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SIGM. FREUD
GESAMMELTE
SCHRIFTiEN
1
SIGM. FKKl 1)
GESAMMELTE
SCHRIFTEN
VON
SIGM. FREUD
ERSTER BAND
STUDIEN ÜBER HYSTERIE
FRÜHE ARBEITEN ZUR
NEUROSENLEHRE
(1892 — 1899)
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
LEIPZIG / WIEN / ZÜRICH
/i. /
Die Herausgabe dieses Bandes besorgten
unter Mitwirkung des Verfassers
Anna Freud und A. J. Storfer
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, Vorbehalten
Copyright 1925 by „Internationaler Psychoanalytischer
Verlag, Ges. m. b. H.“, Wien
Gedruckt bei Carl Fromme Ges. m. b. H., Wien V.
STUDIEN ÜBER HYSTERIE
Die „Studien über Hysterie von Dr. Josef Breuer und Dr, Sigm, Freud^
erschienen im Verlage Franz Deuticke, Leipzig und Wien (mit dessen
Genehmigung sie auch in diese Gesamtausgabe auf genommen worden sind).
Es erschienen folgende unveränderte Neuauflagen: zweite 190^, dritte 1916^
vierte 1922,
Von der autorisierten englischen Ausgabe (Übersetzer Dr, A, A, Brill)
erschien die erste Auflage New York 1909, diezweite 1912, die dritte 1920.
Der erste Teil des Buches („Über den psychischen Mechanismus hysterischer
Phänomene^) erschien auch in der internationalen Hilfssprache „Ido^ (über¬
setzt von Bakonyi), Budapest 1918.
Die „Studien über Hysterie von Dr. Josef Breuer und Dr. Sigm. Freud^
enthielten ursprünglich als I. Teil die von den beiden Verfassern gemeinsam
geschriebene Arbeit „ Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene
als II. Teil fünf Krankengeschichten (und zwar die erste — Frl. Anna O . .. —
vonBreuery die vier anderen von Freud, als III. Teil eine Arbeit von Breuer
(„Theoretisches^), als IV. (letzten) Teil eine Arbeit von Freud („Xur Psycho¬
therapie der Hysterw^). In dieser Gesamtausgabe sind die nur von Breuer
herrührenden Arbeiten (d. h. die Krankengeschichte Frl. Anna O... und die
Arbeit „Theoretisches^*) weggelassen worden; der von beiden Verfassern
gemeinsam herrührende einleitende Teil ist hier mit Genehmigung von Herrn
Dr. Breuer auf genommen worden.
VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGE
Wir haben unsere Erfahrungen über eine neue Methode der Erforschung
und Behandlung hysterischer Phänomene 1893 in einer „Vorläufigen Mit¬
teilung“^ veröffentlicht und daran in möglichster Knappheit die theoreti¬
schen Anschauungen geknüpft, zu denen wir gekommen waren. Diese
„Vorläufige Mitteilung“ wird hier, als die zu illustrierende und zu erwei¬
sende These, nochmals abgedruckt.
Wir schließen nun hieran eine Reihe von Krankenbeobachtungen, bei
deren Auswahl wir uns leider nicht bloß von wissenschaftlichen Rücksichten
bestimmen lassen durften. Unsere Erfahrungen entstammen der Privat¬
praxis in einer gebildeten und lesenden Gesellschaftsklasse und ihr Inhalt
berührt vielfach das intimste Leben und Geschick unserer Kranken. Es
wäre ein schwerer Vertrauensmißbrauch, solche Mitteilungen zu veröffent¬
lichen, auf die Gefahr hin, daß die Kranken erkannt und Tatsachen in
ihrem Kreise verbreitet werden, welche nur dem Arzte anvertraut wurden.
Wir haben darum auf instruktivste und beweiskräftigste Beobachtungen
verzichten müssen. Dieses betrifft naturgemäß vor allem jene Fälle, in
denen die sexualen und ehelichen Verhältnisse ätiologische Bedeutung haben.
Daher kommt es, daß wir nur sehr unvollständig den Beweis für unsere
Anschauung erbringen können: die Sexualität spiele als Quelle psychischer
Traumen und als Motiv der „Abwehr“, der Verdrängung von Vorstellungen
aus dem Bewußtsein, eine Hauptrolle in der Pathogenese der Hysterie.
Wir mußten eben die stark sexualen Beobachtungen von der Veröffent¬
lichung ausschließen.
Den Krankengeschichten folgt eine Reihe theoretischer Erörterungen
und in einem therapeutischen Schlußkapitel wird die Technik der „kathar-
1) Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Neurologisches
Zentralblatt 1895, Nr. 1 und 2.
4
Studien Über Hysterie
tischen Methode“ dargelegt, so wie sie sich in der Hand des Neurologen
entwickelt hat.
Wenn an manchen Stellen verschiedene, ja sich widersprechende Mei¬
nungen vertreten werden, so möge das nicht als ein Schwanken der Auf¬
fassung betrachtet werden. Es entspringt den natürlichen und berechtigten
Meinungsverschiedenheiten zweier Beobachter, die bezüglich der Tatsachen
und der Grundanschauungen übereinstimmen, deren Deutungen und Ver¬
mutungen aber nicht immer zusammenfallen.
April 189;
J. Breuer, S. Freud.
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE
Die unveränderte Wiedergabe des Textes der ersten Auflage war auch
für meinen AnteiP an diesem Buche das einzig Mögliche. Die Entwicklung
und Veränderungen, welche meine Anschauungen im Laufe von 13 Arbeits-
jahren erfahren haben, sind doch zu weitgehend, als daß es gelingen
könnte, sie an meiner Darstellung von damals zur Geltung zu bringen,
ohne deren Charakter völlig zu zerstören. Es fehlt mir aber auch das
Motiv, das mich veranlassen könnte, dieses Zeugnis meiner anfänglichen
Meinungen zu beseitigen. Ich betrachte »dieselben auch heute nicht als
Irrtümer, sondern als schätzenswerte erste Annäherungen an Einsichten,
die sich erst nach länger fortgesetzter Bemühung vollständiger gewinnen
ließen. Ein aufmerksamer Leser wird von allen späteren Zutaten zur
Lehre von der Katharsis (wie: die Rolle der psychosexuellen Momente,
des Infantilismus, die Bedeutung der Träume und der Symbolik des
Unbewußten) die Keime schon in dem vorliegenden Buche auffinden
1) Dr. Breuers Vorwort zur zweiten Auflage lautete: „Das Interesse, welches in
steigendem Maße der Psychoanalyse entgegengebracht wird, scheint sich jetzt auch
den ,Studien über Hysterie* zuzuwenden. Der Verleger wünscht eine Neuauflage des
vergriffenen Buches. Es erscheint nun hier in unverändertem Neudrucke, obwohl die
Anschauungen und Methoden, welche in der ersten Auflage dargestellt wurden, seitdem
eine weit- und tiefgehende Entwicklung erfahren haben. Was mich selbst betrifft, so
habe ich mich seit damals mit dem Gegenstände nicht aktiv beschäftigt, habe keinen
Anteil an seiner bedeutsamen Entwicklung und wüßte dem 1895 Gegebenen nichts
Neues hinzuzufügen. So konnte ich nur wünschen, daß meine beiden in dem Buche
enthaltenen Abhandlungen bei der Neuauflage desselben in unverändertem Abdn:cke
wieder erscheinen mögen.“
6
Studien über Hysterie
können. Auch weiß ich für jeden, der sich für die Entwicklung der
Katharsis zur Psychoanalyse interessiert, keinen besseren Rat als den, mit
den „Studien über Hysterie“ zu beginnen und so den Weg zu gehen,
den ich selbst zurückgelegt habe.
Wien, im Juli ipo8.
* Freud.
ÜBER DEN PSYCHISCHEN MECHANISMUS
HYSTERISCHER PHÄNOMENE
Vorläufige Mitteilung^
1
Angeregt durch eine zufällige Beobachtung forschen wir seit
einer Reihe von Jahren bei den verschiedensten Formen und
Symptomen der Hysterie nach der Veranlassung, dem Vorgänge,
welcher das betreffende Phänomen zum ersten Male, oft vor vielen
Jahren, hervorgerufen hat. In der großen Mehrzahl der Fälle
gelingt es nicht, durch das einfache, wenn auch noch so ein¬
gehende Krankenexamen, diesen Ausgangspunkt klarzustellen, teil¬
weise, weil es sich oft um Erlebnisse handelt, deren Besprechung
den Kranken unangenehm ist, hauptsächlich aber, weil sie sich
wirklich nicht daran erinnern, oft den ursächlichen Zusammen¬
hang des veranlassenden Vorganges und des pathologischen Phä¬
nomens nicht ahnen. Meistens ist es nötig, die Kranken zu hypno¬
tisieren und in der Hypnose die Erinnerungen jener Zeit, wo
das Symptom zum ersten Male auftrat, wachzurufen ^ dann gelingt
es, jenen Zusammenhang aufs deutlichste und überzeugendste
darzulegen.
i) Diese aus dem „Neurologischen Zentralblatt“, 1893, wieder abgedruckte Arbeit
ist — vgl. oben S. 2 — von Breuer und Freud.
8
Studien über Hysterie
Diese Methode der Untersuchung hat uns in einer großen
Zahl von Fällen Resultate ergeben, die in theoretischer wie in
praktischer Hinsicht wertvoll erscheinen.
In theoretischer Hinsicht, weil sie uns bewiesen haben, daß
das akzidentelle Moment weit über das bekannte und anerkannte
Maß hinaus bestimmend ist für die Pathologie der Hysterie.
Daß es bei „traumatischer^^ Hysterie der Unfall ist, welcher
das Syndrom hervorgerufen hat, ist ja selbstverständlich, und
wenn bei hysterischen Anfallen aus den Äußerungen der
Kranken zu entnehmen ist, daß sie in jedem Anfall immer
wieder denselben Vorgang halluzinieren, der die erste Attacke
hervorgerufen hat, so liegt auch hier der ursächliche Zusammen¬
hang klar zutage. Dunkler ist der Sachverhalt bei den anderen
Phänomenen.
Unsere Erfahrungen haben uns aber gezeigt, daß die ver¬
schiedensten Symptome, welche für spontane, sozusagen
idiopathische Leistungen der Hysterie gelten, in ebenso
stringentem Zusammenhänge mit dem veranlassenden
Trauma stehen, wie die obengenannten, in dieser Be¬
ziehung durchsichtigen Phänomene. Wir haben Neuralgien
wie Anästhesien der verschiedensten Art und von oft jahrelanger
Dauer, Kontrakturen und Lähmungen, hysterische Anfalle und
epileptoide Konvulsionen, die alle Beobachter für echte Epilepsie
gehalten hatten, petit mal und ticartige Affektionen, dauerndes
Erbrechen und Anorexie bis zur Nahrungsverweigerung, die ver¬
schiedensten Sehstörungen, immer wiederkehrende Gesichtshalluzi¬
nationen u. dgl. m. auf solche veranlassende Momente zurück¬
führen können. Das Mißverhältnis zwischen dem jahrelang dau¬
ernden hysterischen Symptome und der einmaligen Veranlassung
ist dasselbe, wie wir es bei der traumatischen Neurose regelmäßig
zu sehen gewohnt sind^ ganz häufig sind es Ereignisse aus der
Kinderzeit, die für alle folgenden Jahre ein mehr minder schweres
Krankheitsphänomen hergestellt haben.
Der psychische Mechanismus hysterischer Phänomene
Oft ist der Zusammenhang so klar, daß es vollständig ersicht¬
lich ist, wieso der veranlassende Vorfall eben dieses und kein
anderes Phänomen erzeugt hat. Dieses ist dann durch die Veran¬
lassung in völlig klarer Weise determiniert. So, um das banalste
Beispiel zu nehmen, wenn ein schmerzlicher Affekt, der während
des Essens entsteht, aber unterdrückt wird, dann Übelkeit und
Erbrechen erzeugt und dieses als hysterisches Erbrechen monate¬
lang andauert. Ein Mädchen, das in qualvoller Angst an einem
Krankenbette wacht, verfällt in einen Dämmerzustand und hat
eine schreckhafte Halluzination, während ihr der rechte Arm^
über der Sessellehne hängend, einschläft: es entwickelt sich daraus
eine Parese dieses Armes mit Kontraktur und Anästhesie. Sie will
beten und findet keine Worte5 endlich gelingt es ihr, ein eng¬
lisches Kindergebet zu sprechen. Als sich später eine schwere
höchst komplizierte Hysterie entwickelt, spricht, schreibt und ver¬
steht sie nur Englisch, während ihr die Muttersprache durch
1^2 Jahre unverständlich ist. — Ein schwerkrankes Kind ist end¬
lich eingeschlafen, die Mutter spannt alle Willenskraft an, um
sich ruhig zu verhalten und es nicht zu wecken^ gerade infolge
dieses Vorsatzes macht sie („hysterischer Gegenwille^M) ein schnal¬
zendes Geräusch mit der Zunge. Dieses wiederholt sich später bei
einer anderen Gelegenheit, wobei sie sich gleichfalls absolut ruhig-
verhalten will, und es entwickelt sich daraus ein Tic, der als
Zungenschnalzen durch viele Jahre jede Aufregung begleitet. —
Ein hochintelligenter Mann assistiert, während seinem Bruder
das ankylosierte Hüftgelenk in der Narkose gestreckt wird. Im
Augenblicke, wo das Gelenk krachend nachgibt, empfindet er
heftigen Schmerz im eigenen Hüftgelenke, der fast ein Jahr an¬
dauert u. dgl. m.
In anderen Fällen ist der Zusammenhang nicht so einfach^ es
besteht nur eine sozusagen symbolische Beziehung zwischen der
Veranlassung und dem pathologischen Phänomen, wie der Gesunde
sie wohl auch im Traume bildet, wenn etwa zu seelischem
lO
Studien über Hysterie
Schmerze sich eine Neuralgie gesellt oder Erbrechen zu dem
Affekte moralischen Ekels. Wir haben Kranke studiert, welche
von einer solchen Symbolisierung den ausgiebigsten Gebrauch zu
machen pflegten. — In noch anderen Fällen ist eine derartige
Determination zunächst nicht dem Verständnis offen 5 hieher ge¬
hören gerade die typischen hysterischen Symptome, wie Hemi-
anästhesie und Gesichtsfeldeinengung, epileptiforme Konvulsionen
u. dgl. m. Die Darlegung unserer Anschauungen über diese
Gruppe müssen wir der ausführlicheren Besprechung des Gegen¬
standes Vorbehalten.
Solche Beobachtungen scheinen uns die pathogene Analogie
der gewöhnlichen Hysterie mit der traumatischen Neu¬
rose nachzuweisen und eine Ausdehnung des Begriffes der
,,traumatischen Hysterie“ zu rechtfertigen. Bei der trauma¬
tischen Neurose ist ja nicht die geringfügige körperliche Ver¬
letzung die wirksame Krankheitsursache, sondern der Schreck¬
affekt, das psychische Trauma. In analoger Weise ergeben sich
aus unseren Nachforschungen für viele, wenn nicht für die meisten
hysterischen Symptome Anlässe, die man als psychische Traumen
bezeichnen muß. Als solches kann jedes Erlebnis wirken, welches
die peinlichen Affekte des Schreckens, der Angst, der Scham, des
psychischen Schmerzes hervorruft, und es hängt begreiflicherweise
von der Empfindlichkeit des betroffenen Menschen (sowie von
ainer später zu erwähnenden Bedingung) ab, ob das Erlebnis als
Trauma zur Geltung kommt. Nicht selten finden sich anstatt des
•einen großen Traumas bei der gewöhnlichen Hysterie mehrere
Partialtraumen, gruppierte Anlässe, die erst in ihrer Summierung
traumatische Wirkung äußern konnten und die insofern zu-
«ammengehören, als sie zum Teil Stücke einer Leidensgeschichte
bilden. In noch anderen Fällen sind es an sich scheinbar
gleichgültige Umstände, die durch ihr Zusammentreffen mit
dem eigentlich wirksamen Ereignis oder mit einem Zeitpunkte
besonderer Reizbarkeit eine Dignität als Traumen gewonnen
Der psychische Mechanismus hysterischer Phänomene 11
haben, die ihnen sonst nicht zuzumuten wäre, die sie aber von
da an behalten.
Aber der kausale Zusammenhang des veranlassenden psychi¬
schen Traumas mit dem hysterischen Phänomen ist nicht etwa
von der Art, daß das Trauma als agent provocateur das Symptom
auslösen würde, welches dann, selbständig gew^orden, weiter be¬
stände. Wir müssen vielmehr behaupten, daß das psychische Trauma
respektive die Erinnerung an dasselbe nach Art eines Fremdkörpers
wirkt, w^elcher noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegen¬
wärtig wirkendes Agens gelten muß, und wir sehen den Beweis
hiefür in einem höchst merkwürdigen Phänomen, welches zu¬
gleich unseren Befunden ein bedeutendes praktisches Interesse
verschafft.
Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer größten Überraschung,
daß die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und
ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war,
die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller
Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden
Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den
Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und
dem Affekte Worte gab. Affektloses Erinnern ist fast immer
völlig wirkungslos; der psychische Prozeß, der ursprünglich abge¬
laufen war, muß so lebhaft als möglich wiederholt, in statum
nascendi gebracht und dann „ausgesprochen“ werden. Dabei treten,
wenn es sich um Reizerscheinungen handelt, diese: Krämpfe,
Neuralgien, Halluzinationen — noch einmal in voller Intensität
auf und schwinden dann für immer. Funktionsausfälle, Lähmungen
und Anästhesien schwinden ebenso, natürlich ohne daß ihre mo¬
mentane Steigerung deutlich wäre.^
i) Die Möglichkeit einer solchen Therapie haben Delboenf und Binet klar
erkannt, wie die beifolgenden Zitate zeigen: Delboeuf, Le magn^tisme animal.
Paris 1889: „On s'expliquerait des-lors comment le magnetiseur aide ä la guerison. II remet
le Sujet dans Vitat oü le mal s'est manifeste et comhat par la parole le mime maly mais
renaissant.^ — Binet, Les alt^rations de la personalite. 1892, p. 243: • peut-etre
12
Studien über Hysterie
Der Verdacht liegt nahe, es handle sich dabei um eine unbe¬
absichtigte Suggestion^ der Kranke erwarte, durch die Prozedur
von seinem Leiden befreit zu werden, und diese Erwartung, nicht
das Aussprechen selbst, sei der wirkende Faktor. Allein dem ist
nicht so: die erste Beobachtung dieser Art, bei welcher ein höchst
verwickelter Fall von Hysterie auf solche Weise analysiert und
die gesondert verursachten Symptome auch gesondert behoben
wurden, stammt aus dem Jahre 1881, also aus „vorsuggestiver“
Zeit, wurde durch spontane Autohypnosen der Kranken ermög¬
licht und bereitete dem Beobachter die größte Überraschung.
In Umkehrung des Satzes: cessante causa cessat effectus dürfen
wir wohl aus diesen Beobachtungen schließen, der veranlassende
Vorgang wirke in irgend einer Weise noch nach Jahren fort, nicht
indirekt durch Vermittlung einer Kette von kausalen Zwischen¬
gliedern, sondern unmittelbar als auslösende Ursache, wie etwa
ein im wachen Bewußtsein erinnerter psychischer Schmerz noch
in später Zeit die Tränensekretion hervorruft: der Hysterische
leide größtenteils an Reminiszenzen.^
Es erscheint zunächst wunderlich, daß längst vergangene^
Erlebnisse so intensiv wirken sollen^ daß die Erinnerungen an
sie nicht der Usur unterliegen sollen, der wir doch alle unsere
Erinnerungen verfallen sehen. Vielleicht gewinnen wir durch fol¬
gende Erwägungen einiges Verständnis für diese Tatsachen.
verra-t-on qu’en reportant le malade par un artifice mental^ au moment mime oü le Symptome
a apparu pour la premiere foiSy on rend ce malade plus docile ä une Suggestion curative.^^ —
In dem interessanten Buche von P. Jan et: L’automatisme psychologique, Paris 1889,.
findet sich die Beschreibung einer Heilung, welche bei einem hysterischen Mädchen
durch Anwendung eines dem unsrigen analogen Verfahrens erzielt wurde.
1) Wir können im Texte dieser vorläufigen Mitteilung nicht sondern, was am
Inhalte derselben neu ist und was sich bei anderen Autoren wie Möbius und
Strümpell findet, die ähnliche Anschauungen für die Hysterie vertreten haben.
Die größte Annäherung an unsere theoretischen und therapeutischen Ausführungen
fanden wir in einigen, gelegentlich publizierten Bemerkimgen B enedikts, mit denen
wir uns an anderer Stelle beschäftigen v/erden.
Der psychische Mechanismus hysterischer Phänomene
15
Das Verblassen oder Affektlos werden einer Erinnerung hängt
von mehreren Faktoren ab. Vor allem ist dafür von Wichtigkeit,
ob auf das affizierende Ereignis energisch reagiert wurde
oder nicht. Wir verstehen hier unter Reaktion die ganze Reihe will¬
kürlicher und unwillkürlicher Reflexe, in denen sich erfahrungsgemäß
die Affekte entladen: vom Weinen bis zum Racheakt. Erfolgt diese
Reaktion in genügendem Ausmaße, so schwindet dadurch ein großer
Teil des Affektes^ unsere Sprache bezeugt diese Tatsache der täglichen
Beobachtung durch die Ausdrücke „sich austoben, ausweinen^^ u. dgl.
Wird die Reaktion unterdrückt, so bleibt der Affekt mit der Er¬
innerung verbunden. Eine Beleidigung, die vergolten ist, wenn
auch nur durch Worte, wird anders erinnert, als eine, die hin¬
genommen werden mußte. Die Sprache anerkennt auch diesen
Unterschied in den psychischen und körperlichen Folgen und be¬
zeichnet höchst charakteristischerweise eben das schweigend er¬
duldete Leiden als „Kränkung‘^ — Die Reaktion des Geschädigten
auf das Trauma hat eigentlich nur dann eine völlig „katharti-
sche“ Wirkung, wenn sie eine adäquate Reaktion ist; wie die
Rache. Aber in der Sprache findet der Mensch ein Surrogat für
die Tat, mit dessen Hilfe der Affekt nahezu ebenso „abreagiert^^
werden kann. In anderen Fällen ist das Reden eben selbst der
adäquate Reflex, als Klage und als Aussprache für die Pein eines
Geheimnisses (Beichte!). Wenn solche Reaktion durch Tat, Worte,
in leichtesten Fällen durch Weinen nicht erfolgt, so behält die
Erinnerung an den Vorfall zunächst die affektive Betonung.
Das „Abreagierenist indes nicht die einzige Art der Erledi¬
gung, welche dem normalen psychischen Mechanismus des Ge¬
sunden zur Verfügung steht, wenn er ein psychisches Trauma
erfahren hat. Die Erinnerung daran tritt, auch wenn sie nicht
abreagiert wurde, in den großen Komplex der Assoziation ein,
sie rangiert dann neben anderen, vielleicht ihr widersprechenden
Erlebnissen, erleidet eine Korrektur durch andere Vorstellungen.
Nach einem Unfälle z. B. gesellt sich zu der Erinnerung an die
14
Studien über Hysterie
Gefahr und zu der (abgeschwächten) Wiederholung des Schreckens
die Erinnerung des weiteren Verlaufes, der Rettung, das Bewußt¬
sein der jetzigen Sicherheit. Die Erinnerung an eine Kränkung
wird korrigiert durch Richtigstellung der Tatsachen, durch Er¬
wägungen der eigenen Würde u. dgl., und so gelingt es dem
normalen Menschen, durch Leistungen der Assoziation den beglei¬
tenden Affekt zum Verschwinden zu bringen.
Dazu tritt dann jenes allgemeine Verwischen der Eindrücke^
jenes Abblassen der Erinnerungen, welches wir „vergessennennen,
imd das vor allem die affektiv nicht mehr wirksamen Vorstellungen
usuriert.
Aus unseren Beobachtungen geht nun hervor, daß jene Erinne¬
rungen, welche zu Veranlassungen hysterischer Phänomene ge¬
worden sind, sich in wunderbarer Frische und mit ihrer vollen
Affektbetonung durch lange Zeit erhalten haben. Wir müssen
aber als eine weitere auffällige und späterhin verwertbare Tat¬
sache erwähnen, daß die Kranken nicht etwa über diese Erinne¬
rungen wie über andere ihres Lebens verfügen. Im Gegenteil,
diese Erlebnisse fehlen dem Gedächtnisse der Kranken in
ihrem gewöhnlichen psychischen Zustande völlig oder
sind nur höchst summarisch darin vorhanden. Erst wenn
man die Kranken in der Hypnose befragt, stellen sich diese
Erinnerungen mit der unverminderten Lebhaftigkeit frischer Ge¬
schehnisse ein.
So reproduzierte eine unserer Kranken in der Hypnose ein
halbes Jahr hindurch mit halluzinatorischer Lebhaftigkeit alles,
was sie an denselben Tagen des vorhergegangenen Jahres (während
einer akuten Hysterie) erregt hatte; ein ihr unbekanntes Tage¬
buch der Mutter bezeugte die tadellose Richtigkeit der Repro¬
duktion. Eine andere Kranke durchlebte teils in der Hypnose,
teils in spontanen Anfällen mit halluzinatorischer Deutlichkeit alle
Ereignisse einer vor zehn Jahren durchgemachten hysterischen
Psychose, für welche sie bis zum Momente des Wiederauftauchens
Der psychische Mechanismus hysterischer Phänomene
15
größtenteils amnestisch gewesen war. Auch einzelne ätiologisch
wichtige Erinnerungen von fünfzehn- bis fünfundzwanzigjährigem
Bestand erwiesen sich bei ihr von erstaunlicher Intaktheit und
sinnlicher Stärke und wirkten bei ihrer Wiederkehr mit der vollen
Affektkraft neuer Erlebnisse.
Den Grund hiefür können wir nur darin suchen, daß diese
Erinnerungen in allen oben erörterten Beziehungen zur Usur eine
Ausnahmsstellung einnehmen. Es zeigt sich nämlich, daß diese
Erinnerungen Traumen entsprechen, welche nicht ge¬
nügend „abreagiert^^ worden sind, und bei näherem Eingehen
auf die Gründe, welche dieses verhindert haben, können wir
mindestens zwei Reihen von Bedingungen auffinden, unter denen
die Reaktion auf das Trauma unterblieben ist.
Zur ersten Gruppe rechnen wir jene Fälle, in denen die
Kranken auf psychische Traumen nicht reagiert haben, weil die
Natur des Traumas eine Reaktion ausschloß, wie beim unersetz¬
lich erscheinenden Verlust einer geliebten Person, oder weil die
sozialen Verhältnisse eine Reaktion unmöglich machten, oder weil
es sich um Dinge handelte, die der Kranke vergessen wollte, die
er darum absichtlich aus seinem bewußten Denken verdrängte,,
hemmte und unterdrückte. Gerade solche peinliche Dinge findet
man dann in der Hypnose als Grundlage hysterischer Phänomene
(hysterische Delirien der Heihgen und Nonnen, der enthaltsamen
Frauen, der wohlerzogenen Kinder).
Die zweite Reihe von Bedingungen wird nicht durch den In¬
halt der Erinnerungen, sondern durch die psychischen Zustände -
bestimmt, mit welchen die entsprechenden Erlebnisse beim Kranken
zusammengetroffen haben. Als Veranlassung hysterischer Symptome
findet man nämlich in der Hypnose auch Vorstellungen, welche,
an sich nicht bedeutungsvoll, ihre Erhaltung dem Umstande
danken, daß sie in schweren lähmenden Affekten, wie z. B.
Schreck, entstanden sind, oder direkt in abnormen psychischen
Zuständen, wie im halbhypnotischen Dämmerzustände des Wach-
i6
Studien über Hysterie
träumens, in Autohypnosen u. dgl. Hier ist es die Natur dieser
Zustände, welche eine Reaktion auf das Geschehnis unmöglich
machte.
Beiderlei Bedingungen können natürlich auch Zusammentreffen
und treffen in der Tat oftmals zusammen. Dies ist der Fall,
wenn ein an sich wirksames Trauma in einen Zustand von
schwerem, lähmendem Affekt oder von verändertem Bewußtsein
fällt 5 es scheint aber auch so zuzugehen, daß durch das psychische
Trauma bei vielen Personen einer jener abnormen Zustände
hervorgerufen wird, welcher dann seinerseits die Reaktion unmög¬
lich macht.
Beiden Gruppen von Bedingungen ist aber gemeinsam, daß die
nicht durch Reaktion erledigten psychischen Traumen auch der
Erledigung durch assoziative Verarbeitung entbehren müssen. In
der ersten Gruppe ist es der Vorsatz des Kranken, welcher die
peinlichen Erlebnisse vergessen will und dieselben somit möglichst
von der Assoziation ausschließt, in der zweiten Gruppe gelingt
diese assoziative Verarbeitung darum nicht, weil zwischen dem
normalen Bewußtseinszustand und den pathologischen, in denen
diese Vorstellungen entstanden sind, eine ausgiebige assoziative
Verknüpfung nicht besteht. Wir werden sofort Anlaß haben, auf
diese Verhältnisse weiter einzugehen.
Man darf also sagen, daß die pathogen gewordenen Vor¬
stellungen sich darum so frisch und affektkräftig er¬
halten, weil ihnen die normale Usur durch Abreagieren
und durch Reproduktion in Zuständen ungehemmter
Assoziation versagt ist.
3
Als wir die Bedingungen mitteilten, welche nach unseren Er¬
fahrungen dafür maßgebend sind, daß sich aus psychischen Traumen
hysterische Phänomene entwickeln, mußten wir bereits von abnormen
Zuständen des Bewußtseins sprechen, in denen solche pathogene
Der psychische Mechanismus hysterischer Phänomene
17
Vorstellungen entstehen, und mußten die Tatsache hervorheben,
daß die Erinnerung an das wirksame psychische Trauma nicht
im normalen Gedächtnisse des Kranken, sondern im Gedächtnisse
des Hypnotisierten zu finden ist. Je mehr wir uns nun mit diesen
Phänomenen beschäftigten, desto sicherer wurde unsere Überzeugung,
jene Spaltung des Bewußtseins, die bei den bekannten klassi¬
schen Fället! als double conscience so auffällig ist, bestehe in
rudimentärer Weise bei jeder Hysterie, die Neigung zu
dieser Dissoziation und damit zum Auftreten abnormer
Bewußtseinszustände, die wir als „hypnoide^^ zusammen¬
fassen wollen, sei das Grundphänomen dieser Neurose.
Wir treffen in dieser Anschauung mit Bin et und den beiden
Ja net zusammen, über deren höchst merkwürdige Befunde bei
Anästhetischen uns übrigens die Erfahrung mangelt.
Wir möchten also dem oft ausgesprochenen Satze: „Die Hypnose
ist artefizielle Hysterie“ einen andern an die Seite stellen: Grund¬
lage und Bedingung der Hysterie ist die Existenz von hypnoiden
Zuständen. Diese hypnoiden Zustände stimmen, bei aller Ver¬
schiedenheit, untereinander und mit der Hypnose in dem einen
Punkte überein, daß die in ihnen auftauchenden Vorstellungen
sehr intensiv, aber von dem Assoziativverkehr mit dem übrigen
Bewußtseinsinhalt abgesperrt sind. Untereinander sind diese hypno¬
iden Zustände assoziierbar, und deren Vorstellungsinhalt mag auf
diesem Wege verschieden hohe Grade von psychischer Organi¬
sation erreichen. Im übrigen dürfte ja die Natur dieser Zustände
und der Grad ihrer Abschließung von den übrigen Bewußtseins¬
vorgängen in ähnlicher Weise variieren, wie wir es bei der
Hypnose sehen, die sich von leichter Somnolenz bis zum Som¬
nambulismus, von der vollen Erinnerung bis zur absoluten Amnesie
erstreckt.
Bestehen solche hypnoide Zustände schon vor der manifesten
Erkrankung, so geben sie den Boden ab, auf welchem der Affekt ^
die pathogene Erinnerung mit ihren somatischen Folgeerschei-
Freud, I
i8
Studien über Hysterie
nungen ansiedelt. Dies Verhalten entspricht der disponierten
Hysterie. Es ergibt sich aber aus unseren Beobachtungen, daß ein
schweres Trauma (wie das der traumatischen Neurose) eine mühe¬
volle Unterdrückung (etwa des Sexualaffektes) auch bei dem sonst
freien Menschen eine Abspaltung von Vorstellungsgruppen be¬
werkstelligen kann, und dies wäre der Mechanismus der psychisch
akquirierten Hysterie. Zwischen den Extremen dieser beiden
Formen muß man eine Reihe gelten lassen, innerhalb welcher
die Leichtigkeit der Dissoziation bei dem betreffenden Individuum
und die Affektgröße des Traumas in entgegengesetztem Sinne
variieren.
Wir wissen nichts Neues darüber zu sagen, worin die dispo¬
nierenden hypnoiden Zustände begründet sind. Sie entwickeln sich
oft, sollten wir meinen, aus dem auch bei Gesunden so häufigen
„Tagträumenzu dem z. B. die weiblichen Handarbeiten so viel
Anlaß bieten. Die Frage, weshalb die „pathologischen Assoziationen“,
die sich in solchen Zuständen bilden, so feste sind und die soma¬
tischen Vorgänge so viel stärker beeinflussen, als wir es sonst von
Vorstellungen gewohnt sind, fällt zusammen mit dem Probleme
der Wirksamkeit hypnotischer Suggestionen überhaupt. Unsere
Erfahrungen bringen hierüber nichts Neues 5 sie beleuchten da¬
gegen den Widerspruch zwischen dem Satze: „Hysterie ist eine
Psychose“, und der Tatsache, daß man unter den Hysteri¬
schen die geistig klarsten, willensstärksten, charaktervollsten und
kritischsten Menschen finden kann. In diesen Fällen ist solche
Charakteristik richtig für das wache Denken des Menschen^ in
seinen hypnoiden Zuständen ist er alieniert, wie wir es alle im
Traume sind. Aber während unsere Traumpsychosen unseren
Wachzustand nicht beeinflussen, ragen die Produkte der hypno¬
iden Zustände als hysterische Phänomene ins wache Leben
hinein.
/
Der psychische Mechanismus hysterischer Phänomene
19
4
Fast die nämlichen Behauptungen, die wir für die hysterischen
Dauersymptome aufgestellt haben, können wir auch für die hysteri-
sehen Anfälle wiederholen. Wir besitzen, wie bekannt, eine von
Charcot gegebene schematische Beschreibung des „großen^^ hyste¬
rischen Anfalles, welcher zufolge ein vollständiger Anfall vier
Phasen erkennen läßt: 1) die epileptoide, 2) die der großen Be¬
wegungen, 5) die der attitudes passioneiles (die halluzinatorische
Phase), 4) die des abschließenden Deliriums. Aus der Verkürzung
und Verlängerung, dem Ausfall und der Isolierung der einzelnen
Phasen läßt Charcot alle jene Formen des hysterischen Anfalles
hervorgehen, die man tatsächlich häufiger als die vollständige
gründe attaque beobachtet.
Unser Erklärungsversuch knüpft an die dritte Phase, die der
attitudes passioneiles an. Wo dieselbe ausgeprägt ist, liegt in ihr
die halluzinatorische Reproduktion einer Erinnerung bloß, welche
für den Ausbruch der Hysterie bedeutsam war, die Erinnerung
an das eine große Trauma der Kar’ sogenannten trauma¬
tischen Hysterie oder an eine Reihe von zusammengehörigen
Partialtraumen, wie sie der gemeinen Hysterie zugrunde liegen.
Oder endlich der Anfall bringt jene Geschehnisse wieder, welche
durch ihr Zusammentreffen mit einem Momente besonderer Dis¬
position zu Traumen erhoben worden sind.
Es gibt aber auch Anfälle, die anscheinend nur aus motorischen
Phänomenen bestehen, denen eine phase passionelle fehlt. Gelingt
es bei einem solchen Anfalle von allgemeinen Zuckungen, kata-
leptischer Starre oder bei einer attaque de sommeil^ sich während
desselben in Rapport mit dem Kranken zu setzen, oder noch
besser, gelingt es, den Anfall in der Hypnose hervorzurufen, so
findet man, daß auch hier die Erinnerung an das psychische
Trauma oder an eine Reihe von Traumen zugrunde liegt, die
sich sonst in einer halluzinatorischen Phase auffällig macht. Ein
Studien über Hysterie
kleines Mädchen leidet seit Jahren an Anfällen von allgemeinen
Krämpfen, die man für epileptische halten könnte und auch
gehalten hat. Sie wird zum Zwecke der Differentialdiagnose
hypnotisiert und verfällt sofort in ihren Anfall. Befragt: Was
siehst du denn jetzt? antwortet sie aber: Der Hund, der Hund
kommt, und wirklich ergibt sich, daß der erste Anfall dieser
Art nach einer Verfolgung durch einen wilden Hund aufgetreten
war. Der Erfolg der Therapie vervollständigt dann die diagno¬
stische Entscheidung.
Ein Angestellter, der infolge einer Mißhandlung von seiten
seines Chefs hysterisch geworden ist, leidet an Anfällen, in denen
er zusammenstürzt, tobt und wütet, ohne ein Wort zu sprechen
oder eine Halluzination zu verraten. Der Anfall läßt sich in der
Hypnose provozieren, und der Kranke gibt nun an, daß er die
Szene wieder durchlebt, wie der Herr ihn auf der Straße be¬
schimpft und mit einem Stocke schlägt. Wenige Tage später
kommt er mit der Klage wieder, er habe denselben Anfall von
neuem gehabt, und diesmal ergibt sich in der Hypnose, daß er
die Szene durchlebt hat, an die sich eigentlich der Ausbruch der
Krankheit knüpfte 5 die Szene im Gerichtssaale, als es ihm nicht
gelang, Satisfaktion für die Mißhandlung zu erreiclien usw.
Die Erinnerungen, welche in den hysterischen Anfällen hervor¬
treten oder in ihnen geweckt werden können, entsprechen auch
in allen anderen Stücken den Anlässen, welche sich uns als Gründe
hysterischer Dauersymptome ergeben haben. Wie diese, betreffen
sie psychische Traumen, die sich der Erledigung durch Abreagieren
oder durch assoziative Denkarbeit entzogen haben ^ wie diese,
fehlen sie gänzlich oder mit ihren wesentlichen Bestandteilen dem
Erinnerungsvermögen des normalen Bewußtseins und zeigen sich
als zugehörig zu dem Vorstellungsinhalte hypnoider Bewußtseins¬
zustände mit eingeschränkter Assoziation. Endlich gestatten sie
auch die therapeutische Probe. Unsere Beobachtungen haben uns
oftmals gelehrt, daß eine solche Erinnerung, die bis dahin Anfälle
Der psychische Mechanismus hystei'ischer Phänomene _ 21
provoziert hatte, dazu unfähig wird, wenn man sie in der Hypnose
zur Reaktion und assoziativen Korrektur bringt.
Die motorischen Phänomene des hysterischen Anfalles lassen
sich zum Teil als allgemeine Reaktionsformen des die Erinnerung
begleitenden Affektes (wie das Zappeln mit allen Gliedern, dessen
sich bereits der Säugling bedient), zum Teil als direkte Ausdrucks¬
bewegungen dieser Erinnerung deuten, zum andern Teil entziehen
sie sich ebenso wie die hysterischen Stigmata bei den Dauer¬
symptomen dieser Erklärung.
Eine besondere Würdigung des hysterischen Anfalles ergibt sich
noch, wenn man auf die vorhin angedeutete Theorie Rücksicht
nimmt, daß bei der Hysterie in hyprioiden Zuständen entstandene
Vorstellungsgruppen vorhanden sind, die vom assoziativen Verkehre
mit den übrigen ausgeschlossen, aber untereinander assoziierbar,
ein mehr oder minder hoch organisiertes Rudiment eines zweiten
Bewußtseins, einer condition seconde darstellen. Dann entspricht
ein hysterisches Dauersymptom einem Hineinragen dieses zweiten
Zustandes in die sonst vom normalen Bewußtsein beherrschte
Körperinnervation, ein hysterischer Anfall zeugt aber von einer
höheren Organisation dieses zweiten Zustandes und bedeutet,
wenn er frisch entstanden ist, einen Moment, in dem sich dieses
Hypnoidbewußtsein der gesamten Existenz bemächtigt hat, also
einer akuten Hysterie^ wenn es aber ein wiederkehrender An¬
fall ist, der eine Erinnerung enthält, einer Wiederkehr eines
solchen. Charcot hat bereits den Gedanken ausgesprochen, daß
der hysterische Anfall das Rudiment einer condition seconde
sein dürfte. Während des Anfalles ist die Herrschaft über die
gesamte Körperinnervation auf das hypnoide Bewußtsein über-
gegangeii. Das normale Bewußtsein ist, wie bekannte Erfah¬
rungen zeigen, dabei nicht immer völlig verdrängt; es kann
selbst die motorischen Phänomene des Anfalles wahr rieh men,
während die psychischen Vorgänge desselben seiner Kenntnisnahme
entgehen.
Studien über Hysterie
Der typische Verlauf einer schweren Hysterie ist bekanntlich
der, daß zunächst in hypnoiden Zuständen ein Vorstellungsinhalt
gebildet wird, der dann, genügend angewachsen, sich während
einer Zeit von „akuter Hysterie“ der Körperinnervation und der
Existenz des Kranken bemächtigt, Dauersymptome und Anfälle
schafft und dann bis auf Reste abheilt. Kann die normale Person
die Herrschaft wieder übernehmen, so kehrt davS, was von jenem
hypnoiden Vorstellungsinhalt überlebt hat, in hysterischen Anfällen
wieder und bringt die Person zeitweise wieder in ähnliche Zu¬
stände, die selbst wieder beeinflußbar und für Traumen aufnahms¬
fähig sind. Es stellt sich dann häufig eine Art von Gleichgewicht
zwischen den psychischen Gruppen her, die in derselben Person
vereinigt sind^ Anfall und normales Leben gehen nebeneinander
her, ohne einander zu beeinflussen. Der Anfall kommt dann
spontan, wie auch bei uns die Erinnerungen zu kommen pflegen,
er kann aber auch provoziert werden, wie jede Erinnerung nach
den Gesetzen der Assoziation zu erwecken ist. Die Provokation
des Anfalles erfolgt entw^eder durch die Reizung einer hysterogenen
Zone oder durch ein neues Erlebnis, welches durch Ähnlichkeit
an das pathogene Erlebnis anklingt. Wir hoffen, zeigen zu können,
daß zwischen beiden anscheinend so verschiedenen Bedingungen
ein w^esentlicher Unterschied nicht besteht, daß in beiden Fällen
an eine hyperästhetische Erinnerung gerührt wird. In anderen
Fällen ist dieses Gleichgewicht ein sehr labiles, der Anfall er¬
scheint als Äußerung des hypnoiden Bewußtseinsrestes, so oft die
normale Person erschöpft und leistungsunfähig wird. Es ist nicht
von der Hand zu weisen, daß in solchen Fällen auch der Anfall,
seiner ursprünglichen Bedeutung entkleidet, als inhaltslose moto¬
rische Reaktion wiederkehren mag.
Es bleibt eine Aufgabe weiterer Untersuchung, welche Bedin¬
gungen dafür maßgebend sind, ob eine hysterische Individualität
sich in Anfällen, in Dauersymptomen oder in einem Gemenge
von beiden äußert
Der psychische Mechanismus hysterischer Phänomene
23
5
Es ist nun verständlich, wieso die hier von uns dargelegte
Methode der Psychotherapie heilend wirkt. Sie hebt die Wirk¬
samkeit der ursprünglich nicht abreagierten Vorstellung
dadurch auf, daß sie dem eingeklemmten Affekte der¬
selben den Ablauf durch die Rede gestattet, und bringt
sie zur assoziativen Korrektur, indem sie dieselbe ins
normale Bewußtsein zieht (in leichterer Hypnose) oder
durch ärztliche Suggestion aufhebt, wie es im Somnam¬
bulismus mit Amnesie geschieht.
Wir halten den therapeutischen Gewinn bei Anwendung dieses
Verfahrens für einen bedeutenden. Natürlich heilen wir nicht
die Hysterie, soweit sie Disposition ist, wir leisten ja nichts
gegen die Wiederkehr hypnoider Zustände. Auch während des
produktiven Stadiums einer akuten Hysterie kann unser Ver¬
fahren nicht verhüten, daß die mühsam beseitigten Phänomene
alsbald durch neue ersetzt werden. Ist aber dieses akute Stadium
abgelaufen und erübrigen noch die Reste desselben als hysteri¬
sche Dauersymptome und Anfälle, so beseitigt unsere Methode
dieselben häufig und für immer, weil radikal, und scheint uns
hierin die Wirksamkeit der direkten suggestiven Aufhebung, wie
sie jetzt von den Psychotherapeuten geübt wird, weit zu über¬
treffen.
Wenn wir in der Aufdeckung des psychischen Mechanismus
hysterischer Phänomene einen Schritt weiter auf der Bahn ge¬
macht haben, die zuerst Charcot so erfolgreich mit der Er¬
klärung und experimentellen Nachahmung hysterotraumatischer
Lähmungen betreten hat, so verhehlen wir uns doch nicht,
daß damit eben nur der Mechanismus hysterischer Symptome
und nicht die inneren Ursachen der Hysterie unserer Kenntnis
näher gerückt worden sind. Wir haben die Ätiologie der Hysterie
24
Studien über Hysterie
nur gestreift und eigentlich nur die Ursachen der akquirierten
Formen, die Bedeutung des akzidentellen Momentes für die
Neurose beleuchten können.
Wien, Dezember 1892.
KRANKENGESCHICHTEN
A
Frau Kmmy v. N . . vierzig Jahre, aus I^ivland
Am 1. Mai 1889 wurde ich der Arzt einer etwa vierzig¬
jährigen Dame, deren Leiden wie deren Persönlichkeit mir so
viel Interesse einflößten, daß ich ihr einen großen Teil meiner
Zeit widmete und mir ihre Herstellung zur Aufgabe machte. Sie
war Hysterika, mit größter Leichtigkeit in Somnambulismus zu
versetzen, und als ich dies merkte, entschloß ich mich, das
Breuersche Verfahren der Ausforschung in der Hypnose bei ihr
anzuwenden, das ich aus den Mitteilungen Breuers über die
Heilungsgeschichte seiner ersten Patientin kannte. Es war mein
erster Versuch in der Handhabung dieser therapeutischen Methode,
ich war noch weit davon entfernt, dieselbe zu beherrschen, und
habe in der Tat die Analyse der Krankheitssymptome wieder weit
genug getrieben noch sie genügend planmäßig verfolgt. Vielleicht
wdrd es mir am besten gelingen, den Zustand der Kranken und
mein ärztliches Vorgehen anschaulich zu machen, wenn ich die
Aufzeichnungen wiedergebe, die ich mir in den ersten drei
Wochen der Behandlung allabendlich gemacht habe. Wo mir
nachherige Erfahrung ein besseres Verständnis ermöglicht hat,
werde ich es in Noten und Zwischenbemerkungen zum Ausdrucke
bringen:
20
Studien über Hysterie
1. Mai 1889. Ich finde eine noch jugendlich aussehende
Frau mit feinen, charakteristisch geschnittenen Gesichtszügen auf
dem Diwan liegend, eine Lederrolle unter dem Nacken. Ihr Ge¬
sicht hat einen gespannten, schmerzhaften Ausdruck, die Augen
sind zusammengekniffen, der Blick gesenkt, die Stirne stark ge¬
runzelt, die Nasolabialfalten vertieft. Sie spricht wie mühselig,
mit leiser Stimme, gelegentlich durch spastische Sprachstockung
bis zum Stottern unterbrochen. Dabei hält sie die Finger inein¬
ander verschränkt, die eine unaufhörliche athetoseartige Unruhe
zeigen. Häufige ticartige Zuckungen im Gesichte und an den
Halsmuskeln, wobei einzelne, besonders der rechte Sternokleido-
mastoideus plastisch vorspringen. Ferner unterbricht sie sich häufig
in der Rede, um ein eigentümliches Schnalzen hervorzubringen,
das ich nicht nachahmen kann.^
Was sie spricht, ist durchaus zusammenhängend und bezeugt
offenbar eine nicht gewöhnliche Bildung und Intelligenz. Um so
befremdender ist es, daß sie alle paar Minuten plötzlich abbricht,
das Gesicht zum Ausdrucke des Grausens und Ekels verzieht, die
Hand mit gespreizten und gekrümmten Fingern gegen mich aus¬
streckt und dabei mit veränderter angsterfüllter Stimme die Worte
ruft: „Seien Sie still — reden Sie nichts — rühren Sie mich
nicht an!“ Sie steht wahrscheinlich unter dem Eindrücke einer
wiederkehrenden grauenvollen Halluzination und wehrt die Ein¬
mengung des Fremden mit dieser Formel ab.^ Diese Ein¬
schaltung schließt dann ebenso plötzlich ab, und die Kranke
setzt ihre Rede fort, ohne die eben vorhandene Erregung weiter¬
zuspinnen, ohne ihr Benehmen zu erklären oder zu entschul-
1) Dieses Schnalzen bestand aus mehreren Tempi; jagdkundige Kollegen, die es
hörten, verglichen dessen Endlaute mit dem Schnalzen des Auerhahnes.
2) Die Worte entsprachen in der Tat einer Schutzformel, die auch im wei¬
teren ihre Erklärung findet. Ich habe solche Schutzformeln seither bei einer Me-
lancholika beobachtet, die ihre peinigenden Gedanken (Wünsche, daß ihrem Manne,
ihrer Mutter etwas Arges zustoßen möge, Gotteslästerungen u. dgl.) auf diese Art
zu beherrschen versuchte.
Frau Emmy v, N, . .
27
digen, also wahrscheinlich ohne die Unterbrechung selbst bemerkt
zu haben/
Von ihren Verhältnissen erfahre ich folgendes: Ihre Familie
stammt aus Mitteldeutschland, ist seit zwei Generationen in den
russischen Ostseeprovinzen ansässig und dort reich begütert. Sie
waren vierzehn Kinder, sie selbst das dreizehnte davon, es sind
nur noch vier am Leben. Sie wurde von einer übertatkräftigen,
strengen Mutter sorgfältig, aber mit viel Zwang erzogen. Mit
dreiundzwanzig Jahren heiratete sie einen hochbegabten und tüch¬
tigen Mann, der sich als Großindustrieller eine hervorragende
Stellung erworben hatte, aber viel älter war als sie. Er starb nach
kurzer Ehe plötzlich am Herzschlage. Dieses Ereignis sowie die
Erziehung ihrer beiden jetzt sechzehn und vierzehn Jahre alten
Mädchen, die vielfach kränklich waren und an nervösen Störungen
litten, bezeichnet sie als die Ursachen ihrer Krankheit. Seit dem
Tode ihres Mannes vor vierzehn Jahren ist sie in schwankender
Intensität immer krank gewesen. Vor vier Jahren hat eine Massage¬
kur in Verbindung mit elektrischen Bädern ihr vorübergehend
Erleichterung gebracht, sonst blieben alle ihre Bemühungen, ihre
Gesundheit wieder zu gewinnen, erfolglos. Sie ist viel gereist und
hat zahlreiche und lebhafte Interessen. Gegenwärtig bewohnt sie
einen Herrensitz an der Ostsee in der Nähe einer großen Stadt.
Seit Monaten wieder schwer leidend, verstimmt und schlaflos, von
Schmerzen gequält, hat sie in Abbazia vergebens Besserung ge¬
sucht, ist seit sechs Wochen in Wien, bisher in Behandlung eines
hervorragenden Arztes.
Meinen Vorschlag, sich von den beiden Mädchen, die ihre
Gouvernante haben, zu trennen und in ein Sanatorium einzu¬
treten, in dem ich sie täglich sehen kann, nimmt sie ohne ein
Wort der Einwendung an.
i) Es handelte sich um ein hysterisches Delirium, welches mit dem normalen
Bewußtseinszustande alterniert, ähnlich wie ein echter Tic sich in eine Willkür-
hewegung einschiebt, ohne dieselbe zu stören und ohne sich mit ihr zu vermengen.
28
Studien über Hysterie
Am 2. Mai abends besuche ich sie im Sanatorium. Es fällt
mir auf, daß sie jedesmal so heftig zusammenschrickt, sobald die
Türe unerwartet aufgeht. Ich veranlasse daher, daß die besuchenden
Hausärzte und das Wartepersonal kräftig anklopfen und nicht
eher eintreten, als bis sie „Herein“ gerufen hat. Trotzdem grinst
und zuckt sie noch jedesmal, wenn jemand eintritt.
Ihre Hauptklage bezieht sich heute auf Kälteempfindung und
Schmerzen im rechten Beine, die vom Rücken oberhalb des Darm¬
beinkammes ausgehen. Ich ordne warme Bäder an und werde sie
zweimal täglich am ganzen Körper massieren.
Sie ist ausgezeichnet zur Hypnose geeignet. Ich halte ihr einen
Finger vor, rufe ihr zu: Schlafen Sie! und sie sinkt mit dem
Ausdrucke von Betäubung und Verworrenheit zurück. Ich suggeriere
Schlaf, Besserung aller Symptome u. dgl., was sie mit geschlos¬
senen Augen, aber unverkennbar gespannter Aufmerksamkeit an¬
hört, und wobei ihre Miene sich allmählich glättet und einen
friedlichen Ausdruck annimmt. Nach dieser ersten Hypnose bleibt
eine dunkle Erinnerung an meine Worte^ schon nach der zweiten
tritt vollkommener Somnambulismus (Amnesie) ein. Ich liatte ihr
angekündigt, daß ich sie hypnotisieren würde, worauf sie ohne
Widerstand einging. Sie ist noch nie hypnotisiert worden, ich
darf aber annehmen, daß sie über Hypnose gelesen hat, wiewohl
ich nicht weiß, welche Vorstellung über den hypnotischen Zustand
sie mitbrachte.^
Die Behandlung mit warmen Bädern, zweimaliger Massage und
hypnotischer Suggestion wurde in den nächsten Tagen fortgesetzt.
Sie schlief gut, erholte sich zusehends, brachte den größeren Teil
i) Beim Erwachen aus der Hypnose blickte sie jedesmal wie verworren einen
Augenblick herum, ließ dann ihre Augen auf mir ruhen, schien sich besonnen zu
haben, zog die Brille an, die sie vor dem Einschlafen abgelegt hatte, und war dann
heiter und ganz bei sich. Obwohl wir im Verlaufe der Behandlung, die in diesem
Jalire sieben, im nächsten acht Wochen einnahm, über alles Mögliche miteinander
sprachen und sie fast täglich zweimal von mir eingeschläfert wurde, richtete sie
doch nie eine Frage oder Bemerkung über die Hypnose an mich und schien in
ihrem Wachzustände die Tatsache, daß sie hypnotisiert werde, möglichst zu ignorieren.
Frau Fjinmy v. A" . . .
29
des Tages in ruhiger Krankenlage zu. Es war ihr nicht unter¬
sagt, ihre Kinder zu sehen, zu lesen und ihre Korrespondenz zu
besorgen.
Am 8. Mai morgens unterhält sie mich, anscheinend ganz
normal, von gräulichen Tiergeschichten. Sie hat in der Frankfurter
Zeitung, die vor ihr auf dem Tische liegt, gelesen, daß ein Lehr¬
ling einen Knaben gebunden und ihm eine weiße Maus in den
Mund gesteckt; der sei vor Schreck darüber gestorben. Dr. K . . .
habe ihr erzählt, daß er eine ganze Kiste voll weißer Ratten nach
Tiflis geschickt. Dabei treten alle Zeichen des Grausens höchst
plastisch hervor. Sie krampft mehrmals nacheinander mit der
Hand. — „Seien Sie still, reden Sie nichts, rühren Sie mich nicht
an! — Wenn so ein Tier im Bette wäre! (Grausen.) Denken Sie
sich, wenn das ausgepackt wird! Es ist eine tote Ratte darunter,
eine an-ge-nagte!“
In der Hypnose bemühe ich mich, diese Tierhalluzinationen
zu verscheuchen. Während sie schläft, nehme ich die Frank¬
furter Zeitung zur Hand; ich finde in der Tat die Geschichte
der Mißhandlung eines Lehrbuben, aber ohne Beimengung von
Mäusen oder Ratten. Das hat sie also während des Lesens hinzu¬
deliriert.
Am Abend erzählte ich ihr von unserer Unterhaltung über die
weißen Mäuse. Sie weiß nichts davon, ist sehr erstaunt und lacht
herzlich.'
Am Nachmittage war ein sogenannter „Genickkrampf““ ge¬
wesen, aber „nur kurz, von zweistündiger Dauer“.
1) Eine solche plötzliche Einschiebung eines Deliriums in den wachen Zustand
war bei ihr nichts Seltenes und wiederholte sich noch oft imter meiner Beobachtung.
Sie pflegte zu klagen, daß sie oft im Gespräche die verdrehtesten Antworten gebe,
so daß ihre Leute sie nicht verstünden. Bei unserem ersten Besuclie antwortete sie
mir auf die Frage, wie alt sie sei, ganz ernsthaft: Ich bin eine Frau aus dem vorigen
Jahrhundert. Wochen später klärte sie mich auf, sie hätte damals im Delirium an
einen schönen alten Schrank gedacht, den sie auf der Reise als Liebhaberin antiker
Möbel erworben. Auf diesen Schrank bezog sich die Zeitbestimmung, als meine
Frage nach ihrem Alter zu einer Aussage über Zeiten Anlaß gab.
2) Eine Art von Migräne.
30
Studien über Hysterie
Am 8. Mai abends fordere ich sie in der Hypnose zum Reden
auf, was ihr nach einiger Anstrengung gelingt. Sie spricht leise,
besinnt sich jedesmal einen Moment, ehe sie Antwort gibt. Ihre
Miene verändert sich entsprechend dem Inhalte ihrer Erzählung
und wird ruhig, sobald meine Suggestion dem Eindrücke der
Erzählung ein Ende gemacht hat. Ich stelle die Frage, warum
sie so leicht erschrickt. Sie antwortet: Das sind Erinnerungen aus
frühester Jugend. — Wann? Zuerst mit fünf Jahren, als meine
Geschwister so oft tote Tiere nach mir warfen, da bekam ich
den ersten Ohnmachtsanfall mit Zuckungen, aber meine Tante
sagte, das sei abscheulich, solche Anfälle darf man nicht haben,
und da haben sie aufgehört. Dann mit sieben Jahren, als ich
unvermutet meine Schwester im Sarge gesehen, dann mit acht
Jahren, als mich mein Bruder so häufig durch weiße Tücher als
Gespenst erschreckte, dann mit neun Jahren, als ich die Tante im
Sarge sah und ihr — plötzlich — der Unterkiefer herunterfiel.
Die Reihe von traumatischen Anlässen, die mir als Antwort auf
meine Frage mitgeteilt wird, w^arum sie so schreckhaft sei, liegt
offenbar in ihrem Gedächtnisse bereit 5 sie hätte in dem kurzen
Momente von meiner Frage bis zu ihrer Beantwortung derselben
die Anlässe aus zeitlich verschiedenen Perioden ihrer Jugend
nicht so schnell zusammensuchen können. Am Schlüsse einer
jeden Teilerzählung bekommt sie allgemeine Zuckungen und
zeigt ihre Miene Schreck und Grausen, nach der letzten reißt
sie den Mund weit auf und schnappt nach Atem. Die Worte,
welche den schreckhaften Inhalt des Erlebnisses mitteilen, werden
mühselig, keuchend hervorgestoßen ^ nachher beruhigen sich ihre
Züge.
Auf meine Frage bestätigt sie, daß sie während der Erzählung
die betreffenden Szenen plastisch und in natürlichen Farben vor
sich sehe. Sie denke an diese Erlebnisse überhaupt sehr häufig
und habe auch in den letzten Tagen wieder daran gedacht. So¬
wie sie daran denke, sehe sie die Szene jedesmal vor sich mit
Frau Emmy v, N, . ,
31
aller Lebhaftigkeit der Realität.^ Ich verstehe jetzt, warum sie
mich so häufig von Tierszenen und Leichenbildern unterhält.
Meine Therapie besteht darin, diese Bilder wegzuwischen, so daß
sie dieselben nicht wieder vor Augen bekommen kann. Zur
Unterstützung der Suggestion streiche ich ihr mehrmals über die
Augen.
9. Mai abends. Sie hat ohne erneuerte Suggestion gut ge¬
schlafen, aber morgens Magenschmerzen gehabt. Sie bekam die¬
selben schon gestern im Garten, wo sie zu lange mit ihren
Kindern verweilte. Sie gestattet, daß ich den Besuch der Kinder
auf zweieinhalb Stunden einschränke^ vor wenigen Tagen hatte
sie sich Vorwürfe gemacht, daß sie die Kinder allein lasse. Ich
finde sie heute etwas erregt, mit krauser Stirne, Schnalzen und
Sprachstocken. Während der Massage erzählt sie nur, daß ihr die
Gouvernante der Kinder einen kulturhistorischen Atlas gebracht
und daß sie über Bilder darin, welche als Tiere verkleidete
Indianer darstellen, so heftig erschrocken sei. „Denken Sie, wenn
die lebendig würden!“ (Grausen.)
In der Hypnose frage ich, warum sie sich vor diesen Bildern
so geschreckt, da sie sich doch vor Tieren nicht mehr fürchte?
Sie hätten sie an Visionen erinnert, die sie beim Tode ihres
Bruders gehabt. (Mit neunzehn Jahren.) Ich spare diese Erinnerung
für später auf. Ferner frage ich, ob sie immer mit diesem Stottern
gesprochen und seit wann sie den Tic (das eigentümliche
Schnalzen) habe.^ Das Stottern sei eine Krankheitserscheinung, und
den Tic habe sie seit fünf Jahren, seitdem sie einmal beim Bette
der sehr kranken jüngeren Tochter saß und sich ganz ruhig ver¬
halten wollte. — Ich versuche die Bedeutung dieser Erinnerung
abzuschwächen, der Tochter sei ja nichts geschehen usw. Sie:
1) Dies Erinnern in lebhaften visuellen Bildern gaben uns viele andere Hysterische
an und betonten es ganz besonders für die pathogenen Erinnerungen.
2) Im Wachen hatte ich auf die Frage nach der Herkunft des Tic die Antwort
erhalten: Ich weiß nicht; oh, schon sehr lange.
52
Studien über Hysterie
Es komme jedesmal wieder, wenn sie sich ängstige oder er¬
schrecke. — Ich trage ihr auf, sich vor den Indianerbildern nicht
zu fürchten, vielmehr herzlich darüber zu lachen und mich selbst
darauf aufmerksam zu machen. So geschieht es auch nach dem
Erwachen; sie sucht das Buch, fragt, ob ich es eigentlich schon
gesehen habe, schlägt mir das Blatt auf und lacht aus vollem
Halse über die grotesken Figuren, ohne jede Angst, mit ganz
glatten Zügen. Dr. Breuer kommt plötzlich zu Besuch in Be¬
gleitung des Hausarztes. Sie erschrickt und schnalzt, so daß die
beiden uns sehr bald verlassen. Sie erklärt ihre Erregung da¬
durch, daß sie das jedesmalige Miterscheinen des Hausarztes unan¬
genehm berühre.
Ich hatte in der Hypnose ferner den Magenschmerz durch
Streichen weggenommen und gesagt, sie werde nach dem Essen
die Wiederkehr des Schmerzes zwar erwarten, er w^erde aber doch
ausbleiben.
Abends. Sie ist zum ersten Male heiter und gesprächig, ent¬
wickelt einen Humor, den ich bei dieser ernsten Frau nicht
gesucht hätte, und macht sich unter anderem im Vollgefühl ihrer
Besserung über die Behandlung meines ärztlichen Vorgängers lustig.
Sie hätte schon lange die Absicht gehabt, sich dieser Behandlung
zu entziehen, konnte aber die Form nicht finden, bis eine zu¬
fällige Bemerkung von Dr. Breuer, der sie einmal besuchte, sie
auf einen Ausweg brachte. Da ich über diese Mitteilung erstaunt
scheine, erschrickt sie, macht sich die heftigsten Vorwürfe, eine
Indiskretion begangen zu haben, läßt sich aber von mir an¬
scheinend beschwichtigen. — Keine Magenschmerzen, trotzdem
sie dieselben erwartet hat.
In der Hypnose frage ich nach weiteren Erlebnissen, bei denen
sie nachhaltig erschrocken sei. Sie bringt eine zweite solche Reihe
aus ihrer späteren Jugend ebenso prompt wie die erstere und ver¬
sichert wiederum, daß sie alle diese Szenen liäufig, lebhaft und in
Farben vor sich sehe. Wie sie ihre Cousine ins Irrenhaus führen
Frau Fmmy v, N, . *
55
sah (mit fünfzehn Jahren) 5 sie wollte um Hilfe rufen, konnte
aber nicht und verlor die Sprache bis zum Abend dieses Tages.
Da sie in ihrer wachen Unterhaltung so häufig von Irrenhäusern
spricht, unterbreche ich sie und frage nach den anderen Gelegen¬
heiten, bei denen es sich um Irre gehandelt hat. Sie erzählt, ihre
Mutter war selbst einige Zeit im Irrenhause. Sie hätten einmal
eine Magd gehabt, deren Frau lange im Irrenhause war, und die ihr
Schauergeschichten zu erzählen pflegte, wie dort die Kranken an
Stühle angebunden seien, gezüchtigt werden u. dgl. Dabei krampfen
sich ihre Hände vor Grausen, sie sieht dies alles vor Augen. Ich
bemühe mich, ihre Vorstellungen von einem Irrenhause zu korri¬
gieren, versichere ihr, sie werde von einer solchen Anstalt hören
können, ohne eine Beziehung auf sich zu verspüren, und dabei
glättet sich ihr Gesicht.
Sie fährt in der Aufzählung ihrer Schreckerinnerungen fort:
Wie sie ihre Mutter, vom Schlage gerührt, auf dem Boden liegend
fand (mit fünfzehn Jahren), die dann noch vier Jahre lebte, und
wie sie mit neunzehn Jahren einmal nach Hause kam und die
Mutter tot fand, mit verzerrtem Gesichte. Diese Erinnerungen
abzuschwächen, bereitet mir natürlich größere Schwierigkeiten,
ich versichere nach längerer Auseinandersetzung, daß sie auch
dieses Bild nur verschwommen und kraftlos Wiedersehen wird. —
Ferner wie sie mit neunzehn Jahren unter einem Steine, den sie
aufgehoben, eine Kröte gefunden und darüber die Sprache für
Stunden verloren.^
Ich überzeuge mich in dieser Hypnose, daß sie alles weiß, was
in der vorigen Hypnose vorgekommen, während sie im Wachen
nichts davon weiß.
Am 10. Mai morgens: Sie hat heute zum ersten Male anstatt
eines warmen Bades ein Kleienbad genommen. Ich finde sie mit
1) An die Kröte muß sich wohl eine besondere Symbolik geknüpft haben, die ich
zu ergründen leider nicht versucht habe.
Freud, I.
3
34
Studien über Hysterie
verdrießlichem, krausem Gesichte, die Hände in einem Schal ein¬
gehüllt, über Kälte und Schmerzen klagend. Befragt, was ihr sei,
erzählt sie, sie habe in der kurzen Wanne unbequem gesessen
und davon Schmerzen bekommen. Während der Massage beginnt
sie, daß sie sich doch wegen des gestrigen Verrates an Dr. Breuer
kränke^ ich beschwichtige sie durch die fromme Lüge, daß ich
von Anfang an darum wußte, und damit ist ihre Aufregung
(Schnalzen, Gesichtskontraktur) behoben. So macht sich jedesmal
schon während der Massage mein Einfluß geltend, sie wird ruhiger
und klarer und findet auch ohne hypnotisches Befragen die
Gründe ihrer jedesmaligen Verstimmung. Auch das Gespräch, das
sie während des Massierens mit mir führt, ist nicht so absichtslos,
wie es den Anschein hat^ es enthält vielmehr die ziemlich voll¬
ständige Reproduktion der Erinnerungen und neuen Eindrücke,
die sie seit unserem letzten Gespräche beeinflußt haben, und läuft
oft ganz unerwartet auf pathogene Reminiszenzen aus, die sie sich
unaufgefordert abspricht. Es ist, als hätte sie sich mein Verfahren
zu eigen gemacht und benützte die anscheinend ungezwungene
und vom Zufalle geleitete Konversation zur Ergänzung der Hypnose.
So kommt sie z. B. heute auf ihre Familie zu reden und gelangt
auf allerlei Umv\regen zur Geschichte eines Cousins, der ein be¬
schränkter Sonderling war, und dem seine Eltern sämtliche Zähne
auf einem Sitze ziehen ließen. Diese Erzählung begleitet sie mit
den Gebärden des Grausens und mit mehrfacher Wiederholung
ihrer Schutzformel (Seien Sie still! — Reden Sie nichts! —
Rühren Sie mich nicht an!). Darauf wird ihre Miene glatt,
und sie ist heiter. So wird ihr Benehmen während des Wachens
doch durch die Erfahrungen geleitet, die sie im Somnambulis¬
mus gemacht hat, von denen sie im Wachen nichts zu wissen
glaubt.
In der Hypnose wiederhole ich die Frage, was sie verstimmt
hat und erhalte dieselben Antworten, aber in umgekehrter Reihen¬
folge: i) Ihre Schwatzhaftigkeit von gestern, 2) die Schmerzen
Frau Emmy v. N, . ,
35
vom unbequemen Sitzen im Bade. — Ich frage heute, was die
Redensart: Seien Sie still usw. bedeutet. Sie erklärt, wenn sie
ängstliche Gedanken habe, fürchte sie, in ihrem Gedankengange
unterbrochen zu werden, weil sich dann alles verwdrre und noch
ärger sei. Das „Seien Sie still“ beziehe sich darauf, daß die Tier¬
gestalten, die ihr in schlechten Zuständen erscheinen, in Be¬
wegung geraten und auf sie losgehen, wenn jemand vor ihr eine
Bewegung machen endlich die Mahnung: „Rühren Sie mich nicht
an“ komme von folgenden Erlebnissen: Wie ihr Bruder vom
vielen Morphin so krank war und so gräßliche Anfälle hatte (mit
neunzehn Jahren), habe er sie so oft plötzlich angepackt; dann sei
einmal ein Bekannter in ihrem Hause plötzlich wahnsinnig ge¬
worden und habe sie am Arme gefaßt; (ein dritter ähnlicher Fall,
an den sie sich nicht genauer besinnt) und endlich, wie ihre
Kleine so krank gewesen (mit achtundzwanzig Jahren), habe sie
sie im Delirium so heftig gepackt, daß sie fast erstickt wäre.
Diese vier Fälle hat sie — trotz der großen Zeitdifferenzen —
in einem Satze und so rasch hintereinander erzählt, als ob sie ein
einzelnes Ereignis in vier Akten bilden würden. Alle ihre Mit¬
teilungen solcher gruppierter Traumen beginnen übrigens mit
„Wie“ und die einzelnen Partialtraumen sind durch „und“ an¬
einander gereiht. Da ich merke, daß die Schutzformel dazu be¬
stimmt ist, sie vor der Wiederkehr ähnlicher Erlebnisse zu
bewahren, benehme ich ihr diese Furcht durch Suggestion und
habe wirklich die Formel nicht wieder von ihr gehört.
Abends finde ich sie sehr heiter. Sie erzählt lachend, daß sie
im Garten über einen kleinen Hund, der sie angebellt, erschrocken
ist. Doch ist das Gesicht ein wenig verzogen und eine innere
Erregung vorhanden, die erst schwindet, nachdem sie mich be¬
fragt, ob ich eine Bemerkung von ihr übel genommen, die sie
während der Frühmassage gemacht hatte, und ich dies verneint.
Die Periode ist heute nach kaum vierzehntägiger Pause einge¬
treten. Ich verspreche ihr Regelung durch hypnotische Suggestion
56
Studien über Hysterie
und bestimme in der Hypnose ein Intervall von achtundzwanzig
Tagen/
In der Hypnose frage ich ferner, ob sie sich erinnere, was sie mir
zuletzt erzählt hat, und habe dabei eine Aufgabe im Sinne, die uns
von gestern abends übrig geblieben ist. Sie beginnt aber korrekter¬
weise mit dem „Rühren Sie mich nicht an^^ der Vormittags¬
hypnose. Ich führe sie also auf das gestrige Thema zurück. Ich
hatte gefragt, woher das Stottern gekommen sei und die Antwort
bekommen: Ich weiß es nicht.^ Darum hatte ich ihr aufgetragen,
sich bis zur heutigen Hypnose daran zu erinnern. Heute ant-
Avortet sie also ohne weiteres Nachdenken, aber in großer Er¬
regung und mit spastisch erschwerter Sprache: Wie einmal die
Pferde mit dem Wagen, in dem die Kinder saßen, durchgegangen
sind und wie ein andermal ich mit den Kindern während eines
Gewitters durch den Wald fuhr und der Blitz gerade in einen
Baum vor den Pferden einschlug und die Pferde scheuten und
ich mir dachte: Jetzt mußt du ganz stille bleiben, sonst erschreckst
du die Pferde noch mehr durch dein Schreien und der Kutscher
kann sie gar nicht zurückhalten: von da an ist es aufgetreten.
Diese Erzählung hat sie ungemein erregt ^ ich erfahre noch von
ihr, daß das Stottern gleich nach dem ersten der beiden Anlässe
aufgetreten, aber nach kurzer Zeit verschwunden sei, um vom
zweiten ähnlichen Anlaß an stetig zu bleiben. Ich lösche die
plastische Erinnerung an diese Szenen aus, fordere sie aber auf,
sich dieselben nochmals vorzustellen. Sie scheint es zu versuchen
und bleibt dabei ruhig, auch spricht sie von da an in der Hypnose
ohne jedes spastische Stocken.^
1) Welches auch zutraf.
2) Die Antwort: „Ich weiß es nicht“, mochte richtig sein, konnte aber ebenso¬
wohl die Unlust bedeuten, von den Gründen zu reden. Ich habe später bei anderen
Kranken die Erfahrmig gemacht, daß sie sich auch in der Hypnose um so schwerer
an etwas besannen, je mehr Anstrengung sie dazu verwendet hatten, das betreffende
Ereignis aus ihrem Bewußtsein zu drängen.
5) Wie man hier erfährt, sind das ticähnliche Schnalzen imd das spastische
Stottern der Patientin zwei Symptome, die bis auf ähnliche Veranlassungen und einen
Frau Enuny v. N. , .
57
Da ich sie disponiert finde, mir Aufschlüsse zu geben, stelle
ich die weitere Frage, welche Ereignisse ihres Lebens sie noch
ferner derart erschreckt haben, daß sie die plastische Erinnerung
an sie bewahrt hat. Sie antwortet mit einer Sammlung solcher
Erlebnisse: Wie sie ein Jahr nach dem Tode ihrer Mutter bei
einer ihr befreundeten Französin war und dort mit einem andern
Mädchen ins nächste Zimmer geschickt wurde, um ein Lexikon
zu holen und dann aus dem Bette eine Person sich erheben sah,
die genau so aussah wie jene, die sie eben verlassen hatte. Sie
blieb steif wie angewurzelt stehen. Später hörte sie, es sei eine
hergerichtete Puppe gewesen. Ich erkläre diese Erscheinung für
eine Halluzination, appelliere an ihre Aufklärung und ihr Gesicht
glättet sich.
Wie sie ihren kranken Bruder gepflegt und er infolge des
Morphins so gräßliche Anfälle bekam, in denen er sie erschreckte
und anpackte. Ich merke, daß sie von diesem Erlebnisse schon
heute früh gesprochen und frage sie darum zur Probe, wann
dieses „Anpacken^^ noch vorgekommen. Zu meiner freudigen
Überraschung besin nt sie sich diesmal lange mit der Antwort und
fragt endlich unsicher: Die Kleine? An die beiden anderen Anlässe
(s. o.) kann sie sich gar nicht besinnen. Mein Verbot, das Auslöschen
der Erinnerung, hat also gewirkt. Weiter: Wie sie ihren Bruder
gepflegt und die Tante plötzlich den bleichen Kopf über den
Paravent gestreckt, die gekommen war, um ihn zum katholischen
Glauben zu bekehren. — Ich merke, daß ich hiemit an die
Wurzel ihrer beständigen Furcht vor Überraschungen gekommen
bin, und frage, wann sich solche noch zugetragen haben. —
Wie sie zu Hause einen Freund hatten, der es liebte, sich ganz
leise ins Zimmer zu schleichen, und dann plötzlich da stand^
analogen Mechanismus zurückgelien. Ich habe diesem Mechanismus in einem kleinen
Aufsatze: „Ein Fall von hypnotischer Heilung nebst Bemerkungen über den hysteri¬
schen Gegenwillen“ (Zeitschrift für Hypnotismus, Bd. Ij enthalten in diesem Bande
der Ges. Schriften) Aufmerksamkeit geschenkt, werde übrigens auch hier darauf
zurückkommen.
38
Studien über Hysterie
wie sie nach dem Tode der Mutter so krank wurde, in einen
Badeort kam, und dort eine Geisteskranke durch Irrtum mehr¬
mals bei Nacht in ihr Zimmer und bis an ihr Bett kam^ und
endlich wie auf ihrer Reise von Abbazia hieher ein fremder
Mann viermal plötzlich ihre Coupetür aufmachte und sie jedes¬
mal starr ansah. Sie erschrak darüber so sehr, daß sie den
Schaffner rief.
Ich verwische alle diese Erinnerungen, wecke sie auf und ver¬
sichere ihr, daß sie diese Nacht gut schlafen werde, nachdem ich
es unterlassen, ihr die entsprechende Suggestion in der Hypnose
zu geben. Für die Besserung ihres Allgemeinzustandes zeugt ihre
Bemerkung, sie habe heute nichts gelesen, sie lebe so in einem
glücklichen Traum, sie, die sonst vor innerer Unruhe beständig
etwas tun mußte.
11. Mai früh. Auf heute ist das Zusammentreffen mit dem
Gynäkologen Dr. N . . angesagt, der ihre älteste Tochter wegen
ihrer menstrualen Beschwerden untersuchen soll. Ich finde Frau
Emmy in ziemlicher Unruhe, die sich aber jetzt durch gering-
fügigere körperliche Zeichen äußert als früher^ auch ruft sie von
Zeit zu Zeit: Ich habe Angst, solche Angst, ich glaube, ich muß
sterben. Wovor sie denn Angst habe, ob vor Dr. N . .? Sie wisse
es nicht, sie habe nur Angst. In der Hypnose, die ich noch vor dem
Eintreffen des Kollegen vornehme, gesteht sie, sie fürchte, mich
durch eine Äußerung gestern wälirend der Massage, die ihr un¬
höflich erschien, beleidigt zu haben. Auch fürchte sie sich vor
allem Neuen, also auch vor dem neuen Doktor. Sie läßt sich be¬
schwichtigen, fährt vor Dr. N . . zwar manchmal zusammen,
benimmt sich aber sonst gut und zeigt weder Schnalzen noch
Sprechhemmung. Nach seinem Fortgehen versetze ich sie neuer¬
dings in Hypnose, um die etwaigen Reste der Erregung von
seinem Besuche her wegzunehmen. Sie ist mit ihrem Benehmen
selbst sehr zufrieden, setzt auf seine Behandlung große Hoffnungen,
und ich suche ihr an diesem Beispiele zu zeigen, daß man sich
Frau Emmy v, N. . .
59
vor dem Neuen nicht zu fürchten brauche, da es auch das Gute
in sich schließe/
Abends ist sie sehr heiter und entledigt sich vieler Bedenk¬
lichkeiten in dem Gespräche vor der Hypnose. In der Hypnose
frage ich, welches Ereignis ihres Lebens die nachhaltigste Wir¬
kung geübt habe und am öftesten als Erinnerung bei ihr auf¬
tauche. — Der Tod ihres Mannes. — Ich lasse mir dieses Er¬
lebnis mit allen Einzelheiten von ihr erzählen, was sie mit den
Zeichen tiefster Ergriffenheit tut, aber ohne alles Schnalzen und
Stottern.
Wie sie in einem Orte an der Riviera, den sie beide sehr
liebten, einst über eine Brücke gegangen und er von einem
Herzkrampf ergriffen, plötzlich umsank, einige Minuten wie leblos
dalag, dann aber wohlbehalten aufstand. Wie dann kurze Zeit
darauf, als sie im Wochenbette mit der Kleinen lag, der Mann,
der an einem kleinen Tische vor ihrem Bette frühstückte und
die Zeitung las, plötzlich aufstand, sie so eigentümlich ansah,
einige Schritte machte und dann tot zu Boden fiel. Sie sei aus
dem Bette ^ die herbeigeholten Ärzte hätten Belebungsversuche
gemacht, die sie aus dem andern Zimmer mit angehört ^ aber es
sei vergebens gewesen. Sie fährt dann fort: Und wie das Kind,
das damals einige Wochen alt war, so krank geworden und durch
sechs Monate krank geblieben sei, während w^elcher Zeit sie selbst
mit heftigem Fieber bettlägerig war^ — und nun folgen chrono¬
logisch geordnet ihre Beschwerden gegen dieses Kind, die mit
ärgerlichem Gesichtsausdrucke rasch hervorgestoßen w^erden, wie
wenn man von jemandem spricht, dessen man überdrüssig ge¬
worden ist. Es sei lange Zeit sehr eigentümlich gewesen, hätte
immer geschrien und nicht geschlafen, eine Lähmung des linken
Beines bekommen, an deren Heilung man fast verzweifelte^ mit
vier Jahren habe es Visionen gehabt, sei erst spät gegangen und
i) Alle solche lehrhafte Sugg^estioneri schlingen bei Frau Emmy felil, wie die Folge
gezeigt hat.
40 Studien über Hysterie
habe spät gesprochen, so daß man es lange für idiotisch hielte
es habe nach der Aussage der Ärzte Gehirn- und Rückenmarks¬
entzündung gehabt, und was nicht alles sonst. Ich unterbreche
sie hier, weise darauf hin, daß dieses selbe Kind heute normal
und blühend sei, und nehme ihr die Möglichkeit, alle diese trau¬
rigen Dinge wieder zu sehen, indem ich nicht nur die plastische
Erinnerung verlösche, sondern die ganze Reminiszenz aus ihrem
Gedächtnisse löse, als ob sie nie darin gewesen wäre. Ich ver¬
spreche ihr davon das Aufhören der Unglückserwartung, die sie
beständig quält, und der Schmerzen im ganzen Körper, über die
sie gerade während der Erzählung geklagt hatte, nachdem mehrere
Tage von ihnen nicht die Rede gewesen war.^
Zu meiner Überraschung beginnt sie unmittelbar nach dieser
meiner Suggestion von dem Fürsten L . . . zu reden, dessen Ent¬
weichung aus einem Irrenhause damals von sich reden machte,
kramt neue Angstvorstellungen über Irrenhäuser aus, daß dort
die Leute mit eiskalten Duschen auf den Kopf behandelt, in einen
Apparat gesetzt und so lange gedreht würden, bis sie ruhig sind.
Ich hatte sie vor drei Tagen, als sie über die Irrenhausfurcht
zuerst klagte, nach der ersten Erzählung, daß die Kranken dort
auf Sessel gebunden würden, unterbrochen. Ich merke, daß ich
dadurch nichts erreiche, daß ich mir’s doch nicht ersparen kann,
sie in jedem Punkte bis zu Ende anzuhören. Nachdem dies nach¬
geholt ist, nehme ich ihr auch die neuen Schreckbilder weg,
appelliere an ihre Aufklärung, und daß sie mir doch mehr glauben
darf als dem dummen Mädchen, von dem sie die Schauergeschichten
i) Ich bin diesmal in meiner Energie wohl zu weit gegangen. Noch eineinhalb
Jahre später, als ich Frau Emmy in relativ hohem Wohlbefinden wiedersah, klagte
sie mir, es sei merkwürdig, daß sie sich an gewisse, sehr wichtige Momente ihres
Lebens nur höchst ungenau erinnern könne. Sie sah darin einen Beweis für die Ab¬
nahme ihres Gedächtnisses, während ich mich hüten mußte, ihr die Erklärung für
diese spezielle Amnesie zu geben. Der durchschlagende Erfolg der Therapie in diesem
Punkte rührte wohl auch daher, daß ich mir diese Erinnerung so ausführlich er¬
zählen ließ (weit ausfülirlicher, als es die Notizen bewalirt haben), während ich mich
sonst zu oft mit bloßen Erwähnungen begnügte.
Frau Emmy v. N . , .
41
über die Einrichtung der Irrenhäuser hat. Da ich bei diesen
Nachträgen doch gelegentlich etwas Stottern bemerke, frage ich
sie von neuem, woher das Stottern rührt. — Keine Antwort. —
Wissen Sie es nicht? — Nein. — Ja, warum nicht? — Warum?
Weil ich nicht darf (was heftig und ärgerlich hervorgestoßen
wird). Ich glaube in dieser Äußerung einen Erfolg meiner Sug¬
gestion zu sehen, sie äußert aber das Verlangen, aus der Hypnose
geweckt zu werden, dem ich willfahre.^
12. Mai. Sie hat wider mein Erwarten kurz und schlecht ge¬
schlafen. Ich finde sie in großer Angst, übrigens ohne die ge-
w^ohnten körperlichen Zeichen derselben. Sie will nicht sagen,
was ihr ist^ nur daß sie schlecht geträumt hat und noch immer
dieselben Dinge sieht. „Wie gräßlich, wenn die lebendig werden
sollten.“ Während der Massage macht sie einiges durch Fragen
ab, wird dann heiter, erzählt von ihrem Verkehre auf ihrem
Witw^ensitze an der Ostsee, von den bedeutenden Männern, die
sie aus der benachbarten Stadt als Gäste zu laden pflegt u. dgl.
Hypnose. Sie hat schrecklich geträumt, die Stuhlbeine und
Sessellehnen waren alle Schlangen, ein Ungeheuer mit einem
Geierschnabel hat auf sie losgehackt und sie am ganzen Körper
angefressen, andere wilde Tiere sind auf sie losgesprungen u. dgl.
Dann übergeht sie sofort auf andere Tierdelirien, die sie aber
durch den Zusatz auszeichnet: Das war wirklich (kein Traum).
Wie sie (früher einmal) nach einem Knäuel Wolle greifen wollte,
und der war eine Maus und lief weg, wie auf einem Spaziergange
1) Ich verstand diese kleine Szene erst am nächsten Tag. Ihre ungebärdige Natur,
die sich im Wachen wie im künstlichen Schlaf gegen jeden Zwang aufbäumte, hatte
sie darüber zornig werden lassen, daß ich ihre Erzählung für vollendet nahm und
sie durch meine abschließende Suggestion unterbrach. Ich habe viele andere Beweise
dafür, daß sie meine Arbeit in ihrem hypnotischen Bewußtsein kritisch überwachte.
Wahrscheinlich wollte sie mir den Vorwurf machen, daß ich sie heute in der Er¬
zählung störe, wie ich sie vorhin bei den Irrenliausgreueln gestört hatte, getraute
sich dessen aber nicht, sondern brachte diese Nachträge anscheinend unvermittelt vor,
ohne den verbindenden Gedankengang zu verraten. Am nächsten Tag klärte mich
dann eine verweisende Bemerkung über meinen Fehlgriff auf.
42
Studien über Hysterie
eine große Kröte plötzlich auf sie losgesprungen usw. Ich merke,
daß mein generelles Verbot nichts gefmchtet hat, und daß ich
ihr solche Angsteindrücke einzeln abnehrnen muß/ Auf irgend
einem Wege kam ich dann dazu, sie zu fragen, warum sie auch
Magenschmerzen bekommen habe und woher diese stammen. Ich
glaube, Magenschmerzen begleiteten bei ihr jeden Anfall von
Zoopsie. Ihre ziemlich unwillige Antw’ort war, das wisse sie nicht.
Ich gab ihr auf, sich bis morgen daran zu erinnern. Nun sagte
sie recht mürrisch, ich solle nicht immer fragen, woher das und
jenes komme, sondern sie erzählen lassen, was sie mir zu sagen
habe. Ich gehe darauf ein, und sie setzt ohne Einleitung fort:
Wie sie ihn herausgetragen haben, habe ich nicht glauben können,
daß er tot ist. (Sie spricht also wieder von ihrem Manne, und
ich erkenne jetzt als Grund ihrer Verstimmung, daß sie unter
dem zurückgehaltenen Reste dieser Geschichte gelitten hat.) Und
dann habe sie durch drei Jahre das Kind gehaßt, weil sie sich
immer gesagt, sie hätte den Mann gesund pflegen können, wenn
sie nicht des Kindes wegen zu Bette gelegen wäre. Und dann
habe sie nach dem Tode ihres Mannes nur Kränkungen und Auf¬
regungen gehabt. Seine Verwandten, die stets gegen die Heirat
waren und sich dann darüber ärgerten, daß sie so glücklich lebten,
hätten ausgesprengt, daß sie selbst ihn vergiftet, so daß sie eine
Untersuchung verlangen wollte. Durch einen abscheulichen Winkel¬
schreiber hätten die Verwandten ihr alle möglichen Prozesse an¬
gehängt. Der Schurke schickte Agenten herum, die gegen sie
hetzten, ließ schmähende Artikel gegen sie in die Lokalzeitungen
aufnehmen und schickte ihr dann die Ausschnitte zu. Von daher
stamme ihre Leutescheu und ihr Haß gegen alle fremden Men¬
schen. Nach den beschwichtigenden Worten, die ich an ihre Er¬
zählung knüpfe, erklärt sie sich für erleichtert.
i) Ich habe leider in diesem Falle versäumt, nach der Bedeutung der Zoopsie
zu forschen, etwa sondern zu wollen, was an der Tierfurcht primäres Grausen war,
wie es vielen Neuropathen von Jugend auf eigen ist, luid was Symbolik.
Frau Eminy v, N, , .
45
15. Mai. Sie hat wieder wenig geschlafen vor Magenschmerzen,
gestern kein Nachtmahl genommen, klagt auch über Schmerzen
im rechten Arme. Ihre Stimmung ist aber gut, sie ist heiter und
behandelt mich seit gestern mit besonderer Auszeichnung. Sie
fragt mich nach meinem Urteile über die verschiedensten Dinge,
die ihr wichtig erscheinen, und gerät in eine ganz unverhältnis¬
mäßige Erregung, wenn icli z. B. nach den Tüchern, die bei der
Massage benötigt werden, suchen muß u. dgl. Schnalzen und
Gesichtstic treten häufig auf.
