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-Erich Fromm
-Die Jcvntwicklung
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es
Christus dogmas
Kine psychoanalytische Studie
zur sozialpsychologischen Funktion
der Xveligion
Internationaler
Psychoanalytischer \^rlag
Wien
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^
_L/ie l^ntwicklung
des
v^Lxistuscloamas
Eine psychoanalytische «Studie
zur sozialpsychologischen Funktion
der Religion
Von
Erich F
romm
Sonderabdruai aus „Imago, Zeitsdtrift für Anwendung der
Psydioanalyse auf die Natur- und (reisteswisscnscnaften'
(herausgegeben von uigm. Je reud), ßa. X.V1 (ii/to)
i()3i
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien
Alle Rechte,
insbesondere die der Übersetzung,
vorbehalten
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Druck: Christoph Reisser's Söhne, Wien V
-// JxLethodik und Jrroblemstellung
Es ist eine der nicht unwesentlichen Leistungen der Psychoanalyse, daß
sie die falsche prinzipielle Unterscheidung zwischen einer Sozialpsychologie
und einer Psychologie des Individuums (Personalpsychologie) überwunden
hat. Freud hat einerseits betont, daß es eine Personalpsychologie, deren
Objekt der isolierte, aus dem sozialen Zusammenhang gelöste Mensch ist,
nicht gibt, weil es eben diesen isolierten Menschen in Wirklichkeit nirgends
gibt. Er kennt keinen homo psychologicus, keinen psychologischen Robinson
Crusoe, wie er etwa als ökonomischer der klassischen Nationalökonomie
vorgeschwebt hat. Im Gegenteil ist ja eine der wesentlichsten Entdeckungen
Freuds die, daß er die psychische Entwicklung des Individuums gerade aus
seinen frühesten sozialen Beziehungen, denen zu Eltern und Geschwistern,
verstehen gelehrt hat. „Die Individualpsychologie ist zwar auf den einzelnen
Menschen eingestellt und verfolgt, auf welchen Wegen derselbe die Be-
friedigung seiner Triebregungen zu erreichen sucht, allein sie kommt dabei
nur selten, unter bestimmten Ausnahmsbedingungen, in die Lage, von den
Beziehungen dieses Einzelnen zu den anderen Individuen abzusehen. Im
Seelenleben des Einzelnen kommt ganz regelmäßig der Andere als Vorbild,
als Objekt, als Helfer und als Gegner in Betracht und die Individual-
Endi Fromm
Psychologie ist daher von Anfang an auch gleichzeitig Sozialpsychologie in
diesem erweiterten, aber durchaus berechtigten Sinne.
Anderseits aber hat Freud gründlich mit der Illusion einer Sozialpsycho-
logie gebrochen, deren Objekt eine Gruppe als solche ist. So wenig er
einen isolierten Menschen als Objekt der Psychologie kennt, so wenig einen
„sozialen Trieb". Das, was man als solchen bezeichnet hat, ist für ihn
„kein ursprünglicher und unzerlegbarer" Trieb, sondern er sieht „die An-
fänge seiner Bildung in einem engeren Kreis, wie etwa in der Familie"
und er hat gezeigt, daß die in der Gruppe wirksamen psychischen Erschei-
nungen aus den im Einzelmenschen wirksamen psychischen Mechanismen
heraus zu verstehen sind und nicht etwa aus einer „Gruppenseele" als
solcher. 3
Der Unterschied zwischen Personalpsychologie und Sozialpsychologie er-
weist sich als ein quantitativer, nicht als ein qualitativer. Die Personal-
psychologie berücksichtigt alle Determinanten, die auf das Schicksal des
Einzelnen eingewirkt haben und kommt so zu einem maximal vollständigen
Bild von dessen individueller psychischer Struktur. Je mehr wir den Gegen-
stand der psychologischen Untersuchung verbreitern, d. h. je großer die
Zahl der Menschen ist, deren Gemeinsamkeiten es rechtfertigen, sie als
Gruppe zum Objekt einer psychologischen Untersuchung zu machen, desto
mehr müssen wir an Umfang der Einsicht in das Ganze der seehschen
Struktur des einzelnen Gruppenmitgliedes verzichten. In diesem Sinne etwa
müssen wir „Psychologie des Kindes" als Sozialpsychologie bezeichnen:
Es wird hier eine Gruppe von Menschen untersucht, deren Schicksal in
einer Reihe von Beziehungen, die psychologisch relevant sind, gemeinsam
ist. Je mehr wir den Umfang des Objektes einschränken, also etwa durch
Beschränkung auf die Psychologie des einzelnen oder mittleren Kindes, desto
1) Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Ges. Schriften, Bd. VT, S. 261.
2) Georg Simmel hat treffend auf den Trugschluß hingewiesen, der in der Annahme
der Gruppe als solcher als des Subjektes psychischer Erscheinung liegt. Er sagt: (Über
das Wesen der Sozialpsychologie. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik.
Bd. XXVI, 1908, S. 287 f.) „Das einheitliche äußere Ergebnis vieler subjektiver Seelen-
vorgänge wird als das Ergebnis eines einheitlichen Seelenvorganges gedeutet — näm-
lich eines Vorgangs in der Kollektivseele. Die Einheitlichkeit der resultierenden Er-
scheinung spiegelt sich in der vorausgesetzten Einheit ihrer psychischen Ursache! Das
Trügerische dieses Schlusses aber, auf dem die ganze Kollektivpsychologie in ihrem
generellen Unterschied gegen die Individualpsychologie beruht, liegt auf der Hand:
Die Einheit der Kollektivhandlungen, die nur auf der Seite des sichtbaren Ergeb-
nisses liegen, wird daraufhin für die Seite der inneren Ursache, des subjektiven Trägers,
erschlichen."
Die Entwicklung des Cliristusdogmas
größer wird der Umfang unserer Einsicht in die Struktur des einzelnen Kindes
dieser Gruppe. Dasselbe gilt für alle sozialpsychologischen Untersuchungen.
Je größer also die Zahl der Objekte einer psychologischen Untersuchung
ist, desto geringer ist die Einsicht in die Ganzheit der psychischen Struktur
des Einzelnen innerhalb der zu untersuchenden Gruppe. Wenn dies nicht
erkannt wird, kommt es leicht bei der Bemteilung der Ergebnisse sozial-
psychologischer Untersuchungen zu Mißverständnissen. Man erwartet etwas
von der individuellen psychischen Struktur des einzelnen Gruppenmitgliedes
zu hören, während die sozialpsychologische Untersuchung immer nur etwas
über die allen Gruppenmitgliedern gemeinsamen psychischen Charaktere
aussagen kann und die individuelle psychische Situation des Einzelnen dies-
seits jener Gemeinsamkeiten nicht berücksichtigt. Die Darstellung der be-
sonderen psychischen Eigenart des Einzelnen kann niemals Aufgabe der
Sozialpsychologie sein und ist immer nur möglich, wenn eine weitgehende
Kenntnis des Lebensschicksals des Individuums vorhanden ist. Wenn also
z.B. in einer sozialpsychologischen Untersuchung festgestellt wird, daß eine
Gruppe eine Regression von einer vaterfeindlichen Einstellung zu einer
passiv-gefügigen Haltung vornimmt, so bedeutet diese Aussage etwas anderes,
als wenn in einer personalpsychologischen Untersuchung dies vom Einzelnen
ausgesagt wird. Während es hier hieße, daß diese Regression für die ge-
samte Sohneseinstellung des Individuums gilt, heißt es dort, daß sie einen
durchschnittlich allen Gruppenmitgliedern gemeinsamen Zug darstellt, der
an bestimmter, näher anzugebender Stelle in Erscheinung tritt, aber im
Leben des Einzelnen neben andern durch sein individuelles Schicksal be-
stimmten Tendenzen gegebenenfalls eine untergeordnete Rolle spielen kann.
Der Wert sozialpsychologischer Einsicht kann also nicht darin liegen, daß
wir einen Einblick in die psychische Eigenart des einzelnen Gruppen-
mitgliedes bekommen, sondern nur darin, daß wir diese gemeinsamen
psychischen Tendenzen feststellen, deren überragende Bedeutung darin liegt,
daß sie als gemeinsame eine entscheidende Rolle in der gesellschaftlichen
Entwicklung spielen.
Die Überwindung einer prinzipiellen Gegenüberstellung von Personal-
und Sozialpsychologie, wie sie von der Psychoanalyse geleistet wurde, führt
als Konsequenz zur Einsicht, daß die Methode einer sozialpsychologischen
Untersuchung grundsätzlich und im wesentlichen keine andere sein kann
als die, welche die Psychoanalyse bei der Erforschung der Psyche des Einzelnen
anwendet. Es wird also gut sein, sich kurz auf das Wesentliche dieser Methode,
insoweit es für unser Problem hier von Bedeutung ist. zu besinnen.
wm- m
6 Endi Fromm
Freud geht davon aus, daß in der Verursachung der Neurosen — und
dasselbe gilt für die Triebstruktur des Gesunden — mitgebrachte Sexual-
konstitution und Erleben eine Ergänzungsreihe bilden. „An dem einen
Ende der Reihe stehen die extremen Fälle, von denen Sie mit Überzeugung
sagen können : Diese Menschen wären infolge ihrer absonderlichen Libido-
entwicklung auf jeden Fall erkrankt, was immer sie erlebt hätten, wie
sorgfältig sie das Leben auch geschont hätte. Am anderen Ende stehen die
Fälle, bei denen Sie umgekehrt urteilen müssen, sie wären gewiß der
Krankheit entgangen, wenn das Leben sie nicht in diese oder jene Lage
gebracht hätte. Bei den Fällen innerhalb der Reihe trifft ein Mehr oder
Minder von disponierender Sexualkonstitution mit einem Minder oder Mehr
von schädigenden Lebensanforderungen zusammen. Ihre Sexualkonstitution
hätte ihnen nicht die Neurose gebracht, wenn sie nicht solche Erlebnisse
gehabt hätten, und diese Erlebnisse hätten nicht traumatisch auf sie ge-
wirkt, wenn die Verhältnisse der Libido andere gewesen wären." 1
Der konstitutionelle Anteil an der psychischen Struktur des gesunden oder
kranken Menschen bleibt bei der psychischen Erforschung der Einzelnen für
die Psychoanalyse — und beim heutigen Stande der Wissenschaft weitgehend
für diese überhaupt — eine zu beachtende, aber unbekannte und nicht
näher bestimmbare Größe. Das, worum sich die Psychoanalyse kümmert, ist
das Erleben, und die Erforschung seines Einflusses auf die Triebentwicklung
bei einer gegebenen psychischen Konstitution ist ihr Hauptziel. Sie weiß
zwar, daß die Triebentwicklung des Einzelnen mehr oder weniger von
seiner Konstitution bestimmt ist, diese Einsicht ist eine Voraussetzung der
psychoanalytischen Arbeit, aber diese selbst gilt ausschließlich der Erforschung
der Frage nach der Einwirkung des Lebensschicksals auf die Triebentwick-
lung. In der Praxis bedeutet das, daß für die psychoanalytische Methode
eine maximale Kenntnis des Lebensschicksals des Einzelnen, vor allem
seiner frühkindlichen Erlebnisse, aber durchaus nicht nur dieser eine
wesentliche Bedingung ist. Sie sucht den Zusammenhang zwischen der
Spezifität der Schicksale und der Spezifität der Triebentwicklung. Da, wo
man die Lebensschicksale des Einzelnen nicht weitgehend kennt, ist jede
Analyse unmöglich. Man kann wohl bei bestimmten typischen Verhaltungs-
weisen, denen bestimmte typische Schicksale erfahrungsgemäß zugeordnet
sind, auf Grund eines Analogieschlusses, die entsprechenden Schicksale ver-
1) Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Ges. Schriften,
Bd. VII, S. 560.
Die Entwicklung des Cliristusdogiuas
muten, aber alle solche Analogieschlüsse enthalten doch einen mehr oder
weniger großen Unsicherheitsfaktor und es kommt ihnen nur eine sehr
beschränkte wissenschaftliche Geltung zu. Die Methode der Psychoanalyse
des Einzelnen ist also eine exquisit historische: Verständnis der Triebentwick-
lung aus der Kenntnis des Lebensschicksals.
Die Methode der Anwendung der Psychoanalyse auf Gruppen kann keine
andere sein. Auch die gemeinsamen psychischen Haltungen der Angehörigen
einer Gruppe sind nur zu verstehen aus den ihnen gemeinsamen Lebens-
schicksalen. Die psychoanalytische Sozialpsychologie kann nur eine ebenso
historische Methode haben, wie die psychoanalytische Personalpsychologie.
So wie diese aus der Kenntnis der Lebensschicksale des Einzelnen seine
Triebkonstellation zu verstehen sucht, kann auch die Sozialpsychologie nur
durch die genaue Kenntnis des Lebensschicksals eine Einsicht in die Trieb-
struktur der zu untersuchenden Gruppe gewinnen. Dabei besteht für den not-
wendigen Umfang der Kenntnis der Lebensschicksale ihrer Objekte dieselbe
quantitative Differenz, wie sie oben für den Umfang des sozialpsychologisch
erforschbaren Sektors der Einzelseele dargelegt wurde. So wie die Sozial-
psychologie nur Aussagen über die allen gemeinsamen psychischen Haltun-
gen machen kann, bedarf sie auch nur der Kenntnis der allen gemein-
samen und für alle charakteristischen Lebensschicksale. Nicht mehr, aber
bestimmt auch nicht weniger.
Wenn auch die Methode der Sozialpsychologie grundsätzlich keine andere
ist als die der Personalpsychologie, so gibt es doch eine Differenz, auf die
hinzuweisen notwendig ist.
Die psychoanalytische Forschung hat es vorwiegend mit neurotischen,
d. h. kranken Individuen zu tun, die sozialpsychologische Forschung mit
Massen, beziehungsweise gesellschaftlichen Gruppen von normalen, d. h.
nicht neurotisch erkrankten Personen.
Der neurotische Mensch ist charakterisiert dadurch, daß es ihm nicht
gelungen ist, sich psychisch der ihn umgebenden Realität anzupassen,
sondern daß er durch Fixierung gewisser Triebregungen, bestimmter psy-
chischer Mechanismen, die in einer frühen Periode seiner Kindheit einmal
angepaßt und entsprechend waren, in Konflikte mit der Realität kommt,
die in der Neurose ihren Ausdruck finden. Die seelische Struktur des
Neurotikers ist eben deshalb ohne die Kenntnis seiner frühkindlichen Er-
lebnisse fast ganz unverständlich, weil infolge seiner Neurose als Ausdrucks
seiner mangelnden Angepaßtheit, beziehungsweise des besonderen Umfangs
infantiler Fixierungen, auch seine Situation als Erwachsener im wesent-
/
I
8 Eridi Fromm
liehen von jener Situation als Kind determiniert ist. Auch für den Nor-
malen sind die frühkindlichen Erlebnisse von entscheidender Bedeutung.
Sein Charakter (im weitesten Sinn) ist von ihnen bestimmt und in seiner
Totalität ohne sie unverständlich. Aber weil er sich in viel höherem Maße
seelisch an seine Realität angepaßt hat als der Neurotiker, ist auch ein weit
größerer Sektor seiner seelischen Struktur aus der realen Lebenssituation,
in der er sich befindet, verständlich als bei diesem. Da die Sozialpsychologie
nicht den Anspruch erhebt, die Totalität der psychischen Struktur des
Gruppenmitgliedes zu verstehen, sondern nur die den Gruppenmitgliedern
gemeinsamen psychischen Einstellungen, kann sie also, weil sie es mit
Normalen, d. h. mit Menschen zu tun hat, auf deren seelische Situation
die Realität einen ungleich höheren Einfluß hat als auf den Neurotiker,
auch auf die Kenntnis der individuellen Kindheitserlebnisse der einzelnen
Mitglieder der zu untersuchenden Gruppe verzichten und aus der Kenntnis
der realen gesellschaftlich bedingten Lebenssituation, in die diese Menschen
nach den ersten Kindheitsjahren gestellt sind, Verständnis für die ihnen
gemeinsamen psychischen Haltungen gewinnen.
Die Problemstellung der sozialpsychologischen Untersuchung entspricht
der Methodik. Sie will erforschen, in welcher Weise gewisse den Mitgliedern
einer Gruppe gemeinsame psychische Haltungen ihren gemeinsamen Lebens-
schicksalen zugeordnet sind. So wenig es beim Einzelnen ein Produkt des
Zufalls ist, ob diese oder jene Triebrichtung dominiert, ob der Ödipus-
komplex diesen oder jenen Ausgang findet, ebensowenig ist es ein Zufall,
ob in der gesellschaftlichen Entwicklung, sei es im zeitlichen Ablauf bei
der gleichen, sei es gleichzeitig bei verschiedenen Schichten, Veränderungen
der psychischen Eigenart stattfinden. Das Problem der sozialpsychologischen
Untersuchung ist es aufzuzeigen, warum solche Veränderungen stattfinden
und wie sie sich aus dem gemeinsamen Lebensschicksal der Gruppen-
angehörigen verstehen lassen. Auch die sozialpsychologische Untersuchung
rechnet dabei mit den Gegebenheiten der psychischen Konstitution ihrer
Objekte und übersieht nicht, daß das Erleben nur die eine Seite der „Er-
gänzungsreihe darstellt. Aber in der Aufzeigung der Einwirkung des Lebens-
schicksals auf die psychische Struktur, beziehungsweise deren Rückwirkung
aof das Lebensschicksal besteht das eigentliche analytische Problem für die
Sozialpsychologie ebensogut wie für die Personalpsychologie.
Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit einem eng umgrenzten
Problem der Sozialpsychologie, mit der Frage nach den Motiven der Wand-
lung der Vorstellungen vom Verhältnis Gott-Vaters zu Jesus von der Zeit
Die Entwicklung des Christ usdognias
des Beginns des Christentums bis zur Formulierung des Nizeanischen Dogmas
im vierten Jahrhundert. Entsprechend den oben allgemein formulierten
Prinzipien will diese Untersuchung aufzeigen, inwiefern die Veränderung
gewisser Glaubensvorstellungen ein Ausdruck der psychischen Veränderung
der dahinterstehenden Menschen ist und diese Veränderungen wiederum
von den Lebensschicksalen dieser Menschen bedingt sind. Sie will die Ideen
aus den Menschen und ihren Schicksalen, nicht die Menschen aus dem
Schicksal ihrer Ideen verstehen und zeigen, daß das Verständnis der dog-
matischen Entwicklung nur möglich ist bei genügender Kenntnis des
Unbewußten, auf das die äußere Realität einwirkt und das seinerseits die
Bewußtseinsinhalte determiniert.
Die Methode dieser Arbeit bringt es mit sich, daß der Darstellung der
Lebensschicksale der zu untersuchenden Menschen, ihrer geistigen, wirt-
schaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Situation, kurz ihrer „psychi-
schen Oberfläche" ein verhältnismäßig großer Raum gewidmet sein muß.
Wenn der Leser dies als ein Mißverhältnis empfinden wird, so möge er
daran denken, daß auch in einer psychoanalytischen Krankengeschichte
der Darstellung des äußeren Schicksals, der Erlebnisse des Kranken, ein
verhältnismäßig großer Raum zukommt. Wenn in dieser Arbeit die Dar-
stellung der gesamten Kultursituation der zu analysierenden Massen und
ihrer äußeren Schicksale noch entschiedener hervortritt als die Schilderung
der Realsituation in einer Krankengeschichte, so liegt es darin begründet,
daß naturgemäß die historische Rekonstruktion, wenn sie nur einigermaßen
ausführlich und plastisch sein soll, unvergleichlich komplizierter und um-
fangreicher ist als die Wiedergabe einfacher Tatsachen, wie sie sich im
Leben eines Einzelnen zutragen. Wir glauben aber, daß dieser Nachteil in
den Kauf zu nehmen ist, weil nur so ein wirkliches analytisches Verständnis
historischer Phänomene erzielt werden kann.
Diese Untersuchung behandelt einen Gegenstand, der von einem der
prominentesten Vertreter der analytischen Religionsforschung, von Theodor
Reik 1 in seiner Studie über „Dogma und Zwangsidee" (Imago, Bd. XIII, 1927),
behandelt wurde. Die inhaltlichen Differenzen, die sich aus der verschiedenen
Methodik mit Notwendigkeit ergeben, werden, wie die methodischen Differenzen
selbst, erst am Schlüsse dieser Arbeit kurz behandelt werden.
1) Vgl. auch die anderen religionspsychologischen Arbeiten von Reik. Ferner
von Jones: Zur Psychoanalyse der christlichen Religion, und Storfer: Marias jung-
fräuliche Mutterschaft.
Eridi Fromi
Es sollen in dieser Arbeit die Veränderung bestimmter Bewußtseins-
inhalte, der dogmatischen Vorstellungen, aus der Veränderung unbewußter
seelischer Regungen erklärt und verstanden werden. Ganz entsprechend, wie
wir das beim methodischen Problem getan haben, wollen wir uns auch
hier in Kürze auf die für unsere Frage wichtigsten Ergebnisse der Psycho-
analyse besinnen.
II) Die sozialpsycnologisaie Funktion der Religion
Die Psychoanalyse ist eine Triebpsychologie, d. h. sie sieht die Lebens-
äußerungen des Menschen bedingt und bestimmt von Triebregungen, die
sie als Ausfluß gewisser physiologisch verankerter, aber selbst nicht un-
mittelbar zu beobachtender Triebe ansieht. Freud hat zunächst, ganz ent-
sprechend der populären Einteilung der Triebe in Hunger und Liebe, zwei
Gruppen von Trieben angenommen, die als Motoren des menschlichen
Seelenlebens wirksam sind: die Ich- oder Selbsterhaltungstriebe und die
Sexualtriebe. Unter dem Eindruck der Tatsache des libidinösen Charakters,
der auch den Selbsterhaltungstrieben innewohnt und der besonderen Bedeutung
destruktiver Tendenzen im seelischen Apparat des Menschen, hat er eine andere
Gruppierung der Grundtriebe vorgenommen, den lebenserhaltenden (erotischen)
die Zerstörungstriebe gegenübergestellt, ein Zusammenhang, auf den wir
hier nicht näher einzugehen brauchen. Wichtig ist für uns die Feststellung
einiger Qualitäten der Sexualtriebe, die sie von den Ichtrieben unter-
scheiden. Die Sexualtriebe sind nicht imperativischer Natur, es ist möglich,
ihre Anforderungen unbefriedigt zu lassen, ohne daß eine Bedrohung des
Lebens damit verbunden wäre, wie das bei dauernder Nichtbefriedigung
von Hunger, Durst und Schlafbedürfnis der Fall ist. Die Sexualtriebe
gestatten fernerhin bis zu einem gewissen, nicht unerheblichen Grade eine
Befriedigung in Phantasien und mit den Mitteln der eigenen Leiblichkeit,
sie sind infolgedessen weit unabhängiger von der Realität als die Ichtriebe.
Eng damit zusammenhängt ein weiteres: die leichte Verschiebbarkeit und
Vertauschbarkeit unter den einzelnen Sexualtrieben. Die Versagung der
Befriedigung einer Triebregung kann verhältnismäßig leicht durch den
Ersatz einer anderen befriedigbaren Triebregung wettgemacht werden; diese
Geschmeidigkeit und Beweglichkeit ihrerhalb der Sexualtriebe ist die Grund-
lage der außerordentlichen Variabilität der psychischen Struktur und in ihr
ist die Möglichkeit dafür begründet, daß das Lebensschicksal so bestimmend
und verändernd auf die Triebstruktur einwirken kann. Als den Regulator
Die Entwicklung des ChristusJognins
des seelischen Apparates sieht Freud das durch das Realitätsprinzip modi-
fizierte Lustprinzip an. Er sagt: „Wir wenden uns darum der anspruchs-
loseren Frage zu, was die Menschen selbst durch ihr "Verhalten als Zweck
und Absicht ihres Lebens erkennen lassen, wa c sie vom Leben fordern,
in ihm erreichen wollen. Die Antwort darauf ist kaum zu verfehlen; sie
streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und so bleiben. Dies
Streben hat zwei Seiten, ein positives und ein negatives Ziel, es will einer-
seit die Abwesenheit von Schmerz und Unlust, anderseits das Erleben starker
Lustgefühle. Im engeren Wortsinne wird , Glück' nur auf das letztere be-
zogen. Entsprechend dieser Zweiteilung der Ziele entfaltet sich die Tätigkeit
der Menschen nach zwei Richtungen, je nach dem sie das eine oder das andere
dieser Ziele — vorwiegend oder selbst ausschließlich — zu verwirklichen
sucht." 1 Das Streben des Individuums geht also dahin, bei gegebenen Ver-
hältnissen ein Maximum von Triebbefriedigung und ein Minimum von
Unlust zu erfahren, um der Unlustvermeidungen willen kann es Ver-
schiebungen innerhalb der verschiedenen Triebregungen oder auch Verzichte
vornehmen, während ein entsprechender Verzicht bei den Ichtrieben un-
möglich ist.
Die Eigenart der Triebstruktur eines Individuums hängt ab von seiner
psychischen Konstitution und in erster Linie von seinem frühinfantilen
Erleben. Die äußere Realität, die ihm die Refriedigung gewisser Trieb-
regungen garantiert, ihn anderseits zum Verzicht auf gewisse andere zwingt,
ist bestimmt durch die jeweilige gesellschaftliche Situation, in der der
Retreffende lebt. Diese gesellschaftliche Realität ist eine doppelte: die weitere
für alle Mitglieder der Gesellschaft geltende, und die engere Klassen realität
innerhalb der Gesellschaft, die nur für die Angehörigen der betreffenden
Klasse Geltung hat.
Die Gesellschaft hat für die seelische Situation des Einzelnen eine
doppelte Funktion: eine versagende und eine befriedigende. Die Trieb-
verzichte, die der Mensch vornimmt, entstammen nur zum kleinsten Teil
seiner eigenen Einsicht in die Gefährlichkeit und Schädlichkeit der ent-
sprechenden Refriedigung. Zum größten Teil sind es Verzichte, die ihm
die Gesellschaft auferlegt, und zwar erstens solche, bei denen die gesell-
schaftliche Einsicht von einer vom Einzelnen nicht übersehbaren wirklichen
Gefahr, die für ihn selber mit der Triebbefriedigung verbunden wäre,
zum Verbot führt, zweitens solche Triebverzichte, mit deren Refriedigung
1) Freud: Das Unbehagen in der Kultur, 1930, S. 25 f.
