direkten
Beobachtung und der analytischen Forschung zu bedienen, um un-
serer Spekulation zu Hilfe zu kommen. Wir wenden uns zur Ent-
XXV. Die Angst au
stehung der Angst beim Kinde und zur Herkunft der neurotischen
Angst, welche an Phobien gebunden ist.
Die Ängstlichkeit der Kinder ist etwas sehr Gew ähnkichen und
die Unterscheidung, ob sie neurotische oder Realangst ist, scheint
recht schwierig. Ja, der Wert dieser Unterscheidung wird durch das
Verhalten der Kinder in Frage gestellt. Denn einerseits verwundern
wir uns nicht, wenn sich das Kind vor allen fremden Personen,
neuen Situationen und Gegenständen ängstigt, und erklären uns
diese Reaktion sehr leicht durch seine Schwäche und Unwissenheit.
Wir schreiben also dem Kinde eine starke Neigung zur Realangst
zu und würden es für ganz zweckmäßig ansehen, wenn es diese
Änsstlichkeit als Erbschaft mitgebracht hätte, Das Kind würde hierin
nur das Verhalten des Urmenschen und des heutigen Primitiven
wiederholen, der infolge seiner Unwissenheit und Hilflosigkeit vor
allem Neuen Angst hat und vor so viel Vertrautem, was uns heute
keine Angst mehr einflößt. Auch entspräche es durchaus unserer
Erwartung, wenn die Phobien des Kindes wenigstens zum Teil noch
dieselben wären, die wir jenen Urzeiten der menschlichen Entwick-
lung zutrauen dürfen.
Anderseits können wir nicht übersehen, daß nicht alle Kinder in
gleichem Maße ängstlich sind, und daß gerade die Kinder, welche
eine besondere Scheu vor allen möglichen Objekten und Situationen
äußern, sich späterhin als Nervöse erweisen. Die neurotische Dispo-
sition verrät sich also auch durch eine ausgesprochene Neigung zur
Realangst, die Ängstlichkeit erscheint als das Primäre, und man gelangt
zum Schlusse, das Kind und später der Heranwachsende ängstigen sich
vor der Höhe ihrer Libido, weil sie sich eben vor allem ängstigen. Die
Entstehung der Angst aus der Libido wäre hiemit abgelehnt, und wenn
man den Bedingungen der Realangst nachforschte, gelangte man kon-
sequent zu der Auffassung, daß das Bewußtsein der eigenen Schwäche
und Hilflosigkeit — Minderwertigkeit in der "Terminologie von
A. Adler — auch der letzte Grund der Neurose ist, wenn es sich
aus der Kinderzeit ins reifere Leben fortsetzen kann.
422 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Das klingt so einfach und bestechend, daß es ein Anrecht auf
unsere Aufmerksamkeit hat. Es würde allerdings eine Verschiebung
des Rätsels der Nervosität mit sich bringen. Der Fortbestand des
Minderwertigkeitsgefühls — und damit der Angstbedingung und
der Symptombildung — scheint so gut gesichert, daß es vielmehr
einer Erklärung bedarf, wenn ausnahmsweise das, was wir als Ge-
sundheit kennen, zustande kommen sollte. Was läßt aber eine sorg-
fältige Beobachtung der Ängstlichkeit der Kinder erkennen? Das
kleine Kind ängstigt sich zu allererst vor fremden Personen; Situa-
tionen werden erst dadurch bedeutsam, daß sie Personen enthalten,
und Gegenstände kommen überhaupt erst später in Betracht. Vor
diesen Fremden ängstigt sich das Kind aber nicht etwa darum, weil
es ihnen böse Absichten zutraut und seine Schwäche mit deren Stärke
vergleicht, sie also als Gefahren für seine Existenz, Sicherheit und
Schmerzfreiheit agnosziert. Ein derart mißtrauisches, von dem welt-
beherrschenden Agsgressionstrieb geschrecktes Kind ist eine recht
verunglückte theoretische Konstruktion. Sondern das Kind erschrickt
vor der fremden Gestalt, weil es auf den Anblick der vertrauten und
geliebten Person, im Grunde der Mutter, eingestellt ist. Es ist seine
Enttäuschung und Sehnsucht, welche sich in Angst umsetzt, also
unverwendbar gewordene Libido, die derzeit nicht in Schwebe ge-
halten werden kann, sondern als Angst abgeführt wird. Es kann auch
kaum zufällig sein, daß in dieser für die kindliche Angst vorbildlichen
Situation die Bedingung des ersten Angstzustandes während des Ge-
burtsaktes, nämlich die Trennung von der Mutter, wiederholt wird.
Die ersten Situationsphobien der Kinder sind die vor der Dunkel-
heit und der Einsamkeit; die erstere bleibt oft durchs Leben bestehen,
beiden gemeinsam ist das Vermissen der geliebten Pflegeperson, der
Mutter also. Ein Kind, das sich in der Dunkelheit ängstigte, hörte
ich ins Nebenzimmer rufen: „Tante, sprich doch zu mir, ich fürchte
mich.“ „Aber was hast Du davon? Du siehst mich ja nicht“; darauf
das Kind: „Wenn jemand spricht, wird es heller.“ Die Sehnsucht in
der Dunkelheit wird also zur Angst vor der Dunkelheit umgebildet.
XXV. Die Angst 425
Weit entfernt, daß die neurotische Angst nur sekundär und ein
Spezialfall der Realangst wäre, sehen wir vielmehr beim kleinen
Kinde, daß sich etwas als Realangst gebärdet, was mit der neuroti-
schen Angst den wesentlichen Zug der Entstehung aus unverwendeter
Libido gemein hat. Von richtiger Realangst scheint das Kind wenig
mitzubringen. In all den Situationen, die später die Bedingungen
von Phobien werden können, auf Höhen, schmalen Stegen über dem
Wasser, auf der Eisenbahnfahrt und im Schiff, zeigt das Kind keine
Angst, und zwar um so weniger, je unwissender es ist. Es wäre sehr
wünschenswert, wenn es mehr von solchen lebenschützenden In-
stinkten zur Erbschaft bekommen hätte; die Aufgabe der Über-
wachung, die es daran verhindern muß, sich einer Gefahr nach der
anderen auszusetzen, wäre dadurch sehr erleichtert. In Wirklichkeit
aber überschätzt das Kind anfänglich seine Kräfte und benimmt sich
angstfrei, weil es die Gefahren nicht kennt. Es wird an den Rand
des Wassers laufen, auf die Fensterbrüstung steigen, mit scharfen
Gegenständen und mit dem Feuer spielen, kurz alles tun, was ihm
Schaden bringen und seinen Pflegern Sorge bereiten muß. Es ist
durchaus das Werk der Erziehung, wenn endlich die Realangst bei
ihm erwacht, da man ihm nicht erlauben Au die belehrende Er-
fahrung selbst zu machen. |
Wenn es nun Kinder gibt, die dieser Erziehung zur Anaite ein Stück
weit entgegenkommen, und die dann auch selbst Gefahren finden,
vor denen man sie nicht gewarnt hat, so reicht für sie die Erklärung
aus, daß sie ein größeres Maß von libidinöser Bedürftigkeit in ihrer
Konstitution mitgebracht haben oder frühzeitig mit libidinöser Be-
friedigung verwöhnt worden sind. Kein Wunder, wenn sich unter
diesen Kindern auch die späteren Nervösen befinden; wir wissen ja, die
größte Erleichterung für die Entstehung einer Neurose liegt in der
Unfähigkeit, eine ansehnlichere Libidostauung durch längere Zeit zu
ertragen. Sie merken, daß hier auch das konstitutionelle Moment zu
seinem Recht kommt, dem wir seine Rechte ja nie bestreiten wollen.
Wir verwahren uns nur dagegen, wenn jemand über diesem Anspruch
424 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
alle anderen vernachlässigt und das konstitutionelle Moment auch
dort einführt, wo es nach den vereinten Ergebnissen von Beobachtung
und Analyse nicht hingehört oder an die letzte Stelle zu rücken hat.
"Lassen Sie uns aus den Beobachtungen über die Ängstlichkeit der
Kinder die Summe ziehen: Die infantile Angst hat sehr wenig mit
der Realangst zu schaffen, ist dagegen der neurotischen Angst der
Erwachsenen nahe verwandt. Sie entsteht wie diese aus unverwen-
deter Libido und ersetzt das vermißte Liebesobjekt durch einen äußeren
Gegenstand oder eine Situation. |
Nun werden Sie es gerne hören, daß uns die Analyse der Pho-
bien nicht mehr viel Neues zu lehren hat. Bei diesen geht nämlich
dasselbe vor wie bei der Kinderangst; es wird unausgesetzt unver-
wendbare Libido in eine scheinbare Realangst umgewandelt und so
eine winzige äußere Gefahr zur Vertretung der Libidoansprüche ein-
gesetzt. Die Übereinstimmung hat nichts Befremdliches, denn die
infantilen Phobien sind nicht nur das Vorbild für die späteren, die
wir zur „Angsthysterie“ rechnen, sondern die direkte Vorbedingung
und das Vorspiel derselben. Jede hysterische Phobie geht auf eine
Kinderangst zurück und setzt sie fort, auch wenn sie einen anderen
Inhalt hat und also anders benannt werden muß. Der Unterschied
der beiden Affektionen liegt im Mechanismus. Beim Erwachsenen
reicht es für die Verwandlung der Libido in Angst nicht mehr hin,
daß die Libido als Sehnsucht augenblicklich unverwendbar geworden
ist. Er hat es längst erlernt, solche Libido schwebend zu erhalten
oder anders zu verwenden. Aber wenn die Libido einer psychischen
Regung angehört, welche die Verdrängung erfahren hat, dann sind
ähnliche Verhältnisse wiederhergestellt wie beim Kind, das noch keine
Scheidung zwischen Bewußtem und Unbewußtem besitzt, und durch
die Regression auf die infantile Phobie ist gleichsam der Paß eröffnet,
über den sich die Verwandlung der Libido in Angst bequem voll-
ziehen kann. Wir haben ja, wie Sie sich erinnern, viel von der Ver-
drängung gehandelt, aber dabei immer nur das Schicksal der zu ver-
drängenden Vorstellung verfolgt, natürlich weil dieses leichter zu
XXV. Die Angst 425
erkennen und darzustellen war. Was mit dem Affekt geschieht, der an
der verdrängten Vorstellung hing, das haben wir immer beiseite ge-
lassen, und wir erfahren erst jetzt, daß es das nächste Schicksal dieses
Affektes ist, in Angst verwandelt zu werden, in welcher Qualität
immer er sich sonst bei normalem Ablauf gezeigt hätte. Diese Affekt-
verwandlung ist aber das bei weitem wichtigere Stück des Verdrän-
gungsvorganges. Es ist nicht so leicht davon zu reden, weil wir die
Existenz unbewußter Affekte nicht in demselben Sinne behaupten
können wie die unbewußter Vorstellungen. Eine Vorstellung bleibt
bis auf einen Unterschied dasselbe, ob sie bewußt oder unbewußt
ist; wir können angeben, was einer unbewußten Vorstellung ent-
spricht. Ein Affekt aber ist ein Abfuhrvorgang, ganz anders zu be-
urteilen als eine Vorstellung; was ihm im Unbewußten entspricht,
ist ohne tiefergehende Überlegungen und Klärung unserer Voraus-
setzungen über die psychischen Vorgänge nicht zu sagen. Das können
wir hier nicht unternehmen. Wir wollen aber den Eindruck hoch-
halten, den wir nun gewonnen haben, daß die Angstentwicklung
innig an das System des Unbewußten geknüpft ist.
Ich sagte, die Verwandlung in Angst, besser: die Abfuhr in der
Form der Angst, sei das nächste Schicksal der von der ‚Verdrängung
betroffenen Libido. Ich muß hinzufügen: nicht das einzige oder end-
gültige. Es sind bei den Neurosen Prozesse im Gange, welche sich
bemühen, diese Angstentwicklung zu binden, und denen dies auch
auf verschiedenen Wegen gelingt. Bei den Phobien z.B. kann man
deutlich zwei Phasen des neurotischen Vorganges unterscheiden. Die
erste besorgt die Verdrängung und die Überführung der Libido in
Angst, welche an eine äußere Gefahr gebunden wird. Die zweite
besteht in dem Aufbau all jener Vorsichten und Sicherungen, durch
welche eine Berührung mit dieser wie eine Äußerlichkeit behandel-
ten Gefahr vermieden werden soll. Die Verdrängung entspricht einem
Fluchtversuch des Ichs vor der als Gefahr empfundenen Libido. Die
Phobie kann man einer Verschanzung gegen die äußere Gefahr ver-
gleichen, die nun die gefürchtete Libido vertritt. Die Schwäche des
426 | Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Verteidigungssystems bei den Phobien liegt natürlich darin, daß die
Festung, die sich nach außen hin so verstärkt hat, von innen her an-
greifbar geblieben ist. Die Projektion der Libidogefahr nach außen
kann nie gut gelingen. Bei den anderen Neurosen sind darum andere
Systeme der Verteidigung gegen die Möglichkeit der Angstentwick-
lung ım Gebrauch. Das ist ein sehr interessantes Stück der Neurosen-
psychologie, leider führt es uns zu weit und setzt gründlichere Spe-
zialkenntnisse voraus. Ich will nur noch eines beifügen. Ich habe
Ihnen doch bereits von der „Gegenbesetzung“ gesprochen, die das
Ich bei einer Verdrängung aufwendet und dauernd unterhalten muß,
damit die Verdrängung Bestand habe. Dieser Gegenbesetzung fällt
die Aufgabe zu, die verschiedenen Formen der Verteidigung gegen
die Angstentwicklung nach der Verdrängung durchzuführen.
Kehren wir zu den Phobien zurück. Ich darf nun sagen, Sie sehen
ein, wie unzureichend es ist, wenn man an ihnen nur den Inhalt er-
klären will, sich für nichts anderes interessiert, als woher es kommt,
daß dies oder jenes Objekt oder eine beliebige Situation zum Gegen-
stand der Phobie gemacht wird. Der Inhalt einer Phobie hat für
diese ungefähr dieselbe Bedeutung wie die manifeste. Traumfassade
für den Traum. Es ist mit den notwendigen Einschränkungen zuzu-
geben, daß unter diesen Inhalten der Phobien sich manche befinden,
die, wie Stanley Hall hervorhebt, durch phylogenetische Erbschaft
zu Angstobjekten geeignet sind. Ja es stimmt dazu, daß viele dieser
Angstdinge ihre Verbindung mit der Gefahr nur durch eine sym-
bolische Beziehung herstellen können.
Wir haben uns so überzeugt, welche geradezu zentral zu nennende
Stelle das Angstproblem in den Fragen der Neurosenpsychologie
einnimmt. Wir haben einen starken Eindruck davon empfangen, wie
die Angstentwicklung mit den Schicksalen der Libido und dem Sy-
stem des Unbewußten verknüpft ist. Nur einen Punkt empfanden
wir als unverbunden, als eine Lücke in unserer Auffassung, die eine
doch schwer bestreitbare Tatsache, daß die Realangst als eine Äuße-
rung der Selbsterhaltungstriebe des Ichs gewertet werden muß.
XXVI. VORLESUNG
DIE LIBIDOTHEORIE UND DER NARZISSMUS
Meine Damen und Herren! Wir haben wiederholt und erst vor
kurzem wieder mit der Sonderung der Ichtriebe und der Sexualtriebe
zu tun gehabt. Zuerst hat uns die Verdrängung gezeigt, daß die
beiden in Gegensatz zueinander treten können, daß dann die Sexual-
triebe formell unterliegen und genötigt sind, sich auf regressiven
Umwegen Befriedigung zu holen, wobei sie dann in ihrer Unbezwing-
barkeit eine Entschädigung für ihre Niederlage finden. Sodann haben
wir gelernt, daß die beiden von Anfang an ein verschiedenes Ver-
hältnis zur Erzieherin Not haben, so daß sie nicht dieselbe Entwick-
lung durchmachen und nicht in die nämliche Beziehung zum Re-
alitätsprinzip geraten. Endlich glauben wir zu erkennen, daß die
Sexualtriebe durch weit engere Bande mit dem Affektzustand der
Angst verknüpft sind als die Ichtriebe, ein Resultat, welches nur noch
in einem wichtigen Punkte unvollständig erscheint. Wir wollen
darum zu seiner Verstärkung noch die bemerkenswerte Tatsache
heranziehen, daß die Unbefriedigung von Hunger und Durst, der
zwei elementarsten Selbsterhaltungstriebe niemals deren Umschlag
in Angst zur Folge hat, während die Umsetzung von unbefriedigter
Libido in Angst, wie wir gehört haben, zu den bestbekannten und
am häufigsten beobachteten Phänomenen gehört.
An unserem guten Recht, Ich- und Sexualtriebe zu sondern, kann
doch wohl nicht gerüttelt werden. Es ist ja mit der Existenz des
428 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Sexuallebens als einer besonderen Betätigung des Individuums ge-
geben. Es kann sich nur fragen, welche Bedeutung wir dieser Son-
derung beilegen, für wie tief einschneidend wir sie halten wollen.
Die Beantwortung dieser Frage wird sich aber nach dem Ergebnis
der Feststellung richten, inwiefern sich die Sexualtriebe in ihren so-
matischen und seelischen Äußerungen anders verhalten als die anderen,
die wir ihnen gegenüberstellen, und wie bedeutsam die Folgen sind,
die sich aus diesen Differenzen ergeben. Eine übrigens nicht recht
faßbare Wesensverschiedenheit der beiden 'Triebgruppen zu behaup-
ten, dazu fehlt uns natürlich jedes Motiv. Beide treten uns nur als
Benennungen für Energiequellen des Individuums entgegen, und
die Diskussion, ob sie im Grunde eins oder wesensverschieden sind,
und wenn eines, wann sie sich voneinander getrennt haben, kann
nicht an den Begriffen geführt werden, sondern muß sich an die bio-
logischen Tatsachen hinter ihnen halten. Darüber wissen wir vor-
läufig zu wenig, und wüßten wir selbst mehr, es käme für unsere
analytische Aufgabe nicht ın Betracht.
Wir profitieren offenbar auch sehr wenig, wenn wir nach dem
Vorgang von Jung die uranfängliche Einheit aller Triebe betonen
und die in allem sich äußernde Energie „Libido“ nennen. Da sich
die Sexualfunktion durch keinerlei Kunststück aus dem Seelenleben
eliminieren läßt, sehen wir uns dann genötigt, von sexueller und
von asexueller Libido zu sprechen. Der Name Libido bleibt aber mit
Recht für die Triebkräfte des Sexuallebens vorbehalten, wie wir es
bisher geübt haben.
Ich meine also, die Frage, wie weit die unzweifelhaft berechtigte
Sonderung von Sexual- und Selbsterhaltungstrieben fortzusetzen ist,
hat für die Psychoanalyse nicht viel Belang; sie ist auch nicht kom-
petent dafür. Von seiten der Biologie ergeben sich allerdings ver-
schiedene Anhaltspunkte dafür, daß sie etwas Wichtiges bedeutet.
Die Sexualität ist ja die einzige Funktion des lebenden Organismus,
welche über das Individuum hinausgeht und seine Anknüpfung an
die Gattung besorgt. Es ist unverkennbar, daß ihre Ausübung dem
XXVI. Die Libidotheorie und der Narzißmus 429
Einzelwesen nicht immer Nutzen bringt wie seine anderen Leistun-
gen, sondern ihn um den Preis einer ungewöhnlich hohen Lust in
Gefahren bringt, die sein Leben bedrohen und es oft genug ver-
wirken. Es werden auch wahrscheinlich ganz besondere, von allen
anderen abweichende Stoffwechselvorgänge erforderlich sein, um
einen Anteil des individuellen Lebens als Disposition für die Nach-
kommenschaft zu erhalten. Und endlich ist das Einzelwesen, das sich
selbst als Hauptsache und seine Sexualität als ein Mittel zu seiner
Befriedigung wie andere betrachtet, in biologischer Anschauung nur
eine Episode in einer Generationsreihe, ein kurzlebiges Anhängsel
an ein mit virtueller Unsterblichkeit begabtes Keimplasma, gleich-
sam der zeitweilige Inhaber eines ihn überdauernden Fideikom-
misses.