Hypnose: Gestern abends ist ihr plötzlich der Grund einge¬
fallen, weshalb kleine Tiere, die sie sehe, so ins Riesige wachsen
Das sei ihr das erstemal in einer Theatervorstellung in D , . .
geschehen, wo eine riesig große Eidechse auf der Bühne war.
Diese Erinnerung habe sie gestern auch so sehr gepeinigt.^
Daß das Schnalzen wiedergekehrt, rühre daher, daß sie gestern
Unterleibsschmerzen gehabt und sich bemüht, dieselben nicht
durch Seufzer zu verraten. Von dem eigentlichen iVnlasse des
Schnalzens (vgl. S. 56) weiß sie nichts. Sie erinnert sich auch,
daß ich ihr die Aufgabe gestellt, herauszufinden, woher die Magen¬
schmerzen stammen. Sie wisse es aber nicht, bittet mich, ihr zu
helfen. Ich meine, ob sie sich nicht einmal nach großen Auf¬
regungen zum Essen genötigt. Das trifft zu. Nach dem Tode
ihres Mannes entbehrte sie eine lange Zeit hindurch jeder Eßlust,
aß nur aus Pflichtgefühl, und damals begannen wirklich die Magen¬
schmerzen. — Ich nehme jetzt die Magenschmerzen durch einige
Striche über das Epigastrium weg. Sie beginnt dann spontan von
dem zu sprechen, was sie am meisten affiziert hat: „Ich habe
1) Das visuelle Erinnerungszeichen der großen Eidechse war zu dieser Bedeutung
gewiß nur durch das zeitliche Zusammentreffen mit einem großen Affekt gelangt,
dem sie während jener Theatervorstellung unterlegen sein muß. Ich habe mich aber
in der Therapie dieser Kranken, wie schon eingestanden, häufig mit den oberfläch¬
lichsten Ermittlungen begnügt und auch in diesem Falle nicht weiter nachgeforscht. —
Man wird übrigens an die hysterische Makropsie erinnert. Frau Emmy war hoch-
gi-adig kurzsichtig und astigmatisch und ihre^^alluzinationen mochten oft durch die
Undeutlichkeit ihrer Gesichtswalurnehmungen provoziert worden sein.
44
Studien über Hysterie
gesagt, daß ich die Kleine nicht geliebt habe. Ich muß aber hin¬
zufügen, daß man es an meinem Benehmen nicht merken konnte.
Ich habe alles getan, was notwendig w^ar. Ich mache mir jetzt
noch Vorwürfe, daß ich die Ältere lieber habe.‘^
14. Mai. Sie ist wohl und heiter, hat bis halb acht Uhr früh
geschlafen, klagt nur über etwas Schmerzen im Radialisgebiete
der Hand, Kopf- und Gesichtsschmerzen. Das Aussprechen vor der
Hypnose gewinnt immer mehr an Bedeutung. Sie hat heute fast nichts
Gräßliches vorzubringen. Sie beklagt sich über Schmerz und Ge¬
fühllosigkeit im rechten Beine, erzählt, daß sie 1871 eine Unter¬
leibsentzündung durchgemacht, dann, kaum erholt, ihren kranken
Bruder gepflegt und dabei die Schmerzen bekommen, die selbst
zeitweise eine Lähmung des rechten Fußes herbeiführten.
In der Hypnose frage ich, ob es ihr jetzt schon möglich sein
werde, sich unter Menschen zu bewegen, oder ob die Furcht noch
überwiege. Sie meint, es sei ihr noch unangenehm, w^enn jemand
hinter ihr oder knapp neben ihr steht, erzählt in diesem Zusammen¬
hänge noch Fälle von unangenehmen Überraschungen durch plötz¬
lich auftauchende Personen. So seien einmal, als sie auf Rügen
einen Spaziergang mit ihren Töchtern gemacht, zwei verdächtig
aussehende Individuen hinter einem Gebüsche hervorgekommen und
hätten sie insultiert. In Abbazia sei auf einem abendlichen
Spaziergange plötzlich ein Bettler hinter einem Steine hervorge¬
treten, der dann vor ihr niedergekniet. Es soll ein harmloser
Wahnsinniger gewesen sein 5 ferner erzählt sie von einem nächt¬
lichen Einbrüche in ihrem isoliert stehenden Schlosse, der sie sehr
erschreckt hat.
Es ist aber leicht zu merken, daß diese Furcht vor Menschen
wesentlich auf die Verfolgungen zurückgeht, denen sie nach dem
Tode ihres Mannes ausgesetzt war.^
1) Ich war damals geneigt, für alle Symptome bei einer Hysterie eine psychi¬
sche Herkunft anzunehmen. Heute würde ich die Angstneigung bei dieser abstinent
lebenden Frau neurotisch erklären. (Angstneurose.)
Frau Emmy v. N. , .
46
Abends. Anscheinend sehr heiter, empfängt sie mich doch mit
dem Ausrufe: „Ich sterbe vor Angst, oh, ich kann es Ihnen fast
nicht sagen, ich hasse mich.^^ Ich erfahre endlich, daß Dr. Breuer
sie besucht hat, und daß sie bei seinem Erscheinen zusammen¬
gefahren ist. Als er es bemerkte, versicherte sie ihm: Nur dieses
Mal, und es tat ihr in meinem Interesse so sehr leid, daß sie
diesen Rest von früherer Schreckhaftigkeit noch verraten mußte!
Ich hatte überhaupt in diesen Tagen Gelegenheit gehabt, zu be¬
merken, wie herbe sie gegen sich ist, wie leicht bereit, sich aus
den kleinsten Nachlässigkeiten — wenn die Tücher für die Massage
nicht selbst am Platze liegen, wenn die Zeitung nicht in die Augen
springend vorbereitet ist, die ich lesen soll, während sie schläft —
einen schweren Vorwurf zu machen. Nachdem die erste, ober¬
flächlichste Schichte von quälenden Reminiszenzen abgetragen ist,
kommt ihre sittlich überempfindliche, mit der Neigung zur Selbst¬
verkleinerung behaftete Persönlichkeit zum Vorschein, der ich im
Wachen wie in der Hypnose vorsage, was eine Umschreibung des
alten Satzes ^^minima non curat praetor^^ ist, daß es zwischen
dem Guten und dem Schlechten eine ganze große Gruppe von
indifferenten, kleinen Dingen gibt, aus denen sich niemand einen
Vorwurf machen soll. Ich glaube, sie nimmt diese Lehren nicht
viel besser auf als irgend ein asketischer Mönch des Mittelalters,
der den Finger Gottes und die Versuchung des Teufels in jedem
kleinsten Erlebnisse sieht, das ihn betrifft, und der nicht imstande
ist, sich die Welt nur für eine kleine Weile und in irgend einer
kleinen Ecke ohne Beziehung auf seine Person vorzustellen.
In der Hypnose bringt sie einzelne Nachträge an schreckhaften
Bildern (so in Abbazia blutige Köpfe auf jeder Woge). Ich lasse
mir von ihr die Lehren wiederholen, die ich ihr im Wachen
erteilt habe.
15. Mai. Sie hat bis halb neun Uhr geschlafen, ist aber gegen
Morgen unruhig geworden und empfängt mich mit leichtem Tic,
Schnalzen und etwas Sprachhemmung. „Ich sterbe vor Angst.“
46
Studien über Hysterie
Erzählt auf Befragen, daß die Pension, in der die Kinder hier unter¬
gebracht sind, sich im vierten Stocke befinde und mittels eines
Lifts zu erreichen sei. Sie habe gestern verlangt, daß die Kinder
diesen Lift auch zum Herunterkommen benutzen, und mache
sich jetzt Vorwürfe darüber, da der Lift nicht ganz verläßlich
sei. Der Pensionsbesitzer habe es selbst gesagt. Ob ich die Ge¬
schichte der Gräfin Sch . . . kenne, die in Rom bei einem der¬
artigen Unfälle tot geblieben sei? Ich kenne nun die Pension
und weiß, daß der Aufzug Privateigentum des Pensionsbesitzers
ist; es scheint mir nicht leicht möglich, daß der Mann, der sich
dieses Aufzuges in einer Annonce rühmt, selbst vor dessen Be¬
nutzung gewarnt haben sollte. Ich meine, da liegt eine von der
Angst eingegebene Erinnerungstäuschung vor, teile ihr meine
Ansicht mit und bringe sie ohne Mühe dazu, daß sie selbst über
die UnWahrscheinlichkeit ihrer Befürchtung lacht. Eben darum
kann ich nicht glauben, daß dies die Ursache ihrer Angst war,
und nehme mir vor, die Frage an ihr hypnotisches Bewußtsein
zu richten. Während der Massage, die ich nach mehrtägiger
Unterbrechung heute wieder vornehme, erzählt sie einzelne, lose
aneinander gereihte Geschichten, die aber wahr sein mögen, so
von einer Kröte, die in einem Keller gefunden wurde, von einer
exzentrischen Mutter, die ihr idiotisches Kind auf eigentümliche
Weise pflegte, von einer Frau, die wegen Melancholie in ein
Irrenhaus gesperrt wmrde, und läßt so erkennen, was für Remi¬
niszenzen durch ihren Kopf ziehen, wenn sich ihrer eine unbe¬
hagliche Stimmung bemächtigt hat. Nachdem sie sich dieser Er¬
zählungen entledigt hat, wird sie sehr heiter, berichtet vom
Leben auf ihrem Gute, von den Beziehungen, die sie zu hervor¬
ragenden Männern Deutschrußlands und Norddeutschlands unter¬
hält, und es fällt mir wahrlich schwer, diese Fülle von Betätigung
mit der Vorstellung einer so arg nervösen Frau zu vereinen.
In der Hypnose frage ich also: warum sie heute morgen so
unruhig war, und erhalte anstatt des Bedenkens über den Lift
Frau Emmy v, N, , ,
47
die Auskunft, sie habe gefürchtet, die Periode werde wieder¬
kehren und sie wiederum an der Massage stören."
i) Der Hergang war also folgender gewesen: Als sie am Morgen aufwachte, fand
sie sich in ängstlicher Stimmung und griff, um diese Stimmung aufzuklären, zur
nächsten ängstlichen Vorstellung, die sich finden wollte. Ein Gespräch über den Lift
im Hause der Kinder war am Nachmittage vorher vorgefallen. Die immer besorgte
Mutter hatte die Gouvernante gefragt, ob die ältere Tochter, die wegen rechtseitiger
Ovarie und Schmerzen im recliten Beine nicht viel gehen konnte, den Lift auch
zum Herunterkommen benutze. Eine Erinnerungstäuschung gestattete ihr dann, die
Angst, deren sie sich bewußt war, an die Vorstellung dieses Aufzuges zu knüpfen.
Den wirklichen Grund ihrer Angst fand sie in ihrem Bewußtsein nicht; der ergab sich
erst, aber ohne jedes Zögern, als ich sie in der Hypnose darum befragte. Es war der¬
selbe Vorgang, den Bernheim und andere nach ihm bei den Personen studiert
haben, die posthypnotisch einen in der Hypnose erteilten Auftrag ausführen. Zum Bei¬
spiel Bernheim (Die Suggestion, 51 der deutschen Übersetzung) hat einem Kranken
daß er nach dem Erwachen beide Daumen in den Mimd stecken werde.
Er tut es auch und entschuldigt sich damit, daß er seit einem Biß, den er sich tags
vorher im epileptiformen Anfall zugefügt, einen Schmerz in der Zunge empfinde.
Ein Mädchen versucht, der Suggestion gehorsam, einen Mordanschlag auf einen ihr
völlig fremden Gerichtsbeamten; erfaßt und nach den Gründen ihrer Tat befragt,
erfindet sie eine Geschichte von einer ihr zugefügten Kränkung, die eine Rache er¬
fordere. Es scheint ein Bedürfnis vorzuliegen, psychische Phänomene, deren man sich
bewußt wird, in kausale Verknüpfung mit anderem Bewußten zu bringen. Wo sich
die wirkliche Verursachmig der Wahmehmimg des Bewußtseins entzieht, versucht
man unbedenklich eine andere Verknüpfung, an die man selbst glaubt, obwohl sie
falsch ist. Es ist klar, daß eine vorhandene Spaltung des Bewußtseinsinhaltes solchen
„falschen Verknüpfungen“ den größten Vorschub leisten muß.
Ich will bei dem oben erwähnten Beispiel einer falschen Verknüpfung etwas
länger verweilen, weil es in mehr als einer Hinsicht als vorbildlich bezeichnet werden
darf. Vorbildlich zunächst für das Verhalten dieser Patientin, die mir im Verlaufe
der Behandlung noch wiederholt Gelegenlieit gab, mittels der hypnotischen Auf¬
klärung solche falsche Verknüpfungen zu lösen und die von ihnen ausgehenden
Wirkungen aufzuheben. Einen Fall dieser Art will ich ausführlich erzählen, weil er
die in Rede stehende psychologische Tatsache grell genug beleuchtet. Ich hatte
Frau Emmy vorgeschlagen, anstatt der gewohnten lauen Bäder ein kühles Halb¬
bad zu versuchen, von dem ich ihr mehr Erfrischung versprach. Sie leistete ärzt¬
lichen Anordmmgen unbedingten Gehorsam, verfolgte dieselben aber jedesmal mit
dem ärgsten Mißtrauen. Ich habe schon berichtet, daß ihr ärztliche Behandlung
fast niemals eine Erleichterung gebracht hatte. Mein Vorschlag, kühle Bäder zu
nehmen, geschah nicht so autoritativ, daß sie nicht den Mut gefunden hätte, mir
ihre Bedenken auszusprechen; „Jedesmal, so oft ich kühle Bäder genommen habe,
bin ich den ganzen Tag über melancholisch gewesen. Aber ich versuche es wieder,
wenn Sie wollen; glauben Sie nicht, daß ich etwas nicht tue, was Sie sagen.“ Ich
verzichtete zum Schein auf meinen Vorschlag, gab ihr aber in der nächsten Hypnose
ein, sie möge nur die kühlen Bäder jetzt selbst vorschlagen, sie habe es sich über¬
legt, wolle doch noch den Versuch wagen usw. So geschah es nun, sie nahm die
Idee, kühle Halbbäder zu gebrauchen, selbst am nächsten Tage auf, suchte mich mit
all den Argumenten dafür zu gewinnen, die ich ihr vorgetragen hatte, und ich gab
ohne viel Eifer nach. Am Tage nach dem Halbbad fand ich sie aber wirklich in
48
Studien über Hysterie
Ich lasse mir ferner die Geschichte ihrer Beinschmerzen er¬
zählen. Der Beginn ist derselbe wie gestern, dann folgt eine lange
tiefer Verstimmung. „Warum sind Sie heute so? — Ich habe es ja vorher gewußt.
Von dem kalten Bade, das ist immer so. — Sie haben es selbst verlangt. Jetzt wissen
wir, daß Sie es nicht vertragen. Wir kehren zu den lauen Bädern zurück.“ — In
der Hypnose fragte ich dann: „War es wirklich das külile Bad, das Sie so verstimmt
hat?“ — „Ach, das kühle Bad hat nichts damit zu tun,“ war die Antwort, „sondern
ich habe heute früh in der Zeitung gelesen, daß eine Revolution in S. Domingo
ausgebrochen ist. Wenn es dort Unruhen gibt, geht es immer über die Weißen har,
und ich habe einen Bruder in S. Domingo, der uns schon so viel Sorge gemacht
hat, imd ich bin jetzt besorgt, daß ihm nicht etwas geschieht.“ Damit war die An-
gelegenlieit zwischen ims erledigt, sie nahm am nächsten Morgen ihr kühles Halbbad,
als ob es sich von selbst verstünde, und nahm es noch durch mehrere Wochen, ohne
je eine Verstimmung auf dasselbe zurückzuführen.
Man wird mir gerne zugeben, daß dieses Beispiel auch typisch ist für das Ver¬
halten so vieler anderer Neiu*opathen gegen die vom Arzt empfohlene Therapie. Ob
es mm Unruhen in S. Domingo oder anderwärts sind, die an einem bestimmten
Tage ein gewisses Symptom hervorrufen; der Kranke ist stets geneigt, dies Symptom
von der letzten ärztlichen Beeinflussung herzuleiten. Von den beiden Bedingungen,
welche fürs Zustandekommen einer solchen falschen Verknüpfung erfordert werden,
scheint die eine, das Mißtrauen, jederzeit vorhanden zu sein; die andere, die Bewußt-
seinsspaltimg, wird dadurch ersetzt, daß die meisten Neuropathen von den wirklichen
Ursachen (oder wenigstens Gelegenheitsursachen) ihres Leidens teils keine Kenntnis
haben, teils absichtlich keine Kenntnis nehmen wollen, weil sie ungeme an den
Anteil erinnert sind, den eigenes Verschulden daran trägt.
Man könnte meinen, daß die bei den Neuropathen außerhalb der Hysterie hervor¬
gehobenen psychischen Bedingungen der Unwissenheit oder absichtlichen Vernach¬
lässigung günstiger für die Entstehung einer falschen Verknüpfung sein müssen, als
das Vorhandensein einer Bewußtseinsspaltung, die doch dem Bewußtsein Material
für kausale Beziehung entzieht. Allein diese Spaltung ist selten eine reinliche, meist
ragen Stücke des unterbewußten Vorstellungskomplexes ins gewöhnliche Bewußtsein
hinein, und gerade diese geben den Anlaß zu solchen Störungen. Gewöhnlich ist es
die mit dem Komplex verbundene Allgemeinempfindung, die Stimmung der Angst,
der Trauer, die, wie im obigen Beispiele, bewußt empfunden wird und für die durch
eine Art von „Zwang zur Assoziation“ eine Verknüpfung mit einem im Bewußtsein
vorhandenen Vorstellungskomplex hergestellt werden muß. (Vgl. übrigens den Mecha¬
nismus der Zwangsvorstellung, den ich in einer Mitteilung im Neurolog. Zentral¬
blatt, Nr. 10 und ii, 1894, angegeben habe. Auch: Obsessions et phobies, Revue neu-
rologique, Nr. 2, 1895.) [Beide Arbeiten enthalten in diesem Band der Ges. Schriften.]
Von der Macht eines solchen Zwanges zur Assoziation habe ich mich unlängst
durch Beobachtungen auf anderem Gebiete überzeugen können. Ich mußte durch
mehrere Wochen mein gewohntes Bett mit einem härteren Lager vertauschen, auf
dem ich wahrscheinlich mehr oder lebhafter träumte, vielleicht nur die normale
Schlaftiefe nicht erreichen konnte. Ich wußte in der ersten Viertelstunde nach dem
Erwachen alle Träume der Nacht und gab mir die Mühe, sie niederzuschreiben und
mich an ihrer Lösung zu versuchen. Es gelang mir, diese Träume sämtlich auf zwei
Momente zurückzuführen: 1. auf die Nötigung zur Ausarbeitung solcher Vorstellungen,
bei denen ich tagsüber nur flüchtig verweilt hatte, die nur gestreift und nicht er¬
ledigt worden waren, und 2. auf den Zwang, die im selben Bewußtseinszustande
Frau Emmy v. N, . .
49
Reihe von Wechselfällen peinlicher und aufreibender Erlebnisse,
zu deren Zeit sie diese Beinschmerzen hatte, und durch deren
Einwirkung dieselben sich jedesmal verstärkten, selbst bis zu einer
vorhandenen Dinge miteinander zu verknüpfen. Auf das freie Walten des letzteren
Momentes war das Sinnlose und Widerspruchsvolle der Träume zurückzuführen.
Daß die zu einem Erlebnisse gehörige Stimmung und der Inhalt desselben ganz
regelmäßig in abweichende Beziehung zum primären Bewußtsein treten können, habe
ich an einer anderen Patientin, Frau Cäcilie M . . ., gesehen, die ich weitaus gründ¬
licher als jede andere hier erwähnte Kranke kennen lernte. Ich habe bei dieser Dame
die zahlreichsten imd überzeugendsten Beweise für einen solchen psychischen Mecha¬
nismus hysterischer Phänomene gesammelt, wie wir ihn in dieser Arbeit vertreten,
bin aber leider durch persönliche Umstände verhindert, diese Krankengeschichte, auf
die ich mich gelegentlich zu beziehen gedenke, ausführlich mitzuteilen. Frau Cäcilie
M . . . war zuletzt in einem eigentümlichen hysterischen Zustande, der gewiß nicht
vereinzelt dasteht, wenngleich ich nicht weiß, ob er je erkannt worden ist. Man
könnte ihn als „hysterische Tilgungspsychose“ bezeichnen. — Die Patientin hatte
zahlreiche psychische Traumen erlebt, und lange Jahre in einer chronischen Hysterie
mit sehr mannigfaltigen Erscheinungen zugebracht. Die Gründe aller dieser Zustände
waren ihr und anderen unbekannt, ihr glänzend ausgestattetes Gedächtnis wies die auf¬
fälligsten Lücken auf; ihr Leben sei ihr wie zerstückelt, klagte sie selbst. Eines Tages
brach plötzlich eine alte Reminiszenz in plastischer Anschaulichkeit mit aller Frische
der neuen Empfindung über sie herein, und von da an lebte sie durch fast drei
Jahre alle Traumen ihres Lebens —längst vergessen geglaubte und manche eigentlich
nie erinnerte — von neuem durch mit dem entsetzlichsten Aufwande von Leiden und
der Wiederkehr aller Symptome, die sie je gehabt. Diese „Tilgung alter Schulden“
umfaßte einen Zeitraum von dreiunddreißig Jahren und gestattete, von jedem ihrer
Zustände die oft sehr komplizierte Determinienmg zu erkennen. Man konnte ihr
Erleichterung nur dadurch bringen, daß man ihr Gelegenheit gab, sich die Remi¬
niszenz, die sie gerade quälte, mit allem dazugehörigen Aufwemde an Stimmung und
deren körperlichen Äußerungen in der Hypnose abzusprechen, und wenn ich verhin¬
dert war, dabei zu sein, so daß sie vor einer Person sprechen mußte, gegen welche
sie sich geniert fühlte, so geschah es einige Male, daß sie dieser ganz ruhig die
Geschichte erzählte und mir nachträglich in der Hypnose all das Weinen, all die
Äußerungen der Verzweiflung brachte, mit welchen sie die Erzählung eigentlich hätte
begleiten wollen. Nach einer solchen Reinigung in der Hypnose war sie einige
Stunden ganz wohl und gegenwärtig. Nach kurzer Zeit brach die der Reihe nach
nächste Reminiszenz herein. Diese schickte aber die dazu gehörige Stimmung um
Stunden voraus. Sie wurde reizbar oder ängstlich oder verzweifelt, ohne je zu ahnen,
daß diese Stimmung nicht der Gegenwart, sondern dem Zustande angehöre, der sie
zunächst befallen werde. In dieser Zeit des Überganges machte sie dann regelmäßig
eine falsche Verknüpfung, an der sie bis zur Hypnose hartnäckig festhielt. So z. B.
empfing sie mich einmal mit der Frage: „Bin ich nicht eine verworfene Person, ist
das nicht ein Zeichen der Verworfenheit, daß ich Ihnen gestern dies gesagt habe?“
Was sie tags vorher gesagt hatte, war mir wirklich nicht geeignet, diese Verdam¬
mung irgendwie zu rechtfertigen; sie sah es nach kurzer Erörterung auch sehr wohl
ein, aber die nächste Hypnose brachte eine Reminiszenz zum Vorschein, bei deren
Anlaß sie sich vor zwölf Jahren einen schweren Vorwurf gemacht hatte, an dem sie
in der Gegenwart übrigens gar nicht mehr festhielt.
Freud, I.
4
50
Studien über Hysterie
doppelseitigen Beinlähmung mit Gefühlsverlust. Ähnlich ist es mit
den Armschmerzen, die gleichfalls während einer Krankenpflege
gleichzeitig mit den Genickkrämpfen begannen. Über die „ Genick¬
krämpfeerfahre ich nur folgendes; Sie haben eigentümliche
Zustände von Unruhe mit Verstimmung abgelöst, die früher da
waren, und bestehen in einem „eisigen Packen^^ im Genicke,
mit Steifwerden und schmerzhafter Kälte aller Extremitäten, Un¬
fähigkeit zu sprechen und voller Prostration. Sie dauern sechs
bis zwölf Stunden. Meine Versuche, diesen Symptomkomplex als
Reminiszenz zu entlarven, schlagen fehl. Die dahin zielenden
Fragen, ob sie der Bruder, den sie im Delirium pflegte, einmal
am Genicke gepackt, werden verneint^ sie weiß nicht, woher
diese Anfälle rühren.^
i) Bei nachheriger Überlegung muß ich mir sagen, daß diese „Genickkrämpfe“
organisch bedingte, der Migräne analoge Zustände gewesen sein mögen. Man siebt
in praxi mehr derartige Zustände, die nicht beschrieben sind imd die eine so auf¬
fällige Übereinstimmung mit dem klassischen Anfalle von Hemikranie zeigen, daß
man gerne die Begriffsbestimmung der letzteren erweitern und die Lokalisation des
Schmerzes an die zweite Stelle drängen wollte. Wie bekannt, pflegen viele neuropathi-
sche Frauen mit dem Migräneanfalle hysterische Anfälle (Zuckungen imd Delirien)
zu verbinden. So oft ich den Genickkrampf bei Frau Emmy sah, war auch jedesmal
ein Anfall von Delirium dabei.
W'as die Arm- und Beinschmerzen angeht, so denke ich, daß hier ein Fall der
nicht sehr interessanten, aber um so häufigeren Art der Determinierung durch zu¬
fällige Koinzidenz vorlag. Sie hatte solche Schmerzen während jener Zeit der Auf¬
regung und Krankenpflege gehabt, infolge der Erschöpfung stärker als sonst emp¬
funden, und diese, ursprünglich mit jenen Erlebnissen nur zufällig assoziierten
Schmerzen wurden dann in ihrer Erinnerung als das körperliche Symbol des Asso¬
ziationskomplexes wiederholt. Ich werde von beweisenden Beispielen für diesen Vor¬
gang in der Folge noch mehrere anführen können. Wahrscheinlich waren die Schmerzen
ursprünglich rheumatische, d. h., um dem viel mißbrauchten Worte einen bestimmten
Sinn zu geben, solche Schmerzen, die hauptsächlich in den Muskeln sitzen, bei denen
bedeutende Druckempiindlichkeit und Konsistenzveränderung der Muskeln nachzu¬
weisen ist, die sich am heftigsten nach längerer Ruhe oder Fixierung der Extremität
äußern, also am Morgen, die auf Einübung der schmerzhaften Bewegung sich bessern
\md durch Massage zum Verschwinden zu bringen sind. Diese myogenen Schmerzen,
bei allen Menschen sehr häufig, gelangen bei den Neuropathen zu großer Bedeutung;
sie werden von ihnen mit Unterstützung der Ärzte, die nicht die Gewohnheit haben,
die Muskeln mit dem Fingerdrucke zu prüfen, für nervöse gehalten und geben das
Material für 'unbestimmt viele hysterische Neuralgien, sogenannte Ischias u. dgl.
ab. Auf die Beziehimgen dieses Leidens zur gichtischen Disposition will ich hier
nur kurz hinweisen. Mutter und zwei Schwestern meiner Patientin hatten an Gicht
Frau Emmy v. iV. . .
51
Abends. Sie ist sehr heiter, entwickelt überhaupt prächtigen
Humor. Mit dem Lift sei es allerdings nicht so gewesen, wie sie
mir gesagt hatte. Er sollte nur unter einem Vorwände nicht für
die Fahrt abwärts benutzt werden. Eine Menge Fragen, an denen
nichts Krankhaftes ist. Sie hat peinlich starke Schmerzen im Ge¬
sichte, in der Hand längs der Daumenseite und im Beine gehabt.
Sie fühle Steifigkeit und Gesichtsschmerzen, wenn sie längere
Zeit ruhig gesessen sei oder auf einen Punkt gestarrt habe. Das
Heben eines schweren Gegenstandes verursache ihr Armschmerzen.
Die Untersuchung des rechten Beines ergibt ziemlich gute Sen¬
sibilität am Oberschenkel, hochgradige Anästhesie am Unterschenkel
und Fuße, mindere in der Becken- und Lendengegend.
In der Hypnose gibt sie an, sie habe noch gelegentliche Angst¬
vorstellungen, wie, es könnte ihren Kindern etwas geschehen, sie
könnten krank werden oder nicht am Leben bleiben, ihr Bruder,
der jetzt auf der Hochzeitsreise sei, könnte einen Unfall erleiden,
seine Frau sterben, weil alle Geschwister so kurz verheiratet waren.
Andere Befürchtungen sind ihr nicht zu entlocken. Ich verweise
ihr das Bedürfnis, sich zu ängstigen, wo kein Grund vorliegt. Sie
verspricht es zu unterlassen, „weil Sie es verlangen^^ Weitere
Suggestionen für die Schmerzen, das Bein usw.
16. Mai. Sie hat gut geschlafen, klagt noch über Schmerzen
im Gesichte, Arme, Beinen, ist sehr heiter. Die Hypnose fällt
ganz unergiebig aus. Faradische Pinselung des anästhetischen
Beines.
Abends. Sie erschrickt gleich bei meinem Eintreten. — „Gut,
daß Sie kommen. Ich bin so erschrocken.— Dabei alle Zeichen
des Grausens, Stottern, Tic. Ich lasse mir zuerst im Wachen
erzählen, was es gegeben hat, wobei sie das Entsetzen mit ge-
(oder chronischem Rheumatismus) in hohem Grade gelitten. Ein Teil der Schmerzen,
über welche sie damals klagte, mochte auch gegenwärtiger Natur sein. Ich weiß
es nicht; ich hatte damals noch keine Übung in der Beurteilung dieses Zustandes
der Muskeln.
52
Studien über Hysterie
krümmten Fingern und vorgestreckten Händen vortrefflich dar¬
stellt. — Im Garten ist eine ungeheure Maus plötzlich über ihre
Hand gehuscht und dann plötzlich verschwunden, es huschte über¬
haupt beständig hin und her. (Illusion spielender Schatten?) Auf
den Bäumen saßen lauter Mäuse. — Hören Sie nicht die Pferde
im Zirkus stampfen? — Daneben stöhnt ein Herr, ich glaube, er
hat Schmerzen nach der Operation. — Bin ich denn auf Rügen,
habe ich dort so einen Qfen gehabt? — Sie ist auch verworren
unter der Fülle von Gedanken, die sich in ihr kreuzen, und in
dem Bemühen, die Gegenwart herauszufinden. Auf Fragen nach
gegenwärtigen Dingen, z. B. ob die Töchter da waren, weiß sie
nicht zu antworten.
Ich versuche die Entwirrung dieses Zustandes in der Hypnose.
Hypnose. Wovor haben Sie sich denn geängstigt? — Sie
wiederholt die Mäusegeschichte mit allen Zeichen des Entsetzens^
auch sei, als sie über die Treppe ging, ein scheußliches Tier da
gelegen und gleich verschwunden. Ich erkläre das für Halluzi¬
nationen, verweise ihr die Furcht vor Mäusen, die kommen nur
bei Trinkern vor (die sie sehr verabscheut). Ich erzähle ihr die
Geschichte vom Bischof Hatto, die sie auch kennt und mit
ärgstem Grausen anhört. — jjWie kommen Sie auf den Zirkus ?^^ —
Sie hört deutlich aus der Nähe, wie die Pferde in den Ställen
stampfen und sich dabei im Halfter verwickeln, wodurch sie sich
beschädigen können. Der Johann pflege dann immer hinaus zu
gehen und sie loszubinden. — Ich bestreite ihr die Nähe des
Stalles und das Stöhnen des Nachbars. Ob sie wisse, wo sie ist? —
Sie weiß es, aber sie glaubte früher, auf Rügen zu sein. — Wie
sie zu dieser Erinnerung kommt? — Sie sprachen im Garten
davon, daß es an einer Stelle so heiß sei, und da sei ihr die
schattenlose Terrasse auf Rügen eingefallen. — Was für traurige
Erinnerungen sie denn an den Aufenthalt in Rügen habe? —
Sie bringt die Reihe derselben vor. Sie habe dort die furcht- .
barsten Arm- und Beinschmerzen bekommen, sei mehrmals bei
Frau Emmy v, iV. . .
55
Ausflügen in den Nebel geraten, so daß sie den Weg verfehlt,
zweimal auf Spaziergängen von einent Stiere verfolgt worden usw. —
Wieso sie heute zu diesem Anfalle gekommen? — Ja, wieso? Sie
habe sehr viele Briefe geschrieben, drei Stunden lang und dabei
einen eingenommenen Kopf bekommen. — Ich kann also an¬
nehmen, daß die Ermüdung diesen Anfall von Delirium herbei¬
geführt hat, dessen Inhalt durch solche Anklänge wie die schatten¬
lose Stelle im Garten usw. bestimmt wurde. — Ich wiederhole
alle die Lehren, die ich ihr zu geben pflege, und verlasse sie
eingeschläfert.
17. Mai. Sie hat sehr gut geschlafen. Im Kleienbade, das sie
heute nahm, hat sie mehrmals aufgeschrien, weil sie die Kleie
für kleine Würmer hielt. Ich weiß dies von der Wärterin; sie
mag es nicht gerne erzählen, ist fast ausgelassen heiter, unter¬
bricht sich aber häufig mit Schreien „Huh“, Grimassen, die das
Entsetzen ausdrücken, zeigt auch mehr Stottern als je in den
letzten Tagen. Sie erzählt, daß sie in der Nacht geträumt, sie
gehe auf lauter Blutegeln. In der Nacht vorher hatte sie grä߬
liche Träume, mußte so viele Tote schmücken und in den Sarg
legen, wollte aber nie den Deckel darauf geben. (Offenbar eine
Reminiszenz an ihren Mann, s. o.) Erzählt ferner, daß ihr im
Leben eine Menge von Abenteuern mit Tieren passiert seien, das
gräßlichste mit einer Fledermaus, die sich in ihrem Toiletteschrank
eingefangen, wobei sie damals unangekleidet aus dem Zimmer
lief. Ihr Bruder schenkte ihr darauf, um sie von dieser Angst zu
kurieren, eine schöne Brosche in Gestalt einer Fledermaus; sie
konnte dieselbe aber nie tragen.
In der Hypnose: Ihre Angst vor Würmern rühre daher, daß
sie einmal ein schönes Nadelkissen geschenkt bekommen, aus
welchem am nächsten Morgen, als sie es gebrauchen wollte,
lauter kleine Würmer hervorkrochen, weil die zur Füllung ver¬
wendete Kleie nicht ganz trocken war. (Halluzination? Vielleicht
tatsächlich.) Ich frage nach weiteren Tiergeschichten. Als sie ein-
54
Studien über Hysterie
mal mit ihrem Manne in einem Petersburger Parke spazieren
ging, sei der ganze Weg bis zum Teiche mit Kröten besetzt ge¬
wesen, so daß sie umkehren mußten. Sie habe Zeiten gehabt, in
denen sie niemand die Hand reichen konnte aus Furcht, diese
verwandle sich in ein scheußliches Tier, wie es so oft der Fall
gewesen war. Ich versuche sie von der Tierangst zu befreien,
indem ich die Tiere einzeln durchgehe und frage, ob sie sich
vor ihnen fürchte. Sie antwortet bei dem einen: „Nein“, bei den
anderen: „Ich darf mich nicht fürchten.“^ Ich frage, warum sie
heute und gestern so gezuckt und gestottert. Das tue sie immer,
wenn sie so schreckhaft sei.^ — Warum sie aber gestern so schreck¬
haft gewesen? — Im Garten sei ihr allerlei eingefallen, was sie
drückte. Vor allem, wie sie verhindern könne, daß sich wieder
etwas bei ihr anhäufe, nachdem sie aus der Behandlung entlassen
sei. — Ich wiederhole ihr die drei Trostgründe, die ich ihr schon
im Wachen gegeben: i. Sie sei überhaupt gesünder und wider¬
standsfähiger geworden. 2. Sie werde sich gewöhnen, sich gegen
irgend eine ihr nahestehende Person auszusprechen. 5. Sie werde eine
ganze Menge von Dingen, die sie bisher gedrückt, fortan zu den
indifferenten zählen. — Es habe sie ferner gedrückt, daß sie mir
nicht für mein spätes Kommen gedankt, daß sie gefürchtet, ich
werde wegen ihres letzten Rückfalles die Geduld mit ihr ver¬
lieren. Es habe sie sehr ergriffen und geängstigt, daß der Haus¬
arzt im Garten einen Herrn gefragt habe, ob er schon Mut zur
Operation habe. Die Frau saß dabei, sie selbst mußte denken.
Es war kaum eine gute Methode, die ich da verfolgte. Dies alles war nicht
erschöpfend genug gemacht.
2) Mit der Zurückführung auf die beiden initialen Traumen sind Stottern imd
Schnalzen nicht völlig beseitigt worden, obwohl von da ab eine auffällige Ver¬
minderung der beiden Symptome eintrat. Die Erklärung für diese Unvollständigkeit
des Erfolges gab die Kranke selbst (vgl. p. 51). Sie hatte sich angewöhnt, jedesmal
zu schnalzen und zu stottern, so oft sie erschrak, und so hingen diese Symptome
schließlich nicht an den initialen Traumen allein, sondern an einer langen Kette von
ihnen assoziierten Erinnerimgen, die wegzuwischen ich unterlassen hatte. Es ist dies
ein Fall, der häufig genug vorkommt und jedesmal die Eleganz und Vollständigkeit
der therapeutischen Leistung durch die kathartische Methode beeinträchtigt.
Frau Emmy v, AT. . .
55
wenn dies nun der letzte Abend des armen Mannes wäre. Mit
dieser letzten Mitteilung scheint die Verstimmung gelöst zu sein!^
Abends ist sie sehr heiter und zufrieden. Die Hypnose liefert
gar kein Ergebnis. Ich beschäftige mich mit der Behandlung der
Muskelschmerzen und mit der Herstellung der Sensibilität am
rechten Beine, was in der Hypnose sehr leicht gelingt, die her¬
gestellte Empfindlichkeit ist nach dem Erwachen aber zum Teil
wieder verloren gegangen. Ehe ich sie verlasse, äußert sie ihre
Verwunderung darüber, daß sie so lange keinen Genickkrampf
gehabt, der sonst vor jedem Gewitter aufzutreten pflegte.
i8. Mai. Sie hat heute Nacht geschlafen, wie es seit Jahren
nicht mehr vorgekommen, klagt aber seit dem Bade über Kälte
im Genicke, Zusammenziehen und Schmerzen im Gesichte, in den
Händen und Füßen, ihre Züge sind gespannt, ihre Hände in
Krampfstellungen. Die Hypnose weist keinerlei psychischen Inhalt
dieses Zustandes von „Genickkrampf“ nach, den ich dann durch
Massage im Wachen bessere.^
1) Ich erfuhr hier zum ersten Male, wovon ich mich später imzählige Male über¬
zeugen konnte, daß bei der hypnotischen Lösung eines frischen hysterischen Deliriums
die Mitteilung des Kranken die chronologische Reihenfolge umkehrt, zuerst die letzt¬
erfolgten und minderwichtigen Eindrücke und Gedankenverbindungen mitteilt und
erst am Schlüsse auf den primären, wahrscheinlich kausal wichtigsten Eindruck
kommt.
2) Ihre Verwimderung am Abend vorher, daß sie so lange keinen Genickkrampf
gehabt, war also eine Almung des nahenden Zustandes, der sich damals schon vor¬
bereitete und im Unbewußten bemerkt wurde. Diese merkwürdige Form der Ahnung
war bei der vorhin erwähnten Frau Cäcilie M. etwas ganz Gewöhnliches. Jedesmal,
wenn sie mir im besten Wohlbefinden etwa sagte: „Jetzt habe ich mich schon lange
nicht bei Nacht vor Hexen gefürchtet“, oder: „Wie froh bin ich, daß mein Augen¬
schmerz so lange ausgeblieben ist,“ konnte ich sicher sein, daß die nächste Nacht
der Wärterin den Dienst durch die ärgste Hexenfurcht erschweren oder daß der
nächste Zustand mit dem gefürchteten Schmerz im Auge beginnen werde. Es war
jedesmal ein Durchschimmem dessen, was im Unbewußten bereits fertig vorgebildet
lag, und das ahnungslose „offizielle“ Bewußtsein (nach Charcots Bezeichnung) ver¬
arbeitete die als plötzlicher Einfall auftauchende Vorstellung zu einer Äußenmg der
Befriedigung, die immer rasch und sicher genug Lügen gestraft wurde. Frau Cäcilie,
eine hochintelligente Dame, der ich auch viel Fördenmg im Verständnisse hysteri-
56
Studien über Hysterie
Ich hoffe, der vorstehende Auszug aus der Chronik der ersten
drei Wochen wird hinreichen, ein anschauliches Bild von dem
Zustande der Kranken, von der Art meiner therapeutischen Be¬
mühung und von deren Erfolg zu geben. Ich gehe daran, die
Krankengeschichte zu vervollständigen.
Das zuletzt beschriebene hysterische Delirium war auch die
letzte erhebliche Störung im Befinden der Frau Emmy. Da
ich nicht selbständig nach Krankheitssymptomen und deren Be¬
gründung forschte, sondern zuwartete, bis sich etwas zeigte oder
sie mir einen beängstigenden Gedanken eingestand, wurden die
Hypnosen bald unergiebig und wurden von mir meistens dazu
verwendet, ihr Lehren zu erteilen, die in ihren Gedanken stets
gegenwärtig bleiben und sie davor schützen sollten, zu Hause
neuerdings in ähnliche Zustände zu verfallen. Ich stand damals
völlig unter dem Banne des Bernheimschen Buches über die
Suggestion und erwartete mehr von solcher lehrhafter Beeinflussung,
als ich heute erwarten würde. Das Befinden meiner Patientin hob
sich in kurzer Zeit so sehr, daß sie versicherte, sich seit dem
Tode ihres Mannes nicht ähnhch wohl gefühlt zu haben. Ich
entließ sie nach im ganzen sieben wöchentlicher Behandlung in
ihre Heimat an der Ostsee.
Nicht ich, sondern Dr. Breuer erhielt nach etwa sieben Monaten
Nachricht von ihr. Ihr Wohlbefinden hatte mehrere Monate an¬
gehalten und war dann einer neuerlichen psychischen Erschütterung
erlegen. Ihre älteste Tochter, die bereits während des ersten Auf¬
enthaltes in Wien es der Mutter an Genickkrämpfen und leichten
hysterischen Zuständen gleichgetan hatte, die vor allem an Schmerzen
scher Symptome verdanke, machte mich selbst darauf aufmerksam, daß solche Vor¬
kommnisse Anlaß zum bekannten Aberglauben des Beschreiens und Berufens gegeben
haben mögen. Man soll sich keines Glückes rühmen, anderseits auch den Teufel nicht
an die Wand malen, sonst kommt er. Eigentlich rühmt man sich des Glückes erst
dann, wenn das Unglück schon lauert, und man faßt die Ahnung in die Form des
Rühmens, weil hier der Inhalt der Reminiszenz früher auftaucht als die dazu gehörige
Empfindung, weil im Bewußtsein also ein erfreulicher Kontrast vorhanden ist.
Frau Ernmy v. N. . .
67
beim Gehen infolge einer Retroflexio Uteri litt, war auf meinen
Rat von Dr. N . . einem unserer angesehensten Gynäkologen,
behandelt worden, der ihr den Uterus durch Massage aufrichtete,
so daß sie mehrere Monate frei von Beschwerden blieb. Als
sich diese zu Hause wieder einstellten, wandte sich die Mutter
an den Gynäkologen der nächsten Universitätsstadt, welcher dem
Mädchen eine kombinierte lokale und allgemeine Therapie an¬
gedeihen ließ, die aber zu einer schweren nervösen Erkrankung
des Kindes führte. Wahrscheinlich zeigte sich hierin bereits die
pathologische Veranlagung des damals siebzehnjährigen Mädchens,
die ein Jahr später in einer Charakterveränderung manifest wurde.
Die Mutter, die das Kind mit ihrem gewohnten Gemische von
Ergebung und Mißtrauen den Ärzten überlassen hatte, machte
sich nach dem unglücklichen Ausgange dieser Kur die aller¬
heftigsten Vorwürfe, gelangte auf einem Gedankenwege, dem ich
nicht nachgespürt habe, zum Schlüsse, daß wir beide, Dr. N . . .
und ich, Schuld an der Erkrankung des Kindes trügen, weil wir
ihr das schwere Leiden der Kleinen als leicht dargestellt, hob
gewissermaßen durch einen Willensakt die Wirkung meiner Be¬
handlung auf und verfiel alsbald wieder in dieselben Zustände,
von denen ich sie befreit hatte. Ein hervorragender Arzt in ihrer
Nähe, an den sie sich wandte, und Dr. Breuer, der brieflich mit
ihr verkehrte, vermochten es zwar, sie zur Einsicht von der Un¬
schuld der beiden Angeklagten zu bringen, allein die zu dieser
Zeit gefaßte Abneigung gegen mich blieb ihr als hysterischer Rest
auch nach dieser Aufklärung übrig und sie erklärte, es sei ihr
unmöglich, sich wieder in meine Behandlung zu begeben. Nach
dem Rate jener ärztlichen Autorität suchte sie Hilfe in einem
Sanatorium Norddeutschlands, und ich teilte auf Breuers Wunsch
dem leitenden Arzte der Anstalt mit, welche Modifikation der
hypnotischen Therapie sich bei ihr wirksam erwiesen hatte.
Dieser Versuch einer Übertragung mißlang ganz gründlich. Sie
scheint sich von Anfang an mit dem Arzte nicht verstanden zu
58
Studien über Hysterie
haben, erschöpfte sich im Widerstande gegen alles, was man mit
ihr vornahm, kam herunter, verlor Schlaf und Eßlust und erholte
sich erst, nachdem eine Freundin, die sie in der Anstalt besuchte,
sie eigentlich heimlich entführt und in ihrem Hause gepflegt
hatte. Kurze Zeit darauf, genau ein Jahr nach ihrem ersten Zu¬
sammentreffen mit mir, war sie wieder in Wien und gab sich
wieder in meine Hände.
Ich fand sie weit besser, als ich sie mir nach den brieflichen
Berichten vorgestellt hatte. Sie war beweglich, angstfrei, es hatte
doch vieles gehalten, was ich im Vorjahre aufgerichtet hatte. Ihre
Hauptklage war die über häufige Verworrenheit, „Sturm im
Kopfe^^, wie sie es nannte, außerdem war sie schlaflos, mußte oft
durch Stunden weinen und wurde zu einer bestimmten Zeit des
Tages (5 Uhr) traurig. Es war dies die Zeit, um welche sie im
Winter die im Sanatorium befindliche Tochter besuchen durfte.
Sie stotterte und schnalzte sehr viel, rieb häufig wie wütend die
Hände aneinander, und als ich sie fragte, ob sie viele Tiere sehe,
antwortete sie nur: „O, seien Sie still
Beim ersten Versuche, sie in Hypnose zu versetzen, ballte sie
die Fäuste, schrie: „Ich will keine Antipyrininjektion, ich will
lieber meine Schmerzen behalten. Ich mag den Dr. R . . .
nicht, er ist mir antipathisch.^^ Ich erkannte, daß sie in der
Reminiszenz einer Hypnose in der Anstalt befangen sei, und
sie beruhigte sich, als ich sie in die gegenwärtige Situation
zurückbrachte.
Gleich zu Beginn der Behandlung machte ich eine lehrreiche
Erfahrung. Ich hatte gefragt, seit wann das Stottern wieder¬
gekommen sei, und sie hatte (in der Hypnose) zögernd geant¬
wortet: seit dem Schreck, den sie im Winter in D . . . gehabt.
Ein Kellner des Gasthofes, in dem sie wohnte, hatte sich in
ihrem Zimmer versteckt; sie habe das Ding in der Dunkelheit
für einen Paletot gehalten, hingegriffen und da sei der Mann
plötzlich „in die Höhe geschossenIch nehme ihr dieses Erinne-
Frau Emmy v, N. , .
59
rungsbild ab, und wirklich stottert sie von da an in der Hypnose
wie im Wachen kaum merklich. Ich weiß nicht mehr, was mich
bewog, hier die Probe auf den Erfolg zu versuchen. Als ich am
Abend wiederkam, fragte ich sie anscheinend ganz harmlos, wie ich
es denn machen solle, um bei meinem Weggehen, wenn sie im
Schlafe hege, die Türe so zu verschließen, daß sich niemand
hereinschleichen könne. Zu meinem Erstaunen erschrak sie heftig,
begann mit Zähneknirschen und Händereiben, deutete an, sie habe
einen heftigen Schreck in dieser Art in D . . . gehabt, war aber
nicht zu bewegen, die Geschichte zu erzählen. Ich merkte, daß
sie dieselbe Geschichte meine, die sie vormittags in der Hypnose
erzählt, und die ich doch verwischt zu haben meinte. In der
nächsten Hypnose erzählte sie nun ausführlicher und wahrheits¬
getreuer. Sie war in ihrer Erregung am Abend auf dem Gange
hin und her gegangen, fand die Türe zum Zimmer ihrer Kammer¬
frau offen und wollte eintreten, um sich dort niederzusetzen. Die
Kammerfrau vertrat ihr den Weg, sie ließ sich aber nicht ab¬
halten, trat dennoch ein und bemerkte dann jenes dunkle Ding
an der Wand, das sich als ein Mann erwies. Offenbar war es das
erotische Moment dieses kleinen Abenteuers gewesen, was sie zu
einer ungetreuen Darstellung veranlaßt hatte. Ich hatte aber er¬
fahren, daß eine unvollständige Erzählung in der Hypnose keinen
Heileffekt hat, gewöhnte mich, eine Erzählung für unvollständig
zu halten, wenn sie keinen Nutzen brachte, und lernte es all¬
mählich den Kranken an der Miene abzusehen, ob sie mir nicht
ein wesentliches Stück der Beichte verschwiegen hätten.
Die Arbeit, die ich diesmal mit ihr vorzunehmen hatte, bestand
in der hypnotischen Erledigung der unangenehmen Eindrücke,
die sie während der Kur ihrer Tochter und während des eigenen
Aufenthaltes in jener Anstalt in sich aufgenommen hatte. Sie war voll
unterdrückter Wut gegen den Arzt, der sie genötigt hatte, in der
Hypnose K..r..ö..t..e zu buchstabieren, und nahm mir
das Versprechen ab, ihr dieses Wort niemals zuzumuten. Ich er-
6 o
Studien über Hysterie
laubte mir hier einen suggestiven Scherz, den einzigen, übrigens
ziemlich harmlosen Mißbrauch der Hypnose, dessen ich mich bei
dieser Patientin anzuklagen habe. Ich versicherte ihr, der Aufent¬
halt in ***tal würde ihr so sehr in die Ferne entrückt sein, daß
sie sich nicht einmal auf den Namen besinnen und jedesmal,
wenn sie ihn aussprechen wollte, sich zwischen . . . berg, . . . tal,
. . . wald u. dgl, irren werde. Es traf so zu, und bald war die Un¬
sicherheit bei diesem Namen die einzige Sprachhemmung, die an
ihr zu beobachten war, bis ich sie auf eine Bemerkung von
Dr. Breuer von diesem Zwange zur Paramnesie befreite.
Länger als mit den Resten dieser Erlebnisse hatte ich mit den
Zuständen zu kämpfen, die sie „Sturm im Kopfe^^ benannte. Als
ich sie zum ersten Male in solch einem Zustande sah, lag sie mit
verzerrten Zügen auf dem Diwan in unaufhörlicher Unruhe des
ganzen Körpers, die Hände immer wieder gegen die Stirne ge¬
preßt, und rief dabei wie sehnsüchtig und ratlos den Namen
„Emmy^^, der ihr eigener wie der ihrer älteren Tochter war. In
der Hypnose gab sie die Auskünfte, der Zustand sei die Wieder¬
holung so vieler Anfälle von Verzweiflung, die sie während der
Kur ihrer Tochter zu ergreifen pflegten, nachdem sie stunden¬
lang darüber nachgedacht, wie man den schlechten Erfolg der
Behandlung korrigieren könne, ohne einen Ausweg zu finden. Als
sie dann fühlte, daß sich ihre Gedanken verwirrten, gewöhnte sie
sich daran, den Namen der Tochter laut zu rufen, um sich an
ihm wieder zur Klarheit herauszuarbeiten. Denn zu jener Zeit,
als der Zustand der Tochter ihr neue Pflichten auferlegte und sie
fühlte, daß die Nervosität wieder Macht über sie gewinne, habe
sie bei sich festgesetzt, daß alles, was dieses Kind beträfe, der Ver¬
wirrung entzogen bleiben müsse, sollte auch alles andere in ihrem
Kopfe drunter und drüber gehen.
Nach einigen Wochen waren auch diese Reminiszenzen über¬
wunden und Frau Emmy verblieb in vollkommenem Wohlbefinden
noch einige Zeit in meiner Beobachtung. Gerade gegen Ende ihres
Frau Eminy v, N. , .
6 i
Aufenthaltes fiel etwas vor, was ich ausführlich erzählen will, weil
diese Episode das hellste Licht auf den Charakter der Kranken
und auf die Entstehungsweise ihrer Zustände wirft.
Ich besuchte sie einmal zur Zeit ihres Mittagessens und über¬
raschte sie dabei, wie sie etwas in Papier gehüllt in den Garten
warf, wo es die Kinder des Hausdieners auffingen. Auf mein Befragen
bekannte sie, es sei ihre (trockene) Mehlspeise, die alle Tage den¬
selben Weg zu gehen pflege. Dies gab mir Anlaß, mich nach
den Resten der anderen Gänge umzusehen, und ich fand auf den
Tellern mehr übrig gelassen, als sie verzehrt haben konnte. Zur
Rede gestellt, warum sie so wenig esse, antwortete sie, sie sei
nicht gewöhnt, mehr zu essen, auch würde es ihr schaden^ sie
habe dieselbe Natur wie ihr seliger Vater, der gleichfalls ein
schwacher Esser gewesen sei. Als ich mich erkundigte, was sie
trinke, kam die Antwort, sie vertrage überhaupt nur dicke Flüssig¬
keiten, Milch, Kaffee, Kakao u. dgl.^ so oft sie Quellwasser oder
Mineralwasser trinke, verderbe sie sich den Magen. Dies trug nun
unverkennbar den Stempel einer nervösen Elektion. Ich nahm
eine Harnprobe mit und fand den Harn sehr konzentriert und
mit harnsauren Salzen überladen.
Ich erachtete es demnach für zweckmäßig, ihr reichlicheres Trinken
anzuraten, und nahm mir vor, auch ihre Nahrungsaufnahme zu
steigern. Sie war zwar keineswegs auffällig mager, aber etwas
Überernährung schien mir immerhin anstrebenswert. Als ich ihr
bei meinem nächsten Besuche ein alkalisches Wasser empfahl und
die gewohnte Verwendung der Mehlspeise untersagte, geriet sie
in nicht geringe Aufregung. „Ich werde es tun, weil Sie es ver¬
langen, aber ich sage Ihnen vorher, es wird schlecht ausgehen,
weil es meiner Natur widerstrebt, und mein Vater war ebenso.
Auf die in der Hypnose gestellte Frage, warum sie nicht mehr
essen und kein Wasser trinken könne, kam ziemlich mürrisch die
Antwort: „Ich weiß nicht.“ Am nächsten Tage bestätigte mir die
Wärterin, daß Frau Emmy ihre ganze Portion bewältigt und ein
02
Studien über Hysterie
Glas des alkalischen Wassers getrunken habe. Sie selbst fand ich
aber liegend, tief verstimmt und in sehr ungnädiger Laune. Sie
klagte über sehr heftige Magenschmerzen: „Ich habe es Ihnen ja
gesagt. Jetzt ist der ganze Erfolg wieder weg, um den wir uns
so lange gequält haben. Ich habe mir den Magen verdorben wie
immer, wenn ich mehr esse oder Wasser trinke, und muß mich
wieder fünf bis acht Tage ganz aushungern, bis ich etwas ver¬
trage.Ich versicherte ihr, sie werde sich nicht aushungern
müssen, es sei ganz unmöglich, daß man sich auf diese Weise
den Magen verderbe, ihre Schmerzen rührten nur von der Angst
her, mit der sie gegessen und getrunken. Offenbar hatte ich ihr
mit dieser Aufklärung nicht den geringsten Eindruck gemacht,
denn als ich sie bald darauf einschläfern wollte, mißlang die
Hypnose zum ersten Male, und an dem wütenden Blicke, den sie
mir zuschleuderte, erkannte ich, daß sie in voller Auflehnung be¬
griffen und daß die Situation sehr ernst sei. Ich verzichtete auf
die Hypnose, kündigte ihr an, daß ich ihr eine vierundzwanzig-
stündige Bedenkzeit lasse, um sich der Ansicht zu fügen, daß ihre
Magenschmerzen nur von ihrer Furcht kämen 5 nach dieser Zeit
werde ich sie fragen, ob sie noch meine, man könne sich den
Magen auf acht Tage hinaus durch ein Glas Mineralwasser
und eine bescheidene Mahlzeit verderben, und wenn sie bejahe,
werde ich sie bitten abzureisen. Die kleine Szene stand in recht
scharfem Kontrast zu unseren, sonst sehr freundschaftlichen Be¬
ziehungen.
Ich traf sie vierundzwanzig Stunden später demütig und mürbe.
Auf die Frage, wie sie über die Herkunft ihrer Magenschmerzen
denke, antwortete sie, einer Verstellung unfähig: „Ich glaube, daß
sie von meiner Angst kommen, aber nur, weil Sie es sagen.“
Jetzt versetzte ich sie in Hypnose und fragte neuerdings: „Warum
können Sie nicht mehr essen?“
Die Antwort erfolgte prompt und bestand wieder in der An¬
gabe einer chronologisch geordneten Reihe von Motiven aus der
Frau Emmy v. N. , .
63
Erinnerung: „Wie ich ein Kind war, kam es oft vor, daß ich aus
Unart bei Tisch mein Fleisch nicht essen wollte. Die Mutter war
dann immer sehr streng und ich mußte bei schwerer Strafe zwei
Stunden später das stehengelassene Fleisch auf demselben Teller
nachessen. Das Fleisch war ganz kalt geworden und das Fett so
starr (Ekel), . . . und ich sehe die Gabel noch vor mir, . . . die
eine Zinke war etwas verbogen. Wenn ich mich jetzt zu Tische setze,
sehe ich immer die Teller vor mir mit dem kalten Fleisch und
dem Fette ^ und wie ich viele Jahre später mit meinem Bruder
zusammenlebte, der Offizier war und der die garstige Krankheit
hatte ^ — ich wußte, daß es ansteckend ist, und hatte so eine
gräßliche Angst, mich in dem Bestecke zu irren und seine Gabel
und sein Messer zu nehmen (Grausen), und ich habe doch mit
ihm zusammen gespeist, damit niemand merkt, daß er krank ist 5
und wie ich bald darauf meinen andern Bruder gepflegt habe, der
so lungenkrank war, da haben wir vor seinem Bette gesessen, und
die Spuckschale stand immer auf dem Tische und war offen
(Grausen) . . . und er hatte die Gewohnheit, über die Teller weg
in die Schale zu spucken, da habe ich mich immer so geekelt,
und ich konnte es doch nicht zeigen, um ihn nicht zu beleidigen.
Und diese Spuckschalen stehen immer noch auf dem Tische, wenn
ich esse, und da ekelt es mich noch immer.Ich räumte mit
diesem Instrumentarium des Ekels natürlich gründlich auf und
fragte dann, warum sie kein Wasser trinken könne. Als sie
siebzehn Jahre alt war, verbrachte die Familie einige Monate in
München, und fast alle Mitglieder zogen sich durch den Genuß
des schlechten Trinkwassers Magenkatarrhe zu. Bei den anderen
wurde das Leiden durch ärztliche Anordnungen bald behoben, bei
ihr hielt es an; auch das Mineralwasser, das ihr als Getränk
empfohlen wurde, besserte nichts. Sie dachte sich gleich, wie der
Arzt ihr diese Verordnung gab: das wird gewiß auch nichts
nützen. Seither hatte sich diese Intoleranz gegen Quell- und Mineral¬
wässer ungezählte Male wiederholt.
04
Studien über Hysterie
Die therapeutische Wirkung dieser hypnotischen Erforschung
war eine sofortige und nachhaltige. Sie hungerte sich nicht acht
Tage lang aus, sondern aß und trank schon am nächsten Tage ohne
alle Beschwerden. Zwei Monate später schrieb sie in einem Briefe:
„Ich esse sehr gut und habe um vieles zugenommen. Von dem
Wasser habe ich schon vierzig Flaschen getrunken. Glauben Sie,
soll ich damit fortfahren
Ich sah Frau v. N . . . im Frühjahre des nächsten Jahres auf
ihrem Gute bei D . . . wieder. Ihre ältere Tochter, deren Namen
sie während der „Stürme im Kopfezu rufen pflegte, trat um
diese Zeit in eine Phase abnormer Entwicklung ein, zeigte einen
ungemessenen Ehrgeiz, der im Mißverhältnisse zu ihrer kärglichen
Begabung stand, wurde unbotmäßig und selbst gewalttätig gegen
die Mutter. Ich besaß noch das Vertrauen der letzteren und wurde
hinbeschieden, um mein Urteil über den Zustand des jungen
Mädchens abzugeben. Ich gewann einen ungünstigen Eindruck
von der psychischen Veränderung, die mit dem Kinde vorge¬
gangen war, und hatte bei der Stellung der Prognose noch die
Tatsache in Anschlag zu bringen, daß sämtliche Halbgeschwister
der Kranken (Kinder des Herrn v. N . . . aus erster Ehe) an
Paranoia zugrunde gegangen waren. In der Familie der Mutter
fehlte es ja auch nicht an einem ausgiebigen Maße von neuro-
pathischer Belastung, wenngleich von ihrem nächsten Verwandten¬
kreise kein Mitglied in endgültige Psychose verfallen war. Frau
V. N . . ., der ich die Auskunft, die sie verlangt hatte, ohne Rück¬
halt erteilte, benahm sich dabei ruhig und verständnisvoll. Sie
war stark geworden, sah blühend aus, die dreiviertel Jahre seit
Beendigung der letzten Behandlung waren in relativ hohem Wohl¬
befinden verflossen, das nur durch Genickkrämpfe und andere
kleine Leiden gestört worden war. Den ganzen Umfang ihrer
Pflichten, Leistungen und geistigen Interessen lernte ich erst
während dieses mehrtägigen Aufenthaltes in ihrem Hause kennen.
Ich traf auch einen Hausarzt an, der nicht allzuviel über die
Frau Kmmy v, JV. . ,
65
Dame zu klagen hatten sie war also mit der profession einiger¬
maßen ausgesöhnt.
Die Frau war um so vieles gesünder und leistungsfähiger ge¬
worden, aber an den Grundzügen ihres Charakters hatte sich trotz
aller lehrhaften Suggestionen wenig verändert. Die Kategorie der
„indifferenten Dingeschien sie mir nicht anerkannt zu haben,
ihre Neigung zur Selbstquälerei war kaum geringer als zur Zeit
der Behandlung. Die hysterische Disposition hatte auch während
dieser guten Zeit nicht geruht, sie klagte z. B. über eine Un¬
fähigkeit, längere Eisenbahnreisen zu machen, die sie sich in den
letzten Monaten zugezogen hatte, und ein notgedrungen eiliger
Versuch, ihr dieses Hindernis aufzulösen, ergab nur verschiedene
kleine unangenehme Eindrücke, die sie sich auf den letzten Fahrten
nach D... und in die Umgebung geholt hatte. Sie schien sich
in der Hypnose aber nicht gerne mitzuteilen, und ich kam schon
damals auf die Vermutung, daß sie im Begriffe sei, sich meinem
Einflüsse wiederum zu entziehen, und daß die geheime Absicht
der Eisenbahnhemmung darin liege, eine neuerliche Reise nach
Wien zu verhindern.
Während dieser Tage äußerte sie auch jene Klage über Lücken
in ihrer Erinnerung „gerade in den wichtigsten Begebenheiten“,
aus der ich schloß, daß meine Arbeit vor zwei Jahren eingreifend
genug und dauernd gewirkt hatte. — Als sie mich eines Tages
durch eine Allee führte, die vom Hause bis zu einer Bucht der
See reichte, wagte ich die Frage, ob diese Allee oft mit Kröten
besetzt sei. Zur Antwort traf mich ein strafender Blick, doch nicht
begleitet von den Zeichen des Grausens, und dann erfolgte er¬
gänzend die Äußerung: „Aber wirkliche gibt es hier.“ — Während
der Hypnose, die ich zur Erledigung der Eisenbahnhemmung unter¬
nahm, schien sie selbst von den Antworten, die sie gab, unbe¬
friedigt, und sie drückte die Furcht aus, sie würde jetzt wohl
der Hypnose nicht mehr so ^gehorchen wie früher. Ich beschloß,
sie vom Gegenteil zu überzeugen. Ich schrieb einige Worte auf
Freud, I.
5
66
Studien über Hysterie
einen Zettel nieder, den ich ihr übergab, und sagte: „Sie werden
mir heute Mittag wieder ein Glas Rotwein einschenken wie gestern.
Sowie ich das Glas zum Munde führe, werden Sie sagen: Ach
bitte, schenken Sie mir auch ein Glas voll, und wenn ich dann
nach der Flasche greife, werden Sie rufen: Nein, ich danke, ich
will doch lieber nicht. Darauf werden Sie in Ihre Tasche greifen
und den Zettel hervorziehen, auf dem dieselben Worte stehen.
Das war vormittags^ wenige Stunden später vollzog sich die kleine
Szene genau so, wie ich sie angeordnet hatte, und in so natür¬
lichem Hergange, daß sie keinem der zahlreichen Anwesenden
auffiel. Sie schien sichtlich mit sich zu kämpfen, als sie von mir
den Wein verlangte, — sie trank nämlich niemals Wein, — und
nachdem sie mit offenbarer Erleichterung das Getränk abbestellt
hatte, griff sie in die Tasche, zog den Zettel hervor, auf dem
ihre letztgesprochenen Worte zu lesen waren, schüttelte den Kopf
und sah mich erstaunt an.
Seit diesem Besuche im Mai 1890 wurden meine Nachrichten
über Frau v. N... allmählich spärlicher. Ich erfuhr auf Umwegen,
daß der unerquickliche Zustand ihrer Tochter, der die mannig¬
faltigsten peinlichen Erregungen für sie mit sich brachte, ihr
Wohlbefinden endlich doch untergraben habe. Zuletzt erhielt ich
von ihr (Sommer 1895) ein kurzes Schreiben, in dem sie mich
bat zu gestatten, daß sie ein anderer Arzt hypnotisiere, da sie
wieder leidend sei und nicht nach Wien kommen könne. Ich
verstand anfangs nicht, weshalb es dazu meiner Erlaubnis bedürfe,
bis mir die Erinnerung auftauchte, daß ich sie im Jahre 1890
auf ihren eigenen Wunsch vor fremder Hypnose geschützt hatte,
damit sie nicht wieder in Gefahr komme, wie damals in ***berg
(... tal, ... wald) unter dem peinlichen Zwange eines ihr unsym¬
pathischen Arztes zu leiden. Ich verzichtete jetzt also schriftlich
auf mein ausschließliches Vorrecht.
Frau Emmy v, N, , ,
67
Epikrise
Es ist ja ohne vorherige eingehende Verständigung über den
Wert und die Bedeutung der Namen nicht leicht zu entscheiden,
ob ein Krankheitsfall zur Hysterie oder zu den anderen (nicht
rein neurasthenischen) Neurosen gezählt werden soll, und auf dem
Gebiete der gemeinhin vorkommenden gemischten Neurosen wartet
man noch auf die ordnende Hand, welche die Grenzsteine setzen
und die für die Charakteristik wesentlichen Merkmale hervor¬
heben soll. Wenn man bis jetzt also Hysterie im engeren Sinne
nach der Ähnlichkeit mit den bekannten typischen Fällen zu
diagnostizieren gewohnt ist, so wird man dem Falle der Frau
Emmy v. N . . . die Bezeichnung einer Hysterie kaum streitig
machen können. Die Leichtigkeit der Delirien und Halluzinationen
bei im übrigen intakter geistiger Tätigkeit, die Veränderung der
Persönlichkeit und des Gedächtnisses im künstlichen Somnam¬
bulismus, die Anästhesie an der schmerzhaften Extremität, gewisse
Daten der Anamnese, die Ovarie u. dgl. lassen keinen Zweifel
über die hysterische Natur der Erkrankung oder wenigstens der
Kranken zu. Daß die Frage überhaupt aufgeworfen werden kann,
rührt von einem bestimmten Charakter dieses Falles her, welcher
auch Anlaß zu einer allgemein gültigen Bemerkung bieten darf.
Wie aus unserer eingangs abgedruckten „Vorläufigen Mitteilung“
ersichtlich, betrachten wir die hysterischen Symptome als Affekte
und Reste von Erregungen, welche das Nervensystem als Traumen
beeinflußt haben. Solche Reste bleiben nicht übrig, wenn die
ursprüngliche Erregung durch Abreagieren oder Denkarbeit ab¬
geführt worden ist. Man kann es hier nicht länger abweisen,
Quantitäten (wenn auch nicht ^ meßbare) in Betracht zu ziehen,
den Vorgang so aufzufassen, als ob eine an das Nervensystem
herantretende Summe von Erregung in Dauersymptome umge¬
setzt würde, insoweit sie nicht ihrem Betrage entsprechend zur
Aktion nach außen verwendet worden ist. Wir sind nun gewohnt.
68
Studien über Hysterie
bei der Hysterie zu finden, daß ein erheblicher Teil der „Erre-
gungssumme^^ des Traumas sich in rein körperliche Symptome
umwandelt. Es ist dies jener Zug der Hysterie, der durch so
lange Zeit ihrer Auffassung als psychischer Affektion im Wege
gestanden ist.
Wenn wir der Kürze halber die Bezeichnung „Konversion‘^
für die Umsetzung psychischer Erregung in körperliche Dauer¬
symptome wählen, welche die Hysterie auszeichnet, so können
wir sagen, der Fall der Frau Emmy v. N . . . zeigt einen geringen
Betrag von Konversion, die ursprünglich psychische Erregung ver¬
bleibt auch zumeist auf psychischem Gebiete, und es ist leicht
einzusehen, daß er dadurch jenen anderen nicht hysterischen
Neurosen ähnlich wird. ^ Es gibt Fälle von Hysterie, in denen die
Konversion den gesamten Reizzuwachs betrifft, so daß die körper¬
lichen Symptome der Hysterie in ein scheinbar völlig normales
Bewußtsein hereinragen, gewöhnlicher aber ist eine unvollständige
Umsetzung, so daß wenigstens ein Teil des das Trauma beglei¬
tenden Affekts als Komponente der Stimmung im Bewußtsein
verbleibt.
Die psychischen Symptome unseres Falles von wenig konver¬
tierter Hysterie lassen sich gruppieren als Stimmungsveränderung
(Angst, melancholische Depression), Phobien und Abulien (Willens¬
hemmungen). Die beiden letzteren Arten von psychischer Störung,
die von der Schule französischer Psychiater als Stigmata der ner¬
vösen Degeneration aufgefaßt werden, erweisen sich aber in un¬
serem Falle als ausreichend determiniert durch traumatische Er¬
lebnisse, es sind zumeist traumatische Phobien und Abulien, wie
ich im einzelnen ausführen werde.
Von den Phobien entsprechen einzelne allerdings den primären
Phobien des Menschen, insbesondere des Neuropathen, so vor allem
die Tierfurcht (Schlangen, Kröten und außerdem all das Unge¬
ziefer, als dessen Herr sich Mephistopheles rühmt), die Gewitter¬
furcht u. a. Doch sind auch diese Phobien durch traumatische
Frau Emmy v. N. . .
Erlebnisse befestigt worden, so die Furcht vor Kröten durch den
Eindruck in früher Jugend, als ihr ein Bruder eine tote Kröte nach¬
warf, worauf sie den ersten Anfall hysterischer Zuckungen bekam,
die Gewitterfurcht durch jenen Schreck, der zur Entstehung des
Schnalzens Anlaß gab, die Furcht vor Nebel durch jenen Spazier¬
gang auf Rügen5 immerhin spielt in dieser Gruppe die primäre,
sozusagen instinktive Furcht, als psychisches Stigma genommen,
die Hauptrolle.
Die anderen und spezielleren Phobien sind auch durch beson¬
dere Erlebnisse gerechtfertigt. Die Furcht vor einem unerwarteten,
plötzlichen Schrecknisse ist das Ergebnis jenes schrecklichen Ein¬
druckes in ihrem Leben, als sie ihren Mann mitten aus bester
Gesundheit an einem Herzschlage verscheiden sah. Die Furcht
vor fremden Menschen, die Menschenfurcht überhaupt, erweist
sich als Rest aus jener Zeit, in der sie den Verfolgungen ihrer
Familie ausgesetzt und geneigt war, in jedem Fremden einen
Agenten der Verwandtschaft zu sehen, oder in der ihr der Ge¬
danke nahe lag, die Fremden wüßten um die Dinge, die münd¬
lich und schriftlich über sie verbreitet wurden. Die Angst vor
dem Irrenhause und dessen Einwohnern geht auf eine ganze Reihe
von traurigen Erlebnissen in ihrer Familie und auf Schilderungen
zurück, die dem horchenden Kinde eine dumme Dienstmagd machte,
außerdem stützt sich diese Phobie einerseits auf das primäre, in¬
stinktive Grauen des Gesunden vor dem Wahnsinne, anderseits
auf die wie bei jedem Nervösen so auch bei ihr vorhandene Sorge,
selbst dem Wahnsinn zu verfallen. Eine so spezialisierte Angst
wie die, daß jemand hinter ihr stünde, wird durch mehrere
schreckhafte Eindrücke aus ihrer Jugend und aus späterer Zeit
motiviert. Seit einem ihr besonders peinlichen Erlebnisse im Hotel,
peinlich, weil es mit Erotik verknüpft ist, wird die Angst vor
dem Einschleichen einer fremden Person besonders hervorgehoben,
endlich eine den Neuropathen so häufig eigene Phobie, die vor
dem Lebendigbegrabenwerden, findet ihre volle Aufklärung in
70
Studien Über Hysterie
dem Glauben, daß ihr Mann nicht tot war, als man seine Leiche
forttrug, einem Glauben, in dem sich die Unfähigkeit so rührend
äußert, sich in das plötzliche Aufhören der Gemeinschaft mit dem
geliebten Wesen zu finden. Ich meine übrigens, daß alle diese
psychischen Momente nur die Auswahl, aber nicht die Fort¬
dauer der Phobien erklären können. Für letztere muß ich ein
neurotisches Moment heranziehen, den Umstand nämlich, daß
die Patientin sich seit Jahren in sexueller Abstinenz befand, wo¬
mit einer der häufigsten Anlässe zur Angstneigung gegeben ist.
Die bei unserer Kranken vorhandenen Abulien (Willenshem¬
mungen, Unfähigkeiten) gestatten noch weniger als die Phobien
die Auffassung von psychischen Stigmen infolge allgemein ein¬
geengter Leistungsfähigkeit. Vielmehr macht die hypnotische Ana¬
lyse des Falles ersichtlich, daß die Abulien hier durch einen zwei¬
fachen psychischen Mechanismus bedingt werden, der im Grunde
wieder nur einer ist. Die Abulie ist entweder einfach die Folge
einer Phobie, nämlich in allen den Fällen, in denen die Phobie
sich an eine eigene Handlung knüpft anstatt an eine Erwartung
(Ausgehen, Menschen aufsuchen — der andere Fall, daß sich
jemand einschleicht usw.) — und Ursache der Willenshemmung
ist die mit dem Erfolge der Handlung verknüpfte Angst. Man
täte Unrecht daran, diese Art von Abulien neben den ihnen ent¬
sprechenden Phobien als besondere Symptome aufzuführen, nur
muß man zugestehen, daß eine derartige Phobie bestehen kann,
wenn sie nicht allzu hochgradig ist, ohne zur Abulie zu führen.
Die andere Art der Abulien beruht auf der Existenz affektvoll
betonter, ungelöster Assoziationen, die sich der Anknüpfung neuer
Assoziationen, und insbesondere solcher unverträglicher Art wider¬
setzen. Das glänzendste Beispiel einer solchen Abulie bietet die
Anorexie unserer Kranken. Sie ißt nur so wenig, weil es ihr
nicht schmeckt, und sie kann dem Essen keinen Geschmack ab¬
gewinnen, weil der Akt des Essens bei ihr von alters her mit
Ekelerinnerungen verknüpft ist, deren Affektbetrag noch keine Ver-
Frau Emmy v, iV. . .
71
minderung erfahren hat. Es ist aber unmöglich, gleichzeitig mit Ekel
und mit Lust zu essen. Die Verminderung des an den Mahlzeiten
von früher her haftenden Ekels hat darum nicht stattgehabt, weil sie
allemal den Ekel unterdrücken mußte, anstatt sich von ihm durch
Reaktion zu befreien 5 als Kind war sie aus Furcht vor Strafe
gezwungen, mit Ekel die kalte Mahlzeit zu essen, und in reiferen
Jahren verhinderte sie die Rücksicht auf die Brüder, die Affekte
zu äußern, denen sie bei den gemeinsam genommenen Mahlzeiten
unterlag.
Ich darf hier vielleicht an eine kleine Arbeit erinnern, in der
ich versucht habe, eine psychologische Erklärung der hysterischen
Lähmungen zu geben. Ich gelangte dort zur Annahme, die Ur¬
sache dieser Lähmungen liege in der Unzugänglichkeit des Vor¬
stellungskreises etwa einer Extremität für neue Assoziationen 5
diese assoziative Unzugänglichkeit selbst rühre aber davon her,
daß die Vorstellung des gelähmten Gliedes in die mit unerledig¬
tem Affekt behaftete Erinnerung des Traumas einbezogen sei. Ich
führte aus den Beispielen des gewöhnlichen Lebens an, daß eine
solche Besetzung einer Vorstellung mit unerledigtem Affekte
jedesmal ein gewisses Maß von assoziativer Unzugänglichkeit, von
Unverträglichkeit mit neuen Besetzungen mit sich bringt.^
Es ist mir nun. bis heute nicht gelungen, meine damahgen
Voraussetzungen für einen Fall von motorischer Lähmung durch
hypnotische Analyse zu erweisen, aber ich kann mich auf die
Anorexie der Frau v. N . . . als Beweis dafür berufen, daß dieser
Mechanismus für gewisse Abulien der zutreffende ist, und Abulien
sind ja nichts anderes als sehr spezialisierte — „systematisierte^^
nach französischem Ausdrucke — psychische Lähmungen.
Man kann den psychischen Sachverhalt bei Frau v. N . . . im
wesentlichen charakterisieren, wenn man zweierlei hervorhebt;
1) Quelques considerations pour ime etude comparative des paralysies motrices,
organiques et hysteriques. Archives de Neurologie, Nr. 77, 1895 [abgedruckt in diesem
Band der Ges. Schriften].
72
Studien über Hysterie
r vv-iC c »•
1. Eis sind bei ihr die peinlichen Affekte von traumatischen Er¬
lebnissen unerledigt verblieben, so die Verstimmung, der Schmerz
(über den Tod des Mannes), der Groll (von den Verfolgungen
der Verwandten), der Ekel (von den gezwungenen Mahlzeiten),
die Angst (von so vielen schreckhaften Erlebnissen) usw., und
2 . es besteht bei ihr eine lebhafte Erinnerungstätigkeit, welche
bald spontan, bald auf erweckende Reize der Gegenwart hin
(z. B. bei der Nachricht von der Revolution in S. Domingo) Stück
für Stück der Traumen mitsamt den sie begleitenden Affekten
ins aktuelle Bewußtsein ruft. Meine Therapie schloß sich dem
Gange dieser Erinnerungstätigkeit an und suchte Tag für Tag
aufzulösen und zu erledigen, was der Tag an die Oberfläche ge¬
bracht hatte, bis der erreichbare Vorrat an krankhaften Erinne¬
rungen erschöpft schien.
An diese beiden psychischen Charaktere, die ich für allgemeine
Befunde bei hysterischen Paroxysmen halte, ließen sich einige
wichtige Betrachtungen anschließen, die ich verschieben will, bis
dem Mechanismus der körperlichen Symptome einige Aufmerk¬
samkeit geschenkt wurde.
Man kann nicht die gleiche Ableitung für alle körperlichen
Symptome der Kranken geben, vielmehr erfährt man selbst aus
diesem hieran nicht reichen Falle, daß die körperlichen Symptome
einer Hysterie auf verschiedene Weisen zustande kommen. Ich
gestatte mir zunächst, die Schmerzen zu den körperlichen Sym¬
ptomen zu stellen. Soviel ich sehen kann, war ein Teil der
Schmerzen gewiß organisch bedingt durch jene leichten (rheu¬
matischen) Veränderungen in Muskeln, Sehnen und Faszien, die
dem Nervösen soviel mehr Schmerz bereiten als dem Gesunden; ein
anderer Teil der Schmerzen war höchstwahrscheinlich Schmerz¬
erinnerung, Erinnerungssymbol der Zeiten von Aufregung und
Krankenpflege, die im Leben der Kranken so viel Platz einge¬
nommen hatten. Auch diese Schmerzen mochten ursprünglich
einmal organisch berechtigt gewesen sein, waren aber seither für
Frau Emmy v, N. . .
73
die Zwecke der Neurose verarbeitet worden. Ich stütze diese Aus¬
sagen über die Schmerzen bei Frau v. N . . . auf anderswo ge¬
machte Erfahrungen, welche ich an einer späteren Stelle dieser
Arbeit mitteilen werden an der Kranken selbst war gerade über
diesen Punkt wenig Aufklärung zu gewinnen.
Ein Teil der auffälligen Bewegungserscheinungen, welche Frau
V. N . . . zeigte, war einfach Ausdruck von Gemütsbewegung und
leicht in dieser Bedeutung zu erkennen, so das Vorstrecken der
Hände mit gespreizten und gekrümmten Fingern als Ausdruck
des Grausens, das Mienenspiel u. dgl. Allerdings ein lebhafterer
und ungehemmterer Ausdruck der Gemütsbewegung, als der son¬
stigen Mimik dieser Frau, ihrer Erziehung und ihrer Rasse ent¬
sprach 5 sie war, wenn nicht im hysterischen Zustande, gemessen,
fast steif in ihren Ausdrucksbewegungen. Ein anderer Teil ihrer
Bewegungssymptome stand nach ihrer Angabe in direktem Zu¬
sammenhänge mit ihren Schmerzen, sie spielte ruhelos mit den
Fingern (1888) oder rieb die Hände aneinander (1889), um nicht
schreien zu müssen, und diese Motivierung erinnert lebhaft an
eines der Darwinschen Prinzipien zur Erklärung der Ausdrucks¬
bewegung, an das Prinzip der „Ableitung der Erregungdurch
welches er z. B. das Schweifwedeln der Hunde erklärt. Den Er¬
satz des Schreiens bei schmerzhaften Reizen durch andersartige
motorische Innervation üben wir übrigens alle. Wer sich beim
Zahnarzte vorgenommen hat, Kopf und Mund ruhig zu halten
und nicht mit den Händen dazwischenzufahren, der trommelt
wenigstens mit den Füßen.
Eine kompliziertere Weise der Konversion lassen die ticähn¬
lichen Bewegungen bei Frau v. N . . . erkennen, das Zungen-
schnalzen und Stottern, das Rufen ihres Namens „Emmy^^ im
Anfalle von Verworrenheit, die zusammengesetzte Schutzformel —
„Seien Sie still — Reden Sie nichts — Rühren Sie mich nicht
an!^^ (1888.) Von diesen motorischen Äußerungen lassen Stottern
und Schnalzen eine Erklärung nach einem Mechanismus zu, den
74
Studien über Hysterie
ich in einer kleinen Mitteilung in der Zeitschrift für Hypnotismus,
Band I (1895)^ als „Objektivierung der Kontrastvorstellung“ be¬
zeichnet habe. Der Vorgang hiebei wäre, an unserem Beispiele
selbst erläutert, folgender: Die durch Sorgen und Wachen er¬
schöpfte Hysterika sitzt beim Bette ihres kranken Kindes, das
endlich! eingeschlafen ist. Sie sagt sich: Jetzt mußt du aber ganz
stille sein, damit du die Kleine nicht aufweckst. Dieser Vorsatz
erweckt wahrscheinlich eine Kontrastvorstellung, die Befürchtung,
sie werde doch ein Geräusch machen, das die Kleine aus dem
lang ersehnten Schlafe weckt. Solche Kontrastvorstellungen gegen
den Vorsatz entstehen auch in uns merklicher weise dann, wenn
wir uns in der Durchführung eines wichtigen Vorsatzes nicht
sicher fühlen.
Der Neurotische, in dessen Selbstbewußtsein ein Zug von
Depression, von ängstlicher Erwartung selten vermißt wird,
bildet solcher Kontrastvorstellungen eine größere Anzahl, oder
er nimmt sie leichter wahr, sie erscheinen ihm auch bedeut¬
samer. Im Zustand der Erschöpfung, in dem sich unsere Kranke
befindet, erweist sich nun die Kontrastvorstellung, die sonst ab¬
gewiesen wurde, als die stärkere^ sie ist es, die sich objektiviert,
und die nun zum Entsetzen der Kranken das gefürchtete Ge¬
räusch wirklich erzeugt. Zur Erklärung des ganzen Vorganges
nehme ich noch an, daß die Erschöpfung eine partielle ist,
sie betrifft, wie man in den Terminis Janets und seiner Nach¬
folger sagen würde, nur das primäre Ich der Kranken, sie hat
nicht zur Folge, daß auch die Kontrastvorstellung geschwächt
wird.
Ich nehme ferner an, daß es das Entsetzen über das wider
Willen produzierte Geräusch ist, welches den Moment zu einem
traumatisch wirksamen macht und dies Geräusch selbst als leib¬
liches Erinnerungssymptom der ganzen Szene fixiert. Ja, ich glaube
i) Abgedruckt in diesem Bande der Ges. Schriften.
Frau Emmy v, N, , .
75
in dem Charakter dieses Tics selbst, der aus mehreren spastisch
hervorgestoßenen, durch Pausen voneinander getrennten Lauten
besteht, die am meisten mit Schnalzen Ähnlichkeit haben, die
Spur des Vorganges zu erkennen, dem er seine Entstehung ver¬
dankte. Es scheint, daß sich ein Kampf zwischen dem Vorsatze
und der Kontrastvorstellung, dem „Gegenwillenabgespielt hat,
der dem Tic den abgesetzten Charakter gab, und der die Kontrast¬
vorstellung auf ungewöhnliche Innervationswege der Sprachmus-
kulatur einschränkte.
Von einem im Wesen ähnlichen Anlasse blieb die spastische
Sprachhemmung, das eigentümliche Stottern übrig, nur daß diesmal
nicht der Erfolg der schließlichen Innervation, der Schrei, sondern
der InnervationsVorgang selbst, der Versuch einer krampfhaften
Hemmung der Sprachwerkzeuge zum Symbol des Ereignisses für
die Erinnerung erhoben wurde.
Beide durch ihre Entstehungsgeschichten nahe verwandten
Symptome, Schnalzen und Stottern, blieben auch fernerhin asso¬
ziiert und wurden durch eine Wiederholung bei einem ähn¬
lichen Anlasse zu Dauersymptomen. Dann aber wurden sie einer
weiteren Verwendung zugeführt. Unter heftigem Erschrecken
entstanden, gesellten sie sich von nun an (nach dem Mecha¬
nismus der monosymptomatischen Hysterie, den ich bei Fall D
aufzeigen werde) zu jedem Schreck hinzu, wenn derselbe auch
nicht zum Objektivieren einer Kontrastvorstellung Anlaß geben
konnte.
Sie waren endlich mit so vielen Traumen verknüpft, hatten
soviel Recht, sich in der Erinnerung zu reproduzieren, daß sie
ohne weiteren Anlaß nach Art eines sinnlosen Tic beständig die
Rede unterbrachen. Die hypnotische Analyse konnte dann aber
zeigen, wieviel Bedeutung sich hinter diesem scheinbaren Tic
verberge, und wenn es der Br euer sehen Methode hier nicht
gelang, beide Symptome mit einem Schlage vollständig zum Ver¬
schwinden zu bringen, so kam dies daher, daß die Katharsis nur
76
Studien über Hysterie
auf die drei Haupttraumen und nicht auf die sekundär assoziierten
ausgedehnt wurde.^
Das Rufen des Namens „Emmy“ in Anfällen von Verwirrung,
welche nach den Regeln hysterischer Anfälle die häufigen Zustände
von Ratlosigkeit während der Kur der Tochter reproduzierten,
war durch einen komplizierten Gedankengang mit dem Inhalte
des Anfalles verknüpft und entsprach etwa einer Schutzformel der
Kranken gegen diesen Anfall. Dieser Ruf hätte wahrscheinlich
auch die Eignung gehabt, in mehr lockerer Ausnützung seiner
Bedeutung zum Tic herabzusinken, die komplizierte Schutzformel
„Rühren Sie mich nicht an usw.^^ war zu dieser Anwendung
i) Ich könnte hier den Eindruck erwecken, als legte ich den Details der Sym¬
ptome zu viel Gewicht bei und verlöre mich in überflüssige Zeichendeuterei. Allein
ich habe gelernt, daß die Determinierung der hysterischen Symptome wirklich bis in
deren feinste Ausführung hinabreicht, und daß man ihnen nicht leicht zu viel Sinn
unterlegen kann. Ich will ein Beispiel beibringen, das mich rechtfertigen wird. Vor
Monaten behandelte ich ein iSjähriges Mädchen aus belasteter Familie, an dessen kompli¬
zierter Neurose die Hysterie ihren gebührenden Anteil hatte. Das erste, was ich von ihr
erfuhr, war die Klage über Anfälle von Verzweiflung mit zweierlei Inhalt. Bei den
einen verspürte sie ein Ziehen und Prickeln in der unteren Gesichtspartie von den
Wangen herab gegen den Mund; bei den anderen streckten sich die Zehen an beiden
Füßen krampfhaft und spielten ruhelos hin und her. Ich war anfangs auch nicht
geneigt, diesen Details viel Bedeutung beizumessen, und früheren Bearbeitern der
Hysterie wäre es sicherlich nahegelegen, in diesen Erscheinungen Beweise für die
Reizung kortikaler Zentren beim hysterischen Anfalle zu erblicken. Wo die Zentren
für solche Parästhesien liegen, wissen wir zwar nicht, es ist aber bekannt, daß solche
Parästhesien die partielle Epilepsie einleiten und die sensorische Epilepsie Charcots
ausmachen. Für die Zehenbewegung wären symmetrische Rindenstellen in nächster
Nähe der Medianspalte verantwortlich zu machen. Allein es klärte sich anders. Als
ich mit dem Mädchen besser bekannt geworden war, fragte ich sie einmal direkt,
was für Gedanken ihr bei solchen Anfällen kämen ; sie solle sich nicht genieren, sie
müßte wohl eine Erklärung für die beiden Erscheinungen geben können. Die Kranke
wurde rot vor Scham und ließ sich endlich ohne Hypnose zu folgenden Aufklärungen
bewegen, deren Beziehung auf die Wirklichkeit von ihrer anwesenden Gesellschafterin
vollinhaltlich bestätigt wurde. Sie hatte vom Eintritt der Menses an durch Jahre an
der Cephalaea adolescentium gelitten, die ihr jede anhaltende Beschäftigung immöglich
machte und sie in ihrer Ausbildung unterbrach. Endlich von diesem Hindernisse
befreit, beschloß das ehrgeizige und etwas einfältige Kind, mächtig an sich zu
arbeiten, um seine Schwestern und Altersgenossinnen wieder einzuholen. Dabei
strengte sie sich über jedes Maß an, und eine solche Bemühung endete gewöhnlich
mit einem Ausbruche von Verzweiflung darüber, daß sie ihre Kräfte überschätzt habe.