12 Eridi Fromm
zwar keine Gefahr für den Einzelnen, aber eine Schädigung der Gesamtheit
verbunden wäre, und endlich solche, bei denen der Triebverzicht nicht
im Interesse der Gesamtheit, sondern nur in dem einer anderen Klasse,
welcher der, dem verboten wird, nicht angehört, liegt.
Nicht minder deutlich als diese verbietende Funktion der Gesellschaft
ist ihre befriedigende. Das Individuum findet sich überhaupt nur mit ihr
ab, weil er durch ihre Hilfe auf ein gewisses Maß an Lustgewinn und
Unlust Vermeidung rechnen kann. Vor allem und zunächst mit Bezug auf
die Befriedigung seiner elementaren Selbsterhaltungsbedürfnisse, dann aber
weiter auch mit Bezug auf die der libidinösen Bedürfnisse.
Das bisher Gesagte berücksichtigt nicht die eigenartige Strukturiertheit
aller bisherigen Gesellschaft. Es ist ja nicht so, daß die Mitglieder der Gesell-
schaft sich gemeinsam beraten und feststellen, was die Gesellschaft erlauben
kann und was sie verbieten muß. Es ist vielmehr so, daß, solange die Pro-
duktivkräfte, beziehungsweise die Ergebnisse der menschlichen Arbeit (sei es
durch Mängel der Technik oder solche der gesellschaftlichen Organisation)
nicht ausreichen, allen außer dem Schutz vor äußeren Gefahren und der
Befriedigung der elementaren Ichbedürfnisse auch noch ein ausreichendes
Maß an Befriedigung kultureller Bedürfnisse zu gewähren, sich die Stärksten
zusammentun, für eine maximale Befriedigung ihrer Bedürfnisse zunächst
sorgen und daß das Maß an Befriedigung, das sie den Beherrschten ge-
währen, einerseits abhängt vom Stande der allgemein zur Verfügung
stehenden Befriedigungsmöglichkeiten oder anders ausgedrückt von dem
Maß dessen, was sich die Herrschenden zugunsten der Beherrschten ent-
ziehen müssen, anderseits davon, daß den Beherrschten das Minimum an
Befriedigung gewährt werden muß, bei dem sie noch als mitarbeitende
Glieder der Gesellschaft zu fungieren bereit und imstande sind. Die gesell-
schaftliche Stabilität beruht nur zum kleineren Teil auf Mitteln der äußeren
Gewalt, zum größeren Teil beruht sie darauf, daß die Menschen sich in
einer solchen seelischen Verfassung befinden, die sie innerlich in einer
bestehenden gesellschaftlichen Situation verwurzelt. Dazu ist, wie wir oben
sahen, ein Minimum an Befriedigung der natürlichen und kulturellen Trieb-
bedürfnisse nötig. Aber für die psychische Fügsamkeit der Masse ist noch
etwas anderes wichtig, was mit der eigenartigen Strukturiertheit der Gesell-
schaft in Klassen zusammenhängt.
Freud hat darauf hingewiesen, daß die Hilflosigkeit und Schutzbedürftig-
keit des Menschen der Natur gegenüber eine Wiederholung der Situation
ist, in der sich der Erwachsene einst als Kind befand, wo er des Schutzes
Die Entwicklung des Christusdognins
und der Hilfe gegen fremde Übermächte nicht entbehren konnte und wo
seine Liebesregungen, den Wegen der narzißtischen Regungen folgend, sich
zunächst an die Objekte heften, die ihm ersten Schutz und Befriedigung
gewähren, an die Mutter und an den Vater. In dem Maße, als die Gesell-
schaft der Natur hilflos gegenübersteht, muß sich für das einzelne Mitglied
der Gesellschaft auch als Erwachsenem die psychische Situation der Kind-
heit wiederholen. Es überträgt einen Teil der kindlichen Liebe und Angst,
aber auch der Abneigung auf eine Phantasiegestalt, auf Gott. Daneben aber
auch auf Gestalten der Realität, nämlich auf die Repräsentanten der herr-
schenden Klasse. In der Strukturiertheit der Gesellschaft in Klassen wieder-
holt sich für den Einzelnen die infantile Situation. Er sieht in den Herr-
schenden die Mächtigen, Starken, Weisen, zu Ehrfürchtenden, glaubt daran,
daß sie es gut mit ihm meinen und nur sein Bestes wollen, weiß, daß
jede Auflehnung gegen sie bestraft wird und ist befriedigt, wenn er durch
Gefügigkeit ihr Lob erringen kann. Es sind ganz die gleichen Gefühle,
die er als Kind dem Vater gegenüber hatte und es versteht sich, daß er
ebenso geneigt ist, kritiklos an das zu glauben, was ihm von den Herr-
schenden als richtig und wahr dargestellt wird, wie er als Kind gewohnt
war, dem Vater für jede Behauptung kritiklos Glauben zu schenken. Die
Figur Gottes bildet die Ergänzung dieser Situation. Gott ist immer der
Verbündete der Herrschenden. Wenn diese, da sie immerhin reale Persön-
lichkeiten sind, der Kritik eine Angriffsfläche bieten, so können sie sich
auf Gott stützen, der infolge seiner Irrealität nur der Kritik spottet und
durch seine Autorität die der herrschenden Klasse festigt.
In dieser psychologischen Situation, der der infantilen Gebundenheit der
Beherrschten an die Herrschenden, liegt eine der wesentlichsten Garantien
der gesellschaftlichen Stabilität. Die Beherrschten sind bereit, zugunsten der
Herrschenden auf die Befriedigung gewisser Triebregungen zu verzichten,
sie sind bereit, deren Strafandrohungen zu respektieren und an die Weisheit
ihrer Anordnungen zu glauben, weil sie sich ihnen gegenüber in der
gleichen Situation befinden, in der sie als hilflose Kinder einst dem Vater
gegenüberstanden und weil die gleichen Mechanismen hier wie dort statt-
haben. Diese psychische Situation bekommt ihre Festigkeit durch eine große
Reihe schwerwiegender und komplizierter Maßnahmen seitens der Herr-
schenden, die alle die Funktion haben, die Masse in ihrer infantilen psychi-
schen Abhängigkeit zu erhalten und zu bestärken, die herrschende Klasse
dem Unbewußten der Masse als Vaterfigur suggestiv aufzunötigen. Eines
der wesentlichsten Mittel zu diesem Zweck ist die Religion. Sie hat die
14
Eridi Froi
Aufgabe, die psychische Selbständigkeit der Masse zu verhindern, sie intel-
lektuell einzuschüchtern, sie in die gesellschaftlich notwendige infantile
Gefügigkeit den Herrschenden gegenüber zu bringen. Sie hat aber gleich-
zeitig noch eine wesentliche andere Funktion, sie soll nämlich den Massen
ein gewisses Maß an Befriedigung bieten, das ihnen das Leben soweit
erträglich macht, daß sie nicht den Umschlag von der Position des ge-
horsamen in die des aufrührerischen Sohnes vornehmen.
Welcher Art sind diese Befriedigungen ? Gewiß nicht solche der Selbst-
erhaltungstriebe, kein Mehr an Essen, Trinken und realen Genüssen.
Insoweit es sich um solche handelt, sind sie nur in der Realität zu ge-
währen, dazu braucht man keine Religion, und gerade diese soll ja dazu
dienen, der Masse den Verzicht auf so viele Versagungen, die die Realität
ihnen bietet, leichter zu machen. Die Befriedigungen, die die Religion zu
bieten hat, sind libidinöser Natur, es sind Befriedigungen, die sich i m
wesentlichen in der Phantasie des zu Befriedigenden abspielen, und sie
können es sein, weil die libidinösen Impulse im Gegensatz zu den Ich-
trieben eine Befriedigung in Phantasien gestatten.
Wir sind hier bei der Frage nach einer der psychischen Funktionen der
Religion angelangt und wir wollen uns kurz auf die wichtigsten Ergebnisse
der Forschungen Freuds besinnen. Freud hat in „Totem und Tabu" ge-
zeigt, daß der Tiergott des Totemismus der erhöhte Vater ist, daß sich im
Verbot das Totemtier zu töten und zu verzehren und der dazu im Gegen-
satz stehenden feierlichen Sitte, das Verbotene einmal im Jahre doch zu
begehen, die ambivalente Einstellung wiederholt, die der Mensch als Kind
seinem Vater gegenüber erworben hat, der gleichzeitig helfender Beschützer
und unterdrückender Rivale ist. Es ist besonders von Reik gezeigt worden
daß diese Übertragung der dem Vater geltenden infantilen Einstellung auf
Gott auch in den großen Kulturreligionen stattfindet, daß die Gefühls-
einstellung des gläubigen Christen oder Juden zu seinem Gotte dieselben
Züge der Ambivalenz aufzeigt, wie sie beim Kind dem Vater gegenüber ge-
herrscht haben. Die eben dargelegte erste Fragestellung Freuds und seiner
Schüler war die nach der psychischen Beschaffenheit der religiösen Einstellung
zu Gott und die Antwort lautete, daß in der Einstellung des Erwachsenen
zu Gott sich die infantile Einstellung des Kindes zum Vater wiederholt.
Diese infantile psychische Situation stellt Vorbild und Möglichkeit der reli-
giösen Situation dar. In seiner „Zukunft einer Illusion" ist Freud über
diese Fragestellung hinaus zu einer weiteren übergegangen. Er fragt nicht
mehr nur, wie ist Religion psychologisch möglich, sondern er fragt weiter,
Die Entwicklung des Cliristusdogmas 4 £
warum ist Religion oder war sie bisher nötig. Er gibt auf diese Frage eine
Antwort, die gleichzeitig psychische und soziale Tatsachen berücksichtigt.
Er spricht der Religion die Wirkung eines Narkotikums zu, das geeignet
ist, den Menschen in seiner Ohnmacht und Hilflosigkeit den Naturkräften
gegenüber einigen Trost zu gewähren. „Denn diese Situation ist nichts Neues,
sie hat ein infantiles Vorbild, ist eigentlich nur die Fortsetzung des früheren,
denn in solcher Hilflosigkeit hatte man sich schon einmal befunden, als
kleines Kind einem Elternpaar gegenüber, das man Grund hatte zu fürchten,
zumal den Vater, dessen Schutzes man aber auch sicher war gegen die Ge-
fahren, die man damals kannte. So lag es nahe, die beiden Situationen ein-
ander anzugleichen. Auch kam wie im Traumleben der Wunsch dabei auf
seine Rechnung. Eine Todesahnung befällt den Schlafenden, will ihn in
das Grab versetzen, aber die Traumarbeit weiß die Bedingung auszuwählen,
unter der auch dies gefürchtete Ereignis zur Wunscherfüllung wird; der
Träumer sieht sich in einem alten Etruskergrab, in das er selig über die
Befriedigung seiner archäologischen Interessen hinabgestiegen war. Ähnlich
macht der Mensch die Naturkräfte nicht einfach zu Menschen, mit denen er
wie mit seinesgleichen verfahren kann, das würde auch dem überwältigen-
den Eindruck nicht gerecht werden, den er von ihnen hat, sondern er gibt
ihnen Vatercharakter, macht sie zu Göttern, folgt dabei nicht nur einem
infantilen, sondern auch, wie ich versucht habe zu zeigen, einem phylo-
genetischen Vorbild. Mit der Zeit werden die ersten Beobachtungen von
Regel und Gesetzmäßigkeit an den Naturerscheinungen gemacht, die Natur-
kräfte verlieren damit ihre menschlichen Züge. Aber die Hilflosigkeit der
Menschen bleibt und damit ihre Vatersehnsucht und die Götter. Die Götter
behalten ihre dreifache Aufgabe, die Schrecken der Natur zu bannen, mit
der Grausamkeit des Schicksals, besonders wie es im Tode sich zeigt, zu
versöhnen und für die Leiden und Entbehrungen zu entschädigen, die
dem Menschen durch das kulturelle Zusammenleben auferlegt werden." 1
Freud beantwortet auch die Frage danach, worin die innere Kraft der
religiösen Lehren besteht, welchem Umstand sie ihre von der vernünftigen
Anerkennung unabhängige Wirksamkeit verdanken. „Die religiösen Vor-
stellungen", sagt er, „sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder End-
resultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärk-
sten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke
ist die Stärke dieser Wünsche. Wir wissen schon, der schreckende Ein-
1) Freud: Zukunft einer Illusion. 1927, S. 25 f.
Erich Fromm
druck der kindlichen Hilflosigkeit hat das Bedürfnis nach Schutz — Schutz
durch Liebe — erweckt, dem der Vater abgeholfen hat, die Erkenntnis von
der Fortdauer dieser Hilflosigkeit fürs ganze Leben hat das Festhalten an
der Existenz eines — aber nun mächtigeren Vaters — verursacht. Durch
das gütige Walten der göttlichen Vorsehung wird die Angst vor den Ge-
fahren des Lebens beschwichtigt, die Einsetzung einer sittlichen Weltordnung
versichert die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderung, die innerhalb der
menschlichen Kultur unerfüllt geblieben ist, die Verlängerung der irdischen
Existenz durch ein zukünftiges Leben stellt den örtlichen und zeitlichen
Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen vollziehen sollen. Ant-
worten auf Rätselfragen der menschlichen Wißbegierde, wie nach der Ent-
stehung der Welt und der Beziehung zwischen Körperlichem und Seelischem
werden unter den Voraussetzungen dieses Systems entwickelt; es bedeutet
eine großartige Erleichterung für die Einzelpsyche, wenn die ganz über-
wundenen Konflikte der Kinderzeit aus dem Vaterkomplex ihr abgenommen
und einer von allen angenommenen Lösung zugeführt werden." 1
Freud sieht also die Möglichkeit der religiösen Einstellung in der in-
fantilen Situation, ihre (relative) Notwendigkeit in der Tatsache der Ohn-
macht und Hilflosigkeit des Menschen gegenüber der Natur und er zi erit
die Konsequenz, bei wachsender Beherrschung der Natur durch die Menschen
die Religion als eine überflüssig werdende Illusion anzusehen.
Fassen wir das bisher Gesagte kurz zusammen : Der Mensch strebt nach
einem Maximum an Lustgewinn, die gesellschaftliche Realität zwingt ihn
■zu vielen Triebverzichten und die Gesellschaft versucht, den Einzelnen für
diese Triebverzichte durch andere, für die Gesellschaft beziehungsweise die
herrschende Klasse unschädliche Befriedigungen zu entschädigen.
Diese Befriedigungen sind solche, die sich im wesentlichen in Phantasien
vollziehen, und zwar in kollektiven, allen gemeinsamen; wir können sie als
gemeinsame Phantasiebefriedigungen bezeichnen. Sie erfüllen eine wichtige
Funktion in der gesellschaftlichen Realität. Insoweit diese Realbefriedigungen
nicht gestattet, treten die Phantasiebefriedigungen als Ersatz ein und werden
zu einer mächtigen Stütze der gesellschaftlichen Stabilität. Je größer die
Versagungen sind, die die Menschen in der Realität erleiden, desto stärker
muß dafür Sorge getragen werden, daß sie sich durch Phantasiebefriedigung
für die realen Versagungen entschädigen können. Die Phantasiebefriedigungen
haben die doppelte Funktion jedes Narkotikums, sie sind schmerzlindernd,
i) Freud, a.a.O. S. 47 f.
Die !'. Ill :v ul. I :: i : ;.; Je« CliriSlusdoginaS
aber gleichzeitig auch ein Hindernis der aktiven Einwirkung auf die Realität.
Die gemeinsamen Phantasiebefriedigungen haben gegenüber den individuellen
Tagträumen einen wesentlichen Vorzug darin, daß sie infolge ihrer Gemeinsam-
keit für das Bewußtsein wirken, wie eine Einsicht von realen Tatsachen. Eine
Illusion, die von allen phantasiert wird, wird zur Realität. Die älteste dieser
kollektiven Phantasiebefriedigungen ist die Religion. Mit der fortschreitenden
Entwicklung der Gesellschaft werden die Phantasien komplizierter und in
höherem Maße rational bearbeitet. Die Religion selbst wird differenzierter,
neben sie tritt Dichtung, bildende Kunst, Philosophie und Moral als Inhalt
der kollektiven Phantasien.
Inhalt und Umfang der Phantasiebefriedigungen wird bestimmt einer-
seits von der psychischen Konstitution, anderseits von der sozialen Realität.
Die soziale Realität ist dadurch charakterisiert, daß sie in der bisherigen
Geschichte der Menschheit immer eine Klassenrealität war, d. h., daß sich
immer eine herrschende, psychisch die Vaterrolle einnehmende und eine
beherrschte, die Kindesrolle einnehmende Klasse gegenüberstanden. Das be-
deutet, daß die Richtung der Triebbedürfnisse und Befriedigungen der Masse
nicht nur bestimmt wird von der allgemeinen gesellschaftlichen Situation,
d. h. vom jeweiligen Grad der Beherrschung der Natur durch die Menschen,
sondern speziell von der Klassensituation, die erfordert, daß der Angehörige
der beherrschten Klasse sich in einem für die gesellschaftliche Stabilität
zweckmäßigen psychischen Abhängigkeitsverhältnis zur herrschenden Klasse
befindet. Die Religion hat also eine dreifache Funktion: für alle Menschen
die des Trostes für die allen vom Leben aufgezwungenen Versagungen, für
die große Masse die der suggestiven Beeinflussung im Sinne ihres psychi-
schen Abfindens mit ihrer Klassensituation und für die herrschende Klasse
die der Entlastung vom Schuldgefühl gegenüber der Not der von ihr Unter-
drückten.
Die folgende Untersuchung soll an einem ganz kleinen Ausschnitt der
religiösen Entwicklung das allgemein Gesagte im einzelnen nachweisen. Es
wird versucht werden zu zeigen, welchen Einfluß die äußere Realität in
einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Gruppe Menschen hatte,
wie sich deren psychische Situation in bestimmten Glaubensvorstellungen,
d. h. in gewissen kollektiven Phantasien ausdrückte, weiterhin welche psychi-
sche Veränderung durch die Veränderung der äußeren Situation herbei-
geführt wurde, und wie diese psychische Veränderung auf dem Wege über
das Unbewußte in neuen, bestimmte Triebregungen befriedigenden, reli-
giösen Phantasien Ausdruck fand, und es wird dabei deutlich werden, wie
Fromm: Christusdogma. 2
__
E-ridi Fromm
eng der Wandel in den religiösen Vorstellungen verknüpft ist, einerseits
mit der Wiederbelebung verschiedener infantiler Beziehungsmöglichkeiten
zum Vater beziehungsweise zur Mutter, anderseits mit der Veränderung der
Einstellung zur herrschenden Klasse und ihren Vertretern, beziehungsweise
der sozialen und ökonomischen Situation.
Der Gang der Untersuchung ist durch die methodischen Voraussetzungen,
von denen bisher gesprochen wurde, bestimmt. Es soll das Dogma aus den
Menschen, nicht die Menschen aus dem Dogma verstanden werden. Wir
werden also zunächst versuchen, eine Darstellung der Gesamtsituation jener
Schicht zu geben, aus der der urchristliche Glaube entstanden und den
psychologischen Sinn dieses Glaubens aus der psychischen Gesamtsituation
dieser Menschen zu verstehen suchen. Es wird dann weiter dargestellt werden,
welche ganz andere Menschen in einer anderen psychischen Situation die
Träger des Christentums dreihundert Jahre später waren, um dann wiederum
den unbewußten Sinn des Christusdogmas, wie es sich als Endprodukt einer
dreihundert] ährigen Entwicklung herauskristallisierte, aus der Situation jener
Menschen heraus zu verstehen. Es wird in dieser Arbeit im wesentlichen
nur das Anfangs- und Endprodukt der dogmatischen Entwicklung, der Ur _
christliche Glaube und das nizäanische Dogma behandelt werden. ]} ie
Untersuchung der verschiedenen Stufen der dogmatischen Entwicklung wir^
auf einige wenige Andeutungen beschränkt sein und soll einer besondere^
Arbeit vorbehalten bleiben.
III) Das Urchristentum und seine Vorstellung von Jesus
Jeder Versuch, die Entstehung des Christentums zu verstehen, muß mit
der Untersuchung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, geistigen und
psychischen Situation seiner ersten Träger beginnen. 1
Palästina war ein Teil des römischen Imperiums und unterlag den Be-
dingungen von dessen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung.
Das Augustäische Prinzipat hatte das Ende der Herrschaft einer feudalen
Oligarchie bedeutet und dem städtischen Bürgertum zum Siege verholfen.
Der wachsende internationale Verkehr bedeutete keine Verbesserung für die
1) Vgl. für die wirtschaftliche Entwicklung besonders Rostovtzeff: Social and
economic history of the Roman empire. Oxford 1926. — Max Weber: Die sozialen
Gründe des Untergangs der antiken Kultur in Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte. 1924. — E. Mayer: Sklaverei im Altertum. Kleine Schriften,
2. Aufl., 1924, Bd.I. — K. Kautsky. Der Ursprung des Christentums. 15. Aufl., 1923.
Die Entwicklung des Cliristiisdognias
großen Massen, keine stärkere Befriedigung der Alltagsbedürfhisse, sondern
interessiert war an ihm nur die dünne Schicht der besitzenden Klasse. Ein
erwerbsloses Hungerproletariat von vorher nie gekanntem Umfange füllte
die Städte. Jerusalem war wohl nächst Rom die Stadt, die relativ am
meisten Proletariat dieser Art enthielt. Die Handwerker, die in der Regel
nur Heimarbeiter waren, gehörten zum großen Teil zum Proletariat und
kamen leicht dazu, mit den Bettlern, Lastträgern und Bauern gemeinsame
Sache zu machen. Dabei war die Lage des jerusalemitischen Proletariats
noch schlimmer als die des römischen. Besaß es doch nicht das römische
Bürgerrecht und wurde nicht von den Kaisern durch die großen Getreide-
verteilungen und die prunkvollen Spiele und Schaustellungen mit den not-
wendigsten Bedürfnissen für Magen und Herz versorgt.
Die Landbevölkerung wurde durch den außerordentlichen Steuerdruck
ausgesogen, kam in Schuldknechtschaft oder dem kleinen Bauern wurden
seine Produktionsmittel oder sein Stückchen Land völlig genommen. Ein
Teil dieser Bauern verstärkte das großstädtische Proletariat Jerusalems, ein
anderer griff zum letzten Verzweiflungsmittel, zu gewaltsamen politischen
Erhebungen oder zu Räubereien. Über diesem verarmten und verzweifelten
Proletariat und Lumpenproletariat erhob sich in Jerusalem wie im ganzen
Römischen Reich eine Schicht mittleren und wirtschaftlich, wenn auch
unter dem römischen Druck leidenden, so doch eingeordneten und einiger-
maßen existenzfähigen Bürgertums und darüber die dünne, aber mächtige
und einflußreiche Schicht der feudalen, priesterlichen und Geldaristokratie.
Der starken wirtschaftlichen Spannung innerhalb der palästinensischen
Bevölkerung entsprach die gesellschaftliche Differenzierung. Pharisäer, Saduzäer
und Zeloten waren die diese Differenzen repräsentierenden politischen und
religiösen Gruppen. Die Saduzäer waren die Vertreter der reichen Oberschicht.
„Ihrer Anhänger sind nur wenige, doch gehören sie den besten Ständen an." 1
Josephus berichtet an anderer Stelle von ihrem aristokratischen Gehaben,
daß „sie mit ihren Gesinnungsgenossen so abstoßend wie mit ihren Freunden
verkehren . 2
Neben dieser zahlenmäßig geringen feudalen Oberschicht standen die
Pharisäer, die Vertreter des mittleren und kleineren städtischen Bürgertums,
die sich „eng aneinander anschließen und zum Wohle der Gesamtheit die
Eintracht hoch halten . 3 Sie „kennen keine Annehmlichkeiten. Was ver-
1) Josephus: Altertümer. XVIII, 1, 4.
2) Josephus: Geschichte des jüdischen Krieges. II, 8, 14.
5) Josephus: Geschichte des jüdischen Krieges. II, 8, 14.
Jt
Eridi Fromm
nünftige Überlegung als gut erscheinen läßt, dem folgen sie und halten
es überhaupt für ihre Pflicht, den Vorschriften der Vernunft nachzukommen.
Die Alten ehren sie und maßen sich nicht an, den Anordnungen derselben
zu widersprechen. Wenn sie behaupten, alles geschehe nach einem bestimmten
Schicksal, so wollen sie damit dem menschlichen Willen nicht das Vermögen
absprechen sich selbst zu bestimmen, sondern lehren, es habe Gott gefallen,
die Macht des Schicksals und die menschliche Vernunft zusammenwirken
zu lassen, so daß jeder es nach seinem Willen mit dem Laster oder der
Tugend halten könne. Sie glauben auch, daß die Seelen unsterblich sind
und daß dieselben, je nachdem ob der Mensch tugendhaft oder lasterhaft
gewesen, unter der Erde Lohn oder Strafe erhalten, so daß die Lasterhaften
in ewiger Kerkerhaft schmachten müssen, während die Tugendhaften die
Macht erhalten, ins Leben zurückzukehren. Infolge dieser Lehren besitzen
sie beim Volke solchen Einfluß, daß sämtliche gottesdienstlichen Verrich-
tungen, Gebete wie Opfer, nur nach ihrer Anleitung dargebracht werden" i
Das Bild des mittelländischen Bürgertums, das Josephus von den Pharisäern
gibt, ist zweifellos einheitlicher als es der Wirklichkeit entsprach. Zu de
Pharisäern beziehungsweise ihrem Anhang gehörten Elemente, die aus d
untersten proletarischen Schichten des Volkes stammten und nach "h
ganzen Lebensweise mit ihnen in Verbindung blieben (z. B. Rabbi AVI
zugleich aber Angehörige des wohlhabenden städtischen Bürgertums TV '
soziale Differenz fand auch in verschiedener Weise ihren Ausdruck,
deutlichsten in den politischen Gegensätzen innerhalb des Pharisäertum
wie sie bei der Frage der Haltung zum Römischen Staat und zu den revoluti
nären Bewegungen entbrannten. Aber trotz dieser Differenzierung bildete
die Pharisäer zunächst eine relativ einheitliche Gruppe des mittleren Bürge
tums unter Führung einer intellektuellen Schicht, die das Volk geistig b
herrschte und eine Autorität für die Masse darstellte.