Indes braucht es für die psychoanalytische Aufklärung der Neu-
rosen nicht so weitreichender Gesichtspunkte. Mit Hilfe der geson-
derten Verfolgung von Sexual- und Ichtrieben haben wir den Schlüssel
zum Verständnis der Gruppe der Übertragungsneurosen gewonnen.
Wir konnten sie auf die grundlegende Situation zurückführen, daß
die Sexualtriebe in Zwist mit den Erhaltungstrieben geraten oder
biologisch — wenn auch ungenauer ausgedrückt —, daß die eine
Position des Ichs als selbständiges Einzelwesen mit der anderen als
Glied einer Generationsreihe in Widerstreit tritt. Zu solcher Ent-
zweiung kommt es vielleicht nur beim Menschen, und darum mag
im ganzen und großen die Neurose sein Vorrecht vor den Tieren sein.
Die überstarke Entwicklung seiner Libido und die vielleicht gerade
dadurch ermöglichte Ausbildung eines reich gegliederten Seelen-
lebens scheinen die Bedingungen für die Entstehung eines solchen
Konflikts geschaffen zu haben. Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß
dies auch die Bedingungen der großen Fortschritte sind, die der
Mensch über seine Gemeinschaft mit den Tieren hinaus gemacht
hat, so daß seine Fähigkeit zur Neurose nur die Kehrseite seiner
sonstigen Begabung wäre. Aber auch das sind nur Spekulationen,
die uns von unserer nächsten Aufgabe ablenken.
430 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Es war bisher die Voraussetzung unserer Arbeit, daß wir Ich- und
Sexualtriebe nach ihren Äußerungen voneinander unterscheiden
können. Bei Übertragungsneurosen gelang dies ohne Schwierigkeit.
Wir nannten die Energiebesetzungen, die das Ich den Objekten seiner
Sexualstrebungen zuwendet, „Libido“, alle anderen, die von den
Selbsterhaltungstrieben ausgeschickt werden, „Interesse“ und
konnten uns durch die Verfolgung der Libidobesetzungen, ihrer Um-
wandlungen und ihrer endlichen Schicksale eine erste Einsicht in
das Getriebe der seelischen Kräfte verschaffen. Die Übertragungs-
neurosen boten uns hierfür den günstigsten Stoff. Das Ich aber, seine
Zusammensetzung aus verschiedenen Organisationen, deren Aufbau
und Funktionsweise, blieb uns verhüllt, und wir durften vermuten,
daß erst die Analyse anderer neurotischer Störungen uns diese Ein-
sicht bringen könnte.
Wir haben frühzeitig damit begonnen, die psychoanalytischen An-
schauungen auf diese anderen Affektionen auszudehnen. Schon 1908
sprach K. Abraham nach einem Gedankenaustausch mit mir den
Satz aus, es sei der Hauptcharakter der (zu den Psychosen gerech-
neten) Dementia praecox, daß ihr die Libidobesetzung der
Objekte abgehe. („Die psychosexuellen Differenzen der Hysterie
und der Dementia praecox.“) Dann erhob sich aber die Frage, was
geschieht mit der von den Objekten abgewandten Libido der De-
menten? Abraham zögerte nicht, die Antwort zu geben: sie wird
auf das Ich zurückgewandt, und diese reflexive Rückwendung
ist die Quelle des Größenwahns der Demientia praecox. Der
Größenwahn ist durchaus der im Liebesleben bekannten Sexualüber-
schätzung des Objektes zu vergleichen. Wir haben so zum ersten-
mal einen Zug einer psychotischen Affektion durch die Beziehung
auf das normale Liebesleben verstehen gelernt.
Ich sage es Ihnen gleich, diese ersten Auffassungen von Abraham
haben sich in der Psychoanalyse erhalten und sind die Grundlage für
unsere Stellungnahme zu den Psychosen geworden. Man machte sich
also langsam mit der Vorstellung vertraut, daß die Libido, die wir an
XXVTI. Die Libidotheorie und der Narzißmus 431
den Objekten haftend finden, die der Ausdruck eines Bestrebens ist,
an diesen Objekten eine Befriedigung zu gewinnen, auch von diesen
Objekten ablassen und an ihrer Statt das eigene Ich setzen kann, und
man baute diese Vorstellung allmählich immer konsequenter aus. Den
Namen für diese Unterbringung der Libido —.Narzißmus — ent-
lehnten wir einer von P. Näcke beschriebenen Perversion, bei welcher
das erwachsene Individuum den eigenen Leib mit all den Zärtlichkeiten
bedenkt, die man sonst für ein fremdes Sexualobjekt aufwendet.
Man sagt sich dann alsbald, wenn es eine solche Fixierung der Libido
an den eigenen Leib und die eigene Person anstatt an ein Objekt gibt,
so kann dies kein ausnahmsweises und kein geringfügiges Vorkommnis
sein. Es ist vielmehr wahrscheinlich, daß dieser Narzißmus der all-
gemeine und ursprüngliche Zustand ist, aus welchem sich erst später
die Objektliebe herausbildete, ohne daß darum der Narzißmus zu
verschwinden brauchte. Man mußte sich ja aus der Entwicklungs-
geschichte der Objektlibido daran erinnern, daß viele Sexualtriebe sich
anfänglich am eigenen Körper, wie wir sagen: autoerotisch befrie-
digen, und daß diese Fähigkeit zum Autoerotismus das Zurückbleiben
‚der Sexualität in der Erziehung zum Realitätsprinzip begründet. So
war also der Autoerotismus die Sexualbetätigung des narzißtischen
Stadiums der Libidounterbringung. |
Um es kurz zu fassen, wir machten uns von dem Verhältnis der
Ichlibido zur Objektlibido eine Vorstellung, die ich Ihnen durch ein
Gleichnis aus der Zoologie veranschaulichen kann. Denken Sie an jene
einfachsten Lebewesen, die aus einem wenig differenzierten Klümp-
chen protoplasmatischer Substanz bestehen. Sie strecken Fortsätze aus,
Pseudopodien genannt, in welche sie ihre Leibessubstanz hinüber-
fließen lassen. Sie können diese Fortsätze aber auch wieder einziehen
und sich zum Klumpen ballen. Das Ausstrecken der Fortsätze ver-
gleichen wir nun der Aussendung von Libido auf die Objekte, während
die Hauptmenge der Libido im Ich verbleiben kann, und wir nehmen
an, daß unter normalen Verhältnissen Ichlibido ungehindert in Objekt-
libido umgesetzt und diese wieder ins Ich aufgenommen werden kann.
432 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Mit Hilfe dieser Vorstellungen können wir nun eine ganze Anzahl
von seelischen Zuständen erklären oder, bescheidener ausgedrückt, in
der Sprache der Libidotheorie beschreiben, Zustände, die wir dem
normalen Leben zurechnen müssen, wie das psychische Verhalten in
der Verliebtheit, bei organischem Kranksein, im Schlaf. Wir haben für
den Schlafzustand die Annahme gemacht, daß er auf Abwendung von
der Außenwelt und Einstellung auf den Schlafwunsch beruhe.
Was sich als nächtliche Seelentätigkeit im Traume äußerte, fanden
wir im Dienste eines Schlafwunsches und überdies von durchaus ego-
istischen Motiven beherrscht. Wir führen jetzt im Sinne der Libido-
theorie aus, daß der Schlaf ein Zustand ist, in welchem alle Objektbe-
setzungen, die libidinösen ebensowohl wie die egoistischen, aufgegeben
und ins Ich zurückgezogen werden. Ob damit nicht ein neues Licht
auf die Erholung durch den Schlaf und auf die Natur der Ermüdung
überhauptgeworfen wird? DasBildderseligen Isolierungim Intrauterin-
leben, welches uns der Schlafende allnächtlich wieder heraufbeschwört,
wird so auch nach der psychischen Seite vervollständigt. Beim Schlafen-
den hatsich der Urzustand der Libidoverteilung wiederhergestellt, der
volle Narzißmus, bei dem Libido und Ichinteresse noch vereint und
ununterscheidbar in dem sich selbst genügenden Ich wohnen.
Hier ist Raum für zwei Bemerkungen. Erstens, wie unterscheiden
sich Narzißmus und Egoismus begrifflich? Nun, ich meine, Narziß-
mus ist die libidinöse Ergänzung zum Egoismus. Wenn man von
Egoismus spricht, hat man nur den Nutzen für das Individuum ins
Auge gefaßt; sagt man Narzißmus, so zieht man auch seine libidinöse
Befriedigung in Betracht. Als praktische Motive lassen sich die beiden
ein ganzes Stück weit gesondert verfolgen. Man kann absolut egoistisch
sein und doch starke libidinöse Objektbesetzungen unterhalten, insofern
die libidinöse Befriedigung am Objekt zu den Bedürnissen des Ichs
gehört. Der Egoismus wird dann darauf achten, daß die Strebung
nach dem Objekt dem Ich keinen Schaden bringe. Man kann egoistisch
sein und dabei auch überstark narzißtisch, d. h. ein sehr geringes
Objektbedürfnis haben und dies wiederum entweder in der direkten
ÄXXVI. Die Libidotheorie und der Narzißmus 433
Sexualbefriedigung oder auch in jenen höheren, vom Sexualbedürfnis
abgeleiteten Strebungen, die wir gelegentlich als „Liebe“ in einen
Gegensatz zur „Sinnlichkeit“ zu bringen pflegen. Der Egoismus ist
in all diesen Beziehungen das Selbstverständliche, Konstante, der
Narzißmus das variable Element. Der Gegensatz von Egoismus, Altru-
ismus, deckt sich begrifflich nicht mit libidinöser Objektbesetzung,
er sondert sich von ihr durch den Wegfall der Strebungen nach sexu-
eller Befriedigung. In der vollen Verliebtheit trifft aber der Altruismus
mit der libidinösen Objektbesetzung zusammen. Das Sexualobjekt
zieht in der Regel einen Anteil des Narzißmus des Ichs auf sich, was
als die sogenannte „Sexualüberschätzung“ des Objektes bemerkbar
wird. Kommt noch die altruistische Überleitung vom Egoismus auf
das Sexualobjekt hinzu, so wird das Sexualobjekt übermächtig; es hat
das Ich gleichsam aufgesogen.
Ich denke, Sie werden es als Erholung empfinden, wenn ich Ihnen
nach derim Grundetrockenen Phantastik derW issenschafteinepoetische
Darstellung des ökonomischen Gegensatzes von Narzißmus und Ver-
liebtheit vorlege. Ich entnehmesie dem Westöstlichen Divan Goethes:
Suleika: Volk und Knecht und Überwinder
Sie gestehn zu jeder Zeit:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.
Jedes Leben sei zu führen,
Wenn man sich nicht selbst vermißt;
Alles könne man verlieren,
Wenn man bliebe, was man ist.
Hatem: Kann wohl sein! So wird gemeinet;
Doch ich bin auf andrer Spur:
Alles Erdenglück vereinet
Find’ ich in Suleika nur.
Wie sie sich an mich verschwendet,
Bin ich mir ein wertes Ich;
Hätte sie sich weggewendet,
Augenblicks verlör’ ich mich.
Freud, VII, 23
434 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Nun mit Hatem wär’s zu Ende;
Doch schon hab’ ich umgelost;
Ich verkörpere mich behende
In den Holden, den sie kost.
Die zweite Bemerkung ist eine Ergänzung zur Traumtheorie. Wir
können uns die Entstehung des Traumes nicht erklären, wenn wir
nicht die Annahme einfügen, daß das verdrängte Unbewußte eine
gewisse Unabhängigkeit vom Ich gewonnen hat, so daß es sich dem
Schlafwunsch nicht fügt und seine Besetzungen behält, auch wenn
alle vom Ich abhängigen Objektbesetzungen zugunsten des Schlafes
eingezogen werden. Erst dann ist zu verstehen, daß dies Unbewußte
sich die nächtliche Aufhebung oder Herabsetzung der Zensur zu nutze
machen kann, und daß es sich der Tagesreste zu bemächtigen weiß,
um mit ihrem Stoff einen verbotenen Traumwunsch zu bilden. Ander-
seits mögen schon die Tagesreste ein Stück ihrer Resistenz gegen die
vom Schlafwunsch verfügte Libidoeinziehung einer bereits bestehenden
Verbindung mit diesem verdrängten Unbewußten verdanken. Diesen
dynamisch wichtigen Zug wollen wir also in unsere Auffassung von
der Traumbildung nachträglich einfügen.
Organische Erkrankung, schmerzhafte Reizung, Entzündung von
Organen schafft einen Zustand, der deutlich eine Ablösung der Li-
bido von ihren Objekten zur Folge hat. Die eingezogene Libido fin-
det sich im Ich wieder als verstärkte Besetzung des erkrankten Kör-
perteiles. Ja man kann die Behauptung wagen, daß unter diesen
Bedingungen die Abziehung der Libido von ihren Objekten auf-
fälliger ist als die Abwendung des egoistischen Interesses von der
Außenwelt. Von hier aus scheint sich ein Weg zum Verständnis der
Hypochondrie zu eröffnen, bei welcher ein Organ in gleicher Weise
das Ich beschäftigt, ohne für unsere Wahrnehmung krank zu sein.
Aber ich widerstehe der Versuchung, hier weiterzugehen .oder an-
dere Situationen zu erörtern, die uns durch die Annahme einer Wan-
derung der Objektlibido in das Ich verständlich oder darstellbar wer-
den, weil es mich drängt, zwei Einwendungen zu begegnen, die, wie
XXVI. Die Libidotheorie und der Narzifdmus 435
ich weiß, jetzt Ihr Gehör haben. Sie wollen mich erstens zur Rede
stellen, warum ich beim Schlaf, in der Krankheit und in den ähn-
lichen Situationen durchaus Libido und Interesse, Sexualtriebe und
Ichtriebe unterscheiden will, wo sich die Beobachtungen durchwegs
mit der Annahme einer einzigen und einheitlichen Energie erledigen
lassen, die, frei beweglich, bald das Objekt, bald das Ich besetzt, so-
wohl in den Dienst des einen wie des anderen Triebes tritt. Und
zweitens, wie ich mich getrauen kann, die Ablösung der Libido vom
Objekt als Quelle eines pathologischen Zustandes zu behandeln, wenn
solche Umsetzung der Objektlibido in Ichlibido — oder allgemeiner
in Ichenergie — zu den normalen und täglich, allnächtlich, wieder-
holten Vorgängen in der seelischen Dynamik gehört.
Darauf ist zu erwidern: Ihr erster Einwand klingt gut. Die Er-
örterung der Zustände des Schlafes, des Krankseins, der Verliebtheit
hätte uns an sich wahrscheinlich niemals zur Unterscheidung einer
Ichlibido von einer Objektlibido oder der Libido vom Interesse ge-
führt. Aber Sie vernachlässigen dabei die Untersuchungen, von denen
wir ausgegangen sind, und in deren Licht wir jetzt die in Rede ste-
henden seelischen Situationen betrachten. Die Unterscheidung von
Libido und Interesse, also von Sexual- und Selbsterhaltungstrieben,
ist uns durch die Einsicht in den Konflikt aufgedrängt worden, aus
welchem die Übertragungsneurosen hervorgehen. Wir können sie
seitdem nicht wieder aufgeben. Die Annahme, daß sich Objektlibido
in Ichlibido umsetzen kann, daß man also mit einer Ichlibido zu
rechnen hat, ist uns als die einzige erschienen, welche das Rätsel der
sogenannten narzißtischen Neurosen, z. B. der Dementia praecox, zu
lösen vermag, von deren Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten im
Vergleich mit Hysterie und Zwang Rechenschaft geben kann. Auf
Krankheit, Schlaf und Verliebtheit wenden wir nun an, was wir
anderwärts als unabweisbar bewährt gefunden haben. Wir dürfen
mit solchen Anwendungen fortfahren und sehen, wie weit wir damit
reichen. Die einzige Behauptung, die nicht direkter Niederschlag
unserer analytischen Erfahrung ist, geht dahin, daß Libido Libido
28*
436 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
bleibt, ob sie nun auf Objekte oder auf das eigene Ich gewendet
wird, und sich niemals in egoistisches Interesse umsetzt und ebenso
das Umgekehrte. Diese Behauptung ist aber gleichwertig mit der
bereits kritisch gewürdigten Sonderung von Sexual- und Ichtrieben,
an der wir bis zum möglichen Scheitern aus heuristischen Motiven
festhalten wollen.
Auch Ihre zweite Einwendung greift eine berechtigte Frage auf,
aber sie zielt in falsche Richtung. Gewiß ist die Einziehung der Ob-
| jektlibido ins Ich nicht direkt pathogen; wir sehen ja, daß sie jedes-
mal vor dem Schlafengehen vorgenommen wird, um mit dem Wachen
wieder rückgängig zu werden. Das Protoplasmatierchen zieht seine
Fortsätze ein, um sie beim nächsten Anlaß wieder auszuschicken.
Aber etwas ganz anderes ist es, wenn ein bestimmter, sehr energi-
scher Prozeß die Abziehung der Libido von den Objekten erzwingt.
Die narzißtisch gewordene Libido kann dann den Rückweg zu den
Objekten nicht finden, und diese Behinderung in der Beweglichkeit
der Libido wird allerdings pathogen. Es scheint, daß die Anhäufung
der narzißtischen Libido über ein gewisses Maß hinaus nicht ver-
tragen wird. Wir können uns auch vorstellen, daß es eben darum
zur Objektbesetzung gekommen ist, daß das Ich seine Libido aus-
schicken mußte, um nicht an ihrer Stauung zu erkranken. Wenn es
in unserem Plane läge, uns mit der Dementia praecox eingehender
zu beschäftigen, würde ich Ihnen zeigen, daß jener Prozeß, der die
Libido von den Objekten ablöst und ihr den Rückweg zu ihnen ab-
sperrt, dem Verdrängungsprozeß nahesteht, als ein Seitenstück zu
ihm aufzufassen ist. Vor allem aber würden Sie bekannten Boden
unter Ihren Füßen spüren, indem Sie erfahren, daß die Bedingungen
dieses Prozesses fast identisch sind — soviel wir bis jetzt erkennen —
mit denen der Verdrängung. Der Konflikt scheint der nämliche zu
sein und sich zwischen denselben Mächten abzuspielen. Wenn der
Ausgang ein so anderer ist als z. B. bei der Hysterie, so kann der
Grund davon nur in einer Verschiedenheit der Disposition liegen.
Die Libidoentwicklung hat bei diesen Kranken ihre schwache Stelle
XXYVI. Die Libidotheorie und der Narzißmus 437
an einer anderen Phase; die maßgebende Fixierung, welche, wie Sie
sich erinnern, den Durchbruch zur Symptombildung gestattet, liegt
anderswo, wahrscheinlich im Stadium des primitiven Narzißmus, zu
welchem die Dementia praecox in ihrem Endausgang zurückkehrt.
Es ist ganz bemerkenswert, daß wir für alle narzißtischen Neurosen
Fixierungsstellen der Libido annehmen müssen, welche in weit frü-
here Phasen der Entwicklung zurückreichen als bei der Hysterie
oder der Zwangsneurose. Sie haben aber gehört, daß die Begriffe,
die wir im Studium der Übertragungsneurosen erworben haben, auch
zur Orientierung in den praktisch so viel schwereren narzißtischen
Neurosen ausreichen. Die Gemeinsamkeiten gehen sehr weit; es ist im
Grunde dasselbe Erscheinungsgebiet. Sie können sich aber auch vor-
stellen, wie aussichtslos die Aufklärung dieser schon der Psychiatrie
zufallenden Affektionen sich für den gestaltet, der nicht die analytische
Kenntnis der Übertragungsneurosen für diese Aufgabe mitbringt.