Natürlich pflegte sie sich auch körperlich mit anderen Mädchen zu vergleichen und
unglücklich zu sein, wenn sie an sich einen körperlichen Nachteil entdeckt hatte.
Ihr (ganz deutlicher) Prognathismus begann sie zu kränken, und sie kam auf die Idee,
Frau Emmy v. N. . ,
77
bereits gelangt, aber die hypnotische Therapie hielt in beiden
Fällen die weitere Entwicklung dieser Symptome auf. Den ganz
frisch entstandenen Ruf „Emmy“ fand ich noch auf seinen Mutter¬
boden, den Anfall von Verwirrung, beschränkt.
Ob nun diese motorischen Symptome wie das Schnalzen durch
Objektivierung einer Kontrastvorstellung, wie das Stottern durch
bloße Konversion der psychischen Erregung ins Motorische, wie
der Ruf „Emmy“ und die längere Formel als Schutzvorrichtungen
durch gewollte Aktion der Kranken im hysterischen Paroxysmus
entstanden sein mögen, ihnen allen ist das Eine gemeinsam, daß
sie ursprünglich oder fortdauernd in einer aufzeigbaren Verbindung
ihn zu korrigieren, indem sie sich viertelstundenlang darin übte, die Oberlippe über
die vorstehenden Zähne herahzuziehen. Die Erfolglosigkeit dieser kindischen Bemühung
führte einmal zu einem Ausbruche von Verzweiflimg, und von da an war Ziehen vmd
Prickeln von der Wange nach abwärts als Inhalt der einen Art von Anfällen gegeben.
Nicht minder durchsichtig war die Determinierung der anderen Anfälle mit dem
motorischen Symptom der Zehenstreckung und Zehenunruhe. Es war mir angegeben
worden, daß der erste solche Anfall nach einer Partie auf den Schafberg hei Ischl
aufgetreten sei, und die Angehörigen waren natürlich geneigt, ihn von Überanstren¬
gung abzuleiten. Das Mädchen berichtete aber folgendes : Es sei ein unter den Ge¬
schwistern beliebtes Thema gegenseitiger Neckerei, einander auf ihre (unleugbar)
großen Füße aufmerksam zu machen. Unsere Patientin, seit leinger Zeit über diesen
Schönheitsfehler unglücklich, versuchte ihren Fuß in die engsten Stiefel zu zwängen,
allein der aufmerksame Papa litt dies nicht und sorgte dafür, daß sie nur bequeme
Fußbekleidung trug. Sie war recht unzufrieden mit dieser Verfügung, dachte immer
daran und gewöhnte sich mit den Zehen im Schuh zu spielen, wie man es tut, wenn
man abmessen will, ob der Schuh um vieles zu groß ist, einen wieviel kleineren
Schuh man vertragen könnte u. dgl. Während der Bergpartie auf den Schafberg, die
sie gar nicht anstrengend fand, war natürlich wieder Gelegenheit, sich bei den ver¬
kürzten Röcken mit dem Schuhwerke zu beschäftigen. Eine ihrer Schwestern sagte
ihr unterwegs : „Du hast aber heute besonders große Schuhe angezogen.^* Sie probierte
mit den Zehen zu spielen; es kam ihr auch so vor. Die Aufregung über die unglück¬
lich großen Füße verließ sie nicht mehr, und als sie nach Hause kamen, brach der
erste Anfall los, in dem als Erinnerungssymbol für den ganzen verstimmenden Ge¬
dankengang die Zehen krampften und sich unwillkürlich bewegten.
Ich bemerke, daß es sich hier um Anfalls- und nicht um Dauersymptome handelt;
ferner füge ich hinzu, daß nach dieser Beichte die Anfälle der ersten Art aufhörten,
die der zweiten mit Zehenunruhe sich fortsetzten. Es mußte also wohl noch ein Stück
dabei sein, das nicht gebeichtet wurde.
Nachschrift: Ich habe später auch dies erfahren. Das törichte Mädchen arbeitete
darum so übereifrig an seiner Verschönerung, weil es — einem jungen Vetter
gefallen wollte. (Eine Reihe von Jahren später wandelte sich ihre Neurose in eine
Dementia praecox.)
78
Studien über Hysterie
mit Traumen stehen, für welche sie in der Erinnerungstätigkeit
als Symbole eintreten.
Andere körperliche Symptome der Kranken sind überhaupt
nicht hysterischer Natur, so die Genickkrämpfe, die ich als modifi¬
zierte Migränen auffasse, und die als solche eigentlich gar nicht
zu den Neurosen, sondern zu den organischen Affektionen zu
stellen sind. An sie knüpfen sich aber regelmäßig hysterische
Symptome an^ bei Frau v. N . . . werden die Genickkrämpfe zu
hysterischen Anfallen verwendet, während sie über die typischen
Erscheinungsformen des hysterischen Anfalles nicht verfügte.
Ich will die Charakteristik des psychischen Zustandes der Frau
V. N . . . vervollständigen, indem ich mich den bei ihr nachweis¬
baren krankhaften Veränderungen des Bewußtseins zu wende. Wie
durch die Genickkrämpfe, so wird sie auch durch peinliche Ein¬
drücke der Gegenwart (vgl. das letzte Delirium im Garten) oder
durch mächtige Anklänge an eines ihrer Traumen in einen Zu¬
stand von Delirien versetzt, in welchem — nach den wenigen
Beobachtungen, die ich darüber anstellte, kann ich nichts anderes
aussagen — eine ähnliche Einschränkung des Bewußtseins, ein
ähnlicher Assoziationszwang wie im Traume obwaltet, Halluzi¬
nationen und Illusionen äußerst erleichtert sind und schwachsinnige
oder geradezu widersinnige Schlüsse gezogen werden. Dieser Zu¬
stand, mit einer geistigen Alienation vergleichbar, vertritt wahr¬
scheinlich ihren Anfall, etwa eine akute Psychose als Anfalls¬
äquivalent, die man als „halluzinatorische Verworrenheit^^ klassifi¬
zieren würde. Eine weitere Ähnlichkeit mit dem typischen hysteri¬
schen Anfalle liegt noch darin, daß zumeist ein Stück der alten
traumatischen Erinnerungen als Grundlage des Deliriums nach¬
weisbar ist. Der Übergang aus dem Normalzustände in dieses
Delirium vollzieht sich häufig ganz unmerklich ^ eben hat sie noch
ganz korrekt von wenig affektiven Dingen gesprochen und bei
der Fortsetzung des Gespräches, das sie auf peinliche Vorstellungen
führt, merke ich an ihren gesteigerten Gesten, an dem Auf-
Frau Emmy v, N, , ,
79
treten ihrer Spruchformeln u. dgl., daß sie deliriert. Zu Beginn
der Behandlung zog sich das Delirium durch den ganzen Tag
hindurch, so daß es schwer fiel, von den einzelnen Symptomen
mit Sicherheit auszusagen, ob sie — wie die Gesten — nur dem
psychischen Zustande als Anfallssymptome angehörten oder wie
Schnalzen und Stottern zu wirklichen Dauersymptomen geworden
waren. Oft gelang es erst nachträglich zu unterscheiden, was im
Delirium, was im Normalzustände vorgefallen war. Die beiden
Zustände waren nämlich durch das Gedächtnis getrennt, und sie
war dann aufs äußerste erstaunt zu hören, welche Dinge das
Delirium an eine im Normalen geführte Konversation angestückelt
hatte. Meine erste Unterhaltung mit ihr war das merkwürdigste
Beispiel dafür, wie die beiden Zustände durcheinander durchgingen,
ohne voneinander Notiz zu nehmen. Nur einmal ereignete sich
während dieses psychischen Wippens eine Beeinflussung des die
Gegenwart verfolgenden Normalbewußtseins, als sie mir die aus
dem Delirium stammende Antwort gab, sie sei eine Frau aus dem
vorigen Jahrhundert.
Die Analyse dieses Deliriums bei Frau v. N ... ist wenig er¬
schöpfend geworden, hauptsächlich darum, weil ihr Zustand sich
alsbald so besserte, daß die Delirien sich scharf vom Normalleben
sonderten und sich auf die Zeiten der Genickkrämpfe einschränkten.
Um so mehr Erfahrung habe ich über das Verhalten der Patientin
in einem dritten psychischen Zustand, in dem des künstlichen
Somnambulismus, gesammelt. Während sie in ihrem eigenen Normal¬
zustände nicht wußte, was sie in ihren Delirien und was sie im
Somnambulismus psychisch erlebt hatte, verfügte sie im Somnam¬
bulismus über die Erinnerungen aller drei Zustände, sie war hier
eigentlich am normalsten. Wenn ich abziehe, daß sie als Somnam¬
bule weit weniger reserviert gegen mich war als in ihren besten
Stunden des gewöhnlichen Lebens, d. h. mir als Somnambule
Mitteilungen über ihre Familie u. dgl. machte, während sie mich
sonst behandelte als wäre ich ein Fremder, wenn ich ferner davon
8 o
Studien über Hysterie
absehe, daß sie die volle Suggerierbarkeit der Somnambulen zeigte,
muß ich eigentlich sagen, sie war als Somnambule in einem voll¬
kommen normalen Zustande. Es war interessant zu beobachten,
daß dieser Somnambulismus anderseits keinen Zug des Über¬
normalen zeigte, daß er mit allen psychischen Mängeln behaftet
war, die wir dem normalen Bewußtseinszustande Zutrauen. Das
Verhalten des somnambulen Gedächtnisses mögen folgende Proben
erläutern. Einmal drückte sie mir im Gespräche ihr Entzücken
über eine schöne Topfpflanze aus, welche die Vorhalle des Sana¬
toriums zierte. „Aber wie heißt sie nur, Herr Doktor? Wissen
Sie nicht? Ich habe den deutschen und den lateinischen Namen
gewußt und beide vergessen.Sie war eine treffliche Kennerin der
Pflanzen, während ich bei dieser Gelegenheit meine botanische
Unbildung eingestand. Wenige Minuten später frage ich sie in
der Hypnose : „Wissen Sie jetzt den Namen der Pflanze im
Stiegenhause?^^ Die Antwort lautete ohne jedes Besinnen: Mit
dem deutschen Namen heißt sie Türkenlilie, den lateinischen
habe ich wirklich vergessen. Ein andermal erzählt sie mir in
gutem Wohlbefinden von einem Besuche in den Katakomben von
Rom und kann sich auf zwei Termini der Beschreibung nicht
besinnen, zu denen auch ich ihr nicht verhelfen kann. Unmittel¬
bar darauf erkundige ich mich in der Hypnose, welche Worte
sie meinte. Sie weiß es auch in der Hypnose nicht. Ich sage
darauf: Denken Sie nicht weiter nach, morgen zwischen fünf und
sechs Uhr nachmittags im Garten, näher an sechs Uhr, werden
sie Ihnen plötzlich einfallen.
Am nächsten Abend platzt sie während einer den Katakomben
ganz entfremdeten Unterhaltung plötzlich heraus: Krypte, Herr
Doktor, und Kolumbarium. — Ah, das sind ja die Worte, auf
die Sie gestern nicht kommen konnten. Wann sind Sie Ihnen
denn eingefallen ? — Heute nachmittag im Garten, kurz ehe ich
hinaufgegangen bin. — Ich merkte, daß sie mir auf diese Weise
zeigen wollte, sie habe genau die angegebene Zeit eingehalten,
Frau Emmy v, N. . ,
8i
denn sie war gewohnt, den Garten gegen sechs Uhr zu verlassen.
So verfügte sie also auch im Somnambulismus nicht über den
ganzen Umfang ihres Wissens, es gab auch für ihn noch ein
aktuelles und ein potenzielles Bewußtsein. Oft genug kam es auch
vor, daß sie im Somnambulismus auf meine Frage: Woher rührt
diese oder jene Erscheinung? die Stirne in Falten zog und nach
einer Pause kleinlaut die Antwort gab: Das weiß ich nicht.
Dann hatte ich die Gewohnheit angenommen zu sagen: Besinnen
Sie sich. Sie werden es gleich erfahren, und sie konnte mir nach
ein wenig Nachdenken die verlangte Auskunft geben. Es traf sich
aber auch, daß ihr nichts einfiel und daß ich ihr die Aufgabe
hinterlassen mußte, sich bis morgen daran zu erinnern, was auch
jedesmal zutraf. Die Frau, die im gewöhnlichem Leben peinlichst
jeder Unwahrheit aus dem Wege ging, log auch in der Hypnose
niemals, es kam aber vor, daß sie unvollständige Angaben machte,
mit einem Stück des Berichtes zurückhielt, bis ich ein zweites
Mal die Vervollständigung erzwang. Wie in dem auf S. 58
gegebenen Beispiele, war es meist die Abneigung, die ihr das
Thema einflößte, welche ihr auch im Somnambulismus den Mund
verschloß. Trotz dieser Züge von Einschränkung war aber doch der
Eindruck, den ihr psychisches Verhalten im Somnambulismus machte,
im ganzen der einer ungehemmten Entfaltung ihrer geistigen Kraft
und der vollen Verfügung über ihren Erinnerungsschatz.
Ihre unleugbar große Suggerierbarkeit im Somnambulismus
war indes von einer krankhaften Widerstandslosigkeit weit entfernt.
Im ganzen muß ich sagen, machte ich doch nicht mehr Eindruck
auf sie, als ich bei solchem Eingehen auf den psychischen Mecha¬
nismus bei jeder Person hätte erwarten dürfen, die mir mit
großem Vertrauen und in voller Geistesklarheit gelauscht hätte,
nur daß Frau v. N . . . mir in ihrem sogenannten Normalzustände
eine solche günstige psychische Verfassung nicht entgegenbringen
konnte. Wo es mir, wie bei der Tierfurcht, nicht gelang, ihr
Gründe der Überzeugung beizubringen, oder wo ich nicht auf
Freud, I.
6
82
Studien über Hysterie
die psychische Entstehungsgeschichte des Symptoms einging, sondern
mittels autoritativer Suggestion wirken wollte, da merkte ich
jedesmal den gespannten, unzufriedenen Ausdruck in der Miene
der Somnambulen, und wenn ich dann zum Schlüsse fragte:
Also, werden Sie sich noch vor diesem Tiere fürchten? war die
Antwort: Nein, — weil Sie es verlangen. Ein solches Versprechen,
das sich nur auf ihre Gefügigkeit gegen mich stützen konnte,
hatte aber eigentlich niemals Erfolg, so wenig Erfolg wie die
vielen allgemeinen Lehren, die ich ihr gab, anstatt deren ich
ebensogut die eine Suggestion: Seien Sie gesund, hätte wieder¬
holen können.
Dieselbe Person, die ihre Krankheitssymptome gegen die Sug¬
gestion so hartnäckig festhielt und sie nur gegen psychische Ana¬
lyse oder Überzeugung fallen ließ, war anderseits gefügig wie
das beste Spitalsmedium, wo es sich um belanglose Suggestion
handelte, Dinge, die nicht in Beziehung zu ihrer Krankheit standen.
Ich habe Beispiele von solchem posthypnotischen Gehorsam in der
Krankengeschichte mitgeteilt. Ich finde keinen Widerspruch in
diesem Verhalten. Das Recht der stärkeren Vorstellung mußte
sich auch hier geltend machen. Wenn man auf den Mechanismus
der pathologischen „fixen Idee^^ eingeht, findet man dieselbe
begründet und gestützt durch so viele und intensiv wirkende
Erlebnisse, daß man sich nicht wundern kann, wenn sie imstande
ist, der suggerierten, wiederum nur mit einer gewissen Kraft
ausgestatteten Gegenvorstellung erfolgreich Widerstand zu leisten.
Es wäre nur ein wahrhaft pathologisches Gehirn, in dem es mög¬
lich wäre, so berechtigte Ergebnisse intensiver psychischer Vor¬
gänge durch die Suggestion wegzublasen.^
i) Von diesem interessanten Gegensätze zwischen dem weitestgehenden somnam¬
bulen Gehorsam in allen anderen Stücken und der hartnäckigen Beständigkeit der
Krankheitssymptome, weil letztere tief begründet und der Analyse unzugänglich sind,
habe ich mir in einem anderen Falle einen tiefen Eindruck geholt. Ich behandelte
ein jimges, lebhaftes und begabtes Mädchen, das seit eineinhalb Jahren mit schwerer
Gangstönmg behaftet war, durch länger als fünf Monate, ohne ihr helfen zu können. Das
Frau Emmy v. N, , ,
83
Als ich den somnambulen Zustand der Frau v. N . . . studierte,
stiegen mir zum ersten Male gewichtige Zweifel an der Richtig¬
keit des Satzes Bernheims, tout est dans la Suggestion^ und an
dem Gedankengange seines scharfsinnigen Freundes Delboeuf,
comme quoi il n^y a pas d' hypnotismey auf. Ich kann es auch
heute nicht verstehen, daß mein vorgehaltener Finger und das
einmalige „Schlafen Sie‘^ den besonderen psychischen Zustand der
Kranken geschaffen haben soll, in dem ihr Gedächtnis alle ihre
psychischen Erlebnisse umfaßte. Ich konnte den Zustand hervor-
Mädchen hatte Analgesie und schmerzhafte Stellen an beiden Beinen, rapiden Tremor
an den Händen, ging vorgebeugt mit schweren Beinen, kleinen Schritten und
schwankte wie zerebellar, fiel auch öfters hin. Ihre Stimmimg war eine auffällig
heitere. Eine unserer damaligen Wiener Autoritäten hatte sich durch diesen Symptom¬
komplex zur Diagnose einer multiplen Sklerose verleiten lassen, ein anderer Fach¬
mann erkannte Hysterie, für die auch die komplizierte Gestaltung des Krankheits¬
bildes zu Beginn der Erkrankung sprach (Schmerzen, Ohnmächten, Amaurose), und
w'ies mir die Behandlung der Kranken zu. Ich versuchte ihren Gang durch hypno¬
tische Suggestion, Behandlung der Beine in der Hypnose usw. zu bessern, aber ohne
jeden Erfolg, obwohl sie eine ausgezeichnete Somnambule war. Eines Tages, als sie
wieder ins Zimmer geschwankt kam, den einen Arm auf den ihres Vaters, den andern
auf einen Regenschirm gestützt, dessen Spitze bereits stark abgerieben war, wurde
ich ungeduldig und schrie sie in der Hypnose an: „Das ist jetzt die längste Zeit so
gewesen. Morgen vormittag schon wird der Schirm da in der Hand zerbrechen und
Sie werden ohne Schirm nach Hause gehen müssen, von da an werden Sie keinen
Schirm mehr brauchen.“ Ich weiß nicht, wie ich zu der Dummheit kam, eine Sug¬
gestion an einen Regenschirm zu richten; ich schämte mich nachträglich und ahnte
nicht, daß meine kluge Patientin meine Rettung vor dem Vater, der Arzt war und
den Hypnosen beiwohnte, übernehmen würde. Am nächsten Tage erzählte mir der
Vater: „Wissen Sie, was sie gestern getan hat? Wir gehen auf der Ringstraße spa¬
zieren; plötzlich wird sie ausgelassen lustig und fängt an — mitten auf der Straße —
zu singen: Ein freies Leben führen wir, schlägt dazu den Takt mit dem Schirm
gegen das Pflaster imd zerbricht den Schirm.“ Sie hatte natürlich keine Ahnung
davon, daß sie selbst mit soviel Witz eine unsinnige Suggestion in eine glänzend
gelungene verwandelt hatte. Als ihr Zustand auf Versicherung, Gebot und Behand-
limg in der Hypnose sich nicht besserte, wandte ich mich an die psychische Analyse
und verlangte zu wissen, welche Gemütsbewegung dem Ausbruche des Leidens vor¬
hergegangen war. Sie erzählte jetzt (in der Hypnose, aber ohne alle Erregung), daß
kurz vorher ein junger Verwandter gestorben sei, als dessen Verlobte sie sich seit
langen Jahren betrachtet habe. Diese Mitteilung änderte aber gar nichts an ihrem
Zustand; in der nächsten Hypnose sagte ich ihr demnach, ich sei ganz überzeugt,
der Tod des Vetters habe mit ihrem Zustande nichts zu tun, es sei etwas anderes
vorgefallen, was sie nicht erwähnt habe. Nun ließ sie sich zu einer einzigen Andeu¬
tung hinreißen, aber kaum daß sie ein Wort gesagt hatte, verstummte sie, imd der
alte Vater, der hinter ihr saß, begann bitterlich zu schluchzen. Ich drang natürlich
nicht weiter in die Kranke, bekam sie aber auch nicht wieder zu Gesichte.
6 *
84
Studien Über Hysterie
gerufen haben, geschaffen habe ich ihn nicht durch meine Sug¬
gestion, da seine Charaktere, die übrigens allgemein gültige sind,
mich so sehr überraschten.
Auf welche Weise hier im Somnambulismus Therapie geübt
wurde, ist aus der Krankengeschichte zur Genüge ersichtlich. Ich
bekämpfte, wie es in der hypnotischen Psychotherapie gebräuch¬
lich, die vorhandenen krankhaften Vorstellungen durch Versiche¬
rung, Verbot, Einführung von Gegenvorstellungen jeder Art, be¬
gnügte mich aber nicht damit, sondern ging der Entstehungs¬
geschichte der einzelnen Symptome nach, um die Voraussetzungen
bekämpfen zu können, auf denen die krankhaften Ideen aufgebaut
waren. Während dieser Analysen ereignete es sich dann regel¬
mäßig, daß die Kranke sich unter den Zeichen heftigster Erre
gung über Dinge aussprach, deren Affekt bisher nur Abfluß als
Ausdruck von Gemütsbewegung gefunden hatte. Wieviel von dem
jedesmaligen therapeutischen Erfolge auf dies Wegsuggerieren in
statu nascendij wieviel auf die Lösung des Affektes durch Ab¬
reagieren kam, kann ich nicht angeben, denn ich habe beide
therapeutischen Momente Zusammenwirken lassen. Dieser Fall
wäre demnach für den strengen Nachweis, daß der kathartischen
Methode eine therapeutische Wirksamkeit innewohnt, nicht zu
verwerten, allein ich muß doch sagen, daß nur jene Krankheits¬
symptome wirklich auf die Dauer beseitigt worden sind, bei denen
ich die psychische Analyse durchgeführt hatte.
Der therapeutische Erfolg war im ganzen ein recht beträcht¬
licher, aber kein dauernder ^ die Eignung der Kranken, unter
neuerlichen Traumen, die sie trafen, in ähnlicher Weise zu er¬
kranken, wurde nicht beseitigt. Wer die endgültige Heilung einer
solchen Hysterie unternehmen wollte, müßte sich eingehendere
Rechenschaft über den Zusammenhang der Phänomene geben,
als ich damals versuchte. Frau v. N . . . war sicherlich eine neuro-
pathisch hereditär belastete Person. Ohne solche Disposition bringt
man wahrscheinlich überhaupt keine Hysterie zustande. Aber die
Frau Fmmy v, N, , ,
05
Disposition allein macht auch noch keine Hysterie, es gehören
Gründe dazu, und zwar, wie ich behaupte, adäquate Gründe, eine
Ätiologie bestimmter Natur. Ich habe vorhin erwähnt, daß bei
Frau V. N . . . die Affekte so vieler traumatischer Erlebnisse er¬
halten schienen und daß eine lebhafte Erinnerungstätigkeit bald
dies, bald jenes Trauma an die psychische Oberfläche brachte. Ich
möchte mich nun getrauen, den Grund für diese Erhaltung der
Affekte bei Frau v. N . . . anzugeben. Er hängt allerdings mit
ihrer hereditären Anlage zusammen. Ihre Empfindungen waren
nämlich einerseits sehr intensiv, sie war eine heftige Natur, der
größten Entbindung von Leidenschaftlichkeit fähig, anderseits lebte
sie seit dem Tode ihres Mannes in völliger seelischer Verein¬
samung, durch die Verfolgungen der Verwandtschaft gegen Freunde
mißtrauisch gemacht, eifersüchtig darüber wachend, daß niemand
zu viel Einfluß auf ihr Handeln gewinne. Der Kreis ihrer Pflichten
war ein großer und die ganze psychische Arbeit, die ihr aufge¬
nötigt war, besorgte sie allein ohne Freund oder Vertraute, fast
isoliert von ihrer Familie und unter der Erschwerung, die ihre
Gewissenhaftigkeit, ihre Neigung zur Selbstquälerei, oft auch ihre
natürliche Ratlosigkeit als Frau ihr auferlegten. Kurz, der Mecha¬
nismus der Retention großer Erregungssummen an und für
sich ist hier nicht zu verkennen. Er stützt sich teils auf die Um¬
stände ihres Lebens, teils auf ihre natürliche Anlage^ ihre Scheu
z. B. etwas über sich mitzuteilen, war so groß, daß keiner von
den täglichen Besuchern ihres Hauses, wie ich 1891 mit Erstaunen
merkte, sie als krank oder mich als ihren Arzt kannte.
Ob ich damit die Ätiologie dieses Falles von Hysterie erschöpft
habe? Ich glaube es .nicht, denn ich stellte mir zur Zeit der
beiden Behandlungen noch nicht jene Fragen, deren Beantwortung
es für eine erschöpfende Aufklärung bedarf. Ich denke jetzt, es
muß noch etwas hinzugekommen sein, um bei den durch lange
Jahre unveränderten ätiologisch wirksamen Verhältnissen einen
Ausbruch des Leidens gerade in den letzten Jahren zu provo-
86
Studien über Hysterie
zieren. Es ist mir auch aufgefallen, daß in all den intimen Mit¬
teilungen, die mir die Patientin machte, das sexuelle Element,
das doch wie kein anderes Anlaß zu Traumen gibt, völlig fehlte.
So ohne jeglichen Rest können die Erregungen in dieser Sphäre
wohl nicht geblieben sein, es war wahrscheinlich eine editio in
usum delphini ihrer Lebensgeschichte, die ich zu hören bekam.
Die Patientin war in ihrem Benehmen von der größten, unge¬
künstelt erscheinenden Dezenz, ohne Prüderie. Wenn ich aber
an die Zurückhaltung denke, mit der sie mir in der Hypnose das
kleine Abenteuer ihrer Kammerfrau im Hotel erzählte, komme
ich auf den Verdacht, diese heftige, so starker Empfindungen
fähige Frau habe den Sieg über ihre sexuellen Bedürfnisse nicht
ohne schwere Kämpfe gew^onnen und sich zu Zeiten bei dem
Versuche einer Unterdrückung dieses mächtigsten aller Triebe
psychisch schwer erschöpft. Sie gestand mir einmal, daß sie nicht
wieder geheiratet habe, weil sie bei ihrem großen Vermögen der
Uneigennützigkeit der Bewerber nicht vertrauen konnte und weil
sie sich Vorwürfe gemacht hätte, den Interessen ihrer beiden
Kinder durch eine neue Verheiratung zu schaden.
Noch eine Bemerkung muß ich anfügen, ehe ich die Kranken¬
geschichte der Frau v. N . . . beschließe. Wir kannten sie beide
ziemlich genau, Dr. Breuer und ich, und durch ziemlich lange
Zeit, und wir pflegten zu lächeln, wenn wir ihr Charakterbild
mit der Schilderung der hysterischen Psyche verglichen, die sich
seit alten Zeiten durch die Bücher und die Meinung der Ärzte
zieht. Wenn wir aus der Beobachtung der Frau Cäcilie M . . .
ersehen hatten, daß Hysterie schwerster Form mit der reichhal¬
tigsten und originellsten Begabung vereinbar ist — eine Tatsache,
die übrigens aus den Biographien der für Geschichte und Literatur
bedeutsamen Frauen bis zur Evidenz hervorleuchtet, — so hatten
wir an Frau Emmy v. N . . . ein Beispiel dafür, daß die Hysterie
auch tadellose Charakterentwicklung und zielbewußte Lebens¬
führung nicht ausschließt. Es war eine ausgezeichnete Frau, die
Frau Emmy v, N, . ,
87
wir kennen gelernt hatten, deren sittlicher Ernst in der Auf¬
fassung ihrer Pflichten, deren geradezu männliche Intelligenz und
Energie, deren hohe Bildung und Wahrheitsliebe uns beiden im¬
ponierte, während ihre gütige Fürsorge für alle ihr unterstehenden
Personen, ihre innere Bescheidenheit und die Feinheit ihrer Um¬
gangsformen sie auch als Dame achtenswert erscheinen ließ. Eine
solche Frau eine „Degenerierte^^ zu nennen, heißt die Bedeutung
dieses Wortes bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Man tut gut
daran, die „disponierten“ Menschen von den „degenerierten“ be¬
grifflich zu sondern, sonst wird man sich zum Zugeständnisse
gezwungen sehen, daß die Menschheit einen guten Teil ihrer
großen Errungenschaften den Anstrengungen „degenerierter“ In¬
dividuen zu verdanken hat.
Ich gestehe auch, ich kann in der Geschichte der Frau v. N . . .
nichts von der „psychischen Minderleistung“ finden, auf welche
P. Jan et die Entstehung der Hysterie zurückführt. Die hysterische
Disposition bestünde nach ihm in einer abnormen Enge des Be¬
wußtseinsfeldes (infolge hereditärer Degeneration), welche zur Ver¬
nachlässigung ganzer Reihen von Wahrnehmungen, in weiterer
Folge zum Zerfalle des Ichs und zur Organisierung sekundärer
Persönlichkeiten Anlaß gibt. Demnach müßte auch der Rest des
Ichs, nach Abzug der hysterisch organisierten psychischen Gruppen,
minder leistungsfähig sein als das normale Ich, und in der Tat
ist nach Ja net dieses Ich bei den Hysterischen mit psychischen
Stigmaten belastet, zum Monoideismus verurteilt und der gewöhn¬
lichen Willensleistungen des Lebens unfähig. Ich meine, Janet
hat hier Folgezustände der hysterischen Bewußtseinsveränderung
mit Unrecht zu dem Range von primären Bedingungen der
Hysterie erhoben. Das Thema ist einer eingehenderen Behandlung
an anderer Stelle wert; bei Frau v. N . . . aber war von solcher
Minderleistung nichts zu bemerken. Während der Periode ihrer
schwersten Zustände war und blieb sie fähig, ihren Anteil an der
Leitung eines großen industriellen Unternehmens zu besorgen, die
88
Studien über Hysterie
Erziehung ihrer Kinder niemals aus den Augen zu verlieren, ihren
Briefverkehr mit geistig hervorragenden Personen fortzusetzen,
kurz allen ihren Pflichten soweit nachzukommen, daß ihr Krank¬
sein verborgen bleiben konnte. Ich sollte doch meinen, das ergäbe
ein ansehnliches Maß von psychischer Überleistung, das vielleicht
auf die Dauer nicht haltbar war, das zu einer Erschöpfung, zur
sekundären misere psychologique führen mußte. Wahrscheinlich
begannen zur Zeit, da ich sie zuerst sah, bereits solche Störungen
ihrer Leistungsfähigkeit sich fühlbar zu machen, aber jedenfalls
hatte schwere Hysterie lange Jahre vor diesen Symptomen der
Erschöpfung bestanden.^
i) [Zusatz 1^24:'] Ich weiß, daß kein Analytiker heute diese Krankengeschichte
ohne ein mitleidiges Lächeln lesen kann. Aber man möge bedenken, daß es der erste
Fall war, in dem ich das kathartische Verfahren in ausgiebigem Maße anwendete.
Ich will darum auch dem Bericht seine ursprüngliche Form lassen, keine der Kritiken
Vorbringen, die sich heute so leicht ergeben, keinen Versuch zur nachträglichen Aus-
füllimg der zahlreichen Lücken unternehmen. Nur zweierlei will ich hinzufügen:
meine später gewonnene Einsicht in die aktuelle Ätiologie der Erkrankung imd Nach¬
richten über den weiteren Verlauf derselben.
Als ich, wie erwähnt, einige Tage als Gast in ihrem Landhaus zubrachte, war
bei einer Mahlzeit ein Fremder anwesend, der sich offenbar bemühte, angenehm zu
sein. Nach seinem Weggehen fragte sie mich, wie er mir gefallen habe, und setzte
so beiläufig hinzu: Denken Sie sich, der Mann will mich heiraten. Im Zusammenhalt
mit anderen Äußerungen, die ich einzuschätzen versäumt hatte, mußte ich die Auf¬
klärung gewinnen, daß sie sich damals nach einer neuen Ehe sehnte, aber in der
Existenz der beiden Töchter, der Erbinnen des väterlichen Vermögens, das Hindernis
gegen die Verwirklichung ihrer Absicht fand.
Einige Jahre später traf ich auf einer Naturforscherversammlung einen hervor¬
ragenden Arzt aus der Heimat der Frau Emmy, den ich befragte, ob er die Dame
kenne und etwas von ihrem Befinden wisse. Ja, er kannte sie und hatte sie selbst
hypnotisch behandelt, sie hatte mit ihm — und noch vielen anderen Ärzten — das¬
selbe Stück aufgeführt wie mit mir. Sie war in elenden Zuständen gekommen, hatte
die hypnotische Behandlung mit außerordentlichem Erfolg gelohnt, um sich dann
plötzlich mit dem Arzt zu verfeinden, ihn zu verlassen und das ganze Ausmaß ihres
Krankseins wieder zu aktivieren. Es war der richtige „Wiederholungszwang“.
Erst nach einem Vierteljahrhundert erhielt ich wieder Kunde von Frau Emmy.
Ihre ältere Tochter, dieselbe, der ich ehemals eine so ungünstige Prognose gestellt
hatte, wandte sich an mich mit dem Ersuchen um ein Gutachten über den Geistes¬
zustand ihrer Mutter auf Grund meiner seinerzeitigen Behandlung. Sie beabsichtigte
gerichtliche Schritte gegen die Mutter zu unternehmen, die sie als grausame und
rücksichtslose Tyrannin schildert. Sie hatte beide Kinder verstoßen und weigerte
sich, ihnen in ihrer materiellen Not beizustehen. Die Schreiberin selbst hatte einen
Doktortitel erworben imd war verheiratet.
Miß Lucy R., dreißig Jahre
Ende *1892 wies ein befreundeter Kollege eine junge Dame
an mich, die wegen chronisch wiederkehrender eitriger Rhinitiden
in seiner Behandlung stand. Wie sich später herausstellte, w^ar
eine Karies des Siebbeines die Ursache der Hartnäckigkeit ihrer
Beschwerden. Zuletzt hatte sich die Patientin an ihn wegen neuer
Symptome gewendet, die der kundige Arzt nicht mehr auf lokale
Affektion schieben konnte. Sie hatte die Geruchswahrnehmung völlig
eingebüßt und wurde von ein oder zwei subjektiven Geruchs¬
empfindungen fast unausgesetzt verfolgt. Sie empfand dieselben
sehr peinlich, war außerdem in ihrer Stimmung gedrückt, müde^
klagte über schweren Kopf, verminderte Eßlust und Leistungs¬
fähigkeit.
Die junge Dame, die als Gouvernante im Hause eines Fabrik¬
direktors im erweiterten Wien lebte, besuchte mich von Zeit zu
Zeit in meiner Ordinationsstunde. Sie war Engländerin, von zarter
Konstitution, pigmentarm, bis auf die Affektion der Nase gesund.
Ihre ersten Mitteilungen bestätigten die Angaben des Arztes. Sie litt
an Verstimmung und Müdigkeit, wurde von subjektiven Geruchs¬
empfindungen gequält, zeigte von hysterischen Symptomen eine
ziemlich deutliche allgemeine Analgesie bei intakter Tastempfind¬
lichkeit, die Gesichtsfelder ergaben bei grober Prüfung (mit der
Hand) keine Einschränkung. Das Innere der Nase war vollkommen
analgisch und reflexlos. Berührungen wurden verspürt, die Wahr-
Studien über Hysterie
nehmung dieses Sinnesorganes war sowohl für spezifische wie für
andere Reize (Ammoniak, Essigsäure) aufgehoben. Der eitrige Nasen¬
katarrh befand sich eben in einer Periode der Besserung.
Bei dem ersten Bemühen, den Krankheitsfall verständlich zu
machen, mußten sich die subjektiven Geruchsempfindungen als
wiederkehrende Halluzinationen der Deutung von hysterischen
Dauersymptomen fügen. Die Verstimmung war vielleicht der zu
dem Trauma gehörige Affekt, und es mußte sich ein Erlebnis
finden lassen, bei dem diese jetzt subjektiv gewordenen Gerüche
objektiv gewesen waren, dieses Erlebnis mußte das Trauma sein,
als dessen Symbole in der Erinnerung die Geruchsempfindungen
wiederkehrten. Vielleicht war es richtiger, die wiederkehrenden
Geruchshalluzinationen, samt der sie begleitenden Verstimmung,
als Äquivalente des hysterischen Anfalles zu betrachten 5 die Natur
wiederkehrender Halluzinationen macht sie ja zur Rolle von
Dauersymptomen ungeeignet. Darauf kam es in diesem rudimentär
ausgebildeten Falle wirklich nicht an^ durchaus erforderlich war
aber, daß die subjektiven Geruchsempfindungen eine solche Spe¬
zialisierung zeigten, wie sie ihrer Herkunft von einem ganz be¬
stimmten realen Objekt entsprechen konnte.
Diese Erwartung erfüllte sich alsbald. Auf meine Frage, was
für ein Geruch sie zumeist verfolge, erhielt ich die Antwort: wie
von verbrannter Mehlspeise. Ich brauchte also nur anzunehmen,
es sei wirklich der Geruch verbrannter Mehlspeise, der in dem
traumatisch wirksamen Erlebnisse vorgekommen sei. Daß Geruchs¬
empfindungen zu Erinnerungssymbolen von Traumen gewählt
werden, ist zwar recht ungewöhnlich, allein es lag nahe, einen
Grund für diese Auswahl anzugeben. Die Kranke war mit eitriger
Rhinitis behaftet, darum die Nase und deren Wahrnehmungen
im Vordergründe ihrer Aufmerksamkeit. Von den Lebensverhält-
nissen der Kranken wußte ich nur, daß in dem Hause, dessen
zwei Kinder sie behütete, die Mutter fehlte, die vor einigen Jahren
^n akuter schwerer Erkrankung gestorben war.
Miß Lucy R.
91
Ich beschloß also, den Geruch nach „verbrannter Mehlspeise^^
zum Ausgangspunkte der Analyse zu machen. Die Geschichte
dieser Analyse will ich so erzählen, wie sie unter günstigen Ver¬
hältnissen hätte vorfallen können^ tatsächlich dehnte sich, was eine
einzige Sitzung hätte werden sollen, auf mehrere aus, da die
Kranke mich nur in der Sprechstunde besuchen konnte, wo ich
ihr wenig Zeit zu widmen hatte, und zog sich ein einziges solches
Gespräch über mehr als eine Woche, da ihre Pflichten ihr auch
nicht gestatteten, den weiten Weg von der Fabrik zu mir so oft
zu machen. Wir brachen also mitten in der Unterredung ab, um
nächstesmal den Faden an der nämlichen Stelle wieder aufzu¬
nehmen.
Miß Lucy R. wurde nicht somnambul, als ich sie in Hypnose
zu versetzen versuchte. Ich verzichtete also auf den Somnambu¬
lismus und machte die ganze Analyse mit ihr in einem Zustande
durch, der sich vom normalen vielleicht überhaupt wenig unter¬
schied.
Ich muß mich über diesen Punkt in der Technik meines Ver¬
fahrens eingehender äußern. Als ich im Jahre 1889 die Kliniken
von Nancy besuchte, hörte ich den Altmeister der Hypnose, den
Dr. Lidbeault, sagen: „Ja, wenn wir die Mittel besäßen, jeder¬
mann somnambul zu machen, wäre die hypnotische Heilmethode
die mächtigste von allen.^^ Auf der Klinik Bernheims schien es
fast, als gäbe es wirklich eine solche Kunst und als könnte man
sie von Bernheim lernen. Sobald ich aber diese Kunst an meinen
eigenen Kranken zu üben versuchte, merkte ich, daß wenigstens
meinen Kräften in dieser Hinsicht enge Schranken gezogen seien
und daß, wo ein Patient nicht nach ein bis drei Versuchen som¬
nambul wurde, ich auch kein Mittel besaß, ihn dazu zu machen.
Der Prozentsatz der Somnambulen blieb aber in meiner Erfahrung
weit hinter dem von Bernheim angegebenen zurück.
So stand ich vor der Wahl, entweder die kathartische Methode
in den meisten Fällen, die sich dazu eignen mochten, zu unter-
92
Studien über Hysterie
lassen oder den Versuch zu wagen, sie außerhalb des Somnambu¬
lismus in leichten und selbst in zweifelhaften Fällen von hypno¬
tischer Beeinflussung auszuüben. Welchem Grade von Hypnose —
nach einer der hiefür aufgestellten Skalen — der nicht som¬
nambule Zustand entsprach, schien mir gleichgültig, da ja jede
Richtung der Suggerierbarkeit von der anderen ohnedies unab¬
hängig ist, und die Hervorrufung von Katalepsie, automatischen
Bewegungen u. dgl. für eine Erleichterung in der Erweckung
von vergessenen Erinnerungen, wie ich sie brauchte, nichts prä-
judiziert. Ich gewöhnte mir auch bald die Vornahme jener Ver¬
suche ab, welche den Grad der Hypnose bestimmen sollen, da
diese in einer ganzen Reihe von Fällen den Widerstand der
Kranken rege machten und mir das Zutrauen trübten, das ich
für die wichtigere psychische Arbeit brauchte. Überdies war ich
bald müde geworden, auf die Versicherung und den Befehl: „Sie
werden schlafen, schlafen Sie!“ immer wieder bei leichteren Graden
von Hypnose den Einspruch zu hören: „Aber, Herr Doktor, ich
schlafe ja nicht“, um dann die allzu heikle Unterscheidung Vor¬
bringen zu müssen: „Ich meine ja nicht den gewöhnlichen Schlaf,
ich meine die Hypnose. Sehen Sie, Sie sind hypnotisiert, Sie
können ja die Augen nicht öffnen u. dgl. Übrigens brauche ich
den Schlaf gar nicht“ u. dgl. Ich bin selbst überzeugt, daß viele
meiner Kollegen in der Psychotherapie sich aus diesen Schwierig¬
keiten geschickter zu ziehen wissen als ich 5 die mögen dann auch
anders verfahren. Ich finde aber, wenn man in solcher Häufigkeit
darauf rechnen darf, sich durch den Gebrauch eines Wortes Ver¬
legenheit zu bereiten, tut man besser daran, dem Worte und der
Verlegenheit aus dem Wege zu gehen. Wo also der erste Versuch
nicht Somnambulismus oder einen Grad von Hypnose mit aus¬
gesprochenen körperlichen Veränderungen ergab, da ließ ich die
Hypnose scheinbar fallen, verlangte nur „Konzentration“ und
ordnete die Rückenlage und willkürlichen* Verschluß der Augen
als Mittel zur Erreichung dieser „Konzentration“ an. Ich mag
Miß Lucy R,
93
dabei mit leichter Mühe zu so tiefen Graden der Hypnose ge¬
langt sein, als es überhaupt erreichbar war.
Indem ich aber auf den Somnambulismus verzichtete, beraubte
ich mich vielleicht einer Vorbedingung, ohne welche die kathar-
tische Methode unanwendbar schien. Sie beruhte ja darauf, daß
die Kranken in dem veränderten Bewußtseinszustande solche Er¬
innerungen zur Verfügung hatten und solche Zusammenhänge
erkannten, die in ihrem normalen Bewußtseinszustande angeblich
nicht vorhanden waren. Wo die somnambule Erweiterung des
Gedächtnisses wegfiel, mußte auch die Möglichkeit ausbleiben, eine
Kausalbestimmung herzustellen, die der Kranke dem Arzte nicht
als eine ihm bekannte entgegenbrachte, und gerade die patho¬
genen Erinnerungen sind es ja, „die dem Gedächtnisse der Kranken
in ihrem gewöhnlichen psychischen Zustande fehlen oder nur
höchst summarisch darin vorhanden sind“. (Vorl. Mitteilung.)
Aus dieser neuen Verlegenheit half mir die Erinnerung, daß
ich Bernheim selbst den Beweis hatte erbringen sehen, die Er¬
innerungen des Somnambulismus seien im Wachzustände nur
scheinbar vergessen und ließen sich durch leichtes Mahnen, ver¬
knüpft mit einem Handgriffe, der einen anderen Bewußtseins¬
zustand markieren sollte, wieder hervorrufen. Er hatte z. B. einer
Somnambulen die negative Halluzination erteilt, er sei nicht mehr
anwesend, hatte sich dann auf die mannigfaltigsten Weisen und
durch schonungslose Angriffe ihr bemerkbar zu machen ver¬
sucht. Es war nicht gelungen. Nachdem die Kranke erweckt
war, verlangte er zu wissen, was er mit ihr vorgenommen,
während sie geglaubt habe, er sei nicht da. Sie gab erstaunt
zur Antwort, sie wisse von nichts, aber er gab nicht nach, be¬
hauptete, sie würde sich an alles erinnern, legte ihr die Hand
auf die Stirne, damit sie sich besänne, und siehe da, sie erzählte
endlich alles, was sie im somnambulen Zustande angeblich nicht
wahrgenommen und wovon sie im Wachzustände angeblich nichts
gewußt hatte.
94
Studien über Hysterie
Dieser erstaunliche und lehrreiche Versuch war mein Vorbild.
Ich beschloß, von der Voraussetzung auszugehen, daß meine
Patientin alles, was irgend von pathogener Bedeutung war, auch
wußte, und daß es sich nur darum handle, sie zum Mitteilen zu
nötigen. Wenn ich also zu einem Punkte gekommen war, wo
ich auf die Frage: „Seit wann haben Sie dies Symptom?“ oder
„Woher rührt es?“ die Antwort bekam: „Das weiß ich wirklich
nicht“, so verfuhr ich folgendermaßen: Ich legte der Kranken
die Hand auf die Stirne oder nahm ihren Kopf zwischen meine
beiden Hände und sagte: „Es wird Ihnen jetzt einfallen unter
dem Drucke meiner Hand. Im Augenblicke, da ich mit dem
Drucke aufhöre, werden Sie etwas vor sich sehen oder wird Ihnen
etwas als Einfall durch den Kopf gehen und das greifen Sie auf.
Es ist das, was wir suchen. — Nun, was haben Sie gesehen oder
was ist Ihnen eingefallen?“
Als ich dieses Verfahren die ersten Male an wendete (es war
nicht bei Miß Lucy R.), war ich selbst erstaunt, daß es mir ge¬
rade das lieferte, was ich brauchte, und ich darf sagen, es hat
mich seither kaum jemals im Stiche gelassen, hat mir immer den
Weg gezeigt, den meine Ausforschung zu gehen hatte, und hat
mir ermöglicht, jede derartige Analyse ohne Somnambulismus zu
Ende zu führen. Ich wurde allmählich so kühn, daß ich den
Patienten, die zur Antwort gaben: „Ich sehe nichts“ oder: „Mir
ist nichts eingefallen“, erklärte: das sei nicht möglich. Sie hätten
gewiß das Richtige erfahren, nur glaubten sie nicht daran, daß
es das sei, und hätten es verworfen. Ich würde die Prozedur
wiederholen, so oft sie wollten, sie würden jedesmal dasselbe sehen.
Ich behielt in der Tat jedesmal recht, die Kranken hatten noch
nicht gelernt, ihre Kritik ruhen zu lassen, hatten die auftauchende
Erinnerung oder den Einfall verworfen, weil sie ihn für un¬
brauchbar, für eine dazwischenkommende Störung hielten, und
nachdem sie ihn mitgeteilt hatten, ergab es sich jedesmal, daß
es der richtige war. Gelegentlich bekam ich auch die Antwort,
Miß Lucy R.
95
wenn ich die Mitteilung nach dem dritten oder vierten Druck
erzwungen hatte: „Ja, das habe ich schon beim ersten Male ge¬
wußt, aber gerade das habe ich nicht sagen wollen“, oder „Ich
habe gehofft, das wird es nicht sein.“
Mühevoller war diese Art, das angeblich verengte Bewußtsein
zu erweitern, immerhin weit mehr als das Ausforschen im Som¬
nambulismus, aber sie machte mich doch vom Somnambulismus
unabhängig und gestattete mir eine Einsicht in die Motive, die
häufig für das „Vergessen“ von Erinnerungen ausschlaggebend
sind. Ich kann behaupten, dieses Vergessen ist oft ein beabsich¬
tigtes, gewünschtes. Es ist immer ein nur scheinbar gelungenes.
Vielleicht noch merkwürdiger ist mir erschienen, daß man an¬
geblich längst vergessene Zahlen und Daten durch ein ähnliches
Verfahren wiederbringen und so eine unvermutete Treue des
Gedächtnisses erweisen kann.
Die geringe Auswahl, die man bei der Suche nach Zahlen und
Daten hat, gestattet nämlich, den aus der Lehre von der Aphasie
bekannten Satz zur Hilfe zu nehmen, daß Erkennen eine geringere
Leistung des Gedächtnisses ist als sich spontan besinnen.
Man sagt also dem Patienten, der sich nicht erinnern kann, in
welchem Jahre, Monate und an welchem Tage ein gewisses Ereignis
vorfiel, die Jahreszahlen, um die es sich handeln kann, die zwölf
Monatsnamen, die einunddreißig Zahlen der Monatstage vor und
versichert ihm, daß bei der richtigen Zahl oder beim richtigen
Namen sich seine Augen von selbst öffnen würden, oder daß er
dabei fühlen werde, welche Zahl die richtige sei. In den aller¬
meisten Fällen entscheiden sich dann die Kranken wirklich für
ein bestimmtes Datum und häufig genug (so bei Frau Cäcilie N.)
ließ sich durch vorhandene Aufzeichnungen aus jener Zeit nach-
weisen, daß das Datum richtig erkannt war. Andere Male und
bei anderen Kranken ergab sich aus dem Zusammenhänge der
erinnerten Tatsachen, daß das so gefundene Datum unanfechtbar
war. Die Kranke bemerkte zum Beispiel, nachdem man ihr das
96
Studien über Hysterie
durch „Auszählen^^ gewonnene Datum vorgehalten hatte: „Das
ist ja der Geburtstag des Vaters‘^ und setzte dann fort: „Ja gewiß,
weil es der Geburtstag des Vaters war, habe ich ja das Ereignis,
von dem wir sprachen, erwartet.“
Ich kann dieses Thema hier nur streifen. Der Schluß, den ich
aus all diesen Erfahrungen zog, war der, daß die als pathogen
wichtigen Erlebnisse mit all ihren Nebenumständen treulich
vom Gedächtnisse festgehalten werden, auch wo sie vergessen
scheinen, wo dem Kranken die Fähigkeit fehlt, sich auf sie zu
besinnen.^
i) Ich will als Beispiel für die oben geschilderte Technik des Ausforschens im
nicht somnambulen Zustande, also bei nicht erweitertem Bewußtsein, einen Fall er-
2ählen, den ich gerade in den letzten Tagen analysiert habe. Ich behandle eine Frau
von achtunddreißig Jahren, die an Angstneurose (Agoraphobie, Todesangstanfällen
u. dgl.) leidet. Sie hat, wie so viele dieser Kranken, eine Abneigung zuzugestehen,
daß sie dieses Leiden in ihrem ehelichen Leben akquiriert hat, und möchte es gerne
in ihre frühe Jugend Zurückscliieben. So berichtet sie mir, daß sie als siebzehnjähriges
Mädchen den ersten Anfall von Schwindel mit Angst und Ohnmachtsgefühl auf der
Straße ihrer kleinen Heimatstadt bekommen hat und daß diese Anfälle sich zeitweise
wiederholt haben, bis sie vor wenigen Jahren dem jetzigen Leiden den Platz räumten.
Ich vermute, daß diese ersten Schwindelanfälle, bei denen sich die Angst immer mehr
verwischte, hysterische waren, und beschließe, in die Analyse derselben einzugehen. Sie
weiß zunächst nur, daß dieser erste Anfall sie überfiel, während sie ausgegangen war,
in den Läden der Hauptstraße Einkäufe zu machen. — Was wollten Sie denn einkaufen?
Verschiedenes, ich glaube, für einen Ball, zu dem ich eingeladen war. — Wann sollte
dieser Ball stattfinden? — Es kommt mir vor, zwei Tage später. — Da muß doch
einige Tage vorher etwas vorgefallen sein, was Sie aufregte, was Ihnen einen
Eindruck machte. — Ich weiß aber nichts, es sind einundzwanzig Jahre her. — Das
macht nichts. Sie werden sich doch erinnern. Ich drücke auf Ihren Kopf, und wenn
ich mit dem Druck nachlasse, werden Sie an etwas denken oder werden etwas sehen;
das sagen Sie dann .... Ich nehme die Prozedur vor ; sie schweigt aber. — Nun,
ist Ihnen nichts eingefallen ? — Ich habe an etwas gedacht, aber das kann doch
keinen Zusammenhang damit haben. — Sagen Sie’s nur. — Ich habe an eine Freundin
gedacht, ein junges Mädchen, die gestorben ist; aber die ist gestorben, wie ich
achtzehn Jahre alt war, also ein Jahr später. — Wir werden sehen, bleiben wir jetzt
dabei. — Was war mit dieser Freundin? — Ihr Tod hat mich sehr erschüttert, weil
ich viel mit ihr verkehrte. Einige Wochen vorher war ein anderes junges Mädchen
gestorben, das hat viel Aufsehen in der Stadt gemacht; also dann war es doch, wie
ich siebzehn Jahre alt war. — Sehen Sie, ich habe Ihnen gesagt, man kann sich auf
die Dinge verlassen, die einem imter dem Drucke der Hand einfallen. Nun erinnern
Sie sich, was für ein Gedanke war dabei, als Sie den Schwindelanfall auf der Straße
bekamen ? — Es war gar kein Gedanke dabei, nur ein Schwindel. — Das ist nicht
möglich, solche Zustände gibt es nicht ohne eine begleitende Idee. Ich werde wieder
drücken, und der Gedanke von damals wird Ihnen wiederkommen. — Also was ist
Miß Lucy R.
97
Ich kehre nach dieser langen, aber unabweisbaren Abschweifung
zur Geschichte von Miß Lucy R. zurück. Sie wurde also beim
Versuche der Hypnose nicht somnambul, sondern lag bloß ruhig
da in irgend einem Grade leichterer Beeinflussung, die Augen
stetig geschlossen, die Miene etwas starr, ohne mit einem Gliede
zu rühren. Ich fragte sie, ob sie sich erinnere, bei welchem An-
lasse die Geruchsempfindung der verbrannten Mehlspeise entstanden
Ihnen eingefallen? — Mir ist eingefallen : Jetzt bin ich die Dritte. — Was heißt
das? — Ich muß bei dem Schwindelanfall gedacht haben: Jetzt sterbe ich auch wie
die beiden andern jungen Mädchen. — Das war also die Idee ; Sie haben bei dem
Anfall an die Fretmdin gedacht. Da muß Ihnen also ihr Tod einen großen Eindruck
gemacht haben. — Ja gewiß, ich erinnere mich jetzt, wie ich von dem Todesfälle
gehört habe, war es mir schrecklich, daß ich auf einen Ball gehen soll, während
sie tot ist. Aber ich habe mich so auf den Ball gefreut und war so beschäftigt mit
der Einladung ; ich habe gar nicht an das traurige Ereignis denken wollen. (Man
bemerke hier die absichtliche Verdrängung aus dem Bewußtsein, welche die Erinne¬
rung an die Freundin pathogen macht.)
Der Anfall ist jetzt einigermaßen aufgeklärt, ich bedarf aber noch eines okka¬
sionellen Momentes, welches die Erinnermig gerade damals provoziert, und bilde mir
darüber eine zufällig glückliche Vermutung. — Sie erinnern sich genau, durch welche
Straße Sie damals gegangen sind ? — Freilich, die Hauptstraße mit ihren alten
Häusern, ich sehe sie vor'mir. — Nun, und wo hatte die Freundin gewohnt? — In
derselben Straße, ich war eben vorbeigegangen, zwei Häuser weiter ist mir der An¬
fall gekommen. — Dann hat sie also das Haus, während Sie vorbeigingen, an die
tote Freundin erinnert und der Kontrast, von dem Sie damals nichts wissen wollten,
Sie neuerdings gepackt.
Ich gebe mich noch immer nicht zufrieden. Vielleicht war doch noch etwas anderes
im Spiele, was bei dem bis dahin normalen Mädchen die hysterische Disposition
wachgerufen oder verstärkt hat. Meine Vermutungen lenken sich auf das periodische
Unwohlsein als ein dazu geeignetes Moment, und ich frage : Wissen Sie, wann in dem
Monate die Periode kam ? — Sie wird unwillig : Das soll ich auch noch wissen ?
Ich weiß nur, sie war um diese Zeit sehr selten und sehr unregelmäßig. Wie ich
siebzehn Jahre alt war, hatte ich sie nur einmal. — Also, wir werden auszählen,
wann dieses eine Mal war. — Sie entscheidet sich beim Auszählen mit Sicherheit
für einen Monat und schwztnkt zwischen zwei Tagen unmittelbar vor einem Datum,
das einem fixen Festtag angehört. — Stimmt das irgendwie mit der Zeit des Balles ?
Sie antwortet kleinlaut: Der Ball war — an dem Feiertag. Und jetzt erinnere ich
mich auch, es hat mir einen Eindruck gemacht, daß die einzige Periode, die ich in
diesem Jalire hatte, gerade vor dem Balle kommen mußte. Es war der erste, zu dem
ich geladen war.
Man kann sich jetzt den Zusammenhang der Begebenheiten unschwer rekonstruieren
und sieht in den Mechanismus dieses hysterischen Anfalles hinein. Dieses Ergebnis
war freilich mühselig genug gewonnen und bedurfte des vollen Zutrauens in die
Technik von meiner Seite imd einzelner leitender Einfälle, um solche Einzelheiten
eines vergessenen Erlebnisses nach einundzwanzig Jahren bei einer ungläubigen,
eigentlich wachen Patientin wiederzuerwecken. Dann aber stimmte alles zusammen.
Freud, 1,
7
98
Stildien über Hysterie
sei. — O ja, das weiß ich ganz genau. Ks war vor ungefähr
zwei Monaten, zwei Tage vor meinem Geburtstage. Ich war mit
den Kindern im Schulzimmer und spielte mit ihnen (zwei
Mädchen) Kochen, da wurde ein Brief hereingebracht, den der
Briefträger eben abgegeben hatte. Ich erkannte an Poststempel
und Handschrift, daß der Brief von meiner Mutter in Glasgow
sei, wollte ihn öffnen und lesen. Da kamen die Kinder auf mich los¬
gestürzt, rissen mir den Brief aus der Hand und riefen: Nein, du
darfst ihn jetzt nicht lesen, er ist gewiß für deinen Geburtstag,
wir werden ihn dir aufheben. Während die Kinder so um mich
spielten, verbreitete sich plötzlich ein intensiver Geruch. Die
Kinder hatten die Mehlspeise, die sie kochten, im Stiche gelassen,
und die war angebrannt. Seit damals verfolgt mich dieser Geruch,
er ist eigentlich immer da und wird stärker bei Aufregung.
Sie sehen diese Szene deutlich vor sich? — Greifbar, wie ich sie
erlebt habe. — Was konnte Sie denn daran so aufregen? — Es
rührte mich, daß die Kinder so zärtlich gegen mich waren. —
Waren sie das nicht immer? — Ja, aber gerade als ich den Brief
der Mutter bekam. — Ich verstehe nicht, inwiefern die Zärtlich¬
keit der Kleinen und der Brief der Mutter einen Kontrast er¬
geben haben sollen, den Sie doch anzudeuten scheinen. — Ich
hatte nämlich die Absicht, zu meiner Mutter zu reisen, und da
fiel es mir so schwer aufs Herz, diese lieben Kinder zu verlassen.
— Was ist’s mit Ihrer Mutter? Lebt sie wohl so einsam und hat
Sie zu sich beschieden? Oder war sie krank um diese Zeit und
Sie erwarteten Nachricht von ihr? — Nein, sie ist kränklich,
aber nicht gerade krank und hat eine Gesellschafterin bei sich. —
Warum mußten Sie also die Kinder verlassen? — Es war im
Hause nicht mehr auszuhalten. Die Haushälterin, die Köchin und
die Französin scheinen geglaubt zu haben, daß ich mich in meiner
Stellung überhebe, haben sich zu einer kleinen Intrige gegen
mich vereinigt, dem Großpapa (der Kinder) alles mögliche über
mich hinterbracht, und ich fand an den beiden Herren nicht die
Miß Lucy R,
99
Stütze, die ich erwartet hatte, als ich bei ihnen Klage führte.
Darauf habe ich dem Herrn Direktor (dem Vater der Kinder)
meine Demission angeboten, er antwortete sehr freundlich, ich
sollte es mir doch zwei Wochen überlegen, ehe ich ihm meinen
definitiven Entschluß mitteilte. In dieser Zeit der Schwebe war
ich damals 5 ich glaubte, ich würde das Haus verlassen. Ich bin
seither geblieben. — Und fesselte Sie etwas Besonderes an die
Kinder außer deren Zärtlichkeit gegen Sie? — Ja, ich hatte der
Mutter, die eine entfernte Verwandte meiner Mutter war, auf
ihrem Totenbette versprochen, daß ich mich der Kleinen mit allen
Kräften annehmen, daß ich sie nicht verlassen und ihnen die
Mutter ersetzen werde. Dieses Versprechen hatte ich gebrochen,
als ich gekündigt hatte.
So schien denn die Analyse der subjektiven Geruchsempfindung
vollendet^ dieselbe war in der Tat dereinst eine objektive gewesen,
und zwar innig assoziiert mit einem Erlebnisse, einer kleinen Szene,
in welcher widerstreitende Affekte einander entgegengetreten waren,
das Bedauern, diese Kinder zu verlassen, und die Kränkungen,
welche sie doch zu diesem Entschlüsse drängten. Der Brief der
Mutter hatte sie begreiflicherweise an die Motive zu diesem Ent¬
schlüsse erinnert, da sie von hier zu ihrer Mutter zu gehen ge¬
dachte. Der Konflikt der Affekte hatte den Moment zum Trauma
erhoben, und als Symbol des Traumas war ihr die damit ver¬
bundene Geruchsempfindung geblieben. Es bedurfte noch der Er¬
klärung dafür, daß sie von all den sinnlichen Wahrnehmungen
jener Szene gerade den einen Geruch zum Symbole ausgewählt
hatte. Ich war aber schon darauf vorbereitet, die chronische Er¬
krankung ihrer Nase für diese Erklärung zu verwerten. Auf mein
direktes Fragen gab sie auch an, sie hätte gerade zu dieser Zeit
wieder an einem so heftigen Schnupfen gelitten, daß sie kaum
etwas roch. Den Geruch der verbrannten Mehlspeise nahm sie
aber in ihrer Erregung doch wahr, er durchbrach die organisch
begründete Anosmie.
7*
100
, Studien über Hysterie
Ich gab mich mit der so erreichten Aufklärung nicht zufrieden.
Es klang ja alles recht plausibel, aber es fehlte mir etwas, ein an¬
nehmbarer Grund, weshalb diese Reihe von Erregungen und dieser
Widerstreit der Affekte gerade zur Hysterie geführt haben mußte.
Warum blieb das Ganze nicht auf dem Boden des normalen
psychischen Lebens? Mit anderen Worten, woher die Berechtigung
zu der hier vorliegenden Konversion? Warum erinnerte sie sich
nicht beständig an die Szene selbst, anstatt an die mit ihr ver¬
knüpfte Sensation, die sie als Symbol für die Erinnerung bevor¬
zugte? Solche Fragen mochten vorwitzig und überflüssig sein, wo
es sich um eine alte Hysterika handelte, welcher jener Mechanis¬
mus der Konversion habituell war. Dieses Mädchen hatte aber erst
bei diesem Trauma oder wenigstens bei dieser kleinen Leidens¬
geschichte Hysterie akquiriert.
Nun wußte ich bereits aus der Analyse ähnlicher Fälle, daß, w o
Hysterie neu akquiriert werden soll, eine psychische Bedingung
hiefür unerläßlich ist, nämlich daß eine Vorstellung absichtlich
aus dem Bewußtsein verdrängt, von der assoziativen Ver¬
arbeitung ausgeschlossen werde.
In dieser absichtlichen Verdrängung erblicke ich auch den
Grund für die Konversion der Erregungssumme, sei sie eine
totale oder partielle. Die Erregungssumme, die nicht in psychische
Assoziation treten soll, findet um so eher den falschen Weg zu
einer körperlichen Innervation. Grund der Verdrängung selbst
konnte nur eine Unlustempfindung sein, die Unverträglichkeit der
einen zu verdrängenden Idee mit der herrschenden Vorstellungs¬
masse des Ich. Die verdrängte Vorstellung rächt sich aber dadurch,
daß sie pathogen wird.
Ich zog also daraus, daß Miß Lucy R. in jenem Momente der
hysterischen Konversion verfallen war, den Schluß, daß unter den
Voraussetzungen jenes Traumas eine sein müsse, die sie absichtlich
im unklaren lassen wolle, die sie sich bemühe zu vergessen. Nahm
ich die Zärtlichkeit für die Kinder und die Empfindlichkeit gegen
Miß Lucy R.
101
die anderen Personen des Haushaltes zusammen, so ließ dies alles
nur eine Deutung zu. Ich hatte den Mut, der Patientin diese
Deutung mitzuteilen. Ich sagte ihr: „Ich glaube nicht, daß dies
alle Gründe für Ihre Empfindung gegen die beiden Kinder sind5
ich vermute vielmehr, daß Sie in Ihren Herrn, den Direktor,
verliebt sind, vielleicht, ohne es selbst zu wissen, daß Sie die
Hoffnung in sich nähren, tatsächlich die Stelle der Mutter einzu¬
nehmen, und dazu kommt noch, daß Sie so empfindlich gegen
die Dienstleute geworden sind, mit denen Sie jahrelang friedlich
zusammengelebt haben. Sie fürchten, daß diese etwas von Ihrer
Hoffnung merken und Sie darüber verspotten werden.
Ihre Antwort war in ihrer wortkargen Weise: Ja, ich glaube,
es ist so. — Wenn Sie aber wußten, daß Sie den Direktor lieben,
warum haben Sie es mir nicht gesagt ? — Ich wußte es ja nicht
oder besser, ich wollte es nicht wissen, wollte es mir aus dem
Kopfe schlagen, nie mehr daran denken, ich glaube, es ist mir auch
in der letzten Zeit gelungen.^
Warum wollten Sie sich diese Neigung nicht eingestehen?
Schämten Sie sich dessen, daß Sie einen Mann lieben sollten? —
O nein, ich bin nicht unverständig prüde, für Empfindungen
ist man ja überhaupt nicht verantwortlich. Es war mir nur darum
peinlich, weil es der Herr ist, in dessen Dienst ich stehe, in dessen
Haus ich lebe, gegen den ich nicht wie gegen einen andern die
1) Eine andere und bessere Schilderung des eigentümlichen Zustandes, in dem man
etwas weiß und gleichzeitig nicht weiß, konnte ich nie erzielen. Man kann das
offenbar nur verstehen, wenn man sich selbst in solch einem Zustande befunden hat.
Ich verfüge über eine sehr auffällige Erinnerung dieser Art, die mir lebhaft vor
Augen steht. Wenn ich mich bemühe, mich zu erinnern, was damals in mir vorging,
so ist meine Ausbeute recht armselig. Ich sah damals etwas, das mir gar nicht in
die Erwartimg paßte, und ließ mich durch das Gesehene nicht im mindesten in
meiner bestimmten Absicht beirren, während doch diese Wahrnehmung meine Ab¬
sicht hätte aufheben sollen. Ich wurde mir des Widerspruches nicht bewußt, tuid
ebensowenig merkte ich etwas von dem Affekt der Abstoßung, der doch unzweifel¬
haft schuld daran war, daß jene Wahrnehmung zu gar keiner psychischen Geltung
gelangte. Ich war mit jener Blindheit bei sehenden Augen geschlagen, die man an
Müttern gegen ihre Töchter, an Männern gegen ihre Ehefrauen, an Herrschern
gegen ihre Günstlinge so sehr bewundert.
102
Studien über Hysterie
volle Unabhängigkeit in mir fühle. Und weil ich ein armes Mäd¬
chen und er ein reicher Mann aus vornehmer Familie istj man
würde mich ja auslachen, wenn man etwas davon ahnte.
Ich finde nun keinen Widerstand, die Entstehung dieser Nei¬
gung zu beleuchten. Sie erzählt, sie habe die ersten Jahre arglos
in dem Hause gelebt und ihre Pflichten erfüllt, ohne auf un¬
erfüllbare Wünsche zu kommen. Einmal aber begann der ernste,
überbeschäftigte, sonst immer gegen sie reservierte Herr ein Ge¬
spräch mit ihr über die Erfordernisse der Kindererziehung. Er
wurde weicher und herzlicher als gewöhnlich, sagte ihr, wie sehr
er bei der Pflege seiner verwaisten Kinder auf sie rechne, und
blickte sie dabei besonders an . . . In diesem Momente begann
sie ihn zu lieben und beschäftigte sich selbst sehr gerne mit der er¬
freulichen Hoffnung, die sie aus jenem Gespräche geschöpft hatte.
Erst, als dann nichts mehr nachfolgte, als trotz ihres Wartens
und Harrens keine zweite Stunde von vertraulichem Gedanken¬
austausche kam, beschloß sie, sich die Sache aus dem Sinne zu
schlagen. Sie gibt mir ganz recht, daß jener Blick im Zusammen¬
hänge des Gespräches wohl dem Andenken seiner verstorbenen
Frau gegolten hat, ist sich auch völlig klar darüber, daß ihre
Neigung völlig aussichtslos ist.
Ich erwarte von diesem Gespräche eine gründliche Änderung
ihres Zustandes, diese blieb aber einstweilen aus. Sie war weiter¬
hin gedrückt und verstimmt 5 eine hydropathische Kur, die ich
sie gleichzeitig nehmen ließ, frischte sie des Morgens ein wenig
auf, der Geruch der verbrannten Mehlspeise war nicht völlig ge¬
schwunden, wohl aber seltener und schwächer geworden 5 er kam,
wie sie sagte, nur, wenn sie sehr aufgeregt war.
Das Fortbestehen dieses Erinnerungssymbols ließ mich vermuten,
daß dasselbe außer der Hauptszene die Vertretung der vielen
kleinen Nebentraumen auf sich genommen, und so forschten wir
denn nach allem, was sonst mit der Szene der verbrannten Mehl¬
speise in Zusammenhang stehen mochte, gingen das Thema der
Miß Lucy R.
105
häuslichen Reibungen, des Benehmens des Großvaters u. a. durch.
Dabei schwand die Empfindung des brenzlichen Geruches immer
mehr. Auch eine längere Unterbrechung fiel in diese Zeit, ver¬
ursacht durch neuerliche Erkrankung der Nase, die jetzt zur
Entdeckung der Karies des Siebbeines führte.
Als sie wiederkam, berichtete sie auch, daß Weihnachten ihr
so zahlreiche Geschenke von seiten der beiden Herren und selbst
von den Dienstleuten des Hauses gebracht habe, als ob alle be¬
strebt seien, sie zu versöhnen und die Erinnerung an die Kon¬
flikte der letzten Monate bei ihr zu verwischen. Dies offenkundige
Entgegenkommen habe ihr aber keinen • Eindruck gemacht.
Als ich wieder ein anderes Mal nach dem Gerüche der ver¬
brannten Mehlspeise fragte, bekam ich die Auskunft, der sei zwar
ganz geschwunden, allein an seiner Stelle quäle sie ein anderer
und ähnlicher Geruch, wie von Zigarrenrauch. Derselbe sei wohl
auch früher dagewesen, aber wie gedeckt durch den Geruch der
Mehlspeise. Jetzt sei er rein hervorgetreten.
Ich war nicht sehr befriedigt von dem Erfolge meine Therapie.
Da war also eingetroffen, was man einer bloß symptomatischen
Therapie immer zur Last legt, man hatte ein Symptom weg¬
genommen, bloß damit ein neues an die freie Stelle rücken
könne. Indes machte ich mich bereitwillig an die analytische Be¬
seitigung dieses neuen Erinnerungssymbols.
Diesmal wußte sie aber nicht, woher die subjektive Geruchs¬
empfindung stamme, bei welcher wichtigen Gelegenheit sie eine
objektive gewesen sei. „Es wird täglich geraucht bei uns,“ meinte
sie, „ich weiß wirklich nicht, ob der Geruch, den ich verspüre,
eine besondere Gelegenheit bedeutet.“ Ich beharrte nun darauf,
daß sie versuche, sich unter dem Drucke meiner Hand zu er¬
innern. Ich habe schon erwähnt, daß ihre Erinnerungen plasti¬
sche Lebhaftigkeit hatten, daß sie eine „Visuelle“ war. In der *
Tat tauchte unter meinem Drängen ein Bild in ihr auf, anfangs
zögernd und nur stückweise. Es war das Speisezimmer ihres
104
Studien über Hysterie
Hauses, in dem sie mit den Kindern wartet, bis die Herren aus
der Fabrik zum Mittagmahl kommen. — Jetzt sitzen wir alle um
den Tisch herum: die Herren, die Französin, die Haushälterin,
die Kinder und ich. Das ist aber wie alle Tage. — Sehen Sie
nur weiter auf das Bild hin, es wird sich entwickeln und speziali¬
sieren. — Ja, es ist ein Gast da, der Oberbuchhalter, ein alter Herr,
der die Kinder liebt wie eigene Enkel, aber der kommt so oft zu
Mittag, das ist auch nichts Besonderes. — Haben Sie nur Geduld,
blicken Sie nur auf das Bild, es wdrd gewiß etwas Vorgehen. —
Es geht nichts vor. Wir stehen vom Tische auf, die Kinder
sollen sich verabschieden und gehen dann mit uns wie alle Tage
in den zweiten Stock. — Nun? — Es ist doch eine besondere
Gelegenheit, ich erkenne die Szene jetzt. Wie die Kinder sich
verabschieden, will der Oberbuchhalter sie küssen. Der Herr fahrt
auf und schreit ihn geradezu an: „Nicht die Kinder küssen.^^
Dabei gibt es mir einen Stich ins Herz, und da die Herren
schon rauchen, bleibt mir der Zigarrenrauch im Gedächtnis.
Dies war also die zweite, tieferliegende Szene, die als Trauma
gewirkt und ein Erinnerungssymbol hinterlassen hatte. Woher
rührte aber die Wirksamkeit dieser Szene? — Ich fragte: Was
ist der Zeit nach früher, diese Szene oder die mit der verbrannten
Mehlspeise? — Die letzte Szene ist die frühere, und zwar um
fast zwei Monate. — Warum hat es Ihnen denn einen Stich bei
dieser Abwehr des Vaters gegeben? Der Verweis richtete sich doch
nicht gegen Sie? — Es war doch nicht recht, einen alten Herrn
so anzufahren, der ein lieber Freund und noch dazu Gast ist.
Man kann das ja auch ruhig sagen. — Also hat Sie nur die
heftige Form Ihres Herrn verletzt? Haben Sie sich vielleicht für
ihn geniert oder haben Sie gedacht, wenn er wiegen einer solchen
Kleinigkeit so heftig sein kann mit einem alten Freunde und
Gaste, wie wäre er es erst mit mir, wenn ich seine Frau wäre? —
Nein, das ist es nicht. — Es war aber doch wegen der Heftig¬
keit? — Ja, wegen des Küssens der Kinder, das hat er nie
Miß Lucy Ä.
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gemocht. — Und nun taucht wieder unter dem Drucke meiner
Hand die Erinnerung an eine noch ältere Szene auf, die das
eigentlich wirksame Trauma war und die auch der Szene mit
dem Oberbuchhalter die traumatische Wirksamkeit verliehen hatte.
Es hatte sich wieder einige Monate vorher zugetragen, daß eine
befreundete Dame auf Besuch kam, die beim Abschiede beide
Kinder auf den Mund küßte. Der Vater, der dabei stand, über¬
wand sich wohl, der Dame nichts zu sagen, aber nach ihrem
Fortgehen brach sein Zorn über die unglückliche Erzieherin los.
Er erklärte ihr, er mache sie dafür verantwortlich, wenn jemand
die Kinder auf den Mund küsse, es sei ihre Pflicht, es nicht zu
dulden, und sie sei pflichtvergessen, wenn sie es zulasse. Wenn
es noch einmal geschähe, würde er die Erziehung der Kinder
anderen Händen anvertrauen. Es war die Zeit, als sie sich noch
geliebt glaubte und auf eine Wiederholung jenes ersten freund¬
lichen Gespräches wartete. Diese Szene knickte ihre Hoffnungen.
Sie sagte sich: wenn er wegen einer so geringen Sache, und wo
ich überdies ganz unschuldig bin, so auf mich losfahren kann,
mir solche Drohungen sagen kann, so habe ich mich geirrt, so
hat er nie eine wärmere Empfindung für mich gehabt. Die würde
ihn Rücksicht gelehrt haben. — Offenbar war es die Erinnerung
an diese peinliche Szene, die ihr kam, als der Oberbuchhalter
die Kinder küssen wollte und dafür vom Vater zurechtgewiesen
wurde.
Als Miß Lucy mich zwei Tage nach dieser letzten Analyse
wieder besuchte, mußte ich sie fragen, was mit ihr Erfreuliches
vorgegangen sei.
Sie war wie verwandelt, lächelte und trug den Kopf hoch.
Einen Augenblick dachte ich daran, ich hätte doch die Verhält¬
nisse irrig beurteilt und aus der Gouvernante der Kinder sei jetzt
die Braut des Direktors geworden. Aber sie wehrte meine Ver¬
mutungen ab: „Es ist gar nichts vorgegangen. Sie kennen mich
eben nicht. Sie haben mich nur krank und verstimmt gesehen.
io6
Studien über Hysterie
Ich bin sonst immer so heiter. Wie ich gestern früh erwacht bin,
war der Druck von mir genommen und seither bin ich wohl.‘^ —
Und wie denken Sie über Ihre Aussichten im Hause? — Ich bin
ganz klar, ich weiß, daß ich keine habe, und werde nicht un¬
glücklich darüber sein. — Und werden Sie sich jetzt mit den
Hausleuten vertragen? — Ich glaube, da hat meine Empfindlich¬
keit das meiste dazu getan. — Und lieben Sie den Direktor
noch? — Gewiß, ich liebe ihn, aber das macht mir weiter nichts.
Man kann ja bei sich denken und empfinden, was man will.
Ich untersuchte jetzt ihre Nase und fand die Schmerz- und
Reflexempfindlichkeit fast völlig wiedergekehrt, sie unterschied
auch Gerüche, aber unsicher und nur, wenn sie intensiver waren.
Ich muß aber dahingestellt lassen, inwieweit an dieser Anosmie
die Erkrankung der Nase beteiligt war.
Die ganze Behandlung hatte sich über neun Wochen erstreckt.
Vier Monate später traf ich die Patientin zufällig in einer unserer
Sommerfrischen. Sie war heiter und bestätigte die Fortdauer ihres
W ohlbefindens.
Epikrise
Ich möchte den hier erzählten Krankheitsfall nicht gering
schätzen, wenngleich er einer kleinen und leichten Hysterie ent¬
spricht und nur über wenige Symptome verfügt. Vielmehr er¬
scheint es mir lehrreich, daß auch eine solche, als Neurose arm¬
selige Erkrankung so vieler psychischer Voraussetzungen bedarf,
und bei eingehenderer Würdigung dieser Krankengeschichte bin
ich versucht, sie als vorbildlich für einen Typus der Hysterie hin¬
zustellen, nämlich für die Form von Hysterie, die auch eine nicht
hereditär belastete Person durch dazu geeignete Erlebnisse er¬
werben kann. Wohlgemerkt, ich spreche nicht von einer Hysterie,
die unabhängig von jeder Disposition wäre5 eine solche gibt es
wahrscheinlich nicht, aber von solcher Art von Disposition sprechen
^vir erst, wenn die Person hysterisch geworden ist, sie ist vorher
Miß Lucy R.
107
durch nichts bezeugt gewesen. Neuropathische Disposition, wie
man sie gewöhnlich versteht, ist etwas anderes; sie ist bereits vor
der Erkrankung durch das Maß hereditärer Belastung oder die
Summe individueller psychischer Abnormitäten bestimmt. Von
diesen beiden Momenten war bei Miß Lucy R., soweit ich unter¬
richtet bin, nichts nachzuweisen. Ihre Hysterie darf also eine
akquirierte genannt werden und setzt nichts weiter voraus als
die wahrscheinlich sehr verbreitete Eignung — Hysterie zu akqui¬
rieren, deren Charakteristik wir noch kaum auf der Spur sind.
In solchen Fällen fällt aber das Hauptgewicht auf die Natur des
Traumas, natürlich im Zusammenhalte mit der Reaktion der Person
gegen das Trauma. Es zeigt sich als unerläßliche Bedingung für
die Erwerbung der Hysterie, daß zwischen dem Ich und einer
an dasselbe herantretenden Vorstellung das Verhältnis der Unver¬
träglichkeit entsteht. Ich hoffe, an anderer Stelle zeigen zu können,
wie verschiedene neurotische Störungen aus den verschiedenen
Verfahren hervorgehen, welche das „Ich“ einschlägt, um sich von
jener Unverträglichkeit zu befreien. Die hysterische Art der Ab¬
wehr — zu welcher eben eine besondere Eignung erfordert wird —
besteht nun in der Konversion der Erregung in eine körper¬
liche Innervation, und der Gewinn dabei ist der, daß die unver¬
trägliche Vorstellung aus dem Ichbewußtsein gedrängt ist. Dafür '
enthält das Ichbewußtsein die durch Konversion entstandene körper¬
liche Reminiszenz — in unserem Falle die subjektiven Geruchs¬
empfindungen — und leidet unter dem Affekt, der sich mehr
oder minder deutlich gerade an diese Reminiszenzen knüpft. Die
Situation, die so geschaffen wird, ist nun nicht weiter veränder¬
lich, da durch Verdrängung und Konversion der Widerspruch auf¬
gehoben ist, der zur Erledigung des Affekts aufgefordert hätte.
So entspricht der Mechanismus, der die Hysterie erzeugt, einerseits
einem Akte moralischer Zaghaftigkeit, anderseits stellt er sich als
eine Schutzeinrichtung dar, die dem Ich zu Gebote steht. Es gibt
Fälle genug, in denen man zugestehen muß, die Abwehr des
io8
Studien über Hysterie
Erregungszuwachses durch Produktion von Hysterie sei auch der¬
malen das zweckmäßigste gewesen^ häufiger wird man natürlich
zum Schlüsse gelangen, daß ein größeres Maß von moralischem
Mute ein Vorteil für das Individuum gewesen wäre.
Der eigentlich traumatische Moment ist demnach jener, in dem
der Widerspruch sich dem Ich auf drängt und dieses die Verweisung
der widersprechenden Vorstellung beschließt. Durch solche Ver¬
weisung wird letztere nicht zunichte gemacht, sondern bloß ins
Unbewußte gedrängt^ findet dieser Vorgang zum ersten Male statt,
so ist hiemit ein Kern- und Kristallisationsmittelpunkt für die
Bildung einer vom Ich getrennten psychischen Gruppe gegeben,
um den sich in weiterer Folge alles sammelt, was die Annahme
der widerstreitenden Vorstellung zur Voraussetzung hätte. Die
Spaltung des Bewußtseins in diesen Fällen akquirierter Hysterie
ist somit eine gewollte, absichtliche, oft wenigstens durch einen
Willkürakt eingeleitete. Eigentlich geschieht etwas anderes, als das
Individuum beabsichtigt^ es möchte eine Vorstellung aufheben,
als ob sie gar nie angelangt wäre, es gelingt ihm aber nur, sie
psychisch zu isolieren.
In der Geschichte unserer Patientin entspricht der traumatische
Moment jener Szene, die ihr der Direktor wegen des Küssens der
Kinder machte. Diese Szene bleibt aber einstweilen ohne sichtliche
Wirkung, vielleicht daß Verstimmung und Empfindlichkeit damit
begannen, ich weiß nichts darüber^ — die hysterischen Symptome
entstanden erst später in Momenten, welche man als „auxiliäre^^
bezeichnen kann, und die man dadurch charakterisieren möchte,
daß in ihnen zeitw^eilig die beiden getrennten psychischen Gruppen
zusammenfließen wie im erw^eiterten somnambulen Bewußtsein.
Der erste dieser Momente, in denen die Konversion stattfand, war
bei Miß Lucy R. die Szene bei Tische, als der Oberbuchhalter
die Kinder küssen wollte. Hier spielte die traumatische Erinnerung
mit, und sie benahm sich so, als hätte sie nicht alles, was sich
auf ihre Neigung zu ihrem Herrn bezog, von sich getan. In
Miß Lucy R.
109
anderen Krankengeschichten fallen diese verschiedenen Momente
zusammen, die Konversion geschieht unmittelbar unter der Ein¬
wirkung des Traumas.
Der zweite auxiliäre Moment wiederholt ziemlich genau den
Mechanismus des ersten. Ein starker Eindruck stellt vorübergehend
die Einheit des Bewußtseins wieder her, und die Konversion geht
den nämlichen Weg, der sich ihr das erstemal eröffnet hatte.
Interessant ist es, daß das zu zweit entstandene Symptom das
erste deckt, so daß letzteres nicht eher klar empfunden wird, als
bis das erstere weggeschafft ist. Bemerkenswert erscheint mir auch
die Umkehrung der Reihenfolge, der sich auch die Analyse fügen
muß. In einer ganzen Reihe von Fällen ist es mir ähnlich er¬
gangen, die später entstandenen Symptome deckten die ersten,
und erst das letzte, zu dem die Analyse vordrang, enthielt den
Schlüssel zum Ganzen.
Die Therapie bestand hier in dem Zwange, der die Vereinigung
der abgespaltenen psychischen Gruppe mit dem Ichbewußtsein
durchsetzte. Der Erfolg ging merkwürdigerweise nicht dem Maße
der geleisteten Arbeit parallel^ erst als das letzte Stück erledigt
war, trat plötzliche Heilung ein.
c
Katharina . . .
In den Ferien des Jahres 189* machte ich einen Ausflug in die
Hohen Tauern, um für eine Weile die Medizin und besonders die
Neurosen zu vergessen. Es war mir fast gelungen, als ich eines
Tages von der Hauptstraße ab wich, um einen abseits gelegenen
Berg zu besteigen, der als Aussichtspunkt und wegen seines gut
gehaltenen Schutzhauses gerühmt wurde. Nach anstrengender
Wanderung oben angelangt, gestärkt und ausgeruht, saß ich dann,
in die Betrachtung einer entzückenden Fernsicht versunken, so
selbstvergessen da, daß ich es erst nicht auf mich beziehen wollte,
als ich die Frage hörte: „Ist der Herr ein DoktorDie Frage
galt aber mir und kam von dem etwa achtzehnjährigen Mäd¬
chen, das mich mit ziemlich mürrischer Miene zur Mahlzeit
bedient hatte und von der Wirtin „Katharina“ gerufen worden
war. Nach ihrer Kleidung und ihrem Betragen konnte sie keine
Magd, sondern mußte wohl eine Tochter oder Verwandte der
Wirtin sein.
Ich antwortete, zur Selbstbesinnung gelangt: „Ja, ich bin ein
Doktor. Woher wissen Sie das?“
„Der Herr hat sich ins Fremdenbuch eingeschrieben, und da
hab ich mir gedacht, wenn der Herr Doktor jetzt ein bißchen
Zeit hätte, — ich bin nämlich nervenkrank und war schon ein-
Katharina . . .
111
mal bei einem Doktor in L . . der hat mir auch etwas gegeben,
aber gut ist mir noch nicht geworden/^
Da war ich also wieder in den Neurosen, denn um etwas
anderes konnte es sich bei dem großen und kräftigen Mädchen
mit der vergrämten Miene kaum handeln. Es interessierte mich,
daß Neurosen in der Höhe von über 2000 Metern so wohl ge¬
deihen sollten, ich fragte also weiter.
Die Unterredung, die jetzt zwischen uns vorfiel, gebe ich so
wieder, wie sie sich meinem Gedächtnisse eingeprägt hat, und
lasse der Patientin ihren Dialekt.
„An was leiden Sie denn?^^
„Ich hab’ so Atemnot, nicht immer, aber manchmal packt’s
mich so, daß ich glaube, ich erstick’.
Das klang nun zunächst nicht nervös, aber es wurde mir
gleich wahrscheinlich, daß es nur eine ersetzende Bezeichnung
für einen Angstanfall sein sollte. Aus dem Empfindungskomplex
der Angst hob sie das eine Moment der Atembeengung unge¬
bührlich hervor.
„Setzen Sie sich her. Beschreiben Sie mir’s, wie ist denn so
ein Zustand von ,AtemnoP?^^
„Es kommt plötzlich über mich. Dann legt’s sich zuerst wie
ein Druck auf meine Augen, der Kopf wird so schwer und sausen
tut’s, nicht auszuhalten, und schwindlich bin ich, daß ich glaub’,
ich fair um, und dann preßt’s mir die Brust zusammen, daß ich
keinen Atem krieg’.