Allerdings nicht für die allerunterste Schicht des städtischen Lumpen
Proletariats und der unterdrückten Bauern- Sie, der sogenannte „Am-Haarez"
(eigentlich Landvolk), standen in einem schroffen Gegensatz zu den Pharisäern
und ihrem weiteren Anhang. Sie waren ja eine Schicht, die durch die
wirtschaftliche Entwicklung ganz entwurzelt worden war, die nichts zu
verlieren und vielleicht etwas zu gewinnen hatte. Sie standen wirtschaftlich
und gesellschaftlich außerhalb der gefügten und in das Ganze des römischen
Imperiums eingeordneten jüdischen Gesellschaft. Sie folgten nicht den Phari-
l) Josephus: Jüdische Altertümer. XVIII, 1, 3.
Die EnlTvidtluiig des Clinstu«doginas
31
säern und verehrten sie nicht, sondern haßten sie und wurden von ihnen
verachtet. Recht charakteristisch für diese Einstellung ist die Äußerung
Akibas, eines der bedeutendsten Pharisäer, der selber aus dem Proletariat
stammte: „Als ich noch ein Am-Haarez war, sagte ich, ach, möchte ich
doch einen Gesetzeslehrer treffen, ich würde ihn beißen wie einen Esel." 1
Wir erfahren an der gleichen Stelle des Talmuds noch eine Reihe von
Äußerungen, die von dem Verhältnis von Pharisäern zum Am-Haarez ein
deutliches Bild geben. „Man soll alles, was man hat verkaufen und die
Tochter eines Gelehrten heiraten, findet man eine solche nicht, dann soll
man die Tochter eines Vornehmen heiraten, findet man eine solche nicht,
dann soll man die Tochter eines Synagogenvorstehers heiraten, findet man
eine solche nicht, so soll man die Tochter eines Almoseneinnehmers heiraten,
findet man eine solche nicht, so soll man die Tochter eines Elementar-
lehrers heiraten. Nicht heiraten soll man aber die Tochter eines Am-Haarez,
weil sie ein Greuel, ihre Weiber ein Abscheu sind, und auf ihre Töchter
ist gesagt (5. Buch Moses 27): „Verflucht sei, wer bei irgend einem Vieh
schläft." Oder weiter: R.Jochanan sagt: „Einen Am-Haarez darf man zer-
reißen wie einen Fisch." „Wer seine Tochter einem Am-Haarez verheiratet,
der tut so, als ob er sie gefesselt vor einen Löwen würfe, so wie ein Löwe
stampft und frißt und keine Scham hat, so auch der Am-Haarez, der brutal
und schamlos bei ihr schläft." R.Eliezer sagt: „Hätten sie (der Am-Haarez)
uns in wirtschaftlicher Beziehung nicht nötig, sie hätten uns längst tot-
geschlagen." „Der Haß, mit dem der Am-Haarez den Gelehrten haßt, ist
größer als der Haß der Heiden gegen die Juden. „Sechs Dinge gelten
vom Am-Haarez: Man berufe keinen Am-Haarez zur Zeugenschaft und
nehme keine von ihm an, man mache ihn nicht zum Mitwisser eines Ge-
heimnisses, nicht zum Waisenvormund und Verwalter von Wohltätigkeits-
geldern, man gehe in seiner Begleitung nicht auf Reisen und lasse nicht
bekanntmachen wenn er etwas verloren hat. 2 Die hier angeführten Äuße-
rungen, die sich noch um eine ganze Reihe vermehren ließen, stammen
aus pharisäischen Kreisen und zeigen, mit welchem Haß und mit welcher
Verachtung man in diesen Kreisen dem Am-Haarez gegenüberstand, aber
auch mit welchem Haß und mit welcher Erbitterung der gemeine Mann
die Gelehrten und ihren Anhang gehaßt haben mag. 5
1) Talmud, Pesachim 49 b .
2) Alle eben zitierten Äußerungen: Talmud Pesachim 48 b .
3I Vgl. Friedhändler: Die religiösen Bewegungen innerhalb des Judentums im
Zeitalter Jesu. Berlin 1905.
23
Endi Fromm
Es war nötig, den Gegensatz innerhalb der palästinensischen Judenheit
zwischen Aristokratie, mittlerem und kleinem Bürgertum beziehungsweise
deren intellektuellen Führern und dem besitzlosen Proletariat der Stadt und
seinen bäuerlichen Verbündeten zu schildern, um ein Verständnis für die
Voraussetzungen der politischen und religiösen Befreiungsbewegungen, deren
eine das Urchristentum war, zu gewinnen. Eine noch weitergehende Dar-
stellung der Differenzierung innerhalb der Pharisäer, die eine außerordentlich
schillernde Schicht waren, ist für die Zwecke dieser Untersuchung nicht
nötig und würde zu weit abführen. Die Gegensätze innerhalb der pharisäi-
schen Gruppe wie zwischen den bürgerlichen und proletarischen Schichten
nahmen zu, je härter der römische Druck wurde und je mehr die unterste
Schicht wirtschaftlich vernichtet und entwurzelt wurde. In demselben Maße
wurden auch die untersten Klassen der Gesellschaft zum Träger nationaler,
sozialer und religiöser Befreiungsbewegungen.
Diese revolutionären Bestrebungen der Masse fanden ihren Ausdruck in
zwei Richtungen: In politischen Aufstands- und Befreiungsversuchen,
die gegen die eigene Aristokratie und die Römer gerichtet waren und in.
religiös-messianischen Bewegungen aller Art, wobei allerdings zwischen
diesen beiden Strömen des Freiheits- und Erlösungswunsches eine strenge
Scheidung nicht zu machen ist und sie oft ineinanderfließen. Die messiani-
sehen Bewegungen selbst fanden teils praktische, teils nur literarische Aus-
drucksformen.
Die wichtigsten Bewegungen dieser Art seien hier kurz erwähnt.
Kurz vor dem Tode des Königs Herodes, also zu einer Zeit, wo neben
der römischen Oberherrschaft noch der Druck von deren jüdischen Beauf-
tragten auf dem Volke lastete, kam es unter Führung zweier pharisäischer
Gelehrter zu einem Volksaufstand in Jerusalem, bei dem der römische
Adler am Eingang zum Jerusalemer Tempel zerstört wurde. Die Aufrührer
wurden getötet, die Hauptanstifter bei lebendigem Leibe verbrannt. Nach
dem Tode des Herodes demonstrierte die Masse vor seinem Nachfolger
Arechelaus. Man verlangte die Freilassung der politischen Gefangenen,
Abschaffung der Marktsteuern und Herabsetzung der jährlichen Abgaben.
Diese Forderungen fanden keine befriedigende Erfüllung. Eine große Volks-
kundgebung, die im Zusammenhang mit diesen Ereignissen im Jahre vier v. Chr.
stattfand, wurde blutig zerstreut, Tausende der Demonstranten von den
Soldaten getötet. Aber die Bewegung wurde immer stärker. Die Volks-
erhebung rückte immer näher. Sieben Wochen später schon kommt es in
der Hauptstadt zu neuen blutigen revolutionären Aufständen gegen die Römer.
1
Die Entwicklung des C^hnstusdogTnas
Aber auch die Landbevölkerung rührte sich. In dem alten revolutionären
Zentrum Galiläa kam es zu Kämpfen mit den Römern, in Transjordanien
zu einer Meuterei. Ein ehemaliger Hirt bildete Freischärlertruppen und
führte einen Bandenkrieg gegen die Römer.
Das war die Situation des Jahres vier v. Chr. Nicht ganz leicht wurden
die Römer mit den revoltierenden Massen fertig. Sie krönten ihren Sieg
dadurch, daß sie zweitausend gefangene Aufständische ans Kreuz schlugen.
Einige Jahre blieb das Land ruhig. Aber schon kurz nach der Einsetzung
einer direkten römischen Verwaltung für das Land im Jahre sechs n. Chr.,
die ihre Tätigkeit mit einer zu Steuerzwecken dienenden Volkszählung
begann, kam es zu einer neuen Aufstandsbewegung. Es beginnt aber hier
schon die deutliche Scheidung zwischen der unteren und mittleren Klasse.
Wenn noch zehn Jahre zuvor die Pharisäer mit den Aufständischen gegangen
waren, so kam es jetzt zu einer Spaltung zwischen den städtischen und
bäuerlichen revolutionären Massen einerseits und den Pharisäern anderseits.
Das städtische und bäuerliche Proletariat sammelte sich in einer neuen
Partei, der der Zeloten, während das mittlere Bürgertum unter Führung
der Pharisäer zur Versöhnung mit den Römern bereit war. Die Verzweiflung
der Volksmassen wuchs um so mehr, je drückender das römische und
jüdisch-aristokratische Joch wurde, und der Zelotismus gewann neue An-
hänger. Bis zum Ausbruch des großen Aufstands gegen die Römer kommt
es dauernd zu Zusammenstößen der Masse mit der Regierung. Den Anlaß
zum Ausbruch von revolutionären Erhebungen bildete hiebei des öfteren
der Versuch der Römer, ein Kaiserstandbild oder den römischen Adler in
Jerusalem beziehungsweise im Tempel anzubringen. Die Empörung gegen
diese Maßnahmen, die mit religiösen Gründen rationalisiert wurde, ent-
stammte in Wirklichkeit dem Haß der Masse gegen den Kaiser als Führer
und Oberhaupt der sie unterdrückenden herrschenden Schicht. Das Besondere
dieses Kaiserhasses wird um so deutlicher, wenn man daran denkt, daß
wir uns in einer Epoche befinden, in der die Verehrung des römischen
Kaisers immer größere Verbreitung innerhalb des römischen Imperiums fand
und der Kaiserkultus im Begriff war, zur herrschenden Religion zu werden.
Je aussichtsloser der Kampf gegen Rom in der Ebene politischer Realität
wird, je mehr das mittlere Bürgertum sich vom Kampf zurückzieht und
zum Kompromiß mit Rom bereit ist, desto radikaler wird die proletarische
Masse, desto mehr aber verlieren ihre revolutionären Tendenzen den politisch-
realen Charakter und vollziehen sich in der Ebene von religiösen Phantasien
und messianischen Schwärmereien. So versprach ein Pseudo-Messias, Theudas,
2
*4
EriA Fr
den Massen, er wolle sie zum Jordan führen und das Wunder Moses' wieder-
holen. Die Juden sollten trockenen Fußes durch den Fluß gehen, die ver-
folgenden Römer würden im Jordan ertrinken. Die Römer sahen in diesen
Phantasien den Ausdruck einer gefährlichen revolutionären Gärung, töteten
die Anhänger des Messias und hiehen ihm selbst den Kopf ab. Theudas
fand seine Nachfolger. Unter dem Landpfleger Felix (52 bis 60) kamen
Leute auf, „die unter dem Vorwand göttlicher Sendung auf Umwälzung
und auf Unruhe hinarbeiten und das Volk zu religiöser Schwärmerei hin-
zureißen suchten, indem sie es in die Wüste lockten, als ob Gott ihnen
dort durch Wunderzeichen ihre Befreiung ankünden würde. Felix, der in
diesen Vorgängen den Keim der Empörung erkannte, ließ Reiterei und
Fußvolk gegen die Menge aufmarschieren und viele niedermetzeln". ,Eine
noch viel schlimmere Plage war der falsche Prophet aus Ägypten. Es war
nämlich ein Betrüger ins Land gekommen, der sich das Ansehen eines
Propheten verschafft und gegen dreißigtausend Betrogene um sich gesammelt
hatte, mit diesen zog er aus der Wüste auf den sogenannten Ölberg, von
wo aus er mit Gewalt in Jerusalem einzudringen versuchte." 1 Das römische
Militär machte mit den revolutionären Schwärmern kurzen Prozeß. Di
meisten wurden getötet oder gerieten in Gefangenschaft, der Rest zerstreut
sich und jeder versuchte sich in seiner Heimat zu verbergen. „Kaum wa
dieser Schaden beseitigt, so brach wie an einem kranken Körper die Ent-
zündung anderswo wieder hervor, die Betrüger und Räuber (d. h. die mehr
messianistisch-schwärmerischen und die mehr politisch eingestellten Revo-
lutionäre. E. F.) taten sich jetzt zusammen, verleiteten viele Juden zum
Abfall und reizten sie zum Befreiungskampf auf. Wer die römische Ober-
hoheit anerkannte, den bedrohten sie mit dem Tode, und offen sprachen
sie es aus, daß die, welche freiwillig die Knechtschaft auf sich nähmen
mit Gewalt zur Freiheit geführt werden müßten (d. h. die mittleren und
oberen Volksschichten. E. F.). Gruppenweise verteilten sie sich demgemäß
aufs Land, plünderten die Besitzungen der Großen, mordeten die Eigen-
tümer und äscherten die Dörfer ein, so daß ganz Judäa unter ihren Frevel-
taten zu leiden hatte und der Krieg von Tag zu Tag heftiger entbrannte." 2
Der wachsende Druck auf die unteren Volksmassen brachte eine Verschärfung
der Gegensätze zwischen diesen und der weniger unterdrückten mittleren
Bürgerschicht und eine wachsende Radikalisierung der Masse mit sich.
Der linke Flügel der Zeloten bildete eine geheime Fraktion der „Sikarier"
1) Josephus: Geschichte des jüdischen Krieges. II, 13, 4, 5.
2) Josephus: Geschichte des jüdischen Krieges. II, 13', 6.
Die Entwicklung des Cliristusdogmas 3 5
(Dolchleute) und diese begannen durch Attentate einen terroristischen Druck
auf das wohlhabende Bürgertum auszuüben. Sie verfolgten ohne Nachsicht
die Gemäßigten und Friedfertigen aus den höheren und mittleren Schichten
der Jerusalemer Gesellschaft, zuweilen überfielen sie auch die Dörfer, deren
Einwohnerschaft sich weigerte, sich den revolutionären Scharen anzuschließen,
plünderten sie und legten sie in Asche. Die Propheten und die Pseudomessiasse
ließen ebenfalls von ihrer Agitation unter dem gemeinen Volk nicht ab.
Endlich bricht im Jahre Sechsundsechzig der große Volksaufstand gegen
die Römer los. Er wurde zunächst von den mittleren und unteren Volks-
schichten getragen, die in heftigen Kämpfen die römischen Truppen und
die Truppen der römischen Aristokratie besiegten. Die Führung des Krieges
lag am Anfang in den Händen der Besitzenden und Gebildeten, die aber
von vornherein nur mit geringer Energie und mit Kompromißabsichten
die Volkssache führten. Dementsprechend war das erste Jahr trotz einzelner
Siege ein Mißerfolg und die Masse schob den unglücklichen Verlauf der
Dinge der Energielosigkeit und Schlappheit der bisherigen Kriegsleitung zu.
Die Führer der Masse versuchten mit allen Mitteln sich selbst der Lage
zu bemächtigen und sich an die Stelle der bürgerlichen Führer zu setzen.
Da diese nicht freiwillig ihre Position räumten, kam es im Winter sieben-
undsechzig bis achtundsechzig „zum blutigen Bürgerkrieg und zu Greuel-
szenen, wie sie außerdem nur die erste französische Revolution aufzuweisen
hat . ' Je aussichtsloser der Krieg wurde, desto mehr versuchte das mittlere
Bürgertum sein Heil in einem Kompromiß mit den Römern und desto
heftiger ging neben dem Kampf mit dem äußeren Feind der Bürgerkrieg
vor sich. 2 Während Rabbi Jochanan Ben Sakkai, einer der führenden Pharisäer,
zum Feind überging und seinen Frieden mit ihm schloß, verteidigten die
kleinen Handwerker, Krämer und Bauern mit großem Heldenmut die
Stadt fünf Monate gegen die Römer. Sie hatten nichts zu verlieren, aber
auch nichts mehr zu gewinnen, denn der Kampf gegen die römische Macht
war aussichtslos und mußte mit dem Untergang enden. Es gelang vielen
Wohlhabenden sich aus der Stadt zu den Römern zu retten und „wiewohl
Titus gegen alle noch übrigen Juden aufs äußerste erbittert war, konnte
er doch seinen Charakter nicht verleugnen und nahm die Flehenden auf ".3
1) E. Schürer: Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi.
3. Aufl., 1901, Bd. I, S. 617.
2) Vgl. Mo mm sen: Römische Geschichte. Bd. V, S. 527.
3) Josephus: Geschichte des römischen Krieges. VI, 7, 4. — Man ist versucht,
die Haltung des Pariser Bürgertums zu den Deutschen und Kommunarden 1870/71
zum Vergleich heranzuziehen.
»6 Erich rrciinm
Die kämpfenden Massen Jerusalems erstürmten zu gleicher Zeit den Königs-
palast, in den viele wohlhabende Juden ihre Schätze gebracht hatten, nahmen
das Geld und töteten seine Eigentümer. Der Krieg und Bürgerkrieg endete
mit dem Sieg der Römer und damit der herrschenden jüdischen Schicht
und dem Untergang von Hunderttausenden jüdischer Bauern und Proletarier.
Neben den politischen und sozialen Kämpfen und den messianisch ge-
färbten Aufstandsversuchen steht in einer Reihe das in jener Zeit ent-
stehende, von den gleichen Tendenzen erfüllte volkstümliche Schrifttum,
die apokalyptische Literatur. Das Zukunftsbild der Apokalyptik ist trotz
seiner Buntheit doch verhältnismäßig einförmig. Voran stehen die „Wehen
des Messias" (Mak. 13; 7, 8), das sind Ereignisse, die den „Erwählten" sich
nicht nahen werden, Hungersnöte, Erdbeben, Seuchen und Kriege. Auf diese
folgt die von Daniel 12, 1 geweissagte „große Drangsal", wie sie seit der
Schöpfung der Welt sich nicht ereignet hat, eine entsetzliche Zeit der Not.
Es besteht in der Apokalyptik im allgemeinen der Glaube, daß auch von
dieser Drangsal die „Erwählten" bewahrt bleiben werden. Als letztes End-
signal gilt der von Daniel 9, 27; 11, 31; 12, ti geweissagte Greuel der
Verwüstung. Das Gemälde des Endes trägt altprophetische Züge. Den Höhe-
punkt bildet die Erscheinung des Menschensohnes auf den Wolken mit
großer Pracht und Herrlichkeit. 1
Ebenso wie im Kampf gegen die Römer die verschiedenen Volksschichten
in verschiedener Weise beteiligt waren, entstammt auch die apokalyptische
Literatur verschiedenen Klassen und dies drückt sich trotz einer gewissen
Einheitlichkeit doch in der verschiedenen Akzentuierung der einzelnen
Elemente innerhalb der verschiedenen apokalyptischen Schriften deutlich
aus. Zu einer näheren Analyse ist hier nicht der Ort. Als Ausdruck der-
selben revolutionären Tendenzen, wie sie den linken Flügel der Verteidiger
Jerusalems erfüllten, sei hier die Schlußermahnung des Buches Henoch
zitiert: „Wehe denen, die ihre Häuser durch Sand aufbauen, denn sie
werden von ihrer ganzen Gründung losgerissen werden und durchs Schwert
fallen. Die aber, die Gold und Silber erwarben, werden plötzlich im
„jüngsten" Gericht umkommen. Wehe euch Reichen, denn ihr habt euch
auf euren Reichtum verlassen, ihr werdet aus euren Schätzen herausgerissen,
denn ihr habt in den Tagen des Gerichts nicht an den Höchsten gedacht
wehe euch, die ihr euren Nächsten Böses zugefügt, denn nach eurem Tun
soll euch vergolten werden. Wehe euch lügnerischen Zungen . . . Ihr Leiden-
1) Vgl. Johann Weiß: Das Urchristentum. Göttingen 1917.
Die Entwicklung des CLristusdognif
den aber fürchtet euch nicht, denn Heilung wird euch zuteil werden:
„Helles Licht wird scheinen und ihr werdet die Stimme der Ruhe vom
Himmel her hören (Henoch, Kap. 94/96).
Neben diesen für die Zeit der Entstehung des Christentums charakteristi-
schen, religiös-messianischen, politisch-sozialen und literarischen Bewegungen
muß noch eine erwähnt werden, der gar keine politischen Ziele mehr vor-
schweben und die unmittelbar zum Christentum hinführt: Die Bewegung
Johannes des Täufers. Er entfachte eine Volksbewegung. Die Oberschicht,
gleichviel welcher Richtung, wollte nichts von ihm wissen. Aus den Kreisen
der verachteten Masse kamen seine aufmerksamsten Zuhörer. 1 Er verkündigte,
daß das Himmelreich und das jüngste Gericht vor der Tür ständen, Er-
lösung für die Guten, Verderbnis für die Schlechten. „Tut Buße, denn
das Himmelreich ist nahe", war das Zentrum seiner Predigt.
Zum Verständnis des psychologischen Sinnes des Christusglaubens der
ersten Christen, das das erste Ziel dieser Arbeit ist, war es nötig, sich ein
Bild von jenen Menschen zu machen, die die Träger des Urchristentums
waren. Es war die Masse des ungebildeten, armen Volkes, des Proletariats
von Jerusalem und der Kleinbauern des Landes, die durch die wachsende
politische und wirtschaftliche Unterdrückung, durch die gesellschaftliche
Verfemung und Verachtung in ebenso wachsendem Maße erfüllt waren
von dem Drang und der Sehnsucht nach Änderung der bestehenden Ver-
hältnisse, nach Anbruch einer für sie selbst glücklichen Zeit und von Haß-
und Rachewünschen gegen die Herrschenden des eigenen und fremden
Volkes. Wir sahen, wie verschieden die Äußerungsformen dieser Tendenzen
waren, vom politischen Kampf gegen die Römer, über den Klassenkampf
in Jerusalem, die irrealen Aufstandsversuche eines Theudas bis zur Be-
wegung Johannes des Täufers und der apokalyptischen Literatur. Von den
realen politischen Handlungen bis zur phantastischen Schwärmerei waren
alle Formen und Möglichkeiten vorhanden, hinter denen doch aber eine
gleiche verursachende Kraft vorhanden war, der Haß und die Hoffnung
der leidenden Masse, beziehungsweise die Not und Ausweglosigkeit ihrer
wirtschaftlichen Situation. Ob die eschatologische Erwartung mehr sozialen
oder mehr politischen oder mehr religiösen Inhalt hatte, sie wird stärker
mit dem wachsenden Druck und lebhafter, „je tiefer wir in die unlitera-
tische Masse hinabsteigen, in den sogenannten Am-Haarez, in den Kreis
1) Vgl. M. Dibelius: Die urchristliche Überlieferung von Johannes dem Täufer.
Stuttgart 1911.
*ö Ündi i romm
1) Dibelius, a. a. O. S. 150.
2) Vgl. für die soziale Struktur des Urchristentums R. Knopf: Das nachapostolische
Zeitalter. Tübingen 1905. A. v. Harnack: Die Mission und Ausbreitung des Christen-
tums. 4. Aufl., 1923. Bd. I, Derselbe: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staats-
kirche, Kultur der Gegenwart. 2. Aufl. Derselbe: Das Urchristentum und die soziale
Frage. Preuß. Jahrbücher, 1908, Bd. 131. K. Kautsky: Der Ursprung des Christentums.
13. Aufl., 1923.
derer, von denen die Gegenwart als Druck empfunden wurde, die darum
alles, was sie wünschten, von der Zukunft erhoffen mußten." 1
Je aussichtsloser die Hoffnung auf eine reale Besserung wurde, desto
mehr mußte die Hoffnung in den Phantasien Ausdruck finden. Der ver-
zweifelte Endkampf der Zeloten gegen die Römer und die Bewegung
Johannes des Täufers sind die beiden Extreme, die sich aber auf der
gleichen Basis erheben, der Verzweiflung der untersten Schichten des Volkes.
Psychologisch charakterisiert ist diese Schicht durch das Nebeneinander der
Hoffnung auf eine Änderung ihrer Lage, analytisch gesprochen, auf einen
guten Vater, der ihnen helfen werde, und wilden Haß gegen die Unter-
drücker, der im Haß gegen den Kaiser, gegen die Pharisäer, gegen die
Reichen und in den Phantasien vom strafenden Jüngsten Gericht ihren
Ausdruck fand. Es handelt sich um eine ambivalente Einstellung: Diese
Menschen liebten einen phantasierten guten Vater, der ihnen helfen und
sie erlösen sollte, und sie haßten den bösen Vater, der sie unterdrückte,
quälte und verachtete.
Dieser Schicht der armen, ungebildeten revolutionären Masse entstammt
das Christentum als die historisch bedeutungsvollste, messianisch -revolu-
tionäre Bewegung, neben den schon bisher Geschilderten. So wie schon
Johannes der Täufer, wandte sich auch die urchristliche Lehre nicht an
die Gebildeten und Besitzenden, sondern an die Armen, Gedrückten und
Leidenden. Die kleinen Handwerker und Proletarier waren die Träger der
neuen Verkündigung. 2 Ein plastisches Bild von der sozialen Zusammen-
setzung der christlichen Gemeinde gibt der Christenfeind Celsus. Wenn er
auch für eine etwas spätere Zeit in Anspruch zu nehmen ist, so gilt seine
Schilderung um so mehr für die ersten christlichen Gemeinden: „Wie wir
sehen, wagen in den Privathäusern die Wollarbeiter, die Schuster und
Walker, völlig ungebildete und ungeschliffene Leute, in Gegenwart ihrer
durch Alter und Weisheit hervorragenden Herren den Mund nicht aufzutun,
sobald sie sich aber ohne Zeugen mit jungen Leuten und solchen Weibs-
personen allein wissen, die ebenso unverständig sind wie sie selbst, dann
sind sie wunderbar beredt und weisen nach, daß man verpflichtet sei, ihnen
Die Entwicklung des CliristusJogmas 3Q
zu folgen, nicht aber dem eigenen Vater und den Lehrern. Diese seien
verrückte und aberwitzige Leute; in eigenen Vorurteilen befangen, seien
sie nicht imstande, einen wahrhaft hohen und guten Gedanken zu fassen
und zu verwirklichen. Sie allein wüßten, wie man leben müßte. Würden
ihnen die jungen Leute folgen, so würden sie selig werden und das ganze
Haus glücklich machen. Sehen sie dann, während sie so reden, einen
Lehrer oder einen verständigen Mann oder den Vater selbst kommen, so
geraten die Furchtsamen unter ihnen in die größte Angst, die Unver-
schämten aber reizen die jungen Leute auf, das Joch abzustreifen, indem
sie ihnen zuflüstern, daß sie sie, solange sie bei ihrem Vater oder ihren
Lehrern seien, etwas Gutes weder lehren könnten noch wollten, denn sie
hätten keine Lust, sich der Torheit und Grausamkeit dieser ganz verdorbenen
und in die Sünde tief verstrickten und gesunkenen Menschen auszusetzen,
deren Verfolgung und Rache sie zu fürchten hätten. Wollten sie etwas
Gutes lernen, so müßten sie Eltern und Lehrer verlassen und mit den
Weibern und Spielkameraden in das Frauengemach oder in die Schusterei
oder in die Walke kommen, um dort das Vollkommene zu vernehmen. Und
mit solchen Worten setzten sie es wirklich durch." 1 Das Bild, das hier
Celsus von den Trägern des Christentums entwirft, ist nicht nur charakte-
ristisch für die soziale Position der ersten Christen, sondern auch für ihre
psychische Situation, ihren Kampf und Haß gegen die väterliche Autorität.