Das Symptombild der Dementia praecox, das übrigens sehr wechsel-
voll ist, wird nicht ausschließlich durch die Symptome bestimmt,
welche aus der Abdrängung der Libido von den Objekten und deren
Anhäufung als narzißtische Libido im Ich hervorgehen. Einen brei-
ten Raum nehmen vielmehr andere Phänomene ein, die sich auf das
Bestreben der Libido zurückführen, wieder zu den Objekten zu ge-
langen, die also einem Restitutions- oder Heilungsversuch entsprechen.
Diese Symptome sind sogar die auffälligeren, die lärmenden; sie
zeigen eine unzweifelhafte Ähnlichkeit mit denen der Hysterie oder
seltener der Zwangsneurose, sind aber doch in jedem Punkte anders.
Es scheint, daß die Libido bei der Dementia praecox in ihrem Be-
mühen, wieder zu den Objekten, d.h. zu den Vorstellungen der Ob-
jekte zu kommen, wirklich etwas von ihnen erhascht, aber gleichsam
nur ihre Schatten, ich meine, die ihnen zugehörigen Wortvorstel-
lungen. Ich kann hier nicht mehr darüber sagen, aber ich meine,
dies Benehmen der rückstrebenden Libido hat uns gestattet, eine
Einsicht in das zu gewinnen, was wirklich den Unterschied zwischen
einer bewußten und einer unbewußten Vorstellung ausmacht.
438 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Ich habe Sie nun in das Gebiet geführt, auf welchem die nächsten
Fortschritte der analytischen Arbeit zu erwarten sind. Seitdem wir
uns getrauen, den Begriff der Ichlibido zu handhaben, sind uns die
narzißtischen Neurosen zugänglich geworden; es hat sich die Auf-
gabe ergeben, eine dynamische Aufklärung dieser Affektionen zu
gewinnen und gleichzeitig unsere Kenntnis des Seelenlebens durch
das Verständnis des Ichs zu vervollständigen. Die Ichpsychologie, die
wir anstreben, soll nicht auf die Daten unserer Selbstwahrnehmungen,
sondern wie bei der Libido auf die Analyse der Störungen und Zer-
störungen des Ichs begründet sein. Wahrscheinlich werden wir von
unserer bisherigen Kenntnis der Libidoschicksale, die wir aus dem
Studium der Übertragungsneurosen geschöpft haben, gering denken,
wenn jene größere Arbeit geleistet ist. Aber dafür sind wir in ihr
auch noch nicht weit gekommen. Die narzißtischen Neurosen sind
für die Technik, welche uns bei den Übertragungsneurosen gedient
hat, kaum angreifbar. Sie werden bald hören, warum. Es geht uns
mit ihnen immer so, daß wir nach kurzem Vordringen vor eine
Mauer zu stehen kommen, die uns Halt gebietet. Sie wissen, auch
bei den Übertragungsneurosen sind wir auf solche Widerstands-
schranken gestoßen, aber wir konnten sie Stück für Stück abtragen.
Bei den narzißtischen Neurosen ist der Widerstand unüberwindbar;
wir dürfen höchstens einen neugierigen Blick über die Höhe der
Mauer werfen, um zu erspähen, was jenseits derselben vor sich geht.
Unsere technischen Methoden müssen also durch andere ersetzt wer-
den; wir wissen noch nicht, ob uns ein solcher Ersatz gelingen wird.
Es fehlt uns allerdings auch bei diesen Kranken nicht an Material.
Sie geben vielerlei Äußerungen von sich, wenn auch nicht als Ant-
worten auf unsere Fragen, und wir sind vorläufig darauf angewiesen,
diese Äußerungen mit Hilfe des Verständnisses, das wir an den Sym-
ptomen der Übertragungsneurosen gewonnen haben, zu deuten. Die
Übereinstimmung ist groß genug, um uns einen Anfangsgewinn
zuzusichern. Wie weit diese Technik reichen wird, bleibt dahinge-
stellt.
XXVI. Die Libidotheorie und der Narzißmus 459
Andere Schwierigkeiten kommen hinzu, um unseren Fortschritt
aufzuhalten. Die narzißtischen Affektionen und die an sie anschließen-
den Psychosen können nur von Beobachtern enträtselt werden, die
sich durch das analytische Studium der Übertragungsneurosen ge-
schult haben. Aber unsere Psychiater studieren keine Psychoanalyse
und wir Psychoanalytiker sehen zu wenig psychiatrische Fälle. Es
muß erst ein Geschlecht von Psychiatern herangewachsen sein,
welches durch die Schule der Psychoanalyse als vorbereitender Wis-
senschaft gegangen ist. Der Anfang dazu wird gegenwärtig in Ame-
rika gemacht, wo sehr viele leitende Psychiater den Studenten die
psychoanalytischen Lehren vortragen, und wo Anstaltsbesitzer und
Irrenhausdirektoren sich bemühen, ihre Kranken im Sinne dieser
Lehren zu beobachten. Immerhin ist es auch uns hier einige Male
geglückt, einen Blick über die narzißtische Mauer zu werfen, und
ich will Ihnen im Folgenden einiges berichten, was wir erhascht zu
haben glauben.
Die Krankheitsform der Paranoia, der chronischen systematischen
Verrücktheit, nimmt in den Klassifikationsversuchen der heutigen
Psychiatrie eine schwankende Stellung ein. An ihrer nahen Ver-
wandtschaft mit der Dementia praecox ist indes kein Zweifel. Ich
habe mir einmal den Vorschlag erlaubt, Paranoia und Dementia
praecox unter der gemeinsamen Bezeichnung der Paraphrenie zu-
sammenzufassen. Die Formen der Paranoia werden nach ihrem In-
halt als: Größenwahn, Verfolgungswahn, Liebeswahn (Erotomanie),
Fifersuchtswahn usw. beschrieben. Erklärungsversuche werden wir
von der Psychiatrie nicht erwarten. Als Beispiel eines solchen, aller-
dings ein veraltetes und nicht ganz vollwertiges Beispiel, erwähne
ich Ihnen den Versuch, ein Symptom mittels einer intellektuellen
Rationalisierung aus einem anderen abzuleiten: Der Kranke, der sich
aus primärer Neigung verfolgt glaubt, soll aus dieser Verfolgung den
Schluß ziehen, er müsse doch eine ganz besonders wichtige Persön-
lichkeit sein, und darum den Größenwahn entwickeln. Für unsere
analytische Auffassung ist der Größenwahn die unmittelbare Folge
440 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
der Ichvergrößerung durch die Einziehung der libidinösen Objekt-
besetzungen, ein sekundärer Narzißmus als Wiederkehr des ursprüng-
lichen frühinfantilen. An den Fällen von Verfolgungswahn haben
wir aber einiges beobachtet, was uns veranlaßte, eine gewisse Spur
zu verfolgen. Es fiel uns zunächst auf, daß in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle der Verfolger von demselben Geschlecht war wie
der Verfolgte. Das war immer noch einer harmlosen Erklärung fähig,
aber in einigen gut studierten Fällen zeigte es sich klar, daß die in
normalen Zeiten am besten geliebte Person des gleichen Geschlechtes
sich seit der Erkrankung zum Verfolger umgewandelt hatte. Eine
weitere Entwicklung wird dadurch möglich, daß die geliebte Person
nach bekannten Affinitäten durch eine andere ersetzt wird, z.B. der
Vater durch den Lehrer, den Vorgesetzten. Wir zogen aus solchen,
sich immer vermehrenden Erfahrungen den Schluß, daß die Para-
noia persecutoria die Form ist, in der sich das Individuum gegen
eine überstark gewordene homosexuelle Regung zur Wehre setzt.
Die Verwandlung der Zärtlichkeit in Haß, die bekanntlich zur ernst-
haften Lebensbedrohung für das geliebte und gehaßte Objekt wer-
den kann, entspricht dann der Umsetzung libidinöser Regungen in
Angst, die ein regelmäßiges Ergebnis des Verdrängungsvorganges ist.
Hören Sie z. B. den wiederum letzten Fall meiner diesbezüglichen
Beobachtungen. Ein junger Arzt mußte aus seinem Heimatsort ver-
schickt werden, weil er den Sohn eines dortigen Universitätsprofes-
sors, der bis dahin sein bester Freund gewesen war, am Leben be-
droht hatte. Er schrieb diesem einstigen Freund wahrhaft teuflische
Absichten und eine dämonische Macht zu. Er war schuld an allem
Unglück, das in den letzten Jahren die Familie des Kranken getroffen
hatte, an jedem familiären und sozialen Mißgeschick. Aber nicht
genug damit, der böse Freund und sein Vater, der Professor, hatten
auch den Krieg verursacht, die Russen ins Land gerufen. Er hatte
sein Leben tausendmal verwirkt, und unser Kranker war überzeugt,
daß mit dem Tode des Missetäters alles Unheil zu Ende gebracht
wäre. Und doch war seine alte Zärtlichkeit für ihn noch so stark,
XXYVI. Die Libidotheorie und der Narzißmus 441
daß sie seine Hand gelähmt hatte, als sich ihm einmal die Gelegen-
heit bot, den Feind aus nächster Nähe niederzuschießen. In den
kurzen Besprechungen, die ich mit dem Kranken hatte, kam zum
Vorschein, daß das freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden
weit in die Gymnasialjahre zurückreichte. Wenigstens einmal hatte
es die Grenzen der Freundschaft überschritten; ein nächtliches Bei-
sammensein war ihnen der Anlaß zu vollem sexuellen Verkehr ge-
worden. Unser Patient hatte nie die Gefühlsbeziehung zu den Frauen
gewonnen, die seiner Altersphase und seiner einnehmenden Persön-
lichkeit entsprochen hätte. Er war einmal mit einem schönen und
vornehmen Mädchen verlobt, aber dieses brach das Verlöbnis ab,
weil es bei seinem Bräutigam keine Zärtlichkeit fand. Jahre später
brach seine Krankheit gerade in dem Momente aus, als es ihm zum
erstenmal geglückt war, ein Weib voll zu befriedigen. Als diese Frau
ihn dankbar und hingebungsvoll umarmte, bekam er plötzlich einen
rätselhaften Schmerz, der wie ein scharfer Schnitt um die Schädel-
decke lief. Er deutete sich diese Sensation später, als ob an ihm der
Schnitt ausgeführt wurde, mit dem man bei einer Sektion das Ge-
hirn bloBlegt, und da sein Freund pathologischer Anatom geworden
war, entdeckte er langsam, daß nur dieser ihm diese letzte Frau zur
Versuchung geschickt haben könne. Von da an gingen ihm auch die
Augen über die anderen Verfolgungen auf, deren Opfer er durch
das Betreiben des einstigen Freundes werden sollte.
Wie ist es nun aber mit den Fällen, bei denen der Verfolger nicht
desselben Geschlechtes ist wie der Verfolgte, deren Anschein also
unserer Erklärung einer Abwehr homosexueller Libido widerspricht?
Ich habe vor einiger Zeit Gelegenheit gehabt, einen solchen Fall zu
untersuchen, und habe aus dem scheinbaren Widerspruch eine Be-
stätigung entnehmen können. Das junge Mädchen, welches sich von
dem Manne verfolgt glaubte, dem sie zwei zärtliche Zusammen-
künfte zugestanden, hatte in der Tat zuerst eine Wahnidee gegen
eine Frau gerichtet, die man als Mutterersatz auffassen kann. Erst
nach der zweiten Zusammenkunft machte sie den Fortschritt, die-
442 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
selbe Wahnidee von der Frau abzulösen und auf den Mann zu über-
tragen. Die Bedingung des gleichen Geschlechtes für den Verfolger
war also ursprünglich auch in diesem Falle eingehalten worden. In
ihrer Klage vor dem Rechtsfreund und dem Arzt hatte die Patientin
dieses Vorstadium ihres Wahnes nicht erwähnt und so den Anschein
eines Widerspruches gegen unser Verständnis der Paranoia erweckt.
Die homosexuelle Objektwahl liegt dem Narzißmus ursprünglich
näher als die heterosexuelle. Wenn es dann gilt, eine unerwünscht
starke homosexuelle Regung abzuweisen, so ist der Rückweg zum
Narzißmus besonders erleichtert. Ich habe bisher sehr wenig Ge-
legenheit gehabt, Ihnen von den Grundlagen des Liebeslebens, so-
weit wir sie erkannt haben, zu sprechen, kann es auch jetzt nicht
nachholen. Ich will nur so viel herausheben, daß die Objektwahl, der
Fortschritt in der Libidoentwicklung, der nach dem narzißtischen
Stadium gemacht wird, nach zwei verschiedenen Typen erfolgen
kann. Entweder nach dem narzißtischen Typus, indem an die
Stelle des eigenen Ichs ein ıhm möglichst ähnliches tritt, oder
nach dem Anlehnungstypus, indem die Personen, die durch Be-
friedigung der anderen Lebensbedürfnisse wertvoll geworden sind,
auch von der Libido zu Objekten gewählt werden. Eine starke Li-
bidofixierung an den narzißtischen Typus der Objektwahl rechnen
wir auch in die Dispositon zur manifesten Homosexualität ein.
Sie erinnern sich, daß ich Ihnen in der ersten Zusammenkunft
dieses Semesters von einem Fall von Eifersuchtswahn bei einer Frau
erzählt habe. Nun da wir so nahe dem Ende sind, möchten Sie ge-
wiß gerne hören, wie wir psychoanalytisch eine Wahnidee erklären.
Aber ich habe Ihnen dazu weniger zu sagen, als Sie erwarten. Die
Unangreifbarkeit der Wahnidee durch logische Argumente und
reale Erfahrungen erklärt sich ebenso wie die eines Zwanges durch
die Beziehung zum Unbewußten, welches durch die Wahnidee oder
Zwangsidee repräsentiert und niedergehalten wird. Der Unterschied
zwischen beiden ist in der verschiedenen Topik und Dynamik der
beiden Affektionen begründet.
XXVI. Die Libidotheorie und der Narzißmus 443
Wie bei der Paranoia, so haben wir auch bei der Melancholie, von
der übrigens sehr verschiedene klinische Formen beschrieben werden,
eine Stelle gefunden, an welcher ein Einblick in die innere Struktur
der Affektion möglich wird. Wir haben erkannt, daß die Selbstvor-
würfe, mit denen sich diese Melancholiker in der erbarmungslosesten
Weise quälen, eigentlich einer anderen Person gelten, dem Sexual-
objekt, welches sie verloren haben, oder das ihnen durch seine Schuld
entwertet worden ist. Daraus konnten wir schließen, der Melan-
choliker habe zwar seine Libido von dem Objekt zurückgezogen,
aber durch einen Vorgang, den man „narzißtische Identifizierung“
heißen muß, sei das Objekt im Ich selbst errichtet, gleichsam auf
das Ich projiziert worden. Ich kann Ihnen hier nur eine bildliche
Schilderung, nicht eine topisch-dynamisch geordnete Beschreibung
geben. Nun wird das eigene Ich wie das aufgegebene Objekt be-
handelt und erleidet alle die Aggressionen und Äußerungen der Rach-
sucht, die dem Objekt zugedacht waren. Auch die Selbstmordneigung
der Melancholiker wird durch die Erwägung begreiflicher, daß die
Frbitterung des Kranken mit demselben Schlage das eigene Ich wie
das geliebtgehaßte Objekt trifft. Bei der Melancholie wie bei anderen
narzißtischen Affektionen kommt in sehr ausgeprägter Weise ein
Zug des Gefühlslebens zum Vorschein, den wir seit Bleuler als Am-
bivalenz zu bezeichnen gewohnt sind. Wir meinen damit die Rich-
tung entgegengesetzter, zärtlicher und feindseliger, Gefühle gegen
dieselbe Person. Ich bin im Verlaufe dieser Besprechungen leider
nicht in die Lage gekommen, Ihnen mehr von der Gefühlsambiva-
lenz zu erzählen. Bihs;
Außer der narzißtischen Indentifizierung gibt es eine hysterische;
die uns seit sehr viel längerer Zeit bekannt ist. Ich wollte, es wäre
schon möglich, Ihnen die Verschiedenheiten der beiden durch einige
klargestellte Bestimmungen zu erläutern. Von den periodischen und
zyklischen Formen der Melancholie kann ich Ihnen etwas mitteilen,
was Sie gewiß gerne hören werden. Es ist nämlich unter günstigen
Umständen möglich — ich habe die Erfahrung zweimal gemacht —,
444 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
durch analytische Behandlung in den freien Zwischenzeiten der Wieder-
kehr des Zustandes in der gleichen oder entgegengesetzten Stimmungs-
lage vorzubeugen. Man erfährt dabei, daß es sich auch bei der Me-
lancholie und Manie um eine besondere Art der Erledigung eines
Konfliktes handelt, dessen Voraussetzungen durchaus mit denen der
anderen Neurosen übereinstimmen. Sie können sich denken, wieviel
es auf diesem Gebiete noch für die Psychoanalyse zu erfahren gibt.
Ich sagte Ihnen auch, daß wir durch die Analyse der narzißtischen
Affektionen eine Kenntnis von der Zusammensetzung unseres Ichs und
seinem Aufbau aus Instanzen zu gewinnen hoffen. An einer Stelle
haben wir den Anfang dazu gemacht. Aus der Analyse des Beobach-
tungswahnes haben wir den Schluß gezogen, daß es im Ich wirklich
eine Instanz gibt, die unausgesetzt beobachtet, kritisiert und vergleicht
und sich solcherart dem anderen Anteil des Ichs entgegenstellt. Wir
meinen also, daß der Kranke uns eine noch nicht genug gewürdigte
Wahrheit verrät, wenn er sich beklagt, daß jeder seiner Schritte aus-
gespäht und beobachtet, jeder seiner Gedanken gemeldet und kritisiert
wird. Er irrt nur darin, daß er diese unbequeme Macht als etwas ihm
Fremdes nach außen verlegt. Er verspürt das Walten einer Instanz
in seinem Ich, welche sein aktuelles Ich und jede seiner Betätigungen
an einem Ideal-Ich mißt, das er sich im Laufe seiner Entwicklung
geschaffen hat. Wir meinen auch, diese Schöpfung geschah in der
Absicht, jene Selbstzufriedenheit wiederherzustellen, die mit dem pri-
mären infantilen Narziömus verbunden war, die aber seither so viel
Störungen und Kränkungen erfahren hat. Die selbstbeobachtende In-
stanz kennen wir als den Ichzensor, das Gewissen; sie ist dieselbe, die
nächtlicherweile die Traumzensur ausübt, von der die Verdrängungen
gegen unzulässige Wunschregungen ausgehen. Wenn sie beim Be-
obachtungswahn zerfällt, so deckt sie uns dabei ihre Herkunft auf
aus den Einflüssen von Eltern, Erziehern und sozialer Umgebung,
aus der Identifizierung mit einzelnen dieser vorbildlichen Personen.
Dies wären einige der Ergebnisse, welche uns die Anwendung der
Psychoanalyse auf die narzißtischen Affektionen bisher geliefert hat.
XXVI. Die Libidotheorie und der Narzißmus 445
Es sind gewiß noch zu wenige, und sie entbehren oft noch jener Schärfe,
die erst durch sichere Vertrautheit auf einem neuen Gebiete erreicht
werden kann. Wir verdanken sie alle der Ausnützung des Begriffes
der Ichlibido oder narzißtischen Libido, mit dessen Hilfe wir die Auf-
fassungen, die sich bei den Übertragungsneurosen bewährt haben, auf
die narzißtischen Neurosen erstrecken. Nun werden Sie aber die Frage
stellen: ist es möglich, daß es uns gelingt, alle Störungen der narziß-
tischen Affektionen und der Psychosen der Libidotheorie unterzuord-
nen, daß wir überall den libidinösen Faktor des Seelenlebens als den
an der Erkrankung schuldigen erkennen und niemals eine Abänderung
in der Funktion der Selbsterhaltungstriebe verantwortlich zu machen
brauchen? Nun, meine Damen und Herren, diese Entscheidung scheint
mir nicht dringlich und vor allem nicht spruchreif zu sein. Wir können
sie ruhig dem Fortschritt der wissenschaftlichen Arbeit überlassen.