„Und im Halse spüren Sie nichts
„Den Hals schnürt’s mir zusammen, als ob ich ersticken sollt
„Und tut es sonst noch was im Kopfe
„Ja, hämmern tut es zum Zerspringen.“
„Ja, und fürchten Sie sich gar nicht dabei?“
„Ich glaub’ immer, jetzt muß ich sterben, und ich bin sonst
couragiert, ich geh’ überall allein hin, in den Keller und hinunter
über den ganzen Berg, aber wenn so ein Tag ist, an dem ich
112
Studien über Hysterie
das hab’, dann trau’ ich mich nirgends hin, ich glaub’ immer,
es steht jemand hinter mir und packt mich plötzlich an/^
Es war wirklich ein Angstanfall, und zwar eingeleitet von den
Zeichen der hysterischen Aura oder, besser gesagt, ein hysteri¬
scher Anfall, dessen Inhalt Angst war. Sollte kein anderer Inhalt
dabei sein?
„Denken Sie was, immer dasselbe, oder sehen Sie was vor sich,
wenn Sie den Anfall haben
„Ja, so ein grausliches Gesicht seh ich immer dabei, das mich
so schrecklich anschaut, vor dem furcht’ ich mich dann.‘^
Da bot sich vielleicht ein Weg, rasch zum Kerne der Sache
vorzudringen.
„Erkennen Sie das Gesicht, ich mein’, ist das ein Gesicht, was
Sie einmal wirklich gesehen haben?“ — „Nein.“
„Wissen Sie, woher Sie die Anfälle haben?“ — „Nein.“ — „Wann
haben Sie die denn zuerst bekommen?“ — „Zuerst vor zwei
Jahren, wie ich noch mit der Tant’ auf dem andern Berg war,
sie hat dort früher das Schutzhaus gehabt, jetzt sind wir seit
eineinhalb Jahren hier, aber es kommt immer wieder.“
Sollte ich hier einen Versuch der Analyse machen? Die Hypnose
zw^ar wagte ich nicht in diese Höhen zu verpflanzen, aber vielleicht
gelingt es im einfachen Gespräche. Ich mußte glücklich raten.
Angst bei jungen Mädchen hatte ich so oft als Folge des Grausens
erkannt, das ein virginales Gemüt befallt, wenn sich zuerst die
Welt der Sexualität vor ihm auftut.^
i) Ich will den Fall hier anführen, in welchem ich dies kausale Verhältnis zuerst
erkannte. Ich behandelte eine junge Frau an einer komplizierten Neurose, die wieder
einmal nicht zugeben wollte, daß sie sich ihr Leiden in ihrem ehelichen Lehen ge¬
holt hatte. Sie wandte ein, daß sie schon als Mädchen an Anfällen von Angst ge¬
litten habe, die in Ohnmacht ausgingen. Ich blieb standhaft. Als wir besser bekannt
geworden waren, sagte sie mir plötzlich eines Tages: „Jetzt will ich Ihnen auch
berichten, woher meine Angstzustände als junges Mädchen gekommen sind. Ich habe
damals in einem Zimmer neben dem meiner Eltern geschlafen, die Tür war offen
imd ein Nachtlicht brannte auf dem Tische. Da habe ich denn einige Male gesehen,
wie der Vater zur Mutter ins Bett gegangen ist, und habe etwas gehört, was mich
sehr aufgeregt hat. Darauf bekam ich dann meine Anfälle.“
Katharina . . .
Ü5
Ich sagte also: „Wenn Sie’s nicht wissen, will ich Ihnen sagen,
wovon ich denke, daß Sie Ihre Anfälle bekommen haben. Sie haben
einmal, damals vor zwei Jahren, etwas gesehen oder gehört, was
Sie sehr geniert hat, was Sie lieber nicht möchten gesehen haben.
Sie darauf: „Jesses ja, ich hab’ ja den Onkel bei dem Mädel
erwischt, bei der Franziska, meiner Cousine
„Was ist das für eine Geschichte mit dem Mädel? Wollen Sie
mir die nicht erzählen?“
„Einem Doktor darf man ja alles sagen. Also wissen Sie, der
Onkel, er war der Mann von meiner Tant’, die Sie da gesehen haben,
hat damals mit der Tant’ das Wirtshaus auf dem **kogel gehabt,
jetzt sind sie geschieden, und ich bin schuld daran, daß sie ge¬
schieden sind, weil’s durch mich aufgekommen ist, daß er’s mit
der Franziska hält.“
„Ja, wie sind Sie zu der Entdeckung gekommen?“
„Das war so. Vor zwei Jahren sind einmal ein paar Herren
herauf gekommen und haben zu essen verlangt. Die Tant’ war
nicht zu Haus’ und die Franziska war nirgends zu finden, die
immer gekocht hat. Der Onkel war auch nicht zu finden. Wir
suchen sie überall, da sagt der Bub, der Alois, mein Cousin: ,Am
End’ ist die Franziska beim Vätern.^ Da haben wir beide gelacht,
aber gedacht haben wir uns nichts Schlechtes dabei. Wir gehen
zum Zimmer, wo der Onkel gewohnt hat, das ist zugesperrt. Das
war mir aber auffällig. Sagt der Alois: ,Am Gang ist ein Fenster,
da kann man hineinschauen ins Zimmer.^ Wir gehen auf den
Gang. Aber der Alois mag nicht zum Fenster, er sagt, er fürcht’
sich. Da sag ich: ,Du dummer Bub, ich geh hin, ich fürcht’
mich gar nicht.^ Ich habe auch gar nichts Arges im Sinne ge¬
habt. Ich schau hinein, das Zimmer war ziemlich dunkel, aber
da seh ich den Onkel und die Franziska, und er liegt auf ihr.“
„Nun?“
„Ich bin gleich weg vom Fenster, hab’ mich an die Mauer
angelehnt, hab’ die Atemnot bekommen, die ich seitdem hab’, die
Freud, I.
8
114
Studien über Hysterie
Sinne sind mir vergangen, die Augen hat es mir zugedrückt und
im Kopfe hat es gehämmert und gebraust/^
„Haben Sie’s gleich am selben Tage der Tante gesagt
„O nein, ich hab nichts gesagt.“
„Warum sind Sie denn so erschrocken, wie Sie die beiden bei¬
sammen gefunden haben? Haben Sie denn etwas verstanden? Haben
Sie sich etwas gedacht, was da geschieht?“
„O nein, ich hab’ damals gar nichts verstanden, ich war erst
sechzehn Jahre alt. Ich weiß nicht, worüber ich so erschrocken bin.“
„Fräulein Katharin’, wenn Sie sich jetzt erinnern könnten, was
damals in Ihnen vorgegangen ist, wie Sie den ersten Anfall be¬
kommen haben, was Sie sich dabei gedacht haben, dann wäre
Ihnen geholfen.“
„Ja, wenn ich könnt’, ich bin aber so erschrocken gewesen,
daß ich alles vergessen hab’.“
(In die Sprache unserer „vorläufigen Mitteilung“ übersetzt,
heißt das: Der Affekt schafft selbst den hypnoiden Zustand, dessen
Produkte dann außer assoziativem Verkehre mit dem Ich-Bewußt-
sein stehen.)
„Sagen Sie, Fräulein, ist der Kopf, den Sie immer bei der Atem¬
not sehen, vielleicht der Kopf von der Franziska, wie Sie ihn
damals gesehen haben?“
„O nein, der war doch nicht so grauslich, und dann ist es ja
ein Männerkopf.“
„Oder vielleicht vom Onkel?“
„Ich hab’ sein Gesicht gar nicht so deutlich gesehen, es war
zu finster im Zimmer und warum sollt’ er denn damals ein so
schreckliches Gesicht gemacht haben?“
„Sie haben Recht.“ (Da schien nun plötzlich der Weg verlegt.
Vielleicht findet sich in der w^eiteren Erzählung etwas.)
„Und was ist dann weiter geschehen?“
„Nun, die zwei müssen Geräusch gehört haben. Sie sind bald
herausgekommen. Mir war die ganze Zeit recht schlecht, ich hab
Katharina . . .
115
immer nachdenken müssen, dann ist zwei Tage später ein Sonn-
tag gew'^esen, da hat’s viel zu tun gegeben, ich hab den ganzen
Tag gearbeitet und am Montag früh, da hab ich wieder den
Schwindel gehabt und hab erbrochen und bin zu Bett geblieben
und hab’ drei Tage fort und fort gebrochen/^
Wir hatten oft die hysterische Symptomatologie mit einer
Bilderschrift verglichen, die wir nach Entdeckung einiger bilinguer
Fälle zu lesen verstünden. In diesem Alphabet bedeutet Erbrechen
Ekel. Ich sagte ihr also: „Wenn Sie drei Tage später erbrochen
haben, so glaub ich. Sie haben sich damals, wie Sie ins Zimmer
hineingeschaut haben, geekelt.
„Ja, geekelt werd’ ich mich schon haben^^, sagt sie nachdenk¬
lich. „Aber wovor denn?“
„Sie haben vielleicht etwas Nacktes gesehen? Wie waren denn
die beiden Personen im Zimmer?“
„Es war zu finster, um was zu sehen und die waren ja beide
angezogen (in Kleidern). Ja, wenn ich nur wüßte, wovor ich
mich damals geekelt hab’.“
Das wußte ich nun auch nicht. Aber ich forderte sie auf,
weiter zu erzählen, was ihr einfiele, in der sicheren Erwartung,
es werde ihr gerade das einfallen, was ich zur Aufklärung des
Falles brauchte.
Sie berichtet nun, daß sie endlich der Tante, die sie verändert
fand und dahinter ein Geheimnis vermutete, ihre Entdeckung
mitteilte, daß es darauf sehr verdrießliche Szenen zwischen Onkel
und Tante gab, die Kinder Dinge zu hören bekamen, die ihnen
über manches die Augen öffneten, und die sie besser hätten nicht
hören sollen, bis die Tante sich entschloß, mit ihren Kindern und
der Nichte die andere Wirtschaft hier zu übernehmen und den
Onkel mit der unterdes gravid gewordenen Franziska allein zu
lassen. Dann aber läßt sie zu meinem Erstaunen diesen Faden
fallen und beginnt zwei Reihen von älteren Geschichten zu er¬
zählen, die um zwei bis drei Jahre hinter dem traumatischen Momente
8 *
Studien über Hysterie
116
zurückreichen. Die erste Reihe enthält Anlässe, bei denen derselbe
Onkel ihr selbst sexuell nachgestellt, als sie erst vierzehn Jahre
alt war. Wie sie einmal mit ihm im Winter eine Partie ins Tal
gemacht und dort im Wirtshause übernachtet. Er blieb trinkend
und kartenspielend in der Stube sitzen, sie wurde schläfrig und
begab sich frühzeitig in das für beide bestimmte Zimmer im
Stocke. Sie schlief nicht fest, als er hinaufkam, dann schlief sie
wieder ein und plötzlich erwachte sie und „spürte seinen Körper^^
im Bette. Sie sprang auf, machte ihm Vorwürfe. „Was treibens
denn, Onkel? Warum bleibens nicht in Ihrem BetteEr ver¬
suchte sie zu beschwatzen: „Geh’, dumme Gredel, sei still, du
weißt ja nicht, wie gut das is.^^ — >jlch mag Ihr Gutes nicht,
nit einmal schlafen lassen’s einen.“ Sie bleibt bei der Türe stehen,
bereit, auf den Gang hinaus zu flüchten, bis er abläßt und selbst
einschläft. Dann legt sie sich in ihr Bett und schläft bis zum
Morgen. Aus der Art der Abwehr, die sie berichtet, scheint sich
zu ergeben, daß sie den Angriff nicht klar als einen sexuellen
erkannte 5 danach gefragt, ob sie denn gewußt, was er mit ihr
vorgehabt, antwortete sie: Damals nicht, es sei ihr viel später
klar geworden. Sie hätte sich gesträubt, weil es ihr unangenehm
war, im Schlafe gestört zu werden und „weil sich das nicht
gehört hat“.
Ich mußte diese Begebenheit ausführlich berichten, weil sie für
das Verständnis alles Späteren eine große Bedeutung besitzt. —
Sie erzählt dann noch andere Erlebnisse aus etwas späterer Zeit,
wie sie sich seiner abermals in einem Wirtshause zu erwehren
hatte, als er vollbetrunken war u. dgl. m. Auf meine Frage, ob
sie bei diesen Anlässen etwas Ähnliches verspürt wie die spätere
Atemnot, antwortet sie mit Bestimmtheit, daß sie dabei jedesmal
den Druck auf die Augen und auf die Brust bekam, aber lange
nicht so stark wie bei der Szene der Entdeckung.
Unmittelbar nach Abschluß dieser Reihe von Erinnerungen
beginnt sie eine zweite zu erzählen, in welcher es sich um Ge-
Katharina . . .
117
legenheiten handelt, wo sie auf etwas zwischen dem Onkel und
der Franziska aufmerksam wurde. Wie sie einmal, die ganze
Familie, die Nacht auf einem Heuboden in Kleidern verbracht
und sie infolge eines Geräusches plötzlich auf wachte^ sie glaubte
zu bemerken, daß der Onkel, der^ zwischen ihr und der Franziska
gelegen war, wegrückte und die Franziska sich gerade legte. Wie
sie ein anderes Mal in einem Wirtshause des Dorfes N . . . über¬
nachteten, sie und der Onkel in dem einen Zimmer, die Fran¬
ziska in einem andern nebenan. In der Nacht erwachte sie plötz¬
lich und sah eine lange weiße Gestalt bei der Türe, im Begriffe,
die Klinke niederzudrücken: „Jesses, Onkel, sein Sie's? Was woUen’s
bei der Türe?“ — „Sei still, ich hab’ nur was gesucht.“ ' —
„Da geht man ja bei der andern Tür heraus.“ — jjich hab’
mich halt verirrt“ usw.
Ich frage sie, ob sie damals einen Argwohn gehabt. „Nein,
gedacht hab’ ich mir gar nichts dabei, es ist mir nur immer auf¬
gefallen, aber ich hab’ nichts weiter daraus gemacht.“ — Ob sie
bei diesen Gelegenheiten auch die Angst bekommen? — Sie glaubt,
ja, aber diesmal ist sie dessen nicht so sicher.
Nachdem sie diese beiden Reihen von Erzählungen beendigt,
hält sie inne. Sie ist wie verwandelt, das mürrische, leidende
Gesicht hat sich belebt, die Augen sehen frisch drein, sie ist er¬
leichtert und gehoben. Mir aber ist unterdes das Verständnis
ihres Falles aufgegangen ^ was sie mir zuletzt anscheinend planlos
erzählt hat, erklärt vortrefflich ihr Benehmen bei der Szene der
Entdeckung. Sie trug damals zwei Reihen von Erlebnissen mit
sich, die sie erinnerte, aber nicht verstand, zu keinem Schlüsse
verwertete; beim Anblicke des koitierenden Paares stellte sie sofort
die Verbindung des neuen Eindruckes mit diesen beiden Reihen
von Reminiszenzen her, begann zu verstehen und gleichzeitig
abzuwehren. Dann folgte eine kurze Periode der Ausarbeitung,
„der Inkubation“, und darauf stellten sich die Symptome der
Konversion, das Erbrechen als Ersatz für den moralischen und
Studien über Hysterie
118
physischen Ekel ein. Das Rätsel war damit gelöst, sie hatte sich
nicht vor dem Anblick der beiden geekelt, sondern vor einer
Erinnerung, die ihr jener Anblick geweckt hatte, und alles er¬
wogen, konnte dies nur die Erinnerung an den nächtlichen Über¬
fall sein, als sie „den Körper des Onkels spürte“.
Ich sagte ihr also, nachdem sie ihre Beichte beendigt hatte:
„Jetzt weiß ich schon, was Sie sich damals gedacht haben, wie
Sie ins Zimmer hineingeschaut haben. Sie haben sich gedacht:
jetzt tut er mit ihr, was er damals bei Nacht und die anderen
Male mit mir hat tun wollen. Davor haben Sie sich geekelt, weil
Sie sich an die Empfindung erinnert haben, wie Sie in der Nacht
aufgewacht sind und seinen Körper gespürt haben.“
Sie antwortet: „Das kann schon sein, daß ich mich davor ge¬
ekelt und daß ich damals das gedacht hab’.“
„Sagen Sie mir einmal genau. Sie sind ja jetzt ein erwachsenes
Mädchen und wissen allerlei —“
„Ja, jetzt freilich.“
„Sagen Sie mir genau, was haben Sie denn in der Nacht
eigentlich von seinem Körper verspürt?“
Sie gibt aber keine bestimmtere Antwort, sie lächelt verlegen
und wie überführt, wie einer, der zugeben muß, daß man jetzt
auf den Grund der Dinge gekommen ist, über den sich nicht
mehr viel sagen läßt. Ich kann mir denken, welches die Tast¬
empfindung war, die sie später deuten gelernt hat^ ihre Miene
scheint mir auch zu sagen, daß sie von mir voraussetzt, ich denke
mir das Richtige, aber ich kann nicht weiter in sie dringen; ich
bin ihr ohnehin Dank dafür schuldig, daß sie soviel leichter mit
sich reden läßt als die prüden Damen in meiner Stadtpraxis, für
die alle naturalia turpia sind.
Somit wäre der Fall geklärt; aber halt, die im Anfalle wieder¬
kehrende Halluzination des Kopfes, der ihr Schrecken einjagt,
woher kommt die? Ich frage sie jetzt danach. Als hätte auch sie
in diesem Gespräche ihr Verständnis erweitert, antwortet sie
Katharina . . .
119
prompt: „Ja, das weiß ich jetzt schon, der Kopf ist der Kopf
vom Onkel, ich erkenn’s jetzt, aber nicht aus der Zeit. Später,
wie dann alle die Streitigkeiten losgegangen sind, da hat der
Onkel eine unsinnige Wut auf mich bekommen^ er hat immer
gesagt, ich bin schuld an allem ^ hätt’ ich nicht geplauscht, so
wär’s nie zur Scheidung gekommen; er hat mir immer gedroht,
er tut mir was an; wenn er mich von weitem gesehen hat, hat
sich sein Gesicht vor Wut verzogen und er ist mit der gehobenen
Hand auf mich losgegangen. Ich bin immer vor ihm davonge¬
laufen und hab’ immer die größte Angst gehabt, er packt mich
irgendwo unversehens. Das Gesicht, was ich jetzt immer sehe, ist
sein Gesicht, wie er in der Wut war.“
Diese Auskunft erinnert mich daran, daß ja das erste Symptom
der Hysterie, das Erbrechen, vergangen ist, der Angstanfall ist
geblieben und hat sich mit neuem Inhalte gefüllt. Demnach
handelt es sich um eine zum guten Teil abreagierte Hysterie.
Sie hat ja auch wirklich ihre Entdeckung bald hernach der Tante
mitgeteilt.
„Haben Sie der Tante auch die anderen Geschichten erzählt,
wie er Ihnen nachgestellt hat?“
„Ja, nicht gleich, aber später, wie schon von der Scheidung
die Rede war. Da hat die Tant’ gesagt: Das heben wir uns auf,
wenn er Schwierigkeiten vor Gericht macht, dann sagen wir
auch das.“
Ich kann verstehen, daß gerade aus der letzten Zeit, als die
aufregenden Szenen im Hause sich häuften, als ihr Zustand auf¬
hörte das Interesse der Tante zu erwecken, die von dem Zwiste
vollauf in Anspruch genommen war, daß aus dieser Zeit der
Häufung und Retention das Erinnerungssymbol verblieben ist.
Ich hoffe, die Aussprache mit mir hat dem in seinem sexuellen
Empfinden so frühzeitig verletzten Mädchen in etwas wohlgetan;
ich habe sie nicht wiedergesehen.
120
Studien übe?' Hysterie
Epikrise
Ich kann nichts dagegen einwenden, wenn jemand in dieser
Krankengeschichte weniger einen analysierten als einen durch
Erraten aufgelösten Fall von Hysterie erblicken will. Die Kranke
gab zwar alles, was ich in ihren Bericht interpolierte als wahr¬
scheinlich zu^ sie war aber doch nicht imstande, es als Erlebtes
wiederzuerkennen. Ich meine, dazu hätte es der Hypnose bedurft.
Wenn ich annehme, ich hätte richtig geraten, und nun versuche,
diesen Fall auf das Schema einer akquirierten Hysterie zu redu¬
zieren, wie es sich uns aus Fall B ergeben hat, so liegt es nahe,
die zwei Reihen von erotischen Erlebnissen mit traumatischen
Momenten, die Szene bei der Entdeckung des Paares mit einem
auxiliären Momente zu vergleichen. Die Ähnlichkeit liegt darin,
daß in den ersteren ein Bewußtseinsinhalt geschaffen wurde,
welcher, von der Denktätigkeit des Ich ausgeschlossen, aufbewahrt
blieb, w^ährend in der letzteren Szene ein neuer Eindruck die
assoziative Vereinigung dieser abseits befindlichen Gruppe mit dem
Ich erzwang. Anderseits finden sich auch Abweichungen, die nicht
vernachlässigt werden können. Die Ursache der Isolierung ist nicht
wie bei Fall B der Wille des Ich, sondern die Ignoranz des Ich,
das mit sexuellen Erfahrungen noch nichts anzufangen weiß. In
dieser Hinsicht ist der Fall Katharina ein typischer^ man findet
bei der Analyse jeder auf sexuelle Traumen begründeten Hysterie,
daß Eindrücke aus der vorsexuellen Zeit, die auf das Kind wir¬
kungslos geblieben sind, später als Erinnerung traumatische Gewalt
erhalten, wenn sich der Jungfrau oder Frau das Verständnis des
sexuellen Lebens erschlossen hat. Die Abspaltung psychischer
Gruppen ist sozusagen ein normaler Vorgang in der Entwicklung
der Adoleszenten, und es wird begreiflich, daß deren spätere Auf
nähme in das Ich einen häufig genug ausgenützten Anlaß zu
psychischen Störungen gibt. Ferner möchte ich an dieser Stelle
noch dem Zweifel Ausdruck geben, ob die Bewußtseinsspaltung
Katharina . . .
121
durch Ignoranz wirklich von der durch bewußte Ablehnung ver¬
schieden ist, ob nicht auch die Adoleszenten viel häufiger sexuelle
Kenntnis besitzen, als man von ihnen vermeint und als sie sich
selbst Zutrauen.
Eine weitere Abweichung im psychischen Mechanismus dieses
Falles liegt darin, daß die Szene der Entdeckung, welche wir als
„auxiliäre^^ bezeichnet haben, gleichzeitig auch den Namen einer
„traumatischen^^ verdient. Sie wirkt durch ihren eigenen Inhalt,
nicht bloß durch die Erweckung der vorhergehenden traumati¬
schen Erlebnisse, sie vereinigt die Charaktere eines „auxiliären
und eines traumatischen Moments. Ich sehe in diesem Zusammen¬
fallen aber keinen Grund, eine begriffliche Scheidung aufzugeben,
welcher bei anderen Fällen auch eine zeitliche Scheidung ent¬
spricht. Eine andere Eigentümlichkeit des Falles Katharina, die
übrigens seit langem bekannt ist, zeigt sich darin, daß die Kon¬
version, die Erzeugung der hysterischen Phänomene nicht un¬
mittelbar nach dem Trauma, sondern nach einem Intervalle von
Inkubation vor sich geht. Charcot nannte dieses Intervall mit
Vorliebe die „Zeit der psychischen Ausarbeitung“.
Die Angst, an der Katharina in ihren Anfällen leidet, ist eine
hysterische, d. h. eine Reproduktion jener Angst, die bei jedem
der sexuellen Traumen auftrat. Ich unterlasse es hier, den Vor¬
gang auch zu erläutern, den ich in einer ungemein großen An¬
zahl von Fällen als regelmäßig zutreffend erkannt habe, daß die
Ahnung sexueller Beziehungen bei virginalen Personen einen
Angstaffekt hervorruft.^
i) \Zusatz 1^24:'] Nach so vielen Jahren getraue ich mich die damals beobachtete
Diskretion aufzuheben und anzugeben, daß Katharina nicht die Nichte, sondern die
Tochter der Wirtin war, das Mädchen war also unter den sexuellen Versuchungen
erkrankt, die vom eigenen Vater ausgingen. Eine Entstellung wie die an diesem
Falle von mir vorgenommene sollte in einer Krankengeschichte durchaus vermieden
werden. Sie ist natürlich nicht so belanglos für das Verständnis wie etwa die Ver¬
legung des Schauplatzes von einem Berge auf einen anderen.
Fräulein Elisabeth v. R . . .
Im Herbst 1892 forderte ein befreundeter Kollege mich auf,
eine junge Dame zu untersuchen, die seit länger als zwei Jahren
an Schmerzen in den Beinen leide und schlecht gehe. Er fügte
der Einladung bei, daß er den Fall für eine Hysterie halte, wenn¬
gleich von den gewöhnlichen Zeichen der Neurose nichts zu
finden sei. Er kenne die Familie ein wenig und wisse, daß die
letzten Jahre derselben viel Unglück und wenig Erfreuliches ge¬
bracht hätten. Zuerst sei der Vater der Patientin gestorben, dann
habe die Mutter sich einer ernsten Operation an den Augen
unterziehen müssen und bald darauf sei eine verheiratete Schwester
der Kranken nach einer Entbindung einem alten Herzleiden er¬
legen. An allem Kummer und aller Krankenpflege habe unsere
Patientin den größten Anteil gehabt.
Ich gelangte nicht viel weiter im Verständnisse des Falles,
nachdem ich das vierundzwanzigjährige Fräulein zum ersten Male
gesehen hatte. Sie schien intelligent und psychisch normal und
trug das Leiden, welches ihr Verkehr und Genuß verkümmerte,
mit heiterer Miene, mit der ^^belle indifference^^ der Hysterischen,
mußte ich denken. Sie ging mit vorgebeugtem Oberkörper, doch
ohne Stütze, ihr Gang entsprach keiner als pathologisch bekannten
Gangart, war übrigens keineswegs auffällig schlecht. Es lag eben
Fräulein Elisabeth v, R . . .
123
nur vor, daß sie über große Schmerzen beim Gehen, über rasch
auftretende Ermüdung dabei und im Stehen klagte und nach
kurzer Zeit die Ruhe aufsuchte, in der die Schmerzen geringer
waren, aber keineswegs fehlten. Der Schmerz war unbestimmter
Natur, man konnte etwa entnehmen: eine schmerzhafte Müdig¬
keit. Eine ziemlich große, schlecht abgegrenzte Stelle an der
Vorderfläche des rechten Oberschenkels wurde als der Herd der
Schmerzen angegeben, von dem dieselben am häufigsten aus¬
gingen und wo sie ihre größte Intensität erreichten. Dort w^ar
auch Haut und Muskulatur ganz besonders empfindlich gegen
Drücken und Kneipen, Nadelstiche wurden eher etwas gleich¬
gültig hingenommen. Nicht bloß an dieser Stelle, sondern so
ziemlich im ganzen Umfange beider Beine war dieselbe Hyper-
algesie der Haut und der Muskeln nachweisbar. Die Muskeln waren
vielleicht noch schmerzhafter als die Haut, unverkennbar waren
beide Arten von Schmerzhaftigkeit an den Oberschenkeln am
stärksten ausgebildet. Die motorische Kraft der Beine war nicht
gering zu nennen, die Reflexe von mittlerer Intensität, alle an¬
deren Symptome fehlten, so daß sich kein Anhaltspunkt für die
Annahme ernsterer organischer Aftektion ergab. Das Leiden war
seit zwei Jahren allmählich entwickelt, wechselte sehr in seiner
Intensität.
Ich hatte es nicht leicht, zu einer Diagnose zu gelangen, ent¬
schloß mich aber aus zwei Gründen, der meines Kollegen beizu¬
pflichten. Fürs erste war es auffällig, wie unbestimmt alle An¬
gaben der doch hochintelligenten Kranken über die Charaktere
ihrer Schmerzen lauteten. Ein Kranker, der an organischen
Schmerzen leidet, wird, wenn er nicht etwa nebenbei nervös ist,
diese bestimmt und ruhig beschreiben, sie seien etwa lanzinierend,
kämen in gewissen Intervallen, erstreckten sich von dieser bis zu
dieser Stelle und würden nach seiner Meinung durch diese und
jene Einflüsse hervorgerufen. Der Neurastheniker,^ der seine
1) (Hypochonder, mit Ang^stneurose Behaftete.)
124
Studien über Hysterie
Schmerzen beschreibt, macht dabei den Eindruck, als sei er mit
einer schwierigen geistigen Arbeit beschäftigt, die weit über seine
Kräfte geht. Seine Gesichtszüge sind gespannt und wie unter der
Herrschaft eines peinlichen Affektes verzerrt, seine Stimme wird
schriller, er ringt nach Ausdruck, weist jede Bezeichnung, die ihm
der Arzt für seine Schmerzen vorschlägt, zurück, auch wenn sie
sich später als unzweifelhaft passend herausstellt^ er ist offenbar
der Meinung, die Sprache sei zu arm, um seinen Empfindungen
Worte zu leihen, diese Empfindungen selbst seien etwas Einziges,
noch nicht Dagewesenes, das man gar nicht erschöpfend beschreiben
könne, und darum wird er auch nicht müde, immer neue Details
hinzuzufügen, und wenn er abbrechen muß, beherrscht ihn sicher¬
lich der Eindruck, es sei ihm nicht gelungen, sich dem Arzte ver¬
ständlich zu machen. Das kommt daher, daß seine Schmerzen
seine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Bei Erl. v. R.
war das entgegengesetzte Verhalten, und man mußte daraus
schließen, da sie doch den Schmerzen Bedeutung genug beilegte,
daß ihre Aufmerksamkeit bei etwas anderem verweilte, wovon die
Schmerzen nur ein Begleitphänomen seien, wahrscheinlich also bei
Gedanken und Empfindungen, die mit den Schmerzen zusammen¬
hingen.
Noch mehr bestimmend für die Auffassung der Schmerzen mußte
aber ein zweites Moment sein. Wenn man eine schmerzhafte Stelle
bei einem organisch Kranken oder einem Neurastheniker reizt, so
zeigt dessen Physiognomie den unvermischten Ausdruck des Un¬
behagens oder des physischen Schmerzes 5 der Kranke zuckt ferner
zusammen, entzieht sich der Untersuchung, wehrt ab. Wenn man
aber bei Frl. v. R. die hyperalgische Haut und Muskulatur der
Beine kneipte oder drückte, so nahm ihr Gesicht einen eigentüm¬
lichen Ausdruck an, eher den der Lust als des Schmerzes, sie
schrie auf — ich mußte denken, etwa wie bei einem wollüstigen
Kitzel, — ihr Gesicht rötete sich, sie warf den Kopf zurück,
schloß die Augen, der Rumpf bog sich nach rückwärts, das alles
Fräulein Elisabeth v. R , , ,
125
war nicht sehr grob, aber doch deutlich ausgeprägt und ließ sich
nur mit der Auffassung vereinigen, das Leiden sei eine Hysterie,
und die Reizung habe eine hysterische Zone betroffen.
Die Miene paßte nicht zum Schmerze, den das Kneipen der
Muskeln und Haut angeblich erregte, wahrscheinlich stimmte sie
besser zum Inhalte der Gedanken, die hinter diesem Schmerze
steckten und die man in der Kranken durch Reizung der ihnen
assoziierten Körperstellen weckte. Ich hatte ähnlich bedeutungsvolle
Mienen bei Reizung hyperalgischer Zonen wiederholt in sicheren
Fällen von Hysterie beobachtet 5 die anderen Gebärden entsprachen
offenbar der leichtesten Andeutung eines hysterischen Anfalles.
Für die ungewöhnliche Lokalisation der hysterogenen Zone
ergab sich zunächst keine Aufklärung. Daß die Hyperalgesie haupt¬
sächlich die Muskulatur betraf, gab auch zu denken. Das häufigste
Leiden, welches die diffuse und lokale Druckempfindlichkeit der
Muskeln verschuldet, ist die rheumatische Infiltration derselben,
der gemeine chronische Muskelrheumatismus, von dessen Eignung,
nervöse Affektionen vorzutäuschen, ich bereits gesprochen habe.
Die Konsistenz der schmerzhaften Muskeln bei Frl. v. R. wider¬
sprach dieser Annahme nicht, es fanden sich vielfältig harte Stränge
in den Muskelmassen, die auch besonders empfindlich schienen.
Wahrscheinlich lag also eine im angegebenen Sinne organische
Veränderung der Muskeln vor, an welche sich die Neurose an¬
lehnte, und deren Bedeutung die Neurose übertrieben groß er¬
scheinen ließ.
Die Therapie ging auch von einer derartigen Voraussetzung
eines gemischten Leidens aus. Wir empfahlen Fortsetzung einer
systematischen Knetung und Faradisierung der empfindlichen
Muskeln ohne Rücksicht auf den dadurch entstehenden Schmerz,
und ich behielt mir die Behandlung der Beine mit starken Franklin-
schen Funkenentladungen vor, um mit der Kranken in Verkehr
bleiben zu können. Ihre Frage, ob sie sich zum Gehen zwingen
solle, beantworteten wir mit entschiedenem Ja.
126
Studien über Hysterie
Wir erzielten so eine leichte Besserung. Ganz besonders schien
sie sich für die schmerzhaften Schläge der Influenzmaschine zu
erwärmen, und je stärker diese waren, desto mehr schienen sie
die eigenen Schmerzen der Kranken zurückzudrängen. Mein Kollege
bereitete unterdes den Boden für eine psychische Behandlung vor,
und als ich nach vierwöchentlicher Scheinbehandlung eine solche
vorschlug und der Kranken einige Aufschlüsse über das Verfahren
und seine Wirkungsweise gab, fand ich rasches Verständnis und
nur geringen Widerstand.
Die Arbeit, die ich aber von da an begann, stellte sich als eine
der schwersten heraus, die mir je zugefallen waren, und die
Schwierigkeit, von dieser Arbeit einen Bericht zu geben, reiht
sich den damals überwundenen Schwierigkeiten würdig an. Ich
verstand auch lange Zeit nicht, den Zusammenhang zwischen der
Leidensgeschichte und dem Leiden zu finden, welches doch durch
diese Reihe von Erlebnissen verursacht und determiniert sein sollte.
Wenn man eine derartige kathartische Behandlung unternimmt,
wird man sich zuerst die Frage vorlegen: Ist der Kranken Her¬
kunft und Anlaß ihres Leidens bekannt? Dann bedarf es wohl
keiner besonderen Technik, sie zur Reproduktion ihrer Leidens¬
geschichte zu vermögen 5 das Interesse, das man ihr bezeugt, das
Verständnis, das man sie ahnen läßt, die Hoffnung auf Genesung,
die man ihr macht, werden die Kranke bestimmen, ihr Geheim¬
nis aufzugeben. Bei Fräulein Elisabeth war mir von Anfang an wahr¬
scheinlich, daß sie sich der Gründe ihres Leidens bewußt sei, daß
sie also nur ein Geheimnis, keinen Fremdkörper im Bewußtsein
habe. Man mußte, wenn man sie ansah, an die Worte des Dichters
denken: „Das Mäskchen da weissagt verborgenen Sinn.“^
Ich konnte also zunächst auf die Hypnose verzichten, mit dem
Vorbehalte allerdings, mich später der Hypnose zu bedienen, wenn
sich im Verlaufe der Beichte Zusammenhänge ergeben sollten, zu
i) Es wird sich ergeben, daß ich mich hierin doch geirrt hatte.
Fräulein Elisabeth v. R , , ,
127
deren Klärung ihre Erinnerung etwa nicht ausreichte. gelangte
ich bei dieser ersten vollständigen Analyse einer Hysterie, die ich
unternahm, zu einem Verfahren, das ich später zu einer Methode
erhob und zielbewußt einleitete, zu einem Verfahren der schicht¬
weisen Ausräumung des pathogenen psychischen Materials, welches
wir gerne mit der Technik der Ausgrabung einer verschütteten
Stadt zu vergleichen pflegten. Ich ließ mir zunächst erzählen,
was der Kranken bekannt war, achtete sorgfältig darauf, wo ein
Zusammenhang rätselhaft blieb, wo ein Glied in der Kette der
Verursachungen zu fehlen schien, und drang dann später in tiefere
Schichten der Erinnerung ein, indem ich an jenen Stellen die
hypnotische Erforschung oder eine ihr ähnliche Technik wirken
ließ. Die Voraussetzung der ganzen Arbeit war natürlich die Er¬
wartung, daß eine vollkommen zureichende Determinierung zu
erweisen sei^ von den Mitteln zur Tiefenforschung wird bald die
Rede sein.
Die Leidensgeschichte, welche Fräulein Elisabeth erzählte, war
eine langwierige, aus mannigfachen schmerzlichen Erlebnissen
gewebte. Sie befand sich während der Erzählung nicht in Hyp¬
nose, ich ließ sie aber liegen und hielt ihre Augen geschlossen,
ohne daß ich mich dagegen gewehrt hätte, wenn sie zeitweilig
die Augen öffnete, ihre Lage veränderte, sich aufsetzte u. dgl.
Wenn sie ein Stück der Erzählung tiefer ergriff, so schien sie
mir dabei spontan in einen der Hypnose ähnlicheren Zustand zu
geraten. Sie blieb dann regungslos liegen und hielt ihre Augen
fest geschlossen.
Ich gehe daran, wiederzugeben, was sich als oberflächlichste
Schichte ihrer Erinnerungen ergab. Als jüngste von drei Töchtern
hatte sie, zärtlich an den Eltern hängend, ihre Jugend auf einem
Gute in Ungarn verbracht. Die Gesundheit der Mutter war viel¬
fach getrübt durch ein Augenleiden und auch durch nervöse Zu¬
stände. So kam es, daß sie sich besonders innig an den heiteren
und lebenskundigen Vater anschloß, der zu sagen pflegte, diese
128
Studien über Hysterie
Tochter ersetze ihm einen Sohn und einen Freund, mit dem er
seine Gedanken austauschen könne. Soviel das Mädchen an in¬
tellektueller Anregung bei diesem Verkehre gewann, so entging
es doch dem Vater nicht, daß sich dabei ihre geistige Konstitution
von dem Ideal entfernte, welches man gerne in einem Mädchen
verwirklicht sieht. Er nannte sie scherzweise „keck und recht¬
haberisch“, warnte sie vor allzu großer Bestimmtheit in ihren
Urteilen, vor ihrer Neigung, den Menschen schonungslos die Wahr¬
heit zu sagen, und meinte oft, sie werde es schwer haben, einen
Mann zu finden. Tatsächlich war sie mit ihrem Mädchentum
recht unzufrieden, sie* war von ehrgeizigen Plänen erfüllt, wollte
studieren oder sich in Musik ausbilden, empörte sich bei dem
Gedanken, in einer Ehe ihre Neigungen und die Freiheit ihres
Urteiles opfern zu müssen. Unterdes lebte sie im Stolze auf ihren
Vater, auf das Ansehen und die soziale Stellung ihrer Familie
und hütete eifersüchtig alles, was mit diesen Gütern zusammen¬
hing. Die Selbstlosigkeit, mit welcher sie sich vorkommendenfalls
gegen ihre Mutter und ihre älteren Schwestern zurücksetzte,
söhnte die Eltern aber voll mit den schrofferen Seiten ihres
Charakters aus.
Das Alter der Mädchen bewog die Familie zur Übersiedlung in
die Hauptstadt, wo sich Elisabeth eine Weile an dem reicheren
und heiteren Leben in der Familie erfreuen durfte. Dann aber
kam der Schlag, der das Glück dieses Hauses zerstörte. Der- Vater
hatte ein chronisches Herzleiden verborgen oder selbst übersehen5
eines Tages brachte man ihn bewmßtlos nach einem ersten An¬
falle von Lungenödem nach Hause. Es folgte eine Krankenpflege
von eineinhalb Jahren, in welcher sich Elisabeth den ersten Platz
am Bette sicherte. Sie schlief im Zimmer des Vaters, erwachte
nachts auf seinen Ruf, betreute ihn tagsüber und zwang sich,
selbst heiter zu scheinen, während er den hoffnungslosen Zustand
mit liebenswürdiger Ergebenheit ertrug. Mit dieser Zeit der
Krankenpflege mußte der Beginn ihres Leidens Zusammenhängen,
Fräulein Elisabeth v, R . , ,
129
denn sie konnte sich erinnern, daß sie im letzten Halbjahre der
Pflege eineinhalb Tage wegen solcher Schmerzen im rechten
Beine zu Bette geblieben sei. Sie behauptete aber, diese Schmerzen
seien bald vorübergegangen und hätten weder ihre Sorge noch
ihre Aufmerksamkeit erregt. Tatsächlich war es erst zwei Jahre
nach dem Tode des Vaters, daß sie sich krank fühlte und ihrer
Schmerzen wegen nicht gehen konnte.
Die Lücke, die der Tod des Vaters in dem Leben dieser aus
vier Frauen bestehenden Familie hinterließ, die gesellschaftliche
Vereinsamung, das Aufhören so vieler Beziehungen, die Anregung
und Genuß versprochen hatten, die jetzt gesteigerte Kränklichkeit
der Mutter, dies alles trübte die Stimmung unserer Patientin,
machte aber gleichzeitig in ihr den heißen Wunsch rege, daß die
Ihrigen bald einen Ersatz für das verlorene Glück finden möchten,
und hieß sie ihre ganze Neigung und Sorgfalt auf die überlebende
Mutter konzentrieren.
Nach Ablauf des Trauerjahres heiratete die älteste Schwester
einen begabten und strebsamen Mann in ansehnlicher Stellung,
der durch sein geistiges Vermögen zu einer großen Zukunft be¬
stimmt schien, der aber im nächsten Umgänge eine krankhafte
Empfindlichkeit, ein egoistisches Beharren auf seinen Launen ent¬
wickelte, und der zuerst im Kreise dieser Familie die Rücksicht
auf die alte Frau zu vernachlässigen wagte. Das war mehr, als
Elisabeth vertragen konnte 5 sie fühlte sich berufen, den Kampf
gegen den Schwager aufzunehmen, so oft er Anlaß dazu bot,
während die anderen Frauen die Ausbrüche seines erregbaren
Temperaments leicht hinnahmen. Für sie war es eine schmerzliche
Enttäuschung, daß der Wiederaufbau des alten Familienglücks
diese Störung erfuhr, und sie konnte es ihrer verheirateten
Schwester nicht vergeben, daß diese in frauenhafter Fügsamkeit
bestrebt blieb, jede Parteinahme zu vermeiden. Eine ganze Reihe
von Szenen war Elisabeth so im Gedächtnis geblieben, an denen
zum Teil nicht ausgesprochene Beschwerden gegen ihren ersten
Freud, I.
9
130
Studien über Hysterie
Schwager hafteten. Der größte Vorwurf aber blieb, daß er einem
in Aussicht gestellten Avancement zuliebe mit seiner kleinen
Familie in eine entfernte Stadt Österreichs übersiedelte und so die
Vereinsamung der Mutter vergrößern half. Bei dieser Gelegenheit
fühlte Elisabeth so deutlich ihre Hilflosigkeit, ihr Unvermögen,
der Mutter einen Ersatz für das verlorene Glück zu bieten, die
Unmöglichkeit, ihren beim Tode des Vaters gefaßten Vorsatz aus¬
zuführen.
Die Heirat der zweiten Schwester schien Erfreulicheres für die
Zukunft der Familie zu versprechen, denn dieser zweite Schwager
war, obwohl geistig minder hochstehend, ein Mann nach dem
Herzen der feinsinnigen, in der Pflege aller Rücksichten erzogenen
Frauen, und sein Benehmen söhnte Elisabeth mit der Institution
der Ehe und mit dem Gedanken an die mit ihr verknüpften
Opfer aus. Auch blieb das zweite junge Paar in der Nähe der
Mutter, und das Kind dieses Schwagers und der zweiten Schwester
wurde der Liebling Elisabeths. Leider war das Jahr, in dem dies
Kind geboren wurde, durch ein anderes Ereignis getrübt. Das
Augenleiden der Mutter erforderte eine mehrwöchentliche Dunkel¬
kur, welche Elisabeth mitmachte. Dann wurde eine Operation für
notwendig erklärt^ die Aufregung vor derselben fiel mit den Vor¬
bereitungen zur Übersiedlung des ersten Schwagers zusammen.
Endlich war die von Meisterhand ausgeführte Operation über¬
standen, die drei Familien trafen in einem Sommeraufenthalte
zusammen, und die durch die Sorgen der letzten Monate erschöpfte
Elisabeth hätte nun in der ersten, von Leiden und Befürchtungen
freien Zeit, die dieser Familie seit dem Tode des Vaters gegönnt
war, sich voll erholen sollen.
Gerade in die Zeit dieses Sommeraufenthaltes fällt aber der
Ausbruch von Elisabeths Schmerzen und Gehschwäche. Nachdem
sich die Schmerzen eine Weile vorher etwas bemerklich gemacht
hatten, traten sie zuerst heftig nach einem warmen Bade auf, das
sie im Badhause des kleinen Kurortes nahm. Ein langer Spazier-
Fräulein Elisabeth v. Ä . . .
gang, eigentlich ein Marsch von einem halben Tage, einige Tage
vorher, wurde dann in Beziehung zum Auftreten dieser Schmerzen
gebracht, so daß sich leicht die Auffassung ergab, Elisabeth habe
sich zuerst „übermüdetund dann „ erkühlt
Von jetzt ab war Elisabeth die Kranke der Familie. Ärztlicher
Rat veranlaßte sie, noch den Rest dieses Sommers zu einer Bade¬
kur in Gastein zu verwenden, wohin sie mit ihrer Mutter reiste,
aber nicht, ohne daß eine neue Sorge aufgetaucht wäre. Die
zweite Schwester war neuerdings gravid, und Nachrichten schil¬
derten ihr Befinden recht ungünstig, so daß sich Elisabeth kaum
zur Reise hach Gastein entschließen wollte. Nach kaum zwei
Wochen des Gasteiner Aufenthalts wurden Mutter und Schwester
zurückgerufen, es ginge der jetzt bettlägerigen Kranken nicht gut.
Eine qualvolle Reise, auf welcher sich bei Elisabeth Schmerzen
und schreckhafte Erwartungen vermengten, dann gewisse Anzeichen
auf dem Bahnhofe, welche das Schlimmste ahnen ließen, und dann,
als sie ins Zimmer der Kranken traten, die Gewißheit, daß sie
zu spät gekommen waren, um von einer Lebenden Abschied zu
nehmen.
Elisabeth litt nicht nur unter dem Verluste dieser Schwester,
die sie zärtlich geliebt hatte, sondern fast ebensosehr unter den
Gedanken, die dieser Todesfall anregte, und unter den Ver¬
änderungen, die er mit sich brachte. Die Schwester war einem
Herzleiden erlegen, das durch die Gravidität zur Verschlimmerung
gebracht worden war.
Nun tauchte der Gedanke auf, Herzkrankheit sei das väterliche
Erbteil der Familie. Dann erinnerte man sich, daß die Verstorbene
in den ersten Mädchenjahren eine Chorea mit leichter Herzaffektion
durchgemacht hatte. Man machte sich und den Ärzten den Vorwurf,
daß sie die Heirat zugelassen hätten, man konnte dem unglücklichen
Witwer den Vorwurf nicht ersparen, die Gesundheit seiner Frau
durch zwei aufeinanderfolgende Graviditäten ohne Pause gefährdet
zu haben. Der traurige Eindruck, daß, wenn einmal die so seltenen
9*
152
Studien Über Hysterie
Bedingungen für eine glückliche Ehe sich getroffen hätten, dieses
Glück dann solch ein Ende nähme, beschäftigte die Gedanken Elisa¬
beths von da an ohne Widerspruch. Ferner aber sah sie wiederum
alles in sich zerfallen, was sie für die Mutter ersehnt hatte. Der
verwitwete Schwager war untröstlich und zog sich von der Familie
seiner Frau zurück. Es scheint, daß seine eigene Familie, der er
sich während der kurzen und glücklichen Ehe entfremdet hatte,
den Moment günstig fand, um ihn wieder in ihre eigenen Bahnen
zu ziehen. Es fand sich kein Weg, die frühere Gemeinschaft
aufrecht zu halten ^ ein Zusammen wohnen mit der Mutter war
aus Rücksicht auf die unverheiratete Schwägerin untunlich, und
indem er sich weigerte, den beiden Frauen das Kind, das einzige
Erbteil der Toten, zu überlassen, gab er ihnen zum ersten Male
Gelegenheit, ihn der Härte zu beschuldigen. Endlich — und dies
war nicht das am mindesten Peinliche — hatte Elisabeth dunkle
Kunde von einem Zwiste bekommen, der zwischen beiden Schwägern
ausgebrochen war, und dessen Anlaß sie nur ahnen konnte. Es schien
aber, als ob der Witwer in Vermögensangelegenheiten Forderungen
erhoben hätte, die der andere Schwager für ungerechtfertigt hin¬
stellte, ja die er mit Rücksicht auf den frischen Schmerz der
Mutter als eine arge Erpressung bezeichnen konnte. Dies also
war die Leidensgeschichte des ehrgeizigen und liebebedürftigen
Mädchens. Mit ihrem Schicksale grollend, erbittert über das Fehl¬
schlagen all ihr kleinen Pläne, den Glanz des Hauses wieder¬
herzustellen 5 — ihre Lieben teils gestorben, teils entfernt, teils
entfremdet^ — ohne Neigung, eine Zuflucht in der Liebe eines
fremden Mannes zu suchen, lebte sie seit eineinhalb Jahren, fast
von jedem Verkehre abgeschieden, der Pflege ihrer Mutter und
ihrer Schmerzen.
Wenn man an größeres Leid vergessen und sich in das Seelen¬
leben eines Mädchens versetzen wollte, konnte man Fräulein
Elisabeth eine herzliche menschliche Teilnahme nicht versagen.
Wie stand es aber mit dem ärztlichen Interesse für diese Leidens-
Fräulein Elisabeth v, R . , .
133
geschichte, mit den Beziehungen derselben zu ihrer schmerz
haften Gehschwäche, mit den Aussichten auf Klärung und Heilung
dieses Falles, die sich etwa aus der Kenntnis dieser psychischen
Traumen ergaben?
Für den Arzt bedeutete die Beichte der Patientin zunächst eine
große Enttäuschung. Es war ja eine aus banalen seelischen Er¬
schütterungen bestehende Krankengeschichte, aus der sich weder
erklärte, warum die Betroffene an Hysterie erkranken mußte, noch
wieso die Hysterie gerade die Form der schmerzhaften Abasie an¬
genommen hatte. Es erhellte weder die Verursachung noch die
Determinierung der hier vorliegenden Hysterie. Man konnte etwa
annehmen, daß die Kranke eine Assoziation hergestellt hatte zwi¬
schen ihren seelischen schmerzlichen Eindrücken und körperlichen
Schmerzen, die sie zufällig zur gleichen Zeit verspürt hatte, und
daß sie nun in ihrem Erinnerungsleben die körperliche Empfin¬
dung als Symbol der seelischen verwendete. Welches Motiv sie
etwa für diese Substituierung hatte, in welchem Momente diese
vollzogen wurde, dies blieb unaufgeklärt. Es waren dies allerdings
Fragen, deren Aufstellung bisher den Ärzten nicht geläufig ge¬
wesen war. Man pflegte sich mit der Auskunft zufrieden zu
geben, die Kranke sei eben von Konstitution eine Hysterika, die
unter dem Drucke intensiver, ihrer Art nach beliebiger Er¬
regungen hysterische Symptome entwickeln könne.
Noch weniger als für die Aufklärung schien durch diese Beichte
für die Heilung des Falles geleistet zu sein. Es war nicht einzusehen,
welchen wohltätigen Einfluß es für Fräulein Elisabeth haben
könnte, die all ihren Familienmitgliedern wohlbekannte Leidens¬
geschichte der letzten Jahre auch einmal einem Fremden zu er¬
zählen, der ihr dafür eine mäßige Teilnahme bezeigte. Es war
auch kein solcher Heilerfolg der Beichte zu bemerken. Die Kranke
versäumte während dieser ersten Periode der Behandlung niemals,
dem Arzte zu wiederholen: Es geht mir aber noch immer schlecht,
ich habe dieselben Schmerzen wie früher, und wenn sie mich
154
Studien über Hysterie
dabei listig-schadenfroh anblickte, konnte ich etwa des Urteiles
gedenken, das der alte Herr v. R. über seine Lieblingstochter
gefällt: Sie sei häufig „keck“ und „schlimm“^ ich mußte aber
doch zugestehen, daß sie im Rechte war.
Hätte ich in diesem Stadium die psychische Behandlung der
Kranken aufgegeben, so wäre der Fall des Fräuleins Elisabeth v. R.
wohl recht belanglos für die Theorie der Hysterie gew^orden. Ich
setzte meine Analyse aber fort, weil ich der sicheren Erwartung
war, es werde sich aus tieferen Schichten des Bewußtseins das
Verständnis sowohl für die Verursachung als auch für die Deter-
minierung des hysterischen Symptoms gewinnen lassen.
Ich beschloß also, an das erweiterte Bewußtsein der Kranken
die direkte Frage zu richten, an welchen psychischen Eindruck
die erste Entstehung der Schmerzen in den Beinen geknüpft sei.
Zu diesem Zwecke sollte die Kranke in tiefe Hypnose versetzt
werden. Aber leider mußte ich wahrnehmen, daß meine dahin¬
zielenden Prozeduren die Kranke in keinen andern Zustand des
Bewußtseins brachten, als jener war, in dem sie mir ihre Beichte
abgelegt hatte. Ich war noch herzlich froh, daß sie es diesmal
unterließ, mir triumphierend vorzuhalten: „Sehen Sie, ich schlafe
ja nicht, ich bin nicht zu hypnotisieren.“ In solcher Notlage geriet
ich auf den Einfall, jenen Kunstgriff des Drückens auf den Kopf
anzuwenden, über dessen Entstehungsgeschichte ich mich in der
vorstehenden Beobachtung der Miß Lucy ausführlich geäußert
habe. Ich führte ihn aus, indem ich die Kranke aufforderte, mir
unfehlbar mitzuteilen, was in dem Momente des Druckes vor
ihrem inneren Auge auftauche oder durch ihre Erinnerung ziehe.
Sie schwieg lange und bekannte dann auf mein Drängen, sie
habe an einen Abend gedacht, an dem ein junger Mann sie aus
einer Gesellschaft nach Hause begleitet, an die Gespräche, die
zwischen ihr und ihm vorgefallen seien, und an die Empfindungen,
mit denen sie dann nach Hause zur Pflege des Vaters zurück¬
kehrte.
Fräulein Elisabeth v, R , , ,
135
Mit dieser ersten Erwähnung des jungen Mannes war ein
neuer Schacht eröffnet, dessen Inhalt ich nun allmählich heraus¬
beförderte. Hier handelte es sich eher um ein Geheimnis, denn
außer einer gemeinsamen Freundin hatte sie niemanden in ihre
Beziehungen und die daran geknüpften Hoffnungen eingeweiht.
Es handelte sich um den Sohn einer seit langem befreundeten
Familie, deren Wohnsitz ihrem früheren nahe lag. Der junge Mann,
selbst verwaist, hatte sich mit großer Ergebenheit an ihren Vater
angeschlossen, ließ sich von dessen Ratschlägen in seiner Karriere
leiten und hatte seine Verehrung vom Vater auf die Damen der
Familie ausgedehnt. Zahlreiche Erinnerungen an gemeinsame
Lektüre, Gedankenaustausch, Äußerungen von seiner Seite, die
ihr wiedererzählt worden waren, bezeichneten das allmähliche An¬
wachsen ihrer Überzeugung, daß er sie liebe und verstehe, und
daß eine Ehe mit ihm ihr nicht die Opfer auferlegen würde, die
sie von der Ehe fürchtete. Er war leider nur wenig älter als sie
und von Selbständigkeit damals noch weit entfernt, sie war aber
fest entschlossen gewesen, auf ihn zu warten.
Mit der schweren Erkrankung des Vaters und ihrer Inanspruch¬
nahme als Pflegerin wurde dieser Verkehr immer seltener. Der
Abend, an den sie sich zuerst erinnert hatte, bezeichnete gerade
die Höhe ihrer Empfindung 5 zu einer Aussprache zwischen ihnen
war es aber auch damals nicht gekommen. Sie hatte sich damals
durch das Drängen der Ihrigen und des Vaters selbst bewegen
lassen, vom Krankenbette weg in eine Gesellschaft zu gehen, in
welcher sie ihn zu treffen erw^arten durfte. Sie wollte dann früh
nach Hause eilen, aber man nötigte sie zu bleiben, und sie gab
nach, als er ihr versprach, sie zu begleiten. Sie hatte nie so warm
für ihn gefühlt als während dieser Begleitung^ aber als sie in
solcher Seligkeit spät nach Hause kam, traf sie den Zustand des
Vaters verschlimmert und machte sich die bittersten Vorwürfe,
daß sie so viel Zeit ihrem eigenen Vergnügen geopfert. Es war
das letztemal, daß sie den kranken Vater für einen ganzen Abend
136
Studien über Hysterie
verließ 5 ihren Freund sah sie nur selten wieder5 nach dem Tode
des Vaters schien er aus Achtung vor ihrem Schmerze sich ferne¬
zuhalten, dann zog ihn das Leben in andere Bahnen 5 sie hatte
sich allmählich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß
sein Interesse für sie durch andere Empfindungen verdrängt und
er für sie verloren sei. Dieses Fehlschlagen der ersten Liebe
schmerzte sie aber noch jedesmal, so oft sie an ihn dachte.
In diesem Verhältnisse und in der obigen Szene, zu welcher
es führte, durfte ich also die Verursachung der ersten hysteri¬
schen Schmerzen suchen. Durch den Kontrast zwischen der Selig¬
keit, die sie sich damals gegönnt hatte, und dem Elende des
Vaters, das sie zu Hause antraf, war ein Konflikt, ein Fall von
Unverträglichkeit gegeben. Das Ergebnis des Konfliktes war, daß
die erotische Vorstellung aus der Assoziation verdrängt wurde, und
der dieser anhaftende Affekt wurde zur Erhöhung oder Wieder¬
belebung eines gleichzeitig (oder kurz vorher) vorhandenen kör¬
perlichen Schmerzes verwendet. Es war also der Mechanismus
einer Konversion zum Zwecke der Abwehr, wie ich ihn an
anderer Stelle eingehend behandelt habe.^
Eis bleibt hier freilich Raum für allerlei Bemerkungen. Ich muß
hervorheben, daß es mir nicht gelang, aus ihrer Erinnerung nach¬
zuweisen, daß sich in jenem Momente des Nachhausekommens
die Konversion vollzogen hatte. Ich forschte daher nach ähnlichen
Erlebnissen aus der Zeit der Krankenpflege und rief eine Reihe
von Szenen hervor, unter denen das Aufspringen aus dem Bette
mit nackten Füßen im kalten Zimmer, auf einen Ruf des Vaters,
sich durch seine öftere Wiederholung hervorhob. Ich war geneigt,
diesen Momenten eine-gewisse Bedeutung zuzusprechen, weil neben
der Klage über den Schmerz in den Beinen die Klage über quä¬
lende Kälteempfindung stand. Indes konnte ich auch hier nicht
eine Szene erhaschen, die sich mit Sicherheit als die Szene der
1) Die Abwehmeuropsychosen. Neurologisches Zentralhlatt, 1. Juni 1894. [Ent¬
halten in diesem Bernd der Ges. Schriften.]
Fräulein Elisabeth v, R . , ,
157
Konversion hätte bezeichnen lassen. Ich war darum geneigt, hier
eine Lücke in der Aufklärung zuzugestehen, bis ich mich der
Tatsache besann, daß die hysterischen Beinschmerzen ja überhaupt
nicht zur Zeit der Krankenpflege vorhanden waren. Ihre Erinne¬
rung berichtete nur von einem einzigen, über wenige Tage er¬
streckten Schmerzanfalle, der damals keine Aufmerksamkeit auf
sich zog. Meine Forschung wandte sich nun diesem ersten Auf¬
treten der Schmerzen zu. Es gelang, die Erinnerung daran sicher
zu beleben, es war gerade damals ein Verwandter zu Besuch ge¬
kommen, den sie nicht empfangen konnte, weil sie zu Bette lag,
und der auch bei einem späteren Besuche zwei Jahre nachher
das Mißgeschick hatte, sie im Bette zu treffen. Aber die Suche
nach einem psychischen Anlasse für diese ersten Schmerzen mi߬
lang, so oft sie auch wiederholt wurde. Ich glaubte annehmen
zu dürfen, daß jene ersten Schmerzen wirklich ohne psychischen
Anlaß als leichte rheumatische Erkrankung gekommen seien, und
konnte noch erfahren, daß dies organische Leiden, das Vorbild
der späteren hysterischen Nachahmung, jedenfalls in eine Zeit vor
die Szene der Begleitung zu setzen sei. Daß sich diese Schmerzen
als organisch begründete in gemildertem Maße und unter geringer
Aufmerksamkeit eine Zeitlang fortgesetzt hätten, blieb nach der
Natur der Sache immerhin möglich. Die Unklarheit, die sich
daraus ergibt, daß die Analyse auf eine Konversion psychischer
Erregung in Körperschmerz zu einer Zeit hinweist, da solcher
Schmerz gewiß nicht verspürt und nicht erinnert wurde — dieses
Problem hoffe ich durch spätere Erwägungen und andere Beispiele
lösen zu können.^
Mit der Aufdeckung des Motivs für die erste Konversion be¬
gann eine zweite, fruchtbare Periode der Behandlung. Zunächst
überraschte mich die Kranke bald nachher mit der Mitteilung,
1) Ich kann nicht ausschließen, aber auch nicht erweisen, daß diese haupt¬
sächlich die Oberschenkel einnehmenden Schmerzen neurasthenischer Natur ge¬
wesen seien.
158
Studien über Hysterie
sie wisse nun, warum die Schmerzen gerade immer von jener
bestimmten Stelle des rechten Oberschenkels ausgingen und dort
am heftigsten seien. Es sei dies nämlich die Stelle, wo jeden
Morgen das Bein des Vaters geruht, während sie die Binden er¬
neuerte, mit denen das arg geschwollene Bein gewickelt wurde.
Das sei wohl hundertmal so geschehen, und sie habe merkwür¬
digerweise an diesen Zusammenhang bis heute nicht gedacht. Sie
lieferte mir so die erwünschte Erklärung für die Entstehung
einer atypischen hysterogenen Zone. Ferner fingen die schmerz¬
haften Beine an bei unseren Analysen immer „mitzusprechen“.
Ich meine folgenden merkwürdigen Sachverhalt: Die Kranke war
meist schmerzfrei, wenn wir an unsere Arbeit gingen; rief ich
jetzt durch eine Frage oder einen Druck auf den Kopf eine Er¬
innerung wach, so meldete sich zuerst eine Schmerzempfindung,
meist so lebhaft, daß die Kranke zusammenzuckte und mit der
Hand nach der schmerzenden Stelle fuhr. Dieser geweckte Schmerz
blieb stehen, solange die Kranke von der Erinnerung beherrscht
war, erreichte seine Höhe, wenn sie im Begriffe stand, das We¬
sentliche und Entscheidende an ihrer Mitteilung auszusprechen,
und war mit den letzten Worten dieser Mitteilung verschwunden.
Allmählich lernte ich diesen geweckten Schmerz als Kompaß ge¬
brauchen; wenn sie verstummte, aber noch Schmerzen zugab, so
wußte ich, daß sie nicht alles gesagt hatte, und drang auf Fort¬
setzung der Beichte, bis der Schmerz weggesprochen war. Erst
dann weckte ich eine neue Erinnerung.
In dieser Periode des „Abreagierens“ besserte sich der Zustand
der Kranken in somatischer wie in psychischer Hinsicht so auf¬
fällig, daß ich nur halb im Scherze zu behaupten pflegte, ich
trage jedesmal ein gewisses Quantum von Schmerzmotiven weg,
und wenn ich alles abgeräumt haben würde, werde sie gesund
sein. Sie gelangte bald dahin, die meiste Zeit keine Schmerzen
zu haben, ließ sich bewegen, viel zu gehen und ihre bisherige
Isolierung aufzugeben. Im Laufe der Analyse folgte ich bald den
Fräulein Elisabeth v, R . , »
139
spontanen Schwankungen ihres Befindens, bald meiner Schätzung,
wo ich ein Stück ihrer Leidensgeschichte noch nicht genügend
erschöpft meinte. Ich machte bei dieser Arbeit einige interessante
Wahrnehmungen, deren Lehren ich später bei anderen Kranken
bestätigt fand.
Zunächst, was die spontanen Schwankungen anbelangt, daß
eigentlich keine vorfiel, die nicht durch ein Ereignis des Tages
assoziativ provoziert worden wäre. Das einemal hatte sie von einer
Erkrankung im Kreise ihrer Bekannten gehört, die sie an ein
Detail in der Krankheit ihres Vaters erinnerte, ein andermal war
das Kind der verstorbenen Schwester zum Besuche da gewesen
und hatte durch seine Ähnlichkeit den Schmerz um die Verlorene
geweckt, ein andermal wieder war es ein Brief der entfernt
lebenden Schwester, der deutlich den Einfluß des rücksichtslosen
Schwagers bewies und einen Schmerz weckte, welcher die Mit¬
teilung einer noch nicht erzählten Familienszene verlangte.
Da sie niemals denselben Schmerzanlaß zweimal vorbrachte,
schien unsere Erwartung, auf solche Weise den Vorrat zu er¬
schöpfen, nicht ungerechtfertigt, und ich widerstrebte keineswegs,
sie in Situationen kommen zu lassen, welche geeignet waren,
neue, noch nicht an die Oberfläche gelangte Erinnerungen her¬
vorzurufen, z. B. sie auf das Grab ihrer Schwester zu schicken
oder sie in eine Gesellschaft gehen zu lassen, wo sie den jetzt
wieder anwesenden Jugendfreund sehen konnte.
Sodann erhielt ich einen Einblick in die Art der Entstehung
einer als monosymptomatisch zu bezeichnenden Hysterie. Ich
fand nämlich, daß das rechte Bein während unserer Hypnosen
schmerzhaft wurde, wenn es sich um Erinnerungen aus der
Krankenpflege des Vaters, aus dem Verkehre mit dem Jugend¬
gespielen und um anderes handelte, was in die erste Periode der
pathogenen Zeit fiel, während der Schmerz sich am anderen,
linken Bein meldete, sobald ich eine Erinnerung an die verlorene
Schwester, an die beiden Schwäger, kurz einen Eindruck aus der
140
Studien über Hysterie
zweiten Hälfte der Leidensgeschichte erweckt hatte. Durch dieses
konstante Verhalten aufmerksam gemacht, forschte ich weiter
nach und gewann den Eindruck, als ob die Detaillierung hier
noch weiter ginge und jeder neue psychische Anlaß zu schmerz¬
lichen Empfindungen sich mit einer anderen Stelle der schmerz¬
haften Area der Beine verknüpft hätte. Die ursprünglich schmerz¬
hafte Stelle am rechten Oberschenkel hatte sich auf die Pflege
des Vaters bezogen, von da an war das Schmerzgebiet durch
Apposition aus Anlaß neuer Traumen gewachsen, so daß hier
streng genommen nicht ein einziges körperliches Symptom vor¬
lag, welches mit vielfachen psychischen Erinnerungskomplexen
verknüpft war, sondern eine Mehrheit von ähnlichen Symptomen,
die bei oberflächlicher Betrachtung zu einem Symptome ver¬
schmolzen schienen. Einer Abgrenzung der den einzelnen psychi¬
schen Anlässen entsprechenden Schmerzzonen bin ich allerdings
nicht nachgegangen, da ich die Aufmerksamkeit der Kranken von
diesen Beziehungen abgewendet erfand.
Ich schenkte aber ein weiteres Interesse der Art, wie der ganze
Symptomkomplex der Abasie sich über diesen schmerzhaften Zonen
aufgebaut haben mochte, und stellte in solcher Absicht verschie¬
dene Fragen, wie: Woher rühren die Schmerzen im Gehen, im
Stehen, im Liegen? die sie teils unbeeinflußt, teils unter dem
Drucke meiner Hand beantwortete. Dabei ergab sich zweierlei.
Einerseits gruppierte sie mir alle mit schmerzhaften Eindrücken
verbundenen Szenen, je nachdem sie während derselben gesessen
oder gestanden hatte u. dgl. — So z. B. stand sie bei einer
Türe, als man den Vater im Herzanfalle nach Hause brachte,
und blieb im Schreck wie angewurzelt stehen. An diesen ersten
„Schreck im Stehen^^ schloß sie dann weitere Erinnerungen an
bis zur Schreckensszene, da sie wiederum wie gebannt an dem
Bette der toten Schwester stand. Die ganze Kette von Remi¬
niszenzen sollte die berechtigte Verknüpfung der Schmerzen mit
dem Aufrechtstehen dartun und konnte ja auch als Assoziations-
Fräulein Elisabeth v, R , , .
141
nach weis gelten, nur mußte man der Forderung eingedenk bleiben,
daß bei all diesen Gelegenheiten noch ein anderes Moment nach¬
weisbar sein müsse, welches die Aufmerksamkeit — und in wei¬
terer Folge die Konversion — gerade auf das Stehen (Gehen,
Sitzen u. dgl.) gelenkt hatte. Die Erklärung für diese Richtung
der Aufmerksamkeit konnte man kaum in anderen Verhältnissen
suchen als darin, daß Gehen, Stehen und Liegen eben an Lei¬
stungen und Zustände jener Körperteile geknüpft sind, welche
hier die schmerzhaften Zonen trugen, nämlich der Beine. Es war
also der Zusammenhang zwischen der Astasie-Abasie und dem
ersten Falle von Konversion in dieser Krankengeschichte leicht
zu verstehen.
Unter den Szenen, welche zufolge dieser Revue das Gehen
schmerzhaft gemacht hätten, drängte sich eine hervor, ein Spazier¬
gang, den sie in jenem Kurorte in großer Gesellschaft gemacht
und angeblich zu lange ausgedehnt hatte. Die näheren Umstände
dieser Begebenheit enthüllten sich nur zögernd, und ließen man¬
ches Rätsel ungelöst. Sie war in besonders weicher Stimmung,
schloß sich dem Kreise von befreundeten Personen gerne an, es
war ein schöner, nicht zu heißer Tag, ihre Mama blieb zu Hause,
ihre ältere Schwester war bereits abgereist, die jüngere fühlte
sich leidend, wollte ihr aber das Vergnügen nicht stören, der
Mann dieser zweiten Schwester erklärte anfangs, er bleibe bei
seiner Frau, und ging dann ihr (Elisabeth) zuliebe mit. Diese
Szene schien mit dem ersten Hervortreten der Schmerzen viel
zu tun zu haben, denn sie erinnerte sich, daß sie sehr müde und
mit heftigen Schmerzen von dem Spaziergange zurückgekommen,
äußerte sich aber nicht sicher darüber, ob sie schon vorher
Schmerzen verspürt habe. Ich machte geltend, daß sie sich mit
irgend erheblichen Schmerzen kaum zu diesem weiten Wege
entschlossen hätte. Auf die Frage, woher auf diesem Spaziergange
die Schmerzen gekommen sein mögen, erhielt ich die nicht ganz
durchsichtige Antwort, der Kontrast zwischen ihrer Vereinsamung
142
Studien über Hysterie
und dem Eheglücke der kranken Schwester, welches ihr das Be¬
nehmen ihres Schwagers unausgesetzt vor Augen führte, sei ihr
schmerzlich gewesen.
Eine andere Szene, der vorigen der Zeit nach sehr benachbart,
spielte eine Rolle in der Verknüpfung der Schmerzen mit dem
Sitzen. Es war einige Tage nachher; Schwester und Schwager
waren bereits abgereist, sie befand sich in erregter, sehnsüchtiger
Stimmung, stand des Morgens früh auf, ging einen kleinen Hügel
hinauf bis zu einer Stelle, die sie so oft miteinander besucht
hatten und die eine herrliche Aussicht bot, und setzte sich dort,
ihren Gedanken nachhängend, auf eine steinerne Bank. Ihre Ge¬
danken betrafen wieder ihre Vereinsamung, das Schicksal ihrer
Familie, und den heißen Wunsch, ebenso glücklich zu werden
wie ihre Schwester war, gestand sie diesmal unverhüllt ein. Sie
kehrte mit heftigen Schmerzen von dieser Morgenmeditation
zurück, am Abend desselben Tages nahm sie das Bad, nach wel¬
chem die Schmerzen endgültig und dauernd aufgetreten waren.
Mit aller Bestimmtheit ergab sich ferner, daß die Schmerzen
im Gehen und Stehen sich anfänglich im Liegen zu beruhigen
pflegten. Erst als sie auf die Nachricht von der Erkrankung der
Schwester abends von Gastein abreiste und während der Nacht,
gleichzeitig von der Sorge um die Schwester und von tobenden
Schmerzen gequält, schlaflos im Eisenbahnwagen ausgestreckt lag,
stellte sich auch die Verbindung des Liegens mit den Schmerzen
her, und eine ganze Zeit hindurch war ihr sogar das Liegen
schmerzhafter als das Gehen und Stehen.
In solcher Art war erstens das schmerzliche Gebiet durch Appo¬
sition gewachsen, indem jedes neue pathogen wirksame Thema
eine neue Region der Beine besetzte, zweitens hatte jede der ein¬
druckskräftigen Szenen eine Spur hinterlassen, indem sie eine
bleibende, sich immer mehr häufende „Besetzung^^ der verschie¬
denen Funktionen der Beine, eine Verknüpfung dieser Funktionen
mit den Schmerzempfindungen hervorbrachte; es war aber un-
Fräulein Elisabeth v, R . , »
M5
verkennbar noch ein dritter Mechanismus an der Ausbildung'
der Astasie-Abasie in Mitwirkung gewesen. Wenn die Kranke die
Erzählung einer ganzen Reihe von Begebenheiten mit der Klage
schloß, sie habe dabei ihr „Alleinstehen^^ schmerzlich emp¬
funden, bei einer anderen Reihe, welche ihre verunglückten Ver¬
suche zur Herstellung eines neuen Familienlebens umschloß, nicht
müde wurde zu wiederholen, das schmerzliche daran sei das Ge¬
fühl ihrer Hilflosigkeit gewesen, die Empfindung, sie „komme
nicht von der Stelle‘^, so mußte ich auch ihren Reflexionen
einen Einfluß auf die Ausbildung der Abasie einräumen, mußte
ich annehmen, daß sie direkt einen symbolischen Ausdruck für
ihre schmerzlich betonten Gedanken gesucht und ihn in der Ver¬
stärkung ihres Leidens gefunden hatte. Daß durch eine solche
Symbolisierung somatische Symptome der Hysterie entstehen können^
haben wir bereits in unserer vorläufigen Mitteilung behauptet;,
ich werde in der Epikrise zu dieser Krankengeschichte einige
zweifellos beweisende Beispiele aufführen. Bei Fräulein Elisabeth
V. R . . . stand der psychische Mechanismus der Symbolisierung
nicht in erster Linie, er hatte die Abasie nicht geschaffen, wohl
aber sprach alles dafür, daß die bereits vorhandene Abasie auf
diesem Wege eine wesentliche Verstärkung erfahren hatte. Dem¬
nach war diese Abasie in dem Stadium der Entwicklung, in dem
ich sie antraf, nicht nur einer psychischen assoziativen Funktions¬
lähmung, sondern auch einer symbolischen Funktionslähmung
gleichzustellen.
Ich will, ehe ich die Geschichte meiner Kranken fortsetze,,
noch ein Wort über ihr Benehmen während dieser zweiten
Periode der Behandlung anfügen. Ich bediente mich während
dieser ganzen Analyse der Methode, durch Drücken auf den Kopf
Bilder und Einfalle hervorzurufen, einer Methode also, die ohne
volles Mitarbeiten und willige Aufmerksamkeit der Kranken un¬
anwendbar bleibt. Sie verhielt sich auch zeitweilig so, wie ich es
nur wünschen konnte, und in solchen Perioden war es wirklich
144
Studien über Hysterie
überraschend, wie prompt und wie unfehlbar chronologisch ge¬
ordnet die einzelnen Szenen, die zu einem Thema gehörten, sich
einstellten. Es war, als läse sie in einem langen Bilderbuche,
dessen Seiten vor ihren Augen vorübergezogen würden. Andere
Male schien es Hemmnisse zu geben, deren Art ich damals noch
nicht ahnte. Wenn ich meinen Druck ausübte, behauptete sie, es
sei ihr nichts eingefallen^ ich wiederholte den Druck, ich hieß
sie warten, es wollte noch immer nichts kommen. Die ersten
Male, als sich diese Widerspenstigkeit zeigte, ließ ich mich be¬
stimmen, die Arbeit abzubrechen, der Tag sei nicht günstige ein
andermal. Zwei Wahrnehmungen bestimmten mich aber, mein
Verhalten zu ändern. Erstens, daß sich solches Versagen der
Methode nur ereignete, wenn ich Elisabeth heiter und schmerz¬
frei gefunden hatte, niemals, wenn ich an einem schlechten Tag
kam, zweitens, daß sie eine solche Angabe, sie sehe nichts vor sich,
häufig machte, nachdem sie eine lange Pause hatte vergehen
lassen, während welcher ihre gespannte und beschäftigte Miene
mir doch einen seelischen Vorgang in ihr verriet. Ich entschloß
mich also zur Annahme, die Methode versage niemals, Elisabeth
habe unter dem Drucke meiner Hand jedesmal einen Einfall im
Sinne oder ein Bild vor Augen, sei aber nicht jedesmal bereit,
mir davon Mitteilung zu machen, sondern versuche das Herauf¬
beschworene wieder zu unterdrücken. Von den Motiven für solches
Verschweigen konnte ich mir zwei vorstellen, entweder Elisabeth
übte an ihrem Einfall eine Kritik, zu der sie nicht berechtigt
war, sie fand ihn nicht wertvoll genug, nicht passend als Ant¬
wort auf die gestellte Frage, oder sie scheute sich ihn anzugeben,
weil — ihr solche Mitteilung zu unangenehm war. Ich ging also
so vor, als wäre ich von der Verläßlichkeit meiner Technik voll¬
kommen überzeugt. Ich ließ es nicht mehr gelten, wenn sie be¬
hauptete, es sei ihr nichts eingefallen, versicherte ihr, es müsse
ihr etwas eingefallen sein, sie sei vielleicht nicht aufmerksam
genug, dann wolle ich den Druck gerne wiederholen, oder sie
Fräulein Elisabeth v, R , , ,
145
meine, ihr Einfall sei nicht der richtige. Das gehe sie aber gar
nichts an, sie sei verpflichtet, vollkommen objektiv zu bleiben
und zu sagen, was ihr in den Sinn gekommen sei, es möge
passen oder nicht, endlich, ich wisse genau, es sei ihr etwas ein¬
gefallen, sie verheimliche es mir, sie werde aber ihre Schmerzen
nie los werden, solange sie etwas verheimliche. Durch solches
Drängen erreichte ich, daß wirklich kein Druck mehr erfolglos
blieb. Ich mußte annehmen, daß ich den Sachverhalt richtig er¬
kannt hatte, und gewann bei dieser Analyse ein in der Tat un¬
bedingtes Zutrauen zu meiner Technik. Es kam oft vor, daß sie mir
erst nach dem dritten Drücken eine Mitteilung machte, dann aber
selbst hinzufügte: Ich hätte es Ihnen gleich das erstemal sagen
können: — Ja, warum haben Sie es nicht gleich gesagt ? — Ich
habe gemeint, es ist nicht das Richtige, oder: ich habe gemeint,
ich kann es umgehen, es ist aber jedesmal wiedergekommen. Ich
fing während dieser schweren Arbeit an, dem Widerstande, den
die Kranke bei der Reproduktion ihrer Erinnerungen zeigte, eine
tiefere Bedeutung beizulegen und die Anlässe sorgfältig zusammen¬
zustellen, bei denen er sich besonders auffällig verriet.
Ich komme nun zur Darstellung der dritten Periode unserer
Behandlung. Der Kranken ging es besser, sie war psychisch entlastet
und leistungsfähig geworden, aber die Schmerzen waren offenbar
nicht behoben, sie kamen von Zeit zu Zeit immer wieder, und
zwar in alter Heftigkeit. Dem unvollkommenen Heilerfolge ent¬
sprach die unvollständige Analyse, ich wußte noch immer nicht
genau, in welchem Momente und durch welchen Mechanismus
die Schmerzen entstanden waren. Während der Reproduktion dei*
mannigfaltigsten Szenen in der zweiten Periode und der Beob¬
achtung des Widerstandes der Kranken gegen die Erzählung hatte
sich bei mir ein bestimmter Verdacht gebildet5 ich wagte aber noch
nicht, ihn zur Grundlage meines Handelns zu machen. Eine zu¬
fällige Wahrnehmung gab da den Ausschlag. Ich hörte einmal
während der Arbeit mit der Kranken Männerschritte im Neben-
Freud, I.
10
146
Studien über Hysterie
zimmer, eine angenehm klingende Stimme, die eine Frage zu
stellen schien, und meine Patientin erhob sich darauf mit der
Bitte, für heute abzubrechen ^ sie höre, daß ihr Schwager gekommen
sei und nach ihr frage. Sie war bis dahin schmerzfrei gewesen,
nach dieser Störung verrieten ihre Miene und ihr Gang das plötz¬
liche Auftreten heftiger Schmerzen. Ich war in meinem Verdachte
bestärkt und beschloß, die entscheidende Aufklärung herbeizu¬
führen.
Ich stellte also die Frage nach den Umständen und Ursachen
des ersten Auftretens der Schmerzen. Als Antwort lenkten sich
ihre Gedanken auf den Sommerauf enthalt in jenem Kurorte vor
der Gasteiner Reise und es zeigten sich wieder einige Szenen,
die schon vorher minder erschöpfend behandelt worden waren.
Ihre Gemütsverfassung zu jener Zeit, die Erschöpfung nach der
Sorge um das Augenlicht der Mutter und nach deren Kranken¬
pflege w^ährend der Zeit der Augenoperation, ihr endliches Ver¬
zagen als einsames Mädchen etwas vom Leben genießen oder im
Leben leisten zu können. Sie war sich bis dahin stark genug vor¬
gekommen, um den Beistand eines Mannes entbehren zu können,
jetzt bemächtigte sich ihrer ein Gefühl ihrer Schwäche als Weib,
eine Sehnsucht nach Liebe, in welcher nach ihren eigenen Worten
ihr starres Wesen zu schmelzen begann. In solcher Stimmung
machte die glückliche Ehe ihrer jüngeren Schwester den tiefsten
Eindruck auf sie, wie rührend er für sie sorgte, wie sie sich mit
einem Blicke verstanden, wie sicher sie einer des -andern zu sein
schienen. Es war ja gewiß bedauerlich, daß die zweite Schwanger¬
schaft so rasch auf die erste folgte, und die Schwester wußte,
daß dies die Ursache ihres Leidens sei, aber wie willig ertrug sie
dieses Leiden, weil er die Ursache davon war. An dem Spazier¬
gange, der mit Elisabeths Schmerzen so innig verknüpft war,
wollte der Schwager anfangs nicht teilnehmen, er zog es vor, bei
der kranken Frau zu bleiben. Diese bewog ihn aber durch einen
Blick mitzugehen, weil sie meinte, daß es Elisabeth Freude machen
Fräulein Elisabeth v, R , , .
147
würde. Elisabeth blieb die ganze Zeit über in seiner Begleitung,
sie sprachen miteinander über die verschiedensten intimsten Dinge,
sie fand sich so sehr im Einklänge mit allem, was er sagte, und
der Wunsch, einen Mann zu besitzen, der ihm gleiche, wurde
übermächtig in ihr. Dann folgte die Szene wenige Tage später,
als sie am Morgen nach der Abreise den Aussichtsort aufsuchte,
welcher ein Lieblingsspaziergang der Abwesenden gewesen war.
Sie setzte sich dort auf einen Stein und träumte wiederum von
einem Lebensglücke, wie es der Schwester zugefallen war, und
von einem Manne, der ihr Herz so zu fesseln verstünde wie
dieser Schwager. Sie stand mit Schmerzen auf, die aber nochmals
vergingen, erst am Nachmittage nach dem warmen Bade, das sie
im Orte nahm, brachen die Schmerzen über sie herein, die sie
seither nicht verlassen hatten. Ich versuchte zu erforschen, mit
was für Gedanken sie sich damals im Bade beschäftigte 5 es ergab
sich aber nur, daß das Badhaus sie an ihre abgereisten Ge¬
schwister erinnerte, weil diese in demselben Hause gewohnt
hatten.
Mir mußte längst klar geworden sein, um was es sich handle,
die Kranke schien, in schmerzlich-süße Erinnerungen versunken,
nicht zu bemerken, welchem Aufschlüsse sie zusteuere, und setzte
die Wiedergabe ihrer Reminiszenzen fort. Es kam die Zeit in
Gastein, die Sorge, mit der sie jedem Briefe entgegensah, endlich
die Nachricht, daß es der Schwester schlecht ginge, das lange
Warten bis zum Abend, an dem sie erst Gastein verlassen konnten.
Die Fahrt in qualvoller Ungewißheit, in schlafloser Nacht —
alles als Momente, die von heftiger Steigerung der Schmerzen
begleitet waren. Ich fragte, ob sie sich während der Fahrt die
traurige Möglichkeit vorgestellt, die sich dann verwirklicht fand.
Sie antwortete, sie sei dem Gedanken sorgsam ausgewichen, die
Mutter aber habe nach ihrer Meinung vom Anfang an das
Schlimmste erwartet. — Nun folgte ihre Erinnerung der Ankunft
in Wien, der Eindrücke, die sie von den erwartenden Verwandten
10*
148
Studien Über Hysterie
empfingen, der kleinen Reise von Wien in die nahe Sommer¬
frische, in der die Schwester wohnte, der Ankunft dort am Abend,
des eilig zurückgelegten Weges durch den Garten bis zur Türe
des kleinen Gartenpavillons, — die Stille im Hause, die be¬
klemmende Dunkelheit; daß der Schwager sie nicht empfing;
dann standen sie vor dem Bette, sahen die Tote, und in dem Momente
der gräßlichen Gewißheit, daß die geliebte Schwester gestorben
sei, ohne von ihnen Abschied zu nehmen, ohne ihre letzten Tage
durch ihre Pflege verschönt zu haben — in demselben Momente
hatte ein anderer Gedanke Elisabeths Hirn durchzuckt, der sich
jetzt unabweisbar wieder eingestellt hatte, der Gedanke, der wie
ein greller Blitz durchs Dunkel fuhr: Jetzt ist er wieder frei, und
ich kann seine Frau werden.
Nun war freilich alles klar. Die Mühe des Analytikers war
reichlich gelohnt worden: Die Ideen der „Abwehreiner unver¬
träglichen Vorstellung, der Entstehung hysterischer Symptome
durch Konversion psychischer Erregung ins Körperliche, die Bildung
einer separaten psychischen Gruppe durch den Willensakt, der
zur Abwehr führt, dies alles wurde mir in jenem Momente greif¬
bar vor Augen gerückt. So und nicht anders war es hier zuge¬
gangen. Dieses Mädchen hatte ihrem Schwager eine zärtliche
Neigung geschenkt, gegen deren Aufnahme in ihr Bewußtsein
sich ihr ganzes moralisches Wesen sträubte. Es war ihr gelungen,
sich die schmerzliche Gewißheit, daß sie den Mann ihrer Schwester
liebe, zu ersparen, indem sie sich dafür körperliche Schmerzen
schuf, und in Momenten, wo sich ihr diese Gewißheit aufdrängen
wollte (auf dem Spaziergange mit ihm, während jener Morgen¬
träumerei, im Bade, vor dem Bette der Schwester), waren durch
gelungene Konversion ins Somatische jene Schmerzen entstanden.
Zur Zeit, da ich sie in Behandlung nahm, war die Absonderung
der auf diese Liebe bezüglichen Vorstellungsgruppe von ihrem
Wissen bereits vollzogen; ich meine, sie hätte sonst niemals einer
solchen Behandlung zugestimmt; der Widerstand, den sie zu
Fräulein Elisabeth v. R . . ,
H9
wiederholtenmalen der Reproduktion von traumatisch wirksamen
Szenen entgegengesetzt hatte, entsprach wirklich der Energie, mit
welcher die unverträgliche Vorstellung aus der Assoziation gedrängt
worden war.
Für den Therapeuten kam aber zunächst eine böse Zeit. Der
Effekt der Wiederaufnahme jener verdrängten Vorstellung war ein
niederschmetternder für das arme Kind. Sie schrie laut auf, als
ich den Sachverhalt mit den trockenen Worten zusammenfaßte:
Sie waren also seit langer Zeit in Ihren Schwager verliebt. Sie
klagte über die gräßlichsten Schmerzen in diesem Augenblicke,
sie machte noch eine verzweifelte Anstrengung, die Aufklärung
zurückzuweisen. Es sei nicht wahr, ich habe es ihr eingeredet,
es könne nicht sein, einer solchen Schlechtigkeit sei sie nicht
fähig. Das würde sie sich auch nie verzeihen. Es war leicht, ihr
zu beweisen, daß ihre eigenen Mitteilungen keine andere Deutung
zuließen, aber es dauerte lange, bis meine beiden Trostgründe,
daß man für Empfindungen unverantwortlich sei, und daß ihr
Verhalten, ihr Erkranken unter jenen Anlässen ein genügendes
Zeugnis für ihre moralische Natur sei, bis diese Tröstungen, sage
ich, Eindruck auf sie machten.
Ich mußte jetzt mehr als einen Weg einschlagen, um der
Kranken Linderung zu verschaffen. Zunächst wollte ich ihr Ge¬
legenheit geben, sich der seit langer Zeit aufgespeicherten Er¬
regung durch „Abreagierenzu entledigen. Wir forschten den
ersten Eindrücken aus dem Verkehre mit ihrem Schwager, dem
Beginne jener unbewußt gehaltenen Neigung nach. Es fanden sich
hier alle jene kleinen Vorzeichen und Ahnungen, aus denen eine
voll entwickelte Leidenschaft in der Rückschau soviel zu machen
versteht. Er hatte bei seinem ersten Besuche im Hause sie für
die ihm bestimmte Braut gehalten und sie vor der älteren, aber
unscheinbaren Schwester begrüßt. Eines Abends unterhielten sie
sich so lebhaft miteinander und schienen sich so wohl zu ver¬
stehen, daß die Braut sie mit der halb ernst gemeinten Berner-
150
Studien über Hysterie
kung unterbrach: „Eigentlich hättet Ihr zwei sehr gut zueinander
gepaßt.“ Ein anderes Mal war in einer Gesellschaft, welche von
der Verlobung noch nichts wußte, die Rede von dem jungen
Manne, und eine Dame beanständete einen Fehler seiner Gestalt,
der auf eine juvenile Knochenerkrankung hindeutete. Die Braut
selbst blieb ruhig dabei, Elisabeth aber fuhr auf und trat mit
einem Eifer, der ihr dann selbst unverständlich war, für den
geraden Wuchs ihres zukünftigen Schwagers ein. Indem wir uns
durch diese Reminiszenzen hindurcharbeiteten, wurde es Elisabeth
klar, daß die zärtliche Empfindung für ihren Schwager seit langer
Zeit, vielleicht seit Beginn ihrer Beziehungen in ihr geschlummert
und sich so lange hinter der Maske einer bloß verwandtschaft¬
lichen Zuneigung versteckt hatte, wie sie ihr hoch entwickeltes
Familiengefühl begreiflich machen konnte.