Welches war der Inhalt der urchristlichen Verkündigung? 2
Im Vordergrund steht die eschatologische Erwartung, Jesus predigt die
Nähe des Gottesreiches. Er lehrt die Menschen, in seinen Handlungen
schon den Beginn des neuen Reiches zu erblicken. Er sammelt die Menschen
für dieses Reich und erblickt in der sich vermehrenden Gemeinde schon
die Vorausnahme desselben. „Die Anweisungen Jesu an seine Jünger sind
beherrscht von dem Gedanken, daß das Ende, dessen Tag und Stunde je-
doch niemand wisse, nahe bevorstehe. Auch infolgedessen tritt die Mahnung,
auf alle irdischen Güter zu verzichten, scharf hervor.
1) Orig. c. Cels. III, 55, zitiert bei Harnack: Die Mission und Ausbreitung des
Christentums. Bd. I, S. 407.
2) Das Problem der Historizität Jesu braucht uns in diesem Zusammenhang nicht
zu beschäftigen. Selbst wenn die urchristliche Verkündigung das Werk einer einzelnen
Persönlichkeit gewesen wäre, so ist die Tatsache ihrer gesellschaftlichen Wirkung
nur aus der Klasse, an die diese Verkündigung gerichtet war und von der sie auf-
genommen wurde, zu verstehen und nur das Verständnis von deren psychischer Situa-
tion ist für uns hier wichtig. Es ist dabei gleichgültig, ob sie sich eine reale Persön-
lichkeit, die ihren Wünschen entspricht, zum Führer wählt, oder das Bild eine«
Führers, wie sie ihn sich wünscht, phantasiert.
30 Eridi Fromm
„Die Vollendung des Gottesreiches werde erst eintreten, wenn er in
Herrlichkeit auf des Himmels Wolken zum Gericht wiederkehren werde.
Diese Wiederkunft in nächster Zeit hat Jesus kurz vor seinem Tode an-
gekündigt und seine Jünger bei seinem Scheiden damit getröstet, daß er
sofort in eine überweltliche Stellung bei Gott eintreten werde." 3 „Bedingung
für den Eintritt in das Gottesreich ist erstlich die völlige Änderung des
Sinnes, in welcher der Mensch die Lust dieser Welt, den Mammondienst
und die Sorge um das irdische Leben wegwirft und bereit ist, alle Güter,
die er besitzt, dahin zu geben, um seine Seele zu retten, sodann gläubiges
Vertrauen auf die Gnade Gottes, die er dem Demütigen und Armen ge-
währt, und darum herzliche Zuversicht zu Jesus, als dem von Gott zur
Verwirklichung des Gottesreiches auf Erden Berufenen und Erwählten.
Die Verkündigung richtet sich demgemäß an die Armen, die Leidtragenden
die nach der Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden . . . und findet
sie für den Eintritt und den Empfang der Güter des Gottesreiches besser
vorbereitet, während sie den selbstzufriedenen Reichen und auf ihre Ge-
rechtigkeit Stolzen, das Gericht der Verstockung und die Verdammnis in
der ,Hölle' prophezeit." 2
Der Ruf, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen (Matth. io, 7 )
war der Kern der ältesten Predigt. Er war es, der die Massen der Leidenden
und Unterdrückten zu enthusiastischer Hoffnung erregte. Man war in Auf-
bruchstimmung. Man glaubte, daß die Zeit nicht mehr ausreichen werde
das Christentum bei allen Heiden vor Einbruch der neuen Zeit zu ver-
breiten. Waren die Hoffnungen anderer Gruppen derselben Schicht der
unterdrückten Masse auf die mit eigener Kraft zu vollziehende politische
und soziale Umwälzung gerichtet, so war in der frühen christlichen Gemeinde
der Blick ganz auf das große Ereignis, den wunderbaren Anbruch eines
wunderbaren Zeitalters gewendet. Der Inhalt der urchristlichen Verkündigung
ist kein wirtschaftliches oder sozial-reformerisches Programm, sondern die
beglückende Verheißung einer nahen Zukunft, in der die Armen reich, die
Hungernden satt wären und die Unterdrückten zur Herrschaft gelangten.
Diese Hoffnung wurde im ganz realen und materiellen Sinne ver-
standen. 3
Die Stimmung dieser ersten enthusiastischen Christen tritt deutlich in
Lukas 6, 20 ff. hervor.
i) Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. 1909, Bd. I, S. 76 f.
2) Harnack, a. a. O. S. 71 ff.
3) Vgl. WeiO: Das Urchristentum. S. 55.
Die .tntwjckliing dos ChriÄtiisdogmaÄ
„Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer."
„Selig seid ihr, die ihr hier hungert, denn ihr werdet satt werden."
„Selig seid ihr, die ihr hier weinet, denn ihr werdet lachen."
„Selig seid ihr, so euch die Menschen hassen und sich absondern und
schelten euch und verwerfen euern Namen als einen bösen, um des Menschen
Sohnes willen, freuet euch alsdann und hüpfet, denn siehe, euer Lohn
ist groß im Himmel. Desgleichen taten ihre Väter, die Propheten auch."
Aber dagegen:
„Wehe euch Reichen, denn ihr habt euren Trost dahin.
„Wehe euch, die ihr voll seid, denn euch wird hungern.
„Wehe euch, die ihr hier lacht, denn ihr werdet weinen und heulen." '
In diesen Äußerungen drückt sich nicht nur die ganze Sehnsucht und
Erwartung der Unterdrückten und Armen auf eine neue und bessere, sie
befriedigende Welt aus, sondern auch ihr ganzer Haß gegen die Autoritäten,
die Reichen, Gelehrten und Mächtigen. Die gleiche Stimmung drückt die
Geschichte vom armen Lazarus aus (Luk. 16, 19 ff.), oder der berühmte
Ausspruch Jesu (Luk. 18, 24 f.): „Wie schwer werden die Reichen in das
Reich Gottes kommen! Es ist leichter, daß ein Kamel gehe durch ein
Nadelöhr, als daß ein Reicher in das Reich Gottes komme." Der Haß
gegen den Pharisäer und Zöllner zieht sich wie ein roter Faden durch die
Evangelien, so daß er das Bild des Pharisäers im Sinne dieses Hasses noch
Jahrtausende bei allen christlichen Völkern gestaltet hat. Hören wir noch
den Haß gegen die Reichen, wie er sich im Brief des Jakobus (Mitte des
zweiten Jahrhunderts) darbietet (5, 1 f.). „Wohlan nun, ihr Reichen, weint
und heult über euer Elend, das über euch kommen wird, euer Reichtum
ist verfault, euere Kleider sind mottenfräßig geworden, euer Gold und Silber
ist verrostet, und sein Rost wird euch zum Zeugnis sein und wird euer
Fleisch fressen wie ein Feuer. Ihr habt euere Schätze gesammelt in den
letzten Tagen, siehe, der Arbeiter Lohn, die euer Land eingeerntet haben,
der von euch abgebrochen ist, der schreit, und das Rufen des Ernters ist
gekommen vor die Ohren des Herrn Zebaoth, ihr habt wohl gelebt auf
Erden und eurer Wohllust gelebt und eure Herzen geweidet am Schlachttag,
ihr habt verurteilt den Gerechten und getötet, und er hat euch nicht
widerstanden ... So seid nur geduldig, liebe Brüder, bis auf die Zukunft
des Herrn . . . Siehe, der Richter ist vor der Tür." Dieser Haß, von dem
Kautsky mit Recht sagt: „Kaum je hat der Klassenhaß des modernen Prole-
1) Vgl. Matth. 3, 3 ff.
•* a Endi Fromm
lariats solche Formen erlangt, wie der des christlichen", 1 ist uns bekannt.
Es ist der Haß des Am-Haarez gegen den Pharisäer, des Zeloten und Sikariers
gegen das wohlhabende und mittlere Bürgertum, der Leidenden und ge-
quälten Stadt- und Landbevölkerung gegen die Herrschenden und Großen,
wie er sich in den vorchristlichen Kämpfen und messianischen Schwärmereien
ausgedrückt hatte.
Mit diesem Haß gegen die geistlichen und sozialen Autoritäten, dem
Haß der Brüder gegen den Vater, hängt aufs engste ein wesentlicher Zug
der sozialen und psychischen Struktur des Urchristentums zusammen: ihr
demokratischer, brüderlicher Charakter. War die jüdische Gesellschaft jener
Zeit charakterisiert durch einen alle gesellschaftlichen Beziehungen er-
füllenden extremen Kastengeist, so ist die urchristliche Gemeinde eine freie
Brüderschaft des armen Volkes, sie ist gleichgültig gegen Institutionen und
Formeln. „Man sieht sich vor eine unlösliche Aufgabe gestellt, wenn man
für die ersten hundert Jahre ein Bild der Verfassung zeichnen soll
Die Gesamtheit der Gemeinde ist verknüpft nur durch das gemeinsame
Band des Glaubens und der Hoffnung und der Liebe. (Wir müssen hinzu-
fügen: und des Hasses.) Nicht das Amt trägt die Person, sondern durchaus
die Person das Amt . . . Fühlten sich die ersten Christen als Fremdlinge
und Gäste auf Erden — wozu Institutionen von fester Dauer?" 2 Eine
besondere Bolle spielte in dieser urchristlichen Brüderschaft die gegenseitige
wirtschaftliche Hilfe und Unterstützung, ein „Liebeskommunismus", w j e
ihn Harnack nennt.
Wir sehen also: Träger des Christentums waren Menschen der armen
ungebildeten, unterdrückten Masse des jüdischen Volkes und später auch
anderer Völker. An Stelle des immer unmöglicher werdenden Auswegs, ihre
trostlose Lage mit realen Mitteln zu ändern, trat die phantasierte Erwartung,
daß in nächster, kürzester Frist diese Änderungen eintreten werden, daß
sie dann das bisher vermißte Glück, die bisher fehlende Befriedigung finden,
die Reichen und Vornehmen aber das ihnen gebührende und gewünschte
Unglück träfe. Die ersten Christen waren eine Brüderschaft gesellschaft-
licher und wirtschaftlich gleich unterdrückter, von Hoffnung und Haß zu-
sammengehaltener Enthusiasten.
Das was die Urchristen von den gegen die Römer kämpfenden Bauern
und Proletariern unterschied, war nicht ihre psychische Grundhaltung. Die
i) Kautsky: Der Ursprung des Christentums. S. 34.5.
2) H. v. Schubert: Grundzüge der Kirchengeschichte. Tübingen 1904.
St
Die Entwicklung des Christustlogmas 33
ersten Christen waren ebensowenig „demütig" und gottergeben, ebenso-
wenig von der Notwendigkeit und Unveränderlichkeit ihres Schicksals über-
zeugt und ebensowenig vom Wunsche beseelt von den Herrschenden geliebt
zu werden, wie jene politischen und militärischen Kämpfer. Beide Gruppen
haßten in gleicher Weise die herrschenden Väter, hofften in gleicher Stärke
auf deren Sturz, den Anbruch ihrer eigenen Herrschaft und einer sie
befriedigenden Zukunft. Der Unterschied liegt weder in den Voraussetzungen
noch in Ziel und Richtung ihrer Wünsche, sondern nur in der Ebene, in
der die Erfüllung der Wünsche versucht wird. Während die Zeloten und
Sikarier in der Ebene der politischen Realität ihre Wünsche zu verwirk-
lichen trachten, führt die völlige Aussichtslosigkeit einer Realisierung die
Urchristen dazu, die gleichen Wünsche in der Phantasie zu gestalten. Der
Ausdruck dieser Wunschphantasie war der urchristliche Glaube und speziell
die urchristliche Phantasie von Jesus und seinem Verhältnis zum Vater-Gott.
Welches waren die Vorstellungen dieser ersten Christen von Jesus? „Der
Inhalt des Glaubens der Jünger Jesu und die gemeinsame Verkündigung,
welche sie untereinander verband, läßt sich in folgende Sätze zusammen-
fassen : Jesus von Nazareth ist der von den Propheten verheißene Messias. —
Jesus, nach dem Tode durch göttliche Auferweckung zur Rechten Gottes
erhöht, wird demnächst wiederkommen und das Reich sichtbar aufrichten. —
Wer an Jesum als den Christ glaubt, in der Taufe die Sündenvergebung
empfangen hat und in die Gemeinde aufgenommen ist, Gott als den Vater
anruft, und in Kraft des Geistes Gottes nach den Geboten Jesu lebt, ist
ein Heiliger Gottes und darf als solcher des ewigen Lebens und des Anteils
am himmlischen Reich gewiß sein." 1 „Jesus ist durch die Erhöhung Messias
geworden." (Apost. 2, 36.) Es ist dies die älteste Lehre über Christus, die
wir haben, und daher von hohem Interesse, um so mehr als sie später
von anderen, weitergehenden Lehren verdrängt worden ist. Man nennt sie
die adoptianische, weil hier ein Akt der Adoption angenommen wird.
Adoption ist hier gebraucht im Gegensatz zur natürlichen Sohnschaft, die
von Geburt an vorhanden ist. Es liegt also hier der Gedanke vor, daß
Jesus nicht von Anfang an Messias oder, wie dafür auch gesagt werden
kann, Sohn Gottes war, sondern daß er es erst geworden ist in einem
bestimmten, scharf abgegrenzten Willensakt Gottes. Das drückt sich be-
sonders darin aus, daß das Psalmwort (Psalm 2, 7) du bist mein Sohn,
heute habe ich dich gezeugt, auf den Augenblick der Erhöhung bezogen
1) Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. I, S. 87 f.
Fromm : Christusdogma.
*">4 Enoi Fromm
wird (Apost. 13, 35). Nach uralter semitischer Auffassung ist der König
ein Sohn Gottes, sei es durch Abstammung oder wie hier durch Adoption
am Tage der Thronbesteigung. Es ist also ganz aus orientalischem Geist
gesagt, daß Jesus, als der zur Rechten Gottes Erhöhte, Sohn Gottes geworden ist.
Dieser Gedanke klingt noch bei Paulus nach, obwohl bei ihm der Begriff
des Sohnes Gottes schon einen anderen Sinn bekommen hatte. Römer 1, 3,4
heißt es von dem Sohn Gottes, daß er „zur Seite Gottes in Macht ein-
gesetzt" sei nach der Auferstehung von den Toten. Hier stoßen zwei ver-
schiedene Formen der Vorstellung zusammen, der Sohn Gottes, der es von
allem Anfang an war (Paulus) und Jesus, der nach der Auferstehung zum.
Sohne Gottes in Macht, d. h. zum königlichen Weltherrscher erhöht worden
ist (Urgemeinde). Die harte Verbindung zwischen zwei Vorstellungen zeigt
recht deutlich, daß hier zwei verschiedene Denkweisen aufeinander getroffen
sind; die ältere, aus der Urgemeinde stammende, ist nun auch ganz folge-
richtig darin, daß sie Jesus vor der Erhöhung als einen Menschen bezeichnet •
„ein Mann von Gott aus bei euch beglaubigt durch Krafttaten und Zeichen
und Wunder, die Gott durch ihn in eurer Mitte getan hat" (Apost. 2, 22)
Man beachte, daß nicht er, sondern Gott die Wunder durch ihn getan hat
Er war das Organ Gottes. Diese Vorstellung herrscht auch zum Teil noch
in der evangelischen Überlieferung, wo zum Beispiel die Leute nach der-
Heilung des Gelähmten Gott preisen (Mark. 2, 12). Insbesondere wird
als der Prophet gezeichnet, den Moses verheißen hat. „Einen Propheten wirrt
euch Gott, der Herr, erwecken aus euren Brüdern wie mich' (Apostelg. 5 2 ~.
7. 37; 5- Buch Moses 18, 15). 1
Wir sehen also, die Vorstellung, die die Urgemeinde von Jesus hatte
war die von einem Menschen, der von Gott auserwählt und von ihm zum
Messias und zum Sohne Gottes erhoben worden ist. Dieser Christusglaube
der Urgemeinde ähnelt in vielem den Vorstellungen des von Gott aus-
erwählten Messias, der ein Reich der Gerechtigkeit und Liebe herbeiführt
wie sie in den jüdischen Volksmassen seit langem verbreitet waren. Nur in
zwei Vorstellungen des neuen Glaubens liegen Momente, die etwas Spezifi-
sches und Neues bedeuten: in der Tatsache seiner Erhöhung als Sohn
Gottes, der zu seiner Rechten sitzt, und darin, daß dieser Messias nicht
mehr der kraftvolle, siegreiche Held ist, sondern daß seine Bedeutung und
Würde gerade in seinem Leiden, in seinem Kreuzestod liegt. Allerdings
war der Gedanke eines sterbenden Messias oder auch Gottes nicht ganz
1) J.Weiß: Das Urchristentum. S. 85.
" I J"
Die Entwicklung des Christusdogmas 35
ohne Vorläufer im Volksbewußtsein. Jesaia 53 spricht von diesem leidenden
Knecht Gottes. Auch das 4. Buch Esra kennt einen sterbenden Messias
allerdings doch in einer wesentlich anderen Gestalt, denn er stirbt erst
nach vierhundert Jahren und nach seinem Sieg. 1 Eine ganz andere Quelle,
durch die dem Volk die Vorstellung von einem sterbenden Gott geläufig
gewesen sein mag, sind vorderorientalische Kulte und Mythen (Osiris,
Attis und Adonis). „Das Schicksal des Menschen findet sein Urbild in der
Passion eines Gottes, der auf Erden leidet, stirbt und wieder aufersteht.
Dieser Gott wird an jener seligen Unsterblichkeit alle Teile nehmen lassen,
welche in den Mysterien sich mit ihm vereinigen oder gar mit ihm identi-
fizieren . 2
Vielleicht gab es auch jüdische Geheimtraditionen von einem sterbenden
Gott oder sterbenden Messias, aber alle diese Vorläufer erklären doch
nicht die ungeheure Wirkung, die plötzlich die Lehre vom gekreu-
zigten und leidenden Heiland auf die jüdische und bald auch heidnische
Masse hatte.
In der Urgemeinde der Enthusiasmierten ist Jesus also ein Mensch, nach
seinem Kreuzestod zu Gott erhoben, der in kurzer Zeit zurückkehren wird,
um Gericht zu halten, die Leidenden glücklich zu machen und die Herr-
flehenden zu bestrafen.
Wir haben jetzt soweit in die psychische Oberfläche der Träger des Ur-
christentums Einblick gewonnen, daß der Versuch des psychologischen Ver-
ständnisses dieser ersten christologischen Phantasien einsetzen kann. Die
Menschen, die sich an dieser Phantasie berauschten, sind gequält, ver-
zweifelt, voller Haß gegen jüdische und heidnische Unterdrücker, ohne Aus-
sicht, eine bessere Zukunft real durchzusetzen. Da mußte eine Botschaft,
die ihnen erlaubte all das zu phantasieren, was die Realität ihnen versagte,
faszinierend wirken.
War den Zeloten nichts anderes übriggeblieben als im aussichtslosen
Kampf zu sterben, so konnten sie von dem gleichen Ziel träumen, ohne
daß die Realität ihnen im Augenblick die Aussichtslosigkeit ihrer Wünsche
beweisen konnte. Der christlichen Botschaft kam die Bedeutung zu, daß
sie die Tendenzen der Hoffnung und Rache in der Phantasie, die Wirk-
lichkeit ersetzend, befriedigte und daß sie so zwar nicht den Hunger stillte,
1) Vgl. auch Psalm 22 und Hosea 6.
z) F. Cumont: Die orientalischen Religionen in ihrem Einfluß auf die europäi-
schen Religionen des Altertums. Kultur der Gegenwart. 2. Aufl., 1923, I. III, 1; vgl.
auch Weiß, a. a. O. S. 70.
•JO Erich Fromm
aber eine nicht gering einzuschätzende Phantasiebefriedigung für die Unter-
drückten brachte. 1
Die psychoanalytische Untersuchung des Christusglaubens der Urgemeinde
muß fragen: Was bedeutete die Phantasie vom sterbenden und dann zu
Gott erhöhten Menschen den ersten Christen? Warum gewann diese Phantasie
das Herz so vieler Tausenden in kurzer Zeit? Welches waren ihre unbe-
wußten Quellen und welche Gefühlsbedürfnisse wurden durch sie befriedigt?
Zunächst das Wichtigste: Ein Mensch wird zu Gott erhoben, von ihm
adoptiert. Hier liegt, wie Reik mit Recht bemerkt, der alte Mythos vom
Sohnesputsch vor, also ein Ausdruck der Vater-Gott feindlichen Regungen.
Wir verstehen jetzt, welche Bedeutung dieser Mythos für die Träger des
Urchristentums haben mußte. Diese Menschen haßten ja glühend die Autori-
täten, die ihnen im Leben mit „väterlicher" Macht entgegentraten. Die
Priester, Gelehrten, Aristokraten, kurz alle Herrschenden, die sie vom Lebens-
genuß ausschlössen und in ihrer Gefühlswelt die Rolle des strengen, ver-
bietenden, drohenden und quälenden Vaters fortgesetzt haben, sie mußten
auch diesen Gott hassen, der ein Verbündeter ihrer Unterdrücker war, der
zuließ, daß sie litten und unterdrückt wurden. Sie wollen selbst herrschen
1) Es muß hier eine Bemerkung über ein Problem eingeschaltet werden, das Gegen
stand einer heftigen Polemik war, die Frage nämlich, inwieweit das Christentum al
revolutionäre Klassenbewegung aufgefaßt werden kann. Kautsky hat im „Vorlauf«
des neuen Sozialismus" (Stuttgart 1895) und später in dem „Ursprung des Christen
tums" den Standpunkt vertreten, daß das Christentum eine proletarische Klasse
bewegung sei, daß seine Bedeutung aber im wesentlichen in seinem praktischen Wirke
d. h. in seiner charitativen Tätigkeit und nicht in seinen „frommen Schwärmereien«
gelegen habe. Kautsky übersieht vollkommen, daß der klassenmäßige Ursprung eine
Bewegung durchaus nicht dazu führen muß, daß auch im Bewußtsein der Mensche
wirtschaftliche und soziale Motive eine besondere Rolle spielen. Seine Verachtun
für die historische Bedeutung frommer Schwärmereien zeigt nur seinen völligen Mangel
an Verständnis für die Tragweite der Phantasiebefriedigung innerhalb des sozialen
Prozesses und seine Interpretation des historischen Materialismus ist von solcher
Banalität, daß es Tröltsch und Harnack leicht gemacht wird, den historischen
Materialismus scheinbar zu widerlegen, indem sie, Kautsky folgend, in den Mittel-
punkt der Fragestellung nicht das Problem der das Christentum bedingenden Klassen-
verhältnisse rücken, sondern das Problem, inwiefern diese Klassenverhältnisse auch
im Bewußtsein und in der Ideologie der ersten Christen eine Rolle gespielt haben,
beziehungsweise indem sie das Problem des sozialen und wirtschaftlichen Programms
der ersten Christen als den Kernpunkt einer historisch-materialistischen Auffassung
ansehen, statt des Problems der klassenmäßigen Bedingtheit gerade der „frommen
Schwärmerei" und ihrer Funktion im Klassenkampfe, wie es hier versucht wird.
Trotzdem er am eigentlichen Problem vorbeigeht, sind doch die klassenmäßigen
Grundlagen des Urchristentums so deutlich, daß der gewundene Versuch, vor allem
Tröltsch's in seinen „Soziallehren der christlichen Kirche" ihn wegzudisputieren
und abzuschwächen, überdeutlich die politischen Tendenzen des Autors verrät.
Die Entwicklung des Cttnatusdogauu 37
wollen selbst die Herren sein und es erscheint ihnen doch aussichtslos es
in der Realität durchzusetzen und ihre jetzigen Herren mit Gewalt zu stürzen
und zu vernichten. So befriedigen sie ihre Wünsche in einer Phantasie.
Im Bewußtsein wagen sie es nicht, den väterlichen Gott zu schmähen. Der
bewußte Haß gilt nur der herrschenden Schicht, nicht aber der erhöhten
Vaterfigur, der göttlichen Person selber. Aber die unbewußte Feindseligkeit
gegen den göttlichen Vater setzt sich in der Christusphantasie durch, indem
sie einen Menschen an Gottes Seite setzen und zum Mitregenten Gott-Vaters
machen. Dieser Mensch, der zu Gott wird und mit dem sie als Menschen
sich identifizieren können, repräsentiert ihre eigenen Odipuswünsche, ist
Ausdruck ihrer unbewußten Feindseligkeit gegen Gott-Vater, denn wenn
ein Mensch zu Gott werden kann, so ist Gott-Vater seiner väterlichen Vor-
zugsstellung des Einzigen und Unerreichbaren beraubt. Der Glaube an die
Erhebung eines Menschen zu Gott ist also der Ausdruck der unbewußt in
der Phantasie vollzogenen Beseitigung des göttlichen Vaters. Hier liegt die
Bedeutung der Tatsache, daß der Glaube der Urgemeinde die adoptianische
Lehre war, die Lehre von der Erhebung des Menschen zu Gott, denn gerade
in dieser Lehre findet ja die Feindseligkeit gegen Gott ihren Ausdruck,
während in der sich später immer mehr ausbreitenden und zur Herrschaft
gelangenden Lehre von dem Jesus, der immer ein Gott war, sich die Elimi-
nierung dieser feindseligen Wünsche gegen Gott ausdrückt, wovon später
noch ausführlicher zu reden sein wird. Die Gläubigen identifizieren sich
mit diesem Sohn und werden so in der Phantasie selbst Gott-Vater und
sie können sich mit ihm identifizieren, weil er ein leidender Mensch ist
wie sie. Hier liegt der Grund für die faszinierende Wirkung des leidenden
und zu Gott erhobenen Menschen auf die Masse, weil nur mit einem Leiden-
den sie selbst sich identifizieren konnten. So wie er, waren ja Tausende
vor ihnen selbst ans Kreuz geschlagen, gequält und gedemütigt worden.