Ich würde mich nicht verwundern, wenn sich das Vermögen der pa-
thogenen Wirkung wirklich als ein Vorrecht der libidinösen Triebe
herausstellte, so daß die Libidotheorie auf der ganzen Linie von den
einfachsten Aktualneurosen bis zur schwersten psychotischen Ent-
fremdung des Individuums ihren Triumph feiern könnte. Kennen
wir es doch als charakteristischen Zug der Libido, daß sie der Unter-
ordnung unter die Realität der Welt, die Ananke, widerstrebt. Aber
ich halte es für überaus wahrscheinlich, daß die Ichtriebe durch die
pathogenen Anregungen der Libido sekundär mitgerissen und zur
Funktionsstörung genötigt werden. Und ich kann kein Scheitern un-
serer Forschungsrichtung darin erblicken, wenn uns die Erkenntnis
bevorsteht, daß bei den schweren Psychosen die Ichtriebe selbst in
primärer Weise irregeführt werden; die Zukunft wird es, Sie wenig-
stens, lehren. Lassen Sie mich aber noch für einen Moment zur Angst
zurückkehren, um eine letzte Dunkelheit, die wir dort gelassen haben,
zu erleuchten. Wir sagten, es stimme uns nicht zu der sonst so gut
erkannten Beziehung zwischen Angst und Libido, daß die Realangst
angesichts einer Gefahr die Äußerung der Selbsterhaltungstriebe sein
sollte, was sich aber doch kaum bestreiten läßt. Wie wäre es aber,
4.4.6 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
wenn der Angstaffekt nicht von den egoistischen Ichtrieben, sondern
von der Ichlibido bestritten würde? Der Angstzustand ist doch auf
alle Fälle unzweckmäßig, und seine Unzweckmäßigkeit wird offen-
kundig, wenn er einen höheren Grad erreicht. Er stört dann die Ak-
tion, sei es der Flucht oder der Abwehr, die allein zweckmäßig ist
und der Selbsterhaltung dient. Wenn wir also den affektiven Anteil |
der Realangst der Ichlibido, die Aktion dabei dem Icherhaltungstrieb
zuschreiben, haben wir jede theoretische Schwierigkeit beseitigt. Sie
werden übrigens doch nicht im Ernst glauben, daß man sich flüchtet,
weil man Angst verspürt? Nein, man verspürt die Angst und man
ergreift die Flucht aus dem gemeinsamen Motiv, das durch die Wahr-
‘nehmung der Gefahr geweckt wird. Menschen, die große Lebens-
gefahren bestanden haben, erzählen, sie haben sich gar nicht geäng-
stigt, bloß gehandelt, z. B. das Gewehr auf das Raubtier angelegt, und
das war gewiß das Zweckmäßigste.
XXVIL. VORLESUNG
DIE ÜBERTRAGUNG
Meine Damen und Herren! Da wir uns jetzt dem Abschluß unserer
Besprechungen nähern, wird eine bestimmte Erwartung bei Ihnen
rege werden, die Sie nicht irreführen soll. Sie denken es sich wohl,
daß ich Sie nicht durch Dick und Dünn des psychoanalytischen Stoffes
geführt habe, um Sie am Ende zu entlassen, ohne Ihnen ein Wort
von der Therapie zu sagen, auf welcher doch die Möglichkeit beruht,
überhaupt Psychoanalyse zu treiben. Ich kann Ihnen dieses Thema
auch unmöglich vorenthalten, denn dabei sollen Sie aus der Beobach-
tung eine neue Tatsache kennenlernen, ohne welche das Verständnis
der von uns untersuchten Erkrankungen in fühlbarster Weise unvoll-
ständig bliebe. |
Ich weiß, Sie erwarten keine Anleitung in der Technik, wie man _
die Analyse zu therapeutischen Zwecken ausüben soll. Sie wollen nur
im allgemeinsten wissen, auf welchem Wege die psychoanalytische
T'herapie wirkt und was sie ungefähr leistet. Und das zu erfahren,
haben Sie ein unbestreitbares Recht. Ich will es Ihnen aber. nicht
mitteilen, sondern bestehe darauf, daß Sie es selbst erraten.
Denken Sie nach! Sie haben alles Wesentliche von den Bedingungen
der Erkrankung sowie alle die Faktoren, die bei der erkrankten Per-
son zur Geltung kommen, kennengelernt. Wo bleibt da ein Raum
für eine therapeutische Einwirkung? Da ist zunächst die hereditäre
Disposition; — wir kommen nicht oft auf sie zu sprechen, weil sie
448 Vorlesungen zur Einfiihrung in die Psychoanalyse
von anderer Seite energisch betont wird und wir nichts Neues zu ihr
zu sagen haben. Aber glauben Sie nicht, daß wir sie unterschätzen;
gerade als Therapeuten bekommen wir ihre Macht deutlich genug
zu spüren. Jedenfalls können wir nichts an ihr ändern; sie bleibt auch
für uns etwas Gegebenes, was unserer Bemühung Schranken setzt.
Dann der Einfluß der frühen Kindererlebnisse, den wir in der Ana-
lyse voranzustellen gewohnt sind; sie gehören der Vergangenheit an,
wir können sie nicht ungeschehen machen. Dann all das, was wir
als die „reale Versagung“ zusammengefaßt haben, als das Unglück
des Lebens, aus dem die Entbehrung an Liebe hervorgeht, die Armut,
der Familienzwist, das Ungeschick in der Ehewahl, die Ungunst der
sozialen Verhältnisse und die Strenge der sittlichen Anforderungen,
unter deren Druck eine Person steht. Da wären freilich Handhaben
genug für eine sehr wirksame 'Therapie, aber es müßte eine T'hera-
pie sein, wie sie nach der Wiener Volkssage Kaiser Josef geübt hat,
das wohltätige Eingreifen eines Mächtigen, vor dessen Willen Men-
schen sich beugen und Schwierigkeiten verschwinden. Aber wer sınd
wir, daß wirsolches Wohltun als Mittel in unsere Therapie aufnehmen
könnten? Selbst arm und gesellschaftlich ohnmächtig, genötigt von
unserer ärztlichen Tätigkeit unseren Unterhalt zu bestreiten, sind wir
nicht einmal in der Lage, unsere Bemühung auch dem Mittellosen
zuzuwenden, wie es doch andere Ärzte bei anderen Behandlungs-
methoden können. Unsere "Therapie ist dafür zu zeitraubend und zu
langwierig. Aber vielleicht klammern Sie sich an eines der angeführ-
ten Momente und glauben dort den Angriffspunkt für unsere Beein-
flussung gefunden zu haben. Wenn die sittliche Beschränkung, die
von der Gesellschaft gefordert wird, ihren Anteil an der dem Kranken
auferlegten Entbehrung hat, so kann ihm ja die Behandlung den Mut
oder direkt die Anweisung geben, sich über diese Schranken hinaus-
zusetzen, sich Befriedigung und Genesung zu holen unter Verzicht
auf die Erfüllung eines von der Gesellschaft hochgehaltenen, doch so
oft nicht eingehaltenen Ideals. Man wird also dadurch gesund, daß
man sich sexuell „auslebt“. Allerdings fällt dabei auf die analytische
"XXVI. Die Übertragung PRREENF EU A:
Behandlung der Schatten, daß sie nicht der allgemeinen Sittlichkeit
dient. Was sie dem Einzelnen zuwendet, hat sie der aaa
entzogen. |
Aber, meine Damen und Herren, wer hat Sie denn. so falsch be-
richtet? Es ist nicht die Rede davon, daß der Rat, sich sexuell aus-
zuleben, in der analytischen Therapie eine Rolle spielen könnte. Schon
darum nicht, weil wir selbst verkündet haben, bei den Kranken be-
stehe ein hartnäckiger Konflikt zwischen der libidinösen Regung und
der Sexualverdrängung, zwischen der sinnlichen und der asketischen
Richtung. Dieser Konflikt wird dadurch nicht aufgehoben, daß man
einer dieser Richtungen zum Sieg über die gegnerische verhilft. Wir
‚sehen es ja, daß beim Nervösen die Askese die Oberhand behalten
hat. Die Folge davon ist gerade, daß sich die unterdrückte Sexual-
strebung in Symptomen Luft schafft. Wenn wir jetzt im Gegenteil
der Sinnlichkeit den Sieg verschaffen würden, so müßte sich die bei-
seite geschobene Sexualverdrängung durch Symptome ersetzen. Keine
der beiden Entscheidungen kann den inneren Konflikt beenden, jedes-
mal bliebe ein Anteil unbefriedigt. Es gibt nur wenige Fälle, in denen
der Konflikt so labil ist, daß ein Moment wie die Parteinahme des
Arztes den Ausschlag geben kann, und diese Fälle bedürfen eigentlich
keiner analytischen Behandlung. Personen; bei welchen dem Arzt ein
solcher Einfluß zufallen kann, hätten denselben Weg auch öhne den
Arzt gefunden. Sie wissen doch, wenn ein abstinenter junger Mann
sich zum illegitimen Sexualverkehr entschließt oder eine unbefriedigte
Frau. bei einem anderen Manne Entschädigung sucht, so haben: sie
in der Regel nicht auf die eanbs eines Arztes oder gar des Ana-
lytikers gewartet. | |
Man übersieht an dieser Sachlage gewöhnlich den einen wesent-
lichen Punkt, daß der pathogene Konflikt der Neurotiker nicht mit
einem normalen Kampf seelischer Regungen, die auf demselben psy-
chologischen Boden stehen, zu verwechseln ist. Es ist ein Widerstreit
zwischen Mächten, von. denen die eine es zur Stufe des Vorbewußten
und Bewußten gebracht hat, die andere auf der Stufe des Unbewußten
Freud, VI. | 29
450 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
zurückgehalten worden ist. Darum kann der Konflikt zu keinem Aus-
trag gebracht werden; die Streitenden kommen so wenig zueinander
wie in dem bekannten Beispiel der Eisbär und der Walfisch. Eine
wirkliche Entscheidung kann erst fallen, wenn sich die beiden auf
demselben Boden treffen. Ich denke, dies zu ermöglichen, ist die eim-
zige Aufgabe der Therapie.
Und überdies kann ich Ihnen versichern, daß Sie falsch berichtet
sind, wenn Sie annehmen, Rat und Leitung in den Angelegenheiten
des Lebens sei ein integrierendes Stück der analytischen Beeinflussung.
Im Gegenteil, wir lehnen eine solche Mentorrolle nach Möglichkeit
ab, wollen nichts lieber erreichen, als daß der Kranke selbständig seine
Entscheidungen treffe. In dieser Absicht fordern wir auch, daß er alle
lebenswichtigen Entschlüsse über Berufswahl, wirtschaftliche Unter-
nehmungen, Eheschließung oder Trennung über die Dauer der Be-
handlung zurückstelle und erst nach Beendigung derselben zur Aus-
führung bringe. Gestehen Sie nur, das ist alles anders, als Sie es sich
vorgestellt haben. Nur bei gewissen sehr jugendlichen oder ganz hilf-
und haltlosen Personen können wir die gewollte Beschränkung nicht
durchsetzen. Bei ihnen müssen wir die Leistung des Arztes mit der
des Erziehers kombinieren; wir sind uns dann unserer Verantwortung
wohl bewußt und benehmen uns mit der notwendigen Vorsicht.
Aus dem Eifer, mit dem ich mich gegen den Vorwurf verteidige,
daB der Nervöse in der analytischen Kur zum Sichausleben angeleitet
wird, dürfen Sie aber nicht den Schluß ziehen, daß wir zu Gunsten
der gesellschaftlichen Sittsamkeit auf ihn wirken. Das liegt uns zum
mindesten ebenso ferne. Wir sind zwar keine Reformer, sondern bloß
Beobachter, aber wir können nicht umhin, mit kritischen Augen zu
beobachten, und haben es unmöglich gefunden, für die konventionelle
Sexualmoral Partei zu nehmen, die Art, wie die Gesellschaft die Pro-
bleme des Sexuallebens praktisch zu ordnen versucht, hoch einzu-
schätzen. Wir können es der Gesellschaft glatt vorrechnen, daß das,
was sie ihre Sittlichkeit heißt, mehr Opfer kostet, als es wert ist, und
daß ihr Verfahren weder auf Wahrhaftigkeit beruht noch von Klugheit
XXVII. Die Übertragung 451
zeugt. Wir ersparen es unseren Patienten nicht, diese Kritik mitanzu-
hören, wir gewöhnen sie an vorurteilsfreie Erwägung der sexuellen
Angelegenheiten wie aller anderen, und wenn sie, nach Vollendung
ihrer Kur selbständig geworden, sich aus eigenem Ermessen zu irgend
einer mittleren Position zwischen dem vollen Ausleben und der un-
bedingten Askese entschließen, fühlen wir unser Gewissen durch
keinen dieser Ausgänge belastet. Wir sagen uns, wer die Erziehung
zur Wahrheit gegen sich selbst mit Erfolg durchgemacht hat, der ist
gegen die Gefahr der Unsittlichkeit dauernd geschützt, mag sein Maß-
stab der Sittlichkeit auch von dem in der Gesellschaft gebräuchlichen
irgendwie abweichen. Übrigens, hüten wir uns davor, die Bedeutung
der Abstinenzfrage für die Beeinflussung der Neurosen zu überschätzen.
Nur in einer Minderzahl kann der pathogenen Situation der Ver-
sagung mit darauffolgender Libidostauung durch die Art von Sexual-
verkehr ein Ende gemacht werden, die mit geringer Mühe zu er-
reichen ist.
Durch die Gestattung des sexuellen Auslebens können Sie also
die therapeutische Wirkung der Psychoanalyse nicht erklären. Sehen
Sie sich nach anderem um. Ich denke, während ich diese Ihre Mut-
maßung abwies, hat eine Bemerkung von mir Sie auf die richtige
Spur geführt. Es muß wohl die Ersetzung des Unbewußten durch
Bewußtes, die Übersetzung des Unbewußten in Bewußtes sein, wo-
durch wir nützen. Richtig, das ist es auch. Indem wir das Unbewußte
zum Bewußten fortsetzen, heben wir die Verdrängungen auf, be-
seitigen wir die Bedingungen für die Symptombildung, verwandeln
wir den pathogenen Konflikt in einen normalen, der irgendwie eine
Entscheidung finden muß. Nichts anderes als diese eine psychische
Veränderung rufen wir beim Kranken hervor: so weit diese reicht, so
weit trägt unsere Hilfeleistung. Wo keine Verdrängung oder ein ihr
analoger psychischer Vorgang rückgängig zu machen ist, da hat auch
unsere Therapie nichts zu suchen.
Wir können das Ziel unserer Bemühung in verschiedenen Formeln
ausdrücken: Bewußtmachen des Unbewußten, Aufhebung der Ver-
20*
452 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
drängungen, Ausfüllung der amnestischen Lücken, das kommt alles
auf das gleiche hinaus. Aber vielleicht werden Sie von diesem Be-
kenntnis unbefriedigt sein. Sie haben sich unter dem Gesundwerden
eines Nervösen etwas anderes vorgestellt, daß er ein anderer Mensch
werde, nachdem er sich der mühseligen Arbeit einer Psychoanalyse
unterzogen hat, und dann soll das ganze Ergebnis sein, daß er etwas
weniger Unbewußtes und etwas mehr Bewußtes in sich hat als vor-
her. Nun Sie unterschätzen wahrscheinlich die Bedeutung einer sol-
chen inneren Veränderung. Der geheilte Nervöse ist wirklich ein
anderer Mensch geworden, im Grunde ist er aber natürlich derselbe
geblieben, d. h. er ist so geworden, wie er bestenfalls unter den gün-
stigsten Bedingungen hätte werden können. Aber das ist sehr viel.
Wenn Sie dann hören, was man alles tun muß und welcher Anstren-
gung es bedarf, um jene anscheinend geringfügige Veränderung in
seinem Seelenleben durchzusetzen, wird Ihnen die Bedeutung eines
solchen Unterschiedes im psychischen Niveau wohl glaubhaft er-
scheinen. |
Ich schweife für einen Augenblick ab, um zu fragen, ob Sie wissen,
was man eine kausale Therapie nennt? So heißt man nämlich ein
Verfahren, welches nicht die Krankheitserscheinungen zum Angrifis-
punkt nimmt, sondern sich. die Beseitigung der Krankheitsursachen
vorsetzt. Ist nun unsere psychoanalytische eine kausale Therapie oder
nicht? Die Antwort ist nicht einfach, gibt aber vielleicht Gelegen-
heit, uns von dem Unvwert einer solchen Fragestellung zu überzeugen.
Insoferne .die analytische Therapie sich nicht die Beseitigung der
Symptome zur nächsten Aufgabe setzt, benimmt sie sich wie eine
kausale. In anderer Hinsicht können Sie sagen, sie sei es nicht. Wir
haben nämlich die Kausalverkettung längst über die Verdrängungen
hinaus verfolgt bis zu den Triebanlagen, deren relativen Intensitäten
in der Konstitution und den Abweichungen ihres Entwicklungsganges.
Nehmen Sie nun an, es wäre uns etwa auf chemischem Wege mög-
lich, in dies Getriebe einzugreifen, die Quantität der jeweils vorhan-
denen Libido zu erhöhen oder herabzusetzen oder den einen Trieb
XXVII. Die Übertragung - 453
auf Kosten eines anderen zu verstärken, so wäre dies eine im eigent-
lichen Sinne kausale Therapie, für welche unsere Analyse die unent-
behrliche Vorarbeit der Rekognoszierung geleistet hätte. Von solcher
Beeinflussung der Libidovorgänge ist derzeit, wie Sie wissen, keine
Rede; mit unserer psychischen Therapie greifen wir an einer anderen
Stelle des Zusammenhanges an, nicht gerade an den uns ersicht-
lichen Wurzeln der Phänomene, aber doch weit genug weg von den
Symptomen, an einer Stelle, die uns durch sehr merkwürdige Ver-
hältnisse zugänglich geworden ist.
Was müssen wir also tun, um das Unbewußte bei unserem Patien-
ten durch Bewußtes zu ersetzen? Wir haben einmal gemeint, das
ginge ganz einfach, wir brauchten nur dies Unbewußte zu erraten
und es ihm vorzusagen. Aber wir wissen schon, das war ein kurz-
sichtiger Irrtum. Unser Wissen um das Unbewußte ist nicht gleich-
wertig mit seinem Wissen; wenn wir ihm unser Wissen mitteilen,
so hat er esnicht an Stelle seines Unbewußten, sondern neben dem-
selben, und es ist sehr wenig geändert. Wir müssen uns vielmehr
dieses Unbewußte topisch vorstellen, müssen es in seiner Erinne-
rung dort aufsuchen, wo es durch eine Verdrängung zustande ge-
kommen ist. Diese Verdrängung ist zu beseitigen, dann kann sich der
Ersatz des Unbewußten durch Bewußtes glatt vollziehen. Wie hebt
man nun eine solche Verdrängung auf? Unsere Aufgabe tritt hier in
eine zweite Phase. Zuerst das Aufsuchen der Verdrängung, dann die
Beseitigung des Widerstandes, welcher diese Verdrängung aufrecht hält.