Dieses Abreagieren tat ihr entschieden sehr wohl; noch mehr
Erleichterung konnte ich ihr aber bringen, indem ich mich freund¬
schaftlich um gegenwärtige Verhältnisse bekümmerte. Ich suchte
in solcher Absicht eine Unterredung mit Frau v. R . . ., in der
ich eine verständige und feinfühlige, wenngleich durch die letzten
Schicksale in ihrem Lebensmute beeinträchtigte Dame fand. Von
ihr erfuhr ich, daß der Vorwurf einer unzarten Erpressung, den
der ältere Schwager gegen den Witwer erhoben hatte und der
für Elisabeth so schmerzlich war, bei näherer Erkundigung
zurückgenommen werden mußte. Der Charakter des jungen
Mannes konnte ungetrübt bleiben; ein Mißverständnis, die leicht
begreifliche Differenz in der Wertschätzung des Geldes, die der
Kaufmann, für den Geld ein ArbeitsWerkzeug ist, im Gegen¬
sätze zur Anschauung des Beamten zeigen durfte, mehr als dies
blieb von dem scheinbar so peinlichen Vorfälle nicht übrig. Ich
bat die Mutter, fortan Elisabeth alle Aufklärungen zu geben,
deren sie bedurfte, und ihr in der Folgezeit jene Gelegenheit
zur seelischen Mitteilung zu bieten, an welche ich sie gewöhnt
hatte.
Fräulein Elisabeth v, R , , ,151
Es lag mir natürlich auch daran zu erfahren, welche Aussicht
der jetzt bewußt gewordene Wunsch des Mädchens habe, zur
Wirklichkeit zu werden. Hier lagen die Dinge minder günstig!
Die Mutter sagte, sie habe die Neigung Elisabeths für ihren
Schwager längst geahnt, allerdings nicht gewußt, daß sich eine
solche noch bei Lebzeiten der Schwester geltend gemacht habe.
Wer sie beide im — allerdings selten gewordenen — Verkehre
sehe, dem könne über die Absicht des Mädchens, ihm zu gefallen,
kein Zweifel bleiben. Allein weder sie, die Mutter, noch die Rat¬
geber in der Familie, seien einer ehelichen Verbindung der beiden
sonderlich geneigt. Die Gesundheit des jungen Mannes sei keine
feste und habe durch den Tod der geliebten Frau einen neuen
Stoß erlitten 5 es sei auch gar nicht sicher, daß er seelisch soweit
erholt sei, um eine neue Ehe einzugehen. Er halte sich wahr¬
scheinlich darum so reserviert, vielleicht auch, weil er, seiner An¬
nahme nicht sicher, naheliegendes Gerede vermeiden wolle. Bei
dieser Zurückhaltung von beiden Seiten dürfte wohl die Lösung,
die sich Elisabeth ersehnte, mißglücken.
Ich teilte dem Mädchen alles mit, was ich von der Mutter
erfahren hatte, hatte die Genugtuung, ihr durch die Aufklärung
jener Geldaffäre wohlzutun, und mutete ihr anderseits zu, die
Ungewißheit über die Zukunft, die nicht zu zerstreuen war, ruhig
zu tragen. Jetzt aber drängte der vorgeschrittene Sommer dazu,
der Behandlung ein Ende zu machen. Sie befand sich wieder
wohler, von ihren Schmerzen war zwischen uns nicht mehr die
Rede, seitdem wir uns mit der Ursache beschäftigten, auf welche
sich die Schmerzen hatten zurückführen lassen. Wir hatten beide
die Empfindung, fertig geworden zu sein, wenngleich ich mir
sagte, daß das Abreagieren der verhaltenen Zärtlichkeit nicht
gerade sehr vollständig gemacht worden war. Ich betrachtete sie
als geheilt, verwies sie noch auf das selbsttätige Fortschreiten der
Lösung, nachdem eine solche einmal angebahnt war, und sie wider¬
sprach mir nicht. Sie reiste mit ihrer Mutter ab, um die älteste
152
Studien über Hysterie
Schwester und deren Familie im gemeinsamen Sommeraufenthalte
zu treffen.
Ich habe noch kurz über den weiteren Verlauf der Krankheit
bei Fräulein Elisabeth v. R . . . zu berichten. Einige Wochen nach
unserem Abschiede erhielt ich einen verzweifelten Brief der Mutter,
der mir mitteilte, Elisabeth habe sich beim ersten Versuche, mit
ihr von ihren Herzensangelegenheiten zu sprechen, in voller Em¬
pörung aufgelehnt und seither wieder heftige Schmerzen bekommen,
sie sei aufgebracht gegen mich, weil ich ihr Geheimnis verletzt
habe, zeige sich vollkommen unzugänglich, die Kur sei gründlich
mißlungen. Was nun zu tun wäre? Von mir wolle sie nichts
wissen. Ich gab keine Antwort^ es stand zu erwarten, daß sie
noch einmal den Versuch machen würde, die Einmengung der
Mutter abzuweisen und in ihre Verschlossenheit zurückzukehren,
nachdem sie aus meiner Zucht entlassen war. Ich hatte aber eine
Art von Sicherheit, es werde sich alles zurechtschütteln, meine
Mühe sei nicht vergebens angewandt gewesen. Zwei Monate
später waren sie nach Wien zurückgekehrt, und der Kollege, dem
ich die Einführung bei der Kranken dankte, brachte mir die Nach¬
richt, Elisabeth befinde sich vollkommen wohl, benehme sich wie
gesund, habe allerdings noch zeitweise etwas Schmerzen. Sie hat
mir seither noch zu wiederholten Malen ähnliche Botschaften ge¬
schickt, jedesmal dabei zugesagt, mich aufzusuchen, es ist aber
charakteristisch für das persönliche Verhältnis, das sich bei solchen
Behandlungen herausbildet, daß sie es nie getan hat. Wie mir
mein Kollege versichert, ist sie als geheilt zu betrachten, das Ver¬
hältnis des Schwagers zur Familie hat sich nicht geändert.
Im Frühjahr 1894 hörte ich, daß sie einen Hausball besuchen
werde, zu welchem ich mir Zutritt verschaffen konnte, und ich
ließ mir die Gelegenheit nicht entgehen, meine einstige Kranke
im raschen Tanze dahinfliegen zu sehen. Sie hat sich seither aus
freier Neigung mit einem Fremden ve^eiratet.
Fräulein Elisabeth v. R . . .
153
Epikrise
Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei
Lokaldiagnosen und Elektrodiagnostik erzogen worden wie andere
Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich,
daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu
lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissen¬
schaftlichkeit entbehren. Ich muß mich damit trösten, daß für
dieses Ergebnis die Natur des Gegenstandes offenbar eher verant¬
wortlich zu machen ist als meine Vorliebe; Lokaldiagnostik und
elektrische Reaktionen kommen bei dem Studium der Hysterie
eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung
der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten
gewohnt ist, mir gestattet, bei Anwendung einiger weniger psycho¬
logischer Formeln doch eine Art von Einsicht in den Hergang
einer Hysterie zu gewinnen. Solche Krankengeschichten wollen
beurteilt werden wie psychiatrische, haben aber vor letzteren eines
voraus, nämlich die innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte
und Krankheitssymptomen, nach welcher wir in den Biographien
anderer Psychosen noch vergebens suchen.
Ich habe mich bemüht, die Aufklärungen, die ich über den Fall
des Fräuleins Elisabeth v. R . . . geben kann, in die Darstellung
ihrer Heilungsgeschichte zu verflechten; vielleicht ist es nicht
überflüssig, das Wesentliche hier im Zusammenhänge zu wieder¬
holen. Ich habe den Charakter der Kranken geschildert, die Züge,
die bei so viel Hysterischen wiederkehren und die man wahrhaftig
nicht auf Rechnung einer Degeneration setzen darf: die Begabung,
den Ehrgeiz, die moralische Feinfühligkeit, das übergroße Liebes-
bedürfnis, das zunächst in der Familie seine Befriedigung findet,
die über das weibliche Ideal hinausgehende Selbständigkeit ihrer
Natur, die sich in einem guten Stücke Eigensinn, Kampfbereit¬
schaft und Verschlossenheit äußert. Eine irgend erhebliche here¬
ditäre Belastung war nach den Mitteilungen meines Kollegen in
154
Studien über Hysterie
den beiden Familien nicht nachweisbar^ ihre Mutter zwar litt
durch lange Jahre an nicht näher erforschter neurotischer Ver¬
stimmung 5 deren Geschwister aber, der Vater und dessen Familie
durften zu den ausgeglichenen, nicht nervösen Menschen gezählt
werden. Ein schwerer Fall von Neuropsychose war bei den
nächsten Angehörigen nicht vorgefallen.
Auf diese Natur wirkten nun schmerzliche Gemütsbewegungen
ein, zunächst der depotenzierende Einfluß einer langen Kranken¬
pflege bei dem geliebten Vater.
Es hat seine guten Gründe, wenn die Krankenpflege in der
Vorgeschichte der Hysterien eine so bedeutende Rolle spielt. Eine
Reihe der hierbei wirksamen Momente liegt ja klar zutage, die
Störung des körperlichen Befindens durch unterbrochenen Schlaf,
vernachlässigte Körperpflege, die Rückwirkung einer beständig
nagenden Sorge auf die vegetativen Funktionen5 das Wichtigste
aber liegt nach meiner Schätzung anderwärts. Wessen Sinn durch
die hunderterlei Aufgaben der Krankenpflege beschäftigt ist, die
sich in unabsehbarer Folge wochen- und monatelang aneinander
reihen, der gewöhnt sich einerseits daran, alle Zeichen der
eigenen Ergriffenheit zu unterdrücken, anderseits lenkt er sich
bald von der Aufmerksamkeit für seine eigenen Eindrücke ab,
weil ihm Zeit wie Kraft fehlt, ihnen gerecht zu werden. So
speichert der Krankenpfleger eine Fülle von affektfähigen Ein¬
drücken in sich auf, die kaum klar genug perzipiert, jedenfalls
nicht durch Abreagieren geschwächt worden sind. Er schafft sich
das Material für eine Retentionshysterie. Genest der Kranke,
so werden all diese Eindrücke freilich entwertet 5 stirbt er
aber, bricht die Zeit der Trauer herein, in welcher nur wert¬
voll erscheint, was sich auf den Verlorenen bezieht, so kommen
auch jene der Erledigung harrenden Eindrücke an die Reihe,
und nach einer kurzen Pause der Erschöpfung bricht die
Hysterie los, zu der der Keim während der Krankenpflege gelegt
wurde.
Fräulein Elisabeth v. R . , .
155
Man kann dieselbe Tatsache der nachträglichen Erledigung der
während der Krankenpflege gesammelten Traumen gelegentlich auch
antreffen, wo der Gesamteindruck des Krankseins nicht zustande
kommt, der Mechanismus der Hysterie aber doch gewahrt wird.
So kenne ich eine hochbegabte, an leichten nervösen Zuständen
leidende Frau, deren ganzes Wesen die Hysterika bezeugt, wenn¬
gleich sie nie den Ärzten zur Last gefallen ist, nie die Ausübung
ihrer Pflichten hat unterbrechen müssen. Die Frau hat bereits
drei oder vier ihrer Lieben bis zum Tode gepflegt, jedesmal bis zur
vollen körperlichen Erschöpfung, sie ist auch nach diesen traurigen
Leistungen nicht erkrankt. Aber kurze Zeit nach dem Tode des
Kranken beginnt in ihr die Reproduktionsarbeit, welche ihr die
Szenen der Krankheit und des Sterbens nochmals vor die Augen
führt. Sie macht jeden Tag, jeden Eindruck von neuem durch,
weint darüber und tröstet sich darüber — man möchte sagen
in Muße. Solche Erledigung geht bei ihr durch die Geschäfte
des Tages durch, ohne daß die beiden Tätigkeiten sich verwirren.
Das Ganze zieht chronologisch an ihr vorüber. Ob die Erinnerungs¬
arbeit eines Tages genau einen Tag der Vergangenheit deckt,
weiß ich nicht. Ich vermute, dies hängt von der Muße ab, welche
ihr die laufenden Geschäfte des Haushaltes lassen.
Außer dieser „nachholenden Tränedie sich an den Todesfall
mit kurzem Intervall anschließt, hält diese Frau periodische Er¬
innerungsfeier alljährlich um die Zeit der einzelnen Katastrophen,
und hier folgt ihre lebhafte visuelle Reproduktion und ihre Affekt¬
äußerung getreulich dem Datum. Ich treffe sie beispielsweise in
Tränen und erkundige mich teilnehmend, was es heute gegeben
hat. Sie wehrt die Nachfrage halb ärgerlich ab: „Ach nein, es
war nur heute der Hofrat N . . . wieder da und hat uns zu ver¬
stehen gegeben, daß nichts zu erwarten ist. Ich hab’ damals keine
Zeit gehabt, darüber zu weinen.“ Sie bezieht sich auf die letzte
Krankheit ihres Mannes, der vor drei Jahren gestorben ist. Es
wäre mir sehr interessant zu wissen, ob sie bei diesen jährlich
156
Studien über Hysterie
wiederkehrenden Erinnerungsfeiern stets dieselben Szenen wieder
holt oder ob sich ihr jedesmal andere Einzelheiten zum Ab¬
reagieren darbieten, wie ich im Interesse meiner Theorie vermute/
Ich kann aber nichts Sicheres darüber erfahren, die ebenso kluge
als starke Frau schämt sich der Heftigkeit, mit welcher jene
Reminiszenzen auf sie wirken.
Ich hebe nochmals hervor: Diese Frau ist nicht krank, das
nachfolgende Abreagieren ist bei aller Ähnlichkeit doch kein
hysterischer Vorgang, man darf sich die Frage stellen, woran es
liegen mag, daß nach der einen Krankenpflege sich eine Hysterie
ergibt, nach der anderen nicht. An der persönlichen Disposition
1) Ich hahe einmal mit Verwunderung erfahren, daß ein solches „nachholendes
Abreagieren“ — nach anderen Eindrücken als bei einer Krankenpflege — den Inhalt
einer sonst rätselhaften Neiurose bilden kann. Es war dies bei einem schönen neun¬
zehnjährigen Mädchen, Fräulein Mathilde H . . ., welches ich zuerst mit einer unvoll¬
ständigen Lähmung der Beine sah, dann aber Monate später zur Behandlung bekam,
weil sie ihren Charakter verändert hatte, bis zur Lebensunlust verstimmt, rücksichts¬
los gegen ihre Mutter, reizbar und unzugänglich geworden war. Das ganze Bild der
Patientin gestattete mir nicht die Annahme einer gewöhnlichen Melancholie. Sie war
sehr leicht in tiefen Somnambulismus zu versetzen, und ich bediente mich dieser
ihrer Eigentümlichkeit, um ihr jedesmal Gebote und Suggestionen zu erteilen, die
sie in tiefem Schlafe anhÖrte, mit reichlichen Tränen begleitete, die aber sonst an
ihrem Befinden wenig änderten. Eines Tages wurde sie in der Hypnose gesprächig
und teilte mir mit, daß die Ursache ihrer Verstimmung die vor mehreren Monaten
erfolgte Auflösung ihrer Verlobung sei. Es hätte sich bei näherer Bekanntschaft mit
dem Verlobten immer mehr herausgestellt, was der Mutter und ihr unerwünscht
gewesen wäre, anderseits seien die materiellen Vorteile der Verbindung zu greifbar
gewesen, um den Entschluß des Abbrechens leicht zu machen: so hätten sie beide
eine lange Zeit geschwankt, sie selbst sei in einen Zustand von Unentschlossenheit
geraten, in dem sie apathisch alles über sich ergehen ließ, und endlich habe die
Mutter für sie das entscheidende Nein gesprochen. Eine Weile später sei sie wie aus
einem Traum erwacht, habe begonnen sich eifrig in Gedanken mit der bereits ge¬
fällten Entscheidung zu befassen, das Für und das Wider bei sich abzuwägen, und
dieser Vorgang setze sich bei ihr immer noch fort. Sie lebe in jener Zeit der Zweifel,
habe an jedem Tage die Stimmung und die Gedanken, die sich für den damaligen
Tag geschickt hätten, ihre Reizbarkeit gegen die Mutter sei auch nur in damals
geltenden Verhältnissen begründet, und neben dieser Gedankentätigkeit komme ihr
das gegenwärtige Leben wie eine Scheinexistenz, wie etwas Geträumtes vor. — Es
gelang mir nicht wieder, das Mädchen zum Reden zu bringen, ich setzte meinen
Zuspruch in tiefem Somnambulismus fort, sah sie jedesmal in Tränen ausbrechen,
ohne daß sie mir je Antwort gab, und eines Tages, ungefähr um den Jahrestag der
Verlobung, war der ganze Zustand von Verstimmung vorüber, was mir als großer
hypnotischer Heilerfolg angerechnet wurde.
Fräulein Elisabeth v. R . . .
157
kann es nicht liegen, eine solche war bei der Dame, die ich hier
im Sinne habe, im reichsten Ausmaße vorhanden.
Ich kehre zu Fräulein Elisabeth v. R . . . zurück. Während der
Pflege ihres Vaters also entstand bei ihr das erstemal ein hysteri¬
sches Symptom, und zwar ein Schmerz an einer bestimmten Stelle
des rechten Oberschenkels. Der Mechanismus dieses Symptoms
läßt sich auf Grund der Analyse hinreichend durchleuchten. Es
war ein Moment, in welchem der Vorstellungskreis ihrer Pflichten
gegen den kranken Vater mit dem damaligen Inhalte ihres eroti¬
schen Sehnens in Konflikt geriet. Sie entschied sich unter leb¬
haften Selbstvorwürfen für den ersteren und schuf sich dabei den
hysterischen Schmerz. Nach der Auffassung, welche die Konver¬
sionstheorie der Hysterie nahe legt, wäre der Vorgang folgender
Art darzustellen: Sie verdrängte die erotische Vorstellung aus ihrem
Bewußtsein und wandelte deren Affektgröße in somatische Schmerz¬
empfindung um. Ob sich ihr dieser erste Konflikt ein einziges
Mal oder wiederholte Male darbot, wurde nicht klar; wahrschein¬
licher ist das letztere. Ein ganz ähnlicher Konflikt — indes von
höherer moralischer Bedeutung und durch die Analyse noch besser
bezeugt — wiederholte sich nach Jahren und führte zur Steige¬
rung derselben Schmerzen und zu deren Ausbreitung über die
anfänglich besetzten Grenzen. Wiederum war es ein erotischer
Vorstellungskreis, der in Konflikt mit all ihren moralischen Vor¬
stellungen geriet, denn die Neigung bezog sich auf ihren Schwager,
und sowohl zu Lebzeiten als nach dem Tode ihrer Schwester war
es ein für sie unannehmbarer Gedanke, daß sie sich gerade nach
diesem Manne sehnen sollte. Über diesen Konflikt, welcher den
Mittelpunkt der Krankengeschichte darstellt, gibt die Analyse aus¬
führliche Auskunft. Die Neigung der Kranken zu ihrem Schwager
mochte seit langem gekeimt haben, ihrer Entwicklung kam die
körperliche Erschöpfung durch neuerliche Krankenpflege, die mora¬
lische Erschöpfung durch mehrjährige Enttäuschungen zugute, ihre
innerliche Sprödigkeit begann sich damals zu lösen, und sie ge-
158
Studien über Hysterie
Stand sich das Bedürfnis nach der Liebe eines Mannes ein. Während
eines über Wochen ausgedehnten Verkehrs (in jenem Kurorte)
gelangte diese erotische Neigung gleichzeitig mit den Schmerzen zur
vollen Ausbildung, und für dieselbe Zeit bezeugt die Analyse einen
besonderen psychischen Zustand der Kranken, dessen Zusammen¬
halt mit der Neigung und den Schmerzen ein Verständnis des Vor¬
ganges im Sinne der Konversionstheorie zu ermöglichen scheint.
Ich muß mich nämlich der Behauptung getrauen, daß die
Kranke zu jener Zeit sich der Neigung zu ihrem Schwager, so
intensiv selbe auch war, nicht klar bewußt wurde, außer bei
einzelnen seltenen Veranlassungen und dann nur für Momente.
Wäre es anders gewesen, so hätte sie sich auch des Wider¬
spruches zwischen dieser Neigung und ihren moralischen Vor¬
stellungen bewußt werden und ähnliche Seelenqualen bestehen
müssen, wie ich sie nach unserer Analyse leiden sah. Ihre Er¬
innerung hatte von dergleichen Leiden nichts zu berichten, sie
hatte sich dieselben erspart, folglich war ihr auch die Neigung
selbst nicht klar geworden; damals wie noch zur Zeit der Ana¬
lyse war die Liebe zu ihrem Schwager nach Art eines Fremd¬
körpers in ihrem Bewußtsein vorhanden, ohne in Beziehungen
zu ihrem sonstigen Vorstellungsleben getreten zu sein. Es war der
eigentümliche Zustand des Wissens und gleichzeitigen Nichtwissens
in bezug auf diese Neigung vorhanden, der Zustand der ab¬
getrennten psychischen Gruppe. Etwas anderes ist aber nicht ge¬
meint, wenn man behauptet, diese Neigung sei ihr nicht „klar
bewußt‘^ gewesen, es ist nicht gemeint eine niedrigere Qualität
oder ein geringerer Grad von Bewußtsein, sondern eine Abtrennung
vom freien assoziativen Denkverkehre mit dem übrigen Vorstellungs¬
inhalte.
Wie konnte es nur dazu kommen, daß eine so intensiv betonte
Vorstellungsgruppe so isoliert gehalten wurde? Im allgemeinen
wächst doch mit der Affektgröße einer Vorstellung auch deren
Rolle in der Assoziation.
Fräulein Elisabeth v. R , . ,
159
Man kann diese Frage beantworten, wenn man auf zwei Tat¬
sachen Rücksicht nimmt, deren man sich als sichergestellt bedienen
darf, l) daß gleichzeitig mit der Bildung jener separaten psychi¬
schen Gruppe die hysterischen Schmerzen entstanden, 2) daß die
Kranke dem Versuche der Herstellung der Assoziation zwischen
der separaten psychischen Gruppe und dem übrigen Bewußtseins¬
inhalt einen großen Widerstand entgegensetzte und, als diese Ver¬
einigung doch vollzogen war, einen großen psychischen Schmerz
empfand. Unsere Auffassung der Hysterie bringt diese beiden
Momente mit der Tatsache der Bewußtseinsspaltung zusammen,
indem sie behauptet: in 2) sei der Hinweis auf das Motiv der
Bewußtseinsspaltung enthalten, in auf den Mechanismus der¬
selben. Das Motiv war das der Abwehr, das Sträuben des ganzen
Ichs, sich mit dieser Vorstellungsgruppe zu vertragen ^ der Mecha¬
nismus war der der Konversion, d. h. anstatt der seelischen
Schmerzen, die sie sich erspart hatte, traten körperliche auf, es
wurde so eine Umwandlung eingeleitet, bei der sich als Ge¬
winn herausstellte, daß die Kranke sich einem unerträglichen
psychischen Zustand entzogen hatte, allerdings auf Kosten einer
psychischen Anomalie, der zugelassenen Bewußtseinsspaltung, und
eines körperlichen Leidens, der Schmerzen, über welche sich eine
Astasie-Abasie aufbaute.
Allerdings eine Anleitung dazu, wie man bei sich eine solche
Konversion herstellt, kann ich nicht geben; man macht das offen¬
bar nicht so, wie man mit Absicht eine willkürliche Handlung
ausführt; es ist ein Vorgang, der sich unter dem Antriebe des
Motivs der Abwehr in einem Individuum vollzieht, wenn dieses
die Eignung dazu in seiner Organisation — oder derzeitigen
Modifikation — trägt.
Man hat ein Recht, der Theorie näher auf den Leib zu rücken
und zu fragen: Was ist es denn, was sich hier in körperlichen
Schmerz verwandelt? Die vorsichtige Antwort wird lauten:
Etwas, woraus seelischer Schmerz hätte werden können und
i6o
Studien über Hysterie
werden sollen. Will man sich weiter wagen und eine Art von
algebraischer Darstellung der Vorstellungsmechanik versuchen, so
wird man etwa dem Vorstellungskomplexe dieser unbewußt
gebliebenen Neigung einen gewissen Affektbetrag zuschreiben und
letztere Quantität als das Konvertierte bezeichnen. Eine direkte
Folgerung dieser Auffassung wäre es, daß die „unbewußte Liebe^^
durch solche Konversion so sehr an Intensität eingebüßt, daß sie
zu einer schwachen Vorstellung herabgesunken wäre^ ihre Existenz
als abgetrennte psychische Gruppe wäre dann erst durch diese
Schwächung ermöglicht. Indes ist der vorliegende Fall nicht ge¬
eignet, in dieser so heikein Materie Anschaulichkeit zu gewähren.
Er entspricht wahrscheinlich einer bloß unvollständigen Konver¬
sion ^ aus anderen Fällen kann man wahrscheinlich machen, daß
auch vollständige Konversionen Vorkommen, und daß bei diesen
in der Tat die unverträgliche Vorstellung „verdrängt“ worden
ist, wie nur eine sehr wenig intensive Vorstellung verdrängt
werden kann. Die Kranken versichern nach vollzogener assozia¬
tiver Vereinigung, daß sie sich seit der Entstehung des hysteri¬
schen Symptoms in Gedanken nicht mehr mit der unverträglichen
Vorstellung beschäftigt haben.
Ich habe oben behauptet, daß die Kranke bei gewissen Ge¬
legenheiten, wenngleich nur flüchtig, die Liebe zu ihrem Schwager
auch bewußt erkannte. Ein solcher Moment war z. B., als ihr
am Bette der Schwester der Gedanke durch den Kopf fuhr: „Jetzt
ist er frei und du kannst seine Frau werden.“ Ich muß die Be¬
deutung dieser Momente für die Auffassung der ganzen Neurose
erörtern. Nun, ich meine, in der Annahme einer „Abwehrhysterie“
ist bereits die Forderung enthalten, daß wenigstens ein solcher
Moment vorgekommen ist. Das Bewußtsein weiß ja nicht vorher,
wann sich eine unverträgliche Vorstellung einstellen wird; die
unverträgliche Vorstellung, die später mit ihrem Anhänge zur
Bildung einer separaten psychischen Gruppe ausgeschlossen wird,
muß ja anfänglich im Denkverkehre gestanden sein, sonst hätte
Fräulein Elisabeth v. R , , ,
i6i
sich der Konflikt nicht ergeben, der ihre Ausschließung herbei¬
geführt hat.^ Gerade diese Momente sind also als die „träuma-
tischen^^ zu bezeichnen^ in ihnen hat die Konversion stattgefunden,
deren Ergebnisse die Bewußtseinsspaltung und das hysterische
Symptom sind. Bei Fräulein Elisabeth v. R . . . deutet alles auf
eine Mehrheit von solchen Momenten (die Szenen vom Spazier¬
gange, Morgenmeditation, Bad, am Bette der Schwester) 5 vielleicht
kamen sogar neue Momente dieser Art während der Behandlung
vor. Die Mehrheit solcher traumatischer Momente wird nämlich
dadurch ermöglicht, daß ein ähnliches Erlebnis wie jenes, das die
unverträgliche Vorstellung zuerst einführte, der abgetrennten psy¬
chischen Gruppe neue Erregung zuführt und so den Erfolg der
Konversion vorübergehend aufhebt. Das Ich muß sich mit dieser
plötzlich verstärkt aufleuchtenden Vorstellung beschäftigen und
muß dann durch neuerliche Konversion den früheren Zustand
wieder herstellen. Fräulein Elisabeth, die beständig mit ihrem
Schwager verkehrte, mußte dem Auftauchen neuer Traumen be¬
sonders ausgesetzt sein. Ein Fall, dessen traumatische Geschichte
in der Vergangenheit abgeschlossen lag, wäre mir für diese Dar¬
stellung erwünschter gewesen.
Ich muß mich nun mit einem Punkte beschäftigen, den ich als
eine Schwierigkeit für das Verständnis der vorstehenden Kranken
geschickte bezeichnet habe. Auf Grund der Analyse nahm ich
an, daß eine erste Konversion bei der Kranken während der
Pflege ihres Vaters stattgefunden, und zwar damals, als ihre
Pflichten als Pflegerin in Widerstreit mit ihrem erotischen Sehnen
gerieten, und daß dieser Vorgang das Vorbild jenes späteren war,
der im Alpenkurorte zum Ausbruch der Krankheit führte. Nun
ergibt sich aber aus den Mitteilungen der Kranken, daß sie zur
Zeit der Krankenpflege und in dem darauffolgenden Zeitabschnitte,
den ich als „erste Periode“ bezeichnet habe, überhaupt nicht
1) Anders bei einer Hypnoidhysterie; hier wäre der Inhalt der separaten psychi¬
schen Gruppe nie im Ich-Bewußtsein gewesen.
Freud. I.
11
102
Studien über Hysterie
an Schmerzen und Gehschwäche gelitten hat. Sie war zwar
während der Krankheit des Vaters einmal durch wenige Tage
mit Schmerzen in den Füßen bettlägerig, aber es ist zweifelhaft
geblieben, ob dieser Anfall bereits der Hysterie zugeschrieben
werden muß. Eine kausale Beziehung zwischen diesen ersten
Schmerzen und irgendwelchem psychischen Eindrücke ließ sich
bei der Analyse nicht erweisen^ es ist möglich, ja sogar wahr¬
scheinlich, daß es sich damals um gemeine, rheumatische Muskel¬
schmerzen gehandelt hat. Wollte man selbst annehmen, daß dieser
erste Schmerzanfall das Ergebnis einer hysterischen Konversion in¬
folge der Ablehnung ihrer damaligen erotischen Gedanken war,
so bleibt doch die Tatsache übrig, daß die Schmerzen nach we¬
nigen Tagen verschwanden, so daß die Kranke sich also in der
Wirklichkeit anders verhalten hatte, als sie während der Analyse
zu zeigen schien. Während der Reproduktion der sogenannten ersten
Periode begleitete sie alle Erzählungen von der Krankheit und dem
Tode des Vaters, von den Eindrücken aus dem Verkehre mit dem
ersten Schwager u. dgl. mit Schmerzensäußerungen, während sie zur
Zeit, da sie diese Eindrücke erlebte, keine Schmerzen verspürte. Ist
das nicht ein Widerspruch, der geeignet ist, das Vertrauen in den
aufklärenden Wert einer solchen Analyse recht herabzusetzen?
Ich glaube, den Widerspruch lösen zu können, indem ich an¬
nehme, die Schmerzen — das Produkt der Konversion — seien
nicht entstanden, während die Kranke die Eindrücke der ersten
Periode erlebte, sondern nachträglich, also in der zweiten Periode,
als die Kranke diese Eindrücke in ihren Gedanken reproduzierte.
Die Konversion sei erfolgt nicht an den frischen Eindrücken,
sondern an den Erinnerungen derselben. Ich meine sogar, ein
solcher Vorgang sei nichts Außergewöhnliches bei der Hysterie,
habe einen regelmäßigen Anteil an der Entstehung hysterischer
Symptome. Da aber eine solche Behauptung gewiß nicht ein¬
leuchtet, werde ich versuchen, sie durch andere Erfahrungen
glaubwürdiger zu machen.
Fräulein Elisabeth v. R , , ,
163
Es geschah mir einmal, daß sich während einer derartigen ana¬
lytischen Behandlung bei einer Kranken ein neues hysterisches
Symptom ausbildete, so daß ich dessen Wegräumung am Tage
nach seinem Entstehen in Angriff nehmen konnte.
Ich will die Geschichte dieser Kranken in ihren wesentlichen
Zügen hier einschieben; sie ist ziemlich einfach und doch nicht
ohne Interesse.
Fräulein Rosalia H . . ., dreiundzwanzig Jahre alt, seit einigen
Jahren bemüht, sich zur Sängerin auszubilden, klagt darüber, daß
ihre schöne Stimme ihr in gewissen Lagen nicht gehorcht. Es tritt
ein Gefühl von Würgen und Schnüren in der Kehle ein, so daß
der Ton wie gepreßt klingt^ ihr Lehrer hat ihr darum noch nicht
gestatten können, sich vor dem Publikum als Sängerin zu zeigen;
obwohl diese Unvollkommenheit nur die Mittellage betrifft, so
kann sie doch nicht durch einen Fehler ihres Organs erklärt
werden; zuzeiten bleibt die Störung ganz aus, so daß sich der
Lehrer für sehr befriedigt erklärt, andere Male, auf die leiseste
Erregung hin, auch scheinbar ohne jeden Grund, tritt die schnü¬
rende Empfindung wieder ein, und die freie Stimmentfaltung ist
behindert. Es war nicht schwer, in dieser belästigenden Emp¬
findung die hysterische Konversion zu erkennen; ob tatsächlich
eine Kontraktur in gewissen Muskeln der Stimmbänder eintrat,
habe ich nicht feststellen lassen.^ In der hypnotischen Analyse,
die ich mit dem Mädchen unternahm, erfuhr ich folgendes von
ihren Schicksalen und damit von der Verursachung ihrer Be-
1) Ich hjibe einen anderen Fall beobachtet, in dem eine Kontraktur der Masse-
teren der Sängerin die Ausübung ihrer Kunst unmöglich machte. Die junge Frau
war durch peinliche Erlebnisse in ihrer Familie veranlaßt worden, sich zur Bühne
zu wenden. Sie sang in Rom in großer Erregung Probe, als sie plötzlich die Emp¬
findung bekam, sie könne den geöffneten Mund nicht schließen; sie fiel ohnmächtig
zu Boden. Der geholte Arzt drückte die Kiefer gewaltsam zusammen; die Kranke
aber blieb von da an unfällig, die Kiefer weiter als die Breite eines Fingers von¬
einander zu entfernen, und mußte den neugewählten Beruf aufgeben. Als sie mehrere
Jahre später in meine Behandlung kam, waren die Ursachen jener Erregung offenbar
längst abgetan, denn eine Massage in leichter Hypnose reichte hin, um ihr den
Muifd weit zu öffnen. Die Dame hat seither öffentlich gesungen.
164
Studien über Hysterie
schwerden^ sie war, früh verwaist, von einer selbst kinderreichen
Tante ins Haus genommen worden und wurde dadurch Teil¬
nehmerin an einem höchst unglücklichen Familienleben. Der Mann
dieser Tante, eine offenbar pathologische Persönlichkeit, mißhan¬
delte Frau und Kinder in rohester Weise und kränkte sie beson¬
ders durch die unverhohlene sexuelle Bevorzugung der im Hause
befindlichen Dienst- und Kindermädchen, was um so anstößiger
wurde, je mehr die Kinder heranwuchsen. Als die Tante starb,
wurde Rosalia die Schützerin der verwaisten und vom Vater be¬
drängten Kinderschar. Sie nahm ihre Pflichten ernst, focht alle
Konflikte durch, zu denen sie diese Stellung führte, hatte aber
dabei die größte Mühe aufzuwenden, um die Äußerungen ihres
Hasses und ihrer Verachtung gegen den Onkel zu unterdrücken.^
Damals entstand in ihr die Empfindung des Schnürens im Halse;
jedesmal, wenn sie eine Antwort schuldig bleiben mußte, wenn
sie sich gezwungen hatte, auf eine empörende Beschuldigung
ruhig zu bleiben, fühlte sie das Kratzen in der Kehle, das Zu¬
sammenschnüren, das Versagen der Stimme, kurz alle die im
Kehlkopfe und Schlunde lokalisierten Empfindungen, die sie jetzt
im Singen störten. Es war begreiflich, daß sie nach der Möglich¬
keit suchte, sich selbständig zu machen, um den Aufregungen und
peinlichen Eindrücken zu entgehen, die jeder Tag im Hause des
Onkels brachte. Ein tüchtiger Gesanglehrer nahm sich ihrer un¬
eigennützig an und versicherte ihr, daß ihre Stimme sie berech¬
tige, den Beruf einer Sängerin zu wählen. Sie begann nun heim¬
lich Unterricht bei ihm zu nehmen, aber dadurch, daß sie oft
mit dem Schnüren im Halse, wie es nach heftigen häuslichen
Szenen übrig blieb, zum Sangunterrichte wegeilte, festigte sich eine
Beziehung zwischen dem Singen und der hysterischen Parästhesie,
die schon durch die Organempfindung beim Singen angebahnt
war. Der Apparat, über den sie beim Singen frei hätte verfügen
1) \ 7 jusatz 1924:'] Auch hier war es in Wirklichkeit der Vater, nicht der Onkel.
Fräulein Elisabeth v, R , . .
165
sollen, zeigte sich besetzt mit Innervationsresten nach jenen Zahl¬
zeichen Szenen unterdrückter Erregung. Sie hatte seither das Haus
ihres Onkels verlassen, war in eine fremde Stadt gezogen, um
der Familie fern zu bleiben, aber das Hindernis war damit nicht
überwunden. Andere hysterische Symptome zeigte das schöne, un¬
gewöhnlich verständige Mädchen nicht.
Ich bemühte mich, diese „Retentionshysterie“ durch Reprodu¬
zieren aller erregenden Eindrücke und nachträgliches Abreagieren
zu erledigen. Ich ließ sie schimpfen, Reden halten, dem Onkel
tüchtig die Wahrheit ins Gesicht sagen u. dgl. Diese Behandlung
tat ihr auch sehr wohl 5 leider lebte sie unterdes hier in recht
ungünstigen Verhältnissen. Sie hatte kein Glück mit ihren Ver¬
wandten. Sie war Gast bei einem anderen Onkel, der sie auch
freundlich aufnahm5 aber gerade dadurch erregte sie das Mißfallen
der Tante. Diese Frau vermutete bei ihrem Manne ein tiefer¬
gehendes Interesse an seiner Nichte und ließ es sich angelegen
sein, dem Mädchen den Aufenthalt in Wien gründlich zu ver¬
leiden. Sie hatte selbst in ihrer Jugend einer Neigung zur Künstler¬
schaft entsagen müssen und neidete es jetzt der Nichte, daß sie
ihr Talent ausbilden konnte, obwohl hier nicht Neigung, sondern
Drang zur Selbständigkeit die Entschließung herbeigeführt hatte.
Rosalie fühlte sich so beengt im Hause, daß sie z. B. nicht zu
singen oder Klavier zu spielen wagte, wenn die Tante in Hör¬
weite war, und daß sie es sorgfältig vermied, dem übrigens be¬
tagten Onkel — Bruder ihrer Mutter — etwas vorzuspielen oder
vorzusingen, wenn die Tante hinzukommen konnte. Während ich
mich bemühte, die Spuren alter Erregungen zu tilgen, entstanden
aus diesem Verhältnisse zu ihren Gastgebern neue, die endlich
auch den Erfolg meiner Behandlung störten und vorzeitig die
Kur unterbrachen.
Eines Tages erschien die Patientin bei mir mit einem neuen,
kaum vierundzwanzig Stunden alten Symptom. Sie klagte über
ein unangenehmes Prickeln in den Fingerspitzen, das seit gestern
i66
Studien über Hysterie
alle paar Stunden auftrete und sie nötige, ganz besondere, schnel¬
lende Bewegungen mit den Fingern zu machen. Ich konnte den
Anfall nicht sehen, sonst hätte ich wohl aus dem Anblicke der
Fingerbewegungen den Anlaß erraten ^ ich versuchte aber sofort
der Begründung des Symptoms (eigentlich des kleinen hysterischen
Anfalles) durch hypnotische Analyse auf die Spur zu kommen.
Da das Ganze erst seit so kurzer Zeit bestand, hoffte ich Auf¬
klärung und Erledigung rasch herbeiführen zu können. Zu meinem
Erstaunen brachte mir die Kranke — ohne Zaudern und in
chronologischer Ordnung — eine ganze Reihe von Szenen, in
früher Kindheit beginnend, denen etwa gemeinsam war, daß sie
ein Unrecht ohne Abwehr geduldet hatte, so daß es ihr dabei in
den Fingern zucken konnte, z. B. Szenen, wie daß sie in der
Schule die Hand hinhalten mußte, auf die ihr der Lehrer mit
dem Lineal einen Schlag versetzte. Es waren aber banale Anlässe,
denen ich die Berechtigung, in die Ätiologie eines hysterischen
Symptoms einzugehen, gerne bestritten hätte. Anders stand es mit
einer Szene aus ihren ersten Mädchenjahren, die sich daran schloß.
Der böse Onkel, der an Rheumatismus litt, hatte von ihr ver¬
langt, daß sie ihn am Rücken massiere. Sie getraute sich nicht,
es zu verweigern. Er lag dabei zu Bette, plötzlich warf er die
Decke ab, erhob sich, wollte sie packen und hinwerfen. Sie unter¬
brach natürlich die Massage und hatte sich im nächsten Momente
geflüchtet und in ihrem Zimmer versperrt. Sie erinnerte sich
offenbar nicht gerne an dieses Erlebnis, wollte sich auch nicht
äußern, ob sie bei der plötzlichen Entblößung des Mannes etwas
gesehen habe. Die Empfindung in den Fingern mochte dabei
durch den unterdrückten Impuls zu erklären sein, ihn zu züch¬
tigen, oder einfach daher rühren, daß sie eben mit der Massage
beschäftigt war. Erst nach dieser Szene kam sie auf die gestern
erlebte zu sprechen, nach welcher sich Empfindung und Zucken
in den Fingern als wiederkehrendes Erinnerungssymbol eingestellt
hatten. Der Onkel, bei dem sie jetzt wohnte, hatte sie gebeten,
Fräulein Elisabeth v, R , , ,
167
ihm etwas vorzuspielen 5 sie setzte sich ans Klavier und begleitete
sich dabei mit Gesang in der Meinung, die Tante sei ausgegangen.
Plötzlich kam die Tante in die Türe^ Rosalie sprang auf, warf
den Deckel des Klaviers zu und schleuderte das Notenblatt weg^
es ist auch zu erraten, welche Erinnerung in ihr auftauchte und
welchen Gedankengang sie in diesem Momente abwehrte, den der
Erbitterung über den ungerechten Verdacht, der sie eigentlich
bewegen sollte, das Haus zu verlassen, während sie doch der Kur
wegen genötigt war, in Wien zu bleiben, und eine andere Unter¬
kunft nicht hatte. Die Bewegung der Finger, die ich bei der
Reproduktion dieser Szene sah, war die des Fortschnellens, als ob
man — wörtlich und figürlich — etwas von sich weisen würde,
ein Notenblatt wegfegen oder eine Zumutung abtun.
Sie war ganz bestimmt in ihrer Versicherung, daß sie dieses
Symptom nicht vorher — nicht aus Anlaß der zuerst erzählten
Szenen — verspürt hatte. Was blieb also übrig anzunehmen, als
daß das gestrige Erlebnis zunächst die Erinnerung an frühere ähn¬
lichen Inhaltes geweckt, und daß dann die Bildung eines Erinne¬
rungssymbols der ganzen Gruppe von Erinnerungen gegolten hatte?
Die Konversion war einerseits von frischerlebtem, anderseits von
erinnertem Affekt bestritten worden.
Wenn man sich die Sachlage näher überlegt, muß man zuge¬
stehen, daß ein solcher Vorgang eher als Regel denn als Aus¬
nahme bei der Entstehung hysterischer Symptome zu bezeichnen
ist. Fast jedesmal, wenn ich nach der Determinierung solcher Zu¬
stände forschte, fand sich nicht ein einziger, sondern eine Gruppe
von ähnlichen traumatischen Anlässen vor (vgl. die schönen Bei¬
spiele bei Frau Emmy in der Krankengeschichte A). Für manche
dieser Fälle ließ sich feststellen, daß das betreffende Symptom
schon nach dem ersten Trauma für kurze Zeit erschienen war,
um dann zurückzutreten, bis es durch ein nächstes Trauma neuer¬
dings hervorgerufen und stabilisiert wurde. Zwischen diesem zeit¬
weiligen Hervortreten und dem überhaupt Latentbleiben nach den
i68
Studien über Hysterie
ersten Anlässen ist aber kein prinzipieller Unterschied zu kon¬
statieren, und in einer überwiegend großen Anzahl von Beispielen
ergab sich wiederum, daß die ersten Traumen kein Symptom
hinterlassen hatten, während ein späteres Trauma derselben Art
ein Symptom hervorrief, welches doch zu seiner Entstehung der
Mitwirkung der früheren Anlässe nicht entbehren konnte, und
dessen Lösung wirklich die Berücksichtigung aller Anlässe er¬
forderte. In die Ausdrucksweise der Konversionstheorie übersetzt,
will diese unleugbare Tatsache der Summation der Traumen und
der erstweiligen Latenz der Symptome besagen, daß die Konversion
ebensogut von frischem wie von erinnertem Affekt statthaben kann,
und diese Annahme klärt den Widerspruch völlig auf, in dem bei
Fräulein Elisabeth v. R . . . Krankengeschichte und Analyse zu
stehen scheinen.
Es ist ja keine Frage, daß die Gesunden die Fortdauer von
Vorstellungen mit unerledigtem Affekte in ihrem Bewußtsein im
großen Ausmaße ertragen. Die Behauptung, die ich eben ver¬
fochten, nähert bloß das Verhalten der Hysterischen dem der
Gesunden an. Es kommt offenbar auf ein quantitatives Moment
an, nämlich darauf, wieviel von solcher Affektspannung eine
Organisation verträgt. Auch der Hysterische wird ein gewisses
Maß unerledigt beibehalten können^ wächst dasselbe durch Sum¬
mation bei ähnlichen Anlässen über die individuelle Tragfähigkeit
hinaus, so ist der Anstoß zur Konversion gegeben. Es ist also
keine fremdartige Aufstellung, sondern beinahe ein Postulat, daß
die Bildung hysterischer Symptome auch auf Kosten von er¬
innertem Affekte vor sich gehen könne.
Ich habe mich nun mit dem Motive und mit dem Mechanis¬
mus dieses Falles von Hysterie beschäftigt^ es erübrigt noch, die
Determinierung des hysterischen Symptoms zu erörtern. Warum
mußten gerade die Schmerzen in den Beinen die Vertretung des
seelischen Schmerzes übernehmen? Die Umstände des Falles weisen
darauf hin, daß dieser somatische Schmerz nicht von der Neurose
Fräulein Elisabeth v. R , . ,
169
geschaffen, sondern bloß von ihr benützt, gesteigert und erhalten
wurde. Ich will gleich hinzusetzen, in den allermeisten Fällen von
hysterischen Algien, in welche ich Einsicht bekommen konnte,
war es ähnlich^ es war immer zu Anfang ein wirklicher, organisch
begründeter Schmerz vorhanden gewesen. Es sind die gemeinsten,
verbreitetsten Schmerzen der Menschheit, die am häufigsten dazu
berufen erscheinen, eine Rolle in der Hysterie zu spielen, vor
allem die periostalen und neuralgischen Schmerzen bei Erkrankung
der Zähne, die aus so verschiedenen Quellen stammenden Kopf¬
schmerzen, und nicht minder die so häufig verkannten rheumatischen
Schmerzen der Muskeln. Den ersten Anfall von Schmerzen, den
Fräulein Elisabeth v. R . . . noch während der Pflege ihres Vaters
gehabt, halte ich auch für einen organisch begründeten. Ich er¬
hielt nämlich keine Auskunft, als ich nach einem psychischen
Anlasse dafür forschte, und ich bin, ich gestehe es, geneigt, meiner
Methode des Hervorrufens versteckter Erinnerungen differential
diagnostische Bedeutung beizulegen, wenn sie sorgfältig gehandhabt
wird. Dieser ursprünglich rheumatische^ Schmerz wurde nun bei
der Kranken zum Erinnerungssymbol für ihre schmerzlichen
psychischen Erregungen, und zwar, soviel ich sehen kann, aus
mehr als einem Grunde. Zunächst und hauptsächlich wohl darum,
weil er ungefähr gleichzeitig mit jenen Erregungen im Bewußt
sein vorhanden war^ zweitens weil er mit dem Vorstellungsinhalte
jener Zeit in mehrfacher Weise verknüpft war oder verknüpft
sein konnte. Er war vielleicht überhaupt nur eine entfernte Folge
der Krankenpflege, der verringerten Bewegung und der schlech¬
teren Ernährung, welche das Amt der Pflegerin mit sich brachte.
Aber das war der Kranken kaum klar geworden 5 mehr in Betracht
kommt wohl, daß sie ihn in bedeutsamen Momenten der Pflege
spüren mußte, z. B. wenn sie in der Winterkälte aus dem Bette
sprang, um dem Rufe des Vaters zu folgen. Geradezu entscheidend
1) Vielleicht aber spinal-neurasthenische?
170
Studien über Hysterie
für die Richtung, welche die Konversion nahm, mußte aber die
andere Weise der assoziativen Verknüpfung sein, der Umstand,
daß durch eine lange Reihe von Tagen eines ihrer schmerzhaften
Beine mit dem geschwollenen Beine des Vaters beim Wechsel der
Binden in Berührung kam. Die durch diese Berührung ausgezeich¬
nete Stelle des rechten Beines blieb von da an der Herd und Aus¬
gangspunkt der Schmerzen, eine künstliche hysterogene Zone, deren
Entstehung sich in diesem Falle klar durchschauen läßt.
Sollte sich jemand über diese assoziative Verknüpfung zwischen
physischem Schmerz und psychischem Affekt als eine zu viel¬
fältige und künstliche verwundern, so würde ich antworten, solche
Verwunderung sei ebenso unbillig wie jene andere darüber, „daß
gerade die Reichsten in der Welt das meiste Geld besitzen^^ Wo
nicht so reichliche Verknüpfung vorliegt, da bildet sich eben kein
hysterisches Symptom, da findet die Konversion keinen Weg^ und
ich kann versichern, daß das Beispiel des Fräuleins Elisabeth v. R...
in Hinsicht der Determinierung zu den einfacheren gehörte. Ich
habe, besonders bei Frau Cäcilie M . . ., die verschlungensten Knoten
dieser Art zu lösen gehabt.
Wie sich über diese Schmerzen die Astasie-Abasie unserer Kranken
aufbaute, nachdem einmal der Konversion ein bestimmter Weg
geöffnet war, dies habe ich schon in der Krankengeschichte er¬
örtert. Ich habe aber dort auch die Behauptung vertreten, daß
die Kranke die Funktionsstörung durch Symbolisierung geschaffen
oder gesteigert, daß sie für ihre Unselbständigkeit, ihre Ohnmacht,
etwas an den Verhältnissen zu ändern, einen somatischen Aus¬
druck fand in der Abasie-Astasie, und daß die Redensarten: Nicht
von der Stelle kommen, keinen Anhalt haben u. dgl. die Brücke
für diesen neuen Akt der Konversion bildeten. Ich werde mich
bemühen, diese Auffassung durch andere Beispiele zu stützen.
Die Konversion auf Grund von Gleichzeitigkeit bei sonst vor¬
handener assoziativer Verknüpfung scheint an die hysterische Dis¬
position die geringsten Ansprüche zu stellen ^ die Konversion durch
Fräulein Elisabeth v, R , , ,
171
Symbolisierung hingegen eines höheren Grades von hysterischer
Modifikation zu bedürfen, wie sie auch bei Fräulein Elisabeth erst
im späteren Stadium ihrer Hysterie nachweisbar ist. Die schönsten
Beispiele von Symbolisierung habe ich bei Frau Cäcilie M . . .
beobachtet, die ich meinen schwersten und lehrreichsten Fall von
Hysterie nennen darf. Ich habe bereits angedeutet, daß sich diese
Krankengeschichte leider einer ausführlichen Wiedergabe entzieht.
Frau Cäcilie litt unter anderen Dingen an einer überaus hef¬
tigen Gesichtsneuralgie, die zwei- bis dreimal im Jahre plötzlich
auftrat, fünf bis zehn Tage anhielt, jeder Therapie trotzte und
dann wie abgeschnitten aufhörte. Sie beschränkte sich auf den
zweiten und dritten Ast des einen Trigeminus, und da Uraturie
zweifellos war, und ein nicht ganz klarer „Rheumatismus acutus^^
in der Geschichte der Kranken eine gewisse Rolle spielte, lag die
Auffassung einer gichtischen Neuralgie nahe genug. Diese Auf¬
fassung wurde auch von den Konsiliarärzten, die jeden Anfall zu
sehen bekamen, geteilt; die Neuralgie sollte mit den gebräuchlichen
Methoden: elektrische Pinselung, alkalische Wässer, Abführmittel,
behandelt werden, blieb aber jedesmal unbeeinflußt, bis es ihr be¬
liebte, einem anderen Symptom den Platz zu räumen. In früheren
Jahren — die Neuralgie war fünfzehn Jahre alt — waren
die Zähne beschuldigt worden, diese Neuralgie zu unterhalten;
sie wurden zur Extraktion verurteilt, und eines schönen Tages
wurde in der Narkose die Exekution an sieben der Missetäter
vollzogen. Das ging nicht so leicht ab; die Zähne saßen so fest,
daß von den meisten die Wurzeln zurückgelassen werden mußten.
Erfolg hatte diese grausame Operation keinen, weder zeitweiligen
noch dauernden. Die Neuralgie tobte damals monatelang. Auch
zur Zeit meiner Behandlung wurde bei jeder Neuralgie der Zahn¬
arzt geholt; er erklärte jedesmal, kranke Wurzeln zu finden, be¬
gann sich an die Arbeit zu machen, wurde aber gewöhnlich bald
unterbrochen, denn die Neuralgie hörte plötzlich auf und mit ihr
das Verlangen nach dem Zahnarzte. In den Intervallen taten die
172
Stildien Über Hysterie
Zähne gar nicht weh. Eines Tages, als gerade wieder ein Anfall
wütete, wurde ich von der Kranken zur hypnotischen Behandlung
veranlaßt, ich legte auf die Schmerzen ein sehr energisches Verbot,
und sie hörten von diesem Momente an auf. Ich begann damals
Zweifel an der Echtheit dieser Neuralgie zu nähren.
Etwa ein Jahr nach diesem hypnotischen Heilerfolge nahm der
Krankheitszustand der Frau Cäcilie eine neue und überraschende
Wendung. Es kamen plötzlich andere Zustände, als sie den letzten
Jahren eigen gewesen waren, aber die Kranke erklärte nach einigem
Besinnen, daß alle diese Zustände bei ihr früher einmal dagewesen
wären, und zwar über den langen Zeitraum ihrer Krankheit
(dreißig Jahre) verstreut. Es wickelte sich nun wirklich eine über¬
raschende Fülle von hysterischen Zufällen ab, welche die Kranke
an ihre richtige Stelle in der Vergangenheit zu lokalisieren ver¬
mochte, und bald wurden auch die oft sehr verschlungenen Ge¬
dankenverbindungen kenntlich, welche die Reihenfolge dieser
Zufälle bestimmten. Es war wie eine Reihe von Bildern mit er¬
läuterndem Texte. Pit res muß mit der Aufstellung seines delire
ecmnesique etwas Derartiges im Auge gehabt haben. Die Art,
wie ein solcher der Vergangenheit angehöriger hysterischer Zu¬
stand reproduziert wurde, war höchst merkwürdig. Es tauchte
zuerst im besten Befinden der Kranken eine pathologische Stim¬
mung besonderer Färbung auf, welche von der Kranken regel¬
mäßig verkannt und auf ein banales Ereignis der letzten Stunden
bezogen wurde; dann folgten unter zunehmender Trübung des
Bewußtseins hysterische Symptome: Halluzinationen, Schmerzen,
Krämpfe, lange Deklamationen, und endlich schloß sich an diese
das halluzinatorische Auftauchen eines Erlebnisses aus der Ver¬
gangenheit, welches die initiale Stimmung erklären und die je¬
weiligen Symptome determinieren konnte. Mit diesem letzten Stücke
des Anfalles war die Klarheit wieder da, die Beschwerden ver¬
schwanden wie durch Zauber, und es herrschte wieder Wohl¬
befinden — bis zum nächsten Anfalle, einen halben Tag später.
Fräulein Elisabeth v. R . , ,
173
Gewöhnlich wurde ich auf der Höhe des Zustandes geholt, leitete
die Hypnose ein, rief die Reproduktion des traumatischen Erleb¬
nisses hervor und bereitete dem Anfalle durch Kunsthilfe ein
früheres Ende. Indem ich mehrere hunderte solcher Zyklen mit
der Kranken durchmachte, erhielt ich die lehrreichsten Aufschlüsse
über Determinierung hysterischer Symptome. Auch war die Beob¬
achtung dieses merkwürdigen Falles in Gemeinschaft mit Breuer
der nächste Anlaß zur Veröffentlichung unserer „vorläufigen Mit-
teilung^^
In diesem Zusammenhänge kam es endlich auch zur Reproduk¬
tion der Gesichtsneuralgie, die ich als aktuellen Anfall noch selbst
behandelt hatte. Ich war neugierig, ob sich hier eine psychische
Verursachung ergeben würde. Als ich die traumatische Szene
hervorzurufen versuchte, sah sich die Kranke in eine Zeit großer
seelischer Empfindlichkeit gegen ihren Mann versetzt, erzählte
von einem Gespräche, das sie mit ihm geführt, von einer Bemer¬
kung seinerseits, die sie als schwere Kränkung aufgefaßt, dann
faßte sie sich plötzlich an die Wange, schrie vor Schmerz laut
auf und sagte: Das war mir wie ein Schlag ins Gesicht. — Da¬
mit war aber auch Schmerz und Anfall zu Ende.
Kein Zweifel, daß es sich hier um eine Symbolisierung ge¬
handelt hatte 5 sie hatte gefühlt, als ob sie den Schlag ins
Gesicht wirklich bekommen hätte. Nun wird jedermann die
Frage auf werfen, wieso wohl die Empfindung eines „Schlages ins
Gesicht^^ zu den Äußerlichkeiten einer Trigeminusneuralgie, zur
Beschränkung auf den zweiten und dritten Ast, zur Steigerung
beim Mundöffnen und Kauen (nicht beim Reden!) gelangt sein
mag.
Am nächsten Tage war die Neuralgie wieder da, nur ließ sie
sich diesmal durch die Reproduktion einer anderen Szene lösen,
deren Inhalt gleichfalls eine vermeintliche Beleidigung war. So
ging es neun Tage lang fort; es schien sich zu ergeben, daß
Jahre hindurch Kränkungen, insbesondere durch Worte, auf dem
174
Studien über Hysterie
Wege der Symbolisierung neue Anfälle dieser Gesichtsneuralgie
hervorgerufen hatten.
Endlich gelang es aber, auch zum ersten Anfälle von Neuralgie
(vor mehr als fünfzehn Jahren) vorzudringen. Hier fand sich keine
Symbolisierung, sondern eine Konversion durch Gleichzeitigkeit^
es war ein schmerzlicher Anblick, bei dem ihr ein Vorwurf auf¬
tauchte, welcher sie veranlaßte, eine andere Gedankenreihe zurück¬
zudrängen. Es war also ein Fall von Konflikt und Abwehr^ die
Entstehung der Neuralgie in diesem Momente nicht weiter er¬
klärlich, wenn man nicht annehmen wollte, daß sie damals an
leichten Zahn- oder Gesichtsschmerzen gelitten, und dies w^ar nicht
unwahrscheinlich, denn sie hatte sich gerade in den ersten Mo¬
naten der ersten Gravidität befunden.
So ergab sich also als Aufklärung, daß diese Neuralgie auf dem ge¬
wöhnlichen Wege der Konversion zum Merkzeichen einer bestimmten
psychischen Erregung geworden war, daß sie aber in der Folge durch
assoziative Anklänge aus dem Gedankenleben, durch symbolisierende
Konversion, geweckt werden konnte; eigentlich dasselbe Verhalten,
das wir bei Fräulein Elisabeth v. R . . . gefunden haben.
Ich will ein zweites Beispiel anführen, welches die Wirksam¬
keit der Symbolisierung unter anderen Bedingungen anschaulich
machen kann: Zu einer gewissen Zeit plagte Frau Cäcilie ein
heftiger Schmerz in der rechten Ferse, Stiche bei jedem Schritte,
die das Gehen unmöglich machten. Die Analyse führte uns dabei
auf eine Zeit, in welcher sich die Patientin in einer ausländischen
Heilanstalt befunden hatte. Sie war acht Tage lang in ihrem
Zimmer gelegen, sollte dann vom Hausarzte das erstemal zur
gemeinsamen Tafel abgeholt werden. Der Schmerz war in dem
Momente entstanden, als die Kranke seinen Arm nahm, um das
Zimmer zu verlassen; er schwand während der Reproduktion
dieser Szene, als die Kranke den Satz aussprach: Damals habe sie
die Furcht beherrscht, ob sie auch das „rechte Auftreten^^ in
der fremden Gesellschaft treffen werde!
Fräulein Elisabeth v, R , , ,
175
Dies scheint nun ein schlagendes, beinahe komisches Beispiel
von Entstehung hysterischer Symptome durch Symbolisierung ver¬
mittels des sprachlichen Ausdruckes. Allein ein näheres Eingehen
auf die Umstände jenes Momentes bevorzugt eine andere Auf¬
fassung. Die Kranke litt zu jener Zeit überhaupt an Fußschmerzen,
sie war wegen Fußschmerzen solange zu Bette geblieben^ und es
kann nur zugegeben werden, daß die Furcht, von der sie bei
den ersten Schritten befallen wurde, aus den gleichzeitig vorhan¬
denen Schmerzen den einen, symbolisch passenden, in der rechten
Ferse hervorsuchte, um ihn zu einer psychischen Algie auszubilden
und ihm zu einer besonderen Fortdauer zu verhelfen.
Erscheint in diesen Beispielen der Mechanismus der Symboli¬
sierung in den zweiten Rang gedrängt, was sicherlich der Regel
entspricht, so verfüge ich doch auch über Beispiele, welche die
Entstehung hysterischer Symptome durch bloße Symbolisierung
zu beweisen scheinen. Eines der schönsten ist folgendes, es bezieht
sich wiederum auf Frau Cäcilie. Sie lag als fünfzehnjähriges
Mädchen im Bette, bewacht von ihrer gestrengen Großmama.
Plötzlich schrie das Kind auf, sie hatte einen bohrenden Schmerz
in der Stirne zwischen den Augen bekommen, der dann wochen¬
lang anhielt. Bei der Analyse dieses Schmerzes, der sich nach
fast dreißig Jahren reproduzierte, gab sie an, die Großmama habe
sie so „ durchdringendangeschaut, daß ihr der Blick tief ins
Gehirn gedrungen wäre. Sie fürchtete nämlich, von der alten
Frau mißtrauisch betrachtet worden zu sein. Bei der Mitteilung
dieses Gedankens brach sie in ein lautes Lachen aus, und der
Schmerz war wieder zu Ende. Hier finde ich nichts anderes als
den Mechanismus der Symbolisierung, der zwischen dem Mecha¬
nismus der Autosuggestion und dem der Konversion gewisser¬
maßen die Mitte hält.
Die Beobachtung der Frau Cäcilie M . . . hat mir Gelegenheit
gegeben, geradezu eine Sammlung derartiger Symbolisierungen
anzulegen. Ein ganze Reihe von körperlichen Sensationen, die
Studien Über Hysterie
^76 .
sonst als organisch vermittelt angesehen werden, hatte bei ihr
psychischen Ursprung oder war wenigstens mit einer psychischen
Deutung versehen. Eine gewisse Reihe von Erlebnissen war bei
ihr von der Empfindung eines Stiches in der Herzgegend be¬
gleitet. („Es hat mir einen Stich ins Herz gegeben.Der nagel¬
förmige Kopfschmerz der Hysterie war bei ihr unzweifelhaft als
Denkschmerz aufzulösen. („Es steckt mir etwas im Kopf“); er
löste sich auch jedesmal, wenn das betreffende Problem gelöst
war. Der Empfindung der hysterischen Aura im Halse ging der
Gedanke parallel: Das muß ich herunterschlucken, wenn diese
Empfindung bei einer Kränkung auftrat. Es war eine ganze Reihe
von parallellaufenden Sensationen und Vorstellungen, in welcher
bald die Sensation die Vorstellung als Deutung erweckt, bald die
Vorstellung durch Symbolisierung die Sensation geschaffen hatte,
und nicht selten mußte es zweifelhaft bleiben, welches der beiden
Elemente das primäre gewesen war.
Ich habe bei keiner anderen Patientin mehr eine so ausgiebige
Verwendung der Symbolisierung auffinden können. Freilich war
Frau Cäcilie M . . . eine Person von ganz ungewöhnlicher, ins¬
besondere künstlerischer Begabung, deren hochentwickelter Sinn
für Form sich in vollendet schönen Gedichten kundgab. Ich be¬
haupte aber, es liegt weniger Individuelles und Willkürliches als
man meinen sollte, darin, wenn die Hysterika der affektbetonten
Vorstellung durch Symbolisierung einen somatischen Ausdruck
schafft. Indem sie den sprachlichen Ausdruck wörtlich nimmt,
den „Stich ins Herz“ oder den „Schlag ins Gesicht“ bei einer
verletzenden Anrede wie eine reale Begebenheit empfindet, übt
sie keinen witzigen Mißbrauch, sondern belebt nur die Emp¬
findungen von neuem, denen der sprachliche Ausdruck seine Be¬
rechtigung verdankt. Wie kämen wir denn dazu, von dem Ge¬
kränkten zu sagen: „es hat ihm einen Stich ins Herz gegeben“,
wenn nicht tatsächlich die Kränkung von einer derartig zu deu¬
tenden Präkordialempfindung begleitet und an ihr kenntlich wäre?
Fräulein Elisabeth v. R . , ,
177
Wie wahrscheinlich ist es nicht, daß die Redensart „etwas her-
unterschlucken“, die man auf unerwiderte Beleidigung anwendet,
tatsächlich von den Innervationsempfindungen herrührt, die im
Schlunde auftreten, wenn man sich die Rede versagt, sich an der
Reaktion auf Beleidigung hindert? All diese Sensationen und
Innervationen gehören dem „Ausdruck der Gemütsbewegungen
an, der, wie uns Darwin gelehrt hat, aus ursprünglich sinn¬
vollen und zweckmäßigen Leistungen besteht^ sie mögen gegen¬
wärtig zumeist so abgeschwächt sein, daß ihr sprachlicher Aus¬
druck uns als bildliche Übertragung erscheint, allein sehr wahr¬
scheinlich war das alles einmal wörtlich gemeint, und die Hysterie
tut recht daran, wenn sie für ihre stärkeren Innervationen den
ursprünglichen Wortsinn wieder herstellt. Ja, vielleicht ist es un¬
recht zu sagen, sie schaffe sich solche Sensationen durch Symbo-
lisierung^ sie hat vielleicht den Sprachgebrauch gar nicht zum
Vorbilde genommen, sondern schöpft mit ihm aus gemeinsamer
Quelle.^
1) In Zuständen tiefer gehender psychischer Veränderung kommt offenbar auch eine
symbolische Ausprägung des mehr artifiziellen Sprachgebrauches in sinnlichen Bil¬
dern und Sensationen vor. Frau Cäcilie M . . . hatte eine Zeit, in welcher sich ihr
jeder Gedanke in eine Halluzination umsetzte, deren Losung oft viel Witz erforderte.
Sie klagte mir damals, sie werde durch die Halluzination belästigt, daß ihre beiden
Ärzte — Breuer und ich — im Garten an zwei nahen Bäumen aufgehängt wären.
Die Halluzination verschwand, nachdem die Analyse folgenden Hergang aufgedeckt
hatte: Abends vorher war sie von Breuer mit der Bitte um ein bestimmtes Medi¬
kament abgewiesen worden, sie setzte dann ihre Hoffnung auf mich, fand mich aber
ebenso hartherzig. Sie zürnte uns darüber und dachte in ihrem Affekt: Die zwei
sind einander wert, der eine ist das Pendant zum anderen!
Freud, I.
12
ZUR PSYCHOTHERAPIE DER HYSTERIE
Wir haben in der „Vorläufigen Mitteilungberichtet, daß sich
uns während der Forschung nach der Ätiologie hysterischer Sym¬
ptome auch eine therapeutische Methode ergeben hat, die wir
für praktisch bedeutsam halten. „Wir fanden nämlich, anfangs
zu unserer größten Überraschung, daß die einzelnen
hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr
verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an
den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu er¬
wecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen,
und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst
ausführlicher Weise schilderte und dem Affekte Worte
gab“ (S. ii).
Wir suchten uns ferner verständlich zu machen, auf welche
Weise unsere psychotherapeutische Methode wirke: „Sie hebt
die Wirksamkeit der ursprünglich nicht abreagierten
Vorstellung dadurch auf, daß sie dem eingeklemmten
Affekt derselben den Ablauf durch die Rede gestattet,
und bringt sie zur assoziativen Korrektur, indem sie
dieselbe ins normale Bewußtsein zieht (in leichterer
Hypnose) oder durch ärztliche Suggestion aufhebt, wie
es im Somnambulismus mit Amnesie geschieht^^ (S. 25).
Ich will nun versuchen, im Zusammenhänge darzutun, wie
weit diese Methode trägt, um was sie mehr als andere leistet.
7jur Psychotherapie der Hysterie
179
mit welcher Technik und mit welchen Schwierigkeiten sie ar¬
beitet, wenngleich das Wesentliche hierüber bereits in den voran¬
stehenden Krankengeschichten enthalten ist, und ich es nicht ver¬
meiden kann, mich in dieser Darstellung zu wiederholen.
1
Ich darf auch für meinen Teil sagen, daß ich am Inhalte der
„Vorläufigen Mitteilung“ festhalten kann^ jedoch muß ich ein¬
gestehen, daß sich mir in den seither verflossenen Jahren — bei
unausgesetzter Beschäftigung mit den dort berührten Problemen
— neue Gesichtspunkte aufgedrängt haben, die eine wenigstens
zum Teil andersartige Gruppierung und Auffassung des damals
bekannten Materials an Tatsachen zur Folge hatten. Es wäre un¬
recht, wenn ich versuchen wollte, meinem verehrten Freunde
J. Breuer zuviel von der Verantwortlichkeit für diese Entwick¬
lung aufzubürden. Die folgenden Ausführungen bringe ich daher
vorwiegend im eigenen Namen.
Als ich versuchte, die Br euer sehe Methode der Heilung hyste¬
rischer Symptome durch Ausforschung und Abreagieren in der
Hypnose an einer größeren Reihe von Kranken zu verwenden,
stießen mir zwei Schwierigkeiten auf, in deren Verfolgung ich zu
einer Abänderung der Technik wie der Auffassung gelangte. Es
waren nicht alle Personen hypnotisierbar, die unzweifelhaft hyste¬
rische Symptome zeigten und bei denen höchstwahrscheinlich der¬
selbe psychische Mechanismus obwaltete^ 2) ich mußte Stellung
zu der Frage nehmen, was denn wesentlich die Hysterie charak¬
terisiert und wodurch sich dieselbe gegen andere Neurosen ab¬
grenzt.
Ich verschiebe es auf später mitzuteilen, wie ich die erstere
Schwierigkeit bewältigt und was ich aus ihr gelernt habe. Ich
gehe zunächst darauf ein, wie ich in der täglichen Praxis gegen
das zweite Problem Stellung nahm. Es ist sehr schwierig, einen
12 *
i8o
Studien über Hysterie
Fall von Neurose richtig zu durchschauen, ehe man ihn einer
gründlichen Analyse unterzogen hat^ einer Analyse, wie sie eben
nur bei Anwendung der Breuerschen Methode resultiert. Die
Entscheidung über Diagnose und Art der Therapie muß aber vor
einer solchen gründlichen Kenntnis gefallt werden. Es blieb mir
also nichts übrig, als solche Fälle für die kathartische Methode
auszuwählen, die man vorläufig als Hysterie diagnostizieren konnte,
die einzelne oder mehrere von den Stigmen oder charakteristischen
Symptomen der Hysterie erkennen ließen. Dann ereignete es sich
manchmal, daß die therapeutischen Ergebnisse trotz der Hysterie¬
diagnose recht armselig ausfielen, daß selbst die Analyse nichts
Bedeutsames zutage förderte. Andere Male versuchte ich Neurosen
mit der Breuerschen Methode zu behandeln, die gewiß nieman¬
dem als Hysterie imponiert hätten, und ich fand, daß sie auf diese
Weise zu beeinflussen, ja selbst zu lösen waren. So ging es mir
z. B. mit den Zwangsvorstellungen, den echten Zwangsvorstellungen
nach Westphalschem Muster, in Fällen, die nicht durch einen
Zug an Hysterie erinnerten. Somit konnte der psychische Mecha¬
nismus, den die „Vorläufige Mitteilungaufgedeckt hatte, nicht
für Hysterie pathognomonisch sein 5 ich konnte mich auch nicht
entschließen, diesem Mechanismus zuliebe etwa soviel andere Neu¬
rosen in einen Topf mit der Hysterie zu werfen. Aus all den an¬
geregten Zweifeln riß mich endlich der Plan, alle anderen in
Frage kommenden Neurosen ähnlich wie die Hysterie zu behandeln,
überall nach der Ätiologie und nach der Art des psychischen
Mechanismus zu forschen und die Entscheidung über die Berechti¬
gung der Hysteriediagnose von dem Ausfälle dieser Untersuchung
abhängen zu lassen.
So gelangte ich, von der Breuerschen Methode ausgehend,
dazu, mich mit der Ätiologie und dem Mechanismus der Neurosen
überhaupt zu beschäftigen. Ich hatte dann das Glück, in ver¬
hältnismäßig kurzer Zeit bei brauchbaren Ergebnissen anzukommen.
Es drängte sich mir zunächst die Erkenntnis auf, daß, insofern
Tjur Psychotherapie der Hysterie i8i
man von einer Verursachung sprechen könne, durch welche Neu¬
rosen erworben würden, die Ätiologie in sexuellen Momenten
zu suchen sei. Daran reihte sich der Befund, daß verschiedene
sexuelle Momente, ganz allgemein genommen, auch verschiedene
Bilder von neurotischen Erkrankungen erzeugen. Und nun konnte
man, in dem Maße, als sich das letztere Verhältnis bestätigte, auch
wagen, die Ätiologie zur Charakteristik der Neurosen zu verwerten
und eine scharfe Scheidung der Krankheitsbilder der Neurosen
aufzustellen. Trafen ätiologische Charaktere mit klinischen konstant
zusammen, so war dies ja gerechtfertigt.
Auf diese Weise ergab sich mir, daß der Neurasthenie eigent¬
lich ein monotones Krankheitsbild entspreche, in welchem, wie
Analysen zeigten, ein „psychischer Mechanismus^^ keine Rolle
spiele. Von der Neurasthenie trennte sich scharf ab die Zwangs¬
neurose, die Neurose der echten Zwangsvorstellungen, für die
sich ein komplizierter psychischer Mechanismus, eine der hysteri¬
schen ähnliche Ätiologie und eine weitreichende Möglichkeit der
Rückbildung durch Psychotherapie erkennen ließen. Anderseits
schien es mir unbedenklich geboten, von der Neurasthenie einen
neurotischen Symptomkomplex abzusondern, der von einer ganz
abweichenden, ja, im Grunde genommen, gegensätzlichen Ätiologie
abhängt, während die Teilsymptome dieses Komplexes durch einen
schon von E. Hecker^ erkannten Charakter zusammengehalten
werden. Sie sind nämlich entweder Symptome oder Äquivalente
und Rudimente von Angstäußerungen und ich habe darum
diesen von der Neurasthenie abzutrennenden Komplex Angst¬
neurose geheißen. Ich habe von ihm behauptet, er käme durch
die Anhäufung physischer Spannung zustande, die selbst wieder
sexualer Herkunft ist^ diese Neurose hat auch noch keinen psychi¬
schen Mechanismus, beeinflußt aber ganz regelmäßig das psychische
Leben, so daß „ängstliche Erwartung^^, Phobien, Hyperästhesie
i) E. Hecker, Zentralblatt für Nervenheilkunde, Dezember 1895.
i82
Studien über Hysterie
gegen Schmerzen u. a. zu ihren regelmäßigen Äußerungen ge¬
hören. Diese Angstneurose in meinem Sinne deckt sich gewiß
teilweise mit der Neurose, die unter dem Namen „Hypochondrie^^
in so manchen Darstellungen neben Hysterie und Neurasthenie
anerkannt wird^ nur daß ich in keiner der vorliegenden Bear¬
beitungen die Abgrenzung dieser Neurose für die richtige halten
kann, und daß ich die Brauchbarkeit des Namens Hypochondrie
durch dessen feste Beziehung auf das Symptom der „Krankheits¬
furcht“ beeinträchtigt finde.
Nachdem ich mir so die einfachen Bilder der Neurasthenie, der
Angstneurose und der Zwangsvorstellungen fixiert hatte, ging ich
an die Auffassung der gemeinhin vorkommenden Fälle von Neu
rosen heran, die bei der Diagnose Hysterie in Betracht kommen.
Ich mußte mir jetzt sagen, daß es nicht angeht, eine Neurose im
ganzen zur hysterischen zu stempeln, weil aus ihrem Symptomen-
komplex einige hysterische Zeichen hervorleuchten. Ich konnte
mir diese Übung sehr wohl erklären, da doch die Hysterie die
älteste, die bestbekannte und die auffälligste der in Betracht
kommenden Neurosen ist; aber es war doch ein Mißbrauch, der¬
selbe, der auf die Rechnung der Hysterie so viele Züge von Per
Version und Degeneration hatte setzen lassen. So oft in einem
komplizierten Falle von psychischer Entartung ein hysterisches
Anzeichen, eine Anästhesie, eine charakteristische Attacke zu ent
decken war, hatte man das Ganze „Hysterie“ genannt und konnte
dann freilich das Ärgste und das Widersprechendste unter dieser
Etikette vereinigt finden. So gewiß diese Diagnostik unrecht war,
so gewiß durfte man auch nach der neurotischen Seite hin sondern,
und da man Neurasthenie, Angstneurose u. dgl. im reinen Zu¬
stande kannte, brauchte man sie in der Kombination nicht mehr
zu übersehen.
Es schien also folgende Auffassung die berechtigtere: Die ge
wohnlich vorkommenden Neurosen sind meist als „gemischte“ zu
bezeichnen; von der Neurasthenie und der Angstneurose findet
Tjur Psychotherapie der Hysterie
183
man ohne Mühe auch reine Formen, am ehesten bei jugendlichen
Personen. Von Hysterie und Zwangsneurose sind reine Fälle selten,
für gewöhnlich sind diese beiden Neurosen mit einer Angstneu¬
rose kombiniert. Dies so häufige Vorkommen von gemischten
Neurosen rührt daher, daß deren ätiologische Momente sich so
häufig vermengen 5 bald nur zufälligerweise, bald infolge von kau¬
salen Beziehungen zwischen den Vorgängen, aus denen die ätiologi¬
schen Momente der Neurosen fließen. Dies läßt sich unschwer
im einzelnen durchführen und erweisen; für die Hysterie folgt
aber hieraus, daß es kaum möglich ist, sie für die Betrachtung
aus dem Zusammenhänge der Sexualneurosen zu reißen; daß sie
in der Regel nur eine Seite, einen Aspekt des komplizierten
neurotischen Falles darstellt, und daß sie nur gleichsam im Grenz¬
falle als isolierte Neurose gefunden und behandelt werden kann.
Man darf etwa in einer Reihe von Fällen sagen: a potiori fit
denominatio.
Ich will die hier mitgeteilten Krankengeschichten daraufhin
prüfen, ob sie meiner Auffassung von der klinischen Unselbständig¬
keit der Hysterie das Wort reden. Anna O., die Kranke Breuers,
scheint dem zu widersprechen und eine rein hysterische Erkran¬
kung zu erläutern. Allein dieser Fall, der so fruchtbar für die
Erkenntnis der Hysterie geworden ist, wurde von seinem Beob¬
achter gar nicht unter den Gesichtspunkt der Sexualneurose ge¬
bracht und ist heute einfach für diesen nicht zu verwerten. Als
ich die zweite Kranke, Frau Emmy v. Nf zu analysieren begann,
lag mir die Erwartung einer Sexualneurose als Boden für die
Hysterie ziemlich ferne; ich war frisch aus der Schule Charcots
gekommen und betrachtete die Verknüpfung einer Hysterie mit
dem Thema der Sexualität als eine Art von Schimpf — ähnlich
wie die Patientinnen selbst es pflegen. Wenn ich heute meine
1) [In dieser Gesamtausgabe als Fall A bezeichnet. Der oben erwähnte Fall Anna O.
die Br euer sehe Krankengeschichte, ist hier weggelassen worden; siehe die biblio¬
graphische Notiz auf S. 2.]
184
Studien über Hysterie
Notizen über diesen Fall überblicke, ist es mir ganz unzweifel¬
haft, daß ich einen Fall einer schweren Angstneurose mit ängst¬
licher Erwartung und Phobien anerkennen muß, die aus der
sexuellen Abstinenz stammte und sich mit Hysterie kombiniert
hatte.
Fall B, der Fall der Miß Lucy R., ist vielleicht am ehesten ein
Grenzfall von reiner Hysterie zu nennen, es ist eine kurze, episo¬
disch verlaufende Hysterie bei unverkennbar sexueller Ätiologie,
wie sie einer Angstneurose entsprechen würde 5 ein überreifes,
liebebedürftiges Mädchen, dessen Neigung zu rasch durch ein
Mißverständnis erweckt wird. Allein die Angstneurose war nicht
nachzuweisen oder ist mir entgangen. Fall C, Katharina, ist ge¬
radezu ein Vorbild dessen, was ich virginale Angst genannt habe;
es ist eine Kombination von Angstneurose und Hysterie; die erstere
schafft die Symptome, die letztere wiederholt sie und arbeitet mit
ihnen. Übrigens ein typischer Fall für so viele, „Hysterie^^ genannte,
jugendliche Neurosen. Fall D, der des Fräuleins Elisabeth v. R.,
ist wiederum nicht als Sexualneurose erforscht; einen Verdacht,
daß eine Spinalneurasthenie die Grundlage gebildet habe, konnte
ich nur äußern und nicht bestätigen. Ich muß aber hinzufügen,
seither sind die reinen Hysterien in meiner Erfahrung noch seltener
geworden; wenn ich diese vier Fälle als Hysterie zusammenstellen
und bei ihrer Erörterung von den für Sexualneurosen maßgeben¬
den Gesichtspunkten absehen konnte, so liegt der Grund darin,
daß es ältere Fälle sind, bei denen ich die absichtliche und drin¬
gende Forschung nach der neurotischen sexualen Unterlage noch
nicht durchgeführt hatte. Und wenn ich anstatt dieser vier Fälle
nicht zwölf mitgeteilt habe, aus deren Analyse eine Bestätigung
des von uns behaupteten psychischen Mechanismus hysterischer
Phänomene zu gewinnen ist, so nötigte mich zur Enthaltung nur
der Umstand, daß die Analyse diese Krankheitsfälle gleichzeitig
als Sexualneurosen enthüllte, obwohl ihnen den „Namen“ Hysterie
gewiß kein Diagnostiker verweigert hätte. Die Aufklärung solcher
Xur Psychotherapie der Hysterie
185
Sexualneurosen überschreitet aber den Rahmen dieser unserer
gemeinsamen Veröffentlichung.
Ich möchte nicht dahin mißverstanden werden, als ob ich die
Hysterie nicht als selbständige neurotische Affektion gelten lassen
wollte, als erfaßte ich sie bloß als psychische Äußerung der Angst¬
neurose, als schriebe ich ihr bloß „ideogene^^ Symptome zu und
zöge die somatischen Symptome (hysterogene Punkte, Anästhesien)
zur Angstneurose hinüber. Nichts von alledem; ich meine, man
kann in jeder Hinsicht die von allen Beimengungen gereinigte
Hysterie selbständig abhandeln, nur nicht in Hinsicht der Therapie.
Denn bei der Therapie handelt es sich um praktische Ziele, um
die Beseitigung des gesamten leidenden Zustandes, und wenn die
Hysterie zumeist als Komponente einer gemischten Neurose vor¬
kommt, so liegt der Fall wohl ähnlich wie bei den Mischinfek¬
tionen, wo die Erhaltung des Lebens sich als Aufgabe stellt, die
nicht mit der Bekämpfung der Wirkung des einen Krankheits¬
erregers zusammenfällt.
Es ist mir darum so wichtig, den Anteil der Hysterie an den
Bildern der gemischten Neurosen von dem der Neurasthenie, Angst¬
neurose usw. zu sondern, weil ich nach dieser Trennung einen
knappen Ausdruck für den therapeutischen Wert der kathartischen
Methode geben kann. Ich möchte mich nämlich der Behauptung
getrauen, daß sie — prinzipiell — sehr wohl imstande ist, jedes
beliebige hysterische Symptom zu beseitigen, während sie, wie
leicht ersichtlich, völlig machtlos ist gegen Phänomene der Neur¬
asthenie und nur selten und auf Umwegen die psychischen Folgen
der Angstneurose beeinflußt. Ihre therapeutische Wirksamkeit wird
also im einzelnen Falle davon abhängen, ob die hysterische Kom¬
ponente des Krankheitsbildes eine praktisch bedeutsame Stelle im
Vergleich zu den anderen neurotischen Komponenten beanspruchen
darf oder nicht.
Auch eine zweite Schranke ist der Wirksamkeit der kathartischen
Methode gesetzt, auf welche wir bereits in der „Vorläufigen Mit-
i86
Studien über Hysterie
teilung“ hingewiesen haben. Sie beeinflußt nicht die kausalen
Bedingungen der Hysterie, kann also nicht verhindern, daß an
der Stelle der beseitigten Symptome neue entstehen. Im ganzen
also muß ich für unsere therapeutische Methode einen hervor¬
ragenden Platz innerhalb des Rahmens einer Therapie der Neu¬
rosen beanspruchen, möchte aber davon abraten, sie außerhalb
dieses Zusammenhanges zu würdigen oder in Anwendung zu ziehen.
Da ich an dieser Stelle eine „Therapie der Neurosen^^ wie sie
dem ausübenden Arzte vonnöten wäre, nicht geben kann, stellen
sich die vorstehenden Äußerungen einer aufschiebenden Verweisung
auf etwaige spätere Mitteilungen gleich^ doch meine ich, zur
Ausführung ünd Erläuterung noch folgende Bemerkungen an¬
schließen zu können:
1) Ich behaupte nicht, daß ich sämtliche hysterische Symptome,
die ich mit der kathartischen Methode zu beeinflussen übernahm,
auch wirklich beseitigt habe. Aber ich meine, die Hindernisse
lagen an persönlichen Umständen der Fälle und waren nicht
prinzipieller Natur. Ich darf diese Fälle von Mißglücken bei einer
Urteilsfällung außer Betracht lassen, wie der Chirurg Fälle von
Tod in der Narkose, durch Nachblutung, zufällige Sepsis u. dgl.
bei der Entscheidung über eine neue Technik beiseite schiebt.
Wenn ich später von den Schwierigkeiten und Übelständen des
Verfahrens handeln werde, sollen die Mißerfolge solcher Herkunft
nochmals gewürdigt werden.
2) Die kathartische Methode wird darum nicht wertlos, weil
sie eine symptomatische und keine kausale ist. Denn eine
kausale Therapie ist eigentlich zumeist nur eine prophylaktische,
sie sistiert die weitere Einwirkung der Schädlichkeit, beseitigt aber
damit nicht notwendig, was die Schädlichkeit bisher an Produkten
ergeben hat. Es bedarf in der Regel noch einer zweiten Aktion,
welche die letztere Aufgabe löst, und für diesen Zweck ist im
Falle der Hysterie die kathartische Methode geradezu unübertreff¬
lich brauchbar.
TLur Psychotherapie der Hysterie
187
}) Wo eine Periode hysterischer Produktion, ein akuter hysteri¬
scher Paroxysmus, überwunden ist und nur noch die hysterischen
Symptome als Resterscheinungen erübrigen, da genügt die kathar-
tische Methode allen Indikationen und erzielt volle und dauernde
Erfolge. Eine solche günstige Konstellation für die Therapie ergibt
sich nicht selten gerade auf dem Gebiete des Geschlechtslebens,
infolge der großen Schwankungen in der Intensität des sexuellen
Bedürfnisses und der Komplikation der für ein sexuelles Trauma
erforderten Bedingungen. Hier leistet die kathartische Methode
alles, was man ihr zur Aufgabe stellen kann, denn der Arzt kann
sich nicht vorsetzen wollen, eine Konstitution wie die hysterische
zu ändern 5 er muß sich damit bescheiden, w^enn er das Leiden
beseitigt, zu dem eine solche Konstitution geneigt ist und das unter
Mithilfe äußerer Bedingungen aus ihr entspringen kann. Er wird
zufrieden sein, wenn die Kranke wieder leistungsfähig geworden
ist. Übrigens entbehrt er auch eines Trostes für die Zukunft nicht,
wenn er die Möglichkeit der Rezidive in Betracht zieht. Er kennt den
Hauptcharakter in der Ätiologie der Neurosen, daß deren Entstehung
zumeist überdeterminiert ist, daß mehrere Momente zu dieser
Wirkung zusammentreten müssen5 er darf hoffen, daß dieses Zu¬
sammentreffen nicht sobald wieder statthaben wird, wenn auch
einzelne der ätiologischen Momente in Wirksamkeit geblieben sind.
Man könnte einwenden, daß in solchen abgelaufenen Fällen
von Hysterie die restierenden Symptome ohnedies spontan ver¬
gehen 3 allein hierauf darf man antworten, daß solche Spontan¬
heilung sehr häufig weder rasch noch vollständig genug abläuft,
und daß sie durch das Eingreifen der Therapie außerordentlich
gefördert werden kann. Ob man mit der kathartischen Therapie
nur das heilt, was der Spontanheilung fähig ist, oder gelegentlich
auch anderes, was sich spontan nicht gelöst hätte, das darf man
für jetzt gerne ungeschlichtet lassen.