Wenn sie an den zu Gott erhobenen Gekreuzigten dachten, so war für ihr
Unbewußtes dieser gekreuzigte Gott sie selbst. Die vorchristliche Apokalypse
kannte einen siegreichen, starken Messias. Er war der Repräsentant der
Wünsche und Phantasien einer zwar unterdrückten, aber bei weitem weniger
leidenden und noch Siegeshoffnung tragenden Volksschicht. Die Schicht,
aus der die Urgemeinde entstand und bei der das Christentum der ersten
hundert bis hundertfünzig Jahre große Erfolge hatte, konnte sich mit
einem solchen starken, mächtigen Messias nicht identifizieren, ihr Messias
konnte nur ein leidender, gekreuzigter sein. Es kommt aber noch ein anderes
Moment hinzu. Die Gestalt des leidenden Heilands ist dreifach determiniert,
einmal im eben besprochenen Sinn, zum andernmal aber dadurch, daß
ein Stück der Todeswünsche gegen den Vater-Gott auf den Sohn verschoben
wurde. In dem Mythos vom sterbenden Gott (Adonis, Attis, Osiris) war
Gott selber der, dessen Tod man phantasierte. Im frühen Christusmythos
wird der Vater im Sohn getroffen und getötet.
Endlich aber hat die Phantasie vom gekreuzigten Sohn noch eine dritte
Funktion: indem sich die gläubigen Enthusiasten, beseelt von Haß und
Todes wünschen, bewußt gegen die herrschenden jüdischen und römischen
Autoritäten, unbewußt gegen Gott -Vater, mit dem Gekreuzigten identi-
fizieren, erleiden sie selber den Kreuzestod und büßen so für ihre Todes-
wünsche gege\. 3 m Vater. Jesus sühnt durch seinen Kreuzestod die Schuld
aller und die ersten Christen bedurften einer solchen Sühne in besonders
hohem Maße, weil ein Urmotiv der menschlichen Seele, die Aggression und
die Todeswünsche gegen den Vater auf Grund ihres Lebensschicksals in
ihnen besonders lebendig war.'
Der Schwerpunkt der urchristlichen Phantasie scheint uns aber — im
Gegensatz zum späteren katholischen Glauben, wie noch zu zeigen sein
wird — nicht in der masochistischen Sühne durch Selbstvernichtung, sondern
in der Beseitigung des Vaters in Identifizierung mit dem leidenden Jesus
zu liegen.
Wir müssen zum vollen Verständnis des psychischen Hintergrundes des
Christusglaubens daran denken, daß in jener Zeit das römische Imperium
im wachsenden Maße erfüllt war vom Kaiserkultus, der sich über alle nationale
Schranken hinweg durchsetzte. Er war psychologisch eng verwandt mit
dem Monotheismus, der Glaube an einen gerechten, guten Vater, und wenn
er von den herrschenden Schichten des römischen Reiches propagiert wurde
so war das vom Standpunkt dieser Schicht verständlich und konsequent.
Wenn man von heidnischer Seite das Christentum häufig als Atheismus
bezeichnete, so hatte man darin in einem tieferen psychologischen Sinn
recht, denn dieser Glaube an den leidenden, zum Gott erhobenen Menschen
war die Phantasie einer leidenden, unterdrückten Klasse, die die Herr-
schenden, Gott, Kaiser, Vater, beseitigen und sich selbst an ihre Stelle
setzen wollte. Wenn zu den Hauptbeschuldigungen der Heiden gegen die
Christen auch die gehörte, sie begingen ödipodäische Verbrechen, so war
diese Beschuldigung real eine sinnlose Verleumdung, aber das Unbewußte
der Verleumder hatte den unbewußten Sinn des Christusmythos gut ver-
Vgl. Freud: Totem und Tabu. Ges. Schriften, Bd. X, S. 184 fr.
Die Entwicklung des Clirestiisdogi
•*>
standen, seine ödipuswünsche, seine versteckte Feindschaft gegen Gott- Vater,
Kaiser, Autorität. 1
Es kommt zum Verständnis des Problems der späteren dogmatischen Ent-
wicklung vor allem darauf an, das charakteristische der urchristlichen
Christologie zu verstehen, ihren adoptianischen Charakter. Daß ein Mensch
zu Gott erhöht wird, das ist ein Ausdruck der unbewußten vaterfeindlichen
Regung dieser Masse, das bot die Möglichkeit einer Identifizierung und
dem entsprach die Erwartung, daß bald das neue Zeitalter beginnen und
die jetzt Leidenden und Unterdrückten zu Glücklichen und Herrschenden
machen werde. Indem man sich mit Jesus, weil er der leidende Mensch
war, identifizieren konnte und identifizierte, war die Möglichkeit einer
Gemeindebildung ohne Autoritäten, Statuten und Bürokratie gegeben, ge-
eint durch die Gemeinsamkeit der Identifizierung mit dem leidenden und
zu Gott erhobenen Jesus. Der urchristliche adoptianische Glaube war geboren
aus der Masse, war Ausdruck ihrer revolutionären Tendenzen, bot eine
Befriedigung für ihre stärkste Sehnsucht und hieraus erklärt sich, warum
er mit so außerordentlicher Schnelligkeit zur Religion auch der heidnischen
unterdrückten Massen (wenn auch bald nicht ihrer allein) wurde.
I V) Die Wandlung des L>hristentums und das
homousianisclie Dogma
Die frühen Glaubensvorstellungen über Jesus wandeln sich. Aus dem
zu Gott erhobenen Menschen wird der Sohn Gottes, der immer Gott war,
vor aller Schöpfung existierte, eins mit Gott und doch von ihm zu unter-
scheiden. Hat diese Veränderung der Vorstellungen von Jesus ebenso ihren
sozialpsychologischen Sinn, wie wir ihn für den frühen adoptianischen
Glauben nachweisen konnten? Eine Antwort auf diese Frage wird uns hier
wieder die Untersuchung der Menschen geben, die zweihundert bis drei-
hundert Jahre später dieses Dogma schufen und an es glaubten, das Ver-
ständnis ihrer realen Lebenssituation, die Kenntnis ihrer psychischen Ober-
fläche.
Die wichtigste Frage ist zunächst, wer sind die Christen im Laufe der
ersten nachchristlichen Jahrhunderte? Bleibt das Christentum die Religion
i) Auch die Beschuldigungen des Ritualmordes und der sexuellen Ausschweifungen
finden die gleichen psychologischen Erklärungen.
1° EriA Fromm
der leidenden jüdischen Enthusiasten Palästinas, oder wer tritt an ihre Stelle
und neben sie?
Die erste große Veränderung in der Schar der Gläubigen trat ein, als
die christliche Propagandatätigkeit sich an die Heiden wandte und in einem
großen Siegeszug Anhänger unter ihnen fast im ganzen römischen Reiche
gewann. Diese nationale Veränderung unter den Anhängern des Christentums
darf in ihrer Bedeutung gewiß nicht unterschätzt werden, aber sie spielte
doch keine entscheidende Rolle, solange die soziale Zusammensetzung der
christlichen Gemeinde sich nicht wesentlich veränderte, solange es weiter
arme, gedrückte, ungebildete Menschen waren, erfüllt von gemeinsamem
Leid, gemeinsamem Haß und gemeinsamer Hoffnung. „Das bekannte Urteil
des Paulus über die korinthische Gemeinde gilt ohne Zweifel wie in der
apostolischen Zeit so auch noch in der zweiten und dritten Generation für
die weitaus meisten Gemeinden der Christenheit: Seht doch eure Berufung
an, Brüder, da sind nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viel Mächtige
nicht viel vornehme Leute, sondern was der Welt für töricht gilt, hat Gott
auserwählt, die Weisen zu beschämen und was der Welt für schwach gilt
das starke zu beschämen, und was der Welt für unedel gilt und verachtet
ist, hat Gott auserwählt, was nichts ist, um zunichte zu machen, w a
etwas ist." 1 (1. Kor. 1, 26 — 28.)
Aber wenn auch die überwiegende Mehrzahl der Anhänger, die Paulu
im ersten Jahrhundert für das Christentum gewann, noch Leute der unterste
Volksschicht, kleine Handwerker, Sklaven, Freigelassene, waren, so beginnt
doch schon langsam ein anderes soziales Element, Gebildete und Wohl-
habende, in die Gemeinden einzudringen. Paulus selbst war ja der erste
christliche Führer, der nicht mehr der proletarischen Schicht entstammte.
Er war Sohn eines wohlhabenden römischen Bürgers, war Pharisäer gewesen
also einer der Intellektuellen, die die Christen verachteten und von ihnen
gehaßt wurden. „Er war nicht ein der Staatsordnung fremd oder gehässig
gegenüberstehender Proletarier, der kein Interesse an ihrem Bestand hat,
der auf ihre Zertrümmerung hofft. Er stand den Mächtigen der Verwaltung
und des Rechts von Hause aus zu nahe, hatte zu viel Erfahrung von dem
Segen der heiligen Ordnung gemacht, um nicht von dem ethischen Wert
des Staates ganz anders überzeugt zu sein, als etwa ein Mitglied der heimischen
Zelotenpartei, oder auch als seine pharisäischen Parteigenossen, die in der
Römerherrschaft höchstens das geringere Übel sahen gegenüber den halb-
1) Knopf, a. a. O. S. 64.
Die Entwicklung des ChrisLustlognias J\
jüdischen Herodianern." ' Paulus hat mit seiner Propaganda zwar zweifellos
in erster Linie die untersten Volksschichten ergriffen, aher sicherlich auch
schon einzelne Wohlhabende und Gebildete, vor allem Kaufleute, die durch
ihre Wanderungen und Reisen überhaupt für die Ausbreitung des Christen-
tums von entscheidender Bedeutung geworden sind. 2 Aber bis weit ins
zweite Jahrhundert hinein gehört ein wesentliches Element in den Gemeinden
den niederen Schichten an und bildete dort die große Mehrheit. Das beweisen
einzelne Stellen aus der Quellenliteratur, der Zuschnitt der altchristlichen
Ethik, einzelne Erbauungsschriften, die — wie der Jakobusbrief oder die
Johannes- Apokalypse — flammenden Haß gegen die Mächtigen und Reichen
atmen, die kunstlose Form solcher Stücke jener Literatur, die Gesamtrichtung
der Eschatologie, die alle zeigen, „daß die Gemeinden auch des nachaposto-
lischen Zeitalters wesentlich aus Kreisen armer und unfreier Leute gebildet
wurden . 3
1) I. Weiß, a. a. O. S. 152.
2) Vgl. Knopf, a. a. O. S. 70.
3) Knopf, a. a. O. S. 6g ff. — Den ethischen Rigorismus und die Feindseligkeit
gegen das bürgerliche Leben zeigen noch die Anordnungen des heiligen Hippolyt
c. 41: (zitiert bei Harnack: „Die Mission und Ausbreitung des Christentums",
Band I, S. 300.) „Es müssen die Berufstätigkeiten und Geschäfte derer, die in
die Kirche auigenommen werden sollen, geprüft und ihre Natur und Art fest-
gestellt werden. Wenn einer ein Kuppler ist, d. h. Huren Unterstand gibt, so soll
er es lassen oder abgewiesen werden. Wenn einer ein Bildhauer oder Maler
ist, soll ihm bedeutet werden, keine Idole zu machen. Sie sollen es lassen oder ab-
gewiesen werden. Wenn einer ein Schauspieler ist, oder Vorstellungen im Theater
gibt, soll er es lassen oder abgewiesen werden. Wenn einer Elementarlehrer ist, so
ist es gut diese Beschäftigung aufzugeben. Wenn er aber sein Handwerk versteht,
mag sie ihm nachgesehen werden. Wer Gladiator ist oder Gladiatorenlehrmeister
oder provisionsmäßiger Tierkämpfer oder angestellter Diener bei Gladiatorenspielen
soll es lassen oder abgewiesen werden. Dem als Gendarm funktionierenden Soldaten
ist das Töten zu untersagen. Wird es ihm befohlen, so darf er es doch nicht auf
sich nehmen, auch darf er nicht schwören. Will er dem nicht folgen, so ist er ab-
zuweisen. Wer das richterliche Schwert führt oder Bürgermeister ist, mit dem Purpur
bekleidet, soll es lassen oder abgewiesen werden. Wenn ein Katechumen oder Ge-
taufter Soldat werden will, soll er abgewiesen werden, denn er hat Gott verachtet. Die
Hure, der Päderast, wer sich entmannt hat oder unausstehbare Dinge treibt, soll ab-
gewiesen werden, denn er ist befleckt . . . Beschwörer, Astrologen. Wahrsager, Traum-
deuter, ferner die, welche die Massen erregen oder die Kleiderfransen zerreißen —
das sind die Bellisten oder die, welche Amulette machen, sollen es lassen oder ab-
gewiesen werden. Die Sklavin und Konkubine, wenn sie ihre Kinder aufgezogen haben
und nur mit ihrem Herrn in Verbindung stehen, sollen .hören' dürfen. Steht es
anders, so sind sie abzuweisen. Wer eine Konkubine hat, soll sie lassen und eine
Gattin nach dem Gesetze freien, will er nicht, so ist er abzuweisen. Wenn wir hier
etwas übersehen haben, so wird die Praxis euch belehren, denn wir alle haben den
Heiligen Geist.«
■4 2 Eridi Fromm
Etwa von der Mitte des zweiten Jahrhunderts an beginnt das Christentum,
immer mehr Anhänger unter den mittleren und höheren Bevölkerungs-
schichten des römischen Imperiums zu gewinnen. Vor allem waren es die
Frauen der vornehmen Stände und Kaufleute, die für die Propaganda sorgten,
in deren Kreisen das Christentum sich ausbreitete und von wo es weiter
in die Kreise der herrschenden Aristokratie allmählich eindrang. Am Ende
des zweiten Jahrhunderts schon hatte das Christentum aufgehört nur die
Religion von besitzlosen Handwerkern und Sklaven zu sein. Und als es
unter Konstantin Staatsreligion wurde, da war es inzwischen die Religion
weiter Kreise der im römischen Imperium herrschenden Klasse geworden. 1
1) Knopf gibt am Beispiel der römischen Gemeinde ein Bild von der Entwicklung
der sozialen Zusammensetzung der christlichen Gemeinde in den ersten drei Jahr-
hunderten. Wenn Paulus im Brief an die Philipper 4, 22 „sonderlich die aber von
des Kaisers Hause" grüßen läßt, so zeigt das, daß unter den Sklaven und Beamten
des kaiserlichen Haushalts damals Christen zu finden sind. Die bei Tacitus (Anal. XV 4V)
erwähnten, von Nero gegen die Christen verhängten Todesstrafen, wie Einnähen in
Fellen, Hundehetze, Kreuzigung, lebende Fackel, die nur gegen humiliores, nicht gegen
honestiores (Vornehme) gebraucht werden durften, zeigen, daß die Christen dieser Epoche
noch im wesentlichen den niedersten Schichten angehörten, wenn sich auch einzelne
Reiche und Vornehme ihnen schon zugesellt haben mögen. Wie sehr die Zusammen-
setzung im nachapostolischen Zeitalter sich geändert hat, zeigt eine von Knopf zitiert
Stelle l. Clemens 38, 2: „der Reiche soll dem Armen Hilfe bieten und der Arme soll
Gott Dank sagen, daß er ihm jemand gegeben hat, durch den seinem Mangel abffe
holfen werden kann." Man merkt hier keine Spur von jener Animosität gegen di
Reichen, die andere Schriftstücke durchweht. So kann man in einer Gemeinde sprechen
in der reichere und vornehmere Leute nicht allzuselten sind und auch ihre Pflichte
den Armen gegenüber erfüllen (Knopf, a. a. O. S. 65). Aus der Tatsache, daß Domitian
acht Monate vor seinem Tode (96) seinen Vetter, Konsul Titus Flavius, hinrichten ließ'
dessen erste Frau in die Verbannung schickte, ihn wahrscheinlich, die Frau bestimmt'
wegen Zugehörigkeit zum Christentum, zeigt, daß sogar schon am Ende des ersten
Jahrhunderts das Christentum in Rom bis ins Kaiserhaus hinauf vorgedrungen war
Die wachsende Schar von reichen und vornehmen Christgläubigen schuf natürlich
allerhand Spannungen und Differenzen in der Gemeinde. Zu solchen Differenzen war
es schon früh in bezug darauf gekommen, ob christliche Herren ihre christlichen
Sklaven freilassen sollten. Das zeigt uns die Ermahnung des Paulus an die Sklaven,
sie dürften ihre Freilassung nicht verlangen. Nachdem aber im Laufe der Entwicklung
das Christentum immer mehr zum Glauben der Herrschenden wurde, mußten diese
Spannungen noch wachsen. „Die Reichen fraternisierten nicht allzusehr mit den
Sklaven, Liberten und Proletariern, besonders nicht in der Öffentlichkeit. Die Armen
dagegen sehen die Reichen als halb dem Teufel gehörend an." (Knopf, a. a. O. S. 81.)
Ein gutes Bild von der veränderten sozialen Zusammensetzung gibt Hermas (Hermas
sim. IV, 5). „Die viele Geschäfte haben, sündigen viel, weil sie stets von der Sorge
um ihre Geschäfte getrieben werden und ihres Herrn Dienst garnicht tun." (sim. VIII, 9.)
„Diese sind zwar zum Glauben gekommen, aber auch reich geworden und bei den
Heiden zum Ansehen gelangt. Sie haben sich mit großer Überhebung umkleidet,
haben die Wahrheit verlassen, und sie haben sich nicht mehr an die Gerechten ge-
Die Entwicklung des Christtifclognias A5
Zweihundertfünfzig bis dreihundert Jahre nach der Entstehung des
Christentums sind die Menschen, die diesem Glauben angehören, von ganz
anderer Art. Es sind nicht mehr Juden mit dem für dieses Volk wie bei
keinem andern heftigen Glauben an eine bald einsetzende messianische Zeit,
sondern Griechen, Römer, Syrier, Gallier, kurz Angehörige aller Nationen des
römischen Kaiserreichs. Wichtiger als diese nationale Verschiebung ist die
soziale. Zwar bilden Sklaven und Handwerker und Lumpenproletarier, also
die Masse der niederen Bevölkerungsschicht, auch weiterhin die Basis der
Gemeinde, aber der Christusglaube ist gleichzeitig auch die Religion der
vornehmen und herrschenden Klasse des römischen Weltreichs geworden.
Im Zusammenhang mit dieser Veränderung der sozialen Struktur der
christlichen Gemeinde muß noch ein Blick auf die allgemeine wirtschaft-
liche und politische Situation des römischen Imperiums, die sich im gleichen
Zeitraum grundlegend gewandelt hatte, geworfen werden. Die nationalen
Unterschiede innerhalb des Weltreichs schwanden immer mehr. Auch der
Fremdnationale konnte römischer Bürger werden (Edikt Caracallas 212).
Der Kaiserkultus bildete gleichzeitig ein einigendes und die nationalen
Differenzen nivellierendes Band. Die wirtschaftliche Entwicklung ist charakte-
risiert durch einen Prozeß langsamer, aber fortschreitender Feudalisierung.
„Die neuen Verhältnisse, wie sie sich seit dem Ende des dritten Jahrhunderts
konsolidiert haben, kennen keine freie Arbeit mehr, sondern nur noch den
Arbeitszwang in den erblich gewordenen Ständen, bei der Landbevölkerung,
den Kolonien, wie bei den Handwerkern, den Zünften und ebenso bekannt-
lich bei den zu Hauptträgern der Steuerlast gewordenen Ratsherren. So ist
der Kreislauf geschlossen. Die Entwicklung kommt auf den Punkt zurück,
von dem sie ausgegangen war. Die mittelalterliche Weltordnung tritt zum
zweitenmal die Herrschaft an. *
halten, sondern mit den Heiden zusammengelebt." (sim. IX, 20.) „Besonders die Reichen
hielten sich schwer zu den Knechten Gottes, weil sie fürchteten, von ihnen mit etwas
angegangen zu werden." „In offenkundiger Weise scheinen sich freilich Reiche und
Vornehme, die Leute von Geblüt und Mitteln erst in den Zeiten nach den Antoninen
der römischen Gemeinde angeschlossen zu haben, wie in einer bekannten Eusebstelle
richtig angenommen wird, wo wir erfahren, daß zur Zeit des Gomodus, als man
anfing mild gegen die Christen zu werden und die Kirchen des ganzen Erdkreises
Frieden hatten, viele von ihnen wie in Rom gar sehr durch Reichtum und Abkunft
hervorleuchteten, sich gemeinsam ganze Häuser und ganze Geschlechter an ihr Heil
anschlössen'. (Euseb. Kg. V, 21, 1.1 Damit hatte in der Welthauptstadt das Christentum
aufgehört, vorwiegend eine Religion der Armen und Sklaven zu sein. Seine Anziehungs-
kraft äußerte sich von da ab in den verschiedenen Schichten des Besitzes und der Bildung.
1) Eduard Meyer : Sklaverei im Altertum. Kleine Schriften, 2. Aufl., 1924, Bd. I, S. 81 .
44 Eridi Fromm
Der politische Ausdruck dieser ins Ständische, Naturalwirtschaftliche
gehenden, beziehungsweise niedergehenden Wirtschaft war die absolute
Monarchie, wie sie von Diokletian und Konstantin geformt wurde. Es
wurde ein hierarchisches System geschaffen mit unendlichen Abhängig-
keiten und der Person des göttlichen Kaisers an der Spitze, dem die Masse
im Kaiserkultus ihre Verehrung und Liebe zollen sollte. Das römische
Imperium wurde in verhältnismäßig kurzer Zeit zu einem feudalen Klassen-
staat mit festgefügter Ordnung, in dem die untersten Schichten keinen Auf-
stieg zu erwarten hatten, weil der Stillstand beziehungsweise Rückgang der
Produktivkräfte eine fortschrittliche Entwicklung unmöglich machte. Das
gesellschaftliche System war stabilisiert und wurde von oben geregelt und
alles kam darauf an, dem Einzelnen, der unten stand, das Sichabfinden mit
seiner Situation zu erleichtern.
Dies war also in großen Zügen die Lage der Gesellschaft des römischen
Imperiums vom Anfang des dritten Jahrhunderts an, und die Wandlung, die
das Christentum und speziell die Vorstellung von Christus und seinem
Verhältnis zu Gott -Vater von seiner Frühzeit an bis zu dieser Epoche durch-
gemacht hat, ist in erster Linie aus dieser sozialen und der von ihr be-
dingten psychischen Veränderung und der neuen soziologischen Funktion
die das Christentum übernehmen mußte, zu verstehen. Es heißt also den
Kern der Dinge völlig übersehen, wenn man davon spricht, daß das"
Christentum sich verbreitet und die große Mehrheit der Bevölkerung des
römischen Reichs für seine Gedanken gewonnen habe. Es war vielraeh
aus einer Religion eine andere geworden, nur daß die neue (katholische)
Religion gute Gründe hatte, gerade diese Veränderung zu verschleiern.
Es soll zunächst dargestellt werden, welche Wandlung das Christentum
in den ersten drei Jahrhunderten durchmachte und wie die neue Religion
im Gegensatz zur alten aussah.
Beginnen wir mit dem Wichtigsten. Die eschatologischen Erwartungen,
die das Zentrum des Glaubens und der Hoffnung der Urgemeinde dar-
gestellt hatten, schwanden mehr und mehr. Der Kern der Missionspredigt
der Urgemeinde war, „das Reich ist nahe". Man hatte sich darauf vor-
bereitet, hatte erwartet, es selbst noch zu erleben, und bezweifelt, ob es
in der Kürze der Zeit noch gelingen würde, der Mehrzahl der Heiden vor
Anbruch des neuen Reiches die christliche Lehre zu verkünden. Noch
Paulus' Glaube ist von eschatologischen Hoffnungen erfüllt, aber der Termin
beginnt sich bei ihm schon zu verschieben und in die Ferne zu rücken.
Für ihn ist durch die Erhöhung des Messias die Endvollendung gesichert
Die Üntwidtliiiig <j-:ä Chj istusdogmas ^5
und der letzte Kampf, der noch erfolgen muß, verliert gegenüber dem
schon Geschehenen an Bedeutung. Aber mehr und mehr schwindet in der
weiteren Entwicklung der Glaube an die unmittelbare Aufrichtung des
Reiches. Wir gewahren, ohne daß ein plötzlicher Sprung festzustellen wäre,
das allmähliche „Ausströmen eines ursprünglichen Elementes, des enthusiastisch-
apokalyptischen, d. h. des sicheren Bewußtseins von dem unmittelbaren
Besitze des göttlichen Geistes und der die Gegenwart besiegenden Zukunfts-
hoffnungen". 1
Waren beide Auffassungen, die eschatologische und die spirituelle in
der Anfangszeit des Christentums noch miteinander verbunden gewesen,
wobei allerdings der Hauptakzent auf die eschatologische fiel, so fallen sie
allmählich auseinander. Die eschatologische Hoffnung tritt mehr und mehr
zurück, der Schwerpunkt des christlichen Glaubens rückte von der Hoffnung
auf die zukünftige Ankunft Christi ab und „mußte dann notwendigerweise
auf die erste Ankunft fallen, kraft welcher das Heil für die Menschen und
die Menschen für das Heil bereitet seien". 2 Der Prozeß des Ausströmens
des urchristlichen Enthusiasmus und dessen Unterdrückung, durch welche
das zweite Jahrhundert des Christentums charakterisiert ist, findet schon
in diesem Jahrhundert seine Vollendung. Zwar hat es damals wie durch
die ganze spätere Geschichte des Christentums (von den Montanisten bis
zu den Wiederläufern) stets Versuche gegeben, den alten christlichen
Enthusiasmus, die eschatologische Erwartung zu erneuern, Versuche, die
von solchen Schichten ausgingen, die in ihrer wirtschaftlichen, gesellschaft-
lichen und psychischen Situation, als Unterdrückte und nach Freiheit
Strebende, den ersten Christen glichen. Aber die Kirche wurde mit diesen
revolutionären Versuchen fertig, seitdem sie im Laufe des zweiten Jahrhunderts
den ersten entscheidenden Sieg davongetragen hatte. Von dieser Zeit an lag der
1) Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. Bd. 1, S. 55 f. — Harnack weist
nachdrück) ich darauf hin, wie ursprünglich vom Zweck der Erscheinung Christi oder
vom religiösen Heilsgut zwei einander verbundene Ansichten herrschen. „Das Heils-
gut war nämlich einerseits aufgefaßt als Anteil an dem demnächst erscheinenden herr-
lichen Reiche Christi und dieser sicheren Aussicht gegenüber gilt alles andere als ein vor-
läufiges. Anderseits wird aber auf die Bedingungen und die durch Christus bewirkten
Veranstaltungen Gottes reflektiert, die die Menschen erst befähigen, zunächst Anteil
zu erwerben respektive seiner sicher zu werden. Hier ist es die Sündenvergebung,
die Gerechtigkeit, der Glaube, die Erkenntnis usw., die in Betracht kommen und
diese Güter können selbst als das Heilsgut gelten, sofern sie das Leben im Reiche
Christi, oder genauer, das ewige Leben zur sicheren Folge haben." (Harnack,
a. a. O. S. 148.)