Wie schafft man den Widerstand weg? In der nämlichen Weise:
indem man ihn errät und dem Patienten vorhält. Der Widerstand
stammt ja auch aus einer Verdrängung, aus der nämlichen, die wir
zu lösen suchen, oder aus einer früher vorgefallenen. Er wird ja von
der Gegenbesetzung hergestellt, die sich zur Verdrängung der an-
stößigen Regung erhob. Wir tun also jetzt dasselbe, was wir schon
anfangs tun wollten, deuten, erraten und es mitteilen; aber wir tun
es jetzt an der richtigen Stelle. Die Gegenbesetzung oder der Wider-
stand gehört nicht dem Unbewußten, sondern dem Ich an, welches
454 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
unser Mitarbeiter ist, und dies, selbst wenn sie nicht bewußt sein
sollte. Wir wissen, es handelt sich hier um den Doppelsinn des Wortes
„unbewußt“, einerseits als Phänomen, anderseits als System. Das
scheint sehr schwierig und dunkel; aber nicht wahr, es ist doch nur
Wiederholung? Wir sind längst darauf vorbereitet. — Wir erwarten,
daß dieser Widerstand aufgegeben, die Gegenbesetzung eingezogen
werden wird, wenn wir dem Ich die Erkenntnis desselben durch
unsere Deutung ermöglicht haben. Mit welchen Triebkräften arbeiten
wir denn in einem solchen Falle? Erstens mit dem Streben des Patien-
ten gesund zu werden, das ihn bewogen hat, sich in die gemeinschaft-
liche Arbeit mit uns zu fügen, und zweitens mit der Hilfe seiner In-
telligenz, welche wir durch unsere Deutung unterstützen. Es ist kein
Zweifel, daß die Intelligenz des Kranken es leichter hat, den Wider-
stand zu erkennen und die dem Verdrängten entsprechende Über-
setzung zu finden, wenn wir ihr die dazu passenden Erwartungsvor-
stellungen gegeben haben. Wenn ich Ihnen sage: schauen Sie auf
den Himmel, da ist ein Luftballon zu sehen, so werden Sie ihn auch
viel leichter finden, als wenn ich Sie bloß auffordere hinaufzuschauen,
ob Sie irgend etwas entdecken. Auch der Student, der die ersten Male
ins Mikroskop guckt, wird vom Lehrer unterrichtet, was er sehen
soll, sonst sieht er es überhaupt nicht, obwohl es da und sichtbar ist.
Und nun die Tatsache. Bei einer ganzen Anzahl von Formen ner-
vöser Erkrankung, bei den Hysterien, Angstzuständen, Zwangsneu-
rosen trifft unsere Voraussetzung zu. Durch solches Aufsuchen der
Verdrängung, Aufdecken der Widerstände, Andeuten des Verdrängten
gelingt es wirklich, die Aufgabe zu lösen, also die Widerstände zu
überwinden, die Verdrängung aufzuheben und das Unbewußte in
Bewußtes zu verwandeln. Dabei gewinnen wir den klarsten Eindruck
davon, wie sich um die Überwindung eines jeden Widerstandes ein
heftiger Kampf in der Seele des Patienten abspielt, ein normaler
Seelenkampf auf gleichem psychologischen Boden zwischen den Mo-
tiven, welche die Gegenbesetzung aufrechthalten wollen, und denen,
die bereit sind, sie aufzugeben. Die ersteren sind die alten Motive, die
XXVII. Die Übertragung 455
seinerzeit die Verdrängung durchgesetzt haben; unter den letzteren
befinden sich die neu hinzugekommenen, die hoffentlich den Konflikt
in unserem Sinne entscheiden werden. Es ist uns gelungen, den alten
Verdrängungskonflikt wieder aufzufrischen, den damals erledigten
Prozeß zur Revision zu bringen. Als neues Material bringen wir
erstens hinzu die Mahnung, daß die frühere Entscheidung zur Krank-
heit geführt hat, und das Versprechen, daß eine andere den Weg zur
Genesung bahnen wird, zweitens die großartige Veränderung aller
Verhältnisse seit dem Zeitpunkt jener ersten Abweisung. Damals war
das Ich schwächlich, infantil, und hatte vielleicht Grund, die Libido-
forderung als Gefahr zu ächten. Heute ist es erstarkt und erfahren
und hat überdies in dem Arzt einen Helfer zur Seite. So dürfen wir
erwarten, den aufgefrischten Konflikt zu einem besseren Ausgang als
dem in Verdrängung zu leiten, und wie gesagt, bei den Hysterien,
Angst- und Zwangsneurosen gibt der Erfolg uns prinzipiell recht.
Nun gibt es aber andere Krankheitsformen, bei denen trotz der
Gleichheit der Verhältnisse unser therapeutisches Vorgehen niemals
Erfolg bringt. Es hat sich auch bei ihnen um einen ursprünglichen
Konflikt zwischen dem Ich und der Libido gehandelt, der zur Ver-
drängung geführt hat — mag diese auch topisch anders zu charakteri-
sieren sein —, es ist auch hier möglich, die Stellen aufzuspüren, an
denen im Leben des Kranken die Verdrängungen vorgefallen sind, wir
wenden das nämliche Verfahren an, sind zu denselben Versprechungen
bereit, leisten dieselbe Hilfe durch Mitteilung von Erwartungsvor-
stellungen, und wiederum läuft die Zeitdifferenz zwischen der Gegen-
wart und jenen Verdrängungen zu Gunsten eines anderen Ausganges
des Konflikts. Und doch gelingt es uns nicht, einen Widerstand auf-
zuheben oder eine Verdrängung zu beseitigen. Diese Patienten, Para-
noiker, Melancholiker, mit Dementia paraecox Behaftete, bleiben im
ganzen ungerührt und gegen die psychoanalytische Therapie gefeit.
Woher kann das kommen? Nicht von dem Mangel an Intelligenz;
ein gewisses Maß von intellektueller Leistungsfähigkeit wird bei
unseren Patienten natürlich erforderlich sein, aber daran fehlt es z. B.
456 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
den so scharfsinnig’kombinierenden Paranoikern sicherlich nicht. Auch
von den anderen Triebkräften können wir keine vermissen. Die Melan-
choliker z.B. haben das Bewußtsein, krank zu sein und darum so schwer
zu leiden, das den Paranoikern abgeht, in sehr hohem Maße, aber sie
sind darum nicht zugänglicher. Wir stehen hier vor einer Tatsache,
die wir nicht verstehen, und die uns darum auch zweifeln heißt, ob
wir den möglichen Erfolg bei den anderen Neurosen wirklich in all
seinen Bedingungen verstanden haben.
Bleiben wir bei der Beschäftigung mit ünseren Hysterikern und
Zwangsneurotikern, so tritt uns alsbald eine zweite Tatsache entgegen,
auf die wir in keiner Weise vorbereitet waren. Nach einer. Weile
müssen wir nämlich bemerken, daß diese Kranken sich gegen uns in
ganz besonderer Art benehmen. Wir glaubten ja, uns von allen bei
der Kur in Betracht kommenden Triebkräften Rechenschaft gegeben
zu haben, die Situation zwischen uns und dem Patienten voll ratio-
nalisiert zu haben, so daß sie sich übersehen läßt wie ein Rechen-
exempel, und dann scheint sich doch etwas einzuschleichen, was
in dieser Rechnung nicht in Anschlag gebracht worden ist. Dieses
unerwartete Neue ist selbst vielgestaltig, ich werde zunächst die
häufigere und leichter verständliche seiner Erscheinungsformen be-
schreiben. at oil, | |
Wir bemerken also, daß der Patient, der nichts anderes suchen soll
als einen Ausweg aus seinen Leidenskonflikten, ein besonderes Interesse
für die Person des Arztes entwickelt. Alles, was mit dieser Person
zusammenhängt, scheint ihm bedeutungsvoller zu sein als seine eigenen
Angelegenheiten und ihn von seinem Kranksein abzulenken. Der
Verkehr mit ihm gestaltet sich demnach für eine Weile sehr an-
genehm; er ist besonders verbindlich, sucht sich, wo er kann, dank-
bar zu erweisen, zeigt Feinheiten und Vorzüge seines Wesens, die
wir vielleicht nicht bei ihm gesucht hätten. Der Arzt faßt dann auch
eine günstige Meinung vom Patienten und preist den Zufall, der ihm
gestattet hat, gerade einer besonders wertvollen Persönlichkeit Hilfe
zu leisten. Hat der Arzt Gelegenheit, mit Angehörigen des Patienten
XXVII. Die Übertragung 457
zu sprechen, so hört er mit Vergnügen, daß dies Gefallen gegenseitig
ist. Der Patient wird zu Hause nicht müde, den Arzt zu loben, immer
neue Vorzüge an ihm zu rühmen. „Er schwärmt für Sie, er vertraut
Ihnen blind; alles, was Sie sagen, ist für ihn wie eine Offenbarung,“
erzählen die Angehörigen. Hie und da sieht einer aus diesem Chorus
schärfer und äußert: Es wird schon langweilig, wie er von nichts
anderem spricht als von Ihnen und immer nur Sie im Munde führt.
Wir wollen hoffen, daß der Arzt bescheiden genug ist, diese
Schätzung seiner Persönlichkeit durch den Patienten auf die Hoff-
nungen zurückzuführen, die er ihm machen kann, und auf die Er-
weiterung, seines intellektuellen Horizonts durch die überraschenden
und befreienden Fröffnungen, die die Kur mit sich bringt. Die Analyse
macht unterdiesen Bedingungen auch prächtige Fortschritte, der Patient
versteht, was man ihm andeutet, vertieft sich in die Aufgaben, die ihm
von der Kur gestellt werden, das Material von Erinnerungen und
Einfällen strömt ihm reichlich zu, er überrascht den Arzt durch die
Sicherheit und Triftigkeit seiner Deutungen, und: dieser kann nur
mit Genugtuung feststellen, wie bereitwillig ein Kranker alle die
psychologischen Neuheiten aufnimmt, die bei den Gesunden in der
Welt draußen den erbittertsten Widerspruch zu erregen pflegen. Dem
guten Einvernehmen während der analytischen Arbeit entspricht
auch eine objektive, von allen Seiten anerkannte Besserung des
Krankheitszustandes.
So schönes Wetter kann es aber nicht immer geben. Eines Tages
trübt es sich. Es stellen sich Schwierigkeiten in der Behandlung ein;
der Patient behauptet, es falle ihm nichts mehr ein. Man hat den
deutlichsten Eindruck, daß sein Interesse nicht mehr bei der Arbeit
ist, und daß er sich leichten Sinnes über die ihm gegebene Vorschrift
hinaussetzt, alles zu sagen, was ihm durch den Sinn fährt, und keiner
kritischen Abhaltung dagegen nachzugeben. Er benimmt sich wie
außerhalb der Kur, so als ob er jenen Vertrag mit dem Arzt nicht
abgeschlossen hätte; er ist offenbar von etwas eingenommen, was er
aber für sich behalten will. Das ist eine für die Behandlung gefähr-
458 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
liche Situation. Man steht unverkennbar vor einem gewaltigen Wider-
stand. Aber was ist da vorgefallen?
Wenn man imstande ist, die Situation wieder zu klären, so erkennt
man als die Ursache der Störung, daß der Patient intensive zärtliche
Gefühle auf den Arzt übertragen hat, zu denen ihn weder das Be-
nehmen des Arztes noch die in der Kur entstandene Beziehung be-
rechtigt. In welcher Form sich diese Zärtlichkeit äußert und welche
Ziele sie anstrebt, das hängt natürlich von den persönlichen Verhält-
nissen der beiden Beteiligten ab. Handelt es sich um ein junges Mädchen
und einen jüngeren Mann, so werden wir den Eindruck einer normalen
Verliebtheit bekommen, werden es begreiflich finden, daß sich ein
Mädchen in einen Mann verliebt, mit dem es viel allein sein und
Intimes besprechen kann, der ihm in der vorteilhaften Position des
überlegenen Helfers entgegentritt, und werden darüber wahrschein-
lich übersehen, daß bei dem neurotischen Mädchen eher eine Störung
der Liebesfähigkeit zu erwarten wäre. Je weiter sich dann die persön-
lichen Verhältnisse von Arzt und Patient von diesem angenommenen
Fall entfernen, desto mehr wird es uns befremden, wenn wir trotz-
dem immer wieder dieselbe Gefühlsbeziehung hergestellt finden. Es
mag noch angehen, wenn die junge, in der Ehe unglückliche Frau
von einer ernsten Leidenschaft für ihren selbst noch freien Arzt er-
faßt scheint, wenn sie bereit ist, die Scheidung ihrer Ehe anzustreben,
um ihm anzugehören, oder im Falle sozialer Hemmnisse selbst kein
Bedenken äußert, ein heimliches Liebesverhältnis mit ihm einzugehen.
Dergleichen kommt ja auch sonst außerhalb der Psychoanalyse vor.
Man hört nun aber unter diesen Umständen mit Erstaunen Äußerungen
von seiten der Frauen und Mädchen, welche eine ganz bestimmte
Stellungnahme zum therapeutischen Problem bekunden: sie hätten
immer gewußt, daß sie nur durch die Liebe gesund werden können,
und von Beginn der Behandlung an erwartet, daß ihnen durch diesen
Verkehr endlich geschenkt werde, was ihnen das Leben bisher vor-
enthalten. Nur dieser Hoffnung wegen hätten sie sich so viel Mühe
in der Kur gegeben und alle Schwierigkeiten der Mitteilung über-
XXVII. Die Übertragung 459
wunden. Wir werden für uns hinzusetzen: und alles, was sonst zu
glauben schwer fällt, so leicht verstanden. Aber ein solches Geständnis
überrascht uns; es wirft unsere Berechnungen über den Haufen. Könnte
es sein, daß wir den wichtigsten Posten aus unserem Ansatz weg-
gelassen haben? |
Und wirklich, je weiter wir in der Erfahrung kommen, desto
weniger können wir dieser für unsere Wissenschaftlichkeit beschä-
menden Korrektur widerstreben. Die ersten Male konnte man etwa
glauben, die analytische Kur sei auf eine Störung durch ein zufäl-
liges, d.h. nicht in ihrer Absicht liegendes und von ihr nicht her-
vorgerufenes Ereignis gestoßen. Aber wenn sich eine solche zärtliche
Bindung des Patienten an den Arzt regelmäßig bei jedem neuen
Falle wiederholt, wenn sie unter den ungünstigsten Bedingungen,
bei geradezu grotesken Mißverhältnissen immer wieder zum Vor-
schein kommt, auch bei der gealterten Frau, auch gegen den grau-
bärtigen Mann, auch dort, wo nach unserem Urteil keinerlei Ver-
lockungen bestehen, dann müssen wir doch die Idee eines störenden
Zufalles aufgeben und erkennen, daß es sich um ein Phänomen han-
delt, welches mit dem Wesen des Krankseins selbst im Innersten zu-
sammenhängt.
Die neue Tatsache, welche wir also widerstrebend anerkennen,
heißen wir die Übertragung. Wir meinen eine Übertragung von
Gefühlen auf die Person des Arztes, weil wir nicht glauben, daß die
Situation der Kur eine Entstehung solcher Gefühle rechtfertigen
könne. Vielmehr vermuten wir, daß die ganze Gefühlsbereitschaft
anderswoher stammt, in der Kranken vorbereitet war und bei der
Gelegenheit der analytischen Behandlung auf die Person des Arztes
übertragen wird. Die Übertragung kann als stürmische Liebesforde-
rung auftreten oder in gemäßigteren Formen; an Stelle des Wun-
sches, Geliebte zu sein, kann zwischen dem jungen Mädchen und
dem alten Mann der Wunsch auftauchen, als bevorzugte Tochter
angenommen zu werden, das libidinöse Streben kann sich zum Vor-
schlag einer unzertrennlichen, aber ideal unsinnlichen Freundschaft
460 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
mildern. Manche Frauen verstehen es, die Übertragung zu subli-
mieren und an ihr zu modeln, bis sie,eine Art von Existenzfähigkeit
gewinnt; andere müssen sie in ihrer rohen, ursprünglichen, zumeist
unmöglichen Gestalt äußern. Aber es ist im Grunde immer das
gleiche und läßt die Herkunft aus derselben Quelle nie verkennen.
Ehe wir uns fragen, wo wir die neue Tatsache der Übertragung
unterbringen wollen, wollen wir ihre Beschreibung vervollständigen.
Wie ist es denn bei männlichen Patienten? Da dürfte man doch
hoffen, der lästigen Einmengung der Geschlechtsverschiedenheit und
Geschlechtsanziehung zu entgehen. Nun, nicht viel anders als bei
weiblichen, muß die Antwort lauten. Dieselbe Bindung an den Arzt,
dieselbe Überschätzung seiner Eigenschaften, das nämliche Aufgehen
in dessen Interessen, die gleiche Eifersucht gegen alle, die ihm im
Leben nahestehen. Die sublimierten Formen der Übertragung sind
zwischen Mann und Mann in dem Maße häufiger und die direkte
Sexualforderung seltener, in welchem die manifeste Homosexualität
gegen die anderen Verwendungen dieser 'ITriebkomponente zurück-
tritt. Bei seinen männlichen Patienten beobachtet der Arzt auch
häufiger als bei Frauen eine Erscheinungsform der Übertragung,
welche auf den ersten Blick allem bisher Beschriebenen zu wider-
sprechen scheint, die feindselige oder negative Übertragung.
Machen wir uns zunächst klar, daß die Übertragung sich vom
Anfang der Behandlung an: beim Patienten ergibt und eine Weile
die stärkste Triebfeder der Arbeit darstellt. Man verspürt nichts von
ihr und braucht sich auch nicht um sie zu bekümmern, solange sie zu
Gunsten der gemeinsam betriebenen Analyse wirkt. Wandelt sie sich
dann zum Widerstand, so muß man ihr Aufmerksamkeit zuwenden
und erkennt, daß sie unter zwei verschiedenen und entgegengesetz-
ten Bedingungen ihr Verhältnis zur Kur geändert hat, erstens wenn
sie als zärtliche Neigung so stark geworden ist, so deutlich die Zeichen
ihrer Herkunft aus dem Sexualbedürfnis verraten hat, daß sie ein
inneres Widerstreben gegen sich wachrufen muß, und zweitens,
wenn sie aus feindseligen anstatt aus zärtlichen Regungen besteht.
+ XXVII. Die Übertragung 461
Die feindseligen Gefühle kommen in der Regel später als die zärt-
lichen und hinter ihnen zum Vorschein; in ihrem gleichzeitigen
Bestand ergeben sie eine gute Spiegelung der Gefühlsambivalenz,
welche in den meisten unserer intimen Beziehungen zu anderen
Menschen herrscht. Die feindlichen Gefühle bedeuten ebenso eine
Gefühlsbindung wie die zärtlichen, ebenso wie der Trotz dieselbe
Abhängigkeit bedeutet wie der Gehorsam, wenn auch mit entgegen-
gesetztem Vorzeichen. Daß die feindlichen Gefühle gegen den Arzt
den Namen einer „Übertragung“ verdienen, kann uns nicht zweifel-
haft sein, denn zu ihrer Entstehung gibt die Situation der Kur gewiß
keinen zureichenden Anlaß; die notwendige Auffassung; der nega-
tiven Übertragung versichert uns so, daß wir in der Beurteilung der
positiven oder zärtlichen nicht irregegangen sind. |
Woher die Übertragung stammt, welche Schwierigkeiten sie uns
bereitet, wie wir sie überwinden, und welchen Nutzen wir schließ-
lich aus ihr ziehen, das ist ausführlich in einer technischen Unter-
weisung zur Analyse zu behandeln und soll heute von mir nur ge-
streift werden. Es ist ausgeschlossen, daß wir den aus der Über-
tragung folgenden Forderungen des Patienten nachgeben, es wäre
widersinnig, sie unfreundlich oder gar entrüstet abzuweisen; wir
überwinden die Übertragung, indem wir dem Kranken nachweisen,
daß seine Gefühle nicht aus der gegenwärtigen Situation stammen
und nicht der Person des Arztes gelten, sondern daß sie wiederholen,
was bei ihm bereits früher einmal vorgefallen ist. Auf solche Weise
nötigen wir ihn, seine Wiederholung in Erinnerung zu verwandeln.