4) Wo man auf eine akute Hysterie gestoßen ist, einen Fall
in der Periode lebhaftester Produktion von hysterischen Symptomen
i88
Studien über Hysterie
und konsekutiver Überwältigung des Ichs durch die Krankheits
Produkte (hysterische Psychose), da wird auch die kathartische
Methode am Eindrücke und Verlaufe des Krankheitsfalles wenig
ändern. Man befindet sich dann wohl in derselben Stellung gegen
die Neurose, welche der Arzt gegen eine akute Infektionskrank¬
heit einnimmt. Die ätiologischen Momente haben zu einer ver¬
flossenen, jetzt der Beeinflussung entzogenen Zeit ihre Wirkung
in genügendem Ausmaße geübt, nun werden dieselben nach Über¬
windung des Inkubationsintervalls manifest^ die Affektion läßt
sich nicht abbrechen ^ man muß ihren Ablauf ab warten und
unterdes die günstigsten Bedingungen für den Kranken herstellen.
Beseitigt man nun während einer solchen akuten Periode die
Krankheitsprodukte, die neu entstandenen hysterischen Symptome,
so darf man sich darauf gefaßt machen, daß die beseitigten als¬
bald durch neue ersetzt werden. Der verstimmende Eindruck
einer Danaidenarbeit, einer „Mohrenwäsche^^ wird dem Arzte
nicht erspart bleiben, der riesige Aufwand von Mühe, die Unbe¬
friedigung der Angehörigen, denen die Vorstellung der notwen¬
digen Zeitdauer einer akuten Neurose kaum so vertraut sein
wird wie im analogen Falle einer akuten Infektionskrankheit,
dies und anderes wird wahrscheinlich die konsequente An¬
wendung der kathartischen Methode im angenommenen Falle
meist unmöglich machen. Doch bleibt es sehr in Erwägung
zu ziehen, ob nicht auch bei einer akuten Hysterie die jedes¬
malige Beseitigung der Krankheitsprodukte einen heilenden Ein¬
fluß übt, indem sie das mit der Abwehr beschäftigte normale
Ich des Kranken unterstützt und es vor der Überwältigung, vor
dem Verfalle in Psychose, vielleicht in endgültige Verworrenheit
bewahrt.
Was die kathartische Methode auch bei akuter Hysterie zu
leisten vermag, und daß sie selbst die Neuproduktion an krank¬
haften Symptomen in praktisch bemerkbarer Weise einschränkt,
das erhellt wohl unzweifelhaft aus der Geschichte der Anna O...,
Zur Psychotherapie der Hysterie
189
an welcher Breuer dies psychotherapeutische Verfahren zuerst
ausüben lernte.
yj Wo es sich um chronisch verlaufende Hysterien mit mäßiger,
aber unausgesetzter Produktion von hysterischen Symptomen
handelt, da lernt man wohl den Mangel einer kausal wirksamen
Therapie am stärksten bedauern, aber auch die Bedeutung des
kathartischen Verfahrens als symptomatische Therapie am meisten
schätzen. Dann hat man es mit der Schädigung durch eine chro¬
nisch fortwirkende Ätiologie zu tun^ es kommt alles darauf an,
das Nervensystem des Kranken in seiner Resistenzfähigkeit zu
kräftigen, und man muß sich sagen, die Existenz eines hysteri¬
schen Symptoms bedeute für dieses Nervensystem eine Schwächung
seiner Resistenz und stelle ein zur Hysterie disponierendes Mo¬
ment dar. Wie aus dem Mechanismus der monosymptomatischen
Hysterie hervorgeht, bildet sich ein neues hysterisches Symptom
am leichtesten im Anschluvsse und nach Analogie eines bereits
vorhandenen; die Stelle, wo es bereits einmal „durchgeschlagen^^
hat,^ stellt einen schwachen Punkt dar, an welchem es auch das
nächste Mal durchschlagen wird; die einmal abgespaltene psychische
Gruppe spielt die Rolle des provozierenden Kristalls, von dem mit
großer Leichtigkeit eine sonst unterbliebene Kristallisation ausgeht.
Die bereits vorhandenen Symptome beseitigen, die ihnen zugrunde
liegenden psychischen Veränderungen aufheben, heißt den Kranken
das volle Maß ihrer Resistenzfähigkeit wiedergeben, mit dem sie
erfolgreich der Einwirkung der Schädlichkeit widerstehen können.
Man kann solchen Kranken durch länger fortgesetzte Überwachung
und zeitweiliges j^chimney siveeping^^^ sehr viel leisten.
6) Ich hätte noch des scheinbaren Widerspruches zu gedenken,
der sich zwischen dem Zugeständnisse, daß nicht alle hysterischen
i) Vgl. Breuers in diese Gesamtausgabe nicht aufgenommene Arbeit „Theoreti¬
sches“ in der Originalausgabe der „Studien über Hysterie von J. Breuer und Sigm.
Freud“, 4. Aufl., S. 177.
Breuers in diese Gesamtausgabe nicht aufgenommene Krankengeschichte .
„Frl. Anna O .. .“ in der Originalausgabe der „Studien über Hysterie“, 4. Aufl., S. 25.
Studien über Hysterie
19Q
Symptome psychogen seien, und der Behauptung, daß man sie
alle durch ein psychotherapeutisches Verfahren beseitigen könne,
erhebt. Die Lösung liegt darin, daß ein Teil dieser nicht
psychogenen Symptome zwar Krankheitszeichen darstellt, aber nicht
als Leiden bezeichnet werden darf, so die Stigmata^ es macht sich
also praktisch nicht bemerkbar, wenn sie die therapeutische Er¬
ledigung des Krankheitsfalles überdauern. Für andere solche Sym¬
ptome scheint zu gelten, daß sie auf irgend einem Umwege von
den psychogenen Symptomen mitgerissen werden, wie sie ja wohl
auch auf irgend einem Umwege doch von psychischer Verur-
abhängen.
*
Ich habe nun der Schwierigkeiten und Übelstände unseres
therapeutischen Verfahrens zu gedenken, soweit diese nicht aus
den vorstehenden Krankengeschichten oder aus den folgenden
Bemerkungen über die Technik der Methode jedermann ein¬
leuchten können. — Ich will mehr aufzählen und andeuten als
ausführen: Das Verfahren ist mühselig und zeitraubend für den
Arzt, es setzt ein großes Interesse für psychologische Vorkomm¬
nisse und doch auch persönliche Teilnahme für den Kranken bei
ihm voraus. Ich könnte mir nicht vorstellen, daß ich es zustande
brächte, mich in den psychischen Mechanismus einer Hysterie
bei einer Person zu vertiefen, die mir gemein und widerwärtig
vorkäme, die nicht bei näherer Bekanntschaft imstande wäre,
menschliche Sympathie zu erwecken, während ich doch die Be¬
handlung eines Tabikers oder Rheumatikers unabhängig von
solchem persönlichen Wohlgefallen halten kann. Nicht mindere
Bedingungen werden von seiten der Kranken erfordert. Unterhalb
eines gewissen Niveaus von Intelligenz ist das Verfahren über¬
haupt nicht anwendbar, durch jede Beimengung von Schwachsinn
wird es außerordentlich erschwert. Man braucht die volle Ein¬
willigung, die volle Aufmerksamkeit der Kranken, vor allem aber
ihr Zutrauen, da die Analyse regelmäßig auf die intimsten und
sachung
7jur Psychotherapie der Hysterie
geheimst gehaltenen psychischen Vorgänge führt. Ein guter Teil
der Kranken, die für solche Behandlung geeignet wären, entzieht
sich dem Arzte, sobald ihnen die Ahnung aufdämmert, nach
welcher Richtung sich dessen Forschung bewegen wird. Für diese
ist der Arzt ein Fremder geblieben. Bei anderen, die sich ent¬
schlossen haben, sich dem Arzte zu überliefern und ihm ein
Vertrauen einzuräumen, wie es sonst nur freiwillig gewährt, aber
nie gefordert wird, bei diesen anderen, sage ich, ist es kaum zu
vermeiden, daß nicht die persönliche Beziehung zum Arzte sich
wenigstens eine Zeitlang ungebührlich in den Vordergrund drängt^
ja, es scheint, als ob eine solche Einwirkung des Arztes die Be¬
dingung sei, unter welcher die Lösung des Problems allein ge^
stattet ist. Ich meine nicht, daß es an diesem Sachverhalt etwas
Wesentliches ändert, ob man sich der Hypnose bedienen konnte
oder dieselbe umgehen und ersetzen mußte. Nur fordert die
Billigkeit, hervorzuheben, daß diese Übelstände, obwohl unzer¬
trennlich von unserem Verfahren, doch nicht diesem zur Last
gelegt werden können. Es ist vielmehr recht einsichtlich, daß sie
in den Vorbedingungen der Neurosen, die geheilt werden sollen,
begründet sind, und daß sie sich an jede ärztliche Tätigkeit heften
werden, die mit einer intensiven Bekümmerung um den Kranken
einhergeht und eine psychische Veränderung in ihm herbeiführt.
Auf die Anwendung der Hypnose konnte ich keinen Schaden und
keine Gefahr zurückführen, so ausgiebigen Gebrauch ich auch in
einzelnen Fällen von diesem Mittel machte. Wo ich Schaden an¬
gestiftet habe, lagen die Gründe anders und tiefer. Überblicke ich
die therapeutischen Bemühungen dieser Jahre, seitdem mir die Mit¬
teilungen meines verehrten Lehrers und Freundes J. Breuer die
kathartische Methode in die Hand gegeben haben, so meine ich,
ich habe, weit mehr und häufiger als geschadet, doch genützt und
manches zustande gebracht, wozu sonst kein therapeutisches Mittel
gereicht hätte. Es war im ganzen, wie es die „Vorläufige Mit¬
teilung^^ ausdrückt, „ein bedeutender therapeutischer Gewinn
Studien über Hysterie
Noch einen Gewinn bei Anwendung dieses Verfahrens muß
ich hervorheben. Ich weiß mir einen schweren Fall von kom¬
plizierter Neurose mit viel oder wenig Beimengung von Hysterie
nicht besser zurechtzulegen, als indem ich ihn einer Analyse mit
der Breuer sehen Methode unterziehe. Dabei geht zunächst weg,
was den hysterischen Mechanismus zeigte den Rest von Erschei¬
nungen habe ich unterdes bei dieser Analyse deuten und auf
seine Ätiologie zurückführen gelernt und habe so die Anhalts¬
punkte dafür gewonnen, was von dem Rüstzeuge der Neurosen¬
therapie im betreffenden Falle angezeigt ist. Wenn ich an die
gewöhnliche Verschiedenheit zwischen meinem Urteile über einen
Fall von Neurose vor und nach einer solchen Analyse denke,
gerate ich fast in Versuchung, diese Analyse für unentbehrlich
zur Kenntnis einer neurotischen Erkrankung zu halten. Ich habe
mich ferner daran gewöhnt, die Anwendung der kathartischen
Psychotherapie mit einer Liegekur zu verbinden, die nach Be¬
dürfnis zur vollen Weir-Mitchellschen Mastkur ausgestaltet wird.
Ich habe dabei den Vorteil, daß ich so einerseits die während
einer Psychotherapie sehr störende Einmengung neuer psychischer
Eindrücke vermeide, anderseits die Langweile der Mastkur, in
der die Kranken nicht selten in ein schädliches Träumen ver¬
fallen, ausschließe. Man sollte erwarten, daß die oft sehr erheb¬
liche psychische Arbeit, die man während einer kathartischen Kur
den Kranken aufbürdet, die Erregungen infolge der Reproduktion
traumatischer Erlebnisse, dem Sinne der Weir-Mitchellschen
Ruhekur zuwiderliefe und die Erfolge verhinderte, die man von
ihr zu sehen gewohnt ist. Allein das Gegenteil trifft zu5 man
erreicht durch solche Kombinationen der Br euer sehen mit der
Weir-Mitchellschen Therapie alle körperliche Aufbesserung, die
man von letzterer erwartet, und so weitgehende psychische Be¬
einflussung, wie sie ohne Psychotherapie be’ der Ruhekur niemals
zustande kommt.
Zur Psychotherapie der Hysterie
193
2
Ich knüpfe nun an meine früheren Bemerkungen an, bei
meinen Versuchen, die B reu ersehe Methode im größeren Um¬
fange anzuwenden, sei ich an die Schwierigkeit geraten, daß eine
Anzahl von Kranken nicht in Hypnose zu versetzen war, obwohl
die Diagnose auf Hysterie lautete und die Wahrscheinlichkeit
für die Geltung des von uns beschriebenen psychischen Mecha¬
nismus sprach. Ich bedurfte ja der Hypnose zur Erweiterung des
Gedächtnisses, um die im gewöhnlichen Bewußtsein nicht vor¬
handenen pathogenen Erinnerungen zu finden, mußte also ent¬
weder auf solche Kranke verzichten oder diese Erweiterung auf
andere Weise zu erreichen suchen.
Woran es hegt, daß der eine hypnotisierbar ist, der andere
nicht, das wußte ich mir ebensowenig wie andere zu deuten,
konnte also einen kausalen Weg zur Beseitigung der Schwierig¬
keit nicht einschlagen. Ich merkte nur, daß bei manchen Patienten
das Hindernis noch weiter zurück lag; sie weigerten sich bereits
des Versuches zur Hypnose. Ich kam dann einmal auf den Einfall,
daß beide Fälle identisch sein mögen und beide ein Nichtwollen
bedeuten können. Nicht hypnotisierbar sei derjenige, der ein psy¬
chisches Bedenken gegen die Hypnose hat, gleichgültig, ob er es
als Nichtwollen äußert oder nicht. Ich bin mir nicht klar geworden,
ob ich diese Auffassung festhalten darf.
Es galt aber, die Hypnose zu umgehen und doch die patho¬
genen Erinnerungen zu gewinnen. Dazu gelangte ich auf fol¬
gende Weise:
Wenn ich bei der ersten Zusammenkunft meine Patienten
fragte, ob sie sich an den ersten Anlaß des betreffenden Symptoms
erinnerten, so sagten die einen, sie wüßten nichts, die anderen
brachten irgend etwas bei, was sie als eine dunkle Erinnerung
bezeichneten und nicht weiter verfolgen konnten. Wenn ich nun
nach dem Beispiele von Bernheim bei der Erweckung der an-
Freud, I.
13
194
Studien über Hysterie
geblich vergessenen Eindrücke aus dem Somnambulismus dringlich
wurde, beiden versicherte, sie wüßten es, sie würden sich be¬
sinnen usw. (vgl. S. 95), so fiel den einen doch etwas ein, und
bei anderen griff die Erinnerung um ein Stück weiter. Nun wurde
ich noch dringender, hieß die Kranken sich niederlegen und die
Augen willkürlich schließen, um sich zu „konzentrieren“, was
wenigstens eine gewisse Ähnlichkeit mit der Hypnose ergab, und
machte da die Erfahrung, daß ohne alle Hypnose neue und weiter
zurückreichende Erinnerungen auftauchten, die wahrscheinlich zu
unserem Thema gehörten. Durch solche Erfahrungen gewann ich
den Eindruck, es würde in der Tat möglich sein, die doch
sicherlich vorhandenen pathogenen Vorstellungsreihen durch bloßes
Drängen zum Vorschein zu bringen, und da dieses Drängen mich
Anstrengung kostete und mir die Deutung nahelegte, ich hätte
einen Widerstand zu überwinden, so setzte sich mir der Sach¬
verhalt ohne weiters in die Theorie um, daß ich durch meine
psychische Arbeit eine psychische Kraft bei dem Patienten
zu überwinden habe, die sich dem Bewußtwerden (Er-
innern) der pathogenen Vorstellungen widersetze. Ein
neues Verständnis schien sich mir nun zu eröffnen, als mir einfiel,
dies dürfte wohl dieselbe psychische Kraft sein, die bei der Ent¬
stehung des hysterischen Symptoms mitgewirkt und damals das
Bewußt werden der pathogenen Vorstellung verhindert habe. Was
für Kraft war da wohl als wirksam anzunehmen und welches
Motiv konnte sie zur Wirkung gebracht haben? Ich konnte mir
leicht eine Meinung hierüber bilden5 es standen mir ja bereits
einige vollendete Analysen zu Gebote, in denen ich Beispiele von
pathogenen, vergessenen und außer Bewußtsein gebrachten Vor¬
stellungen kennen gelernt hatte. Aus diesen ersah ich einen all¬
gemeinen Charakter solcher Vorstellungen^ sie waren sämtlich
peinlicher Natur, geeignet, die Affekte der Scham, des Vorwurfes,
des psychischen Schmerzes, die Empfindung der Beeinträchtigung
hervorzurufen, sämtlich von der Art, wie man sie gerne nicht
Zz/r Psychotherapie der Hysterie
195
erlebt haben möchte, wie man sie am liebsten vergißt. Aus alledem
ergab sich wie von selbst der Gedanke der Abwehr. Es wird
ja von den Psychologen allgemein zugegeben, daß die Annahme
einer neuen Vorstellung (Annahme im Sinne des Glaubens, des
Zuerkennens von Realität) von der Art und Richtung der bereits
im Ich vereinigten Vorstellungen abhängt, und sie haben für den
Vorgang der Zensur, dem die neu anlangende unterliegt, beson¬
dere technische Namen geschaffen. An das Ich des Kranken war
eine Vorstellung herangetreten, die sich als unverträglich erwies,
die eine Kraft der Abstoßung von seiten des Ichs wachrief, deren
Zweck die Abwehr dieser unverträglichen Vorstellung war. Diese
Abwehr gelang tatsächlich, die betreffende Vorstellung war aus
dem Bewußtsein und aus der Erinnerung gedrängt, ihre psychi¬
sche Spur war anscheinend nicht aufzufinden. Doch mußte diese
Spur vorhanden sein. Wenn ich mich bemühte, die Aufmerksam¬
keit auf sie zu lenken, bekam ich dieselbe Kraft als Widerstand
zu spüren, die sich bei der Genese des Symptoms als Abstoßung
gezeigt hatte. Wenn ich nun wahrscheinlich machen konnte, daß
die Vorstellung gerade infolge der Ausstoßung und Verdrängung
pathogen geworden war, so schien die Kette geschlossen. Ich habe
in mehreren Epikrisen unserer Krankengeschichten und in einer
kleinen Arbeit über die Abwehrneuropsychosen (1894) versucht,
die psychologischen Hypothesen anzudeuten, mit deren Hilfe man
auch diesen Zusammenhang — die Tatsache der Konversion —
anschaulich machen kann.
Also eine psychische Kraft, die Abneigung des Ichs, hatte ur¬
sprünglich die pathogene Vorstellung aus der Assoziation gedrängt
und widersetzte sich ihrer Wiederkehr in der Erinnerung. Das
Nichtwissen der Hysterischen war also eigentlich ein — mehr
oder minder bewußtes Nichtwissenwollen, und die Aufgabe des
Therapeuten bestand darin, diesen Assoziationswiderstand durch
psychische Arbeit zu überwinden. Solche Leistung erfolgt zuerst
durch „Drängen“, Anwendung eines psychischen Zwanges, um
13’
Studien über Hysterie
19^
die Aufmerksamkeit der Kranken auf die gesuchten Vorstellungs¬
spuren zu lenken. Sie ist aber damit nicht erschöpft, sondern
nimmt, wie ich zeigen werde, im Verlaufe einer Analyse andere
Formen an und ruft weitere psychische Kräfte zur Hilfe.
Ich verweile zunächst noch beim Drängen. Mit dem einfachen
Versichern: Sie wissen es ja, sagen Sie es doch, es wird Ihnen
gleich einfallen, kommt man noch nicht sehr weit. Nach wenigen
Sätzen reißt auch bei dem in der „ Konzentrationbefindlichen
Kranken der Faden ab. Man darf aber nicht vergessen, daß es
sich hier überall um quantitative Vergleichung, um den Kampf
zwischen verschieden starken oder intensiven Motiven handelt.
Dem „Assoziationswiderständebei einer ernsthaften Hysterie ist
das Drängen des fremden und der Sache unkundigen Arztes an
Macht nicht gewachsen. Man muß auf kräftigere Mittel sinnen.
Da bediene ich mich denn zunächst eines kleinen technischen
Kunstgriffes. Ich teile dem Kranken mit, daß ich im nächsten
Momente einen Druck auf seine Stirne ausüben werde, versichere
ihm, daß er während dieses ganzen Druckes eine Erinnerung als
Bild vor sich sehen oder als Einfall in Gedanken haben werde,
und verpflichte ihn dazu, dieses Bild oder diesen Einfall mir
mitzuteilen, was immer das sein möge. Er dürfe es nicht für
sich behalten, weil er etwa meine, es sei nicht das Gesuchte, das
Richtige, oder weil es ihm zu unangenehm sei, es zu sagen.
Keine Kritik, keine Zurückhaltung, weder aus Affekt noch aus
Geringschätzung! Nur so könnten wir das Gesuchte finden, so
fänden wir es aber unfehlbar. Dann drücke ich für ein paar
Sekunden auf die Stirn des vor mir liegenden Kranken, lasse sie
frei und frage ruhigen Tones, als ob eine Enttäuschung ausge¬
schlossen wäre: Was haben Sie gesehen? oder: Was ist Ihnen
eingefallen?
Dieses Verfahren hat mich viel gelehrt und auch jedesmal zum
Ziele geführt; ich kann es heute nicht mehr entbehren. Ich weiß
natürlich, daß ich solchen Druck auf die Stirne durch irgend ein
Zur Psychotherapie der Hysterie
197
anderes Signal oder eine andere körperliche Beeinflussung des
Kranken ersetzen könnte, aber wie der Kranke vor mir liegt,
ergibt sich der Druck auf die Stirne oder das Fassen seines Kopfes
zwischen meinen beiden Händen als das Suggestivste und Be¬
quemste, was ich zu diesem Zwecke vornehmen kann. Zur Er¬
klärung der Wirksamkeit dieses Kunstgriffes könnte ich etwa
sagen, er entspreche einer „momentan verstärkten Hypnose^^, allein
der Mechanismus der Hypnose ist mir so rätselhaft, daß ich mich
zur Erläuterung nicht auf ihn beziehen möchte. Ich meine eher,
der Vorteil des Verfahrens liege darin, daß ich hiedurch die Auf¬
merksamkeit des Kranken von seinem bewußten Suchen und
Nachdenken, kurz von alledem, woran sich sein Wille äußern
kann, dissoziiere, ähnlich wie es sich wohl beim Starren in eine
kristallene Kugel u. dgl. vollzieht. Die Lehre aber, die ich daraus
ziehe, daß sich unter dem Drucke meiner Hand jedesmal das
einstellt, was ich suche, die lautet: Die angeblich vergessene
pathogene Vorstellung liege jedesmal „in der Nähe“ bereit, sei
durch leicht zugängliche Assoziationen erreichbar^ es handle sich
nur darum, irgend ein Hindernis wegzuräumen. Dieses Hindernis
scheint wieder der Wille der Person zu sein, und ver¬
schiedene Personen lernen es verschieden leicht, sich ihrer Ab¬
sichtlichkeit zu entäußern und sich vollkommen objektiv beob¬
achtend gegen die psychischen Vorgänge in ihnen zu verhalten.
Es ist nicht immer eine „vergessene“ Erinnerung, die unter
dem Drucke der Hand auftaucht5 in den seltensten Fällen liegen
die eigentlich pathogenen Erinnerungen so oberflächlich auffindbar.
Weit häufiger taucht eine Vorstellung auf, die ein Mittelglied
zwischen der Ausgangsvorstellung und der gesuchten pathogenen
in der Assoziationskette ist, oder eine Vorstellung, die den Aus¬
gangspunkt einer neuen Reihe von Gedanken und Erinnerungen
bildet, an deren Ende die pathogene Vorstellung steht. Der Druck
hat dann zwar nicht die pathogene Vorstellung enthüllt — die
übrigens ohne Vorbereitung, aus dem Zusammenhänge gerissen.
Studien über Hysterie
19^
unverständlich wäre —, aber er hat den Weg zu ihr gezeigt, die
Richtung angegeben, nach welcher die Forschung fortzuschreiten
hat. Die durch den Druck zunächst geweckte Vorstellung kann
dabei einer wohlbekannten, niemals verdrängten Erinnerung ent¬
sprechen. Wo auf dem Wege zur pathogenen Vorstellung der
Zusammenhang wieder abreißt, da bedarf es nur einer Wieder¬
holung der Prozedur, des Druckes, um neue Orientierung und
Anknüpfung zu schaffen.
In noch anderen Fällen weckt man durch den Druck der Hand
eine Erinnerung, die, an sich dem Kranken wohl bekannt, ihn
doch durch ihr Erscheinen in Verwunderung setzt, weil er ihre
Beziehung zur Ausgangsvorstellung vergessen hat. Im weiteren
Verlaufe der Analyse wird diese Beziehung dann erwiesen. Aus
all diesen Ergebnissen des Drückens erhält man den täuschenden
Eindruck einer überlegenen Intelligenz außerhalb des Bewußtseins
des Kranken, die ein großes psychisches Material zu bestimmten
Zwecken geordnet hält und ein sinnvolles Arrangement für
dessen Wiederkehr ins Bewußtsein getroffen hat. Wie ich ver¬
mute, ist diese unbewußte zweite Intelligenz doch nur ein An¬
schein.
In jeder komplizierteren Analyse arbeitet man wiederholt, ja
eigentlich fortwährend, mit Hilfe dieser Prozedur (des Druckes
auf die Stirne), welche bald von dort aus, wo die wachen Zurück¬
führungen des Patienten abbrechen, den weiteren Weg über be¬
kannt gebliebene Erinnerungen anzeigt, bald auf Zusammenhänge
aufmerksam macht, die in Vergessenheit geraten sind, dann Er¬
innerungen hervorruft und anreiht, welche seit vielen Jahren der
Assoziation entzogen waren, aber noch als Erinnerungen erkannt
werden können, und endlich als höchste Leistung der Reproduk¬
tion Gedanken auftauchen läßt, die der Kranke niemals als die
seinigen anerkennen will, die er nicht erinnert, obwohl er zu¬
gesteht, daß sie von dem Zusammenhänge unerbittlich gefordert
werden, und während er sich überzeugt, daß gerade diese Vor-
Xur Psychotherapie der Hysterie
199
Stellungen den Abschluß der Analyse und das Aufhören der Sym¬
ptome herbeiführen.
Ich will versuchen, einige Beispiele von ^ den ausgezeichneten
Leistungen dieses technischen Verfahrens aneinanderzureihen: Ich
behandelte ein junges Mädchen mit einer unausstehlichen, seit
sechs Jahren fortgeschleppten Tussis nervosa, die offenbar aus
jedem gemeinen Katarrh Nahrung zog, aber doch ihre starken
psychischen Motive haben mußte. Jede andere Therapie hatte
sich längst ohnmächtig gezeigt^ ich versuche also das Symptom
auf dem Wege der psychischen Analyse aufzuheben. Sie weiß
nur, daß ihr nervöser Husten begann, als sie, vierzehn Jahre alt,
bei einer Tante in Pension war; von psychischen Erregungen in
jener Zeit wiU sie nichts wissen, sie glaubt nicht an eine Moti¬
vierung des Leidens. Unter dem Drucke meiner Hand erinnert
sie sich zuerst an einen großen Hund. Sie erkennt dann das Er¬
innerungsbild, es war ein Hund ihrer Tante, der sich ihr anschloß,
sie überallhin begleitete u. dgl. Ja, und jetzt fällt ihr, ohne wei¬
tere Nachhilfe, ein, daß dieser Hund gestorben, daß die Künder
ihn feierlich begraben haben und daß auf dem Rückwege von
diesem Begräbnisse ihr Husten aufgetreten ist. Ich frage, warum,
muß aber wieder durch den Druck nachhelfen; da stellt sich
denn der Gedanke ein: Jetzt bin ich ganz allein auf der Welt.
Niemand liebt mich hier, dieses Tier war mein einziger Freund,
und den habe ich jetzt verloren. — Sie setzt nun die Erzählung
fort: Der Husten verschwand, als ich von der Tante wegkam,
trat aber eineinhalb Jahre später wieder auf. — Was war da der
Grund? — Ich weiß nicht. — Ich drücke wieder; sie erinnert
sich an die Nachricht vom Tode ihres Onkels, bei welcher der
Husten wieder ausbrach, und an einen ähnlichen Gedankengang.
Der Onkel war angeblich der einzige in der Familie gewesen,
der ein Herz für sie gehabt, der sie geliebt hatte. Dies war nun
die pathogene Vorstellung: Man liebe sie nicht, man ziehe ihr
jeden anderen vor, sie verdiene es auch nicht, geliebt zu werden u. dgl.
200
Studien über Hysterie
An der Vorstellung der „Liebeaber haftete etwas, bei dessen
Mitteilung sich ein arger Widerstand erhob. Die Analyse brach
noch vor der Klärui^ ab.
*
Vor einiger Zeit sollte ich eine ältere Dame von ihren Angst¬
anfällen befreien, die nach ihren Charaktereigenschaften kaum für
derartige Beeinflussung geeignet war. Sie war seit der Menopause
übermäßig fromm geworden und empfing mich jedesmal wie den
Gottseibeiuns, mit einem kleinen elfenbeinernen Kruzifix be¬
waffnet, das sie in der Hand verbarg. Ihre Angstanfälle, die hyste¬
rischen Charakter trugen, reichten in frühe Mädchenjahre zurück
und rührten angeblich von dem Gebrauch eines Jodpräparates
her, mit welchem eine mäßige Schwellung der Thyreoidea rück¬
gängig gemacht werden sollte. Ich verwarf natürlich diese Her¬
leitung und suchte sie durch eine andere zu ersetzen, die mit
meinen Anschauungen über die Ätiologie neurotischer Symptome
besser in Einklang stand. Auf die erste Frage nach einem Ein¬
drücke aus der Jugend, der mit den Angstanfällen in kausalem
Zusammenhänge stünde, tauchte unter dem Drucke meiner Hand
die Erinnerung an die Lektüre eines sogenannten Erbauungs¬
buches auf, in dem eine, pietistisch genug gehaltene Erwähnung
der Sexualvorgänge zu finden war. Die betreffende Stelle machte
auf das Mädchen einen der Intention des Autors entgegengesetzten
Eindruck 5 sie brach in Tränen aus und schleuderte das Buch von
sich. Dies war vor dem ersten Angstanfalle. Ein zweiter Druck
auf die Stirn der Kranken beschwor eine nächste Reminiszenz
herauf, die Erinnerung an einen Erzieher der Brüder, der ihr
große Ehrfurcht bezeugt und für den sie selbst eine wärmere
Empfindung verspürt hatte. Diese Erinnerung gipfelte in der Re¬
produktion eines Abends im elterlichen Hause, an dem sie alle
mit dem jungen Manne um den Tisch herum saßen und sich
im anregenden Gespräche so köstlich unterhielten. In der Nacht,
Zur Psychotherapie der Hysterie
201
die auf diesen Abend folgte, weckte sie der erste Angstanfall, der
wohl mehr mit der Auflehnung gegen eine sinnliche Regung
als mit dem etwa gleichzeitig gebrauchten Jod zu tun hatte. —
Auf welche andere Weise hätte ich wohl Aussicht gehabt, bei
dieser widerspenstigen, gegen mich und jede weltliche Therapie
eingenommenen Patientin einen solchen Zusammenhang gegen
ihre eigene Meinung und Behauptung aufzudecken?
*
Ein anderes Mal handelte es sich um eine junge, glücklich
verheiratete Frau, die schon in den ersten Mädchenjahren eine
Zeitlang jeden Morgen in einem Zustande von Betäubung, mit
starren Gliedern, offenem Munde und vorgestreckter Zunge ge¬
funden wurde, und die jetzt ähnliche, wenn auch nicht so arge
Anfälle beim Aufwachen wiederholte. Eine tiefe Hypnose erwies
sich als unerreichbar^ ich begann also mit der Ausforschung im
Zustande der Konzentration und versicherte ihr beim ersten Drucke,
sie werde jetzt etwas sehen, was unmittelbar mit den Ursachen
des Zustandes in der Kindheit zusammenhinge. Sie benahm sich
ruhig und willig, sah die Wohnung wieder, in der sie die ersten
Mädchenjahre verbracht hatte, ihr Zimmer, die Stellung ihres
Bettes, die Großmutter, die damals mit ihnen lebte, und eine
ihrer Gouvernanten, die sie sehr geliebt hatte. Mehrere kleine
Szenen in diesen Räumen und zwischen diesen Personen, eigent¬
lich alle belanglos, folgten einander5 den Schluß machte der Ab¬
schied der Gouvernante, die vom Hause weg heiratete. Mit diesen
Reminiszenzen wußte ich nun gar nichts anzufangen, eine Be¬
ziehung derselben zur Ätiologie der Anfälle konnte ich nicht her-
stellen. Es war allerdings, an verschiedenen Umständen kenntlich,
die nämliche Zeit, in welcher die Anfalle zuerst erschienen waren.
Noch ehe ich aber die Analyse fortsetzen konnte, hatte ich
Gelegenheit, mit einem Kollegen zu sprechen, der in früheren
202
Studien über Hysterie
Jahren Arzt des elterlichen Hauses meiner Patientin gewesen war.
Von ihm erhielt ich folgende Aufklärung: Zur Zeit, da er das
reifende, körperlich sehr gut entwickelte Mädchen an jenen ersten
Anfällen behandelte, fiel ihm die übergroße Zärtlichkeit im Ver¬
kehre zwischen ihr und der im Hause befindlichen Gouvernante
auf. Er schöpfte Verdacht und veranlaßte die Großmutter, die
Überwachung dieses Verkehrs zu übernehmen. Nach kurzer Zeit
konnte die alte Dame ihm berichten, daß die Gouvernante dem Kinde
nächtliche Besuche im Bette abzustatten pflege, und daß ganz regel¬
mäßig nach solchen Nächten das Kind am Morgen im Anfalle
gefunden werde. Sie zögerten nun nicht, die geräuschlose Ent¬
fernung dieser Jugendverderberin durchzusetzen. Die Kinder und
selbst die Mutter wurden in der Meinung erhalten, daß die
Gouvernante das Haus verlasse, um zu heiraten.
Die zunächst erfolgreiche Therapie bestand nun darin, daß
ich der jungen Frau die mir gegebene Aufklärung mitteilte.
*
Gelegentlich erfolgen die Aufschlüsse, die man durch die Pro¬
zedur des Drückens erhält, in sehr merkwürdiger Form und unter
Umständen, welche die Annahme einer unbewußten Intelligenz
noch verlockender erscheinen lassen. So erinnere ich mich einer
an Zwangsvorstellungen und Phobien seit vielen Jahren leidenden
Dame, die mich in betreff der Entstehung ihres Leidens auf ihre
Kinderjahre verwies, aber auch gar nichts zu nennen wußte, was
dafür zu beschuldigen gewesen wäre. Sie war aufrichtig und
intelligent und leistete nur einen bemerkenswert geringen be¬
wußten Widerstand. (Ich schalte hier ein, daß der psychische
Mechanismus der Zwangsvorstellungen mit dem der hysterischen
Symptome sehr viel innere Verwandtschaft hat, und daß die
Technik der Analyse für beide die nämliche ist.)
Als ich diese Dame fragte, ob sie unter dem Drucke meiner
Hand etwas gesehen oder eine Erinnerung bekommen habe, ant-
Zwr Psychotherapie der Hysterie
203
wertete sie; Keines von beiden, aber mir ist plötzlich ein Wort
eingefallen. — Ein einziges Wort? — Ja, aber es klingt zu dumm. —
Sagen Sie es immerhin. — „Hausmeister.“ — Weiter nichts? —
Nein. — Ich drückte zum zweiten Male, und nun kam wieder
ein vereinzeltes Wort, das ihr durch den Sinn schoß: „Hemd.“
Ich merkte nun, daß hier eine neuartige Weise Antwort zu geben
vorliege, und beförderte durch wiederholten Druck eine anschei¬
nend sinnlose Reihe von Worten heraus; Hausmeister — Hemd —
Bett — Stadt — Leiterwagen. Was soll das heißen? fragte ich.
Sie sann einen Moment nach, dann fiel ihr ein; Das kann nur
die eine Geschichte sein, die mir jetzt in den Sinn kommt. Wie
ich zehn Jahre alt war und meine nächstälteste Schwester zwölf,
da bekam sie einmal in der Nacht einen Tobsuchtsanfall und
mußte gebunden und auf einem Leiterwagen in die Stadt ge¬
führt werden. Ich weiß es genau, daß es der Hausmeister war,
der sie überwältigte und auch dann in die Anstalt begleitete. —
Wir setzten nun diese Art der Forschung fort und bekamen von
unserem Orakel andere Wortreihen zu hören, die wir zwar nicht
sämtlich deuten konnten, die sich aber doch zur Fortsetzung dieser
Geschichte und zur Anknüpfung einer zweiten verwerten ließen.
Auch die Bedeutung dieser Reminiszenz ergab sich bald. Die Er¬
krankung der Schwester hatte auf sie darum so tiefen Eindruck
gemacht, weil die beiden ein Geheimnis miteinander teilten 5 sie
schliefen in einem Zimmer und hatten in einer bestimmten Nacht
beide die sexuellen Angriffe einer gewissen männlichen Person
über sich ergehen lassen. Mit der Erwähnung dieses sexuellen
Traumas in früher Jugend war aber nicht nur die Herkunft der
ersten Zwangsvorstellungen, sondern auch das späterhin pathogen
wirkende Trauma aufgedeckt. — Die Sonderbarkeit dieses Falles
bestand nur in dem Auftauchen von einzelnen Schlagworten, die
von uns zu Sätzen verarbeitet werden mußten, denn der Schein
der Beziehungs- und Zusammenhangslosigkeit haftet an den ganzen
Einfallen und Szenen, die sich sonst beim Drücken ergeben, gerade
204
Studien über Hysterie
SO wie an diesen orakelhaft hervorgestoßenen Worten. Bei weiterer
Verfolgung stellt sich dann regelmäßig heraus, daß die scheinbar
unzusammenhängenden Reminiszenzen durch Gedankenbande enge
verknüpft sind, und daß sie ganz direkt zu dem gesuchten patho¬
genen Moment hinführen.
Gerne erinnere ich mich daher an einen Fall von Analyse, in
welchem mein Zutrauen in die Ergebnisse des Drückens zuerst
auf eine harte Probe gestellt, dann aber glänzend gerechtfertigt
wurde: Eine sehr intelligente und anscheinend sehr glückliche
junge Frau hatte mich wegen eines hartnäckigen Schmerzes im
Unterleibe konsultiert, welcher der Therapie nicht weichen wollte.
Ich erkannte, daß der Schmerz in den Bauchdecken sitze, auf
greifbare Muskelschwielen zu beziehen sei und ordnete lokale
Behandlung an.
Nach Monaten sah ich die Kranke wieder, die mir sagte: Der
Schmerz von damals ist nach der angeratenen Behandlung ver¬
gangen und lange weggeblieben, aber jetzt ist er als nervöser
wiedergekehrt. Ich erkenne es daran, daß ich ihn nicht mehr bei
Bewegungen habe wie früher, sondern nur zu bestimmten Stunden,
z. B. morgens beim Erwachen und bei Aufregungen von gewisser
Art. — Die Diagnose der Dame war ganz richtige es galt jetzt,
die Ursache dieses Schmerzes aufzufinden, und dazu konnte sie mir
im unbeeinflußten Zustande nicht verhelfen. In der Konzentration
und unter dem Drucke meiner Hand, als ich sie fragte, ob ihr
etwas einfiele oder ob sie etwas sehe, entschied sie sich fürs Sehen
und begann mir ihre Gesichtsbilder zu beschreiben. Sie sah etwas
wie eine Sonne mit Strahlen, was ich natürlich für ein Phosphen,
hervorgebracht durch Druck auf die Augen, halten mußte. Ich
erwartete, daß Brauchbareres nachkommen würde, allein sie setzte
fort: Sterne von eigentümlich blaßblauem Lichte wie Mond¬
licht u. dgl. m., lauter Flimmer, Glanz und leuchtende Punkte
vor den Augen, wie ich meinte. Ich war schon bereit, diesen
Versuch zu den mißglückten zu zählen, und dachte daran, wie
Xur Psychotherapie der Hysterie
205
ich mich unauffällig aus der Affäre ziehen könnte, als mich eine
der Erscheinungen, die sie beschrieb, aufmerksam machte. Ein
großes schwarzes Kreuz, wie sie es sah, das geneigt stand, an
seinen Rändern denselben Lichtschimmer wie vom Mondlicht
hatte, in dem alle bisherigen Bilder erglänzt hatten, und auf dessen
Balken ein Flämmchen flackerte; das war doch offenbar kein
Phosphen mehr. Ich horchte nun auf: es kamen massenhafte Bilder
in demselben Lichte, eigentümliche Zeichen, die etwa dem Sanskrit
ähnlich sahen, ferner Figuren wie Dreiecke, ein großes Dreieck
darunter; wiederum das Kreuz . . . Diesmal vermute ich eine alle¬
gorische Bedeutung und frage, was soll dieses Kreuz? — Es ist
wahrscheinlich der Schmerz gemeint, antwortet sie. — Ich wende
ein, unter „Kreuz^^ verstünde man meist eine moralische Last;
was versteckt sich hinter dem Schmerze? — Sie weiß es nicht
zu sagen und fährt in ihren Gesichten fort; Eine Sonne mit
goldenen Strahlen, die sie auch zu deuten weiß, — das ist Gott,
die Urkraft; dann eine riesengroße Eidechse, die sie fragend, aber
nicht schreckhaft anschaut, dann ein Haufen von Schlangen, dann
wieder eine Sonne, aber mit milden silbernen Strahlen, und vor
ihr, zwischen ihrer Person und dieser Lichtquelle ein Gitter,
welches ihr den Mittelpunkt der Sonne verdeckt.
Ich weiß längst, daß ich es mit Allegorien zu tun habe, und
frage sofort nach der Bedeutung des letzten Bildes. Sie antwortet,
ohne sich zu besinnen: Die Sonne ist die Vollkommenheit, das
Ideal, und das Gitter sind meine Schwächen und Fehler, die
zwischen mir und dem Ideal stehen. — Ja, machen Sie sich denn
Vorwürfe, sind Sie mit sich unzufrieden? — Freilich. — Seit
wann denn? — Seitdem ich Mitglied der theosophischen Gesell¬
schaft bin und die von ihr herausgegebenen Schriften lese. Eine
geringe Meinung von mir hatte ich immer. — Was hat denn
zuletzt den stärksten Eindruck auf Sie gemacht? — Eine Über¬
setzung aus dem Sanskrit, die jetzt in Lieferungen erscheint. —
Eine Minute später bin ich in ihre Seelenkämpfe, in die Vor-
2 o 6
Studien über Hysterie
würfe, die sie sich macht, eingeweiht und höre von einem kleinen
Erlebnis, das zu einem Vor würfe Anlaß gab, und bei dem der
früher organische Schmerz als Erfolg einer Erregungskonversion
zuerst auftrat. — Die Bilder, die ich anfangs für Phosphene ge¬
halten hatte, waren Symbole okkultistischer Gedankengänge, viel¬
leicht geradezu Embleme von den Titelblättern okkultistischer
Bücher.
❖
Ich habe jetzt die Leistungen der Hilfsprozedur des Drückens
so warm gepriesen und den Gesichtspunkt der Abwehr oder des
Widerstandes die ganze Zeit über so sehr vernachlässigt, daß ich
sicherlich den Eindruck erweckt haben dürfte, man sei nun durch
diesen kleinen Kunstgriff in den Stand gesetzt, des psychischen
Hindernisses gegen eine kathartische Kur Herr zu werden. Allein
dies zu glauben, wäre ein arger Irrtum 5 es gibt dergleichen Profite
nicht in der Therapie, soviel ich sehe^ zur großen Veränderung
wird hier wie überall große Arbeit erfordert. Die Druckprozedur
ist weiter nichts als ein Kniff, das abwehrlustige Ich für eine
Weile zu überrumpeln; in allen ernsteren Fällen besinnt es sich
wieder auf seine Absichten und setzt seinen Widerstand fort.
Ich habe der verschiedenen Formen zu gedenken, in welchen
dieser Widerstand auftritt. Zunächst das erste oder zweite Mal
mißlingt der Druckversuch gewöhnlich. Der Kranke äußert dann
sehr enttäuscht: „Ich habe geglaubt, es wird mir etwas einfallen,
aber ich habe nur gedacht, wie gespannt ich darauf bin; ge¬
kommen ist nichts.Solches Sich-in-Positursetzen des Patienten
ist noch nicht zu den Hindernissen zu zählen; man sagt darauf:
„Sie waren eben zu neugierig; das zweitemal wird es dafür gehen.
Und es geht dann wirklich. Es ist merkwürdig, wie vollständig
oft die Kranken — und die gefügigsten und intelligentesten
mit — an die Verabredung vergessen können, zu der sie sich
doch vorher verstanden haben. Sie haben versprochen, alles zu
Xur Psychotherapie der Hysterie
207
sagen, was ihnen unter dem Drucke der Hand einfällt, gleich¬
gültig, ob es ihnen beziehungsvoll erscheint oder nicht, und ob
es ihnen angenehm zu sagen ist oder nicht, also ohne Auswahl,
ohne Beeinflussung durch Kritik oder Affekt. Sie halten sich aber
nicht an dieses Versprechen, es geht offenbar über ihre Kräfte.
Allemal stockt die Arbeit, immer wieder behaupten sie, diesmal
sei ihnen nichts eingefallen. Man darf ihnen dies nicht glauben,
man muß dann immer annehmen und auch äußern, sie hielten
etwas zurück, weil sie es für unwichtig halten oder peinlich emp¬
finden. Man besteht darauf, man wiederholt den Druck, man
stellt sich unfehlbar, bis man wirklich etwas zu hören bekommt.
Dann fügt der Kranke hinzu: „Das hätte ich Ihnen schon das
erstemal sagen können.^^ — Warum haben Sie es nicht gesagt?
— jjich hab’ mir nicht denken können, daß es das sein sollte.
Erst als es jedesmal wiedergekommen ist, habe ich mich ent¬
schlossen, es zu sagen.“ — Oder: „Ich habe gehofft, gerade das
wird es nicht sein5 das kann ich mir ersparen zu sagen; erst als
es sich nicht verdrängen ließ, habe ich gemerkt, es wird mir
nichts geschenkt.“ — So verrät der Kranke nachträglich die
Motive eines Widerstandes, den er anfänglich gar nicht einbe¬
kennen wollte. Er kann offenbar gar nicht anders als Widerstand
leisten.
Es ist merkwürdig, hinter welchen Ausflüchten sich dieser
Widerstand häufig verbirgt. „Ich bin heute zerstreut, mich stört
die Uhr oder das Klavierspiel im Nebenzimmer.“ Ich habe gelernt,
darauf zu antworten: Keineswegs, Sie stoßen jetzt auf etwas,
was Sie nicht gerne sagen wollen. Das nützt Ihnen nichts. Ver¬
weilen Sie nur dabei. — Je länger die Pause zwischen dem
Drucke meiner Hand und der Äußerung des Kranken ausfallt,
desto mißtrauischer werde ich, desto eher steht zu befürchten,
daß der Kranke sich das zurechtlegt, was ihm eingefallen ist, und
es in der Reproduktion verstümmelt. Die wichtigsten Aufklärungen
kommen häufig mit der Ankündigung als überflüssiges Beiwerk,
2 o8
Studien über Hysterie
wie die als Bettler verkleideten Prinzen der Oper: „Jetzt ist mir
etwas eingefallen, das hat aber nichts damit zu schaffen. Ich sage
es Ihnen nur, weil Sie alles zu wissen verlangen. Mit dieser
Einbegleitung kommt dann meist die langersehnte Lösung 5 ich
horche immer auf, wenn ich den Kranken so geringschätzig von
einem Einfalle reden höre. Es ist nämlich ein Zeichen der ge¬
lungenen Abwehr, daß die pathogenen Vorstellungen bei ihrem
Wiederauftauchen so wenig bedeutsam erscheinen 5 man kann dar¬
aus erschließen, worin der Prozeß der Abwehr bestand 5 er bestand
darin, aus der starken Vorstellung eine schwache zu machen, ihr
den Affekt zu entreißen.
Die pathogene Erinnerung erkennt man also unter anderen
Merkmalen daran, daß sie vom Kranken als unwesentlich be¬
zeichnet und doch nur mit Widerstand ausgesprochen wird. Es
gibt auch Fälle, wo sie der Kranke noch bei ihrer Wiederkehr
zu verleugnen sucht: „Jetzt ist mir etwas eingefallen, aber das
haben Sie mir offenbar eingeredetoder: „Ich weiß, was Sie
sich bei dieser Frage erwarten. Sie meinen gewiß, ich habe dies
und jenes gedacht.“ Eine besonders kluge Weise der Verleugnung
liegt darin, zu sagen: „Jetzt ist mir allerdings etwas eingefallen;
aber das kommt mir vor, als hätte ich es willkürlich hinzugefügt;
es scheint mir kein reproduzierter Gedanke zu sein.“ — Ich
bleibe in all diesen Fällen unerschütterlich fest, ich gehe auf keine
dieser Distinktionen ein, sondern erkläre dem Kranken, das seien
nur Formen und Vorwände des Widerstandes gegen die Repro¬
duktion der einen Erinnerung, die wir trotzdem anerkennen
müßten.
Bei der Wiederkehr von Bildern hat man im allgemeinen leich¬
teres Spiel als bei der von Gedanken; die Hysterischen, die zu¬
meist Visuelle sind, machen es dem Analytiker nicht so schwer
wie die Leute mit Zwangsvorstellungen. Ist einmal ein Bild aus
der Erinnerung aufgetaucht, so kann man den Kranken sagen
hören, daß es in dem Maße zerbröckle und undeutlich werde.
TjUr Psychotherapie der Hysterie
209
wie er in seiner Schilderung desselben fortschreite. Der Kranke
trägt es gleichsam ab, indem er es in Worte umsetzt. Man
orientiert sich nun an dem Erinnerungsbilde selbst, um die Rich¬
tung zu finden, nach welcher die Arbeit fortzusetzen ist. „Schauen
Sie sich das Bild nochmals an. Ist es verschwunden?^^ —
ganzen ja, aber dieses Detail sehe ich noch.^^ — „Dann hat dies
noch etwas zu bedeuten. Sie werden entweder etwas Neues dazu
sehen, oder es wird Ihnen bei diesem Rest etwas einfallen. —
Wenn die Arbeit beendigt ist, zeigt sich das Gesichtsfeld wieder
frei, man kann ein anderes Bild hervorlocken. Andere Male aber |
bleibt ein solches Bild hartnäckig vor dem inneren Auge des
Kranken stehen, trotz seiner Beschreibung, und das ist für mich
ein Zeichen, daß er mir noch etwas Wichtiges über das Thema
des Bildes zu sagen hat. Sobald er dies vollzogen hat, schwindet
das Bild, wie ein erlöster Geist zur Ruhe eingeht.
Es ist natürlich von hohem Werte für den Fortgang der Ana¬
lyse, daß man dem Kranken gegenüber jedesmal recht behalte,
sonst hängt man ja davon ab, was er mitzuteilen für gut findet.
Es ist darum tröstlich zu hören, daß die Prozedur des Drückens
eigentlich niemals fehlschlägt, von einem einzigen Falle abgesehen,
den ich später zu würdigen habe, den ich aber sogleich durch
die Bemerkung kennzeichnen kann, er entspreche einem besonderen
Motiv zum Widerstande. Es kann freilich Vorkommen, daß man
die Prozedur unter Verhältnissen an wendet, in denen sie nichts
zutage fördern darf^ man fragt z. B. nach der weiteren Ätiologie
eines Symptoms, wenn dieselbe bereits abgeschlossen vorliegt, oder
man forscht nach der psychischen Genealogie eines Symptoms,
etwa eines Schmerzes, der in Wahrheit ein somatischer Schmerz
war^ in diesen Fällen behauptet der Kranke gleichfalls, es sei ihm
nichts eingefallen, und befindet sich im Rechte. Man wird sich
davor behüten, ihm Unrecht zu tun, wenn man es sich ganz
allgemein zur Regel macht, während der Analyse die Miene des
ruhig Daliegenden nicht aus dem Auge zu lassen. Man lernt
Freud, L
14
210
Studien übe?' Hysterie
dann ohne jede Schwierigkeit die seelische Ruhe bei wirklichem
Ausbleiben einer Reminiszenz von der Spannung und den Affekt¬
anzeichen zu unterscheiden, unter welchen der Kranke im Dienste
der Abwehr die auftauchende Reminiszenz zu verleugnen sucht.
Auf solchen Erfahrungen ruht übrigens auch die differential¬
diagnostische Anwendung der Druckprozedur.
Es ist also die Arbeit auch mit Hilfe der Druckprozedur keine
mühelose. Man hat nur den einen Vorteil gewonnen, daß man
aus den Ergebnissen dieses Verfahrens gelernt hat, nach welcher
Richtung man zu forschen und welche Dinge man dem Kranken
aufzudrängen hat. Für manche Fälle reicht dies aus^ es handelt
sich ja wesentlich darum, daß ich das Geheimnis errate und es
dem Kranken ins Gesicht zu sage; er muß dann meist seine Ab¬
lehnung aufgeben. In anderen Fällen brauche ich mehr; der über¬
dauernde Widerstand des Kranken zeigt sich darin, daß die Zu¬
sammenhänge reißen, die Lösungen ausbleiben, die erinnerten
Bilder undeutlich und unvollständig kommen. Man erstaunt oft,
wenn man aus einer späteren Periode einer Analyse auf die früheren
zurückblickt, wie verstümmelt alle die Einfälle und Szenen waren,
die man dem Kranken durch die Prozedur des Drückens entrissen
hat. Es fehlte gerade das Wesentliche daran, die Beziehung auf
die Person oder auf das Thema, und das Bild blieb darum un¬
verständlich. Ich will ein oder zwei Beispiele für das Wirken einer
solchen Zensurierung beim ersten Auftauchen der pathogenen
Erinnerungen geben. Der Kranke sieht z. B. einen weiblichen
Oberkörper, an dessen Hülle wie durch Nachlässigkeit etwas klafft;
erst viel später fügt er zu diesem Torso den Kopf, um damit eine
Person und eine Beziehung zu verraten. Oder er erzählt eine
Reminiszenz aus seiner Kindheit von zwei Buben, deren Gestalt
ihm ganz dunkel ist, denen man eine gewisse Unart nachgesagt
hätte. Es bedarf vieler Monate und großer Fortschritte im Gange
der Analyse, bis er diese Reminiszenz wiedersieht und in dem
einen der Kinder sich selbst, im anderen seinen Bruder erkennt.
Zz/r Psychotherapie der Hysterie
21 1
Welche Mittel hat man nun zur Verfügung, um diesen fort¬
gesetzten Widerstand zu überwinden?
Wenige, aber doch fast alle die, durch die sonst ein Mensch
eine psychische Einwirkung auf einen anderen übt. Man muß
sich zunächst sagen, daß psychischer Widerstand, besonders ein
seit langem konstituierter, nur langsam und schrittweise aufgelöst
werden kann, und muß in Geduld warten. Sodann darf man auf
das intellektuelle Interesse rechnen, das sich nach kurzer Arbeit
beim Kranken zu regen beginnt. Indem man ihn aufklärt, ihm
von der wundersamen Welt der psychischen Vorgänge Mitteilungen
macht, in die man selbst erst durch solche Analysen Einblick
gewonnen hat, gewinnt man ihn selbst zum Mitarbeiter, bringt
ihn dazu, sich selbst mit dem objektiven Interesse des Forschers
zu betrachten, und drängt so den auf affektiver Basis beruhenden
Widerstand zurück. Endlich aber — und dies bleibt der stärkste
Hebel — muß man versuchen, nachdem man die Motive seiner
Abwehr erraten, die Motive zu entwerten, oder selbst sie durch
stärkere zu ersetzen. Hier hört wohl die Möglichkeit auf, die
psychotherapeutische Tätigkeit in Formeln zu fassen. Man wirkt,
so gut man kann, als Aufklärer, wo die Ignoranz eine Scheu er¬
zeugt hat, als Lehrer, als Vertreter einer freieren oder überlegenen
Weltauffassung, als Beichthörer, der durch die Fortdauer seiner
Teilnahme und seiner Achtung nach abgelegtem Geständnisse
gleichsam Absolution erteilt^ man sucht dem Kranken menschlich
etwas zu leisten, soweit der Umfang der eigenen Persönlichkeit
und das Maß von Sympathie, das man für den betreffenden Fall
aufbringen kann, dies gestatten. Für solche psychische Betätigung
ist als unerläßliche Voraussetzung erforderlich, daß man die Natur
des Falles und die Motive der hier wirksamen Abwehr ungefähr
erraten habe, und zum Glück trägt die Technik des Drängens
und der Druckprozedur gerade so weit. Je mehr man dergleichen
Rätsel bereits gelöst hat, desto leichter wird man vielleicht ein
neues erraten und desto früher wird man die eigentlich heilende
212
Studien über Hysterie
psychische Arbeit in Angriff nehmen können. Denn es ist gut,
sich dies völlig klar zu machen: Wenn auch der Kranke sich von
dem hysterischen Symptome erst befreit, indem er die es verur¬
sachenden pathogenen Eindrücke reproduziert und unter Affekt¬
äußerung ausspricht, so liegt doch die therapeutische Aufgabe nur
darin, ihn dazu zu bewegen, und wenn diese Aufgabe einmal
gelöst ist, so bleibt für den Arzt nichts mehr zu korrigieren oder
aufzuheben übrig. Alles, was es an Gegensuggestionen dafür braucht,
ist bereits während der Bekämpfung des Widerstandes aufgewendet
worden. Der Fall ist etwa mit dem Aufschließen einer versperrten
Türe zu vergleichen, wonach das Niederdrücken der Klinke, um
sie zu öffnen, keine Schwierigkeit mehr hat.
Neben den intellektuellen Motiven, die man zur Überwindung
des Widerstandes heranzieht, wird man ein affektives Moment,
die persönliche Geltung des Arztes, selten entbehren können, und
in einer Anzahl von Fällen wird letzteres allein imstande sein,
den Widerstand zu beheben. Das ist hier nicht anders als sonst
in der Medizin, und man wird keiner therapeutischen Methode
zumuten dürfen, auf die Mitwirkung dieses persönlichen Moments
gänzlich zu verzichten.
3
Angesichts der Ausführungen des vorstehenden Abschnittes, der
Schwierigkeiten meiner Technik, die ich rückhaltlos aufgedeckt
habe — ich habe sie übrigens aus den schwersten Fällen zu¬
sammengetragen, es wird oft sehr viel bequemer gehen; — an¬
gesichts dieses Sachverhaltes also wird wohl jeder die Frage auf¬
werfen wollen, ob es nicht zweckmäßiger sei, anstatt all dieser
Quälereien sich energischer um die Hypnose zu bemühen oder
die Anwendung der kathartischen Methode auf solche Kranke zu
beschränken, die in tiefe Hypnose zu versetzen sind. Auf letzteren
Vorschlag müßte ich antworten, daß dann die Zahl der brauch¬
baren Patienten für meine Geschicklichkeit allzusehr einschrumpfen
Xur Psychotherapie der Hysterie
215
würden dem ersteren Rate aber werde ich die Mutmaßung ent¬
gegensetzen, es dürfte durch Erzwingen der Hypnose nicht viel
vom Widerstande zu ersparen sein. Meine Erfahrungen hierüber
sind eigentümlicherweise nur wenig zahlreich, ich kann daher
nicht über die Mutmaßung hinauskommen 5 aber wo ich eine
kathartische Kur in der Hypnose anstatt in der Konzentration
durchgeführt habe, fand ich die mir zufallende Arbeit dadurch
nicht verringert. Ich habe erst unlängst eine solche Behandlung
beendigt, in deren Verlauf ich eine hysterische Lähmung der
Beine zum Weichen brachte. Die Patientin geriet in einen Zu¬
stand, der psychisch vom Wachen sehr verschieden war und soma¬
tisch dadurch ausgezeichnet, daß sie die Augen unmöglich öffnen
oder sich erheben konnte, ehe ich ihr zugerufen hatte: Jetzt
wachen Sie auf, und doch habe ich in keinem Falle größeren
Widerstand gefunden als gerade in diesem. Ich legte auf diese
körperlichen Zeichen keinen Wert, und gegen Ende der zehn
Monate währenden Behandlung waren sie auch unmerklich ge¬
worden^ der Zustand der Patientin, in dem wir arbeiteten, hatte
darum von seinen Eigentümlichkeiten, der Fähigkeit sich an Un¬
bewußtes zu erinnern, der ganz besonderen Beziehung zur Person
des Arztes nichts eingebüßt. In der Geschichte der Frau Emmy
V. N . . . habe ich allerdings ein Beispiel einer im tiefsten Som¬
nambulismus ausgeführten kathartischen Kur geschildert, in welcher
der Widerstand fast keine Rolle spielte. Allein von dieser Frau
habe ich auch nichts erfahren, zu dessen Mitteilung es einer be¬
sonderen Überwindung bedurft hätte, nichts, was sie mir nicht
bei längerer Bekanntschaft und einiger Schätzung auch im Wachen
hätte erzählen können. Auf die eigentlichen Ursachen ihrer Er¬
krankung, sicherlich identisch mit den Ursachen ihrer Rezidiven
nach meiner Behandlung, bin ich gar nicht gekommen^ — es
war eben mein erster Versuch in dieser Therapie, — und das
einzige Mal, als ich zufällig eine Reminiszenz von ihr forderte,
in die sich ein Stück Erotik einmengte, fand ich sie ebenso wider-
214
Studien Über Hysterie
Strebend und unverläßlich in ihren Angaben wie später irgend
eine andere meiner nicht somnambulen Patientinnen. Von dem
Widerstande dieser Frau auch im Somnambulismus gegen andere
Anforderungen und Zumutungen habe ich bereits in ihrer Kranken¬
geschichte gesprochen. Überhaupt ist mir der Wert der Hypnose
für die Erleichterung kathartischer Kuren zweifelhaft geworden,
seitdem ich Beispiele erlebt habe von absoluter therapeutischer
Unfügsamkeit bei ausgezeichnetem andersartigen Gehorsam im
tiefen Somnambulismus. Einen Fall dieser Art habe ich kurz auf
S. 85 mitgeteilt; ich könnte noch andere hinzufügen. Ich gestehe
übrigens, daß diese Erfahrung meinem Bedürfnis nach quantita¬
tiver Relation zwischen Ursache und Wirkung auch auf psychi¬
schem Gebiete nicht übel entsprochen hat.
*
In der bisherigen Darstellung hat sich uns die Idee des Wider¬
standes in den Vordergrund gedrängt; ich habe gezeigt, wie man
bei der therapeutischen Arbeit zu der Auffassung geleitet wird,
die Hysterie entstehe durch die Verdrängung einer unverträglichen
Vorstellung aus dem Motive der Abwehr, die verdrängte Vor¬
stellung bleibe als eine schwache (wenig intensive) Erinnerungsspur
bestehen, der ihr entrissene Affekt werde für eine somatische
Innervation verwendet: Konversion der Erregung. Die Vorstellung
werde also gerade durch ihre Verdrängung Ursache krankhafter
Symptome, also pathogen. Einer Hysterie, die diesen psychischen
Mechanismus aufweist, darf man den Namen „Abwehrhysterie^^
beilegen. Nun haben wir beide, Breuer und ich, zu wiederholten
Malen von zwei anderen Arten der Hysterie gesprochen, für welche
wir die Namen „Hypnoid- und Retentionshysterie^^ in Ge¬
brauch zogen. Die Hypnoidhysterie ist diejenige, die überhaupt
zuerst in unseren Gesichtskreis getreten ist; ich wüßte ja kein
besseres Beispiel für eine solche anzuführen als den ersten Fall
Z,ur Psychotherapie der Hysterie
215
Breuers/ Für eine solche Hypnoidhysterie hat Breuer einen von
dem der Konversionsabwehr wesentlich verschiedenen psychischen
Mechanismus angegeben. Hier soll also eine Vorstellung dadurch
pathogen werden, daß sie, in einem besonderen psychischen Zu¬
stand empfangen, von vornherein außerhalb des Ich verblieben
ist. Es hat also keiner psychischen Kraft bedurft, sie von dem Ich
abzuhalten, und es darf keinen Widerstand erwecken, wenn man
sie mit Hilfe der somnambulen Geistestätigkeit in das Ich ein¬
führt. Die Krankengeschichte der Anna O. zeigt auch wirklich
nichts von einem solchen Widerstand.
Ich halte diesen Unterschied für so wesentlich, daß ich mich
durch ihn gerne bestimmen lasse, an der Aufstellung der Hypnoid¬
hysterie festzuhalten. Meiner eigenen Erfahrung ist merkwürdiger¬
weise keine echte Hypnoidhysterie begegnet 5 was ich in Angriff
nahm, verwandelte sich in Abwehrhysterie. Nicht etwa, daß ich
es niemals mit Symptomen zu tun gehabt hätte, die nachweisbar
in abgesonderten Bewußtseinszuständen entstanden waren und
darum von der Aufnahme ins Ich ausgeschlossen bleiben mußten.
Dies traf auch in meinen Fällen mitunter zu, aber dann konnte
ich doch nach weisen, daß der sogenannte hypnoide Zustand seine
Absonderung dem Umstande verdankte, daß in ihm eine vorher
durch Abwehr abgespaltene psychische Gruppe zur Geltung kam.
Kurz, ich kann den Verdacht nicht unterdrücken, daß Hypnoid-
und Abwehrhysterie irgendwo an ihrer Wurzel Zusammentreffen,
und daß dabei die Abwehr das Primäre ist. Ich weiß aber nichts
darüber.
Gleich unsicher ist derzeit mein Urteil über die „Retentions-
hysterie^^, bei welcher die therapeutische Arbeit gleichfalls ohne
Widerstand erfolgen sollte. Ich habe einen Fall gehabt, den ich
für eine typische Retentionshysterie gehalten habe5 ich freute
mich auf den leichten und sicheren Erfolg, aber dieser Erfolg
1) [Breuers in diese Gesamtausgabe nicht aufgenommene Krankengeschichte
„Frl. Anna O . . vgl. Originalausgabe der „Studien über Hysterie“, 4. Aufl., S. 15 ff.]
2i6
Studien über Hysterie
blieb aus, so leicht auch wirklich die Arbeit war. Ich vermute
daher, wiederum mit aller Zurückhaltung, die der Unwissenheit
geziemt, daß auch bei der Retentionshysterie auf dem Grunde ein
Stück Abwehr zu finden ist, welches den ganzen Vorgang ins
Hysterische gedrängt hat. Ob ich mit dieser Tendenz zur Aus¬
dehnung des Abwehrbegriffes auf die gesamte Hysterie Gefahr
laufe, der Einseitigkeit und dem Irrtum zu verfallen, werden ja
hoffentlich neue Erfahrungen bald entscheiden.
*
Ich habe bisher von den Schwierigkeiten und der Technik der
kathartischen Methode gehandelt und möchte noch einige An¬
deutungen hinzufügen, wie sich mit dieser Technik eine Analyse
gestaltet. Es ist dies ein für mich sehr interessantes Thema, von
dem ich aber nicht erwarten kann, es werde ähnliches Interesse
bei anderen erregen, die noch keine solche Analyse ausgeführt
haben. Es wird eigentlich wiederum von Technik die Rede sein,
aber diesmal von den inhaltlichen Schwierigkeiten, für die man
den Kranken nicht verantwortlich machen kann, die zum Teil
bei einer Hypnoid- und Retentionshysterie dieselben sein müßten
wie bei den mir als Muster vorschwebenden Abwehrhysterien.
Ich gehe an dieses letzte Stück der Darstellung mit der Erwar¬
tung, die hier aufzudeckenden psychischen Eigentümlichkeiten
könnten einmal für eine Vorstellungsdynamik einen gewissen Wert
als Rohmaterial erlangen.
Der erste und mächtigste Eindruck, den man sich bei einer
solchen Analyse holt, ist gewiß der, daß das pathogene psychische
Material, das angeblich vergessen ist, dem Ich nicht zur Verfügung
steht, in der Assoziation und im Erinnern keine Rolle spielt, —
doch in irgend einer Weise bereit liegt, und zwar in richtiger
und guter Ordnung. Es handelt sich nur darum. Widerstände zu
beseitigen, die den Weg dazu versperren. Sonst aber wird es
bewußt, wie wir überhaupt etwas wissen können 5 die richtigen
Xur Psychotherapie der Hysterie
217
Verknüpfungen der einzelnen Vorstellungen untereinander und
mit nicht pathogenen, häufig erinnerten, sind vorhanden, sind
seinerzeit vollzogen und im Gedächtnisse bewahrt worden. Das
pathogene psychische Material erscheint als das Eigentum einer
Intelligenz, die der des normalen Ichs nicht notwendig nachsteht.
Der Schein einer zweiten Persönlichkeit wird oft auf das
täuschendste hergestellt.
Ob dieser Eindruck berechtigt ist, ob man dabei nicht die An¬
ordnung des psychischen Materials, die nach der Erledigung resul¬
tiert, in die Zeit der Krankheit zurückverlegt, dies sind Fragen,
die ich noch nicht und nicht an dieser Stelle in Erwägung ziehen
möchte. Man kann die bei solchen Analysen gemachten Er¬
fahrungen jedenfalls nicht bequemer und anschaulicher beschreiben,
als wenn man sich auf den Standpunkt stellt, den man nach der
Erledigung zur Überschau des Ganzen einnehmen darf.
Die Sachlage ist ja meist keine so einfache, wie man sie für
besondere Fälle, z. B. für ein einzelnes, in einem großen Trauma
entstandenes Symptom dargestellt hat. Man hat zumeist nicht ein
einziges hysterisches Symptom, sondern eine Anzahl von solchen,
die teils unabhängig voneinander, teils miteinander verknüpft sind.
Man darf nicht eine einzige traumatische Erinnerung und als
Kern derselben eine einzige pathogene Vorstellung erwarten, son¬
dern muß auf Reihen von Partialtraumen und Verkettungen von
pathogenen Gedankengängen gefaßt sein. Die monosymptomatische
traumatische Hysterie ist gleichsam ein Elementarorganismus, ein
einzelliges Wesen im Vergleich zum komplizierten Gefüge einer
schweren hysterischen Neurose, wie wir ihr gemeinhin begegnen.
Das psychische Material einer solchen Hysterie stellt sich nun
dar als ein mehrdimensionales Gebilde von mindestens dreifacher
Schichtung. Ich hoffe, ich werde diese bildliche Ausdrucks weise
bald rechtfertigen können. Es ist zunächst ein Kern vorhanden
von solchen Erinnerungen (an Erlebnisse oder Gedankengänge), in
denen das traumatische Moment gegipfelt oder die pathogene Idee
2i8
Studien über Hysterie
ihre reinste Ausbildung gefunden hat. Um diesen Kern herum
findet man eine oft unglaublich reichliche Menge von anderem
Erinnerungsmaterial, das man bei der Analyse durcharbeiten muß,
in, wie erwähnt, dreifacher Anordnung. Erstens ist eine lineare
chronologische Anordnung unverkennbar, die innerhalb jedes
einzelnen Themas statthat. Als Beispiel für diese zitiere ich bloß
die Anordnungen in Breuers Analyse der Anna O.^ Das Thema
sei das des Taubwerdens, des Nichthörens^ das differenzierte
sich dann nach sieben Bedingungen, und unter jeder Überschrift
waren zehn bis über hundert Einzelerinnerungen in chrono¬
logischer Reihenfolge gesammelt. Es war, als ob man ein wohl
in Ordnung gehaltenes Archiv ausnehmen würde. In der Analyse
meiner Patientin Emmy v. N . . . sind ähnliche, wenn auch nicht
so vollzählig dargestellte Erinnerungsfaszikel enthalten: sie bilden
aber ein ganz allgemeines Vorkommnis in jeder Analyse, treten
jedesmal in einer chronologischen Ordnung auf, die so unfehlbar
verläßlich ist wie die Reihenfolge der Wochentage oder Monats¬
namen beim geistig normalen Menschen, und erschweren die Arbeit
der Analyse durch die Eigentümlichkeit, daß sie die Reihenfolge
ihrer Entstehung bei der Reproduktion umkehren ^ das frischeste,
jüngste Erlebnis des Faszikels kommt als „Deckblatt^^ zuerst und
den Schluß macht jener Eindruck, mit dem in Wirklichkeit die
Reihe anfing.
Ich habe die Gruppierung gleichartiger Erinnerungen zu einer
linear geschichteten Mehrheit, wie es ein Aktenbündel, ein
Paket u. dgl. darstellt, als Bildung eines Themas bezeichnet.
Diese Themen nun zeigen eine zweite Art von Anordnung^ sie
sind, ich kann es nicht anders ausdrücken, konzentrisch um
den pathogenen Kern geschichtet. Es ist nicht schwer zu
sagen, was diese Schichtung ausmacht, nach welcher ab- oder zu¬
nehmenden Größe diese Anordnung erfolgt. Es sind Schichten
i) [Vgl. die Fußnote oben auf S. 215.]
Xur Psychotherapie der Hysterie
219
gleichen, gegen den Kern hin wachsenden Widerstandes und
damit Zonen gleicher Bewußtseinsveränderung, in denen
sich die einzelnen Themen erstrecken. Die periphersten Schichten
enthalten von verschiedenen Themen jene Erinnerungen (oder
Faszikel), die leicht erinnert werden und immer klar bewußt
waren; je tiefer man geht, desto schwieriger werden die auf-
tauchenden Erinnerungen erkannt, bis man nahe am Kerne auf
solche stößt, die der Patient noch bei der Reproduktion verleugnet.
Diese Eigentümlichkeit der konzentrischen Schichtung des patho¬
genen psychischen Materials ist es, die dem Verlaufe solcher Ana¬
lysen ihre, wie wir hören werden, charakteristischen Züge ver¬
leiht. Jetzt ist noch eine dritte Art von Anordnung zu erwähnen,
die wesentlichste, über die am wenigsten leicht eine allgemeine
Aussage zu machen ist. Es ist die Anordnung nach dem Gedanken¬
inhalte, die Verknüpfung durch den bis zum Kerne reichenden
logischen Faden, der einem in jedem Falle besonderen, unregel¬
mäßigen und vielfach abgeknickten Weg entsprechen mag. Diese
Anordnung hat einen dynamischen Charakter, im Gegensätze zum
morphologischen der beiden vorerst erwähnten Schichtungen.
Während letztere in einem räumlich ausgeführten Schema durch
starre, bogenförmige und gerade Linien darzustellen wären, müßte
man dem Gange der logischen Verkettung mit einem Stäbchen
nachfahren, welches auf den verschlungensten Wegen aus ober¬
flächlichen in tiefe Schichten und zurück, doch im allgemeinen
von der Peripherie her zum zentralen Kerne vordringt und dabei
alle Stationen berühren muß, also ähnlich wie das Zickzack der
Lösung einer Rösselsprungaufgabe über die Felderzeichnung hin¬
weggeht.
Ich halte letzteren Vergleich noch für einen Moment fest, um
einen Punkt hervorzuheben, in dem er den Eigenschaften des
Verglichenen nicht gerecht wird. Der logische Zusammenhang
entspricht nicht nur einer zickzackförmig geknickten Linie, sondern
vielmehr einer verzweigten, und ganz besonders einem konver-
220
Studien Über Hysterie
gierenden Liniensysteme. Er hat Knotenpunkte, in denen zwei
oder mehrere Fäden Zusammentreffen, um von da an vereinigt
weiterzuziehen, und in den Kern münden in der Regel mehrere
unabhängig voneinander verlaufende oder durch Seitenwege stellen¬
weise verbundene Fäden ein. Es ist sehr bemerkenswert, um es
mit anderen Worten zu sagen, wie häufig ein Symptom mehr¬
fach determiniert, überbestimmt ist.
Mein Versuch, die Organisation des pathogenen psychischen
Materials zu veranschaulichen, wird abgeschlossen sein, wenn ich
noch eine einzige Komplikation einführe. Es kann nämlich der
Fall vorliegen, daß es sich um mehr als einen einzigen Kern im
pathogenen Materiale handle, so z. B. wenn ein zweiter hysteri¬
scher Ausbruch zu analysieren ist, der seine eigene Ätiologie hat,
aber doch mit einem, Jahre vorher überwundenen, ersten Aus¬
bruch akuter Hysterie zusammenhängt. Man kann sich dann leicht
vorstellen, welche Schichten und Gedankenwege hinzukommen
müssen, um zwischen den beiden pathogenen Kernen eine Ver¬
bindung herzustellen.
Ich will an das so gewonnene Bild von der Organisation des
pathogenen Materials noch die eine oder die andere Bemerkung
anknüpfen. Wir haben von diesem Material ausgesagt, es benehme
sich wie ein Fremdkörper 5 die Therapie wirke auch wie die Ent¬
fernung eines Fremdkörpers aus dem lebenden Gewebe. Wir sind
jetzt in der Lage einzusehen, worin dieser Vergleich fehlt. Ein
Fremdkörper geht keinerlei Verbindung mit den ihn umlagernden
Gewebsschichten ein, obwohl er dieselben verändert, zur reaktiven
Entzündung nötigt. Unsere pathogene psychische Gruppe dagegen
läßt sich nicht sauber aus dem Ich herausschälen, ihre äußeren
Schichten gehen allseitig in Anteile des normalen Ichs über, ge¬
hören letzterem eigentlich ebensosehr an wie der pathogenen
Organisation. Die Grenze zwischen beiden wird bei der Analyse
rein konventionell, bald hier, bald dort gesteckt, ist an einzelnen
Stellen wohl gar nicht anzugeben. Die inneren Schichten ent-
Zwr Psychotherapie der Hysterie
221
fremden sich dem Ich immer mehr und mehr, ohne daß wiederum
die Grenze des Pathogenen irgendwo sichtbar begänne. Die patho¬
gene Organisation verhält sich nicht eigentlich wie ein Fremd¬
körper, sondern weit eher wie ein Infiltrat. Als das Infiltrierende
muß in diesem Gleichnisse der Widerstand genommen werden.
Die Therapie besteht ja auch nicht darin, etwas zu exstirpieren
— das vermag die Psychotherapie heute nicht, — sondern den
Widerstand zum Schmelzen zu bringen und so der Zirkulation
den Weg in ein bisher abgesperrtes Gebiet zu bahnen.
(Ich bediene mich hier einer Reihe von Gleichnissen, die alle
nur eine recht begrenzte Ähnlichkeit mit meinem Thema haben
und die sich auch untereinander nicht vertragen. Ich weiß dies,
und bin nicht in Gefahr, deren Wert zu überschätzen, aber mich
leitet die Absicht, ein höchst kompliziertes und noch niemals dar¬
gestelltes Denkobjekt von verschiedenen Seiten her zu veranschau¬
lichen, und darum erbitte ich mir die Freiheit, auch noch auf
den folgenden Seiten in solcher nicht einwandfreien Weise mit
Vergleichen zu schalten.)
Wenn man nach vollendeter Erledigung das pathogene Material
in seiner nun erkannten, komplizierten, mehrdimensionalen Organi¬
sation einem Dritten zeigen könnte, würde dieser mit Recht die
Frage aufwerfen: Wie kam ein solches Kamel durch das Nadelöhr?
Man spricht nämlich nicht mit Unrecht von einer „Enge des
Bewußtseins“. Der Terminus gewinnt Sinn und Lebensfrische für
den Arzt, der eine solche Analyse durchführt. Es kann immer nur
eine einzelne Erinnerung ins Ich-Bewußtsein eintreten^ der Kranke,
der mit der Durcharbeitung dieser einen beschäftigt ist, sieht nichts
von dem, was nachdrängt, und vergißt an das, was bereits durch¬
gedrungen ist. Stößt die Bewältigung dieser einen pathogenen Er¬
innerung auf Schwierigkeiten, wie z. B. wenn der Kranke mit
dem Widerstande gegen sie nicht nachläßt, wenn er sie verdrängen
oder verstümmeln will, so ist der Engpaß gleichsam verlegt^ die
Arbeit stockt, es kann nichts anderes kommen, und die eine im
222
Studien über Hysterie
Durchbruche befindliche Erinnerung bleibt vor dem Kranken stehen,
bis er sie in die Weite des Ichs aufgenommen hat. Die ganze
räumlich ausgedehnte Masse des pathogenen Materials wird so
durch eine enge Spalte durchgezogen, langt also, wie in Stücke
oder Bänder zerlegt, im Bewußtsein an. Es ist Aufgabe des Psycho¬
therapeuten, daraus die vermutete Organisation wieder zusammen¬
zusetzen. Wen noch nach Vergleichen gelüstet, der mag sich hier
an ein Geduldspiel erinnern.
Steht man davor, eine solche Analyse zu beginnen, wo man
eine derartige Organisation des pathogenen Materials erwarten
darf, kann man sich folgende Ergebnisse der Erfahrung zunutze
machen: Es ist ganz aussichtslos, direkt zum Kerne der
pathogenen Organisation vorzudringen. Könnte man diesen
selbst erraten, so würde der Kranke doch mit der ihm geschenkten
Aufklärung nichts anzufangen wissen und durch sie psychisch
nicht verändert werden.
Es bleibt nichts übrig, als sich zunächst an die Peripherie des
pathogenen psychischen Gebildes zu halten. Man beginnt damit,
den Kranken erzählen zu lassen, was er weiß und erinnert, wobei
man bereits seine Aufmerksamkeit dirigiert und durch Anwendung
der Druckprozedur leichtere Widerstände überwindet. Jedesmal,
wenn man durch Drücken einen neuen Weg eröffnet hat, darf
man erwarten, daß der Kranke ihn ein Stück weit ohne neuen
Widerstand fortsetzen wird.
Hat man eine Weile auf solche Weise gearbeitet, so regt sich
gewöhnlich eine mitarbeitende Tätigkeit im Kranken. Es fallen
ihm jetzt eine Fülle von Reminiszenzen ein, ohne daß man ihm
Fragen und Aufgaben zu stellen braucht^ man hat sich eben den
Weg in eine innere Schichte gebahnt, innerhalb welcher der
Kranke jetzt über das Material von gleichem Widerstande spontan
verfügt. Man tut gut daran, ihn eine Weile unbeeinflußt repro¬
duzieren zu lassen5 er ist selber zwar nicht imstande, wichtige
Zusammenhänge aufzudecken, aber das Abtragen innerhalb der-
TLur Psychotherapie der Hysterie
223
selben Schichte darf man ihm überlassen. Die Dinge, die er so
beibringt, scheinen oft zusammenhangslos, geben aber das Material
ab, das durch späterhin erkannten Zusammenhang belebt wird.
Man hat sich hier im allgemeinen vor zweierlei zu bewahren.
Wenn man den Kranken in der Reproduktion der ihm zuströmen¬
den Einfälle hemmt, so kann man sich manches „verschütten^^,
was späterhin mit großer Mühe doch freigemacht werden muß.
Anderseits darf man seine unbewußte „ Intelligenznicht über¬
schätzen und ihr nicht die Leitung der ganzen Arbeit überlassen.
Wollte ich den Arbeitsmodus schematisieren, so könnte ich etwa
sagen, man übernimmt selbst die Eröffnung innerer Schichten,
das Vordringen in radialer Richtung, während der Kranke die
peripherische Erweiterung besorgt.
Das Vordringen geschieht ja dadurch, daß man in der vorhin
angedeuteten Weise Widerstand überwindet. In der Regel aber
hat man vorher noch eine andere Aufgabe zu lösen. Man muß
ein Stück des logischen Fadens in die Hand bekommen, unter
dessen Leitung man allein in das Innere einzudringen hoffen darf.
Man erwarte nicht, daß die freien Mitteilungen des Kranken, das
Material der am meisten oberflächlichen Schichten, es dem Ana¬
lytiker leicht machen zu erkennen, an welchen Stellen es in die
Tiefe geht, an welche Punkte die gesuchten Gedankenzusammen¬
hänge anknüpfen. Im Gegenteil; gerade dies ist sorgfältig verhüllt,
die Darstellung des Kranken klingt wie vollständig und in sich
gefestigt. Man steht zuerst vor ihr wie vor einer Mauer, die jede
Aussicht versperrt und die nicht ahnen läßt, ob etwas und was
denn doch dahinter steckt.
Wenn man aber die Darstellung, die man vom Kranken ohne
viel Mühe und Widerstand erhalten hat, mit kritischem Auge
mustert, wird man ganz unfehlbar Lücken und Schäden in ihr
entdecken. Hier ist der Zusammenhang sichtlich unterbrochen und
wird vom Kranken durch eine Redensart, eine ungenügende Aus¬
kunft notdürftig ergänzt; dort stößt man auf ein Motiv, das bei
224
Studien über Hysterie
einem normalen Menschen als ein ohnmächtiges zu bezeichnen
wäre. Der Kranke will diese Lücken nicht anerkennen, wenn er
auf sie aufmerksam gemacht wird. Der Arzt aber tut recht daran,
wenn er hinter diesen schwachen Stellen den Zugang zu dem
Material der tieferen Schichten sucht, wenn er gerade hier die
Fäden des Zusammenhanges aufzufinden hofft, denen er mit der
Druckprozedur nachspürt. Man sagt dem Kranken also: Sie irren
sich^ das, was Sie angeben, kann mit dem betreffenden nichts zu
tun haben. Hier müssen wir auf etwas anderes stoßen, was Ihnen
unter dem Drucke meiner Hand einfallen wird.
Man darf nämlich an einen Gedankengang bei einem Hysteri¬
schen, und reichte er auch ins Unbewußte, dieselben Anforde¬
rungen von logischer Verknüpfung und ausreichender Motivierung
stellen, die man bei einem normalen Individuum erheben würde.
Eine Lockerung dieser Beziehungen liegt nicht im Machtbereiche
der Neurose. Wenn die VorstellungsVerknüpfungen der Neuroti¬
schen und speziell der Hysterischen einen anderen Eindruck machen,
wenn hier die Relation der Intensitäten verschiedener Vorstellungen
aus psychologischen Bedingungen allein unerklärbar scheint, so
haben wir ja gerade für diesen Anschein den Grund kennen
gelernt und wissen ihn als Existenz verborgener, unbewußter
Motive zu nennen. Wir dürfen also solche geheime Motive überall
dort vermuten, wo ein solcher Sprung im Zusammenhänge, eine
Überschreitung des Maßes normal berechtigter Motivierung nach¬
zuweisen ist.
Natürlich muß man sich bei solcher Arbeit von dem theoreti¬
schen Vorurteile frei halten, man habe es mit abnormen Gehirnen
von degeneres und desequilibres zu tun, denen die Freiheit, die
gemeinen psychologischen Gesetze der Vorstellungsverbindung über
den Haufen zu werfen, als Stigma eigen wäre, bei denen eine
beliebige Vorstellung ohne Motiv übermäßig intensiv wachsen,
eine andere ohne psychologischen Grund unverwüstlich bleiben
kann. Die Erfahrung zeigt für die Hysterie das Gegenteil; hat
Tjur Psychotherapie der Hysterie
225
man die verborgenen — oft unbewußt gebliebenen — Motive heraus¬
gefunden und bringt sie in Rechnung, so bleibt auch an der hysteri¬
schen Gedankenverknüpfung nichts rätselhaft und regelwidrig.
Auf solche Art also, durch Aufspüren von Lücken in der ersten
Darstellung des Kranken, die oft durch „falsche Verknüpfungen“
gedeckt sind, greift man ein Stück des logischen Fadens an der
Peripherie auf und bahnt sich durch die Druckprozedur von da
aus den weiteren Weg.
Sehr selten gelingt es dabei, sich an demselben Faden bis ins
Innere durchzuarbeiten 5 meist reißt er unterwegs ab, indem der
Druck versagt, gar kein Ergebnis liefert oder eines, das mit aller
Mühe nicht zu klären und nicht fortzusetzen ist. Man lernt es
bald, sich in diesem Falle vor den naheliegenden Verwechslungen
zu schützen. Die Miene des Kranken muß es entscheiden, ob man
wirklich an ein Ende gekommen ist, oder einen Fall getroffen hat,
welcher eine psychische Aufklärung nicht braucht, oder ob es
übergroßer Widerstand ist, der der Arbeit Halt gebietet. Kann
man letzteren nicht alsbald besiegen, so darf man annehmen, daß
man den Faden bis in eine Schichte hinein verfolgt hat, die für
jetzt noch undurchlässig ist. Man läßt ihn fallen, um einen
anderen Faden aufzugreifen, den man vielleicht ebensoweit ver¬
folgt. Ist man mit allen Fäden in diese Schichte nachgekommen,
hat dort die Verknotungen aufgefunden, wegen welcher der ein¬
zelne Faden isoliert nicht mehr zu verfolgen war, so kann man
daran denken, den bevorstehenden Widerstand von neuem anzu¬
greifen.
Man kann sich leicht vorstellen, wie kompliziert eine solche
Arbeit werden kann. Man drängt sich unter beständiger Über¬
windung von Widerstand in innere Schichten ein, gewinnt Kenntnis
von den in dieser Schicht angehäuften Themen und den durch¬
laufenden Fäden, prüft, bis wie weit man mit seinen gegen¬
wärtigen Mitteln und seiner gewonnenen Kenntnis Vordringen
kann, verschafft sich erste Kundschaft von dem Inhalte der nächsten
Freud, I.
15
220
Studien über Hysterie
Schichten durch die Druckprozedur, läßt die Fäden fallen und
nimmt sie wieder auf, verfolgt sie bis zu Knotenpunkten, holt
beständig nach und gelangt, indem man einem Erinnerungsfaszikel
nachgeht, jedesmal auf einen Nebenweg, der schließlich doch
wieder einmündet. Endlich kommt man auf solche Art so weit,
daß man das schichtweise Arbeiten verlassen und auf einem Haupt¬
wege direkt zum Kerne der pathogenen Organisation Vordringen
kann. Damit ist der Kampf gewonnen, aber noch nicht beendet. Man
muß die anderen Fäden nachholen, das Material erschöpfen^ aber
jetzt hilft der Kranke energisch mit, sein Widerstand ist meist
schon gebrochen.
Es ist in diesen späteren Stadien der Arbeit von Nutzen, wenn
man den Zusammenhang errät und ihn dem Kranken mitteilt,
ehe man ihn aufgedeckt hat. Hat man richtig erraten, so be¬
schleunigt man den Verlauf der Analyse, aber auch mit einer
unrichtigen Hypothese hilft man sich weiter, indem man den
Kranken nötigt, Partei zu nehmen, und ihm energische Ab¬
lehnungen entlockt, die ja ein sicheres Besserwissen verraten.