2) Harnack, a. a. O. S. 148.
46 EricL Fr
Schwerpunkt nicht in dem Rufe, „das Reich ist nahe", in der Erwartung, es
werde binnen kurzem zum Anbruch des Gerichts und zur Wiederkehr Jesu
kommen, der Blick der Christen war nicht mehr auf die Zukunft, nicht mehr
auf die Geschichte, nicht mehr auf die Zeit, sondern er war rückwärts
gewendet. Das Entscheidende war schon geschehen. Die Erscheinung Jesu
hatte das Wunder schon bedeutet. Die wirkliche geschichtliche Welt brauchte
sich nicht mehr zu ändern, äußerlich konnte alles bleiben wie es war,
Staat, Gesellschaft, Recht, Wirtschaft, denn das Heil war ein Innerliches,
Geistiges, Unhistorisches, Individuelles geworden, garantiert durch den
Glauben an Jesus. Die Hoffnung auf die reale historische Erlösung ist ersetzt
durch den Glauben an die schon vollzogene geistige, individuelle. An die
Stelle des historischen Interesses ist das kosmologische Interesse getreten.
Hand in Hand damit geht das Verblassen der ethischen Forderungen. Das
erste Jahrhundert des Christentums war charakterisiert durch rigorose ethische
Postulate, durch den Glauben, daß die christliche Gemeinde vor allem ein
Bund zu einem heiligen Leben sei. An die Stelle dieses praktischen ethischen
Rigorismus tritt das durch die Kirche gespendete Gnadenmittel. Im engsten
Zusammenhang mit dem Verzicht auf die ursprüngliche strenge ethische
Praxis, steht die wachsende Annäherung der Christen an den Staat. Das
zweite Jahrhundert des Bestehens christlicher Gemeinde zeigt bereits' auf
allen Linien eine Entwicklung, die sich dem Staate und der Gesellschaft
entgegenbewegt". 1 Und auch die gelegentlichen Verfolgungen der Christen
durch den Staat änderten an der wachsenden Annäherung der Christen an
den Staat nicht das geringste. Wohl gab es hier und da Versuche die
alte, dem Staat und bürgerlichen Leben feindselige rigoristische Ethik
durchzusetzen. „Allein die große Mehrzahl der Christen und vor allem die
leitenden Bischöfe entschieden sich anders. Es genügt, Gott im Herzen zu
haben und ihn dann zu bekennen, wenn ein offenes Bekenntnis vor der
Obrigkeit unvermeidlich ist. Es genügt, den wirklichen Götzendienst zu
fliehen, im übrigen darf der Christ in jedem ehrlichen Beruf bleiben,
darf in demselben sich auch äußerlich mit dem Götzendienst berühren und
soll klug und vorsichtig handeln, so daß er weder sich selbst befleckt,
noch eine Befleckung über sich und andere heraufbeschwört. Diese Haltung
nahm die Kirche seit Anfang des dritten Jahrhunderts überall an. Der Staat
gewann dadurch zahlreiche ruhige, pflichttreue und gewissenhafte Bürger,
1) Harnack: Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche. Kultur der
Gegenwart. I, 4, 1; 2. Aufl., S. 239.
ljie Jintwicklung des C^IinstiiÄdogmas Ay
die, weit entfernt ihm Schwierigkeit zu machen, vielmehr die Ordnung und
den Frieden in der Gesellschaft stützten . . . Somit entwickelte sich die
Kirche, indem sie ihre streng ablehnende Haltung gegenüber der ,Welt'
aufgab, zu einer staatserhaltenden und staatsverbessernden Macht. Darf man
eine moderne Erscheinung zum Vergleich herbeiziehen, die weltflüchtigen
Fanatiker, die auf den himmlischen Zukunftsstaat warteten, wurden zu
Revisionisten der bestehenden Lebensordnung. '
Diese ganze grundlegende Wandlung des Christentums von der Religion der
Unterdrückten zur Religion der Herrschenden und der von ihnen gegängelten
Masse, von der Erwartung auf den bevorstehenden Anbruch des Gerichts und
des neuen Zeitalters zum Glauben an die schon vollzogene Erlösung, vom
Postulat eines reinen sittlichen Lebens zur Gewissensbefriedigung durch die
kirchlichen Gnadenmittel, von der Feindseligkeit gegen den verhaßten Staat
zum innigen Pakt mit ihm, steht im engsten Zusammenhang mit der nun noch
zu nennenden letzten großen Veränderung: Das Christentum, das die Religion
einer Gemeinschaft gleicher Brüder war, ohne Hierarchie und Bürokratie, wird
zur Kirche, zum Spiegelbild der absolutistischen Monarchie des römischen
Imperiums. Fehlte im ersten christlichen Jahrhundert noch ganz eine fest
umgrenzte äußere Autorität in den Gemeinden, die dementsprechend auf
Selbständigkeit und Freiheit des einzelnen Christen in bezug auf Glaubens-
dinge aufgebaut waren, so ist das zweite Jahrhundert schon charakterisiert
durch die allmähliche Ausbildung eines kirchlichen Verbandes mit autori-
tativen Führern und dementsprechend durch die Etablierung einer kirchlich-
wissenschaftlichen Glaubenslehre, der sich der einzelne Christ zu unter-
werfen hatte. Ursprünglich war es nicht die Kirche, sondern Gott allein, der
Sünden vergeben konnte. Später: „Extra ecclesiam nulla salus", die Kirche
allein schützt vor der selbstsicheren Unseligkeit. Sie wird als Institution
kraft ihrer Ausstattung heilig, die moralische Anstalt, die für das Heil
erzieht. Diese Funktion ist an den Priester gebunden, speziell an den
Episkopat, „der in seiner Einheit die Rechtmäßigkeit der Kirche garantiert
und die Kompetenz der Sündenvergebung erhalten hat". (Cypr. ep. 69, 11.)
„Erst durch den neuen Kirchenbegriff . . . hat die Scheidung von Klerikern
und Laien grundlegende religiöse Bedeutung erhalten. Die Gewalt, welche
die Priester und Bischöfe ausübten, sind durch ihn fixiert und geheiligt
worden". 2 Diese Umwandlung der freien Brüdergemeinde in eine hierarchi-
1) Harnack, a. a. 0. S. 145.
2) Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte. S. 454t
4" Endi Fromm
sehe Organisation zeigt deutlich, welche psychische Veränderung vor
sich gegangen ist. Waren die ersten Christen erfüllt von Haß und Ver-
achtung für die gebildeten Reichen und Herrschenden, kurz für alle
Autoritäten, so waren die Christen vom dritten Jahrhundert an erfüllt
von Verehrung, Liebe und Anhänglichkeit an die neuen Autoritäten, die
Priester.
So wie sich das Christentum in jeder Hinsicht in den ersten drei Jahr-
hunderten seines Bestehens gewandelt und eine neue, der ursprünglichen
entgegengesetzte Religion geworden war, so auch in Hinsicht auf den
Glauben und die Vorstellung von Jesus. Im frühen Christentum herrschte
die adoptianische Lehre, d. h. der Glaube, daß der Mensch Jesus zu Gott
erhoben worden sei. Die Auffassung vom Wesen Jesus geht mit der fort-
schreitenden Entwicklung der Kirche immer mehr zum pneumatischen
Standpunkt über. Nicht ein Mensch wird zu Gott erhoben, sondern ein Gott
läßt sich zu den Menschen herab. Das ist die Grundlage der neuen Christus-
vorstellung, bis sie dann in der vom Nizeanischen Konzil angenommenen
Lehre des Athanasius ihren Höhepunkt findet: Jesus, der Sohn Gottes, aus
dem Vater vor allen Weltzeiten geboren, eines Wesens mit dem Vater. Die
arianische Ansicht, daß Jesus und Gott-Vater zwar wesensgleich aber nicht
wesenseins (identisch) seien, wird abgelehnt zugunsten der logisch wider-
sinnigen These, daß zwei Wesen, Gott und sein Sohn, doch nur eines seien
also der These von einer Zweiheit, die gleichzeitig Einheit ist. Welches
ist der Sinn dieser Veränderung in der Vorstellung von Jesus und seinem
Verhältnis zu Gott-Vater, und in welchem Zusammenhang steht die Wandlung
des Dogmas mit der Wandlung der ganzen Religion?
Das frühe Christentum war autoritäts- und staatsfeindlich. Es befriedigte
in der Phantasie die revolutionären, vaterfeindlichen Wünsche der untersten
unterdrückten Schichten. Das Christentum, das dreihundert Jahre später zur
offiziellen Religion des römischen Imperiums erhoben wurde, hat eine völlig
andere soziale Funktion. Es soll eine Religion der Führer und der Geführten
zugleich sein, der herrschenden Klasse und der von ihr Beherrschten. Das
Christentum erfüllt die Funktion, die Kaiser- und Mithraskult nicht an-
nähernd so gut erfüllen konnte, die große Masse in das absolutistische
System des römischen Imperiums einzuordnen. Die revolutionäre Situation,
wie sie bis in das zweite Jahrhundert nach Christus geherrscht hatte, war
verschwunden. Es tritt der wirtschaftliche Rückgang ein. Das Mittelalter
begann sich zu entwickeln. Die wirtschaftliche Situation führte zu einem
System von sozialen Bindungen und Abhängigkeiten, das politisch im System
Die Entwicklung des Clinstuscloginas Jn
des römischen byzantinischen Absolutismus gipfelte. Das neue Christentum
stand unter der Führung der herrschenden Klasse. Das neue Jesusdogma
war von ihr und ihren intellektuellen Vertretern, nicht von der Masse
geschaffen und formuliert. Das Entscheidende war die Wandlung von der
Vorstellung des zu Gott erhobenen Menschen zu der von dem zum Menschen
gewordenen Gott.
Indem die neue Vorstellung von dem Sohne, der zwar ein zweites Wesen
neben Gott, aber doch eins mit ihm ist, die Spannung zwischen Gott und
seinem Sohn in eine Harmonie verwandelt, indem sie die Vorstellung ver-
mied, daß ein Mensch Gott werden könne, eliminierte sie den vaterfeind-
lichen, revolutionären Charakter der alten Formel. Das in der alten Formel
enthaltene Ödipusverbrechen, die Beseitigung des Vaters dadurch, daß sich
der Sohn an seine Stelle setzt, wird im neuen Christentum ausgemerzt.
Der Vater bleibt in seiner Stellung unangetastet und kein Mensch, sondern
sein eingeborener und vor aller Schöpfung existierender Sohn rückt neben
ihn. Jesus wird selber Gott, ohne Gott zu stürzen, weil er immer schon
ein Bestandteil Gottes war. Bis hieher verstehen wir aber nur das Negative,
warum Jesus nicht mehr der zu Gott erhobene, an die Seite des Vaters
gesetzte Mensch sein darf. Dem Bedürfnis nach Anerkennung des Vaters,
nach passiver Unterordnung unter ihn, hätte aber auch der große Kon-
kurrent des Christentums, der Kaiserkult, genügt. Warum siegte nicht er,
sondern das Christentum als Staatsreligion des römischen Imperiums? Weil
das Christentum eine Qualität hatte, die es für die soziale Funktion, die
es erfüllen sollte, überlegen machte. Das war der Glaube an den gekreuzigten
Sohn Gottes. Mit ihm konnten sich auch weiterhin die leidenden und ge-
drückten Massen identifizieren. Aber die Phantasiebefriedigung war nun
eine andere geworden. Die Masse identifiziert sich mit dem Gekreuzigten
nun nicht mehr, um in der Phantasie die Entthronung des Vaters vor-
zunehmen, sondern um dessen Liebe und Gnade zu genießen. Daß der
Mensch Gott wird, war Ausdruck der aggressiven, aktiven vaterfeindlichen
Tendenzen. Daß Gott zum Mensch ward, wurde Ausdruck der zärtlichen
passiven Bindung an den Vater. Die Masse fand ihre Befriedigung daran,
daß ihr Repräsentant, der gekreuzigte Jesus, gleichsam im Rang erhöht
war, ein präexistenter Gott selber. So wie man nicht mehr auf eine bald
eintretende geschichtliche Veränderung wartete, sondern glaubte, daß die
Erlösung schon geschehen, das Erhoffte schon eingetreten sei, so hatte man
auf die vaterfeindliche Phantasie verzichtet und statt deren eine andere,
die harmonisierende des vom Vater freiwillig neben sich gesetzten Sohnes
Fromm: Christusdogma. 4.
5o Endi Fromm
geschaffen. Hier liegt der Kern der Bedeutung des logischen Widersinns
des Trinitätsdogmas. 1
Der logische Widersinn ist der Ausdruck eines soziologischen, d. h. der
Veränderung der sozialen Funktion des Christentums. Aus einer Religion
von Empörern und Revolutionären wurde eine Religion der herrschenden
Klasse, bestimmt, die Masse zu gängeln und zu führen. Indem man aber
den alten revolutionären Repräsentanten beibehielt, befriedigte man auf
eine neue Weise die Gefühlsbedürfnisse der Masse. An Stelle einer aktiven
Vaterfeindschaft war die Formel der passiven Unterordnung getreten. Man
braucht den Vater nicht zu beseitigen, denn der Sohn war ja schon von
Anfang an mit Gott gleich, eben weil ihn der Vater selbst aus sich
heraus entlassen hatte. In dieser Tatsache der Möglichkeit der Identifizierung
mit einem leidenden, aber doch von Anfang an im Himmel weilenden
Gott und der gleichzeitigen Eliminierung der vaterfeindlichen Tendenzen
dieses Repräsentanten liegt der Grund für den Sieg des Christentums über
den Kaiserkultus. Und dieser veränderten Einstellung entsprach auch die
oben schon dargestellte Veränderung der Einstellung zu den real existie-
renden Vaterfiguren, den Priestern, dem Kaiser und den Herrschenden
überhaupt.
Die psychische Situation der katholischen Masse des vierten Jahrhunderts
unterschied sich von der der Urchristen darin, daß der Haß gegen die
Herrschenden und damit auch gegen den Vater Gott nicht mehr bewußt
beziehungsweise relativ bewußtseinsnahe war, daß die Menschen ihre revo-
lutionäre Haltung aufgegeben hatten. Der Grund hierfür liegt in der Ver-
änderung der gesellschaftlichen Realität, d. h. also ihres Lebensschicksals.
Jede Hoffnung auf den Sturz der Herrschenden und den Sieg der eigenen
Klasse war so aussichtslos, daß es — vom psychischen Standpunkt aus ge-
sehen — unzweckmäßig und unökonomisch gewesen wäre, in der Haltung
des Hasses zu verharren. Wenn es aussichtslos war, den Vater zu stürzen,
dann war es der bessere seelische Ausweg, sich ihm zu fügen, ihn zu lieben
und sich von ihm lieben zu lassen. Diese Veränderung der seelischen Ein-
stellung war das notwendige Ergebnis der endgültigen Niederlage der unter-
drückten Klasse.
1) Wir können das dritte Glied, den Heiligen Geist, außer acht lassen. Das
Trinitätsdogma war ursprünglich ein Binitätsdogma und entstand aus der Kompila-
tion zweier Formeln desselben. Es drückt die Dreiheit von Vater (Heiliger Geist),
Mutter (Gott- Vater) und Kind (Jesus) aus. Über Gott -Vater und Mutter siehe weiter
unten.
/
Die Entwicklung des ChnjtusJogmas 5l
Aber die Aggression konnte ja nicht verschwunden sein. Sie konnte
auch nicht geringer geworden sein, denn ihre reale Ursache, die Bedrückung
durch die Herrschenden, war weder beseitigt noch gemindert. Wo war sie
geblieben? Sie wurde von den Objekten, den Vätern, zurückgewandt gegen
die eigene Person. Die Identifizierung mit dem leidenden, gekreuzigten
Jesus bot hierzu die großartige Möglichkeit. Im katholischen Dogma ruht
nicht mehr der Schwerpunkt wie im urchristlichen auf dem Sturz des
Vaters, sondern auf der Selbstvernichtung des Sohnes. Man hat die ursprünglich
wesentlich gegen den Vater gerichtete Aggression gegen die eigene Person
gewandt und ihr damit eine für die gesellschaftliche Stabilität ungefährliche
Abfuhr geschaffen.
Das war aber nur möglich im Zusammenhang mit einer anderen Ver-
änderung. Für die ersten Christen waren die Herrschenden und Reichen
die Schlechten, die für ihre Schlechtigkeit den verdienten Lohn ernten
würden. Gewiß waren auch die ersten Christen nicht ohne Schuldgefühl
wegen ihrer vaterfeindlichen Tendenzen und gewiß hatte die Identifizierung
mit dem leidenden Jesus auch schon für sie die Funktion einer Sühne für die
eigene Aggression, aber zweifellos lag der Schwerpunkt bei ihnen nicht im
Schuldgefühl und der masochistisch sühnenden Reaktion. Bei der katholischen
Masse war es anders geworden. Für sie sind nicht mehr die Herrschenden
schuld an der Trostlosigkeit und dem Leid des Lebens, sondern die Leidenden
selber. Sie selber müssen sich Vorwürfe machen, wenn es ihnen schlecht
geht, nur durch eine ständige Sühne, durch eigenes Leid können sie ihre
Schuld wieder gut machen und die Liebe und Verzeihung Gottes und seiner
irdischen Repräsentanten gewinnen. Indem man leidet, sich selbst entmannt,
findet man einen Ausweg aus dem drückenden Schuldgefühl und hat eine
Chance, Verzeihung und Liebe zu erhalten. 1 Diesen Prozeß der Verwandlung
der Vorwürfe gegen Gott und die Herrschenden in Selbstvorwürfe hat die
katholische Kirche in meisterhafter Weise zu beschleunigen und zu stärken
verstanden. Sie steigerte das Schuldgefühl der Masse bis zu einem kaum
noch erträglichen Maximum und erreichte damit ein doppeltes: einmal,
daß sie die Vorwürfe und Aggression gegen die herrschende Klasse von dieser
gegen die Personen der leidenden Masse zurückwenden half und zweitens,
daß sie sich dieser leidenden Masse als guter und liebender Vater darbot,
indem ihre Priester für das von ihnen selber gezüchtete Schuldgefühl Ver-
zeihung und Entsühnung gewährten. Sie züchtete künstlich die psychische
1) Vgl. dazu Freuds Bemerkungen in seiner Studie „Das Unbehagen in der Kultur",
S. 104 ff.
*> s Erich Fromm
Verfassung, von der sie, beziehungsweise die herrschende Klasse, einen doppelten
Vorteil zog: die Ablenkung der Aggression der Masse und die Sicherung
ihrer Abhängigkeit, Dankbarkeit und Liebe.
Die Phantasie vom leidenden Jesus hatte aber für die Herrschenden nicht
nur diese soziale, sondern zugleich auch eine wichtige psychische Funktion.
Sie entlastete sie von den Schuldgefühlen, die sie der Not und des Leidens
der von ihr unterdrückten und ausgebeuteten Masse wegen hatte. Sie konnte
in Identifizierung mit dem leidenden Jesus selbst Buße tun und sich mit
dem Gedanken trösten, daß ja Gottes eingeborener Sohn selber freiwillig
gelitten hatte, daß also das Leiden der Masse eine Gnade Gottes für diese
selbst sei und keine Ursache für die Herrschenden, sich dieses Leidens
wegen Vorwürfe zu machen.
Die Wandlung des Christusdogmas wie der ganzen christlichen Religion
entsprach nur der soziologischen Funktion der Religion überhaupt, die gesell-
schaftliche Stabilität unter Wahrung der Interessen der herrschenden Klasse
aufrechtzuerhalten. Für die ersten Christen war es ein beglückender und
befriedigender Traum, davon zu phantasieren, daß die gehaßten Autoritäten
bald stürzen und sie selber, die jetzt Armen und Leidenden, zur Herrschaft
und zum Glück gelangen würden. Nach der endgültigen Niederlage und
nachdem sich alle diese Hoffnungen als aussichtslos erwiesen hatten, werden
die Massen befriedigt von einer Phantasie, in der die Schuld an allem Leid
bei ihnen selber liegt, in der sie aber diese Schuld durch eigenes Leid
sühnen können und in der sie Aussicht haben, dann von einem guten Vater
geliebt zu werden, so wie er sich als liebender Vater dadurch erwiesen hatte
daß er in Gestalt des Sohnes einmal leidender Mensch geworden war. Was
dann noch an Wünschen für ein glückliches und nicht nur entschuldetes
Leben übrig blieb, wurde in der Phantasie von einem glücklichen Jenseits
befriedigt, einem Jenseits, welches das von den ersten Christen erhoffte histori-
sche glückliche Diesseits ersetzen sollte.
Wir haben mit der bisher erörterten Deutung der homousianischen Formel
noch nicht deren einzigen und letzten unbewußten Sinn getroffen. Die
analytische Erfahrung läßt uns erwarten, daß hinter dem logischen Wider-
sinn der Formel, daß zwei gleich eins sind, noch ein ganz spezifischer
unbewußter Sinn stecken muß, dem dieses Dogma seine Bedeutung und
faszinierende Wirkung verdankt. Dieser tiefste, unbewußte Sinn der homo-
usianischen Lehre wird sofort deutlich, wenn man an eine ganz einfache
Tatsache denkt: wenn man sich vergegenwärtigt, daß es eine einzige reale
Situation gibt, in der die Identitätsformel nicht widersinnig ist, sondern
Die Entwicklung des Chnstusdogmas 53
für die sie zutrifft: es ist die Situation des Kindes im Mutterleib. Mutter
und Kind sind dann zwei Wesen und doch zugleich nur eins.
Wir sind hier beim Kern der Wandlung in der Vorstellung vom Ver-
hältnis Jesus' zu Gott-Vater angelangt. Nicht nur der Sohn hat sich ver-
ändert, sondern auch der Vater. Der strenge, mächtige Vater ist zur bergen-
den und schützenden Mutter geworden, der einst aufrührerische, dann
leidende und passive Sohn zum kleinen Kinde. Unter der Maske des väter-
lichen Judengottes, der gerade im Kampf mit den vorderorientalischen
mütterlichen Gottheiten zur Herrschaft gekommen war, taucht wieder die
Gottesgestalt der großen Mutter auf und wird zur beherrschenden Figur
des mittelalterlichen Christentums.
Die Bedeutung, die die mütterliche Gottheit für das katholische Christen-
tum vom vierten Jahrhundert an zu spielen beginnt, wird, abgesehen vom
eben erwähnten unbewußten Sinn der Homousionsformel, in zwei Tatsachen
deutlich: In der Rolle, die die Kirche als solche zu spielen beginnt und
im Kultus der Maria. 1 Es wurde oben gezeigt, daß dem frühen Christen-
tum die Idee einer Kirche noch ganz fremd war. Erst im Laufe der Ent-
wicklung kommt es allmählich zur Herausbildung einer hierarchischen
Organisation, die Kirche selbst wird eine heilige Institution und mehr als
nur die Summe ihrer Mitglieder. Die Kirche vermittelt das Heil, die Gläubi-
gen sind ihre Kinder, sie ist die große Mutter, bei der allein es Geborgen-
heit und Seligkeit gibt.
Noch deutlicher ist das Wiederaufleben der Figur der mütterlichen Gott-
heit im Kultus der Maria. Die Figur der Maria ist die aus dem Vater-Gott
herausgesprengte, verselbständigte mütterliche Gottheit; in ihr wird der
mütterliche Charakter, der unbewußt dem Vater-Gott beigelegt wurde (wenn-
gleich er nicht ganz zur Mutter-Gottheit wurde, sondern auch noch Vater-
qualitäten beibehielt) bewußt und unvermischt erlebt und dargestellt.
Noch in der Darstellung, die das Neue Testament von Maria gibt, wird
sie in nichts über die Sphäre der hilfsbedürftigen Menschen hinausgehoben.
Mit der Entwicklung der Christologie werden auch die Begriffe von ihr
immer höher. Je mehr die Figur des geschichtlichen, menschlichen Jesus
zugunsten des präexistenten Sohnes Gottes zurücktrat, desto mehr wurde
Maria selber vergottet. Während nach dem Neuen Testament Maria in der
Ehe mit Joseph noch Kinder gebar, bekämpfte Epiphanius jene Ansicht
schon als ketzerisch und frivol. Im Nestorianischen Streit wird 431 gegen
1) Vgl. Storfer: Marias jungfräuliche Mutterschaft.
5^ £nm Fromm
Nestorius entschieden, daß Maria nicht nur die Christus-Mutter, sondern
auch die Gottes-Mutter ist und vom Ende des vierten Jahrhunderts an be-
ginnt man ihr einen eigenen Kultus zu widmen und Gebete an sie zu
richten. Zur gleichen Zeit etwa beginnt auch die Darstellung der Maria
in der bildenden Kunst eine große und immer wachsende Rolle zu spielen.