Dann wird die Übertragung, die, ob zärtlich oder feindselig, in jedem
Falle die stärkste Bedrohung der Kur zu bedeuten schien, zum besten
Werkzeug derselben, mit dessen Hilfe sich die‘ verschlossensten
Fächer des Seelenlebens eröffnen lassen. Ich möchte Ihnen aber
einige Worte sagen, um Sie von dem Befremden über das Auftreten
dieses unerwarteten Phänomens zu befreien. Wir wollen doch nicht
vergessen, daß die Krankheit des Patienten, den wir zur Analyse
übernehmen, nichts Abgeschlossenes, Erstarrtes ist, sondern weiter-
462 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
wächst und ihre Entwicklung fortsetzt wie ein lebendes Wesen. Der
Beginn der Behandlung macht dieser Entwicklung kein Ende, aber
wenn die Kur sich erst des Kranken bemächtigt hat, dann ergibt es
sich, daß die gesamte Neuproduktion der Krankheit sich auf eine
einzige Stelle wirft, nämlich auf das Verhältnis zum Arzt. Die Über-
tragung wird so der Cambiumschicht zwischen Holz und Rinde
eines Baumes vergleichbar, von welcher Gewebsneubildung und
Dickenwachstum des Stammes ausgehen. Hat sich die Übertragung
erst zu dieser Bedeutung aufgeschwungen, so tritt die Arbeit an den
Erinnerungen des Kranken weit zurück. Es ist dann nicht unrichtig
zu sagen, daß man es nicht mehr mit der früheren Krankheit des
Patienten zu tun hat, sondern mit einer neugeschaffenen und um-
geschaffenen Neurose, welche die erstere ersetzt. Diese Neuauflage
der alten Affektion hat man von Anfang an verfolgt, man hat sie
entstehen und wachsen gesehen und findet sich in ihr besonders gut
zurecht, weil man selbst als Objekt in ihrem Mittelpunkt steht. Alle
Symptome des Kranken haben ihre ursprüngliche Bedeutung auf-
gegeben und sich auf einen neuen Sinn eingerichtet, der in einer
Beziehung zur Übertragung besteht. Oder es sind nur solche Sym-
ptome bestehen geblieben, denen eine solche Umarbeitung gelingen
konnte. Die Bewältigung dieser neuen künstlichen Neurose fällt
aber zusammen mit der Erledigung der in die Kur mitgebrachten
Krankheit, mit der Lösung unserer therapeutischen Aufgabe. Der
Mensch, der im Verhältnis zum Arzt normal und frei von der Wir-
kung verdrängter Triebregungen geworden ist, bleibt auch so in
seinem Eigenleben, wenn der Arzt sich wieder ausgeschaltet hat.
Diese außerordentliche, für die Kur geradezu zentrale Bedeutung
hat die Übertragung bei den Hysterien, Angsthysterien und Zwangs-
neurosen, die darum mit Recht als „Übertragungsneurosen“
zusammengefaßt werden. Wer sich aus der analytischen Arbeit den
vollen Eindruck von der Tatsache der Übertragung geholt hat, der
kann nicht mehr bezweifeln, von welcher Art die unterdrückten
Regungen sind, die sich in den Symptomen dieser Neurosen Aus-
XXVII. Die Übertragung 463
druck verschaffen, und verlangt nach keinem kräftigeren Beweis für
deren libidinöse Natur. Wir dürfen sagen, unsere Überzeugung von
der Bedeutung der Symptome als libidinöse Ersatzbefriedigungen
ist erst durch die Einreihung der Übertragung endgültig gefestigt
worden.
Nun haben wir allen Grund, unsere frühere dynamische Auf-
fassung des Heilungsvorganges zu verbessern und sie mit der neuen
Einsicht in Einklang zu bringen. Wenn der Kranke den Normal-
konflikt mit den Widerständen durchzukämpfen hat, die wir ihm
in der Analyse aufgedeckt haben, so bedarf er eines mächtigen An-
triebes, der die Entscheidung in dem von uns gewünschten, zur
Genesung führenden Sinne beeinflußt. Sonst könnte es geschehen,
daß er sich für die Wiederholung des früheren Ausganges entscheidet
und das ins Bewußtsein Gehobene wieder in die Verdrängung gleiten
läßt. Den Ausschlag in diesem Kampfe gibt dann nicht seine intellek-
tuelle Einsicht — die ist weder stark noch frei genug für solche
Leistung —, sondern einzig sein Verhältnis zum Arzt. Soweit seine
Übertragung von positivem Vorzeichen ist, bekleidet sie den Arzt
mit Autorität, setzt sie sich in Glauben an seine Mitteilungen und
Auffassungen um. Ohne solche Übertragung, oder wenn sie negativ
ist, würde er den Arzt und dessen Argumente nicht einmal zu Gehör
kommen lassen. Der Glaube wiederholt dabei seine eigene Entste-
hungsgeschichte; er ist ein Abkömmling der Liebe und hat zuerst der
Argumente nicht bedurft. Erstspäter hat er ihnen so viel eingeräumt,
daß er sie in prüfende Betrachtung zieht, wenn sie von einer ihm
lieben Person vorgebracht werden. Argumente ohne solche Stütze
haben nicht gegolten, gelten bei den meisten Menschen niemals im
Leben etwas. Der Mensch ist also im allgemeinen auch von der
intellektuellen Seite her nur insoweit zugänglich, als er der libidi-
nösen Objektbesetzung fähig ist, und wir haben guten Grund, in
dem Ausmaß seines Narzißmus eine Schranke für seine Beeinfluß-
barkeit auch für die beste analytische Technik zu erkennen und zu
fürchten.
464 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Die Fähigkeit, libidinöse Objektbesetzungen auch auf Personen zu
richten, muß ja allen normalen Menschen zugesprochen werden.
Die Übertragungsneigung der genannten Neurotiker ist nur eine
außerordentliche Steigerung dieser allgemeinen Eigenschaft. Nun
wäre es doch sehr sonderbar, wenn ein menschlicher Charakterzug
von solcher Verbreitung und Bedeutung nie bemerkt und nie ver-
wertet worden wäre. Das ist auch wirklich geschehen. Bernheim
hat die Lehre von den hypnotischen Erscheinungen mit unbeirrtem
Scharfblick auf den Satz begründet, daß alle Menschen irgendwie
suggerierbar, „suggestibel“ sind. Seine Suggestibilität ist nichts ande-
res als die Neigung zur Übertragung, etwas zu enge gefaßt, so daß
die negative Übertragung keinen Raum darin fand. Aber Bern-
heim konnte nie sagen, was die Suggestion eigentlich ist und wie
sie zustande kommt. Sie war für ihn eine Grundtatsache, für deren
Herkunft er keinen Nachweis geben konnte. Er hat die Abhängig-
keit der „suggestibilite“ von der Sexualität, von der Betätigung der
Libido nicht erkannt. Und wir müssen gewahr werden, daß wir in
unserer Technik die Hypnose nur aufgegeben haben, um die Sug-
gestion in der Gestalt der Übertragung wiederzuentdecken.
Jetzt halte ich aber ein und lasse Ihnen das Wort. Ich merke,
eine Einwendung schwillt bei Ihnen so mächtig an, daß sie Ihnen
. die Fähigkeit rauben würde zuzuhören, würde man sie nicht zu
Worte kommen lassen: „Also Sie haben endlich zugestanden, daß
Sie mit der Hilfskraft der Suggestion arbeiten wie die Hypnotiker.
Das haben wir uns ja schon lange gedacht. Aber dann, wozu der
Umweg; über die Erinnerungen der Vergangenheit, die Aufdeckung
des Unbewußten, die Deutung und Rückübersetzung der Enitstel-
lungen, der ungeheure Aufwand an Mühe, Zeit und Geld, wenn das
einzig Wirksame doch nur die Suggestion ist? Warum suggerieren
Sie nicht direkt gegen die Symptome, wie es die anderen tun, die
ehrlichen Hypnotiseure? Und ferner, wenn Sie sich entschuldigen
wollen, auf dem Umweg, den Sie gehen, haben Sie zahlreiche bedeut-
same psychologische Funde gemacht, die sich bei der direkten Sug-
XXVII. Die Übertragung | 465
gestion verbergen: wer steht denn jetzt für die Sicherheit dieser
Funde ein? Sind die nicht auch ein Ergebnis der Suggestion, der
unbeabsichtigien nämlich; können Sie denn nicht dem Kranken auch
auf diesem Gebiete aufdrängen, was Sie wollen und was Ihnen rich-
tig scheint?“ |
Was Sie mir da einwerfen, ist ungemein interessant und muß
beantwortet werden. Aber heute kann ich’s nicht mehr, es fehlt uns
die Zeit. Auf nächstes Mal also. Sie werden sehen, ich stehe Ihnen
Rede. Für heute muß ich noch das Begonnene zu Ende bringen.
Ich habe versprochen, Ihnen mit Hilfe der Tatsache der Übertragung
verständlich zu machen, warum unsere therapeutische Bemühung
bei den narzißtischen Neurosen keinen Erfolg hat.
Ich kann es mit wenigen Worten tun, und Sie werden sehen, wie
einfach sich das Rätsel löst, und wie gut alles zusammenstimmt.
Die Beobachtung läßt erkennen, daß die an narzißtischen Neurosen
Erkrankten keine Übertragungsfähigkeit haben oder nur ungenü-
gende Reste davon. Sie lehnen den Arzt ab, nicht in Feindseligkeit,
sondern in Gleichgültigkeit. Darum sind sie auch nicht durch ihn
zu beeinflussen; was er sagt, läßt sie kalt, macht ihnen keinen Ein-
druck, darum kann sich der Heilungsmechanismus, den wir bei den
anderen durchsetzen, die Erneuerung des pathogenen Konfliktes und
die Überwindung des Verdrängungswiderstandes bei ihnen nicht
herstellen. Sie bleiben, wie sie sind. Sie haben häufig bereits Her-
stellungsversuche auf eigene Faust unternommen, die zu patholo-
gischen Ergebnissen geführt haben; wir können nichts daran ändern.
Auf Grund unserer klinischen Eindrücke von diesen Kranken
hatten wir behauptet, bei ihnen müsse die Objektbesetzung, aufge-
geben und die Objektlibido in Ichlibido umgesetzt worden sein.
Durch diesen Charakter hatten wir sie von der ersten Gruppe von
Neurotikern (Hysterie, Angst- und Zwangsneurose) geschieden. Ihr
Verhalten beim therapeutischen Versuch bestätigt nun diese Ver-
mutung. Sie zeigen keine Übertragung und darum sind sie auch
für unsere Bemühung unzugänglich, durch uns nicht heilbar.
Freud, VI. 30
2 'XXVII. VORLESUNG.
DIE ANALYTISCHE THERAPIE
Meine Damen und Herren! Sie wissen, worüber wir heute sprechen
werden. Sie haben mich gefragt, warum wir uns in der psychoana-
lytischen Therapie nicht der direkten Suggestion bedienen, wenn wir
zugeben, daß unser Einfluß wesentlich auf Übertragung, d. i. auf Sug-
gestion, beruht, und haben daran den Zweifel geknüpft, ob wir bei
einer solchen Vorherrschaft der Suggestion noch für die Objektivität
unserer psychologischen Funde einstehen können. Ich habe verspro-
chen, Ihnen ausführliche Antwort zu geben.
‚. Direkte Suggestion, das ist Suggestion gegen die Äußerung der
Symptome gerichtet, Kampf zwischen Ihrer Autorität und den Moti-
ven des Krankseins. Sie kümmern sich dabei um diese Motive nicht,
fordern ‘vom Kranken nur, daß er deren Äußerung in Symptomen
unterdrücke. Es macht dann keinen prinzipiellen Unterschied, ob Sie
den Kranken in Hypnose versetzen oder nicht. Bernheim hat wie-
derum mit der ihn auszeichnenden Schärfe behauptet, daß die Sug-
gestion das Wesentliche an. den Erscheinungen des Hypnotismus
sel, die Hypnose aber selbst schon ein Erfolg ‘der Suggestion, ein
suggerlerter Zustand, und er hat. mit Vorliebe die Suggestion ım
Wachen geübt, die dasselbe leisten kann wie die Suggestion in der
Hypnose. Sorfkkaaek sfartakerY
: Was wollen Sie nun in dieser Frage zuerst anhören, die Aussagung
der Erfahrung oder theoretische Überlegungen?
XXVIII. Die analytische Therapie | 467
Beginnen wir mit der ersteren. Ich war Schüler von Bernheim,
den ich 1889 in Nancy aufgesucht und dessen Buch über die Sugge-
stion ich ins Deutsche übersetzt habe. Ich habe Jahre hindurch die
hypnotische Behandlung geübt, zunächst mit Verbotsuggestion und
später mit der Breuerschen Ausforschung des Patienten kombiniert.
Ich darf also über die Erfolge der hypnotischen oder suggestiven The-
rapie aus guter Erfahrung sprechen. Wenn nach einem alten Ärzte-
wort eine ideale Therapie rasch, verläßlich und für den Kranken nicht
unangenehm sein soll, so erfüllte die Bernheimsche Methode aller-
dings zwei dieser Anforderungen. Sie ließ sich viel rascher, daß heißt
unsagbar rascher, durchführen als die analytische, und sie brachte
dem Kranken weder Mühe noch Beschwerden. Für den Arzt wurde
es auf die Dauer — monoton; bei jedem Fall in gleicher Weise, mit
dem nämlichen Zeremoniell den verschiedenartigsten Symptomen die
Existenz zu verbieten, ohne von deren Sinn und Bedeutung etwas
erfassen zu können. Es war eine Handlangerarbeit, keine wissenschaft-
liche Tätigkeit und erinnerte an Magie, Beschwörung und Hokus-
pokus; aber das kam ja gegen das Interesse des Kranken nicht in
Betracht. Am dritten fehlte es; verläßlich war das Verfahren nach
keiner Richtung. Bei dem einen ließ es sich anwenden, bei dem an-
deren nicht; bei einem gelang vieles, beim anderen sehr wenig, man
wußte nie warum. Ärger als diese Launenhaftigkeit des Verfahrens
war der Mangel an Dauer der Erfolge. Nach einiger Zeit war, wenn
man von den Kranken wieder hörte, das alte Leiden wieder da, oder
es hatte sich durch ein neues ersetzt. Man konnte von neuem hypnoti-
sieren. Im Hintergrunde stand die von erfahrener Seite ausgesprochene
Mahnung, den Kranken nicht durch häufige Wiederholung der Hyp-
nose um seine Selbständigkeit zu bringen und ihn an diese Therapie
zu gewöhnen wie an ein Narkotikum. Zugegeben, manchmal gelang
es auch ganz nach Wunsch; nach wenigen Bemühungen hatte man
vollen und dauernden Erfolg. Aber die Bedingungen eines so gün-
stigen Ausganges blieben unbekannt. Einmal geschah es mir, daß ein
schwerer Zustand, den ich durch kurze hypnotische Behandlung gänz-
30*
468 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
lich beseitigt hatte, unverändert wiederkehrte, nachdem mir die Kranke
ohne mein Dazutun gram geworden war, daß ich ihn nach der Ver-
söhnung von neuem und weit gründlicher zum Verschwinden brachte,
und daß er doch wiederkam, nachdem sie sich mir ein zweites Mal
entfremdet hatte. Ein andermal erlebte ich, daß eine Kranke, der ich
wiederholt von nervösen Zuständen durch Hypnose geholfen hatte,
mir während der Behandlung eines besonders hartnäckigen Zufalles
plötzlich die Arme um den Hals schlang. Das nötigte einen doch, sich
mit der Frage nach Natur und Herkunft seiner suggestiven Autorität,
ob man wollte oder nicht, zu beschäftigen. Ar
Soweit die Erfahrungen. Sie zeigen uns, daß wir mit dem Verzicht
auf die direkte Suggestion nichts Unersetzliches aufgegeben haben.
Nun lassen sie uns einige Erwägungen daran knüpfen. Die Ausübung
der hypnotischen Therapie legt dem Patienten wie dem Arzt nur eine
sehr geringfügige Arbeitsleistung auf. Diese Therapie ist in schönster
Übereinstimmung mit einer Einschätzung der Neurosen, zu der sich
noch die Mehrzahl der Ärzte bekennt. Der Arzt sagt dem Nervösen:
Es fehlt Ihnen ja nichts, es ist nur nervös, und darum kann ich auch
Ihre Beschwerden mit einigen Worten in wenigen Minuten weg-
blasen. Es widerstrebt aber unserem energetischen Denken, daß man
durch eine winzige Kraftanstrengung eine große Last sollte bewegen
können, wenn man sie direkt und ohne fremde Hilfe geeigneter Vor-
richtungen angreift. Soweit die Verhältnisse vergleichbar sind, lehrt
auch die Erfahrung, daß dieses Kunststück bei den Neurosen nicht
gelingt. Ich weiß aber, dieses Argument ist nicht unangreifbar; es
gibt auch „Auslösungen“.
Im Lichte der Erkenntnis, welche wir aus der Psychoanalyse gewon-
nen haben, können wir den Unterschied zwischen der hypnotischen
und der psychoanalytischen Suggestion in folgender Art beschreiben:
Die hypnotische Therapie sucht etwas im Seelenleben zu verdecken
und zu übertünchen, die analytische etwas freizulegen und zu ent-
fernen. Die erstere arbeitet wie eine Kosmetik, die letztere wie eine
Chirurgie. Die erstere benützt die Suggestion, um die Symptome zu
XXVIII. Die analytische T'herapie | 469
verbieten, sie verstärkt die Verdrängungen, läßt aber sonst alle Vor-
gänge, die zur Symptombildung geführt haben, ungeändert. Die ana-
lytische Therapie greift weiter wurzelwärts an, bei den Konflikten,
aus denen die Symptome hervorgegangen sind, und bedient sich der
Suggestion, um den Ausgang dieser Konflikte abzuändern. Die hyp-
notische Therapie läßt den Patienten untätig und ungeändert, darum
äuch in gleicher Weise widerstandslos gegen jeden neuen Anlaß zur
Erkrankung. Die analytische Kur legt dem Arzt wie dem Kranken
schwere Arbeitsleistung auf, die zur Aufhebung innerer Widerstände
verbraucht wird. Durch die Überwindung dieser Widerstände wird
das Seelenleben des Kranken dauernd verändert, auf eine höhere Stufe
der Entwicklung gehoben und bleibt gegen neue Erkrankungsmög-
lichkeiten geschützt. Diese Überwindungsarbeit ist die wesentliche
Leistung der analytischen Kur, der Kranke hat sie zu vollziehen, und
der Arzt ermöglicht sie ihm durch die Beihilfe der im Sinne einer
Erziehung wirkenden Suggestion. Man hat darum auch mit Recht
gesagt, die psychoanalytische Behandlung sei eine Art von Nach-
erziehung. | |
Ich hoffe, Ihnen nun klargemacht zu haben, worin sich unsere
Art, die Suggestion therapeutisch zu verwenden, von der bei der hyp-
notischen Therapie allein möglichen unterscheidet. Sie verstehen auch
durch die Zurückführung der Suggestion auf die Übertragung die
Launenhaftigkeit, die uns an der hypnotischen Therapie auffiel, wäh-
rend die analytische bis zu ihren Schranken berechenbar bleibt. Bei
der Anwendung der Hypnose sind wir von dem Zustande der Über-
tragungsfähigkeit des Kranken abhängig, ohne daß wir auf diese selbst
einen Einfluß üben könnten. Die Übertragung des zu Hypnotisieren-
den mag negativ oder, wie zu allermeist, ambivalent sein, er kann sich
durch besondere Einstellungen gegen seine Übertragung geschützt
haben; wir erfahren nichts davon. In der Psychoanalyse arbeiten wir
an der Übertragung selbst, lösen auf, was ihr entgegensteht, richten
uns das Instrument zu, mit dem wir einwirken wollen. So wird es uns
möglich, aus der Macht der Suggestion einen ganz anderen Nutzen
4.70 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
zu ziehen; wir bekommen sie in die Hand; nicht der Kranke sugge-
riert sich allein, wie es in seinem Belieben steht, sondern wir lenken
seine Suggestion, soweit er ihrem Einfluß überhaupt zugänglich ist.