Man überzeugt sich dabei mit Erstaunen, daß man nicht im¬
stande ist, dem Kranken über die Dinge, die er angeblich
nicht weiß, etwas aufzudrängen oder die Ergebnisse der
Analyse durch Erregung seiner Erwartung zu beeinflussen.
Es ist mir kein einziges Mal gelungen, die Reproduktion der Er¬
innerungen oder den Zusammenhang der Ereignisse durch meine
Vorhersage zu verändern und zu fälschen, was sich ja endlich
durch einen Widerspruch im Gefüge hätte verraten müssen. Traf
etwas so ein, wie ich es vorhergesagt, so war stets durch vielfache
unverdächtige Reminiszenzen bezeugt, daß ich eben richtig geraten
hatte. Man braucht sich also nicht zu fürchten, vor dem Kranken
irgend eine Meinung über den nächstkommenden Zusammenhang
zu äußern; es schadet nichts.
Eine andere Beobachtung, die man jedesmal zu wiederholen
Gelegenheit hat, bezieht sich auf die selbständigen Reproduktionen
Tjur Psychotherapie der Hysterie
227
des Kranken. Man kann behaupten, daß keine einzige Reminiszenz
während einer solchen Analyse auftaucht, die nicht ihre Bedeutung
hätte. Ein Dareinmengen beziehungsloser Erinnerungsbilder, die
mit den wichtigen irgendwie assoziiert sind, kommt eigentlich
gar nicht vor. Man darf eine nicht regelwidrige Ausnahme für
solche Erinnerungen postulieren, die an sich unwichtig, doch als
Schaltstücke unentbehrlich sind, indem die Assoziation zwischen
zwei beziehungsvollen Erinnerungen nur über sie geht. — Die
Zeitdauer, während welcher eine Erinnerung im Engpässe vor
dem Bewußtsein des Patienten verweilt, steht, wie schon angeführt,
in direkter Beziehung zu deren Bedeutung. Ein Bild, das nicht
verlöschen will, verlangt noch seine Würdigung, ein Gedanke,
der sich nicht abtun läßt, will noch weiter verfolgt werden. Es
kehrt auch nie eine Reminiszenz zum zweiten Male wieder, wenn
sie erledigt worden ist^ ein Bild, das abgesprochen wurde, ist nicht
wieder zu sehen. Geschieht dies doch, so darf man mit Bestimmt¬
heit erwarten, daß das zweitemal ein neuer Gedankeninhalt sich
an das Bild, eine neue Folgerung an den Einfall knüpfen wird,
d. h., daß doch keine vollständige Erledigung stattgefunden hat.
Eine Wiederkehr in verschiedener Intensität, zuerst als Andeutung,
dann in voller Helligkeit kommt hingegen häufig vor, widerspricht
aber nicht der eben aufgestellten Behauptung. —
Wenn sich unter den Aufgaben der Analyse die Beseitigung
eines Symptoms befindet, welches der Intensitätssteigerung oder der
Wiederkehr fähig ist (Schmerzen, Reizsymptome wie Erbrechen,
Sensationen, Kontrakturen), so beobachtet man während der Arbeit
von seiten dieses Symptoms das interessante und nicht unerwünschte
Phänomen des „Mitsprechens^^ Das fragliche Symptom erscheint
wieder oder erscheint in verstärkter Intensität, sobald man in die
Region der pathogenen Organisation geraten ist, welche die Ätio¬
logie dieses Symptoms enthält, und es begleitet nun die Arbeit
mit charakteristischen und für den Arzt lehrreichen Schwankungen
weiter. Die Intensität desselben (sagen wir: einer Brechneigung)
15 ’
228
Studien über Hysterie
Steigt, je tiefer man in eine der hiefür pathogenen Erinnerungen
eindringt, erreicht die größte Höhe kurz vor dem Aussprechen
der letzteren und sinkt mit vollendeter Aussprache plötzlich ab
oder verschwindet auch völlig für eine Weile. Wenn der Kranke
aus Widerstand das Aussprechen lange verzögert, wird die
Spannung der Sensation, der Brechneigung unerträglich und kann
man das Aussprechen nicht erzwingen, so tritt wirklich Erbrechen
ein. Man gewinnt so einen plastischen Eindruck davon, daß das
„ Erbrechen an Stelle einer psychischen Aktion (hier des Aus¬
sprechens) steht, wie es die Konversionstheorie der Hysterie be¬
hauptet.
Diese Intensitätsschwankung von seiten des hysterischen Sym¬
ptoms wiederholt sich nun jedesmal, so oft man eine neue, hiefür
pathogene Erinnerung in Angriff nimmt^ das Symptom steht so¬
zusagen die ganze Zeit über auf der Tagesordnung. Ist man
genötigt, den Faden, an dem dies Symptom hängt, für eine Weile
fallen zu lassen, so tritt auch das Symptom in die Dunkelheit
zurück, um in einer späteren Periode der Analyse wieder aufzu¬
tauchen. Dieses Spiel währt so lange, bis durch das Aufarbeiten
des pathogenen Materials für dieses Symptom endgültige Erledi¬
gung geschaffen ist.
Streng genommen verhält sich hiebei das hysterische Symptom
gar nicht anders als das Erinnerungsbild oder der reproduzierte
Gedanke, den man unter dem Drucke der Hand heraufbeschwört.
Hier wie dort dieselbe obsedierende Hartnäckigkeit der Wiederkehr
in der Erinnerung des Kranken, die Erledigung erheischt. Der
Unterschied liegt nur in dem anscheinend spontanen Auftreten
der hysterischen Symptome, während man sich wohl erinnert, die
Szenen und Einfälle selbst provoziert zu haben. Es führt aber in
der Wirklichkeit eine ununterbrochene Reihe von den unver¬
änderten Erinnerungsresten affektvoller Erlebnisse und Denk¬
akte bis zu den hysterischen Symptomen, ihren Erinnerungs¬
symbolen.
Tjur Psychotherapie der Hysterie
229
Das Phänomen des Mitsprechens des hysterischen Symptoms
während der Analyse bringt einen praktischen Übelstand mit sich,
mit welchem man den Kranken sollte aussöhnen können. Es ist
ja ganz unmöglich, eine Analyse eines Symptoms in einem Zuge
vorzunehmen oder die Pausen in der Arbeit so zu verteilen, daß
sie gerade mit Ruhepunkten in der Erledigung Zusammentreffen.
Vielmehr fällt die Unterbrechung, die durch die Nebenumstände
der Behandlung, die vorgerückte Stunde u. dgl. gebieterisch vor¬
geschrieben wird, oft an die ungeschicktesten Stellen, gerade wo
man sich einer Entscheidung nähern könnte, gerade wo ein neues
Thema auftaucht. Es sind dieselben Übelstände, die jedem Zeitungs¬
leser die Lektüre des täglichen Fragments seines Zeitungsromans
verleiden, wenn unmittelbar nach der entscheidenden Rede der
Heldin, nach dem Knallen des Schusses u. dgl. zu lesen steht:
(Fortsetzung folgt). In unserem Falle bleibt das aufgerührte, aber
nicht abgetane Thema, das zunächst verstärkte und noch nicht
erklärte Symptom, im Seelenleben des Kranken bestehen und
belästigt ihn vielleicht ärger, als es sonst der Fall war. Damit
muß man sich eben abfinden können 5 es läßt sich nicht anders ein¬
richten. Es gibt überhaupt Kranke, die während einer solchen
Analyse das einmal berührte Thema nicht wieder loslassen können,
die von ihm auch in der Zwischenzeit zwischen zwei Behand¬
lungen obsediert sind, und da sie doch allein mit der Erledigung
nicht weiter kommen, zunächst mehr leiden als vor der Behand¬
lung. Auch solche Patienten lernen es schließlich, auf den Arzt
zu warten, alles Interesse, das sie an der Erledigung des patho¬
genen Materials haben, in die Stunden der Behandlung zu ver¬
legen, und sie beginnen dann, sich in den Zwischenzeiten freier
zu fühlen.
*
Auch das Allgemeinbefinden der Kranken während einer solchen
Analyse erscheint der Beachtung wert. Eine Weile noch bleibt es,
von der Behandlung unbeeinflußt, Ausdruck der früher wirksamen
250
Studien über Hysterie
Faktoren, dann aber kommt ein Moment, in dem der Kranke
j,gepackt^^, sein Interesse gefesselt wird, und von da gerät auch
sein Allgemeinzustand immer mehr in Abhängigkeit von dem
Stande der Arbeit. Jedesmal, wenn eine neue Aufklärung gewonnen,
ein wichtiger Abschnitt in der Gliederung der Analyse erreicht
ist, fühlt sich der Kranke auch erleichtert, genießt er wie ein
Vorgefühl der nahenden Befreiung; bei jedem Stocken der Arbeit,
bei jeder drohenden Verwirrung wächst die psychische Last, die
ihn bedrückt, steigert sich seine Unglücksempfindung, seine Leistungs¬
unfähigkeit. Beides allerdings nur für kurze Zeit; denn die Ana¬
lyse geht weiter, verschmäht es, sich des Moments von Wohl¬
befinden zu rühmen, und setzt achtlos über die Perioden der Ver¬
düsterung hinweg. Man freut sich im allgemeinen, wenn man die
spontanen Schwankungen im Befinden des Kranken durch solche
ersetzt hat, die man selbst provoziert und versteht, ebenso wie man
gerne an Stelle der spontanen Ablösung der Symptome jene Tages¬
ordnung treten sieht, die dem Stande der Analyse entspricht.
Gewöhnlich wird die Arbeit zunächst um so dunkler und
schwieriger, je tiefer man in das vorhin beschriebene, geschichtete
psychische Gebilde eindringt. Hat man sich aber einmal bis zum
Kerne durchgearbeitet, so wird es Licht, und das Allgemein¬
befinden des Kranken hat keine starke Verdüsterung mehr zu
befürchten. Den Lohn der Arbeit aber, das Aufhören der Krank¬
heitssymptome darf man erst erwarten, wenn man für jedes
einzelne Symptom die volle Analyse geleistet hat; ja, wo die
einzelnen Symptome durch mehrfache Knotungen aneinander ge¬
knüpft sind, wird man nicht einmal durch Partialerfolge während
der Arbeit ermutigt. Kraft der reichlich vorhandenen kausalen
Verbindungen wirkt jede noch unerledigte pathogene Vorstellung
als Motiv für sämtliche Schöpfungen der Neurose, und erst mit
dem letzten Worte der Analyse schwindet das ganze Krankheits¬
bild, ganz ähnlich, wie sich die einzelne reproduzierte Erinnerung
benahm. —
Zur Psychotherapie der Hysterie
231
Ist eine pathogene Erinnerung oder ein pathogener Zusammen¬
hang, der dem Ich-Bewußtsein früher entzogen war, durch die
Arbeit der Analyse aufgedeckt und in das Ich eingefügt, so be¬
obachtet man an der so bereicherten psychischen Persönlichkeit
verschiedene Arten sich über ihren Gewinn zu äußern. Ganz be¬
sonders häufig kommt es vor, daß die Kranken, nachdem man
sie mühsam zu einer gewissen Kenntnis genötigt hat, dann er¬
klären: Das habe ich ja immer gewußt, das hätte ich Ihnen vorher
sagen können. Die Einsichtsvolleren erkennen dies dann als eine
Selbsttäuschung und klagen sich des Undankes an. Sonst hängt
im allgemeinen die Stellungnahme des Ichs gegen die neue Er¬
werbung davon ab, aus welcher Schichte der Analyse letztere
stammt. Was den äußersten Schichten angehört, wird ohne
Schwierigkeit anerkannt, es war ja im Besitze des Ichs geblieben,
und nur sein Zusammenhang mit den tieferen Schichten des
pathogenen Materials war für das Ich eine Neuigkeit. Was aus
diesen tieferen Schichten zutage gefördert wird, findet auch noch
Erkennung und Anerkennung, aber doch häufig erst nach längerem
Zögern und Bedenken. Visuelle Erinnerungsbilder sind hier natür¬
lich schwieriger zu verleugnen als Erinnerungsspuren von bloßen
Gedankengängen. Gar nicht selten sagt der Kranke zuerst: Es ist
möglich, daß ich dies gedacht habe, aber ich kann mich nicht
erinnern, und erst nach längerer Vertrautheit mit dieser Annahme
tritt auch das Erkennen dazu^ er erinnert sich und bestätigt es
auch durch Nebenverknüpfungen, daß er diesen Gedanken wirk¬
lich einmal gehabt hat. Ich mache es aber während der Analyse
zum Gebote, die Wertschätzung einer auftauchenden Reminiszenz
unabhängig von der Anerkennung des Kranken zu halten. Ich
werde nicht müde zu wiederholen, daß wir daran gebunden sind,
alles anzunehmen, was wir mit unseren Mitteln zutage fördern.
Wäre etwas Unechtes oder Unrichtiges darunter, so würde der
Zusammenhang es später ausscheiden lehren. Nebenbei gesagt, ich
habe kaum je Anlaß gehabt, einer vorläufig zugelassenen Re-
Studien über Hysterie
25^
miniszenz nachträglich die Anerkennung zu entziehen. Was immer
auftauchte, hat sich trotz des täuschendsten Anscheines eines
zwingenden Widerspruches doch endlich als das Richtige er¬
wiesen.
Die aus der größten Tiefe stammenden Vorstellungen, die den
Kern der pathogenen Organisation bilden, werden von den Kranken
auch am schwierigsten als Erinnerungen anerkannt. Selbst wenn
alles vorüber ist, wenn die Kranken, durch den logischen Zwang
überwältigt und von der Heilwirkung überzeugt, die das Auf¬
tauchen gerade dieser Vorstellungen begleitet — wenn die Kranken,
sage ich, selbst angenommen haben, sie hätten so und so gedacht,
fügen sie oft hinzu: Aber erinnern, daß ich es gedacht habe,
kann ich mich nicht. Man verständigt sich dann leicht mit ihnen:
Es waren unbewußte Gedanken. Wie soll man aber selbst diesen
Sachverhalt in seine psychologischen Anschauungen eintragen ?
Soll man sich über dies verweigerte Erkennen von seiten der
Kranken, das nach getaner Arbeit motivlos ist, hinwegsetzen 5 soll
man annehmen, daß es sich wirklich um Gedanken handelt, die
nicht zustande gekommen sind, für welche bloß die Existenz¬
möglichkeit vorlag, so daß die Therapie in der Vollziehung eines
damals unterbliebenen psychischen Aktes bestünde? Es ist offen¬
bar unmöglich, hierüber, d. h. also über den Zustand des patho¬
genen Materials vor der Analyse etwas auszusagen, ehe man
seine psychologischen Grundansichten, zumal über das Wesen
des Bewußtseins, gründlich geklärt hat. Es bleibt wohl eine des
Nachdenkens würdige Tatsache, daß man bei solchen Analysen
einen Gedankengang aus dem Bewußten ins Unbewußte (d. i.
absolut nicht als Erinnerung Erkannte) verfolgen, ihn von dort
aus wieder eine Strecke weit durchs Bewußte ziehen und wieder
im Unbewußten enden sehen kann, ohne daß dieser Wechsel
der „psychischen Beleuchtung^^ an ihm selbst, an seiner Folge¬
richtigkeit dem Zusammenhang seiner einzelnen Teile, etwas
ändern würde. Habe ich dann einmal diesen Gedankengang ganz
Tjur Psychotherapie der Hysterie
233
vor mir, so könnte ich nicht erraten, welches Stück vom Kranken
als Erinnerung erkannt wurde, welches nicht. Ich sehe nur
gewissermaßen die Spitzen des Gedankenganges ins Unbewußte
eintauchen, umgekehrt wie man es von unseren normalen psychi¬
schen Vorgängen behauptet hat.
*
Ich habe endlich noch ein Thema zu behandeln, welches bei
der Durchführung einer solchen kathartischen Analyse eine un¬
erwünscht große Rolle spielt. Ich habe bereits als möglich zu¬
gestanden, daß die Druckprozedur versagt, trotz alles Versicherns
und Drängens keine Reminiszenz heraufbefördert. Dann, sagte
ich, seien zwei Fälle möglich, entweder, es ist an der Stelle, wo
man eben nachforscht, wirklich nichts zu holen 5 dies erkennt
man an der völlig ruhigen Miene des Kranken 5 oder man ist
auf einen erst später überwindbaren Widerstand gestoßen, man
steht vor einer neuen Schichte, in die man noch nicht eindringen
kann, und das liest man dem Kranken wiederum von seiner
gespannten und von geistiger Anstrengung zeugenden Miene ab.
Es ist aber noch ein dritter Fall möglich, der gleichfalls ein
Hindernis bedeutet, aber kein inhaltliches, sondern ein äußer¬
liches. Dieser Fall tritt ein, wenn das Verhältnis des Kranken
zum Arzte gestört ist, und bedeutet das ärgste Hindernis, auf das
man stoßen kann. Man kann aber in jeder ernsteren Analyse
darauf rechnen.
Ich habe bereits angedeutet, welche wichtige Rolle der Person
des Arztes bei der Schöpfung von Motiven zufällt, welche die
psychische Kraft des Widerstandes besiegen sollen. In nicht wenigen
Fällen, besonders bei Frauen und wo es sich um Klärung erotischer
Gedankengänge handelt, wird die Mitarbeiterschaft der Patienten
zu einem persönlichen Opfer, das durch irgendwelches Surrogat
von Liebe vergolten werden muß. Die Mühewaltung und ge-
234
Studien über Hysterie
duldige Freundlichkeit des Arztes haben als solches Surrogat zu
genügen.
Wird nun dieses Verhältnis der Kranken zum Arzte gestört,
so versagt auch die Bereitschaft der Kranken^ wenn der Arzt
sich nach der nächsten pathogenen Idee erkundigen will, tritt
der Kranken das Bewußtsein der Beschwerden dazwischen, die
sich bei ihr gegen den Arzt angehäuft haben. Soviel ich erfahren
habe, tritt dieses Hindernis in drei Hauptfällen ein:
1) Bei persönlicher Entfremdung, wenn die Kranke sich zu¬
rückgesetzt, geringgeschätzt, beleidigt glaubt oder Ungünstiges über
den Arzt und die Behandlungsmethode gehört hat. Dies ist der
am wenigsten ernste Fall^ das Hindernis ist durch Aussprechen
und Aufklären leicht zu überwinden, wenngleich die Empfind¬
lichkeit und der Argwohn Hysterischer sich gelegentlich in un¬
geahnten Dimensionen äußern können.
2 ) Wenn die Kranke von der Furcht ergriffen wird, sie ge¬
wöhne sich zu sehr an die Person des Arztes, verliere ihre
Selbständigkeit ihm gegenüber, könne gar in sexuelle Abhängigkeit
von ihm geraten. Dieser Fall ist bedeutsamer, weil minder indi¬
viduell bedingt. Der Anlaß zu diesem Hindernisse ist in der
Natur der therapeutischen Bekümmerung enthalten. Die Kranke
hat nun ein neues Motiv zum Widerstande, welches sich nicht
nur bei einer gewissen Reminiszenz, sondern bei jedem Versuche
der Behandlung äußert. Ganz gewöhnlich klagt die Kranke über
Kopfschmerzen, wenn man die Druckprozedur vornimmt. Ihr
neues Motiv zum Widerstande bleibt ihr nämlich meistens un¬
bewußt, und sie äußert es durch ein neu erzeugtes hysterisches
Symptom. Der Kopfschmerz bedeutet die Abneigung, sich beein¬
flussen zu lassen.
ß) Wenn die Kranke sich davor erschreckt, daß sie aus dem
Inhalte der Analyse auftauchende peinliche Vorstellungen auf die
Person des Arztes überträgt. Dies ist häufig, ja in manchen Ana-
ysen ein regelmäßiges Vorkommnis. Die Übertragung auf den
Zwr Psychotherapie der Hysterie
235
Arzt geschieht durch falsche Verknüpfung (vgl. S. 47), Ich
muß hier wohl ein Beispiel anführen: Ursprung eines gewissen
hysterischen Symptoms war bei einer meiner Patientinnen der
vor vielen Jahren gehegte und sofort ins Unbewußte verwiesene
Wunsch, der Mann, mit dem sie damals ein Gespräch geführt,
möchte doch herzhaft zugreifen und ihr einen Kuß aufdrängen.
Nun taucht einmal nach Beendigung einer Sitzung ein solcher
Wunsch in der Kranken in bezug auf meine Person auf5 sie ist
entsetzt darüber, verbringt eine schlaflose Nacht und ist das nächste
Mal, obwohl sie die Behandlung nicht verweigert, doch ganz un¬
brauchbar zur Arbeit. Nachdem ich das Hindernis erfahren und
behoben habe, geht die Arbeit wieder weiter und siehe da, der
Wunsch, der die Kranke so erschreckt, erscheint als die nächste,
als die jetzt vom logischen Zusammenhänge geforderte der patho¬
genen Erinnerungen. Es war also so zugegangen: Es war zuerst
der Inhalt des Wunsches im Bewußtsein der Kranken aufge¬
treten, ohne die Erinnerungen an die Nebenumstände, die diesen
Wunsch in die Vergangenheit verlegen konnten^ der nun vor¬
handene Wunsch wurde durch den im Bewußtsein herrschenden
Assoziationszwang mit meiner Person verknüpft, welche ja die
Kranke beschäftigen darf, und bei dieser Mesalliance — die ich
falsche Verknüpfung heiße — wacht derselbe Affekt auf, der
seinerzeit die Kranke zur Verweisung dieses unerlaubten Wunsches
gedrängt hat. Nun ich das einmal erfahren habe, kann ich von
jeder ähnlichen Inanspruchnahme meiner Person voraussetzen, es
sei wieder eine Übertragung und falsche Verknüpfung vorgefallen.
Die Kranke fallt merkwürdigerweise der Täuschung jedes neue
Mal zum Opfer.
Man kann keine Analyse zu Ende führen, wenn man dem
Widerstande, der sich aus diesen drei Vorfällen ergibt, nicht zu
begegnen weiß. Man findet aber auch hiezu den Weg, wenn
man sich vorsetzt, dieses nach altem Muster neu produzierte
Symptom so zu behandeln wie die alten. Man hat zunächst
236
Studien über Hysterie
die Aufgabe, das „Hindernisder Kranken bewußt zu machen.
Bei einer meiner Kranken zum Beispiel, bei der plötzlich die
Druckprozedur versagte und ich Grund hatte, eine unbewußte
Idee wie die unter 2) erwähnte anzunehmen, traf ich es das
erstemal durch Überrumpelung. Ich sagte ihr, es müsse sich ein
Hindernis gegen die Fortsetzung der Behandlung ergeben haben,
die Druckprozedur habe aber wenigstens die Macht, ihr dieses
Hindernis zu zeigen, und drückte auf ihren Kopf. Sie sagte
erstaunt: Ich sehe Sie auf dem Sessel hier sitzend, das ist doch
ein Unsinn5 was soll das bedeuten? — Ich konnte sie nun auf¬
klären.
Bei einer andern pflegte sich das „ Hindernisnicht direkt auf
Druck zu zeigen, aber ich konnte es jedesmal nach weisen, wenn
ich die Patientin auf den Moment zurückführte, in dem es ent¬
standen war. Diesen Moment wiederzubringen, verweigerte uns die
Druckprozedur nie. Mit dem Auffinden und Nachweisen des Hin¬
dernisses war die erste Schwierigkeit hinweggeräumt, eine größere
blieb noch bestehen. Sie bestand darin, die Kranke zum Mit¬
teilen zu bewegen, wo anscheinend persönliche Beziehungen in
Betracht kamen, wo die dritte Person mit der des Arztes zu¬
sammenfiel. Ich war anfangs über diese Vermehrung meiner
psychischen Arbeit recht ungehalten, bis ich das Gesetzmäßige
des ganzen Vorganges einsehen lernte, und dann merkte ich auch,
daß durch solche Übertragung keine erhebliche Mehrleistung ge¬
schaffen sei. Die Arbeit für die Patientin blieb dieselbe: etwa den
peinlichen Affekt zu überwinden, daß sie einen derartigen Wunsch
einen Moment lang hegen konnte, und es schien für den Er¬
folg gleichgültig, ob sie diese psychische Abstoßung im historischen
Falle oder im rezenten mit mir zum Thema der Arbeit nahm.
Die Kranken lernten auch allmählich einsehen, daß es sich bei
solchen Übertragungen auf die Person des Arztes um einen Zwang
und um eine Täuschung handle, die mit Beendigung der Ana¬
lyse zerfließe. Ich meine aber, wenn ich versäumt hätte, ihnen
Xur Psychotherapie der Hysterie
237
die Natur des „Hindernissesklar zu machen, hätte ich ihnen
einfach ein neues hysterisches Symptom, wenn auch ein milderes,
für ein anderes, spontan entwickeltes, substituiert.
*
Nun, meine ich, ist es genug der Andeutungen über die Aus¬
führung solcher Analysen und die dabei gemachten Erfahrungen.
Sie lassen vielleicht manches komplizierter erscheinen, als es ist 5
vieles ergibt sich ja von selbst, wenn man sich in solch einer
Arbeit befindet. Ich habe die Schwierigkeiten der Arbeit nicht
aufgezählt, um den Eindruck zu erwecken, es lohne sich bei der¬
artigen Anforderungen an Arzt und Kranke nur in den seltensten
Fällen, eine kathartische Analyse zu unternehmen. Ich lasse mein
ärztliches Handeln von der gegenteiligen Voraussetzung beein¬
flussen. — Die bestimmtesten Indikationen für die Anwendung
der hier geschilderten therapeutischen Methode kann ich freilich
nicht aufstellen, ohne in die Würdigung des bedeutsameren und
umfassenderen Themas der Therapie der Neurosen überhaupt ein¬
zugehen. Ich habe bei mir häufig die karthartische Psychotherapie
mit chirurgischen Eingriffen verglichen, meine Kuren als psycho¬
therapeutische Operationen bezeichnet, die Analogien mit
Eröffnung einer eitergefüllten Höhle, der Auskratzung einer kariös
erkrankten Stelle u. dgl. verfolgt. Eine solche Analogie findet ihre
Berechtigung nicht so sehr in der Entfernung des Krankhaften
als in der Herstellung besserer Heilungsbedingungen für den Ab¬
lauf des Prozesses.
Ich habe wiederholt von meinen Kranken, wenn ich ihnen
Hilfe oder Erleichterung durch eine kathartische Kur versprach,
den Ein wand hören müssen: Sie sagen ja selbst, daß mein Leiden
wahrscheinlich mit meinen Verhältnissen und Schicksalen zu¬
sammenhängt: daran können Sie ja nichts ändern; auf welche
Weise wollen Sie mir denn helfen? Darauf habe ich antworten
258
Studien über Hysterie: Zur Psychotherapie der Hysterie
können: — Ich zweifle ja nicht, daß es dem Schicksale leichter
fallen müßte als mir, Ihr Leiden zu beheben: aber Sie werden
sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns ge¬
lingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln.
Gegen das letztere werden Sie sich mit einem wiedergenesenen
Seelenleben besser zur Wehre setzen können.
FRÜHE ARBEITEN
ZUR NEUROSENLEHRE
(1892—1899)
Die unter dem Titel „Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre^ hier ver^
einigten Arbeiten sind in den Jahren l8^2—in verschiedenen Xeit^
Schriften erschienen (siehe die nähere Angabe bei jeder einzelnen Arbeit).
Die drei ursprünglich französisch geschriebenen Arbeiten sind auch hier in
dieser Sprache abgedruckt.
Die in dieser Gruppe hier enthaltenen Arbeiten — mit Ausnahme der an
zweiter Stelle stehenden („Ein Fall von hypnotischer Heilung ..." usw.)
und der an letzter Stelle stehenden („ Über Deckerinnerungen ‘) — erschienen
auch in der „Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre aus den Jahren
189)—1906 von Prof. Dr. Sigm. Freud^ im Verlage Franz Deuticke^ Leipzig
und FVien^ 1906 (zweite Auflage 1911^ dritte 1920, vierte 1922), mit dessen
Genehmigung sie in diese Gesamtausgabe auf genommen worden sind.
Die autorisierte englische Übersetzung dieser Arbeiten — wieder mit
Ausnahme der beiden oben genannten — erschien in London 1924 in Vol. I
der „Collected Papers by Sigm. Freud^ (International Psycho-Analytical
Library Nr. J; von Joan Riviere revidierte Übersetzungen von J. Bernays,
John Rickman, M. Meyer und Cecil M. Raines.)
VORWORT
ZUR ERSTEN AUFLAGE DER „SAMMLUNG KLEINER SCHRIFTEN ZUR NEUROSEN¬
LEHRE AUS DEN JAHREN 1895 — 1906“
Mehrfach geäußerten Wünschen folgend, habe ich mich entschlossen, meine
kleineren Arbeiten über Neurosen seit dem Jaüre 1893 den Fachgenossen
gesammelt vorzulegen. Es sind vierzehn kurze Aufsätze, meist vom Charakter
vorläufiger Mitteilungen, die in wissenschaftlichen Archiven oder ärztlichen
Zeitschriften veröffentlicht wurden, drei unter ihnen in französischer
Sprache. Die beiden letzten, sehr knapp gehaltenen Darlegungen meines
gegenwärtigen Standpunktes in der Ätiologie wie in der Therapie der
Neurosen sind den bekannten Werken von L. Löwenfeld, „Die psy¬
chischen Zwangserscheinungen1904, und „Sexualleben und Nerven¬
leiden“, 4. Auflage, 1906, entnommen, für welche ich sie über Aufforde¬
rung des befreundeten Autors abgefaßt hatte.^
Diese Sammlung bildet die Vorbereitung und Ergänzung meiner größeren
Publikationen, welche die gleichen Themata behandeln (Studien über
Hysterie, mit Dr. J. Breuer, 1895. — Traumdeutung, 1900. — Zur Psycho¬
pathologie des Alltagslebens, 1901 und 1904. — Der Witz und seine Be¬
ziehung zum Unbewußten, 1905. — Drei Abhandlungen zur Sexual¬
theorie, 1905. — Bruchstück einer Hysterieanalyse, 1905). Daß ich den
1) [Diese beiden letzten Arbeiten der „Sammlung 1893—1906^* (»Die Freudsche
psychoanalytische Methode“, 1904, imd „Meine Ansichten über die Rolle der Sexu¬
alität in den Neurosen“, 1905) sowie die vorhergehende („Über Psychotherapie“, 1905),
sind nicht in diesem Bande der „Gesammelten Schriften“ unter den „Frühen A.rbeiten“
eingereiht, sondern eröffnen die Gruppe der Schriften „Zur Technik“ in Band VI
der „Gesammelten Schriften“.]
Freud, 1.
16
242
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Nachruf an J. M. Charcot an die Spitze der hier vereinigten kleinen
Aufsätze gestellt habe, soll nicht nur einer Pflicht der Dankbarkeit ge¬
nügen, sondern auch den Punkt hervorheben, an welchem die eigene
Arbeit von der des Meisters abzweigt.
Wer mit der Entwicklung menschlicher Erkenntnis vertraut ist, wird
ohne Verwunderung hören, daß ich einen Teil der hier vertretenen
Meinungen seither überwunden, einen anderen zu modifizieren verstanden
habe. Doch habe ich den größeren Teil unverändert festhalten können
und brauche eigentlich nichts als völlig irrig und ganz wertlos zurückzu¬
nehmen.
CHARCOT
Zuerst erschienen in der „Wiener Medizinischen
Wochenschrift^^ Nr. 57, ^^ 93 -
Mit J. M. Charcotj den nach einem glücklichen und ruhm¬
vollen Leben am i6. August d. J. ein rascher Tod ohne Leiden
und Krankheit ereilte, hat die junge Wissenschaft der Neurologie
ihren größten Förderer, haben die Neurologen aller Länder ihren
Lehrmeister, hat Frankreich einen seiner ersten Männer allzufrüh
verloren. Er war erst 68 Jahre alt, seine körperliche Kraft wie
seine geistige Frische schienen ihn im Einklänge mit seinen un¬
verhohlenen Wünschen für jene Langlebigkeit zu bestimmen, die
nicht wenigen Geistesarbeitern dieses Jahrhunderts zuteil geworden
ist. Die stattlichen neun Bände seiner Oeuvres complfetes, in denen
seine Schüler seine Beiträge zur Medizin und Neuropathologie
gesammelt hatten, dazu die Legons du Mar di, die Jahresberichte
seiner Klinik in der Salpetribre u. a. m., alle diese Publikationen
die der Wissenschaft und seinen Schülern teuer bleiben werden,
können uns den Mann nicht ersetzen, der noch viel mehr zu
geben und zu lehren hatte, dessen Person oder dessen Werken
noch niemand genaht war, ohne von ihnen zu lernen.
Er hatte eine rechtschaffene menschliche Freude an seinem
großen Erfolge und pflegte sich gern über seine Anfänge und
den Weg, den er gegangen, zu äußern. Seine wissenschaftliche
Neugierde war frühzeitig durch das reiche und damals völlig un-
244
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
verstandene Material neuropathologischer Tatsachen erregt worden,
wie er erzählte, schon als er junger Interne (Sekundararzt) war.
Wenn er damals mit seinem Primararzt die Visite auf einer der
Abteilungen der Salpetriere (Versorgungshaus für Frauen) machte,
durch all die Wildnis von Lähmungen, Zuckungen und Krämpfen,
für die es vor vierzig Jahren keine Namen und kein Verständnis
gab, pflegte er zu sagen: ^J^audrait y retourner et y rester^^ und
er hielt Wort. Als er medecin des hopitaux (Primararzt) ge¬
worden war, trachtete er alsbald in die Salpetrifere zu kommen,
auf eine jener Abteilungen, die die Nervenkranken beherbergten,
und einmal dort angelangt, verblieb er auch dort, anstatt, wie
es den französischen Primarärzten freisteht, im regelmäßigen
Turnus Spital und Abteilung und damit auch die Spezialität zu
wechseln.
So war sein erster Eindruck und der Vorsatz, zu dem er ge¬
führt hatte, bestimmend für seine gesamte weitere Entwicklung
geworden. Die Verfügung über ein großes Material an chronisch
Nervenkranken gestattete ihm nun, seine eigentümliche Begabung
zu verwerten. Er war kein Grübler, kein Denker, sondern eine
künstlerisch begabte Natur, wie er es selbst nannte, ein visuell
ein Seher. Von seiner Arbeitsweise erzählte er uns selbst folgendes:
Er pflegte sich die Dinge, die er nicht kannte, immer von neuem
anzusehen. Tag für Tag den Eindruck zu verstärken, bis ihm
dann plötzlich das Verständnis derselben aufging. Vor seinem
geistigen Auge ordnete sich dann das Chaos, welches durch die
Wiederkehr immer derselben Symptome vorgetäuscht wurden es
ergaben sich die neuen Krankheitsbilder, gekennzeichnet durch
die konstante Verknüpfung gewisser Symptomgruppen 5 die voll¬
ständigen und extremen Fälle, die „Typen“, ließen sich mit
Hilfe einer gewissen Art von Schematisierung hervorheben, und
von den Typen aus blickte das Auge auf die lange Reihe der
abgeschwächten Fälle, der formes frustes^ die von dem oder
jenem charakteristischen Merkmal des Typus her ins Unbestimmte
Charcot
245
ausliefen. Er nannte diese Art der Geistesarbeit, in der er keinen
Gleichen hatte, „Nosographie treiben^^ und war stolz auf sie.
Man konnte ihn sagen hören, die größte Befriedigung, die ein
Mensch erleben könne, sei, etwas Neues zu sehen, d. h. es ^als
neu zu erkennen, und in immer wiederholten Bemerkungen kam
er auf die Schwierigkeit und Verdienstlichkeit dieses „ Sehens
zurück. Woher es denn komme, daß die Menschen in der Medizin
immer nur sehen, was sie zu sehen bereits gelernt haben, wie
wunderbar es sei, daß man plötzlich neue Dinge — neue
Krankheitszustände — sehen könne, die doch wahrscheinlich so
alt seien wie das Menschengeschlecht, und wie er sich selbst
sagen müsse, er sehe jetzt manches, was er durch 50 Jahre auf
seinen Krankenzimmern übersehen habe. Welchen Reichtum an
Formen die Neuropathologie durch ihn gewann, welche Ver¬
schärfung und Sicherheit der Diagnose durch seine Beobachtungen
ermöglicht wurde, braucht man dem Arzte nur anzudeuten. Der
Schüler aber, der mit ihm einen stundenlangen Gang durch die
Krankenzimmer der Salpetribre, dieses Museums von klinischen
Fakten, gemacht hatte, deren Namen und Besonderheit größten¬
teils von ihm selbst herrührten, wurde an Cu vier erinnert,
dessen Statue vor dem Jardin des plantes den großen Kenner
und Beschreiber der Tierwelt, umgeben von der Fülle tierischer
Gestalten, zeigt, oder er mußte an den Mythus von Adam denken,
der jenen von Charcot gepriesenen intellektuellen Genuß
im höchsten Ausmaß erlebt haben mochte, als ihm Gott die
Lebewesen des Paradieses zur Sonderung und Benennung vor¬
führte.
Charcot wurde auch niemals müde, die Rechte der rein
klinischen Arbeit, die im Sehen und Ordnen besteht, gegen die
Übergriffe der theoretischen Medizin zu verteidigen. Wir waren
einmal eine kleine Schar von Fremden beisammen, die, in der
deutschen Schulphysiologie auferzogen, ihm durch die Beanstän-
dung seiner klinischen Neuheiten lästig fielen: „Das kann doch
246
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
nicht sein/^ wendete ihm einmal einer von uns ein, „das wider¬
spricht ja der Theorie von Young-Helmholtz“. Er erwiderte
nicht: „Um so ärger für die Theorie, die Tatsachen der Klinik
haben den Vorrang^^ u. dgl., aber er sagte uns doch, was uns
einen großen Eindruck machte: „Za theorie^ dest bon^ mais ga
n^empeche pas d'exister.^^
Durch eine ganze Reihe von Jahren hatte C har cot die Pro¬
fessur für pathologische Anatomie in Paris inne, und seine
neuropathologischen Arbeiten und Vorlesungen, die ihn rasch
auch im Auslande berühmt machten, betrieb er ohne Auftrag
als Nebenbeschäftigung^ für die Neuropathologie war es aber ein
Glück, daß derselbe Mann die Leistung zweier Instanzen auf
sich nehmen konnte, einerseits durch klinische Beobachtung die
Krankheitsbilder schuf und anderseits beim Typus wie bei der
forme fruste die gleiche anatomische Veränderung als Grundlage
des Leidens nachwies. Es ist allgemein bekannt, welche Erfolge
diese anatomisch-klinische Methode Charcots auf dem Gebiete
der organischen Nervenkrankheiten, der Tabes, multiplen Sklerose,
der amyotrophischen Lateralsklerose usw. erzielte. Oft bedurfte
es jahrelangen geduldigen Harrens, ehe bei diesen chronischen,
nicht direkt zum Tode führenden Affektionen der Nachweis der
organischen Veränderung gelang, und nur ein Siechenhaus, wie
die Salpetribre, konnte gestatten, die Kranken durch so lange
Zeiträume zu verfolgen und zu erhalten. Die erste Feststellung
dieser Art machte C har cot übrigens, ehe er über eine Abteilung
verfügen konnte. Der Zufall führte ihm während seiner Studien¬
zeit eine Bedienerin zu, die an einem eigentümlichen Zittern
litt und wegen ihrer Ungeschicklichkeit keine Stelle bekommen
konnte. Charcot erkannte ihren Zustand als die von Duchenne
bereits beschriebene paralysie choreiforme^ von der aber nicht
bekannt war, worauf sie beruhe. Er behielt die interessante
Bedienerin, obwohl sie im Laufe der Jahre ein kleines Ver¬
mögen an Schüsseln und Tellern kostete, und als sie endlich
Charcot
247
starbj konnte er an ihr nachweisen, daß die paralysie chorei¬
forme der klinische Ausdruck der multiplen zerebrospinalen Skle¬
rose sei.
Die pathologische Anatomie hat für die Neuropathologie
zweierlei zu leisten: neben dem Nachweis der krankhaften Ver¬
änderung die Feststellung von deren Lokalisation, und wir alle
wissen, daß in den letzten beiden Dezennien der zweite Teil
der Aufgabe das größere Interesse gefunden und die größere
Förderung erfahren hat. Charcot hat auch an diesem Werke in
hervorragendster Weise mitgearbeitet, wenngleich die bahn¬
brechenden Funde nicht von ihm herrühren. Er folgte zunächst
den Spuren unseres Landsmannes Türck, der, wie es heißt,
ziemlich einsam in unserer Mitte gelebt und geforscht hat, und
als dann die beiden großen Neuerungen kamen, die eine neue
Epoche für unsere Kenntnis der „Lokalisation der Nervenkrank¬
heiten^^ einleiteten, die Reizungsversuche von Hitzig-Fritsch
und die Markentwicklungsbefunde von Flechsig, hat er in seinen
Vorlesungen über die Lokalisation das Meiste und das Beste dazu
getan, die neuen Lehren mit der Klinik zu vereinigen und für
sie fruchtbar zu machen. Was speziell die Beziehung der Körper¬
muskulatur zur motorischen Zone des menschlichen Großhirns
betrifft, so erinnere ich daran, wie lange die genauere Art und
Topik dieser Beziehung in Frage stand (gemeinsame Vertretung
beider Extremitäten an denselben Stellen — Vertretung der
oberen Extremität in der vorderen, der unteren in der hinteren
Zentralwindung, also vertikale Gliederung), bis endlich fortgesetzte
klinische Beobachtungen und Reiz- wie Exstirpationsversuche am
lebenden Menschen bei Gelegenheit chirurgischer Eingriffe zu¬
gunsten der Ansicht von Charcot und Pitres entschieden, daß
das mittlere Drittel der Zentralwindungen vorwiegend der Arm¬
vertretung, das obere Drittel und der mediale Anteil der Bein¬
vertretung diene, daß also eine horizontale Gliederung in der
motorischen Region durchgeführt sei.
2^8
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Es würde nicht gelingen, die Bedeutung Charcots für die
Neuropathologie durch die Aufzählung einzelner Leistungen zu
erweisen, denn es hat in den letzten zwei Dezennien überhaupt
nicht viele Themata von einigem Belang gegeben, an deren Auf¬
stellung und Diskussion die Schule der Salpetriöre nicht einen
hervorragenden Anteil genommen hätte. „Die Schule der Sal-
petrifere“, das war natürlich C har cot selbst, der mit dem Reich-
tume seiner Erfahrung, der durchsichtigen Kdarheit seiner Diktion
und der Plastik seiner Schilderungen unschwer in jeder Schüler¬
arbeit zu erkennen war. Aus dem Kreise von jungen Männern,
die er so an sich heranzog und zu Teilnehmern seiner For¬
schungen machte, erhoben sich dann einzelne zum Bewußtsein
ihrer Individualität, gewannen für sich selbst einen glänzenden
Namen, und hie und da kam es auch vor, daß einer mit einer
Behauptung hervortrat, die dem Meister mehr geistreich als richtig
erschien und die er in Gesprächen und Vorlesungen sarkastisch
genug bekämpfte, ohne daß das Verhältnis zu dem geliebten
Schüler darunter litt. Tatsächlich hinterläßt C h a r c o t eine Schar
von Schülern, deren geistige Qualität und bisherige Leistungen
eine Bürgschaft bieten, daß die Pflege der Neuropathologie in
Paris nicht so bald von der Höhe heruntergleiten wird, zu der
Charcot sie geführt hat.
Wir haben in Wien wiederholt die Erfahrung machen können,
daß die geistige Bedeutung eines akademischen Lehrers nicht ohne-
weiters mit jener direkten persönlichen Beeinflussung der Jugend
vereinigt sein muß, die sich in der Schöpfung einer zahlreichen
und bedeutsamen Schule äußert. Wenn Charcot in diesem
Punkte so viel glücklicher war, so mußte man dies den per¬
sönlichen Eigenschaften des Mannes zuschreiben, dem Zauber,
der von seiner Erscheinung und Stimme ausging, der liebens¬
würdigen Offenheit, die sein Benehmen auszeichnete, sobald
einmal die gegenseitigen Beziehungen das Stadium der ersten
Fremdheit überwunden hatten, der Bereitwilligkeit, mit der er
Charcot
249
seinen Schülern alles zur Verfügung stellte, und der Treue, die
er ihnen durch das Leben hielt. Die Stunden, die er auf seinen
Krankenzimmern verbrachte, waren Stunden des Beisammen¬
seins imd des Gedankenaustausches mit seinem gesamten ärzt¬
lichen Stab5 er schloß sich da niemals ein5 der jüngste Externe
hatte Gelegenheit, ihn bei der Arbeit zu sehen und durfte ihn
in dieser Arbeit stören, und dieselbe Freiheit genossen die
Fremden, die in späteren Jahren niemals bei seiner Visite fehlten.
Endlich, wenn am Abend Madame Charcot ihr gastliches Haus
einer auserlesenen Gesellschaft öffnete, unterstützt von einer hoch-
begabten, in der Ähnlichkeit des Vaters aufblühenden Tochter,
so standen die nie fehlenden Schüler und ärztlichen Gehilfen ihres
Mannes als ein Teil der Familie den Gästen gegenüber.
Das Jahr 1882 oder 85 brachte die endgültige Gestaltung in
Charcots Lebens- und Arbeitsbedingungen. Man war zur Ein¬
sicht gekommen, daß das Wirken dieses Mannes einen Teil des
Besitzstandes der nationalen Glorie bilde, der nach dem unglück¬
lichen Kriege von 1870/71 um so eifersüchtiger behütet wurde.
Die Regierung, an deren Spitze Charcots alter Freund Gam¬
bett a stand, schuf für ihn einen Lehrstuhl für Neuropathologie
an der Fakultät, für welchen er der pathologischen Anatomie ent¬
sagen konnte, und eine Klinik samt wissenschaftlichen Neben¬
instituten in der Salpetriäre. „Lß Service de M. Charcot‘‘ um¬
faßte jetzt nebst den früheren mit chronisch Kranken belegten
Räumen mehrere klinische Zimmer, in welche auch Männer
Aufnahme fanden, eine riesige Ambulanz, die Consultation externe,
ein histologisches Laboratorium, ein Museum, eine elektrothera-
peutische, eine Augen- und Ohrenabteilung und ein eigenes photo¬
graphisches Atelier, als ebensoviel Anlässe, um ehemalige Assi¬
stenten und Schüler in festen Stellungen dauernd an die KJinik
zu binden. Die zwei Stock hohen, verwittert aussehenden Ge¬
bäude mit den Höfen, die sie umschlossen, erinnerten den
Fremden auffällig an unser Allgemeines Krankenhaus, aber die
250
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Ähnlichkeit ging wohl nicht weit genug. „Es ist vielleicht nicht
schön hier/^ sagte C har cot, wenn er dem Besucher seinen
Besitz zeigte, „aber man findet Platz für alles, was man machen
will.^^^
Charcot stand auf der Höhe des Lebens, als ihm diese
Fülle von Lehr- und Forschungsmitteln zur Verfügung gestellt
wurde. Er war ein unermüdlicher Arbeiter, ich glaube, immer
noch der fleißigste der ganzen Schule. Eine Privatordination, zu
der sich die Kranken „aus Samarkand und von den Antillen“
drängten, vermochte es nicht, ihn seiner Lehrtätigkeit oder seinen
Forschungen zu entfremden. Sicherlich wandte sich dieser Zulauf
von Menschen nicht allein an den berühmten Forscher, sondern
ebensosehr an den großen Arzt und Menschenfreund, der immer
einen Bescheid zu finden wußte und dort erriet, wo der gegen¬
wärtige Zustand der Wissenschaft ihm nicht gestattete zu wissen.
Man hat ihm vielfach seine Therapie zum Vorwurf gemacht, die
durch ihren Reichtum an Verschreibungen ein rationalistisches
Gewissen beleidigen mußte. Allein er setzte einfach die örtlich
und zeitlich gebräuchlichen Methoden fort, ohne sich über deren
Wirksamkeit viel zu täuschen. In der therapeutischen Erwartung
war er übrigens nicht pessimistisch und hat früher und später
die Hand dazu geboten, neue Behandlungsmethoden an seiner
Klinik zu versuchen, deren kurzlebiger Erfolg von anderer Seite
her seine Aufklärung fand. Als Lehrer war Charcot geradezu
fesselnd, jeder seiner Vorträge ein kleines Kunstwerk an Aufbau
und Gliederung, formvollendet und in einer Weise eindringlich,
daß man den ganzen Tag über das gehörte Wort nicht aus seinem
Ohr und das demonstrierte Objekt nicht aus dem Sinne bringen
konnte. Er demonstrierte selten einen einzigen Kranken, meist
eine Reihe oder Gegenstücke,’ die er miteinander verglich. Der
Saal, in welchem er seine Vorlesungen hielt, war mit einem
Bilde geschmückt, welches den „Bürger“ Pinel darstellt, wie er
den armen Irrsinnigen der Salpetriäre die Fesseln abnehmen läßt^
Charcot
251
die Salpetriere, die während der Revolution so viel Schrecken ge¬
sehen, war doch auch die Stätte dieser humansten aller Umwäl¬
zungen gewesen. Meister Charcot- selbst machte bei einer solchen
Vorlesung einen eigentümlichen Eindruck^ er, der sonst vor Leb¬
haftigkeit und Heiterkeit übersprudelte, auf dessen Lippen der
Witz nicht erstarb, sah dann unter seinem Samtkäppchen ernst
und feierlich, ja eigentlich gealtert aus, seine Stimme klang uns
wie gedämpft, und vdr konnten etwa verstehen, wieso übelwollende
Fremde dazu kamen, der ganzen Vorlesung den Vorwurf des
Theatralischen zu machen. Die so sprachen, waren wohl die
Formlosigkeit des deutschen klinischen Vortrags gewöhnt oder
vergaßen, daß Charcot nur eine Vorlesung in der Woche
hielt, die er also sorgfältig vorbereiten konnte.
Folgte Charcot mit dieser feierlichen Vorlesung, in der alles
vorbereitet war und alles eintreffen mußte, wahrscheinlich einer
eingewurzelten Tradition, so empfand er doch auch das Bedürfnis,
seinen Hörern ein minder verkünsteltes Bild seiner Tätigkeit zu
geben. Dazu diente ihm die Ambulanz der Klinik, die er in den
sogenannten Legons du Mardi persönlich erledigte. Da nahm er
ihm völlig unbekannte Fälle vor, setzte sich allen Wechselfällen
des Examens, allen Irrwegen einer ersten Untersuchung aus,
warf seine Autorität von sich, um gelegentlich einzugestehen,
daß dieser Fall keine Diagnose zulasse, daß in jenem ihn der
Anschein getäuscht habe, und niemals erschien er seinen Hörern
größer, als nachdem er sich so bemüht hatte, durch die ein¬
gehendste Rechenschaft über seine Gedankengänge, durch die
größte Offenheit in seinen Zweifeln und Bedenken die Kluft
zwischen Lehrer und Schülern zu verringern. Die Veröffent¬
lichung dieser improvisierten Vorträge aus den Jahren 1887 und
1888, zunächst in französischer, gegenwärtig auch in deutscher
Sprache, hat auch den Kreis seiner Bewunderer ins Ungemessene
erweitert, und niemals hat ein neuropathologisches Werk einen
ähnlichen Erfolg im ärztlichen Publikum erzielt wie dieses.
252
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Ungefähr gleichzeitig mit der Errichtung der Klinik und dem
Zurücktreten der pathologischen Anatomie vollzog sich eine Wand¬
lung in Charcots wissenschaftlichen Neigungen, der wir die
schönsten seiner Arbeiten danken. Er erklärte nun, die Lehre von
den organischen Nervenkrankheiten sei vorderhand ziemlich ab¬
geschlossen, und begann sein Interesse fast ausschließlich der
Hysterie zuzuwenden, die so mit einem Schlage in den Brenn¬
punkt der allgemeinen Aufmerksamkeit gelangte. Diese rätsel¬
hafteste aller Nervenkrankheiten, für deren Beurteilung die Ärzte
noch keinen tauglichen Gesichtspunkt gefunden hatten, war ge¬
rade damals recht in Mißkredit geraten, der sich sowohl auf die
Kranken als auf die Ärzte erstreckte, die sich mit der Neurose
beschäftigten. Es hieß, bei der Hysterie ist alles möglich, und
den Hysterischen wollte man nichts glauben. Die Arbeit Charcots
gab dem Thema zunächst seine Würde wieder5 man gewöhnte
sich allmählich das höhnische Lächeln ab, auf das die Kranke
damals sicher rechnen konnte 5 sie mußte nicht mehr eine Simu¬
lantin sein, da Charcot mit seiner vollen Autorität für die
Echtheit und Objektivität der hysterischen Phänomene eintrat.
Charcot hatte im kleinen die Tat der Befreiung wiederholt,
wegen welcher das Bild Pin eis den Hörsaal der Salpetriöre zierte.
Nachdem man nun der blinden Furcht entsagt hatte, von den
armen Kranken genarrt zu werden, welche einer ernsthaften Be¬
schäftigung mit der Neurose bisher im Wege gestanden war, konnte
es sich fragen, welche Art der Bearbeitung auf dem kürzesten
Wege zur Lösung des Problems führen würde. Für einen ganz
unbefangenen Beobachter hätte sich folgende Anknüpfung dar¬
geboten: Wenn ich einen Menschen in einem Zustande finde,
der alle Zeichen eines schmerzhaften Affekts an sich trägt, im
Weinen, Schreien, Toben, so liegt mir der Schluß nahe, einen
seelischen Vorgang in diesem Menschen zu vermuten, dessen be¬
rechtigte Äußerung jene körperlichen Phänomene sind. Der Ge¬
sunde wäre dann imstande mitzuteilen, welcher Eindruck ihn
Charcot
253
peinigt, der Hysterische würde antworten, er wisse es nicht, und
das Problem wäre sofort gegeben, woher es komme, daß der
Hysterische einem Affekt unterliegt, von dessen Veranlassung er
nichts zu wissen behauptet. Hält man nun an seinem Schlüsse
fest, daß ein entsprechender psychischer Vorgang vorhanden sein
müsse, und schenkt dabei doch der Behauptung des Kranken
Glauben, der denselben verleugnet, sammelt man die vielfachen
Anzeichen, aus denen hervorgeht, daß der Kranke sich so benimmt,
als wüßte er doch darum, forscht man in der Lebensgeschichte
des Kranken nach und findet in derselben einen Anlaß, ein
Trauma, welches geeignet ist, gerade solche Affektäußerungen zu
erzeugen, so drängt dies alles zur Lösung, daß der Kranke sich
in einem besonderen Seelenzustande befinde, in dem das Band
des Zusammenhanges nicht mehr alle Eindrücke oder Erinnerungen
an solche umschlinge, in dem es einer Erinnerung möglich sei,
ihren Affekt durch körperliche Phänomene zu äußern, ohne daß
die Gruppe der anderen seelischen Vorgänge, das Ich, darum
wisse oder hindernd eingreifen könne, und die Erinnerung an
die allbekannte psychologische Verschiedenheit von Schlaf und
Wachen hätte das Fremdartige dieser Annahme verringern können.
Man wende nicht ein, daß die Theorie einer Spaltung des Be¬
wußtseins als Lösung des Rätsels der Hysterie viel zu ferne liegt,
als daß sie sich dem unbefangenen und ungeschulten Beobachter
auf drängen könnte. Tatsächlich hatte das Mittelalter doch diese
Lösung gewählt, indem es die Besessenheit durch einen Dämon
für die Ursache der hysterischen Phänomene erklärte 5 es hätte
sich nur darum gehandelt, für die religiöse Terminologie jener
dunkeln und abergläubischen Zeit die wissenschaftliche der Gegen¬
wart einzusetzen.
Charcot betrat nicht diesen Weg zur Aufklärung der Hysterie,
obwohl er aus den erhaltenen Berichten der Hexenprozesse und
der Besessenheit reichlich schöpfte, um zu erweisen, daß die Er¬
scheinungen der Neurose damals dieselben gewesen seien wie
254
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
heute. Er behandelte die Hysterie wie ein anderes Thema der
Neuropathologie, gab die vollständige Beschreibung ihrer Er¬
scheinungen, wies Gesetz und Regel in denselben nach, lehrte die
Symptome kennen, welche eine Diagnose der Hysterie ermöglichen.
Die sorgfältigsten Untersuchungen, die von ihm und seinen
Schülern ausgingen, verbreiteten sich über die Sensibilitätsstörungen
der Hysterie an der Haut und den tiefen Teilen, das Verhalten
der Sinnesorgane, die Eigentümlichkeiten der hysterischen Kon¬
trakturen und Lähmungen, der trophischen Störungen und der
Veränderungen des Stoffwechsels. Die mannigfachen Formen des
hysterischen Anfalls wurden beschrieben, ein Schema aufgestellt,
welches die typische Gestaltung des großen hysterischen Anfalls
in vier Stadien schilderte und die Zurückführung der gemeinhin
beobachteten „kleinen^^ Anfälle auf den Typus gestattete, ebenso
die Lage und Häufigkeit der sogenannten hysterogenen Zonen,
deren Beziehung zu den Anfällen studiert usw. Mit all diesen
Kenntnissen über die Erscheinung der Hysterie ausgestattet, machte
man nun eine Reihe überraschender Entdeckungen^ man fand die
Hysterie beim männlichen Geschlechte und besonders bei den
Männern der Arbeiterklasse mit einer Häufigkeit, die man nicht
vermutet hatte, man überzeugte sich, daß gewisse Zufälle, die
man der Alkohol-, der Blei-Intoxikation zugeschrieben hatte, der
Hysterie angehörten, man war imstande, eine ganze Anzahl von
bisher unverstanden und isoliert dastehenden Affektionen unter
die Hysterie zu subsumieren und den Anteil der Hysterie aus¬
zuscheiden, wo sich die Neurose mit anderen Affektionen zu kom¬
plexen Bildern vereinigt hatte. Am weittragendsten waren wohl
die Forschungen über die Nervenerkrankungen nach schweren
Traumen, die „traumatischen Neurosen^^, deren Auffassung jetzt
noch in Diskussion steht, und bei welchen C har cot das Recht
der Hysterie erfolgreich vertreten hat.
Nachdem die letzten Ausdehnungen des Begriffes der Hysterie
so häufig zur Verwerfung ätiologischer Diagnosen geführt hatten.
Charcot
255
ergab sich die Notwendigkeit, auf die Ätiologie der Hysterie ein¬
zugehen. Charcot stellte eine einfache Formel für diese auf: als
einzige Ursache hat die Heredität zu gelten, die Hysterie ist dem¬
nach eine Form der Entartung, ein Mitglied der famille nevro-
pathiqucy alle anderen ätiologischen Momente spielen die Rolle
von Gelegenheitsursachen, von agents provocateurs.
Der Aufbau dieses großen Gebäudes fand natürlich nicht ohne
heftigen Widerspruch statt, allein es war der unfruchtbare Wider¬
spruch einer alten Generation, die ihre Anschauungen nicht ver¬
ändert wissen wollte^ die Jüngeren unter den Neuropathologen,
auch Deutschlands, nahmen Charcots Lehren in größerem oder
geringerem Ausmaße an. Charcot selbst war des Sieges seiner
Lehren von der Hysterie vollkommen sicher 5 wollte man ihm
einwenden, daß die vier Stadien des Anfalls, die Hysterie bei
Männern usw., anderswo als in Frankreich nicht zu beobachten
seien, so wies er darauf hin, wie lange er diese Dinge selbst über¬
sehen habe, und wiederholte, die Hysterie sei allerorten und zu
allen Zeiten die nämliche. Gegen den Vorwurf, daß die Franzosen
eine weit nervösere Nation seien als andere, die Hysterie gleich¬
sam eine nationale Unart, war er sehr empfindlich und konnte
sich sehr freuen, wenn eine Publikation „über einen Fall von
Reflexepilepsie bei einem preußischen Grenadier ihm auf Distanz
die Diagnose der Hysterie ermöglichte.
An einer Stelle seiner Arbeit ging Charcot noch über das
Niveau seiner sonstigen Behandlung der Hysterie hinaus und tat
einen Schritt, der ihm für alle Zeiten auch den Ruhm des ersten
Erklärers der Hysterie sichert. Mit dem Studium der hysterischen
Lähmungen beschäftigt, die nach Traumen entstehen, kam er auf
den Einfall, diese Lähmungen, die er vorher sorgfältig von den
organischen differenziert hatte, künstlich zu reproduzieren, und
bediente sich hiezu hysterischer Patienten, die er durch Hypnoti¬
sieren in den Zustand des Somnambulismus versetzte. Es gelang
ihm durch lückenlose Schlußfolge nachzuweisen, daß diese Läh-
256
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
mungen Erfolge von Vorstellungen seien, die in Momenten be¬
sonderer Disposition das Gehirn des Kranken beherrscht hatten.
Damit war zum ersten Male der Mechanismus eines hysterischen
Phänomens aufgeklärt, und an dieses unvergleichlich schöne Stück
klinischer Forschung knüpfte dann sein eigener Schüler P. Ja net,
knüpften Breuer u. a. an, um eine Theorie der Neurose zu ent¬
werfen, welche sich mit der Auffassung des Mittelalters deckt,
nachdem sie den „Dämon“ der priesterlichen Phantasie durch eine
psychologische Formel ersetzt hat.
Charcots Beschäftigung mit den hypnotischen Phänomenen
bei Hysterischen gereichte diesem bedeutungsvollen Gebiet von
bisher vernachlässigten und verachteten Tatsachen zur größten
Förderung, indem das Gewicht seines Namens dem Zweifel an der
Realität der hypnotischen Erscheinungen ein für allemal ein Ende
machte. Allein der rein psychologische Gegenstand vertrug die
ausschließlich nosographische Behandlung nicht, die er bei der
Schule der Salpetriöre fand. Die Beschränkung des Studiums der
Hypnose auf die Hysterischen, die Unterscheidung von großem
und kleinem Hypnotismus, die Aufstellung dreier Stadien der
„großen Hypnose“ und deren Kennzeichnung durch somatische
Phänomene, dies alles unterlag in der Schätzung der Zeitgenossen,
als Liebaults Schüler Bernheim es unternahm, die Lehre vom
Hypnotismus auf einer umfassenderen psychologischen Grundlage
aufzubauen und die Suggestion zum Kernpunkt der Hypnose zu
machen. Nur die Gegner des Hypnotismus, die sich damit zu¬
frieden geben, ihren Mangel an eigener Erfahrung durch Berufung
auf eine Autorität zu verdecken, halten noch an den Aufstellungen
Charcots fest und lieben es, eine aus seinen letzten Jahren
stammende Äußerung zu verwerten, die der Hypnose eine jede
Bedeutung als Heilmittel abspricht.
Auch an den ätiologischen Theorien, die Charcot in seiner
Lehre von der famille nevropathique vertrat, und die er zur
Grundlage seiner gesamten Auffassung der Nervenkrankheiten
Charcot
^67
gemacht hatte, wird wohl bald zu rütteln und zu korrigieren
sein. Charcot überschätzte die Heredität als Ursache so sehr, daß
kein Raum für die Erwerbung von Neuropathien übrig blieb, er
wies der Syphilis nur einen bescheidenen ^Platz unter den agents
provocateurs an, und er trennte weder für die Ätiologie, noch
sonst hinreichend scharf die organischen Nervenaffektionen von
den Neurosen. Es ist unausbleiblich, daß der Fortschritt unserer
Wissenschaft, indem er unsere Kenntnisse vermehrt, auch manches
von dem entwertet, was uns Charcot gelehrt hat, aber kein
Wechsel der Zeiten oder der Meinungen wird den Nachruhm
des Mannes zu schmälern vermögen, um den wir jetzt — in
Frankreich und anderwärts — alle trauern.
fVien, im August
f ■
Freud, I.
17
EIN FALL VON HYPNOTISCHER HEILUNG
NEBST BEMERKUNGEN ÜBER DIE ENTSTEHUNG HYSTE¬
RISCHER SYMPTOME DURCH DEN „GEGENWILLEN“
Zuerst erschienen iml. Jahrgang (18^2 der
^Zeitschrift für Hypnotismus^ Suggestionstherapie^
Suggestionslehre und verwandte psychologische For¬
schungen^^, Berlin,
Ich entschließe mich hier, einen einzelnen Fall von Heilung
durch hypnotische Suggestion zu veröffentlichen, weil derselbe
durch eine Reihe von Nebenumständen beweiskräftiger und
durchsichtiger geworden ist, als die Mehrzahl unserer Heilerfolge
zu sein pflegt.
Die Frau, welcher ich in einem für sie bedeutsamen Moment
ihrer Existenz Hilfe leisten konnte, war mir seit Jahren bekannt
und blieb mehrere Jahre später unter meiner Beobachtung^ die
Störung, von welcher sie die hypnotische Suggestion befreite, war
einige Zeit vorher zum erstenmal aufgetreten, erfolglos bekämpft
worden und hatte der Kranken einen Verzicht abgenötigt, dessen
sie das zweitemal durch meine Hilfe enthoben war, während ein
Jahr später dieselbe Störung sich neuerdings einstellte, und auf
dieselbe Weise neuerdings überwunden wurde. Der Erfolg der
Therapie war ein für die Kranke wertvoller, der auch so lange
anhielt, als die Kranke die der Störung unterworfene Funktion
ausüben wollte; und endlich dürfte es für diesen Fall gelungen
Ein Fall von hypnotischer Heilung
25g
sein, den einfachen psychischen Mechanismus der Störung nach¬
zuweisen und ihn mit ähnlichen Vorgängen auf dem Gebiete
der Nervenpathologie in Beziehung zu setzen.
Es handelt sich, um nicht länger in Rätseln sprechen zu
müssen, um einen Fall, in dem eine Mutter ihr Neugeborenes
nicht zu nähren vermochte, ehe sich die hypnotische Suggestion
eingemengt hatte, und in dem die Vorgänge bei einem früheren
und einem späteren Kinde eine nur selten mögliche Kontrolle
des therapeutischen Erfolges gestatteten.
’^Das Objekt der nachstehenden Krankengeschichte ist eine junge
Frau zwischen zwanzig und dreißig Jahren, mit der ich zufällig
seit den Kinderjahren in Verkehr gestanden hatte, und die in¬
folge ihrer Tüchtigkeit, ruhigen Besonnenheit und Natürlichkeit
bei niemandem, auch nicht bei ihrem Hausarzte, im Rufe einer
Nervösen stand. Mit Rücksicht auf die hier erzählten Begeben¬
heiten muß ich sie als eine hysterique doccasion nach Charcots
glücklichem Ausdruck bezeichnen. Man weiß, daß diese Kategorie
der vortrefflichsten Mischung von Eigenschaften und einer sonst
ungestörten nervösen Gesundheit nicht widerspricht. Von ihrer
Familie kenne ich die in keiner Weise nervöse Mutter und eine
ähnlich geartete, gesunde, jüngere Schwester. Ein Bruder hat eine
typische Jugendneurasthenie durchgemacht, die ihn auch zum
Scheitern in seinen Lebensplänen gebracht hat. Ich kenne die
Ätiologie und den Verlauf dieser Erkrankung, die sich in meiner
ärztlichen Erfahrung alljährlich mehrmals in der nämlichen Weise
wiederholt. Bei ursprünglich guter Anlage die gewöhnliche sexuelle
Verirrung der Pubertätszeit, dann die Überarbeitung der Studenten¬
jahre, das Prüfungsstudium, eine Gonorrhoe und im Anschluß an
diese der plötzliche Ausbruch einer Dyspepsie in Begleitung jener
hartnäckigen, fast unbegreiflichen Stuhlverstopfung. Nach Monaten
Ablösung dieser Verstopfung durch Kopfdruck, Verstimmung,
Arbeitsunfähigkeit, und von da an entwickelt sich jene Charakter¬
einschränkung und egoistische Verkümmerung, welche den Kranken
17 *
200
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
zur Geißel seiner Familie machen. Es ist mir nicht sicher, ob
diese Form von Neurasthenie nicht in allen Stücken erworben
werden kann, und ich lasse daher, zumal da ich die anderen
Verwandten meiner Patientin nicht kenne, die Frage offen,
ob in ihrer Familie eine hereditäre Disposition für Neurosen an¬
zunehmen ist.
Die Patientin hatte, als die Geburt des ersten Kindes aus ihrer
glücklichen Ehe herannahte, die Absicht, dasselbe selbst zu nähren.
Der Geburtsakt verlief nicht schwieriger, als es bei älteren Erst¬
gebärenden zu sein pflegt, wurde durch Forceps beendigt. Der
Wöchnerin gelang es aber nicht, trotz ihres günstigen Körper¬
baues, dem Kinde eine gute Nährmutter zu sein. Die Milch kam
nicht reichlich, das Anlegen verursachte Schmerzen, der Appetit
mangelte, ein bedenklicher Widerwille gegen die Nahrungsauf¬
nahme stellte sich ein, die Nächte waren erregt und schlaflos,
und um Mutter und Kind nicht weiter zu gefährden, wurde der
Versuch nach vierzehn Tagen als mißglückt abgebrochen und das
Kind einer Amme übergeben, wonach alle Beschwerden der Mutter
rasch verschwanden. Ich bemerke, daß ich von diesem ersten
Laktationsversuch nicht als Arzt und Augenzeuge berichten kann.
Drei Jahre später erfolgte die Geburt eines zweiten Kindes und
diesmal ließen auch äußere Umstände es wünschenswert erscheinen,
eine Amme zu umgehen. Die Bemühungen der Mutter, selbst
zu nähren, schienen aber weniger Erfolg zu haben und peinlichere
Erscheinungen hervorzurufen als das erstemal. Die junge Mutter
erbrach alle Nahrung, geriet in Aufregung, wenn sie dieselbe an
ihr Bett bringen sah, war absolut schlaflos und so verstimmt über
ihre Unfähigkeit, daß die beiden Ärzte der Familie, die in dieser
Stadt so allgemein bekannten Ärzte Dr. Breuer und Dr. Lott,
diesmal von einer längeren Fortsetzung des Versuches nichts wissen
wollten. Sie rieten nur noch zu einem Versuch mit hypnotischer
Suggestion und setzten durch, daß ich am Abend des vierten Tages
als Arzt zu der mir befreundeten Frau geholt wurde.
Ein Fall von hypnotischer Heilung 261
Ich fand sie mit hochgeröteten Wangen zu Bette liegend^
wütend über ihre Unfähigkeit, das Kind zu nähren, die sich bei
jedem Versuch steigerte und der sie doch mit allen Kräften wider¬
strebte. Um das Erbrechen zu vermeiden, hatte sie diesen Tag
über nichts zu sich genommen. Das Epigastrium war vorgewölbt,
auf Druck empfindlich, die aufgelegte Hand fühlte den Magen
unruhig, von Zeit zu Zeit erfolgte geruchloses Aufstoßen, die
Kranke klagte über beständigen üblen Geschmack im Munde.
Die Ära des hochtympanitischen Magenschalles war erheblich
vergrößert. Ich wurde nicht als willkommener Retter aus der
Not begrüßt, sondern offenbar nur widerwillig angenommen und
durfte auf nicht viel Zutrauen rechnen.
Ich versuchte sofort, die Hypnose durch Fixierenlassen bei be¬
ständigem Einreden der Symptome des Schlafes herbeizuführen.
Nach drei Minuten lag die Kranke mit dem ruhigen Gesichts¬
ausdruck einer tief Schlafenden da. Ich weiß mich nicht zu er¬
innern, ob ich auf Katalepsie und andere Erscheinungen von
Folgsamkeit geprüft habe. Ich bediente mich der Suggestion, um
allen ihren Befürchtungen und den Empfindungen, auf welche
sich die Befürchtungen stützten, zu widersprechen. „Haben Sie
keine Angst, Sie werden eine ausgezeichnete Amme sein, bei der
das Kind prächtig gedeihen wird. Ihr Magen ist ganz ruhig, Ihr
Appetit ausgezeichnet. Sie sehnen sich nach einer Mahlzeit u. dgl.‘^
Die Kranke schlief weiter, als ich sie für einige Minuten verließ,
und zeigte sich amnestisch, nachdem ich sie erweckt hatte. Ehe
ich fortging, mußte ich noch einer besorgten Bemerkung des
Mannes widersprechen, daß die Hypnose wohl die Nerven einer
Frau gründlich ruinieren könne.
Am nächsten Abend erfuhr ich, was mir als ein Unterpfand
des Erfolges galt, den Angehörigen und der Kranken aber merk¬
würdigerweise keinen Eindruck gemacht hatte. Die Wöchnerin
hatte ohne Beschwerde zu Abend gegessen, ruhig geschlafen und
auch am Vormittag sich wie das Kind tadellos ernährt. Die
5202
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
etwas reichliche Mittagsmahlzeit war aber zuviel für sie gewesen.
Kaum daß dieselbe aufgetragen war, erwachte in ihr der frühere
Widerwille, es trat Erbrechen ein, noch ehe sie etwas berührt
hatte, das Kind anzulegen war unmöglich geworden, und alle
objektiven Zeichen waren bei meinem Erscheinen wieder wie
am Vorabend. Mein Argument, daß jetzt alles gewonnen sei,
nachdem sie sich überzeugt hätte, daß die Störung weichen könne
und auch für einen halben Tag gewichen sei, blieb wirkungslos.
Ich war nun bei der zweiten Hypnose, die ebenso rasch zum
Somnambulismus führte, energischer und zuversichtlicher. Die
Kranke werde fünf Minuten nach meinem Fortgehen die Ihrigen
etwas unwillig anfahren: wo denn das Essen bleibe, ob man
denn die Absicht habe, sie auszuhungern, woher sie denn das
Kind nähren solle, wenn sie nichts bekäme u. dgl. Als ich am
dritten Abend wiederkehrte, ließ die Wöchnerin keine weitere Be¬
handlung zu. Es fehle ihr nichts mehr, sie habe ausgezeichneten
Appetit und reichlich Milch für das Kind, das Anlegen des
Kindes mache ihr nicht die geringsten Schwierigkeiten u. dgl.
Dem Manne war es etwas unheimlich erschienen, daß sie gestern
Abend bald nach meinem Fortgehen so ungestüm nach Nahrung
verlangt und der Mutter Vorwürfe gemacht habe, wie es nie¬
mals ihre Art gewesen. Seither gehe aber alles gut.
Ich hatte nichts mehr dabei zu tun. Die Frau nährte das Kind
acht Monate lang, und ich hatte häufig Gelegenheit, mich freund¬
schaftlich von dem Wohlbefinden beider Personen zu überzeugen.
Nur fand ich es unverständlich und verdrießlich, daß von jener
merkwürdigen Leistung niemals zwischen uns die Rede war.
Indessen kam meine Zeit ein Jahr später, als ein drittes Kind
dieselben Ansprüche an die Mutter stellte, welche sie ebenso
wenig wie die vorigen Male zu befriedigen vermochte. Ich traf
die Frau in demselben Zustande wie voriges Jahr, und geradezu
erbittert gegen sich, daß sie gegen die Eßabneigung und die
anderen Symptome mit ihrem Willen nichts vermochte. Die
Ein Fall von hypnotischer Heilung
265
Hypnose des ersten Abends hatte auch nur den Erfolg, die
Kranke noch hoffnungsloser zu machen. Nach der zweiten Hyp¬
nose war der Symptomkomplex wiederum so vollständig abge¬
schnitten, daß es einer dritten nicht bedurfte. Die Frau hat auch
dieses Kind, das heute eineinhalb Jahre alt ist, ohne alle Be¬
schwerde genährt und sich des ungestörtesten Wohlbefindens
erfreut.
Angesichts dieser Wiederholung des Erfolges tauten nun auch
die beiden Eheleute auf und bekannten das Motiv, welches ihr
Benehmen gegen mich geleitet hatte. Ich habe mich geschämt,
sagte mir die Frau, daß so etwas wie die Hypnose nützen soll,
da, wo ich mit all meiner Willenskraft machtlos war. Ich glaube
indes nicht, daß sie oder ihr Mann ihre Abneigung gegen die
Hypnose überwunden haben.
*
Ich gehe nun zu der Erörterung über, welches wohl der psy¬
chische Mechanismus jener durch Suggestion behobenen Störung
bei meiner Patientin war. Ich habe nicht wie in anderen Fällen,
von denen ein andermal die Rede sein soll, direkte Auskunft
darüber, sondern bin darauf angewiesen, ihn zu erraten.
Es gibt Vorstellungen, mit denen ein Erwartungsaffekt ver¬
bunden ist, und zwar sind dieselben von zweierlei Art, Vor¬
stellungen, daß ich dies oder jenes tun werde, sogenannte Vor¬
sätze und Vorstellungen, daß dies oder jenes mit mir geschehen
wird, eigentlich Erwartungen. Der daran geknüpfte Affekt
hängt von zwei Faktoren ab, erstens von der Bedeutung, den
der Ausfall für mich hat, zweitens von dem Grade von Un¬
sicherheit, mit welchem die Erwartung desselben behaftet ist.
Die subjektive Unsicherheit, die Gegenerwartung, wird selbst
durch eine Summe von Vorstellungen dargestellt, welche wir als
„peinliche Kontrastvorstellungen^^ bezeichnen wollen. Für
den Fall des Vorsatzes lauten diese Kontrastvorstellungen so: Es
264
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
wird mir nicht gelingen, meinen Vorsatz auszuführen, weil dies
oder jenes für mich zu schwer ist, ich dafür ungeeignet bin 5
auch weiß ich, daß es bestimmten anderen Personen in ähnlicher
Lage gleichfalls mißlungen ist. Der andere Fall, der der Er¬
wartung, ist ohneweiters klar 5 die Gegenerwartung beruht auf
der Erwägung aller anderen Möglichkeiten, die mir zustoßen
können, bis auf die eine, die ich wünsche. Die weitere Erörterung
dieses Falles führt zu den Phobien, die in der Symptomatologie
der Neurosen eine so große Rolle spielen. Wir verbleiben bei
der ersten Kategorie, bei den Vorsätzen. Was tut nun ein gesundes
Vorstellungsleben mit den Kontrastvorstellungen gegen den Vor¬
satz? Es unterdrückt und hemmt dieselben nach Möglichkeit, wie
es dem kräftigen Selbstbewußtsein der Gesundheit entspricht,
schließt sie von der Assoziation aus, und dies gelingt häufig in
so hohem Grade, daß die Existenz der Kontrastvorstellung gegen
den Vorsatz meist nicht evident ist, sondern erst durch die Be¬
trachtung der Neurosen wahrscheinlich gemacht wird. Bei den
Neurosen hingegen, — und ich beziehe mich durchaus nicht
allein auf die Hysterie, sondern auf den Status nervosus im all¬
gemeinen, — ist als primär vorhanden eine Tendenz zur Ver¬
stimmung, zur Herabsetzung des Selbstbewußtseins anzunehmen,
wie wir sie als höchstentwickeltes und vereinzeltes Symptom bei
der Melancholie kennen. Bei den Neurosen fällt nun auch den
Kontrastvorstellungen gegen den Vorsatz eine große Beachtung
zu, vielleicht weil deren Inhalt zu der Stimmungsfärbung der
Neurose paßt, oder vielleicht in der Weise, daß auf dem Boden
der Neurose Kontrastvorstellungen entstehen, die sonst unterblieben
wären.
Diese Kräftigung der Kontrastvorstellungen zeigt sich nun beim
einfachen Status nervosus auf die Erwartung bezogen als all¬
gemein pessimistische Neigung, bei der Neurasthenie gibt sie durch
Assoziation mit den zufälligsten Empfindungen Anlaß zu den
mannigfachen Phobien der Neurastheniker. Auf die Vorsätze über-
Ein Fall von hypnotischer Heilung
265
tragen, erzeugt dieser Faktor jene Störungen, die als folie de
doute zusammengefaßt werden, und die das Mißtrauen des Indi¬
viduums in die eigene Leistung zum Inhalt haben. Gerade hier
verhalten sich die beiden großen Neurosen, Neurasthenie und
Hysterie, in einer für jede charakteristischen Weise verschieden.
Bei der Neurasthenie wird die krankhaft gesteigerte Kontrast¬
vorstellung mit der Willens Vorstellung zu einem Bewußtseinsakt
verknüpft, sie zieht sich von letzterer ab und erzeugt die auf¬
fällige Willensschwäche der Neurastheniker, die ihnen selbst be¬
wußt ist. Der Vorgang bei der Hysterie hingegen weicht in zwei
Punkten ab, oder vielleicht nur in einem einzigen. Wie es der
Neigung der Hysterie zur Dissoziation des Bewußtseins ent¬
spricht, wird die peinliche Kontrastvorstellung, die anscheinend
gehemmt ist, außer Assoziation mit dem Vorsatz gebracht und be¬
steht, oft dem Kranken selbst unbewußt, als abgesonderte Vor¬
stellung weiter. Exquisit hysterisch ist es nun, daß sich diese
gehemmte Kontrastvorstellung, wenn es zur Ausführung des Vor¬
satzes kommen soll, mit derselben Leichtigkeit durch Innervation
des Körpers objektiviert wie im normalen Zustande die Willens¬
vorstellung. Die Kontrastvorstellung etabliert sich sozusagen als
„Gegenwille^^, während sich der Kranke mit Erstaunen eines
entschiedenen aber machtlosen Willens bewußt ist. Vielleicht sind,
wie gesagt, die beiden Momente im Grunde nur eines, etwa so,
daß die Kontrastvorstellung nur darum den Weg zur Objekti¬
vierung findet, weil sie nicht durch die Verknüpfung mit dem
Vorsatz selbst gehemmt ist, wie sie diesen hemmt.^
In unserem Falle einer Mutter, die durch nervöse Schwierig¬
keit am Säuggeschäft verhindert wird, hätte sich eine Neur-
asthenica etwa so benommen: Sie hätte sich mit Bewußtsein vor
der ihr gestellten Aufgabe gefürchtet, sich viel mit den möglichen
1) Zwischen Abfassung und Korrektur dieser Zeilen ist mir eine Schrift von
H. Kaan zugekommen (Der neurasthenische Angstaffekt bei Zwangsvorstellungen etc.,
Wien 1893), welche analoge Ausführungen enthält.
266
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Zwischenfallen und Gefahren beschäftigt und nach vielem Zaudern
unter Bangen und Zweifeln doch das Säugen ohne Schwierigkeit
durchgeführt, oder wenn die Kontrastvorstellung die Oberhand
behalten hätte, es unterlassen, weil sie sich dessen nicht getraut.
Die Hysterica benimmt sich dabei anders, sie ist sich ihrer Furcht
vielleicht nicht bewußt, hat den festen Vorsatz es durchzuführen
und geht ohne Zögern daran. Dann aber benimmt sie sich so,
als ob sie den Willen hätte, das Kind auf keinen Fall zu säugen,
und dieser Wille ruft bei ihr alle jene subjektiven Symptome
hervor, welche eine Simulantin angeben würde, um sich dem
Säuggeschäft zu entziehen: Die Appetitlosigkeit, den Abscheu vor
der Speise, die Schmerzen beim Anlegen des Kindes und außer¬
dem, da der Gegenwille der bewußten Simulation in der Be¬
herrschung des Körpers überlegen ist, eine Reihe von objektiven
Zeichen am Verdauungstrakt, welche die Simulation nicht her¬
zustellen vermag. Im Gegensatz zur Willensschwäche der Neur¬
asthenie besteht hier Willensperversion, und im Gegensatz
zur resignierten Unentschlossenheit dort, hier Staunen und Er¬
bitterung über den der Kranken unverständlichen Zwiespalt.
Ich halte mich also für berechtigt, meine Kranke als eine
hysterique doccasion zu bezeichnen, da sie unter dem Einfluß
einer Gelegenheitsursache einen Symptomkomplex von so exquisit
hysterischem Mechanismus zu produzieren imstande war. Als
Gelegenheitsursache mag hier die Erregung vor der ersten Ent¬
bindung oder die Erschöpfung nach derselben angenommen
werden, wie denn die erste Entbindung der größten Erschütte¬
rung entspricht, welcher der weibliche Organismus ausgesetzt ist,
in deren Gefolge auch die Frau alle neurotischen Symptome zu
produzieren pflegt, zu denen die Anlage in ihr schlummert.
Wahrscheinlich ist der Fall meiner Patientin vorbildlich und
aufklärend für eine große Reihe anderer Fälle, in denen das
Säuggeschäft oder ähnliche Verrichtungen durch nervöse Einflüsse
verhindert werden. Da ich aber den psychischen Mechanismus
Ein Fall von hypnotischer Heilung
267
des von mir beschriebenen Falles bloß erschlossen habe, beeile ich
mich mit der Versicherung fortzusetzen, daß es mir durch Aus¬
forschung der Kranken in der Hypnose wiederholt gelungen ist,
einen derartigen psychischen Mechanismus für hysterische Sym¬
ptome direkt nachzuweisen.^
Ich führe nur eines der auffälligsten Beispiele hier an: Vor
Jahren behandelte ich eine hysterische Dame, die ebenso willens¬
stark in all den Stücken war, in welche sich ihre Krankheit
nicht eingemengt hatte, wie anderseits schwer belastet mit mannig¬
faltigen und drückenden hysterischen Verhinderungen und Un¬
fähigkeiten. Unter anderem fiel sie durch ein eigentümliches
Geräusch auf, welches sie ticartig in ihre Konversation einschob,
und das ich als ein besonderes Zungenschnalzen mit plötzlichem
Durchbruch des krampfhaften Lippenverschlusses beschreiben
möchte. Nachdem ich es wochenlang mitangehört hatte, erkun¬
digte ich mich einmal, wann und bei welcher Gelegenheit es
entstanden sei. Die Antwort war: „Ich weiß nicht wann, o schon
seit langer Zeit.‘^ Ich hielt es darum auch für einen echten Tic,
bis es mir einmal einfiel, der Kranken in tiefer Hypnose dieselbe
Frage zu stellen. In der Hypnose verfügte diese Kranke — ohne
daß man sie dazu suggerieren mußte — sofort über ihr ganzes
Erinnerungsvermögen 5 ich möchte sagen über den ganzen, im
Wachen eingeengten Umfang ihres Bewußtseins. Sie antwortete
prompt: „Wie mein kleineres Kind so krank war, den ganzen
Tag Krämpfe gehabt hatte und endlich am Abend eingeschlafen
war, und wie ich dann am Bette saß und mir dachte: Jetzt
mußt du aber recht ruhig sein, um sie nicht aufzuwecken,
da . . . bekam ich das Schnalzen zum erstenmal. Es verging dann
wieder^ wie wir aber viele Jahre später einmal nachts durch den
Wald bei * * fuhren, und ein großes Gewitter losbrach und der
1) Vgl. die gleichzeitig erscheinende vorläufige Mitteilung von J. Breuer mid
S. Freud über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene in Mendels
Zentralhlatt Nr. 1 und 2, 1895. [Als einleitender Teil der „Studien über Hysterie“
enthalten in diesem Bande der Ges. Schriften.]
268
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Blitz gerade in einen Baumstamm vor uns am Wege einschlug,
so daß der Kutscher die Pferde zurückreißen mußte, und ich mir
dachte: Jetzt darfst du nur ja nicht schreien, sonst werden die
Pferde scheu, da — kam es wieder und ist seitdem geblieben/^
Ich konnte mich überzeugen, daß jenes Schnalzen kein echter
Tic war, denn es war von dieser Zurückführung auf seinen
Grund an beseitigt und blieb so durch Jahre, so lange ich die
Kranke verfolgen konnte. Ich hatte aber damals zum erstenmal
Gelegenheit, die Entstehung hysterischer Symptome durch die
Objektivierung der peinlichen Kontrastvorstellung, durch den
Gegenwillen zu erfassen. Die durch Angst und Krankenpflege
erschöpfte Mutter nimmt sich vor, ja keinen Laut über ihre
Lippen zu bringen, um das Kind nicht in dem so spät einge¬
tretenen Schlaf zu stören. In ihrer Erschöpfung erweist sich die
begleitende Kontrastvorstellung, sie werde es doch tun, als die
stärkere, gelangt zur Innervation der Zunge, welche zu hemmen
der Vorsatz lautlos zu bleiben, vielleicht vergessen hatte, durch¬
bricht den Verschluß der Lippen und erzeugt ein Geräusch,
welches sich von nun an, zumal seit einer Wiederholung desselben
Vorganges, für viele Jahre fixiert.
Das Verständnis dieses Vorganges ist kein vollkommenes, so
lange nicht ein bestimmter Einwand erledigt worden ist. Man
wird fragen dürfen, wie es komme, daß bei einer allgemeinen
Erschöpfung — die doch die Disposition für jenen Vorgang dar¬
stellt — gerade die Kontrastvorstellung die Oberhand gewinnt?
Ich möchte darauf mit der Annahme erwidern, daß diese Er¬
schöpfung eine bloß partielle ist. Erschöpft sind diejenigen Ele¬
mente des Nervensystems, welche die materiellen Grundlagen der
zum primären Bewußtsein assoziierten Vorstellungen sind^ die von
dieser Assoziationskette — des normalen Ichs — ausgeschlossenen,
die gehemmten und unterdrückten Vorstellungen sind nicht er¬
schöpft und überwiegen daher im Momente der hysterischen Dis¬
position.
Ein Fall von hypnotischer Heilung
269
Jeder Kenner der Hysterie wird aber bemerken, daß der hier
geschilderte psychische Mechanismus nicht bloß vereinzelte hyste¬
rische Zufälle, sondern große Stücke des Symptombildes der
Hysterie sowie einen geradezu auffälligen Charakterzug derselben
aufzuklären vermag. Halten wir fest, daß es die peinlichen Kon¬
trastvorstellungen, welche das normale Bewußtsein hemmt und
Zurückweist, waren, die im Momente der hysterischen Disposition
hervortraten und den Weg zur Körperinnervation fanden, so
haben wir den Schlüssel auch zum Verständnis der Eigentümlich¬
keit hysterischer Anfallsdelirien in der Hand. Es ist nicht zufällig,
daß die hysterischen Delirien der Nonnen in den Epidemien des
Mittelalters aus schweren Gotteslästerungen und ungezügelter
Erotik bestanden, oder daß gerade bei wohlerzogenen und artigen
Knaben, wie C har cot (Lecons du Mardi, vol. I.) hervorhebt,
hysterische Anfälle Vorkommen, in denen jeder Gassenbüberei,
jeder Bubentollheit und Unart freier Lauf gelassen wird. Die
unterdrückten und mühsam unterdrückten Vorstellungsreihen sind
es, die hier infolge einer Art von Gegenwillen in Aktion um¬
gesetzt werden, wenn die Person der hysterischen Erschöpfung
verfallen ist. Ja der Zusammenhang ist vielleicht mitunter ein
intimerer, indem gerade durch die mühevolle Unterdrückung jener
hysterische Zustand erzeugt wird, — auf dessen psychologische
Kennzeichnung ich hier übrigens nicht eingegangen bin. Ich habe
es hier nur mit der Erklärung zu tun, warum — jenen Zustand
hysterischer Disposition vorausgesetzt — die Symptome so aus-
fallen, wie wir sie tatsächlich beobachten.