Die folgenden Jahrhunderte lassen die Bedeutung der Mutter Gottes nur
immer noch mehr wachsen. Ihre Verehrung wird mit jedem Jahrhundert
überschwenglicher und allgemeiner. Altäre werden ihr errichtet und ihre
Bilder aufgestellt. Aus der Begnadigten wird sie die Gnadenreiche, die
Gnadenspenderin mit einer Milde, wie man sie selbst Christus nicht zu-
traute. 1 Maria mit dem Kinde wird zum Sinnbild des katholischen Mittel-
alters.
Die ganze Bedeutung der kollektiven Phantasie von der stillenden Ma-
donna wird erst durch die Ergebnisse psychoanalytischer klinischer Forschun-
gen deutlich. Sandor Radö hat in seiner Arbeit über das „Problem der
Melancholie" 2 auf die außerordentliche Bedeutung hingewiesen, die die
Verhungerungsangst einerseits und anderseits die Glückseligkeit oraler Be-
friedigung im Seelenleben des Einzelnen spielt. „Die Qualen des Hungers
werden zur seelischen Vorstufe der späteren ,Strafen', und über die Schule
der Strafen hindurch zum Urmechanismus der Selbstbestrafung, die dann
in der Melancholie zu einer so verhängnisvollen Bedeutung gelangt. Hinter
der maßlosen Verarmungsangst des Melancholikers ist ja auch nur die Angst
vor dem Verhungern (also am körperlichen Besitzstand verarmen) verborgen
mit der die Vitalität eines normalen Ichrestes auf die lebensbedrohliche
melancholische Sühneaktion reagiert. Das Trinken an der Brust aber bleibt
das strahlende Vorbild der unausbleiblichen, verzeihenden Liebeszuwendung.
Es ist gewiß kein Zufall, daß die stillende Madonna mit dem Kind zum
Sinnbild einer mächtigen Religion und durch ihre Vermittlung zu dem
einer ganzen Epoche unserer abendländischen Kultur geworden ist. Ich
meine, die Zurückführung des Sinnzusammenhanges Schuld — Sühne — Ver-
1) Es wurde verschiedentlich auf den Zusammenhang der Marienverehrung mit
der Verehrung der heidnischen Muttergöttinnen hingewiesen. Ein besonders deutliches
Beispiel sind die Kollyridianerinnen, die als Priesterinnen der Maria an einem ihr
geweihten Tage Kuchen in feierlicher Prozession herumführten, ähnlich dem von
Jeremias erwähnten Kultus der kanaanitischen Königin des Himmels. Vgl. Rösch:
Th. St. K., 1888, S. 278 f., der jene Brotkuchen als Phallussymbol deutet und die von
den Kollyridianerinnen verehrte Maria als identisch mit der orientalisch-phönizinischen
Astarte ansieht (siehe Realenzykl. f. pr. Th. u. K. Bd. XII, Leipzig 1915.)
2) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Bd. XIII, S. 439 ff.
Die Entwicklung des Chrätiiidogmas 55
zeihung auf die frühinfantile Erlebnisreihe Wut — Hunger — Trinken an der
Brust erklärt uns das Rätsel, warum die Hoffnung auf A bsolution und Liebe
die vielleicht mächtigste Bildung ist, die wir in den höheren Schichten des
menschlichen Seelenlebens antreffen." 1 Die Untersuchung Radös macht
den Zusammenhang zwischen der Phantasie vom leidenden Jesus und der
vom Jesuskinde an der Mutterbrust erst ganz verständlich. Beide Phantasien
sind Ausdruck des Wunsches nach Verzeihung und Sühne. In der Phantasie
vom gekreuzigten Jesus wird die Verzeihung erlangt durch passive, sich
selbst kastrierende Unterwerfung unter den Vater, in der Phantasie vom
Jesuskinde an der Brust der Madonna fehlt das masochistische Moment,
an die Stelle des Vaters ist die Mutter getreten, die, indem sie das Kind
stillt, Verzeihung und Sühne gewährt. Dasselbe beglückende Gefühl liegt
im unbewußten Sinn des homousianischen Dogmas, der Phantasie von dem
im Mutterleib geborgenen Kinde.
In dieser Phantasie der großen verzeihenden Mutter liegt der Höhepunkt
der Befriedigung, die das katholische Christentum der Phantasie der Massen
zu bieten hatte. Je mehr die Massen litten, je mehr ihre reale Situation
der des leidenden Jesus glich, desto mehr konnte und mußte in der Phantasie
neben der Figur des leidenden Jesus die des seligen Säuglings treten, desto
mehr aber mußten die Menschen zu einer passiven infantilen Haltung
regredieren. Diese Haltung schloß die aktive Empörung gegen die Herr-
schenden aus, sie war die seelische Verfassung, wie sie dem Menschen der
ständisch aufgebauten mittelalterlichen Gesellschaft entsprach, der sich in
einer oralen Abhängigkeit von den Herrschenden befand, erwartete, von
ihnen sein Nahrungsminimum zu erhalten und für den das Hungern ein
Beweis seiner Sünde war.
V) Die Wandlungen des Dogmas bis zum
rlizeanisaien Konzil
Wir haben bisher den Wandel der Vorstellungen von Christus und seinem
Verhältnis zu Gott-Vater in ihrem Anfangs- und Endpunkt, dem urchrisüichen
Glauben und dem Nizeanischen Dogma verfolgt und aufzuzeigen versucht,
welches die Motive für die dogmatischen Veränderungen waren. Diese Ent-
wicklung hat aber viele Zwischenstufen gehabt, die durch die verschiedenen
1) Seite 445 f.
5b Eridi Fromm
bis zum Nizeanischen Konzil erfolgenden Dogmenformeln charakterisiert
sind und diese dogmatische Entwicklung verläuft ebenso in Gegensätzen
und ist ebenso nur dialektisch zu verstehen wie die allmähliche Entwicklung
des Christentums von einer revolutionären in eine staatsbejahende Religion.
Den Nachweis, daß die einzelnen Stationen der dogmatischen Entwicklung
jenen der sozialen und psychischen Veränderung der Christen entsprechen,
d. h. daß die verschiedenen dogmatischen Formulierungen jeweils einer
ganz bestimmten Schicht und ihren Bedürfnissen entsprechen, so wie dieser
Nachweis für den Anfangs- und vorläufigen Endpunkt der dogmatischen
Entwicklung zu führen versucht worden ist, zu erbringen, ist Aufgabe einer
besonderen Arbeit. Die Grundzüge sollen jedoch hier angedeutet werden.
Das zweite christliche Jahrhundert, d. h. das Christentum, das bereits
mit dem „Revisionismus" begonnen hat, ist charakterisiert durch einen
Zweifrontenkrieg, wie er sich aus der von uns oben ausführlich geschilderten
Situation mit Notwendigkeit ergab: es mußten einerseits die revolutionären
Tendenzen, die an den verschiedensten Stellen immer noch mit einiger
Gewalt aufflackerten, unterdrückt werden, anderseits aber auch solche
Tendenzen, die die Verweltlichung und „Verbürgerlichung" allzu schnell
vornehmen wollten, schneller als es die soziale Entwicklung zuließ Nur
ein langsamer, allmählicher Weg konnte die Masse von der Hoffnung auf
einen revolutionären Jesus zum Glauben an einen staatsbejahenden führen Der
stärkste Ausdruck der alten urchristlichen Tendenzen war der Montanismu/
Der Montanismus, ursprünglich das gewaltsame Unternehmen eines phrygi-
schen Propheten Montanus in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts
war eine Reaktion gegen die Verweltlichung des Christentums, die den
altchristlichen Enthusiasmus wieder herzustellen suchte. Montanus wollte
die Christen aus ihren bürgerlichen Verhältnissen herausführen und mit
seinen Anhängern ein neues, weltabgeschiedenes Gemeinwesen gründen
das S1 ch auf das Herabfahren des „oberen Jerusalems" bereiten sollte Der
Montanismus war ein Aufflackern der urchristlichen Stimmung, aber der
Wandlungsprozeß des Christentums war schon so weit fortgeschritten, daß
diese revolutionäre Strömung von seinen offiziellen Autoritäten als Ketzerei
bekämpft wurde und diese sich zum Büttel des römischen Staates machten.
(Das Verhalten Luthers zu den aufständischen Bauern und den Wieder-
täufern enthält manche Vergleichspunkte.)
Die Gnostiker dagegen, die intellektuellen Vertreter des wohlhabenden
hellenistischen Bürgertums, drängten auf einen „akuten Verlauf des Pro-
ader in der Kirche schon früher begonnen und im katholischen
zesses
Die Entwicklung des Chnstusdognias 5?
System eine langsame und gewisse Verwirklichung gefunden hatte". 1 Der
Gnostizismus, nach Harnack der Versuch einer „akuten Verweltlichung" des
Christentums, antizipiert eine Entwicklung, die hundertfünfzig Jahre länger
dauern mußte und deshalb wurde er zu jenem Zeitpunkt ebenso von der
offiziellen Kirche bekämpft wie der Montanismus; aber nur eine un-
dialektische Auffassung kann übersehen, daß der Kampf der Kirche gegen
den Montanismus und gegen den Gnostizismus einen ganz verschiedenen
Charakter trug: Der Montanismus wurde bekämpft, weil er eine bereits
überwundene und für die nun das Christentum führenden Herren gefährliche
Stimmung wieder aufflackern ließ, der Gnostizismus, weil er das Gewünschte
allzu schnell und plötzlich durchsetzen wollte, weil er das Geheimnis der
kommenden christlichen Entwicklung rascher aussprach, als es das Bewußt-
sein der Massen schon ertragen konnte. Die gnostischen Glaubensvorstellungen,
speziell die christologischen und eschatologischen, entsprechen ganz den
Erwartungen, die wir nach der bisher geführten Untersuchung über den
sozialpsychologischen Hintergrund der dogmatischen Entwicklung an sie
stellen müssen. Es wundert uns nicht, daß der Gnostizismus die gesamte
urchristliche Eschatologie und speziell die Wiederkunft Christi und Auf-
erstehung des Fleisches leugnet und von der Zukunft nur die Befreiung des
Geistes von der sinnlichen Hülle erwartet. Dieser völlige Verzicht auf die
Eschatologie, die sich im Katholizismus hundertfünfzig Jahre später durch-
gesetzt hat, war damals noch verfrüht und eschatologische Vorstellungen
wurden von den Apologeten, die im übrigen sich schon viel weiter von der
urchristlichen Auffassung entfernt hatten, als ein „archaischer" (Harnack), aber
damals zur Befriedigung der Masse notwendiger Rest, noch ideologisch aufrecht-
erhalten. Mit dem Verzicht auf die Eschatologie, d.h. auf die Hoffnung auf eine
sich real, historisch vollziehende Befreiung und Erlösung der Menschen hängt
eng eine andere Lehre des Gnostizismus zusammen : die Verschiedenheit des
höchsten Gottes vom Weltschöpfer und die Behauptung, „daß die gegen-
wärtige Welt aus einem Sündenfall, respektive aus einem wiedergöttlichen
Unternehmen entstanden, und daher das Produkt eines bösen oder mittleren
oder schwachen Wesens sei". 2 Der Sinn dieser These ist klar: wenn die
Schöpfung, d. h. die historische Welt, wie sie ihren Ausdruck im gesell-
schaftlichen und politischen Leben findet, von Anfang an schlecht ist, wenn
sie von einem mittleren oder schwächlichen Gott geschaffen ist, dann kann
1) Harnack: Dogmengeschi ohte. 6. Aufl.. 1922, S. 63.
2) Harnack, a. a. O. S. 74.
7
5° Enal Fromm
sie ja gar nicht erlöst werden, dann müssen ja die urchristlich-eschatologischen
Hoffnungen falsch und unbegründet sein und dies gerade ist es, was jene
den Gnostizismus produzierende Gesellschaftsschicht beweisen wollte und
mußte. Sie verzichtet auf die reale, kollektive Veränderung und Erlösung
der Menschheit und stellt dafür ein individuelles Ideal der Erkenntnis
auf, wobei sie die Menschen in religiöser und geistiger Hinsicht ebenso
in feste und gegebene Klassen und Kasten einteilt, wie sie das in gesell-
schaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht als gut und gottgegeben ansah.
Sie teilt die Menschen ein in Pneumatiker, die die höchste Seligkeit ge-
nießen, Psychiker, die nur einer minderen zuteil werden und Hyliker, die
ganz dem Untergang verfallen sind, ein Verzicht auf kollektive Erlösung
und eine Bejahung der klassenmäßigen Schichtung der Gesellschaft, wie
sie der Katholizismus in seiner späteren Trennung zwischen Laien und
Priestern beziehungsweise dem Leben der gemeinen Masse und dem Mönchs-
leben durchgeführt hat.
Welches war nun die Vorstellung dieser Gnostiker von Jesus und seinem
Verhältnis zu Gott -Vater. Sie lehrten, „daß man in Jesus Christus ... den
himmlischen Aeon Christus und die menschliche Erscheinung desselben
stark unterscheiden und jeder ,Natur' ein ,distincte agere beilegen müsse
beziehungsweise die Theorie des Doketismus". „Von den Gnostikem nahmen
die einen, wie Basilides, überhaupt keine wirkliche Vereinigung zwischen
Christus und dem Menschen Jesus an, den sie übrigens für einen wirk-
lichen Menschen hielten; vielmehr sei die Vereinigung eine ganz vorüber-
gehende gewesen: der Mensch Jesus habe nur eine Zeitlang die gleich-
gültige Basis für den Aeon Christus gebildet; dieser habe sich bereits vor
der Kreuzigung von dem Menschen Jesus wieder getrennt. Die anderen
wie ein Teil der Valentinianer ... und der Marcionschüler Apelles lehrte'
daß der Leib Jesu ein himmlisches beziehungsweise ein psychisches Ge-
bilde gewesen und nur scheinbar dem Schoß der Maria entstammte (d. h. nur
durch ihn hindurchgegangen) sei. Die Dritten endlich, wie Satornil (ähnlich
Marcion) erklärten, daß die ganze sichtbare Erscheinung Christi Phantasma
gewesen sei und stellten konsequent die Geburt Christi in Abrede". 1
Was ist der Sinn dieser Vorstellungen? Das Entscheidende ist, daß die
ursprüngliche christliche Vorstellung, daß ein wirklicher Mensch zum Gott
wird, deren vaterfeindlichen und revolutionären Charakter wir nachgewiesen
haben, eliminiert wird. Die verschiedenen gnostischen Richtungen sind
1) Harnack, a. a. O. S. 74 bis 75.
.
Die Entwicklung des Chnstusdoginajs 59
nur Ausdruck der verschiedenen Möglichkeiten dieser Eliminierung. Allen
ist gemeinsam zu leugnen, daß Christus ein wirklicher Mensch gewesen
sei und damit die Unantastbarkeit des Vater-Gottes zu behaupten. Auch
der Zusammenhang mit den Erlösungsvorstellungen ist klar. So wenig wie
diese von Natur aus schlechte Welt eine gute werden kann, so wenig
konnte ein wirklicher Mensch ein Gott werden, d. h. so wenig ist an der
bestehenden gesellschaftlichen Situation etwas zu ändern. Es ist ein Miß-
verständnis zu glauben, daß die These der Gnostiker, daß der alttestamentische
Schöpfergott nicht der höchste, sondern ein minderwertiger Gott, ein
Ausdruck besonders vaterfeindlicher Tendenzen sei. Sie mußten ja eben
gerade deshalb die Minderwertigkeit des Schöpfergottes behaupten, um die
These von der Unwandelbarkeit der Welt und der menschlichen Gesell-
schaft zu beweisen und diese Behauptung war deshalb für sie kein Aus-
druck vaterfeindlicher Regungen, weil es sich im Gegensatz zu den ersten
Christen für sie ja um den ihnen fremden Judengott Jahwe handelt, den
2U respektieren für diese Griechen kein Anlaß und den zu entthronen für
sie keinen besonderen Aufwand an vaterfeindlichen Regungen nötig machte
oder voraussetzte. .
Die katholische Kirche, die den Montanismus als schädlichen Rest, den
Gnostizismus als voreilige Antizipierung des Kommenden bekämpfte, ging
schrittweise, aber stetig ihren Weg bis zur endgültigen Erreichung ihres
Zieles im vierten Jahrhundert. Die Apologeten sind die theoretischen Schritt-
macher dieser Entwicklung. Sie schaffen Dogmen, — dieser Begriff im
technischen Sinne wurde zuerst von ihnen angewendet, — in denen die
veränderte Einstellung zu Gott und Gesellschaft zum Ausdruck kam. Aller-
dings nicht so radikal wie es im Gnostizismus der Fall war: So wurde
schon oben darauf hingewiesen, daß sie an den eschatologischen Vor-
stellungen festhielten und damit noch eine Brücke mit dem Urchristentum
aufrechterhielten. Ihre Lehre von Jesus und seinem Verhältnis zu Gott-
Vater aber ist dem gnostischen Standpunkt eng verwandt und enthält den
Kern des Nizeanischen Dogmas. Sie wenden sich an die Gebildeten und
versuchen, ihnen das Christentum als höchste Philosophie darzustellen. „Sie
haben damit das Christentum rational gemacht und es auf eine Formel
gebracht, die dem common sense aller ernst Denkenden und Vernünftigen
des Zeitalters (d. h. der herrschenden und besitzenden Schicht. E. F.)
entsprach. a
1) Harnack, a. a. O. S. 113.
A
6o Erick Fromm
Wenn die Apologeten auch nicht lehren, daß die Materie etwas Schlechtes
ist, so haben sie dennoch Gott nicht zum direkten Urheber der Welt
gemacht, sondern die göttliche Vernunft personifiziert und zwischen Gott
und Welt geschoben. Eine These, wenn auch weniger radikal als die ent-
sprechende gnostische, doch dieselbe, oben dargestellte, gegen die historische
Erlösung gerichtete Tendenz hat. Der Logos, von Gott zum Zwecke der
Schöpfung aus sich herausgesetzt und durch einen freiwilligen Akt gezeugt,
ist für sie der Sohn Gottes. Er ist einerseits nicht von Gott abgetrennt]
sondern das Ergebnis der Selbstentfaltung Gottes. Anderseits ist er Gott
und Herr, seine Persönlichkeit hat einen Anfang genommen, ist Kreatur
Gott gegenüber, aber die Subordination liegt nicht in seinem Wesen,
sondern in der Origination.
Diese Logoschristologie der Apologeten ist im Kern identisch mit dem
Nizeanischen Dogma. Die adoptianische, vaterfeindliche These von dem
Menschen, der Gott geworden ist, ist beseitigt, und Jesus ist der präexistente
eingeborene Sohn Gottes, eines Wesens mit ihm und doch ein zweiter neben
ihm. Die Deutung, die wir für dieses Kernstück des Nizeanischen Dogmas
gegeben haben, gilt also im wesentlichen schon für die Logoschristologie
die eben damit zum entscheidenden Wegbereiter des neuen katholischen
Christentums geworden ist.
„Die Einbürgerung der Logoschristologie in den Glauben der Kirche
bedeutete die Umwandlung des Glaubens in eine Glaubenslehre mit griechisch-
philosophischem Gepräge; sie schob die alten eschatologischen Vorstellungen
zurück, ja verdrängte sie; sie setzte hinter den Christus der Geschichte
einen begrifflichen Christus, ein Prinzip, und wandelte den geschichtlichen
in eine .Erscheinung'; sie wies den Christen auf .Natur' und auf natur-
hafte Größen, statt auf die Person und das Sittliche; sie gab dem Glauben
der Christen definitiv die Richtung auf die Kontemplation von Ideen und
Lehrsätzen und bereitete damit das mönchische Leben einerseits, das bevor-
mundete Christentum der unvollkommenen, tätigen Laien anderseits vor-
sie legitimierte hundert Fragen der Kosmologie und der Weltwissenschaft
als kirchliche und verlangte bei Verlust der Seligkeit eine bestimmte
Antwort; sie führte dazu, daß man statt Glauben vielmehr Glauben an
den Glauben predigte und verkümmerte die Religion, indem sie sie scheinbar
erweiterte. Aber indem sie den Bund mit der Weltwissenschaft perfekt
machte, gestaltete sie das Christentum zur Welt-, freilich auch zur Aller-
' wehsreligion und bereitete die Tat Konstantins vor." 1
Harnack, a. a. O. S. 155.
Die Entwicklung des Oiristiisuogmas
In der Logoschristologie ist somit der Kern des endgültigen christlich-
katholischen Dogmas geschaffen. Ihre Anerkennung und Einbürgerung geht
aber nicht ohne einen heftigen Kampf gegen Glaubensvorstellungen vor
sich, die ihr widersprachen und hinter denen sich die letzten Reste der
urchristlichen Anschauung und urchristlichen Stimmung verbargen. Man
hat diese Vorstellung als Monarchianismus bezeichnet (zuerst Tertullian);
man kann innerhalb des Monarchianismus zwei Richtungen unterscheiden:
die adoptianische und die modalistische. Der adoptianische Monarchianis-
mus ging von der menschlichen Person Jesus aus, die zum Gott wurde.
Der modalistische hielt Jesus nur für eine Erscheinung Gott -Vaters und
nicht einen Gott neben ihm. Monarchianisch sind beide Richtungen des-
halb, weil sie die Monarchie Gottes behaupten, die eine, indem ein
Mensch von göttlichem Geist erfüllt ist, aber Gott als einziger unangetastet
bleibt, die andere, indem der Sohnesgott nur eine Erscheinungsform des
Vatergottes ist und auch so wiederum die Monarchie Gottes aufrechterhalten
wird. So sehr sich scheinbar die beiden Ausläufer des Monarchianismui
widersprechen, so wenig bestand in Wirklichkeit ein schroffer Gegensatz.
Harnack weist darauf hin, daß beide scheinbar so entgegengesetzten An-
sichten vielfach ineinander übergehen und die psychoanalytische Deutung
macht uns die innere Verwandtschaft beider monarchianischer Richtungen
völlig verständlich. Es wurde oben ausführlich darüber gesprochen, daß der
unbewußte Sinn der adoptianischen Vorstellung der Wunsch nach Beseiti-
gung des Vatergottes ist; wenn ein Mensch Gott werden kann und zur
Rechten Gottes thront, so ist in Wirklichkeit damit Gott entthront. Dieselbe
vaterfeindliche Tendenz ist aber auch im modalistischen Dogma deutlich ; wenn
Jesus nur eine Erscheinungsform Gottes war, so ist ja Gott-Vater selber
gekreuzigt worden, hat gelitten und ist gestorben (man bezeichnete diese
Ansicht geradezu als Patripassianismus). In dieser modalistischen Auffassung
ist eine deutliche Verwandtschaft mit den alten vorderorientalischen Mythen
vom sterbenden Gott (Attis, Adonis, Osiris) erkennbar, von deren unbewußt
Vater-Gott feindlichem Sinn schon gesprochen wurde.
Es ist also gerade umgekehrt, wie eine die psychische Situation der das
Dogma tragenden Menschen vernachlässigende Deutung annehmen würde:
der Monarchianismus, der adoptianische wie der modalistische, bedeutet in
Wirklichkeit nicht eine gesteigerte Verehrung Gottes, sondern das Gegen-
teil, den Wunsch nach seiner Beseitigung, der sich in der Vergöttlichung
eines Menschen oder in der Kreuzigung Gottes selber ausdrückt. Nach allem
bisher Gesagten ist es auch völlig verständlich, wenn Harnack als eine
'
Ericn Fror
der wesentlichen Gemeinsamkeiten beider modalistischen Richtungen die
Tatsache betont, daß beide die heilsgeschichtliche Auffassung der Person
Christi gegenüber der naturgeschichtlichen vertreten. Wir haben ja gesehen,
daß die heilsgeschichtliche Auffassung, d. h. die Vorstellung vom wieder-
kehrenden, ein neues Reich gründenden Jesus ein wesentliches Stück des
urchristlichen, revolutionären, vaterfeindlichen Glaubens war und wir sind
also nicht überrascht, diese Auffassung auch bei den beiden monarchiani-
schen Richtungen zu finden, deren Verwandtschaft mit der urchristlichen
Lehre wir aufgezeigt haben. Wir sind auch nicht darüber überrascht, wenn
Tertullian und Origines bezeugen, daß die Masse des christlichen Volkes
imonarchianisch denke, und verstehen, daß der Kampf gegen den Mon-
archianismus beider Richtungen ein wesentlicher Ausdruck des Kampfes
gegen die in der Masse noch wurzelnden Vater-Gott- und staatsfeindlichen
Tendenzen war.
Wir übergehen die einzelnen Schattierungen innerhalb der dogmatischen
Entwicklung und kommen zur großen Auseinandersetzung, die auf dem
Nizeanischen Konzil einen vorläufigen Abschluß fand: den Streit zwischen
Arius und Athanasius. Arius lehrt, daß Gott der einzige ist, neben dem
es keinen anderen gibt, und daß sein Sohn eine seinem Wesen nach selbständige,
vom Vater völlig verschiedene Größe ist. Er hat weder ein Wesen mit dem
Vater, noch die gleiche Naturbeschaffenheit, er ist nicht wahrhaftiger Gott
und er hat göttliche Eigenschaften nur als erworbene und nur teilweise-
weil er nicht ewig ist, ist auch seine Erkenntnis nicht vollkommen. Ihm
gebührt daher nicht die gleiche Ehre wie dem Vater. Aber er ist vor der
Weltzeit als Werkzeug zur Schöpfung der übrigen Kreaturen von Gott aus
seinem Willen als selbständiges Wesen geschaffen. Athanasius stellt den Sohn
als zu Gott gehörig der Welt gegenüber. Er ist gezeugt aus dem Wesen
Gottes, d. h. er hat vollkommen Teil an der ganzen Natur des Vaters, hat
ein und dasselbe Wesen mit dem Vater gemein und bildet mit ihm eine
strenge Einheit.