Nun werden Sie sagen, gleichgültig, ob wir die treibende Kraft
unserer Analyse Übertragung oder Suggestion heißen, es besteht doch
die Gefahr, daß die Beeinflussung des Patienten die objektive Sicher-
heit unserer Befunde zweifelhaft macht. Was der Therapie zugute
kommt, bringt die Forschung zu Schaden. Es ist die Einwendung,
welche am häufigsten gegen die Psychoanalyse erhoben worden ist,
und man muß zugestehen, wenn sie auch unzutreffend ist, so kann
man sie doch nicht als unverständig abweisen. Wäre sie aber berech-
tigt, so würde die Psychoanalyse doch nichts anderes als eine beson-
ders gut verkappte, besonders wirksame Art der Suggestionsbehand-
lung sein, und wir dürften alle ihre Behauptungen über Lebensein-
flüsse, psychische Dynamik, Unbewußtes leicht nehmen. So meinen
es auch die Gegner; besonders alles, was sich auf die Bedeutung der
sexuellen Erlebnisse bezieht, wenn nicht gar diese selbst, sollen wir
den Kranken „eingeredet“ haben, nachdem uns in der eigenen ver-
derbten Phantasie solche Kombinationen gewachsen sind. Die Wider-
legung dieser Anwürfe gelingt leichter durch die Berufung auf die
Erfahrung als mit Hilfe der Theorie. Wer selbst Psychoanalysen aus-
geführt hat, der konnte sich ungezählte Male davon überzeugen, daß
es unmöglich ist, den Kranken in solcher Weise zu suggerleren.
Es hat natürlich keine Schwierigkeit, ihn zum Anhänger einer ge-
wissen Theorie zu machen und ihn so auch an einem möglichen Irr-
tum des Arztes teilnehmen zu lassen. Er verhält sich dabei wie ein
anderer, wie ein Schüler, aber man hat dadurch auch nur seine In-
telligenz, nicht seine Krankheit beeinflußt. Die Lösung seiner Kon-
flikte und die Überwindung seiner Widerstände glückt doch nur,
wenn man ihm solche Erwartungsvorstellungen gegeben hat, die mit
der Wirklichkeit in ihm übereinstimmen. Was an den Vermutungen
des Arztes unzutreffend war, das fällt im Laufe der Analyse wieder
heraus, muß zurückgezogen und durch Richtigeres ersetzt werden.
XXVIII. Die analytische Therapie 471
Durch eine sorgfältige Technik sucht man das Zustandekommen von
vorläufigen Suggestionserfolgen zu verhüten; aber es ist auch unbe-
denklich, wenn sich solche einstellen, denn man begnügt sich nicht
mit dem ersten Erfolg. Man hält die Analyse nicht für beendigt,
wenn nicht die Dunkelheiten des Falles aufgeklärt, die Erinnerungs-
lücken ausgefüllt, die Gelegenheiten der Verdrängungen aufgefunden
sind. Man erblickt in Erfolgen, die sich zu früh einstellen, eher Hin-
dernisse als Förderungen der analytischen Arbeit und zerstört diese
Erfolge wieder, indem man die Übertragung, auf der sie beruhen,
immer wieder auflöst. Im Grunde ist es dieser letzte Zug, welcher
die analytische Behandlung von der rein suggestiven scheidet und
die analytischen Ergebnisse von dem Verdacht befreit, suggestive Er-
folge zu sein. Bei jeder anderen suggestiven Behandlung wird die
Übertragung sorgfältig geschont, unberührt gelassen; bei der analy-
tischen ist sie selbst Gegenstand der Behandlung und wird in jeder
ihrer Erscheinungsformen zersetzt. Zum Schlusse einer analytischen
Kur muß die Übertragung selbst abgetragen sein, und wenn der Er-
folg jetzt sich einstellt oder erhält, so beruht er nicht auf der Sug-
gestion, sondern auf der mit ihrer Hilfe vollbrachten Leistung der
Überwindung innerer Widerstände, auf der in dem Kranken erzielten
inneren Veränderung.
Der Entstehung von Einzelsuggestionen wirkt wohl TEN daß
‘wir während der Kur unausgesetzt gegen Widerstände anzukämpfen
haben, die sich in negative (feindselige) Übertragungen zu verwan-
deln wissen. Wir werden es auch nicht versäumen, uns darauf zu
berufen, daß eine große Anzahl von Einzelergebnissen der Analyse,
die man sonst als Produkte der Suggestion verdächtigen würde, uns
von anderer einwandfreier Seite bestätigt werden. Unsere Gewährs-
männer sind in diesem Falle die Dementen und Paranoiker, die über
den Verdacht suggestiver Beeinflussung natürlich hoch erhaben sind.
Was uns diese Kranken an Symbolübersetzungen und Phantasien er-
zählen, die bei ihnen zum Bewußtsein durchgedrungen sind, deckt
sich getreulich mit den Ergebnissen unserer Untersuchungen an dem
472 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Unbewußten der Übertragungsneurotiker und bekräftigt so die ob-
jektive Richtigkeit unserer oft bezweifelten Deutungen. Ich glaube,
Sie werden nicht irregehen, wenn Sie in diesen Punkten der Ana-
lyse Ihr Zutrauen schenken.
Wir wollen jetzt unsere Darstellung vom Mechanismus der Hei-
lung vervollständigen, indem wir sie in die Formeln der Libidotheorie
kleiden. Der Neurotiker ist genuß- und leistungsunfähig, das erstere,
weil seine Libido auf kein reales Objekt gerichtet ist, das letztere,
weil er sehr viel von seiner sonstigen Energie aufwenden muß, um
die Libido in der Verdrängung zu erhalten und sich ihres Ansturmes
zu erwehren. Er würde gesund, wenn der Konflikt zwischen seinem
Ich und seiner Libido ein Ende hätte und sein Ich wieder die Ver-
fügung über seine Libido besäße. Die therapeutische Aufgabe besteht
also darin, die Libido aus ihren derzeitigen, dem Ich entzogenen
Bindungen zu lösen und sie wieder dem Ich dienstbar zu machen.
Wo steckt nun die Libido des Neurotikers? Leicht zu finden; sie ist
an die Symptome gebunden, die ihr die derzeit einzig mögliche Er-
satzbefriedigung gewähren. Man muß also der Symptome Herr wer-
den, sie auflösen, gerade dasselbe, was der Kranke von uns fordert.
Zur Lösung der Symptome wird es nötig, bis auf deren Entstehung
zurückzugehen, den Konflikt, aus dem sie hervorgegangen sind, zu
erneuern und ihn mit Hilfe solcher Triebkräfte, die seinerzeit nicht
verfügbar waren, zu einem anderen Ausgang zu lenken. Diese Revi-
sion des Verdrängungsprozesses läßt sich nur zum Teil an den Er-
innerungsspuren der Vorgänge vollziehen, welche zur Verdrängung
geführt haben. Das entscheidende Stück der Arbeit wird geleistet,
indem man im Verhältnis zum Arzt, in der „Übertragung“, Neu-
auflagen jener alten Konflikte schafft, in denen sich der Kranke
benehmen möchte, wie er sich seinerzeit benommen hat, während
man ihn durch das Aufgebot aller verfügbaren seelischen Kräfte zu
einer anderen Entscheidung nötigt. Die Übertragung wird also das
Schlachtfeld, auf welchem sich alle miteinander ringenden . Kräfte
treffen sollen.
XXVIII. Die analytische Therapie 473
Alle Libido wie alles Widerstreben gegen sie wird auf das eine
Verhältnis zum Arzt gesammelt; dabei ist es unvermeidlich, daß die
Symptome von der Libido entblößt werden. An Stelle der eigenen
Krankheit des Patienten tritt die künstlich hergestellte der Über-
tragung, die Übertragungskrankheit, an Stelle der verschiedenartigen
irrealen Libidoobjekte das eine wiederum phantastische Objekt der
ärztlichen Person. Der neue Kampf um dieses Objekt wird aber mit
Hilfe der ärztlichen Suggestion auf die höchste psychische Stufe ge-
hoben, er verläuft als normaler seelischer Konflikt. Durch die Ver-
meidung einer neuerlichen Verdrängung wird der Entfremdung
zwischen Ich und Libido ein Ende gemacht, die seelische Einheit der
Person wieder hergestellt. Wenn die Libido von dem zeitweiligen
Objekt der ärztlichen Person wieder abgelöst wird, kann sie nicht zu
ihren früheren Objekten zurückkehren, sondern steht zur Verfügung
des Ichs. Die Mächte, die man während dieser therapeutischen Arbeit
bekämpft hat, sind einerseits die Abneigung des Ichs gegen gewisse
Richtungen der Libido, die sich als Verdrängungsneigung geäußert
hat, und anderseits die Zähigkeit oder Klebrigkeit der Libido, die ein-
mal von ihr besetzte Objekte nicht gerne verläßt. |
Die therapeutische Arbeit zerlegt sich also in zwei Phasen; in der
ersten wird alle Libido von den Symptomen her in die Übertragung
gedrängt und dort konzentriert, in der zweiten der Kampf um dies
neue Objekt durchgeführt und die Libido von ihm freigemacht. Die
für den guten Ausgang entscheidende Veränderung ist die Ausschal-
tung der Verdrängung bei diesem erneuerten Konflikt, so daß sich
die Libido nicht durch die Flucht ins Unbewußte wiederum dem Ich
entziehen kann. Ermöglicht wird sie durch die Ichveränderung, wel-
che sich unter dem Einfluß der ärztlichen Suggestion vollzieht. Das
Ich wird durch die Deutungsarbeit, welche Unbewußtes in Bewuß-
tes umsetzt, auf Kosten dieses Unbewußten vergrößert, es wird durch
Belehrung gegen die Libido versöhnlich und geneigt gemacht, ihr
irgendeine Befriedigung einzuräumen, und seine Scheu vor den An-
sprüchen der Libido wird durch die Möglichkeit, einen Teilbetrag
474 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
von ihr durch Sublimierung zu erledigen, verringert. Je besser sich
die Vorgänge bei der Behandlung mit dieser idealen Beschreibung
decken, desto größer wird der Erfolg der psychoanalytischen Thera-
pie. Seine Schranke findet er an dem Mangel an Beweglichkeit der
Libido, die sich sträuben kann, von ihren Objekten abzulassen, und an
der Starrheit des Narzißmus, der die Objektübertragung nicht über eine
gewisse Grenze anwachsen läßt. Vielleicht werfen wir ein weiteres
Licht auf die Dynamik des Heilungsvorganges durch die Bemerkung,
daß wir die ganze der Herrschaft des Ichs entzogene Libido auffangen,
indem wir durch die Übertragung ein Stück von ihr auf uns ziehen.
Es ıst auch die Mahnung nicht unangebracht, daß wir aus den
Verteilungen der Libido, die sich während und durch die Behandlung
herstellen, keinen direkten Schluß auf die Unterbringung der Libido
während des Krankseins ziehen dürfen. Angenommen, es sei uns ge-
lungen, den Fall durch die Herstellung und Lösung einer starken
Vaterübertragung auf den Arzt glücklich zu erledigen, so ginge der
Schluß fehl, daß der Kranke vorher an einer solchen unbewußten
Bindung seiner Libido an den Vater gelitten hat. Die Vaterübertragung
ist nur das Schlachtfeld, auf welchem wir uns der Libido bemächtigen;
die Libido des Kranken ist von anderen Positionen her dorthin ge-
lenkt worden. Dies Schlachtfeld muß nicht notwendig mit einer der
wichtigen Festungen des Feindes zusammenfallen. Die Verteidigung
der feindlichen Hauptstadt braucht nicht gerade vor deren Toren zu
geschehen. Erst nachdem man die Übertragung wieder gelöst hat,
"kann man die Libidoverteilung, welche während des Krankseins be-
standen hatte, in Gedanken rekonstruieren.
Vom Standpunkt der Libidotheorie können wir auch noch ein letz-
tes Wort über den Traum sagen. Die Träume der Neurotiker dienen
uns wie Ihre Fehlleistungen und ihre freien Einfälle dazu, den Sınn
der Symptome zu erraten und die Unterbringung der Libido aufzu-
decken. Sie zeigen uns in der Form der Wunscherfüllung, welche
Wunschregungen der Verdrängung verfallen sind, und an welche
Objekte sich die dem Ich entzogene Libido gehängt hat. Die Deutung
XXVIII. Die analytische Therapie | 475
der Träume spielt darum in der psychoanalytischen Behandlung eine
große Rolle und ist in manchen Fällen durch lange Zeiten das wich-
tigste Mittel der Arbeit. Wir wissen bereits, daß der Schlafzustand an
sich einen gewissen Nachlaß der Verdrängungen herbeiführt. Durch
diese Ermäßigung des auf ihr lastenden Druckes wird es möglich,
daß sich die verdrängte Regung im Traume einen viel deutlicheren
Ausdruck schafft, als ihn während des Tages das Symptom gewähren
kann. Das Studium des Traumes wird so zum bequemsten Zugang
für die Kenntnis des verdrängten Unbewußten, dem die dem Ich ent-
zogene Libido angehört.
Die Träume der Neurotiker sind aber in keinem sbklichen
Punkte von denen der Normalen verschieden; ja sie sind von ihnen
vielleicht überhaupt nicht unterscheidbar. Es wäre widersinnig,. von
den Träumen Nervöser auf eine Weise Rechenschaft zu geben, wel-
che nicht auch für die Träume Normaler Geltung hätte. Wir müssen
also sagen, der Unterschied zwischen Neurose und Gesundheit gilt
nur für den Tag, er setzt sich nicht ins Traumleben fort. Wir sind
genötigt, eine Anzahl von Annahmen, die sich beim Neurotiker infolge
des Zusammenhanges zwischen seinen Träumen und seinen Sym-
ptomen ergeben, auch auf den gesunden Menschen zu übertragen.
Wir können es nicht in Abrede stellen, daß auch der Gesunde in
seinem Seelenleben das besitzt, was allein die Traumbildung wie die
Symptombildung ermöglicht, und müssen den Schluß ziehen, daß
auch er Verdrängungen vorgenommen hat, einen gewissen Auf-
wand treibt, um sie zu unterhalten, daß sein System des Unbewuß-
ten verdrängte und noch energiebesetzte Regungen verbirgt, und
daß ein Anteil seiner Libido der Verfügung seines Ichs
entzogen ist. Auch der Gesunde ist also virtuell ein Neurotiker,
aber der Traum scheint das einzige Symptom zu sein, das zu bilden
er fähig ist. Unterwirft man sein Wachleben einer schärferen Prüfung,
so entdeckt man freilich, — was diesen Anschein widerlegt, — daß
dies angeblich gesunde Leben von einer Unzahl geringfügiger, prak-
tisch nicht bedeutsamer Symptombildungen durchsetzt ist.
4.76 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Der Unterschied zwischen nervöser Gesundheit und Neurose
schränkt sich also aufs Praktische ein und bestimmt sich nach dem
Erfolg, ob der Person ein genügendes Maß von Genuß- und Leistungs-
fähigkeit verblieben ist. Er führt sich wahrscheinlich auf das relative
Verhältnis zwischen den freigebliebenen und den durch Verdrängung
gebundenen Energiebeträgen zurück und ist von quantitativer, nicht
von qualitativer Art. Ich brauche Sie nicht daran zu mahnen, daß
diese Einsicht die Überzeugung von der prinzipiellen Heilbarkeit der
Neurosen, trotz ihrer Begründung in der konstitutionellen Anlage,
theoretisch begründet.
Soviel dürfen wir aus der Tatsache der Identität der Träume bei
Gesunden und bei Neurotikern für die Charakteristik der Gesundheit
erschließen. Für den Traum selbst ergibt sich aber die weitere Folge-
rung, daß wir ihn nicht aus seinen Beziehungen zu den neurotischen
Symptomen lösen dürfen, daß wir nicht glauben sollen, sein Wesen
sei durch die Formel einer Übersetzung von Gedanken in einearchaische
Ausdrucksform erschöpft, daß wir annehmen müssen, er zeige uns
wirklich vorhandene Libidounterbringungen und Objektbesetzungen.
Wir sind nun bald zu Ende gekommen. Vielleicht sind Sie ent-
täuscht, daß ich Ihnen zum Kapitel der psychoanalytischen Therapie
nur Theoretisches erzählt habe, nichts von den Bedingungen, unter
denen man die Kur einschlägt, und von den Erfolgen, die sie erzielt.
Ich unterlasse aber beides. Das erstere, weil ich Ihnen ja keine prak-
tische Anleitung zur Ausübung der Psychoanalyse zu geben gedenke,
und das letztere, weil mehrfache Motive mich davon abhalten. Ich
habe es zu Eingang unserer Besprechungen betont, daß wir unter
günstigen Umständen Heilerfolge erzielen, die hinter den schönsten
auf dem Gebiete der internen Therapie nicht zurückstehen, und ich
kann etwa noch hinzusetzen, daß dieselben durch kein anderes Ver-
fahren erreicht worden wären. Würde ich mehr sagen, so käme ich
in den Verdacht, daß ich die laut gewordenen Stimmen der Herab-
setzung durch Reklame übertönen wollte. Es ist gegen die Psycho-
analytiker wiederholt, auch auf öffentlichen Kongressen, von ärztlichen
XXVIII. Die analytische Therapie 477
„Kollegen“ die Drohung ausgesprochen worden, man werde durch
eine Sammlung der analytischen Mißerfolge und Schädigungen dem
leidenden Publikum die Augen über den Unwert dieser Behandlungs-
methode öffnen, Aber eine solche Sammlung wäre, abgesehen von
dem gehässigen, denunziatorischen Charakter der Maßregel, nicht
einmal geeignet, ein richtiges Urteil über die therapeutische Wirk-
samkeit der Analyse zu ermöglichen. Die analytische Therapie ist,
wie Sie wissen, jung; es hat lange Zeit gebraucht, bis man ihre Tech-
nik feststellen konnte, und dies konnte auch nur während der Arbeit
und unter dem Einfluß der zunehmenden Erfahrung geschehen. In-
folge der Schwierigkeiten der Unterweisung ist der ärztliche Anfänger
in der Psychoanalyse in größerem Ausmaße als ein anderer Spezialist
auf seine eigene Fähigkeit zur Fortbildung angewiesen, und die Er-
folge seiner ersten Jahre werden nie die Leistungsfähigkeit der ana-
lytischen Therapie beurteilen lassen.
Viele Behandlungsversuche mißlangen in der Frühzeit der Ana-
lyse, weil sie an Fällen unternommen waren, die sich überhaupt
nicht für das Verfahren eignen, und die wir heute durch unsere
Indikationsstellung ausschließen. Aber diese Indikationen konnten
auch nur durch den Versuch gewonnen werden. Von vornherein
wußte man seinerzeit nicht, daß Paranoia und Dementia praecox in
ausgeprägten Formen unzugänglich sind, und hatte noch das Recht,
die Methode an allerlei Affektionen zu erproben. Die meisten Miß-
erfolge jener ersten Jahre sind aber nicht durch die Schuld des
Arztes oder wegen der ungeeigneten Objektwahl, sondern durch die
Ungunst der äußeren Bedingungen zustande gekommen. Wir haben
nur von den inneren Widerständen gehandelt, denen des Patienten,
die notwendig und überwindbar sind. Die äußeren Widerstände, die
der Analyse von den Verhältnissen des Kranken, von seiner Um-
gebung bereitet werden, haben ein geringes theoretisches Interesse,
aber die größte praktische Wichtigkeit. Die psychoanalytische Be-
handlung ist einem chirurgischen Eingriff gleichzusetzen und hat
wie dieser den Anspruch, unter den für das Gelingen günstigsten
478 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
Veranstaltungen vorgenommen zu werden. Sie wissen, welche Vor-
kehrungen. der Chirurg dabei zu treffen pflegt: geeigneter Raum,
gutes Licht, Assistenz, Ausschließung der Angehörigen usw. Nun
fragen Sie sich selbst, wie viele dieser Operationen gut ausgehen wür-
den, wenn sie im Beisein aller Familienmitglieder stattfinden müß-
ten, die ihre Nasen in das Operationsfeld stecken und bei jedem Mes-
serschnitt laut aufschreien würden. Bei den psychoanalytischen Be-
handlungen ist die Dazwischenkunft der Angehörigen geradezu eine
Gefahr, und zwar eine solche, der man nicht zu begegnen weiß.
Man ist gegen die inneren Widerstände des Patienten, die man als
notwendig erkennt, gerüstet, aber wie soll man sich gegen jene äuße-
ren Widerstände wehren? Den Angehörigen des Patienten kann man
durch keinerlei Aufklärung beikommen, man kann sie nicht dazu
bewegen, sich von der ganzen Angelegenheit fernzuhalten, und man
darf nie gemeinsame Sache mit ihnen machen, weil man dann Gefahr
läuft, das Vertrauen des Kranken zu verlieren, der — übrigens mit
Recht — fordert, daß sein Vertrauensmann auch seine Partei nehme.
Wer überhaupt weiß, von welchen Spaltungen oft eine Familie zer-
klüftet wird, der kann auch als Analytiker nicht von der Wahr-
nehmung überrascht werden, daß die dem Kranken Nächsten mit-
unter weniger Interesse daran verraten, daß er gesund werde, als
daß er so bleibe, wie er ist. Wo, wie so häufig, die Neurose mit Kon-
flikten zwischen Familienmitgliedern zusammenhängt, da bedenkt
sich der Gesunde nicht lange bei der Wahl zwischen seinem Interesse
und dem der Wiederherstellung des Kranken. Es ist ja nicht zu ver-
wundern, wenn der Ehemann eine Behandlung nicht gerne sieht,
in welcher, wie er mit Recht vermuten darf, sein Sündenregister
aufgerollt werden wird; wir verwundern uns auch nicht darüber,
aber wir können uns dann keinen Vorwurf machen, wenn unsere
Bemühung erfolglos bleibt und vorzeitig abgebrochen wird, weil sich
der Widerstand des Mannes zu dem der kranken Frau hinzuaddiert
hat. Wir hatten eben etwas unternommen, was unter den bestehen-
den Verhältnissen undurchführbar war.
XXVIIl. Die analytische Therapie 479
Ich will Ihnen anstatt vieler Fälle nur einen einzigen erzählen, ın
dem ich durch ärztliche Rücksichten zu einer leidenden Rolle ver-
urteilt wurde. Ich nahm —- vor vielen Jahren — ein junges Mäd-
chen in analytische Behandlung, welches schon seit längerer Zeit aus
Angst nicht auf die Straße gehen und zu Hause nicht allein bleiben
konnte. Die Kranke rückte langsam mit dem Geständnis heraus, daß
ihre Phantasie durch zufällige Beobachtungen des zärtlichen Ver-
kehres zwischen ihrer Mutter und einem wohlhabenden Hausfreund
ergriffen worden sei. Sie war aber so ungeschickt — oder so raffi-
niert — der Mutter einen Wink von dem zu geben, was in den Ana-
lysenstunden besprochen wurde, indem sie ihr Benehmen gegen die
Mutter änderte, darauf bestand, von keiner anderen als der Mutter
gegen die Angst des Alleinseins beschützt zu werden, und ihr angst-
voll die Türe vertrat, wenn sie das Haus verlassen wollte. Die Mut-
ter war früher selbst sehr nervös gewesen, hatte aber in einer Wasser-
heilanstalt vor Jahren die Heilung gefunden. Setzen wir dafür ein, sie
hatte in jener Anstalt die Bekanntschaft des Mannes gemacht, mit
dem sie ein sie nach jeder Richtung befriedigendes Verhältnis ein-
gehen konnte. Durch die stürmischen Anforderungen des Mädchens
stutzig gemacht, verstand die Mutter plötzlich, was die Angst ihrer
Tochter bedeutete. Sie ließ sich krank werden, um die Mutter zur
Gefangenen zu machen und ihr die für den Verkehr mit dem Ge-
liebten notwendige Bewegungsfreiheit zu rauben. Rasch entschlossen
machte die Mutter der schädlichen Behandlung ein Ende. Das Mäd
chen wurde in eine Nervenheilanstalt gebracht und durch lange
Jahre als „armes Opfer der Psychoanalyse“ demonstriert. Ebensolange
ging mir die üble Nachrede wegen des schlechten Ausganges dieser
Behandlung nach. Ich bewahrte das Schweigen, weil ich mich durch
die Pflicht der ärztlichen Diskretion gebunden glaubte. Lange Zeit
nachher erfuhr ich von einem Kollegen, der jene Anstalt besucht
und das agoraphobische Mädchen dort gesehen hatte, daß das Ver-
hältnis zwischen ihrer Mutter und dem vermögenden Hausfreund
stadtbekannt sei und wahrscheinlich die Billigung des Gatten und
480 Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalys
Vaters habe. Diesem „Geheimnis“ war also die Behandlung geopfert
worden. | |
In den Jahren vor dem Kriege, als der Zulauf aus vieler Herren
Ländern mich von der Gunst oder Mißgunst der Vaterstadt unab-
hängig machte, befolgte ich die Regel, keinen Kranken in Behand-
lung zu nehmen, der nicht sui juris, in seinen wesentlichen Lebens-
beziehungen von anderen unabhängig wäre. Das kann sich nun
nicht jeder Psychoanalytiker gestatten. Vielleicht ziehen Sie aus
meiner Warnung vor den Angehörigen den Schluß, man solle die
Kranken zum Zwecke der Psychoanalyse aus ihren Familien nehmen,
diese Therapie also auf die Insassen von Nervenheilanstalten beschrän-
ken. Allein ich könnte Ihnen hierin nicht beistimmen; es ist weit
vorteilhafter, wenn die Kranken — insoferne sie nicht in einer Phase
schwerer Erschöpfung sind — während der Behandlung in jenen
Verhältnissen bleiben, in denen sie mit den ihnen gestellten Aufgaben
zu kämpfen haben. Nur sollten die Angehörigen diesen Vorteil nicht
durch ihr Benehmen wettmachen und sich überhaupt nicht der ärzt-
lichen Bemühung feindselig widersetzen. Aber wie wollen Sie diese
für uns unzugänglichen Faktoren dazu bewegen! Sie werden natür-
lich auch erraten, wieviel von den Aussichten einer Behandlung
durch das soziale Milieu und den kulturellen Zustand einer Familie
bestimmt wird.
Nicht wahr, das gibt für die Wirksamkeit der Psychoanalyse als
Therapie einen trüben Prospekt, selbst wenn wir die überwiegende
Mehrzahl unserer Mißerfolge durch solche Rechenschaft von den
störenden äußeren Momenten aufklären können! Freunde der Ana-
lyse haben uns dann geraten, einer Sammlung von Mißerfolgen durch
eine von uns entworfene Statistik der Erfolge zu begegnen. Ich bin
auch darauf nicht eingegangen. Ich machte geltend, daß eine Sta-
tistik wertlos sei, wenn die aneinander gereihten Einheiten derselben
zu wenig gleichartig seien, und die Fälle von neurotischer Erkran-
kung, die man in Behandlung genommen hatte, waren wirklich nach
den verschiedensten Richtungen nicht gleichwertig. Außerdem war
XXVIII. Die analytische Therapie 481
der Zeitraum, den man überschauen konnte, zu kurz, um die Halt-
barkeit der Heilungen zu beurteilen, und von vielen Fällen konnte
man überhaupt nicht Mitteilung machen. Sie betrafen Personen, die
ihre Krankheit wie ihre Behandlung geheim gehalten "hatten, und
deren Herstellung gleichfalls verheimlicht werden mußte. Die stärkste
Abhaltung lag aber in der Einsicht, daß die Menschen sich in Dingen
der Therapie höchst irrationell benehmen, so daß man keine Aus-
sicht hat, durch verständige Mittel etwas bei ihnen auszurichten.
Eine therapeutische Neuerung wird entweder mit rauschartiger
Begeisterung aufgenommen, wie z.B. damals, als Koch sein erstes
Tuberkulin gegen die Tuberkulose in die Öffentlichkeit brachte, oder
mit abgrundtiefem Mißtrauen behandelt, wie die wirklich segens-
reiche Jennersche Impfung, die heute noch ihre unversöhnlichen
Gegner hat. Gegen die Psychoanalyse lag offenbar ein Vorurteil vor.
Wenn man einen schwierigen Fall hergestellt hatte, so konnte man
hören: Das ist kein Beweis, der wäre auch von selbst in dieser Zeit
gesund geworden. Und wenn eine Kranke, die bereits vier Zyklen
von Verstimmung und Manie absolviert hatte, in einer Pause nach
der Melancholie in meine Behandlung gekommen war und drei
Wochen später sich wieder zu Beginn einer Manie befand, so waren
alle Familienmitglieder, aber auch die zu Rate gezogene hohe ärzt-
liche Autorität, überzeugt, daß der neuerliche Anfall nur die Folge
der an ihr versuchten Analyse sein könne. Gegen Vorurteile kann
man nichts tun; Sie sehen es ja jetzt wieder an den Vorurteilen, die
die eine Gruppe von kriegführenden Völkern gegen die andere ent-
wickelt hat. Das Vernünftigste ist, man wartet und überläßt sie der
Zeit, welche sie abnützt. Eines Tages denken dieselben Menschen
über dieselben Dinge ganz anders als bisher; warum sie nicht schon
früher so gedacht haben, bleibt ein dunkles Geheimnis.
Möglicherweise ist das Vorurteil gegen die analytische Therapie
schon jetzt in Abnahme begriffen. Die stete Ausbreitung der analy-
tischen Lehren, die Zunahme analytisch behandelnder Ärzte in man-
chen Ländern scheint es zu verbürgen. Als ich ein junger Arzt war,
Freud, VII. 31
482 ' Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse
geriet ich in einen ebensolchen Entrüstungssturm der Ärzte gegen
die hypnotische Suggestivbehandlung, die heute von den „Nüchter-
nen“ der Psychoanalyse entgegengehalten wird. Der Hypnotismus
hat aber als therapeutisches Agens nicht gehalten, was er anfangs
versprach; wir Psychoanalytiker dürfen uns für seine rechtmäßigen
Erben ausgeben und vergessen nicht, wie viel Aufmunterung und
theoretische Aufklärung wır ihm verdanken. Die der Psychoanalyse
nachgesagten Schädigungen schränken sich im wesentlichen auf vor-
übergehende Erscheinungen von Konfliktsteigerung ein, wenn die
Analyse ungeschickt gemacht, oder wenn sie mittendrin abgebrochen
wird. Sie haben ja Rechenschaft darüber gehört, was wir mit den
Kranken anstellen, und können sich ein eigenes Urteil darüber bilden,
ob unsere Bemühungen geeignet sind, zu einer dauernden Schädigung
zu führen. Mißbrauch der Analyse ist nach verschiedenen Richtungen
möglich; zumal die Übertragung ist ein gefährliches Mittel in den
Händen eines nicht gewissenhaften Arztes. Aber vor Mißbrauch ist
kein ärztliches Mittel oder Verfahren geschützt; wenn ein Messer
nicht schneidet, kann es auch nicht zur Heilung dienen.
Ich bin nun zu Ende, meine Damen und Herren. Es ist mehr als die
gebräuchliche Redensart, wenn ich bekenne, daß die vielen Mängel
der Vorträge, die ich Ihnen gehalten habe, mich selbst empfindlich
bedrücken. Vor allem tut es mir leid, daß ich so oft versprochen habe,
auf ein kurz berührtes Thema an anderer Stelle wieder zurückzu-
kommen, und dann hat der Zusammenhang es nicht ergeben, daß ich
mein Versprechen halten konnte. Ich habe es unternommen, Ihnen
von einer noch unfertigen, in Entwicklung begriffenen Sache Bericht
zu geben, und meine kürzende Zusammenfassung ist dann selbst eine
unvollkommene geworden. An manchen Stellen habe ich das Material
für eine Schlußfolgerung bereit gelegt und diese dann nicht selbst
gezogen. Aber ich konnte es nicht beanspruchen, Sie zu Sachkundigen
zu machen; ich wollte Ihnen nur Aufklärung und Anregung bringen
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Vorwort. 2 la Ba ie na El u I er 3
Erster Teil: Die Fehlleistungen
L Einleitung U RL er ER;
H.. Die Fehlentungea RE U IR EEE BALL R 18
III... Die ‚Fehlleistungen (Bortsetzung, a se. a a u 33
IV. Die Fehlleistungen (Schu Urn eh ea ee . 54
Zweiter Teil: Der Traum
V. Schwierigkeiten und erste Annäherungen .. 2... 222220205 REED T- 79
VI. Voraussetzungen-und Technik der Deutung ....... 2.0 2u.ler oe. 97
VII. Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanken ........ aa DE
VII. Kindertraume \.. Wa Aa ae a Be en, 2 Aue 124
IX. Die: Traumzensur 3.2. 2er ae ae Fe EN RE:
X. Die Syıhbolik im Traum a a0 an a a 150
XI Die Traumarbeit ) 2: sr nr Aa nen en e 173
XII. Analysen’ von "Fraumbeispielen ,) u 1. can Sara wars a nn aa Wae:.,.
XIII. Archaische Züge und Infantilismus des Traumes ne a RR RE ke 203
"XIV, Die Wunscheülung IE ma er . 218
XV. Unsicherheiten und Kritiken >. 2.2 2 2.2.2.2.% ale aar 234
Dritter Teil: Allgemeine Neurosenlehre
XVI, Psychoanalyse und Paychragien, us 2 tele ale ea aeeiee % 249
XVII. Der: Sinn der Spmplome su ch en see ses lauern 264
XVIII. Die Fixierung an das Trauma. Das Unbewußte ee as al ...'282
XIX. Widerstand und Verdrängung a a ee er BE NE 296
XX, Das menschliche: Sezualleben 1.3. nr un ne has aneeee 313
XXI. Libidoentwicklung und Sexualorganisation .. 2... 2222000000. 2388
XXII. Gesichtspunkte der Entwicklung und Regression. Ätiologie ......... 351
XXIII. Die Wege der Symptombildung „..... ce... u. essen ne 2 372
XXIV. Die gemeine Nervosität ........ Rn ..» 392
XXV. Die Angst anal eh a he ROTEN We DEAN BER ES BEN 407
XXVI. Die Libidotheorie und der Narzißmus. ... 2... 2..000000. ee re. 427
XXVIL Die Übertragung 3 „Ale ve an er ee rn A
XXVII. Die analytische Therapie .......v...0. Ne ee sy ala AUG
Über die Fortschritte der psychoanalytischen Theorie und
Praxis unterrichten fortlaufend die beiden Zeitschriften:
INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT
FÜR PSYCHOANALYSE
Mit „Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“
Herausgegeben von
Prof. Dr. Sigm. Freud
Unter Mitwirkung von Dr. Karl Abraham (Berlin), Dr. Girindrashekhar Bose
(Kalkutta), Dr. A. A. Brill (New York), Dr. Jan van Emden (Haag), Dr. Paul
Federn (Wien), Dr. Ernest Jones (London), Dr. Emil Oberholzer (Zürich)
und Dr. M. Wulff (Moskau) redigiert von
Dr. M. Eitingon, Dr. S. Ferenczi und Dr. Sandor Radö
IMAGO
Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse
auf die Geisteswissenschaften
Herausgegeben von
Prof. Dr. Sigm. Freud
Redigiert von
Dr. Otto Rank, Dr. Hanns Sachs und A. J. Storfer
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien VII, Andreasgasse 3
’ r F .
. rs hf UBER" Tr Tarr “ « 5 = “ 2 Ps
NT # - , 0 y - . ;
en “ LER f w ü PY Ar “ - ie R 2 E
u Be . r 4 - i - a } '
DT REKEN > W,
La ng) At
{ RN bald I
, \
& Ir \
ei
u:
1
m
E
.
nu Sale
\ va
A FAUL
IENET!
Reli \ i
I0% „' tr / 1
BRANÄRIR DENE EI at HL
Ant NORKhU. Dat AU KA sl x
? EAN J x fi % Be. 7
Da YARA N NAT,
”
I
Ki
MN, M
AT
H it nr
In
N
INNE ID NS SINN N TPM Nr I ? sh
\ { ‘ y BANN KON ih; vr N ICH TEN Yun “
rar fr DEAN I N En I M NA RE RUNGEN ; EEE NT AL.
EN.) UN NER UA RRIT ER N BAR IBAN BELLA tk Kar ER RL
1 ? \ Ye h \ ; Yaluo trau, LK Aa Ä tehhret,
r (h 4 la a 1 AB Er ET r\ f
' 0 „ Mi \ Ve rat N 9 \ AU: LANDEN b N % | \
N . x N f N 7 } 3
Je ANNO
Val
x
ARE N
RN
' SITET
Ar
Mn,
URRRE |
Yirl
.
ed
; 7
“
’
Ir
A
it
ji ’ } re \ u IE AN WR
SINALZR DA NER la Kl fir ey) [6 Era But
’ Ran) Mi Hg N At. W - RT, GN Mars Jen 7)
I A AU
UN ENTE ER NR,
IM Ve Ay
I" Ir ; N, Eh
T [' g
E N J 4 L a De iz
ri RD) f
. [
NE air
123 fa 5 p
EL ON La
}
DT
RE
% 4
la il A i ’ k “ 3 ‚ Lie
N ’. MR ER! MT en. IR; r er a T
N RR HER OR HET Ba ET
re
u ! ecdtir N
.
NR IRT
Kal, Kane
A ar En re a
%
v N
0% T UxX i
AAN e- ‘
NE TE, a]
' NR NE A MM]
De)
#% er 2 { ö
’
Au
IR Year Ar nen
N har r IN
te $
N Arten)
‘ [ \ Ey ek 's
ve iu D ma
e
a‘ P'; r 1}
SANT
a
a2 RR Y
iY
dr
ir
;4 Id I f h a
Br Pr PER !
u ee ee v | pn FEHLER fr vr #75 Bir un ni eh pe s rt
\ £ SACHE tor t
Aerateiete
ni s
:
Habe aete mes BEs BEINE DIT IRE SIE SOME ö ? } aurle, "
a AIRES Hi : tie heinjeten
ereirie Haas
gielenie
His
+
Pal er
4 +
Ag e
rt
Hi 7 F
re
ae
Bere in
FH
Ziele:
H
Fr
r
Salehr
[23143
Sean ts men lee
riet eig
is" Er
un
E
{
Bere eiaeeter
EIER,
SE
HET
Yrhlie,
K
Maik
et
Faser
ie
Anduhrr rer
. #
ERRSEHRH
Varfesu ge n:r2
zur Einführung indie
r sychoanalyse
indie |
A
Ps chiataly
PN ‚2. A
Ä 2y ar 3 |
| A & | von
I a
N ıgm. Lreu
a +
ae 5
I Up "EN (um 5 |
j RR
| le
FB el N . .
# BY Drei Teile: a ®
) 4 En 2 | F ehlleistungen / Der Traum / Allgemeine N, eurosenlehre
wre ie |
| UA; | Mit einer Kunstbeilage
ET ER:
Ale j 5 . |
Ba NE N x | Fünfte, durchgesehene Auflage
| j i N K | (12.-15. Tausend)
N B} 1
; | w 2 g:
2 '
it. a H; d" | ö x e
N ar N © Internationaler Psychoanalytischer Verlag
KR 1° | Leipzig / Wien / Zürich
Wa ! |
Eu |
A
gen
ie
zur Ki
ee Vorlssun
EN na
> m m den tm
x FR ch ee
I
Ike Car
Br,