Unschwer erkennen wir hinter dem Gegensatz zwischen Arius und
Athanasius den alten Streit zwischen der monarchianistischen Auffassung
und der Logoschristologie der Apologeten (wenn auch Athanasius im ein-
zelnen die alte Logoslehre durch neue Formulierungen ersetzt), den Kampf
zwischen der Vater-Gott feindlichen, revolutionären Strömung und der
„revisionistischen" Vater-Gott- und staatsbejahenden, auf kollektive und
historische Befreiung verzichtenden Strömung, wie sie im vierten Jahr-
hundert, als das Christentum die offizielle Religion des römischen Imperiums
Die Entwicklung des Christusdognias g5
wird, endgültig gesiegt hat. Arius, ein Schüler Lucians, der seinerseits ein
Schüler Pauls von Samosata, einer der hervorragendsten Vertreter des
Adoptianismus war, vertrat den Adoptianismus nicht mehr in seiner reinen
ursprünglichen Form, sondern schon untermischt mit Elementen der Logos-
christologie. Das konnte auch nicht anders sein, denn die Entwicklung des
Christentums in der Richtung vom urchristlichen Enthusiasmus weg auf
die katholische Kirche hin, hatte schon solche Fortschritte gemacht, daß
der alte Gegensatz nur noch in der Sprache, gleichsam auf dem Territorium
der kirchlichen Anschauungen ausgekämpft werden konnte. Wenn der Streit
zwischen Athanasius und Arius sich scheinbar um eine kleine Differenz
(ob Gott und sein Sohn wesenseins oder wesensgleich sei, homousios oder
hoTnoiusios) drehte, so war die Kleinheit dieser Differenz eben die Folge des
schon fast völligen Sieges über die urchristlichen Tendenzen, aber hinter
diesem Kampf steckt nichts anderes als der Kampf zwischen den vater-
feindlichen revolutionären Tendenzen und den vaterfreundlichen reaktionären.
Das arianische Dogma war eine der letzten Zuckungen der urchristlichen
Bewegung; der Sieg des Athanasius war die Besiegelung der Niederlage
der Religion und der Hoffnungen der kleinen Bauern, Handwerker und
Proletarier Palästinas.
Wir haben nun in großen Zügen zu zeigen versucht, wie die einzelnen
Etappen der dogmatischen Entwicklung charakterisiert sind durch die
gesamte Richtung der Entwicklung von urchristlichem Glauben bis zum
Nizeanischen Dogma. Es wäre eine reizvolle Aufgabe, die wir uns an dieser
Stelle versagen müssen, ähnlich, wie wir das oben für die Anfangs- und
Endsituation getan haben, auch die reale Lebenssituation der Gruppen, die
hinter den einzelnen Etappen der dogmatischen Entwicklung standen, be-
ziehungsweise sie vertraten, aufzuzeigen. Also auch etwa die Frage zu unter-
suchen, warum gerade neun Zehntel des Orients und die Germanen am
Arianismus hingen. Soviel aber glauben wir gezeigt zu haben, daß auch
die einzelnen Etappen der dogmatischen Entwicklung so wie Anfangs- und
Endpunkt aus der Veränderung der realen Situation der Gesellschaft be-
ziehungsweise der Christen zu verstehen ist.
V 1) h,in anderer Deutungsversucn
Welches sind die methodischen und die sich daraus ergebenden inhalt-
lichen Differenzen zwischen dieser Arbeit und der von Theodor Reik, die den
gleichen Gegenstand behandelt?
V
«4 Enm Fromm
Reik geht folgendermaßen methodisch vor. Gegenstand seiner Unter-
suchungen ist das Dogma und speziell das christologische Dogma. Indem
er sich „bemüht, die Parallele zwischen Religion und Zwangsneurose fortzu-
führen und den Zusammenhang beider Erscheinungen an einzelnen Beispielen
zu zeigen", will er „besonders an diesem repräsentativen Beispiel darzulegen
versuchen, daß das religiöse Dogma in der Entwicklungsgeschichte der Mensch-
heit der neurotischen Zwangsidee entspricht, mit anderen Worten, daß es
der bedeutsamste Ausdruck des Zwangsdenkens der Völker ist". Er will „ferner
zeigen, daß die psychischen Vorgänge, welche zur Konstituierung und Entwick-
lung des Dogmas führen, durchaus dem seelischen Mechanismus des Zwangs-
denkens folgen, daß dieselben Motive hier wie dort vorherrschen" und ferner
auch, „daß in der Dogmenbildung dieselben Abwehrtechniken benützt werden,
wie in den Zwangsvorgängen beim Einzelnen".
Welches ist der Weg, auf dem Reik zu seiner These von der grund-
sätzlichen Analogie zwischen Zwangsidee und Dogma kommt?
Zunächst erwartet er ja auf Grund seiner Vorstellung von der Analogie
zwischen Religion und Zwangsneurose diese Übereinstimmung in allen Einzel-
teilen beider Phänomene, also auch zwischen dem religiösen Denken und
dem Zwangsdenken, zu finden. Er wendet sich dann der dogmatischen
Entwicklung zu und sieht, wie sie sich in der Linie eines dauernden Streitens
um kleine Abweichungen vollzieht und es liegt nun nahe, diese auffallende
Ähnlichkeit zwischen der dogmatischen Entwicklung und dem Zwangsdenken
als Beweis für die Identität beider Erscheinungen anzusehen und so das
Unbekannte durch das Bekannte zu erklären, d. h. die Dogmenbildung als
nach denselben Gesetzen erfolgend zu verstehen, nach denen das zwangs-
neurotische Denken vor sich geht. Die Annahme einer inneren Verwandt-
schaft beider Phänomene wird noch dadurch verstärkt, daß gerade beim
Christusdogma das Verhältnis zu Gott -Vater, beziehungsweise die Tatsache
der Ambivalenz, eine auffallende und besondere Rolle spielt.
In der methodischen Einstellung Reiks stecken einige Voraussetzungen,
die von ihm nicht explizite genannt werden, deren Hervorhebung zur Kritik
seiner Methode aber notwendig ist. Die wichtigste ist die folgende: Weil
sich die Religion, in diesem Fall das Christentum, als eine Einheit auffaßt
und darstellt, wird auch auf ein einheitliches Subjekt als Träger dieser
Religion zurückgeschlossen und die Masse so behandelt, als wäre sie ein
Mensch, ein Individuum. So wie die organizistische Soziologie die Gesellschaft
als lebendiges Wesen aufgefaßt hat und die einzelnen Gruppen innerhalb
der Gesellschaft als die verschiedenen Teile eines Organismus verstand, also
Die Entwicklung des ChristusJogmas 65
•
von den Augen, der Haut, dem Kopf usw. der Gesellschaft gesprochen hat,
hat Reik eine solche organizistische Auffassung — nicht im anatomischen,
sondern im psychologischen Sinne. Zu dieser Vorstellung kommt aber noch
eine weitere hinzu: Er versucht nicht, die Massen, deren Einheitlichkeit
er voraussetzt, in ihrer realen Lebenssituation zu untersuchen (diese Unter-
suchung würde allerdings rasch die Unrichtigkeit der These von ihrer
Einheitlichkeit erweisen), sondern er bleibt bei den Ideen und Ideologien
stehen, die von den Massen produziert werden, ohne sich wesentlich um
deren reale Träger, die lebendigen Menschen und ihre psychische Situation im
Konkreten zu kümmern. Er läßt nicht die Ideologien verstehen als Produkte
von Menschen, sondern er rekonstruiert die Menschen aus den Ideologien.
Seine Methode ist infolgedessen in unserem Fall eine reine dogmengeschicht-
liche und nicht, wie es andernfalls wäre, ebensosehr eine religions- und
sozialgeschichtliche. So ist sie nicht nur verwandt mit der organizistischen
Soziologie, sondern ebensosehr mit einer extremen ideen geschichtlich orien-
tierten Religionsforschung, zu deren Überwindung man Ansätze sogar schon
bei manchen Vertretern der theologischen Forschungsrichtung vorfindet (z. B.
bei A. v. Harnack). Reik verfällt in seiner Methode gerade dem extremen
theologischen Standpunkt, den er im inhaltlichen bewußt und explizite so
stark bekämpft und ablehnt. Dieser kirchliche Standpunkt behauptet ja gerade
die Einheit der Religion, ja der Katholizismus sogar ihre Unwandelbarkeit,
und wenn man das Christentum analysiert als wäre es ein lebendiges Indivi-
duum, so befindet man sich tatsächlich methodisch am nächsten diesem
katholisch-orthodoxen Standpunkt. Die Gemeinsamkeit beider Standpunkte
ist am tiefsten begründet in der Auffassung der Unveränderlichkeit und
Nichtentwicklung des Menschen in der Geschichte. Durch diese methaphysi-
sche Voraussetzung, die Reik mit der katholischen Kirche teilt, wird die
innere Verwandtschaft seiner Methode mit der kirchlichen hergestellt.
Die oben besprochene methodische Differenz ist gerade für die Unter-
suchung des christlichen Dogmas von besonderer Bedeutung, weil es für
den Begriff der Ambivalenz, der im Mittelpunkt der Reikschen Arbeit steht,
von entscheidender Bedeutung ist, ob die Voraussetzung eines einheitlichen
Subjektes, über die aber erst nach der bei Reik fehlenden Untersuchung
der realen psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation, der „psychi-
schen Oberfläche' der Gruppe entschieden werden kann, zutrifft oder nicht.
Diese Arbeit hat zu zeigen versucht, daß diese Voraussetzung für das Christen-
tum jener Epoche falsch ist. Wenn das so ist, so würde die Anwendung
des Begriffs der Ambivalenz im Sinne Reiks natürlich auch hinfällig werden.
Fromm: Christusdogma. c
66 Encn Fromm
Von einer Ambivalenz kann ja nur da gesprochen werden, wo es sich um
den Konflikt von Triebregungen innerhalb eines Individuums oder einer
Gruppe relativ gleichartiger Individuen handelt. Also wenn ein Mensch
einen anderen gleichzeitig liebt und haßt, kann von einer Ambivalenz
die Rede sein. Wenn aber von zwei Menschen der eine einen dritten
liebt, der andere ihn haßt, so sind sie Gegner, man kann analysieren,
warum der eine liebt und der andere haßt (wobei sich herausstellen mag,
daß bei jedem auch noch ein Stück der jeweils entgegengesetzten Trieb-
regung aufzufinden ist), aber es wäre verwirrend, von einer „Ambivalenz"
der von diesen beiden Personen gebildeten Gruppe zu reden. Wenn wir
innerhalb einer Gruppe auf das gleichzeitige Vorhandensein entgegengesetzter
Impulse treffen, so kann erst das Eindringen in die reale Situation dieser
Gruppe zeigen, ob hinter ihrer relativen Einheitlichkeit sich nicht verschiedene
Untergruppen mit verschiedenen psychischen Situationen bekämpfen und
sich die scheinbare Ambivalenz als ein einfacher Kampf verschiedener Unter-
gruppen entpuppt. Ein Beispiel soll das illustrieren: Nehmen wir an, in
einigen hundert oder tausend Jahren würde ein psychoanalytischer Forscher,
der nach der Reikschen Methode vorgeht, beim Studium der politischen
Geschichte Deutschlands nach der Revolution von 1918 auf den Flaggen-
streit stoßen. Er würde feststellen, daß es im deutschen Volk solche gab, die
schwarz- weiß-rot als Flagge wollten, andere die schwarz-rot-gold forderten
wieder andere die rot verlangten und daß es dann zu einer Einigung kam,
bei der man eine Flagge schwarz-rot-gold und eine andere schwarz-weiß-
rot mit einer schwarz-rot- goldenen Ecke zu machen beschloß. Der von
uns eben phantasierte Analytiker würde zunächst die Rationalisierungen
durchschauen, wie etwa die, daß man schwarz- weiß -rot behalten müsse, weil
diese Farben auf dem Meer besser sichtbar seien als schwarz-rot-gold, er
würde darstellen, welche Bedeutung in diesem Streit die Einstellung zum
Vater (Monarchie oder Republik) hat und er würde in diesem Flaggenstreit
dann weiter eine Analogie zum Denken zwangsneurotischer Kranker ent-
decken. Er würde Beispiele anführen können, wo gerade der Zweifel, welche
Farbe die richtige sei (Reiks Beispiel von dem Patienten, der über die weiße
oder schwarze Krawatte grübelt, würde hierher vorzüglich passen), getragen
ist vom Konflikt der ambivalenten Triebregungen, kurz, er würde in dem
Hin und Her über die Farbe der Flagge und in dem schließlichen Flaggen-
kompromiß ein dem Zwangsdenken analoges und von denselben Ursachen
bedingtes Phänomen erblicken. Niemand, der die realen Verhältnisse über-
schaut (und auch der spätere Forscher, soweit er seine Aufmerksamkeit
Die Entwicklung des Cnristusdogmas 67
nicht in erster Linie den konkurrierenden Flaggenlosungen, sondern den
dahinterstehenden Menschen zuwenden wird) wird bezweifeln, daß der
Analogieschluß falsch wäre. Es ist vielmehr klar, daß es ganz verschiedene
Gruppen, mit verschiedenen rationalen und affektiven Interessen sind, die
miteinander im Kampf liegen, daß der Kampf um die Flagge ein Kampf
zwischen seelisch und wirtschaftlich verschieden eingestellten Gruppen ist,
daß es sich um alles andere als um einen „Ambivalenzkonflikt" handelt
und daß der Kompromiß nicht der Ausgang eines Ambivalenzkonfliktes ist,
sondern der rationale Ausgleich verschiedener Ansprüche der miteinander
ringenden Gruppen.
Welche inhaltlichen Differenzen ergeben sich aus der methodischen
Differenz? Es stellt sich heraus, daß sowohl in der Deutung des Inhalts des
Christusdogmas die verschiedenen Methoden teilweise zu entgegengesetzten
Auffassungen führen, als auch, daß wir in der psychologischen Bewertung
des Dogmas als solchem nicht zu den Ergebnissen von Reik kommen können.
Der Ausgangspunkt, die Deutung des urchristlichen Glaubens als Aus-
druck der vaterfeindlichen Tendenz, ist gemeinsam. In der Deutung der
weiteren dogmatischen Entwicklung aber kommen wir gerade zum umge-
kehrten Ergebnis wie Reik. Reik faßt den Gnostizismus als eine Richtung
auf, in der sieh die rebellischen Regungen, welche die Sohnesreligion des
Christentums trugen, bis zum Extrem, bis zur Degradierung des Vater- Gottes
ausgeprägt haben. Wir haben oben zu zeigen versucht, daß der Gnostizismus
gerade umgekehrt die vaterfeindlichen, revolutionären Tendenzen des Christen-
tums ausgemerzt hat. Der Irrtum Reiks scheint uns darin begründet, daß
er, seiner Methode entsprechend, nur die gnostische Formel von der Absetzung
des jüdischen Vater- Gottes beachtet, anstatt den Gnostizismus im Ganzen zu
untersuchen, in dessen System jener jahwefeindlichen Formel eine ganz
andere Bedeutung zukommt. Zu ebenso entgegengesetzten Resultaten führt
die Deutung der weiteren dogmatischen Entwicklung. Reik sieht in der^
Lehre von der Präexistenz Jesus den Sieg und die Durchsetzung der ur-
sprünglichen vaterfeindlichen Tendenz. Wir glaubten gerade im Gegensatz
dazu zeigen zu können, daß in der Idee der Präexistenz Jesus die ur-
sprünglich vaterfeindliche Tendenz (ein Mensch wird zu Gott) durch eine
entgegengesetzte harmonisierende ersetzt ist. Wir sehen, daß die psycho-
analytische Deutung hier zu zwei ganz entgegengesetzten Auffassungen vom
unbewußten Sinn der verschiedenen dogmatischen Formulierungen führt.
Dieser Gegensatz beruht sicherlich nicht auf irgendeiner Differenz in den
psychoanalytischen Voraussetzungen als solchen. Er beruht allein auf der
5'
68 Eni Fromm
Differenz in der Methode der Anwendung der Psychoanalyse auf sozial-
psychologische Erscheinungen. Die Ergebnisse, zu denen wir kommen, scheinen
uns deshalb richtig zu sein, weil sie nicht wie die Reikschen aus der Deutung
der isolierten und verabsolutierten religiösen Formel stammen, sondern aus
der Untersuchung dieser Formel in ihrem Zusammenhang mit der realen
Lebenssituation der sie tragenden Menschen.
Nicht geringer ist der sich aus der gleichen methodischen Differenz er-
gebende Gegensatz in der Auffassung der psychologischen Bedeutung des
Dogmas an sich. Reik sieht im Dogma den bedeutendsten Ausdruck des Zwangs-
denkens der Völker und will zeigen, „daß die psychischen Vorgänge, welche
zur Konstituierung und Entwicklung des Dogmas führen, durchaus den
seelischen Mechanismen des Zwangsdenkens folgen, daß dieselben Motive hier
wie dort vorherrschen". Die Entwicklung des Dogmas sieht er bedingt durch
die Ambivalenz zum Vater. Die vaterfeindlichen Strebungen finden für ihn
ihren ersten Höhepunkt im Gnostizismus, die Apologeten versuchen eine
Abwehr, in der Logoschristologie kommt das unbewußte Ziel der Ersetzung
Gott-Vaters durch Christus am deutlichsten zum Ausdruck, doch wird die
völlige Durchsetzung der unbewußten Triebregungen durch starke Abwehr-
kräfte verhindert. Ebenso wie in der Zwangsneurose bald die eine, bald
die andere von zwei entgegengesetzten Tendenzen die Oberhand gewinnt
so scheint es auch Reik in der dogmatischen Entwicklung zu sein, deren
Ablauf für ihn durch die Gesetzmäßigkeit der Aktions- und Reaktions-
erscheinungen in einem psychischen Subjekt begründet liegt. Wir haben oben
ausführlich darauf hingewiesen, wo der Irrtum Reiks liegt. Er übersieht
vollkommen, daß das psychologische Subjekt hier nicht ein Mensch ist, aber
auch noch nicht einmal eine Gruppe von relativ einheitlicher und gleich-
bleibender seelischer Struktur, sondern daß es sich in der christlichen Ent-
wicklung um ganz verschiedene Gruppen handelt mit verschiedenen realen
und psychischen Interessen, daß die verschiedenen Dogmen eben Ausdruck
jener gegensätzlichen Interessen sind und daß der Sieg eines Dogmas nicht
der Ausgang eines innerpsychischen Konfliktes analog dem in einem In-
dividuuum ist, sondern der Ausgang einer historischen Entwicklung, die
infolge ganz bestimmter äußerer Umstände (der Stagnation und dem Rück-
gang der Produktivkräfte und den damit verbundenen sozialen und politischen
Erscheinungen) zum Siege einer Richtung und zur Niederlage einer anderen,
der vaterfeindlich-revolutionären, führt.
Reik stellt das Dogma als Ausdruck des Zwangsdenkens neben den Ritus
als Ausdruck des Zwangshandelns der Völker. Gewiß ist es richtig, daß im
lMh_
Die Entwicklung aes Chn.stusdogma,5 69
christlichen wie in manchen anderen Dogmen die Ambivalenz zum Vater
eine große Rolle spielt, aber das beweist ja keineswegs, daß es sich bei
den dogmatischen Phantasien um ein Zwangsdenken handelt und wir haben
ja gerade zu zeigen versucht, wie das Hin und Her in der dogmatischen
Entwicklung, das auf den ersten Blick an ein Zwangsdenken erinnert, eine
ganz andere Aufklärung findet. Das Dogma ist weitgehend von realen,
politischen und sozialen Motiven bedingt. Es dient als eine Art Fahne,
seine Anerkennung ist die Zugehörigkeitserklärung zu einer bestimmten
Gruppe und von hierher ist es verständlich, daß Religionen, die in ihrem
Bestand durch außerreligiöse Momente genügend konsolidiert sind, wie etwa
das Judentum durch das ethnische, auf eine Dogmatik im katholischen
Sinn fast völlig verzichten können. 1
Aber selbstverständlich ist diese reale organisatorische Funktion des Dogmas
nicht seine einzige und es ist ja gerade in dieser Arbeit versucht worden zu
zeigen, welche soziale Bedeutung ihm dadurch zukommt, daß es Gefühls-
ansprüche der Masse in der Phantasie befriedigt und an die Stelle realer
Befriedigung tritt. Wenn solche Befriedigungsphantasien in die Form eines
Dogmas gepreßt werden und von der Masse unter Berufung auf die Autorität
der Wissenden und Herrschenden verlangt wird, an dieses Dogma zu glauben,
so scheint uns, wenn wir schon das Dogma mit individuellen Erscheinungen
vergleichen wollen, das entsprechendste A.nalogon der suggestive Befehl eines
Suggestors zu sein. Das Dogma würden wir dann nicht bezeichnen als den
hervorragendsten Ausdruck des Zwangsdenkens der Menschen, sondern als
den einer grandiosen Massenphantasie, suggeriert durch die Vertreter der
herrschenden Klasse und durch die gegenseitige Identifizierung der Gläubigen
subjektiv als Realität erlebt. Das Dogma soll auf das Unbewußte wirken,
und hierin liegt der Grund, warum es sekundär im Sinn einer Rationali-
sierung bearbeitet wird. Nur dadurch, daß dem Bewußtsein die eigentlichen
Tendenzen des Dogmas verhüllt bleiben, ist diese starke Wirkung aufs Un-
bewußte möglich, und hierin liegt es begründet, daß ein völliges Verständnis
eines Dogmas — und alle Ideologien, die die Masse zum Glauben an sie
verpflichten wollen, wie die der Pflicht gegenüber dem Vaterland, der
Sittlichkeit, Kultur und ähnliches, sind Dogmen in diesem sozialpsycho-
logischen Sinn — nur unter Berücksichtigung der psychoanalytischen
Deutung seines unbewußten, auf die Tiefen des Gefühlslebens bezogenen
Sinnes möglich ist.
1) Vgl. Fromm: Soziologie des jüdischen Gesetzes. Heidelberg. Diss. 1921, S. 24ff.
-
7° Eridi Fromm
V 11) Zusammenfassung
Fassen wir kurz das zusammen, was unsere Untersuchung über den
psychologischen Sinn der Wandlung der Jesusvorstellung ergeben hat.
Der urchristliche Glaube vom leidenden Menschen, der zum Gott wird,
hatte seine zentrale Bedeutung in den darin enthaltenen Wünschen, den
Vater-Gott beziehungsweise seine irdischen Repräsentanten zu stürzen und
zu töten, die Figur des leidenden Jesus war in erster Linie aus dem Iden-
tifizierungsbedürfnis der leidenden Masse entstanden und nur sekundär
bestimmt durch das Bedürfnis nach Sühne für das Verbrechen der Aggression
gegen den Vater. Die Träger dieses Glaubens waren Menschen, die auf
Grund ihres Schicksals erfüllt waren vom Haß gegen die Herrschenden
und Hoffnung auf eigenes Glück. Die Veränderung der wirtschaftlichen
Situation und der sozialen Zusammensetzung der christlichen Gemeinde,
kurz die Veränderung des Lebensschicksals, verändert die psychische Ver-
fassung der Christgläubigen. Das Dogma wandelt sich; aus dem zum Gott
gewordenen Menschen wird der Mensch gewordene Gott. Nicht mehr der
Vater soll gestürzt werden, nicht die Herrschenden sind schuld sondern
die Leidenden, die Aggression wird nicht mehr gegen jene, sondern gegen
die eigene Person der Leidenden gewandt, die Befriedigung liegt in der
Verzeihung und Liebe, die der Vater dem sich unterwerfenden Sohne gewährt
und gleichzeitig in der königlichen, väterlichen Stellung, die der leidende
Jesus, der ein Repräsentant der Masse bleibt, einnimmt. Er ist selber Gott
geworden ohne Gott zu stürzen, weil er immer schon Gott war. Dahinter
liegt eine noch tiefere Regression verborgen, die im homousianischen
Dogma ihren Ausdruck findet: der väterliche Gott, dessen Verzeihung nur
durch eigenes Leid zu erlangen ist, verwandelt sich in die gnadenreiche
Mutter, die das Kind ernährt, es in ihrem Schöße birgt und dadurch Ver-
zeihung gewährt. Rein psychologisch beschrieben ist die Wandlung, die
hier vor sich geht, die von einer vaterfeindlichen Einstellung zu einer
passiv-masochistisch-gefügigen und endlich zu der des von der Mutter ge-
liebten Säuglings. Ginge diese Entwicklung in einem Individuum vor sich,
so wäre sie der Ausdruck einer seelischen Erkrankung. Sie vollzieht sich
aber in Jahrhunderten, betrifft nicht die Totalität der seelischen Struktur
des Einzelnen, sondern nur einen allen gemeinsamen Sektor und ist nicht
Ausdruck einer krankhaften Störung, sondern im Gegenteil der Anpassung
an die gegebene reale gesellschaftliche Situation. Für die Massen, für die
noch ein Rest von Aussicht auf den Sturz der herrschenden Klasse bestand,
Die Entwicklung des Chnstusdogmas 71
war die urchristliche Phantasie ebenso entsprechend und befriedigend, wie
für die mittelalterliche Masse das katholische Dogma. Die Ursache für die
Wandlung liegt in der Veränderung der wirtschaftlichen Situation beziehungs-
weise dem Rückgang der Produktivkräfte und ihren gesellschaftlichen Kon-
sequenzen. Die Vertreter der herrschenden Klasse griffen in diesem Prozeß
verstärkend und beschleunigend ein, indem sie der Masse solche PhantasieD
suggerierten, die ihr (Phantasie-) Befriedigung gewährten und die ihre Aggres-
sion in gesellschaftliche ungefährliche Bahnen lenkten.
Der Katholizismus bedeutete die verhüllte Rückkehr zur Religion der
großen Mutter, als deren Besieger Jahwe auf den Plan getreten war. Erst
der Protestantismus greift wieder auf den Vater- Gott zurück, 1 er steht am
Beginn einer gesellschaftlichen Epoche, die eine aktive Haltung der Massen
zuläßt, im Gegensatz zur passiv-infantilen des Mittelalters. 2
1) Luther persönlich ist charakterisiert durch seine ambivalente Einstellung zum
Vater; die teils liebende, teils feindselige Auseinandersetzung mit ihm und Vaterfiguren
macht den Kernpunkt seiner psychischen Situation aus.
2) Vgl. auch Frazer: Der Goldene Zweig. Leipzig 1928, S. 520 ff., und die mit
unseren Ergebnissen verwandte Auffassung von A. J. Storf er: Marias jungfräuliche
Mutterschaft. Berlin 1913.
■
Inhaltsverzeichnis
Seite
I) Methodik und Problemstellung 5
II) Die sozialpsychologische Funktion der Religion 10
III) Das Urchristentum und seine Vorstellung von
Jesus jg
IV) Die Wandlung des Christentums und das homo-
usianische Dogma -rq
V) Die Wandlungen des Dogmas bis zum Nizeani-
schen Konzil ec
VI) Ein anderer Deutungsversuch 63
VII) Zusammenfassung n Q
-_
Z/ur rsycnoanalyse
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