Im ganzen verdankt die Hysterie diesem Hervortreten des
Gegenwillens jenen dämonischen Zug, der ihr so häufig zukommt,
der sich darin äußert, daß die Kranken gerade dann und dort
etwas nicht können, wo sie es am sehnlichsten wollen, daß sie
das genaue Gegenteil von dem tun, um was man sie gebeten hat,
und daß sie, was ihnen am teuersten ist, beschimpfen und ver¬
dächtigen müssen. Die Charakterperversion der Hysterie, der Kitzel,
270
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
das Schlechte zu tun, sich krank stellen zu müssen, wo sie sehn-
lichst die Gesundheit wünschen, — wer hysterische Kranke kennt,
weiß, daß dieser Zwang oft genug die tadellosesten Charaktere
betrifft, die ihren Kontrastvorstellungen für eine Zeit hilflos preis¬
gegeben sind.
Die Frage: Was wird aus den gehemmten Vorsätzen? scheint
für das normale Vorstellungsleben sinnlos zu sein. Man möchte
darauf antworten, sie kommen eben nicht zustande. Das Studium
der Hysterie zeigt, daß sie dennoch Zustandekommen, d. h. daß
die ihnen entsprechende materielle Veränderung erhalten bleibt,
und daß sie aufbewahrt werden, in einem Art von Schattenreich
eine ungeahnte Existenz fristen, bis sie als Spuk hervortreten und
sich des Körpers bemächtigen, der sonst dem herrschenden Ich¬
bewußtsein gedient hat.
Ich habe vorhin gesagt, daß dieser Mechanismus ein exquisit
hysterischer ist 5 ich muß hinzufügen, daß er nicht ausschließlich
der Hysterie zukommt. Er findet sich in auffälliger Weise beim
tic convulsiv wieder, einer Neurose, die so viel symptomatische
Ähnliclikeit mit der Hysterie hat, daß ihr ganzes Bild als Teil¬
erscheinung der Hysterie auftreten kann, so daß Charcot, wenn
ich seine Lehren darüber nicht von Grund aus mißverstanden
habe, nach längerer Sonderung kein anderes Unterscheidungs¬
merkmal gelten lassen kann, als daß der hysterische Tic sich
wieder einmal löst, der echte fortbestehen bleibt. Das Bild eines
schweren tic convulsiv setzt sich bekanntlich zusammen aus un¬
willkürlichen Bewegungen, häufig (nach Charcot und Guinon
immer) vom Charakter der Grimassen oder einmal zweckmäßig
gewesener Verrichtungen, aus Koprolalie, Echolalie und Zwangs¬
vorstellungen aus der Reihe der folie de doute. Es ist nun über¬
raschend zu hören, daß Guinon, dem das Eingehen in den
psychischen Mechanismus dieser Symptome ferne liegt, von einigen
seiner Kranken berichtet, sie seien zu ihren Zuckungen und Gri¬
massen auf dem Wege der Objektivierung der Kontrast Vorstellung
Ein Fall von hypnotischer Heilung
271
gelangt. Diese Kranken geben an, sie hätten bei einer bestimmten
Gelegenheit einen ähnlichen Tic oder einen Komiker, der seine
Mienen absichtlich so verzerrte, gesehen und dabei die Furcht
empfunden, diese häßlichen Bewegungen nachahmen zu müssen.
Von da an hätten sie auch wirklich mit der Nachahmung be¬
gonnen. Gewiß entsteht nur ein kleiner Teil der unwillkürlichen
Bewegungen bei den tiqueurs auf diese Weise. Dagegen könnte
man versucht sein, diesen Mechanismus der Entstehung der
Koprolalie unterzulegen, mit welchem Terminus bekanntlich das
unwillkürliche, besser widerwillige Hervorstoßen der unflätigsten
Worte bei den tiqueurs bezeichnet wird. Die Wurzel der Kopro¬
lalie wäre die Wahrnehmung des Kranken, daß er es nicht unter¬
lassen kann, gewisse Laute, meist ein hm, hm, hervorzustoßen.
Daran würde sich die Furcht schließen, auch die Herrschaft über
andere Laute, besonders über jene Worte zu verlieren, die der
wohlerzogene Mensch auszusprechen sich hütet, und diese Furcht
würde zur Verwirklichung des Gefürchteten führen. Ich finde bei
Guinon keine Anamnese, welche diese Vermutung bestätigt und
habe selbst nie Gelegenheit gehabt, einen Kranken mit Koprolalie
auszufragen. Dagegen finde ich bei demselben Autor den Bericht
über einen anderen Fall von Tic, bei dem das unwillkürlich
ausgesprochene Wort ausnahmsweise nicht dem Sprachschatz der
Koprolalie angehörte. Dieser Fall betrifft einen erwachsenen Mann,
der mit dem Ausruf „Maria‘^ behaftet war. Er hatte als Schüler
eine Schwärmerei für ein Mädchen dieses Namens gehabt, die
ihn damals ganz in Anspruch nahm, wie wir annehmen wollen,
zur Neurose disponierte. Damals begann er den Namen seiner
Angebetenen mitten in den Schulstunden laut zu rufen, und
dieser Name verblieb ihm als Tic, nachdem seine Liebschaft seit
einem halben Menschenleben überwunden war. Ich denke, es
kann kaum anders zugegangen sein, als daß das ernsthafteste Be¬
mühen, den Namen geheim zu halten, in einem Moment be¬
sonderer Erregung in den Gegenwillen umschlug, und daß von
272
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
da ab der Tic verblieb, ähnlich w^ie im Falle meiner zweiten
Kranken.
Ist die Erklärung dieses Beispiels richtig, so liegt die Ver¬
suchung nahe, die eigentlich koprolalischen Tic auf denselben
Mechanismus zurückzuführen, denn die unflätigen Worte sind
Geheimnisse, die wir alle kennen, und deren Kenntnis wir stets
voreinander zu verbergen streben.^
1) Ich deute hier nur an, daß es lohnend sein dürfte, der Objektivierung des
Gegenwillens auch außerhalb der Hysterie und des Tic nachzuspüren, wo sie im
Rahmen der Norm so häufig vorkommt.
QUELQUES CONSID^RATIONS POUR UNE
^:tude comparative des paralysies
MOTRICES ORGANIQUES ET HYSTERIQUES
Zuerst erschienen in den ,^Archives de Neurologie^
No. 77, 1%.
M. Charcot, dont j’ai ete Televe en 1885 et 1886, a bien
voulu, ä cette epoque, me confier le sein de faire une etude
comparative des paralysies motrices organiques et hysteriques,
basee sur les observations de la Salpetribre, qui pourrait servir
ä saisir quelques caractbres g^neraux de la nevrose et conduire
ä une conception sur la nature de cette dernibre. Des causes acci-
dentelles et personelles m’ont empech^ pendant longtemps d’obdir
ä son Inspiration 5 aussi je ne veux apporter maintenant que quel¬
ques resultats de mes recherches, laissant a cot^ les details neces-
saires pour une demonstration complbte de mes opinions.
I
II faudra commencer par quelques remarques sur les paralysies
motrices organiques, d’ailleurs generalement admises. La clinique
nerveuse reconnait deux sortes de paralysies motrices, la paralysie
periphero-spinale (ou bulbaire) et la paralysie cerebrale. Cette
distinction est parfaitement en accord avec les donn^es de l’ana-
tomie du Systeme nerveux qui nous montrent qu’il n’y a que
Freud, I.
18
274
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
deux Segments sur le parcours des fibres motrices conductrices, le
premier qui va de la peripherie jusqu’aux cellules des cornes
antdrieures dans la moelle, et le second qui va de la jusqu’ä
l’ecorce cerebrale. La nouvelle Histologie du systfeme nerveux,
fondee sur les travaux de Golgi, Ramon y Cajal, Kölliker etc.,
traduit ce fait par les mots: „le trajet des fibres de conduction
motrices est constitue par deux neuron (unites nerveuses cellulo-
fibrillaires), qui se rencontrent pour entrer en relation au niveau
des cellules dites motrices des cornes ant^rieures.^^ La diff^rence
essentielle de ces deux sortes de paralysies, en clinique, est la
suivante: La paralysie periphero-spinale est une paralysie detaillee^
la paralysie cerebrale est une paralysie en masse. Le type de la
premifere est la paralysie faciale dans la maladie de Bell, la para¬
lysie dans la poliomyelite aigue de l’enfance, etc. Or, dans ces
affections, chaque muscle, on pourrait dire chaque fibre muscu-
laire, peut etre paralysee individuellement et isoldment. Cela ne
depend que du sibge et de l’etendue de la lesion nerveuse, et il
n’y a pas de rbgle fixe pour que Tun des äements peripheriques
echappe ä la paralysie, tandis que l’autre en souffre d’une manibre
constante.
La paralysie cerebrale, au contraire, est toujours une affection
qui attaque une grande partie de la peripherie, une extrdmite,
un Segment de celle-ci, un appareil moteur compliqud. Jamais eile
n’affecte un muscle individuellement, par exemple le biceps du
bras, le tibial isolement, etc., et s’il y a des exceptions apparentes
ä cette rbgle (le ptosis cortical, par exemple), on voit bien qu’il
s’agit de muscles qui, a eux seuls, remplissent une fonction de
laquelle ils sont l’instrument unique.
Dans les paralysies cerebrales des extremites, on peut remarquer
que les segments peripheriques souffrent toujours plus que les
Segments rapproch^s du centre^ la main, par exemple, est plus
paralysie que l’epaule. II n’y a pas, que je sache, une paralysie
cerebrale isolee de l’öpaule, la main conservant sa motilite, tandis
ikttude comparative des paralysies motrices organiques et hysteriques 275
que le contraire est la rfegle dans les paralysies qui ne sont pas
complfetes.
Dans une etude critique sur l’aphasie, publiee en 1891, Zur
Auffassung der Aphasien^ Wien, 1891, j’ai täche de montrer que
la cause de cette difference importante entre la paralysie periphdro-
spinale et la paralysie cerebrale doit etre cherchee dans la stmc-
ture du systbme nerveux. Chaque element de la pdripherie corre-
spond ä un element dans Taxe gris, qui est, comme le dit
M. Charcot, son aboutissant nerveux; la peripherie est pour ainsi
dire projectde sur la substance grise de la moelle, point pour point,
element pour element. J’ai propose de denommer la paralysie
detaillde pdriphero-spinale, paralysie de projection. Mais il n’en est
pas de meme pour les relations entre les elements de la moelle
et ceux de l’ecorce. Le nombre des fibres conductrices ne suffirait
plus pour donner une seconde projection de la periphdrie sur
rdcorce. II faut supposer que les fibres qui vont de la moelle ä
l’ecorce ne representent plus chacune un seul element pdripheri-
que, mais plutot un groupe de ceux-ci et que meme, d’autre part,
un element peripherique peut correspondre ä plusieurs fibres con¬
ductrices spino-corticales. C’est qu’il y a un changement d’arrange-
ment qui a eu lieu au point de connexion entre les deux Segments
du systfeme moteur.
Alors, je dis la reproduction de la periphdrie dans l’dcorce n’est
plus une reproduction fiddle point par point, n’est plus une pro¬
jection vdritable; c’est une relation par des fibres, pour ainsi dire
reprdsentatives et je propose, pour la paralysie cdrdbrale, le nom
de paralysie de representation.
Naturellement, quand la paralysie de projection est totale et
d’une grande dtendue, eile est aussi une paralysie en masse, et
son grand caractdre distinctif est effacd. D’autre part, la paralysie
corticale, qui se distingue parmi les paralysies cdrdbrales par sa
plus grande aptitude ä la dissociation, prdsente cependant toujours
le caractdre d’une paralysie par reprdsentation.
276
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Les autres differences entre les paralysies de projection et de
reprdsentation sont bien connues^ je eite parmi eiles l’intdgrite de
la nutrition et de la reaction dlectrique qui se rattache ä la der-
nifere. Bien que tres importants dans la clinique, ces signes n’ont
pas la portde thdorique qu’il faut attribuer au premier caraetfere
diffdrentiel que nous avons releve, a savoir: paralysie detaillee ou
en masse,
On a assez souvent attribue ä Thystdrie la faculte de sunuler
les affections nerveuses organiques les plus diverses. II s’agit de
savoir si d’une fagon plus precise eile simule les caraetferes des
deux sortes de paralysies organiques, s’il y a des paralysies hysteri-
ques de projection et des paralysies hystdriques de representation,
comme dans la Symptomatologie organique. Ici, un premier fait
important se detache: Thystdrie ne simule jamais les paralysies
pdriphdro-spinales ou de projection^ les paralysies hystdriques parta-
gent seulement les caraetdres des paralysies organiques de reprdsen-
tation. C’est lä un fait bien intdressant, puisque la paralysie de
Bell, la paralysie radiale, etc., sont parmi les affections les plus
communes du systdme nerveux.
II est bon de faire observer ici, de manidre ä dviter toute con-
fusion, que je ne traite que de la paralysie hystdrique flasque et
non de la contracture hystdrique. II me parait impossible de sou-
mettre la paralysie et la contracture hystdriques aux memes rdgles.
Ce n’est que des paralysies hystdriques flasques qu’on peut soutenir
qu’elles n’affectent jamais un seul muscle, excepte le cas oü ce
muscle est Tinstrument unique d’une fonction, qu’elles sont tou-
jours des paralysies en masse, et qu’elles correspondent sous ce
rapport ä la paralysie de reprdsentation, ou cdrdbrale organique.
En outre, en ce qui concerne la nutrition des parties paralysdes
et leurs rdactions dlectriques, la paralysie hystdrique prdsente les
memes caraetdres que la paralysie cdrdbrale organique.
Si la paralysie hystdrique se rattache ainsi ä la paralysie cdrd¬
brale et particulidrement a la paralysie corticale, qui prdsente une
ittude comparative des paralysies motrices organiques et hysteriques 277
plus grande facilite de dissociation, eile ne manque pas de s’en
distinguer par des caracteres importants. D’abord eile n’est pas
soumise a cette rfegle, constante dans les paralysies cerebrales organi¬
ques, a savoir que le segment peripherique est toujours plus affecte
que le segment central. Dans l’hysterie, l’epaule ou la cuisse peu-
vent etre plus paralysees que la main ou le pied. Les mouve-
ments peuvent venir dans les doigts tandis que le segment central
est encore absolument inerte. On n’a pas la moindre difficulte de
produire artificiellement une paralysie isolee de la cuisse, de la
jambe etc., et on peut assez souvent retrouver, en clinique, ces
paralysies isolees, en contradiction avec les rfegles de la paralysie
organique cerebrale.
Sous ce rapport important, la paralysie hysterique est pour ainsi
dire intermediaire entre la paralysie de projection et la paralysie
de repr&entation organique. Si eile ne possfede pas tous les carac-
tferes de dissociation et d’isolement propres ä la premifere, eile n’est
pas, tant s’en faut, sujette aux strictes lois qui regissent la der-
ni^re, la paralysie cerebrale. Ces restrictions faites, on peut soutenir
que la paralysie hysterique est aussi une paralysie de reprdsen-
tation, mais d’une repr^sentation speciale dont la characteristique
reste a trouver.^
II
Pour avancer dans cette direction je me propose d’etudier les
autres traits distinctifs entre la paralysie hysterique et la paralysie
corticale, type le plus parfait de la paralysie cerebrale organique.
1) Chemin faisant, je ferai remarquer que ce caractere important de la paralysie
hysterique de la jambe que M. Charcot a releve d’apr^s Todd, ä savoir que l’hysteri-
que traine la jambe comme une masse morte au lieu d’executer la circumduction
avec la hauche que fait rhemipldgique ordinaire, s’explique facilement par la pro-
priete de la nevrose que j’ai mentionne. Pour l’hemiplegie organique, le partie cen¬
trale de l’extremite est toujours un peu indemne, le malade peut remuer la hauche
et il en fait usage pour ce mouvement de circumduction, qui fait avancer la jambe.
Dans l’hysterie, la partie centrale (la hauche) ne jouit pas de ce privil^ge, la para¬
lysie y est aussi compl^te que dans la partie peripherique et en consequence, la
jambe doit etre trainee en masse.
278
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Le premier de ces caractferes distinctifs, nous Favons deja men-
tionne, c’est que la paralysie hysterique peut etre beaucoup plus
dissociee, systematisee que la paralysie cerebrale. Les symptomes
de la paralysie organique se retrouvent comme morceles dans
Fhysterie. De Fhemiplegie commune organique (paralysie du
membre superieur et inferieur et du facial inferieur) Fhysterie
ne reproduit que la paralysie des membres et dissocie meme assez
souvent, et avec la plus grande facilite, la paralysie du bras de
celle de la jambe sous forme de monoplegies. Du syndrome de
Faphasie organique, eile reproduit Faphasie motrice a Fetat d’isole-
ment, et ce qui est chose inoui’e dans Faphasie organique, eile
peut creer une aphasie totale (motrice et sensitive) pour teile
langue, sans attaquer le moins du monde la faculte de comprendre
et d’articuler teile autre, comme je Fai observd dans quelques cas
inedits. Ce meme pouvoir de dissociation se manifeste dans les
paralysies isolees d’un segment de membre avec integrite complbte
des autres parties du meme membre, ou encore dans Fabolition
complbte d’une fonction (abasie, astasie) avec integrite d’une autre
fonction executee par les memes Organes. Cette dissociation est
d’autant plus frappante, quand la fonction respectee est la plus
complexe. Dans la Symptomatologie organique, quand il y a affai-
blissement inegal de plusieurs fonctions, c’est toujours la fonction
la plus complexe, celle d’une acquisition posterieure, qui est la
plus atteinte en consequence de la paralysie.
La paralysie hysterique presente de plus un autre caractbre qui
est comme la signature de la nevrose et qui vient s’ajouter au
premier. En effet, comme je Fai entendu dire ä M. Charcot,
Fhysterie est une maladie ä manifestations excessives, ayant une
tendance ä produire ses symptomes avec la plus grande intensite
possible. C’est un caractfere qui ne se montre pas seulement dans
les paralysies, mais aussi dans les contractures et les anesthesies.
On sait jusqu’ä quel degre de distorsion peuvent aller les contrac¬
tures hysteriques, qui sont presque sans egales dans la sympto-
iltude comparative des paralysies motrices organiques et hysteriques 279
matologie organique. On sait aussi combien sont frequentes dans
l’hyst^rie les anesthesies absolues, profondes, dont les lesions organi¬
ques ne peuvent reproduire qu’une faible esquisse. II en est de
meme pour les paralysies. Elles sont souvent on ne peut plus
absolues; l’aphasique ne proffere pas un mot, tandis que l’aphasi-
que organique garde presque toujours quelques syllabes, le „oui
et non^^, un juron, etc.; le bras paralyse est absolument inerte, etc.
Ce caractfere est trop bien connu pour y persister longuement.
Au contraire, on sait que, dans la paralysie organique, la paresie
est toujours plus frequente que la paralysie absolue.
La paralysie hysterique est donc d’une limitation exacte et d’une
intensite excessive, eile possfede ces deux qualites ä la fois et c’est
en cela qu’elle contraste le plus avec la paralysie cerebrale organi¬
que, dans laquelle, d’une manifere constante, ces deux caracteres
ne s'associent pas. II existe aussi des monopl^gies dans la Sympto¬
matologie organique, mais celles-ci sont presque toujours des mono-
pl^gies a potiori et non exactement delimitees. Si le bras se trouve
paralyse en consequence d’une lesion corticale organique, il y a
presque toujours aussi atteinte concomitante moindre du facial et
de la jambe, et si cette complication ne se voit plus a un moment
donne, eile a cependant bien existe au commencement de l’affec-
tion. La monoplegie corticale est, ä vrai dire, toujours une hemi-
plegie dont teile ou teile partie est plus ou moins effac^e, mais
toujours reconnaissable. Pour aller plus loin, supposons que la
paralysie n’ait affecte aucune autre partie que le bras, que ce soit
une monoplegie corticale pure; alors on voit que la paralysie est
d’une intensite moderee. Aussitot que cette monoplegie augmen-
tera en intensite, qu’elle deviendra une paralysie absolue, eile
perdra son caractfere de monoplegie pure et s’accompagnera de
troubles moteurs dans la jambe ou la face. Elle ne peut pas devenir
absolue et rester delimitee a la fois.
C’est ce que la paralysie hysterique peut, au contraire, fort bien
r^aliser, comme la clinique le montre chaque jour. Elle affecte
28o
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
par exemple le bras d’une fagon exclusive, on n’en trouve pas
trace dans la jambe ou la face. De plus, au niveau du bras, eile
est aussi forte qu’une paralysie peut l’etre, et c’est lä une diffe-
rence frappante avec la paralysie organique, difference qui prete
grandement ä penser.
Naturellement, il y a des cas de paralysie hysterique dans les-
quels rintensite n’est pas excessive et oü la dissociation n’offre
rien de remarquable. Ceux-ci, on les reconnait au moyen d’autres
caractferes^ mais ce sont des cas qui ne portent pas l’empreinte
typique de la nevrose et qui, ne pouvant en rien nous renseigner
sur sa nature ne presentant point d’int^ret au point de vue qui
nous occupe ici.
Ajoutons quelques remarques d’une importance secondaire, qui
meme depassent un peu les limites de notre sujet.
Je constaterai d’abord que les paralysies hysteriques s’accompa-
gnent beaucoup plus souvent de troubles de la sensibilite que les
paralysies organiques. En general, ceux-ci sont plus profonds et
plus frequents dans la nevrose que dans la Symptomatologie organi¬
que. Rien de plus commun que l’anesthesie ou l’analg&ie hysteri¬
que. Qu’on se rappelle par contre avec quelle tenacitd la sensi¬
bilite persiste en cas de lesion nerveuse. Si l’on sectionne un nerf
peripherique, l’anesthesie sera moindre en etendue et intensite
qu’on ne s’y attend. Si une lesion inflammatoire attaque les nerfs
spinaux ou les centres de la moelle, on trouvera toujours que la
motilite souffre en premier lieu et que la sensibilite est epargnee
ou seulement affaiblie, car il persiste toujours quelque part des
elements nerveux qui ne sont pas complfetement detruits. En cas
de lesion cerebrale, on connait la frequence et la duree de l’hemi-
plegie motrice, tandis que l’hemianesthesie concomitante est in-
distincte, fugace et ne se trouve pas dans tous les cas. Il n’y a
que quelques localisations tout ä fait speciales qui puissent pro-
duire une affection de la sensibilite intense et durable (carrefour
sensitif), et meme ce fait n’est pas exempt de doutes.
l^tude comparative des paralysies motrices organiques et hysteriques 281
Cette maniere d’etre de la sensibilite, differente dans les lesions
organiques et dans l’hysterie, n’est gufere explicable aujourd’hui.
II semble qu’il y ait la un problöme dont la solution nous ren-
seignerait peut-etre sur la nature intime des choses.
Un autre point qui me parait digne d’etre releve, c’est qu’il
y a quelques formes de paralysie cerebrale qui ne se trouvent
pas r^alis^es dans l’hysterie, pas plus que les paralysies p^riphero-
spinales de projection. II faut citer en premier lieu la paralysie
du facial inferieur, la manifestation la plus frequente d’une affec-
tion organique du cerveau et, si je me permets de passer dans
les paralysies sensorielles pour un moment, l’hemianopsie laterale
homonyme. Je sais que c’est presque une gageure que de vouloir
affirmer que tel ou tel Symptome ne se trouve pas dans l’hysterie,
quand les recherches de M. Charcot et de ses eleves y decouvrent,
on pourrait dire journellement, des symptomes nouveaux qu’on
n’avait point soupgonnes jusque-lä. Mais il me faut prendre les
choses comme elles sont actuellement. La paralysie faciale hysterique
est fortement contestee par M. Charcot et meme, si on croit ceux
qui en sont partisans, c’est un phenomene d’une grande rarete.
L’h^mianopsie n’a pas encore ete vue dans l’hysterie et, je pense,
eile ne le sera jamais.
Maintenant, d’ou vient-il que les paralysies hysteriques, tout en
Simulant de pres les paralysies corticales, s’en ecartent par les traits
distinctifs que j’ai täche d’enumerer, et quel est le caractfere ge¬
neral de la representation speciale auquel il faut les rattacher?
La reponse ä cette question contiendrait une bonne et importante
partie de la theorie de la nevrose.
III
%
Il n’y a pas le moindre doute sur les conditions qui dominent
la Symptomatologie de la paralysie cdrebrale. Ce sont les faits de
l’anatomie, la construction du systbme nerveux, la distribution
de ses vaisseaux et la relation entre ces deux sdries de faits et
282
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
les circonstances de la lesion. Nous avons dit que le nombre
moindre des fibres qui vont de la moelle au cortex en compa-
raison avec le nombre des fibres qui vont de la peripherie k la
moelle, est la base de la diff^rence entre la paralysie de projec-
tion et celle de representation. De meme, chaque detail clinique
de la paralysie de representation peut trouver son explication dans
un detail de la structure cerdbrale et vice versa nous pouvons
deduire la construction du cerveau des caractferes cliniques des
paralysies. Nous croyons ä un parallelisme parfait entre ces deux
s^ries.
Ainsi s’il n’y a pas une grande facilite de dissociation pour la
paralysie cerebrale commune, c’est parce que les fibres de con-
duction motrices sont trop rapprochees sur une longue partie de
leur trajet intrac^rebral pour etre lesees isolement. Si la para¬
lysie corticale montre plus de tendance aux monoplegies, c’est
parce que le diamfetre du faisceau conducteur brachial, crural, etc.,
va en croissant jusqu’ä l’ecorce. Si de toutes les paralysies cor-
ticales celle de la main est la plus complfete, cela vient, croyons-
nous, du fait, que la relation croisee entre l’hemisphfere et la
Peripherie est plus exclusive pour la main que pour toute autre
partie du corps. Si le segment peripherique d’une extremite
souffre plus de la paralysie que le segment central, nous suppo-
sons que les fibres repräsentatives du segment peripherique sont
beaucoup plus nombreuses que celles du segment central, de
Sorte que l’influence corticale devient plus importante pour le
premier qu’elle n’est pour le dernier. Si les lesions un peu
etendues de l’ecorce ne reussissent pas ä produire des monopldgies
pures, nous en concluons que les centres moteurs sur l’ecorce ne
sont pas nettement separes les uns des autres par des territoires
neutres, ou qu’il y a des actions en distance (Fernwirkungen)
qui anuUeraient l’effet d’une Separation exacte des centres.
De meme s’il y a dans l’aphasie organique, toujours un me-
lange de troubles de diverses fonctions, ga s’explique par le fait
iltude comparative des paralysies motrices organiques et hysteriques 283
que des branches de la meme artfere nourrissent tous les centres
du langage, ou si Ton accepte ropinion enoncee dans mon etude
critique sur l’aphasie, parce qu’il ne s’agit pas de centres separds,
mais d’un territoire continu d’association. En tout cas, il existe
toujours une raison tiree de l’anatomie.
Les associations remarquables qu’on observe si souvent dans
la cliniques des paralysies corticales: aphasie motrice et hemiplegie
droite, alexie et hemianopsie droite, s’expliquent par le voisinage
des centres leses. L’hemianopsie meme, Symptome bien curieux et
etranger ä l’esprit non scientifique, ne se comprend que par
l’entre-croisement des fibres du nerf optique dans le chiasma 5
eile en est Fexpression clinique, comme tous les d^tails des
paralysies cerebrales sont Fexpression clinique d’un fait ana-
tomique.
Comme il ne peut y avoir qu’une seule anatomie cerebrale qui
soit la vraie et comme eile trouve son expression dans les carac-
ihres cliniques des paralysies cerebrales, il est evidemment im-
possible que cette anatomie puisse expliquer les traits distinctifs
de la paralysie hysterique. Pour cette raison, il n’est pas permis
de tirer au sujet de Fanatomie cerdbrale des conclusions basdes
sur la Symptomatologie de ces paralysies.
Assurement il faut s’adresser ä la nature de la lesion pour
obtenir cette explication difficile. Dans les paralysies organiques,
la nature de la lesion joue un role secondaire, ce sont plutot
Fetendue et la localisation de la lesion, qui dans les conditions
donndes de structure du systbme nerveux produisent les carac-
tferes de la paralysie organique, que nous avons releves. Quelle
pourrait etre la nature de la l&ion dans la paralysie hysterique,
qui ä eile seule domine la Situation, independamment de la
localisation, de Fdtendue de la lesion et de Fanatomie du systbme
nerveux ?
M. Charcot nous a enseigne assez souvent que c’est une lesion
corticale mais purement dynamique ou fonctionelle.
284
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
C’est une thhse dont on comprend bien le cote negatif. Cela
equivaut ä affirmer qu’on ne trouvera pas de changements de
tissus appreciables a l’autopsie ^ mais ä un point de vue plus
positif, -son Interpretation est loin d’etre ä l’abri de l’equivoque.
Qu’est-ce donc qu’une lesion dynamique? Je suis bien sür que
beaucoup de ceux qui lisent les oeuvres de M. Charcot, croient
que la lesion dynamique est bien une lesion, mais une Idsion
dont on ne retrouve pas la trace dans le cadavre, comme un
oedbme, une andmie, une hyperemie active. Mais ce sont lä, bien
qu’elles ne persistent pas necessairement apres la mort, qu’elles
soient legbres et fugaces, des lesions organiques vraies. II est ne-
cessaire que les paralysies produites par les lesions de cet ordre,
partagent en tout les caracteres de la paralysie organique. L’oedbme,
l’anemie ne pourraient, plutot que l’hemorragie et le ramollis-
sement, produire la dissociation et Tintensite des paralysies hyste-
riques. La seule difference serait que la paralysie par l’oedbme,
par la constriction vasculaire etc., doit etre moins durable que
la paralysie par destruction du tissu nerveux. Toutes les autres
conditions leur sont communes et l’anatomie du systbme ner¬
veux determinera les proprietes de la paralysie aussi bien dans
le cas d’anemie fugace que dans le cas d’anemie permanente et
definitive.
Je ne crois pas que ces remarques soient tout ä fait gratuites.
Si on lit „qu’il doit y avoir une lesion hysterique^^ dans tel ou
tel centre, le meme dont la lesion organique produirait le Syn¬
drome organique correspondant, si Ton se souvient qu’on s’est
habitue a localiser la lesion hysterique dynamique de meine
maniere que la lesion organique, on est porte ä croire que sous
l’expression „lesion dynamique“ se Cache l’idee d’une lesion comme
l’oedbme, l’anemie, qui, en verite, sont des affections organiques passa-
gbres. J’affirme par contre que la lesion des paralysies hysteriques
doit etre tout a fait independante de l’anatomie du systbme ner¬
veux, puisque Vhysterie se comporte dans ses paralysies et autres
l&tude comparative des paralysies motrices organiques et hysteriques 285
manifestations comme si Vanatomie rüexistait pas, ou comme si
eile rüen avait nulle connaissance.
Un bon nombre des caractbres des paralysies hysteriques justi-
fient en verite cette affirmation. L’hysterie est ignorante de la
distribution des nerfs et c’est pour cette raison qu’elle ne simule
pas les paralysies periphero-spinales ou de projection; eile ne
connait pas le chiasma des nerfs optiques et consequemment eile ne
produit pas l’hemianopsie. Elle prend les Organes dans le sens
vulgaire, populaire du nom qu’ils portent: la jambe est la jambe
jusqu’ä l’insertion de la hanche, le bras est l’extremite superieure
comme eile se dessine sous les vetements. II n’y a pas de raison
pour joindre ä la paralysie du bras la paralysie de la face. L’hy-
sterique qui ne sait pas parier n’a pas de motif pour oublier
l’intelligence du langage, puisque aphasie motrice et surdite verbale
n’ont aucune parente dans la notion populaire, etc. Je ne peux
que m’associer pleinement sur ce point aux vues que M. Janet a
avancees dans les derniers numeros des Archives de Neurologie'^
les paralysies hysteriques en donnent la preuve aussi bien que
les anesthesies et les symptomes psychiques.
IV
Je tächerai enfin de developper comment pourrait etre la
lesion qui est la cause des paralysies hysteriques. Je ne dis
pas que je montrerai comment eile est en fait^ il s’agit seule-
ment d’indiquer la ligne de pensde qui peut conduire ä une
conception qui ne contredit pas aux proprietes de la paralysie
hyst^rique, en tant qu’elle diffbre de la paralysie organique
cerebrale.
Je prendrai le mot „lesion fonctionnelle ou dynamique^^ dans
son sens propre: „alteration de fonction ou de dynamisme^^;
alteration d’une propriete fonctionnelle. Une teile alteration serait
par exemple une diminution de l’excitabilite ou d’une qualite
286
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
physiologique qui dans l’etat normal reste constante ou varie
dans des limites determines.
Mais dira-t-on, l’altöration fonctionnelle n’est pas autre chose,
eile n’est qu’un autre cote de l’alteration organique. Supposons
que le tissu nerveux soit dans un etat d’anemie passagfere, son
excitabilite sera diminu^e par cette circonstance, il n’est pas
possible d’eviter d’envisager les lesions organiques par ce moyen.
J’essaierai de montrer qu’il peut y avoir alteration fonction¬
nelle Sans lesion organique concomitante, sans l^sion grossifere
palpable du moins, meme au moyen de l’analyse la plus d^licate.
En d’autres termes, je donnerai un exemple approprie d’une
alteration de fonction primitive; je ne demande pour cela que
la permission de passer sur le terrain de la psychologie, qu’on
ne saurait eviter quand on traite de l’hysterie.
Je dis avec M. Janet, que c’est la conception banale, populaire
des Organes et du corps en general, qui est en jeu dans les
paralysies hysteriques comme dans les anesthesies, etc. Cette con¬
ception n’est pas fondee sur une connaissance approfondie de
l’anatomie nerveuse mais sur nos perceptions tactiles et surtout
visuelles. Si eUe determine les caractbres de la paralysie hysterique,
celle-la doit bien se montrer ignorante et independante de toute
notion de l’anatomie du systbme nerveux. La lesion de la paralysie
hysterique sera donc une alteration de la conception, de l’idee du
bras, par exemple. Mais de quelle Sorte est cette alteration pour
produire la paralysie?
Consideree psychologiquement, la paralysie du bras consiste
dans le fait que la conception du bras ne peut pas entrer en
association avec les autres idees qui constituent le moi dont le
corps de l’individu forme une partie importante. La lesion serait
donc Vabolition de Vaccessibilite associative de la conception du
bras. Le bras se comporte comme s’il n’existait pas pour le jeu
des associations. Assurement si les conditions materielles, qui cor-
respondent ä la conception du bras, se trouvent profondement
tltude comparative des paralysies motrices organiques et hysteriques 287
alter^es, cette conception sera perdue aussi, mai j’ai a montrer
qu’elle peut etre inaccessible sans qu’elle soit ddtruite et sans que
son substratum mat^riel (le tissu nerveux de la region correspon-
dante de l’dcorce) soit endommage.
Je commencerai par des exemples tires de la vie sociale. On
raconte l’histoire comique d’un sujet loyal qui ne voulut plus
laver sa main, parce que son souverain l’avait touchee. La relation
de cette main avec l’idee du roi semble si importante ä la vie
psychique de l’individu, qu’il se refuse ä faire entrer cette main
en d’autres relations^ Nous obdissons ä la meme impulsion si nous
cassons le verre dans lequel nous avons bu ä la santd de jeunes
marids^ les anciennes tribus sauvagus brülant le cheval, les armes
et meme les femmes du chef mort, avec son cadavre, obeissaient
ä cette idde que nul ne devait plus le toucher aprfes lui. Le
motif de toutes ces actions est bien clair. La valeur affective que
nous attribuons ä la premiere association d’un objet repugne ä
la faire entrer en association nouvelle avec un autre objet et par
suite rend l’idee de cet objet inaccessible ä l’association.
Ce n’est pas une simple comparaison, c’est presque la chose
identique, si nous passons dans le domaine de la psychologie des
conceptions. Si la conception du bras se trouve engagde dans
une association d’une grande valeur affective, eile sera inaccessible
au jeu libre des autres associations. Le bras sera paralyse en
Proportion de la persistance de cette valeur affective ou de sa
diminution par des moyens psychiques appropries. C’est la solution
du problfeme que nous avons pose, car, dans tous les cas de pa-
ralysie hysterique, on trouve que Vor gone paralyse ou la fonction
abolie est engage dans une association subconsciente qui est munie
dune grande valeur affective^ et Von peut montrer que le bras
devient libre aussitot que cette valeur affective est effacee. Alors
la conception du bras existe dans le substratum matdriel, mais
eile n’est pas accessible aux associations et impulsions conscientes
parce que toute son affinite associative, pour ainsi dire, est saturee
288
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
dans une association subconsciente avec le Souvenir de l’dvenement,
du trauma, qui a produit cette paralysie.
C’est M. Charcot qui nous a enseigne le premier qu’il faut
s’adresser ä la psychologie pour l’explication de la nevrose hy-
st^rique. Nous avons suivi son exemple, Breuer et moi, dans un
memoire preliminaire (Über den psychischen Mechanismus hy¬
sterischer Phänomene^ Neurolog, Zentralblatt^ Nr. i und 2, 1895).
Nous demontrons dans ce memoire que les symptomes perma-
nents de l’hysterie dite non traumatique s’expliquent (ä part les
stigmates) par le meme mecanisme que Charcot a reconnu dans
les paralysies traurnatiques. Mais nous donnons aussi la raison pour
laquelle ces symptomes persistent et peuvent etre gueris par un
proc^de special de psychotherapie hypnotique. Chaque evenement,
chaque Impression psychique est munie d’une certaine valeur
affective (Affektbetrag)^ dont le moi se delivre ou par la voie
de reaction motrice ou par un travail psychique associatif. Si
rindividu ne peut ou ne veut s’acquitter du surcroit, le Souvenir
de cette impression acquiert l’importance d’un trauma et devient
la cause de symptomes permanents d’hysterie. L’impossibilitd de
räimination s’impose quand l’impression reste dans le subcons-
cient. Nous avons appele cette theorie: Das Abreagieren der
Reizzuwächse.
En resume, je pense qu’il est bien en accord avec notre vue
generale sur l’hysterie, teile que nous l’avons pu former d’apres
l’enseignement de M. Charcot, que la lesion dans les paralysies
hysteriques ne consiste pas en autre chose que dans l’inaccessibilite
de la conception de l’organe ou de la fonction pour les associa-
tions du moi conscient, que cette alteration purement fonctionelle
(avec integrite de la conception meme) est causee par la fixation
de cette conception dans une association subconsciente avec le
Souvenir du trauma et que cette conception ne devient pas libre
et accessible tant que la valeur affective du trauma psychique
n’a pas ete eliminee par la reaction motrice adequate ou par le
iltude comparative des paralysies motrices organiques et hysteriques 289
travail psychique conscient. Mais meme si ce mecanisme n’a pas
lieu, s’il faut pour la paralysie hysterique toujours une id^e
autosuggestive directe comme dans les cas traumatiques de
M. Charcot, nous avons reussi a montrer de quelle nature la
lesion ou plutot ralteration dans la paralysie hysterique devrait
etre, pour expliquer ses differences avec la paralysie organique
cerebrale.
Freud, I.
19
DIE ABWEHR-NEUROPSYCHOSEN
Versuch einer psychologischen Theorie
der akquirierten Hysterie^ vieler Phobien und Zwangsvorstellungen
und gewisser halluzinatorischer Psychosen
Zuerst erschienen im ^Neurologischen Zentral-
blatt^^, 18^4, Nr, 10 und ii.
Bei eingehendem Studium mehrerer mit Phobien und Zwangsvor¬
stellungen behafteter Nervöser hat sich mir ein Erklärungversuch dieser
Symptome aufgedrängt, der mir dann gestattete, die Herkunft solcher
krankhafter Vorstellungen in neuen, anderen Fällen glücklich zu
erraten, und den ich darum der Mitteilung und weiteren Prüfung
würdig erachte. Gleichzeitig mit dieser „psychologischen Theorie
der Phobien und Zwangsvorstellungen^^ ergab sich aus der
Beobachtung der Kranken ein Beitrag zur Theorie der Hysterie oder
vielmehr eine Abänderung derselben, welche einem wichtigen, der
Hysterie wie den genannten Neurosen gemeinsamen Charakter Rech¬
nung zu tragen scheint. Ferner hatte ich Gelegenheit, in den psycho¬
logischen Mechanismus einer Form von unzweifelhaft psychischer
Erkrankung Einsicht zu nehmen, und fand dabei, daß die von mir
versuchte Betrachtungsweise eine einsichtliche Verknüpfung zwischen
diesen Psychosen und den beiden angeführten Neurosen herstellt.
Eine Hilfshypothese, deren ich mich in allen drei Fällen bedient
habe, werde ich zum Schlüsse dieses Aufsatzes hervorheben.
Die Abwehr-Neuropsychosen
291
I
Ich beginne mit jener Abänderung, die mir an der Theorie
der hysterischen Neurose erforderlich scheint:
Daß der Symptomkomplex der Hysterie, soweit er bis jetzt
ein Verständnis zuläßt, die Annahme einer Spaltung des Bewußt¬
seins mit Bildung separater psychischer Gruppen rechtfertigt^
dürfte seit den schönen Arbeiten von P. Ja net, J. Breuer u. a.
bereits zur allgemeinen Anerkennung gelangt sein. Weniger
geklärt sind die Meinungen über die Herkunft dieser Bewußt¬
seinsspaltung und über die Rolle, welche dieser Charakter im
Gefüge der hysterischen Neurose spielt.
Nach der Lehre von Jan et^ ist die Bewußtseinsspaltung ein
primärer Zug der hysterischen Veränderung. Sie beruht auf einer
angeborenen Schwäche der Fähigkeit zur psychischen Synthese^
auf der Enge des „Bewußtseinsfeldes“ (champ de conscience)^
welche als psychisches Stigma die Degeneration der hysterischen
Individuen bezeugt.
Im Gegensatz zur Anschauung Janets, welche mir die mannig¬
faltigsten Einwände zuzulassen scheint, steht jene, die J. Breuer
in unserer gemeinsamen Mitteilung^ vertreten hat. Nach Breuer
ist „Grundlage und Bedingung“ der Hysterie das Vorkommen
von eigentümlichen traumartigen Bewußtseinszuständen mit ein¬
geschränkter Assoziationsfähigkeit, für welche er den Namen
„hypnoide Zustände“ vorschlägt. Die Bewußtseinsspaltung ist
dann eine sekundäre, erworbene5 sie kommt dadurch zustande,
daß die in hypnoiden Zuständen aufgetauchten Vorstellungen vom
assoziativen Verkehr mit dem übrigen Bewußtseinsinhalte abge¬
schnitten sind.
1) Etat mental des hysteriques. Paris 1895 und 1894. — Quelques definitions recentes
de Physt^rie. Arch. de Neurol. 1895. XXXV—VI.
2 ) Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene. Dieses Zentralblatt,
1^93? Nr. 1 und 2 . [Als einleitender Teil der „Studien über Hysterie“ enthalten in
diesem Bande der Gesamtausgabe.]
19^
2 g2
Frühe Arhiiten zur Neurosenlehre
Ich kann nun den Nachweis zweier weiterer extremer Formen
von Hysterie erbringen, bei welchen die Bewußtseinsspaltung
unmöglich als eine primäre im Sinne von Janet gedeutet werden
kann. Bei der ersteren dieser Formen gelang es mir wiederholt,
zu zeigen, daß die Spaltung des Bewußtseinsinhaltes die
Folge eines Willensaktes des Kranken ist, d. h. durch
eine Willensanstrengung eingeleitet wird, deren Motiv man an¬
geben kann. Ich behaupte damit natürlich nicht, daß der Kranke
eine Spaltung seines Bewußtseins herbeizuführen beabsichtigt5 die
Absicht des Kranken ist eine andere, sie erreicht aber nicht ihr
Ziel, sondern ruft eine Spaltung des Bewußtseins hervor.
Bei der dritten Form der Hysterie, die wir durch psychische
Analyse von intelligenten Kranken erwiesen haben, spielt die Be¬
wußtseinsspaltung eine geringfügige, vielleicht überhaupt keine
Rolle. Es sind dies jene Fälle, in denen bloß die Reaktion auf
traumatische Reize unterblieben ist, die dann auch durch „ Ab¬
reagierenerledigt und geheilt werden, die reinen Retentions¬
hysterien.
Für die Anknüpfung an die Phobien und Zwangsvorstellungen
habe ich es hier nur mit der zweiten Form der Hysterie zu tun,
die ich aus bald ersichtlichen Gründen als Abwehrhysterie be¬
zeichnen und duich diesen Namen von den Hypnoid- und
Retentionshysterien sondern will. Ich kann meine Fälle von Ab¬
wehrhysterie auch vorläufig als „akquirierteHysterie aufführen,
weil bei ihnen weder von schwerer hereditärer Belastung, noch
von eigener degenerativer Verkümmerung die Rede war.
Bei den von mir analysierten Patienten hatte nämlich psychische
Gesundheit bis zu dem Moment bestanden, in dem ein Fall von
Unverträglichkeit in ihrem Vorstellungsleben vorfiel, d. h.
bis ein Erlebnis, eine Vorstellung, Empfindung an ihr Ich heran
trat, welches einen so peinlichen Affekt erweckte, daß die Person be-
1) Vgl. unsere gemeinsame Mitteilung.
Die Abwehr-Neuropsychosen
293
schloß, daran zu vergessen, weil sie sich nicht die Kraft zutraute,
den Widerspruch dieser unverträglichen Vorstellung mit ihrem
Ich durch Denkarbeit zu lösen.
Solche unverträgliche Vorstellungen erwachsen bei weiblichen
Personen zumeist auf dem Boden des sexualen Erlebens und
Empfindens, und die Erkrankten erinnern sich auch mit aller
wünschenswerten Bestimmtheit ihrer Bemühungen zur Abwehr,
ihrer Absicht, das Ding „fortzuschieben^^, nicht daran zu denken,
es zu unterdrücken. Hieher gehörige Beispiele aus meiner Er¬
fahrung, deren Anzahl ich mühelos vermehren könnte, sind
etwa: Der Fall eines jungen Mädchens, welches es sich verübelt,
während der Pflege ihres kranken Vaters an den jungen Mann
zu denken, der ihr einen leisen erotischen Eindruck gemacht
hat^ der Fall einer Erzieherin, die sich in ihren Herrn ver¬
liebt hatte, und die beschloß, sich diese Neigung aus dem
Sinne zu schlagen, weil sie ihr mit ihrem Stolze unverträglich
schien u. dgl m.^
Ich kann nun nicht behaupten, daß die Willensanstrengung,
etwas Derartiges aus seinen Gedanken zu drängen, ein patho¬
logischer Akt ist, auch weiß ich nicht zu sagen, ob und auf
welche Weise das beabsichtigte Vergessen jenen Personen ge¬
lingt, welche unter denselben psychischen Einwirkungen gesund
bleiben. Ich weiß nur, daß ein solches „Vergessen“ den von mir
analysierten Patienten nicht gelungen ist, sondern zu verschie¬
denen pathologischen Reaktionen geführt hat, die entweder eine
Hysterie oder eine Zwangsvorstellung, oder eine halluzinatorische
Psychose erzeugten. In der Fähigkeit, durch jene Willensanstren¬
gung einen dieser Zustände hervorzurufen, die sämtlich mit Be¬
wußtseinsspaltung verbunden sind, ist der Ausdruck einer patho¬
logischen Disposition zu sehen, die aber nicht notwendig mit
1) Diese Beispiele sind der noch nicht veröffentlichten ausführlichen Arbeit von
Breuer und mir über den psychischen Mechanismus der Hysterie entnommen.
[„Studien über Hysterie“.]
294
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
persönlicher oder hereditärer „Degeneration“ identisch zu sein
braucht.
Über den Weg, der von der Willensanstrengung des Patienten
bis zur Entstehung des neurotischen Symptoms führt, habe ich
mir eine Meinung gebildet, die sich in den gebräuchlichen
psychologischen Abstraktionen etwa so ausdrücken läßt: Die Auf¬
gabe, welche sich das abwehrende Ich stellt, die unverträgliche
Vorstellung als „azoaz arrivee^^ zu behandeln, ist für dasselbe direkt
unlösbar^ sowohl die Gedächtnisspur als auch der der Vor¬
stellung anhaftende Affekt sind einmal da und nicht mehr aus¬
zutilgen. Es kommt aber einer ungefähren Lösung dieser Auf¬
gabe gleich, wenn es gelingt, aus dieser starken Vorstellung
eine schwache zu machen, ihr den Affekt, die Erregungs¬
summe, mit der sie behaftet ist, zu entreißen. Die schwache
Vorstellung wird dann so gut wie keine Ansprüche an die
Assoziationsarbeit zu stellen haben^ die von ihr abgetrennte
Erregungssumme muß aber einer andern Verwendung
zugeführt werden.
Soweit sind die Vorgänge bei der Hysterie und bei den Phobien
und Zwangsvorstellungen die gleichen^ von nun an scheiden sich
die Wege. Bei der Hysterie erfolgt die Unschädlichmachung der
unverträglichen Vorstellung dadurch, daß deren Erregungs¬
summe ins Körperliche umgesetzt wird, wofür ich den
Namen der Konversion vorschlagen möchte.
Die Konversion kann eine totale oder partielle sein und erfolgt
auf jene motorische oder sensorische Intervention hin, die in
einem innigen oder mehr lockeren Zusammenhang mit dem
traumatischen Erlebnis steht. Das Ich hat damit erreicht, ^daß es
widerspruchsfrei geworden ist, es hat sich aber dafür mit einem
Erinnerungssymbol belastet, welches als unlösbare motorische Inner¬
vation oder als stets wiederkehrende halluzinatorische Sensation
nach Art eines Parasiten im Bewußtsein haust, und welches be¬
stehen bleibt, bis eine Konversion in umgekehrter Richtung statt-
Die Abwehr^Neuropsychosen
295
findet. Die Gedächtnisspur der verdrängten Vorstellung ist darum
doch nicht untergegangen, sondern bildet von nun an den Kern
einer zweiten psychischen Gruppe.
Ich will diese Anschauung von den psycho-physischen Vor¬
gängen bei der Hysterie nur noch mit wenigen Worten aus¬
führen: Wenn einmal ein solcher Kern für eine hysterische Ab¬
spaltung in einem „traumatischen Moment^^ gebildet worden ist,
so erfolgt dessen Vergrößerung in anderen Momenten, die man
„auxiliär traumatische^^ nennen könnte, sobald es einem neu
anlangenden Eindruck gleicher Art gelingt, die vom Willen her¬
gestellte Schranke zu durchbrechen, der geschwächten Vorstellung
neuen Affekt zuzuführen und für eine Weile die assoziative Ver¬
knüpfung beider psychischer Gruppen zu erzwingen, bis eine
neuerliche Konversion Abwehr schafft. — Der so bei der Hysterie
erzielte Zustand in der Verteilung der Erregung stellt sich dann
zumeist als ein labiler heraus; die auf einen falschen Weg (in
die Körperinnervation) gedrängte Erregung gelangt mitunter zur
Vorstellung zurück, von der sie abgelöst wurde, und nötigt dann
die Person zur assoziativen Verarbeitung oder zur Erledigung in
hysterischen Anfällen, wie der bekannte Gegensatz der Anfalle
und der Dauersymptome beweist. Die Wirkung der kathartischen
Methode Breuers besteht darin, daß sie eine solche Zurückleitung der
Erregung aus dem Körperlichen ins Psychische zielbewußt erzeugt,
um dann den Ausgleich des Widerspruches durch Denkarbeit und
die Abfuhr der Erregung durch Sprechen zu erzwingen.
Wenn die Bewußtseinsspaltung der akquirierten Hysterie auf
einem Willensakt beruht, so erklärt sich überraschend leicht die
merkwürdige Tatsache, daß die Hypnose regelmäßig das einge¬
engte Bewußtsein der Hysterischen erweitert und die abgespaltene
psychische Gruppe zugänglich macht. Wir kennen es ja als Eigen¬
tümlichkeit aller schlafähnlichen Zustände, daß sie jene Verteilung
der Erregung aufheben, auf welcher der „Wille^^ der bewußten
Persönlichkeit beruht.
296
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Wir erkennen demnach das für die Hysterie charakteristische
Moment nicht in der Bewußtseinsspaltung, sondern in der
Fähigkeit zur Konversion und dürfen als ein wichtiges Stück
der sonst noch unbekannten Disposition zur Hysterie die psycho¬
physische Eignung zur Verlegung so großer Erregungssummen
in die Körperinnervation anführen.
Diese Eignung schließt an und für sich psychische Gesundheit
nicht aus und führt zur Hysterie nur im Falle einer psychischen
Unverträglichkeit oder einer Aufspeicherung der Erregung. Mit
dieser Wendung nähern wir, Breuer und ich, uns den bekannten
Definitionen der Hysterie von Oppenheim^ und StrümpelH und
sind von Janet abgewichen, welcher der Bewußtseinsspaltung
eine übergroße Rolle in der Charakteristik der Hysterie zuweist.^
Die hier gegebene Darstellung darf den Anspruch erheben, daß
sie den Zusammenhang der Konversion mit der hysterischen Be¬
wußtseinsspaltung verstehen läßt.
II
Wenn bei einer disponierten Person die Eignung zur Kon¬
version nicht vorhanden ist und doch zur Abwehr einer uner¬
träglichen Vorstellung die Trennung derselben von ihrem Affekt
vorgenommen wird, dann muß dieser Affekt auf psychi¬
schem Gebiet verbleiben. Die nun geschwächte Vorstellung
bleibt abseits von aller Assoziation im Bewußtsein übrig, ihr frei
1) Oppenheim: Die Hysterie ist ein gesteigerter Ausdruck der Gemütsbewegmig.
Der „Ausdruck der Gemütsbewegimg“ stellt aber jenen Betrag psychischer Erregung
dar, der normalerweise eine Konversion erfährt.
2) Strümpell: Die Störung der Hysterie liegt im Psychophysischen, dort, wo
Körperliches und Seelisches miteinander Zusammenhängen.
5) Janet hat im zweiten Abschnitt seines geistvollen Aufsatzes „Quelques deh-
nitions etc.“ den Einwand, daß die Bewußtseinsspaltung auch den Psychosen und
der sogenannten Psychasthenie zukommt, selbst behandelt, aber nach meinem Er¬
messen nicht befriedigend gelöst. Dieser Einwand ist es wesentlich, der ihn dazu
drängt, die Hysterie für eine Degenerationsform zu erklären. Er kann aber die
hysterische Bewußtseinsspaltung durch keine Charakteristik genügend von der psy¬
chotischen u. dgl. sondern.
Die Ahwehr-Neuropsychosen
297
gewordener Affekt aber hängt sich an andere, an sich
nicht unverträgliche Vorstellungen an, die durch diese
„falsche Verknüpfung“ zu Zwangvorstellungen werden.
Dies ist in wenig Worten die psychologische Theorie der
Zwangsvorstellungen und Phobien, von der ich eingangs ge¬
sprochen habe.
Ich werde nun angeben, welche von den Stücken, die in
dieser Theorie gefordert sind, sich direkt nachweisen lassen, welche
andere ich ergänzt habe. Direkt nachweisbar ist außer dem End¬
punkt des Vorganges, eben der Zwangsvorstellung, zunächst die
Quelle, aus welcher der in falscher Verknüpfung befindliche
Affekt stammt. In allen von mir analysierten Fällen war es das
Sexualleben, welches einen peinlichen Affekt von genau der
nämlichen Beschaffenheit geliefert hatte, wie er der Zwangsvor¬
stellung anhing. Es ist theoretisch nicht ausgeschlossen, daß dieser
Affekt nicht gelegentlich auf anderem Gebiete entstehen könnte^
ich habe bloß mitzuteilen, daß eine andere Herkunft sich mir
bisher nicht ergeben hat. Übrigens versteht man es leicht, daß
gerade das Sexualleben die reichlichsten Anlässe zum Auftauchen
unverträglicher Vorstellungen mit sich bringt.
Nachweisbar ist ferner durch die unzweideutigsten Äußerungen
der Kranken die Willensanstrengung, der Versuch zur Abwehr,
auf den die Theorie Gewicht legt, und wenigstens in einer Reihe
von Fällen geben die Kranken selbst darüber Aufschluß, daß die
Phobie oder Zwangsvorstellung erst dann auftrat, nachdem die
Willensanstrengung scheinbar ihre Absicht erreicht hatte. „Mir
ist einmal etwas sehr Unangenehmes passiert, ich habe mich mit
Macht bemüht, es fortzuschieben, nicht mehr daran zu denken.
Endlich ist es mir gelungen, da bekam ich das andere, das ich seit¬
her nicht losgeworden bin.“ Mit diesen Worten bestätigte mir eine
Patientin die Hauptpunkte der hier entwickelten Theorie.
Nicht alle, die an Zwangsvorstellungen leiden, machen sich die
Herkunft derselben so klar. In der Regel bekommt man, wenn
298
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
man den Kranken auf die ursprüngliche Vorstellung sexueller
Natur aufmerksam macht, die Antwort: „Davon kann es ja doch
nicht kommen. Ich habe ja gar nicht viel daran gedacht. Einen
Moment war ich erschrocken, dann habe ich mich abgelenkt und
seither Ruhe davor gehabt. In dieser so häufigen Einwendung
liegt ein Beweis, daß die Zwangsvorstellung einen Ersatz oder
ein Surrogat der unverträglichen sexuellen Vorstellung darstellt
und sie im Bewußtsein abgelöst hat.
Zwischen der Willensanstrengung des Patienten, der es gelingt,
die unannehmbare sexuelle Vorstellung zu verdrängen, und dem
Auftauchen der Zwangsvorstellung, die, an sich wenig intensiv,
hier mit unbegreiflich starkem Affekt ausgestattet ist, klafft die
Lücke, welche die hier entwickelte Theorie ausfüllen will. Die
Trennung der sexuellen Vorstellung von ihrem Affekt und die
Verknüpfung des letzteren mit einer anderen, passenden, aber
nicht unverträglichen Vorstellung — dies sind Vorgänge, die
ohne Bewußtsein geschehen, die man nur supponieren, aber
durch keine klinisch-psychologische Analyse erweisen kann.
Vielleicht wäre es richtiger zu sagen: Dies sind überhaupt
nicht Vorgänge psychischer Natur, sondern physische Vorgänge,
deren psychische Folge sich so darstellt, als wäre das durch die
Redensarten: Trennung der Vorstellung von ihrem Affekt und
falsche Verknüpfung des letzteren, Ausgedrückte wirklich ge¬
schehen.
Neben den Fällen, die ein Nacheinander der sexuellen unver¬
träglichen Vorstellung und der Zwangsvorstellung beweisen, findet
man eine Reihe anderer, in denen gleichzeitig Zwangsvorstellungen
und peinlich betonte sexuelle Vorstellungen vorhanden sind.
Letztere „sexuelle Zwangsvorstellungen^^ zu heißen, geht nicht
gut an 5 es mangelt ihnen ein wesentlicher Charakter der Zwangs¬
vorstellungen^ sie erweisen sich als vollberechtigt, während die
Peinlichkeit der gemeinen Zwangsvorstellungen ein Problem für
den Arzt und den Kranken bildet. Soweit ich mir in Fälle dieser
Die Abwehr-Neuropsychosen
299
Art Einsicht verschaffen konnte, handelt es sich hier um eine
fortgesetzte Abwehr gegen beständig neu anlangende sexuelle Vor¬
stellungen, eine Arbeit also, die noch nicht zum Abschluß ge¬
kommen war.
Die Kranken verheimlichen häufig ihre Zwangsvorstellungen,
solange sie sich der sexuellen Abkunft derselben bewußt sind.
Wenn sie darüber klagen, so geben sie zumeist ihrer Verwun¬
derung darüber Ausdruck, daß sie dem betreffenden Affekt unter¬
liegen, daß sie sich ängstigen, bestimmte Impulse haben u. dgl.
Dem kundigen Arzt dagegen erscheint dieser Affekt berechtigt
und verständlich 5 er findet das Auffällige nur in der Verknüpfung
eines solchen Affekts mit einer hiefür nicht würdigen Vorstellung.
Der Affekt der Zwangsvorstellung erscheint ihm — mit anderen
Worten — als ein dislozierter oder transponierter, und
wenn er die hier niedergelegten Bemerkungen angenommen hat,
kann er für eine Reihe von Fällen von Zwangsvorstellung die
Rückübersetzung ins Sexuelle versuchen.
Zur sekundären Verknüpfung des frei gewordenen Affekts kann
jede Vorstellung benützt werden, die entweder ihrer Natur nach
mit einem Affekt von solcher Qualität vereinbar ist, oder die
gewisse Beziehungen zur unverträglichen hat, denen zufolge sie
als Surrogat derselben brauchbar erscheint. So z. B. wirft sich frei
gewordene Angst, deren sexuelle Herkunft nicht erinnert werden
soll, auf die gemeinen primären Phobien des Menschen vor Tieren,
Gewitter, Dunkelheit u. dgl., oder auf Dinge, die unverkennbar
mit dem Sexuellen in irgend einer Art assoziiert sind, auf das
Urinieren, die Defäkation, auf Beschmutzung und Ansteckung
überhaupt.
Der Vorteil, den das Ich erreicht, indem es zur Abwehr den
Weg der Transposition des Affekts einschlägt, ist ein weit
geringerer als bei der hysterischen Konversion psychischer Er¬
regung in somatische Innervation. Der Affekt, unter dem das Ich
gelitten hat, bleibt unverändert und unverringert nach wie vor.
300
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
nur daß die unverträgliche Vorstellung niedergehalten, vom Er¬
innern ausgeschlossen ist. Die verdrängten Vorstellungen bilden
wiederum den Kern einer zweiten psychischen Gruppe, die, wie
mir scheint, auch ohne Zuhilfenahme der Hypnose zugänglich ist.
Wenn bei den Phobien und Zwangsvorstellungen die auffälligen
Symptome ausbleiben, welche bei der Hysterie die Bildung einer
unabhängigen psychischen Gruppe begleiten, so rührt dies wohl
daher, daß im ersteren Falle die gesamte Veränderung auf psychi¬
schem Gebiete geblieben ist, die Beziehung zwischen psychischer
Erregung und somatischer Innervation keine Änderung erfahren hat.
Ich will das hier über die Zwangsvorstellungen Gesagte durch
einige Beispiele erläutern, die wahrscheinlich typischer Natur sind:
1) Ein junges Mädchen leidet an Zwangsvorwürfen. Las sie in
der Zeitung von Falschmünzern, so kam ihr der Gedanke, sie habe
auch falsches Geld gemacht^ war irgendwo von einem unbekannten
Täter eine Mordtat geschehen, so fragte sie sich ängstlich, ob sie
nicht diesen Mord begangen habe. Dabei war sie sich der Unge¬
reimtheit dieser Zwangsvorwürfe klar bewußt. Eine Zeitlang
gewann das Schuldbewußtsein solche Macht über sie, daß ihre
Kritik erstickt wurde und sie sich vor ihren Verwandten und vor
dem Arzt anklagte, sie habe alle diese Untaten wirklich begangen
(Psychose durch einfache Steigerung — Überwältigungspsy¬
chose). Ein scharfes Verhör deckte jetzt die Quelle auf, aus der
ihr Schuldbewußtsein stammte: Durch eine zufällige wollüstige
Empfindung angeregt, hatte sie sich von einer Freundin zur
Masturbation verleiten lassen und betrieb diese seit Jahren mit
dem vollen Bewußtsein ihres Unrechts und unter den heftigsten,
aber wie gewöhnlich nutzlosen Selbstvorwürfen. Ein Exzeß nach
dem Besuche eines Balles hatte die Steigerung zur Psychose her¬
vorgerufen. — Das Mädchen heilte nach einigen Monaten Be¬
handlung und strengster Überwachung.
2) Ein anderes Mädchen litt unter der Furcht, von Harndrang
überfallen zu werden und sich nässen zu müssen, seitdem ein
Die Abwehr-Neuropsychosen
501
solcher Drang sie wirklich einmal genötigt hatte, einen Konzert¬
saal während der Aufführung zu verlassen. Diese Phobie hatte sie
allmählich völlig genuß- und verkehrsunfähig gemacht. Sie fühlte
sich nur wohl, wenn sie ein Klosett in der Nähe wußte, zu dem
sie unauffällig gelangen konnte. Ein organisches Leiden, welches
dieses Mißtrauen in die Beherrschung der Blase gerechtfertigt
hätte, war ausgeschlossen. Der Harndrang war zu Hause unter
ruhigen Verhältnissen und zur Nachtzeit nicht vorhanden. Ein¬
gehendes Examen wies nach, daß der Harndrang zum ersten Male
unter folgenden Verhältnissen aufgetreten war: In dem Konzert¬
saale hatte ein Herr nicht weit von ihr Platz genommen, der
ihrem Empfinden nicht gleichgültig war. Sie begann an ihn zu
denken und sich auszumalen, wie sie als seine Frau neben ihm
sitzen würde. In dieser erotischen Träumerei bekam sie jene körper¬
liche Empfindung, die man mit der Erektion des Mannes ver¬
gleichen muß, und die bei ihr — ich weiß nicht, ob allgemein —
mit einem leichten Harndrang abschloß. Sie erschrak jetzt heftig
über die ihr sonst gewohnte sexuelle Empfindung, weil sie bei
sich beschlossen hatte, diese wie jede andere Neigung zu be¬
kämpfen, und im nächsten Moment hatte sich der Affekt auf
den begleitenden Harndrang übertragen und nötigte sie, nach
qualvollem Kampf den Saal zu verlassen. Sie war im Leben so
prüde, daß sie sich vor allem Sexuellen intensiv grauste, und
den Gedanken, je zu heiraten, nicht fassen konnte^ anderseits
war sie sexuell so hyperästhetisch, daß bei jeder erotischen Träu¬
merei, die sie sich gerne gestattete, jene wollüstige Empfindung
auftrat. Der Harndrang hatte die Erektion jedesmal begleitet,
ohne ihr bis zu der Szene im Konzertsaal einen Eindruck zu
machen. Die Behandlung führte zu einer fast vollkommenen Be¬
herrschung der Phobie.
)) Eine junge Frau, die aus fünfjähriger Ehe nur ein Kind
hatte, klagte mir über den Zwangsimpuls, sich vom Fenster oder
Balkon zu stürzen, und über die Furcht, die sie beim Anblick
302
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
eines scharfen Messers ergreife, ihr Kind damit zu erstechen. Der
eheliche Verkehr, gestand sie zu, werde selten und nur mit Vor¬
sicht gegen die Konzeption ausgeübt 5 allein das fehle ihr nicht,
sie sei keine sinnliche Natur. Ich getraute mich darauf, ihr zu
sagen, daß sie beim Anblicke eines Mannes erotische Vorstellungen
bekomme, daß sie darum das Vertrauen zu sich verloren habe
und sich als eine verworfene Person vorkomme, die zu allem
fähig sei. Die Rückübersetzung der Zwangsvorstellung ins Sexuelle
war gelungen5 sie gestand sofort weinend ihr lange verborgenes
eheliches Elend ein und teilte später auch peinliche Vorstel¬
lungen von unverändert sexuellem Charakter mit, so die häufig
wiederkehrende Empfindung, als ob sich etwas unter ihre Röcke
dränge.
Ich habe mir derartige Erfahrungen für die Therapie zunutze
gemacht, um bei Phobien und Zwangsvorstellungen trotz alles
Sträubens der Kranken die Aufmerksamkeit auf die verdrängten
sexuellen Vorstellungen zurückzulenken und, wo es anging, die
Quellen, aus denen dieselben stammten, zu verstopfen. Ich kann
natürlich nicht behaupten, daß alle Phobien und Zwangsvorstel¬
lungen auf die hier aufgedeckte Weise entstehen 5 erstens umfaßt
meine Erfahrung eine im Verhältnis zur Reichhaltigkeit dieser
Neurosen nur beschränkte Anzahl, und zweitens weiß ich selbst,
daß diese „psychasthenischen^^ Symptome (nach Janets Be¬
zeichnung) nicht alle gleichwertig sind.^ Es gibt z. B. rein hyste¬
rische Phobien. Ich meine aber, daß der Mechanismus der Trans¬
position des Affekts bei der großen Mehrzahl der Phobien und
Zwangsvorstellungen nachzuweisen sein wird, und möchte dafür
eintreten, diese Neurosen, die sich ebenso oft isoliert als mit Hysterie
1) Die Gruppe von typischen Phobien, für welche die Agoraphobie Vorbild ist,
läßt sich nicht auf den oben entwickelten psychischen Mechanismus zurückführen,
vielmehr weicht der Mechanismus der Agoraphobie von dem der echten Zwangs-
vorstellimgen und der auf solche reduzierbaren Phobien in einem entscheidenden
Punkte ab. Es findet sich hier keine verdrängte Vorstellung, von welcher der Angst¬
affekt abgetrennt wäre. Die Angst dieser Phobien hat einen anderen Ursprung.
Die Abwehr-Neuropsychosen
503
oder Neurasthenie kombiniert finden, nicht mit der gemeinen
Neurasthenie zusammenzuwerfen, für deren Grundsymptome ein
psychischer Mechanismus gar nicht anzunehmen ist.
III
In beiden bisher betrachteten FäUen war die Abwehr der un¬
verträglichen Vorstellung durch Trennung derselben von ihrem
Affekt geschehen5 die Vorstellung war, wenngleich geschwächt
und isoliert, dem Bewußtsein verblieben. Es gibt nun eine weit
energischere und erfolgreichere Art der Abwehr, die darin besteht,
daß das Ich die unerträgliche Vorstellung mitsamt ihrem Affekt
verwirft und sich so benimmt, als ob die Vorstellung nie an das
Ich herangetreten wäre. Allein in dem Moment, in dem dies
gelungen ist, befindet sich die Person in einer Psychose,
die man wohl nur als „halluzinatorische Verworrenheit“
klassifizieren kann. Ein einziges Beispiel soll diese Behauptung
erläutern:
Ein junges Mädchen hat einem Mann eine erste impulsive
Neigung geschenkt und glaubt fest an seine Gegenliebe. Tat¬
sächlich befindet sie sich im Irrtum; der junge Mann hat ein
anderes Motiv, ihr Haus aufzusuchen. Die Enttäuschungen bleiben
auch nicht aus; sie erwehrt sich ihrer zunächst, indem sie die
entsprechenden Erfahrungen hysterisch konvertiert, erhält so ihren
Glauben, daß er eines Tages kommen und um sie anhalten werde,
fühlt sich aber dabei infolge unvollständiger Konversion und be¬
ständigen Andranges neuer schmerzlicher Eindrücke unglücklich
und krank. Sie erwartet ihn endlich in höchster Spannung für
einen bestimmten Tag, den Tag einer Familienfeier. Der Tag
verrinnt, ohne daß er gekommen wäre. Nachdem alle Züge, mit
denen er ankommen könnte, vorüber sind, schlägt sie in hallu¬
zinatorische Verworrenheit um. Er ist angekommen, sie hört
seine Stimme im Garten, eilt in Nachtkleidung herunter, ihn zu
empfangen. Von da an lebt sie durch zwei Monate in einem glück-
504
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
liehen Traum, dessen Inhalt ist: er sei da, sei immer um sie, es
sei alles so wie vorhin (vor der Zeit der mühsam abgewehrten
Enttäuschungen). Hysterie und Verstimmung sind überwunden^
von der ganzen letzten Zeit des Zweifels und der Leiden wird
während der Krankheit nicht gesprochen^ sie ist glücklich, solange
man sie ungestört läßt, und tobt nur dann, wenn eine Maßregel
ihrer Umgebung sie an etwas hindert, was sie ganz konsequent
aus ihrem seligen Traum folgern will. Diese seinerzeit unver¬
ständliche Psychose wurde zehn Jahre später durch eine hyp¬
notische Analyse aufgedeckt.
Die Tatsache, auf die ich aufmerksam mache, ist die, daß der
Inhalt einer solchen halluzinatorischen Psychose gerade in der
Hervorhebung jener Vorstellung besteht, die durch den
Anlaß der Erkrankung bedroht war. Man ist also berechtigt zu
sagen, daß das Ich durch die Flucht in die Psychose die uner¬
trägliche Vorstellung abgewehrt hat^ der Vorgang, durch den dies
erreicht worden ist, entzieht sich wiederum der Selbstwahrnehmung
wie der psychologisch-klinischen Analyse. Er ist als der Ausdruck
einer pathologischen Disposition höheren Grades anzusehen und
läßt sich etwa wie folgt umschreiben: Das Ich reißt sich von
der unerträglichen Vorstellung los, diese hängt aber untrennbar
mit einem Stück der Realität zusammen, und indem das Ich
diese Leistung vollbringt, hat es sich auch von der Realität ganz
oder teilweise losgelöst. Letzteres ist nach meiner Meinung die
Bedingung, unter der eigenen Vorstellungen halluzinatorische
Lebhaftigkeit zuerkannt wird, und somit befindet sich die Person
nach glücklich gelungener Abwehr in halluzinatorischer Ver¬
worrenheit.
Ich verfüge nur über sehr wenige Analysen von derartigen
Psychosen 5 ich meine aber, es muß sich um einen sehr häufig
benützten Typus psychischer Erkrankung handeln, denn die als
analog aufzufassenden Beispiele der Mutter, die, über den Verlust
ihres Kindes erkrankt, jetzt unablässig ein Stück Holz im Arme
Die Abwehr-Neuropsychosen
305
wiegtj oder der verschmähten Braut, die seit Jahren im Putz
ihren Bräutigam erwartet, fehlen in keinem Irrenhause.
Es ist vielleicht nicht überflüssig hervorzuheben, daß die drei
hier geschilderten Arten der Abwehr und somit die drei Formen
von Erkrankung, zu denen diese Abwehr führt, an derselben
Person vereinigt sein können. Das gleichzeitige Vorkommen von
Phobien und hysterischen Symptomen, das in praxi so häufig
beobachtet wird, gehört ja mit zu den Momenten, die eine reinliche
Trennung der Hysterie von anderen Neurosen erschweren und
zur Aufstellung der „gemischten Neurosennötigen. Die hallu¬
zinatorische Verworrenheit zwar verträgt sich häufig nicht mit dem
Fortbestand der Hysterie, in der Regel nicht mit dem der
Zwangsvorstellungen. Dafür ist es nichts Seltenes, daß eine Ab¬
wehrpsychose den Verlauf einer hysterischen oder gemischten
Neurose episodisch durchbricht.
Ich will endlich mit wenigen Worten der Hilfsvorstellung ge¬
denken, deren ich mich in dieser Darstellung der Abwehrneurosen
bedient habe. Es ist dies die Vorstellung, daß an den psychischen
Funktionen etwas zu unterscheiden ist (Affektbetrag, Erregungs¬
summe), das alle Eigenschaften einer Quantität hat — wenngleich
wir kein Mittel besitzen, dieselbe zu messen — etwas, das der
Vergrößerung, Verminderung, der Verschiebung und der Abfuhr
fähig ist und sich über die Gedächtnisspuren der Vorstellungen
verbreitet, etwa wie eine elektrische Ladung über die Oberflächen
der Körper.
Man kann diese Hypothese, die übrigens bereits unserer Theorie
des „Abreagierens“ (Vorläufige Mitteilung, 1895) zugrunde liegt,
in demselben Sinne verwenden, wie es die Physiker mit der
Annahme des strömenden elektrischen Fluidums tun. Gerechtfertigt
ist sie vorläufig durch ihre Brauchbarkeit zur Zusammenfassung
und Erklärung mannigfaltiger psychischer Zustände.
Freud, I.
AL.
20
ÜBER DIE BERECHTIGUNG, VON DER
NEURASTHENIE EINEN BESTIMMTEN
SYMPTOMENKOMPLEX ALS »ANGST¬
NEUROSE« ABZUTRENNEN
Zuerst erschienen im ^^Neuralogischen ZentraU
Es ist schwierig, etwas Allgemeirigültiges von der Neurasthenie
auszusagen, solange man diesen Krankheitsnamen all das bedeuten
läßt, wofür Beard ihn gebraucht hat. Die Neuropathologie, meine
ich, kann nur dabei gewinnen, wenn man den Versuch macht,
von der eigentlichen Neurasthenie alle jene neurotischen Störungen
abzusondern, deren Symptome einerseits untereinander fester ver¬
knüpft sind als mit den typischen neurasthenischen Symptomen
(dem Kopfdruck, der Spinalirritation, der Dyspepsie mit Flatulenz
und Obstipation), und die anderseits in ihrer Ätiologie und ihrem
Mechanismus wesentliche ^Verschiedenheiten von der typischen
neurasthenischen Neurose erkennen lassen. Nimmt man diese Ab¬
sicht an, so wird man bald ein ziemlich einförmiges Bild der
Neurasthenie gewonnen haben. Man wird es dann dahin bringen,
schärfer, als es bisher gelungen ist, verschiedene Pseudoneurasthenien
(das Bild der organisch vermittelten nasalen Reflexneurose, die
nervösen Störungen der Kachexien und der Arteriosklerose, die
Vorstadien der progessiven Paralyse und mancher Psychosen) von
Berechtigung^ von der Neurasthenie .. . die „Angstneurose^ abzutrennen 307
echter Neurasthenie zu unterscheiden, ferner werden sich — nach
Möbius’ Vorschlag — manche Status nervosi der hereditär De¬
generierten abseits stellen lassen, und man wird auch Gründe
finden, manche Neurosen, die man heute Neurasthenie heißt, be¬
sonders intermittierender oder periodischer Natur, vielmehr der
Melancholie zuzurechnen. Die einschneidendste Veränderung bahnt
man aber an, wenn man sich entschließt, von der Neurasthenie
jenen Symptomenkomplex abzutrennen, den ich im folgenden
beschreiben werde, und der die oben aufgestellten Bedingungen
in besonders zureichender Weise erfüllt. Die Symptome dieses
Komplexes stehen klinisch einander weit näher als den echt neur-
asthenischen (d. h. sie kommen häufig zusammen vor, vertreten
einander im Krankheitsverlauf), und Ätiologie wie Mechanismus
dieser Neurose sind grundverschieden von der Ätiologie und dem
Mechanismus der echten Neurasthenie, wie sie uns nach solcher
Sonderung erübrigt.
Ich nenne diesen Symptomenkomplex „Angstneuroseweil
dessen sämtliche Bestandteile sich um das Hauptsymptom der
Angst gruppieren lassen, weil jeder einzelne von ihnen eine be¬
stimmte Beziehung zur Angst besitzt. Ich glaubte, mit dieser Auf¬
fassung der Symptome der Angstneurose originell zu sein, bis
mir ein interessanter Vortrag von E. Hecker^ in die Hände fiel,
in welchem ich die nämliche Deutung mit aller wünschenswerten
Klarheit und Vollständigkeit dargelegt fand. Hecker löst die von
ihm als Äquivalente oder Rudimente des Angstanfalles erkannten
Symptome allerdings nicht aus dem Zusammenhänge der Neur¬
asthenie, wie ich es beabsichtige^ allein dies rührt offenbar daher,
daß er auf die Verschiedenheit der ätiologischen Bedingungen
hier und dort keine Rücksicht genommen hat. Mit der Kenntnis
1) E. Hecker: Über larvierte und abortive Angstzustände bei Neurasthenie.
Zentralblatt für Nervenheilkunde, Dezember 1895. — Die Angst wird geradezu unter
den Hauptsymptomen der Neurasthenie angeführt in der Studie von Kaan: Der
neurasthenische Angstaffekt bei Zwangsvorstellungen und der primordiale Grübel¬
zwang, Wien 1893.
20*
5 o 8
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
dieser letzteren Differenz entfällt jeder Zwang, die Angstsymptome
mit demselben Namen wie die echt neurasthenischen zu bezeichnen,
denn die sonst willkürliche Namengebung hat vor allem den
Zweck, uns die Aufstellung allgemeiner Behauptungen zu er¬
leichtern.
I
Klinische Symptomatologie der Angstneurose
Was ich „Angstneurose“ nenne, kommt in vollständiger oder
rudimentärer Ausbildung, isoliert oder in Kombination mit anderen
Neurosen zur Beobachtung. Die einigermaßen vollständigen und
dabei isolierten Fälle sind natürlich diejenigen, welche den Ein¬
druck, daß die Angstneurose klinische Selbständigkeit besitze, be¬
sonders unterstützen. In anderen Fällen steht man vor der Auf¬
gabe, aus einem Symptomenkomplex, welcher einer „gemischten
Neurose“ entspricht, diejenigen herauszuklauben und zu sondern,
die nicht der Neurasthenie, Hysterie u. dgl., sondern der Angst¬
neurose zugehören.
Das klinische Bild der Angstneurose umfaßt folgende Symptome:
l) Die allgemeine Reizbarkeit. Diese ist ein häufiges ner¬
vöses Symptom, als solches vielen Status nervosi eigen. Ich führe
sie hier an, weil sie bei der Angstneurose konstant vorkommt
und theoretisch bedeutsam ist. Gesteigerte Reizbarkeit deutet ja
stets auf Anhäufung von Erregung oder auf Unfähigkeit, An¬
häufung zu ertragen, also auf absolute oder relative Reiz¬
anhäufung. Einer besonderen Hervorhebung wert finde ich den
Ausdruck dieser gesteigerten Reizbarkeit durch eine Gehörshyper¬
ästhesie, eine Überempfindlichkeit gegen Geräusche, welches Sym¬
ptom sicherlich durch die mitgeborene innige Beziehung zwischen
Gehörseindrücken und Erschrecken zu erklären ist. Die Gehörs¬
hyperästhesie findet sich häufig als Ursache der Schlaflosigkeit,
von welcher mehr als eine Form zur Angstneurose gehört.
Berechtigungy von der Neurasthenie ... die „Angstneurose^ ahtzurennen 309
2) Die ängstliche Erwartung. Ich kann den Zustand, den
ich meine, nicht besser erläutern, als durch diesen Namen und
einige beigefügte Beispiele. Eine Frau z. B., die an ängstlicher
Erwartung leidet, denkt bei jedem Hustenstoße ihres katarrhalisch
affizierten Mannes an Influenzapneumonie und sieht im Geiste
seinen Leichenzug vorüberziehen. Wenn sie auf dem Wege nach
Hause zwei Personen vor ihrem Haustor beisammenstehend sieht,
kann sie sich des Gedankens nicht erwehren, daß eines ihrer
Kinder aus dem Fenster gestürzt sei^ wenn sie die Glocke läuten
hört, so bringt man ihr eine Trauerbotschaft u. dgl., während
doch in allen diesen Fällen kein besonderer Anlaß zur Verstärkung
einer bloßen Möglichkeit vorliegt.
Die ängstliche Erwartung klingt natürlich stetig ins Normale
ab, umfaßt alles, was man gemeinhin als „Ängstlichkeit, Neigung
zu pessimistischer Auffassung der Dingebezeichnet, geht aber so
oft als möglich über solche plausible Ängstlichkeit hinaus und ist
häufig selbst für den ICranken als eine Art von Zwang erkennt¬
lich. Für eine Form der ängstlichen Erwartung, nämlich für die
in bezug auf die eigene Gesundheit, kann man den alten Krank¬
heitsnamen Hypochondrie reservieren. Die Hypochondrie geht
nicht immer der Höhe der allgemeinen ängstlichen Erwartung
parallel, sie verlangt als Vorbedingung die Existenz von Parästhe-
sien und peinlichen Körperempfindungen, und so wird die Hypo¬
chondrie die Form, welche die echten Neurastheniker bevorzugen,
sobald sie, was häufig geschieht, der Angstneurose verfallen.
Eine weitere Äußerung der ängstlichen Erwartung dürfte die
bei moralisch empfindlicheren Personen so häufige Neigung zur
Gewissensangst, zur Skrupulosität und Pedanterie sein, die gleich¬
falls vom Normalen bis zur Steigerung als Zweifelsucht varriiert.
Die ängstliche Erwartung ist das Kernsymptom der Neurose 5
in ihr liegt auch ein Stück von der Theorie derselben frei zu¬
tage. Man kann etwa sagen, daß hier ein Quantum Angst frei
flottierend vorhanden ist, welches bei der Erwartung die Aus-
310
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
wähl der Vorstellungen beherrscht und jederzeit bereit ist, sich
mit irgend einem passenden Vorstellungsinhalt zu verbinden.
Es ist dies nicht die einzige Art, wie die fürs Bewußtsein
meist latente, aber konstant lauernde Ängstlichkeit sich äußern
kann. Diese kann vielmehr auch plötzlich ins Bewußtsein herein¬
brechen, ohne vom Vorstellungsablauf geweckt zu werden, und
so einen Angstanfall hervorrufen. Ein solcher Angstanfall besteht
entweder einzig aus dem Angstgefühle ohne jede assoziierte Vor¬
stellung oder mit der naheliegenden Deutung der Lebensvernich¬
tung, des „Schlagtreffens^^, des drohenden Wahnsinns, oder aber
dem Angstgefühle ist irgendwelche Parästhesie beigemengt (ähn¬
lich der hysterischen Aura), oder endlich mit der Angstempfin¬
dung ist eine Störung irgend einer oder mehrerer Körperfunktionen,
der Atmung, Herztätigkeit, der vasomotorischen Innervation, der
Drüsentätigkeit verbunden. Aus dieser Kombination hebt der Patient
bald das eine, bald das andere Moment besonders hervor, er klagt
über „Herzkrampf^^, „Atemnot“, „Schweißausbrüche“, „Hei߬
hunger“ u. dgl., und in seiner Darstellung tritt das Angstgefühl
häufig ganz zurück oder wird recht unkenntlich als ein „Schlecht¬
werden“, „Unbehagen“ usw. bezeichnet.
4) Interessant und diagnostisch bedeutsam ist nun, daß das
Maß der Mischung dieser Elemente im Angstanfalle ungemein
variiert, und daß nahezu jedes begleitende Symptom den Anfall
ebensowohl allein konstituieren kann wie die Angst selbst. Es gibt
demnach rudimentäre Angstanfälle und Äquivalente des
Angstanfalles, wahrscheinlich alle von der gleichen Bedeutung,
die einen großen und bis jetzt wenig gewürdigten Reichtum an
Formen zeigen. Das genauere Studium dieser larvierten Angst¬
zustände (Hecker) und ihre diagnostische Trennung von anderen
Anfällen dürfte bald zur notwendigen Arbeit für den Neuropatho-
logen werden.
Ich füge hier nur die Liste der mir bekannten Formen des
Angstanfalles an:
Berechtigung^ von der Neurasthenie ... die „Angstneurose^ abzutrennen 311
a) Mit Störungen der Herztätigkeit, Herzklopfen, mit kurzer
Arrhythmie, mit langer anhaltender Tachykardie bis zu schweren
Schwächezuständen des Herzens, deren Unterscheidung von organi¬
scher Herzaffektion nicht immer leicht ist^ Pseudoangina pectoris,
ein diagnostisch heikles Gebiet!
b) Mit Störungen der Atmung, mehrere Formen von nervöser
Dyspnoe, asthmaartigem Anfalle u. dgl. Ich hebe hervor, daß selbst
diese Anfälle nicht immer von kenntlicher Angst begleitet sind.
c) Anfälle von Schweißausbrüchen, oft nächtlich.
d) Anfälle von Zittern und Schütteln, die nur zu leicht mit
hysterischen verwechselt werden.
e) Anfälle von Heißhunger, oft mit Schwindel verbunden.
f) Anfalls weise auftretende Diarrhöen.
g) Anfälle von lokomotorischem Schwindel.
h) Anfälle von sogenannten Kongestionen, so ziemlich alles,
was man vasomotorische Neurasthenie genannt hat.
i) Anfälle von Parästhesien (diese aber selten ohne Angst oder
ein ähnliches Unbehagen).
Nichts als eine Abart des Angstanfalles ist sehr häufig das
nächtliche Aufschrecken (Pavor nocturnus der Erwachsenen),
gewöhnlich mit Angst, mit Dyspnoe, Schweiß u. dgl. verbunden.
Diese Störung bedingt eine zweite Form von Schlaflosigkeit im
Rahmen der Angstneurose. — Es ist mir übrigens unzweifelhaft
geworden, daß auch der Pavor nocturnus der Kinder eine Form
zeigt, die zur Angstneurose gehört. Der hysterische Anstrich, die
Verknüpfung der Angst mit der Reproduktion eines hiezu geeig¬
neten Erlebnisses oder Traumes, lassen den Pavor nocturnus der
Kinder als etwas Besonderes erscheinen; er kommt aber auch rein
vor, ohne Traum oder wiederkehrende Halluzination.
6 ) Eine hervorragende Stellung in der Symptomengruppe der
Angstneurose nimmt der „Schwindef^ ein, der in seinen leich¬
testen Formen besser als „TaumeP^ zu bezeichnen ist, in schwererer
Ausbildung als „ Schwindelanfallmit oder ohne Angst zu den
312
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
folgenschwersten Symptomen der Neurose gehört. Der Schwindel
der Angstneurose ist weder ein Drehschwindel, noch läßt er, wie
der Menieresche Schwindel, einzelne Ebenen und Richtungen
hervorheben. Er gehört dem lokomotorischen oder koordinatori-
schen Schwindel an wie der Schwindel bei Augenmuskellähmung^
er besteht in einem spezifischen Mißbehagen, begleitet von den
Empfindungen, daß der Boden wogt, die Beine versinken, daß es
unmöglich ist, sich weiter aufrecht zu halten, und dabei sind die
Beine bleischwer, zittern oder knicken ein. Zum Hinstürzen führt
dieser Schwindel nie. Dagegen möchte ich behaupten, daß ein
solcher Schwindelanfall auch durch einen Anfall von tiefer Ohn¬
macht vertreten werden kann. Andere ohnmachtartige Zustände
bei der Angstneurose scheinen von einem Herzkollaps abzu¬
hängen.
Der Schwindelanfall ist nicht selten von der schlimmsten Art
von Angst begleitet, häufig mit Herz- und Atemstörungen kom¬
biniert. Höhenschwindel, Berg- und Abgrundschwindel finden sich
nach meinen Beobachtungen gleichfalls bei der Angstneurose häufig
vor 5 auch weiß ich nicht, ob man noch berechtigt ist, nebenher
einen vertigo a stomacho laeso anzuerkennen.
7 ) Auf Grund der chronischen Ängstlichkeit (ängstliche Er¬
wartung) einerseits, der Neigung zum Schwindelangstanfalle ander¬
seits entwickeln sich zwei Gruppen von typischen Phobien, die
erste auf die allgemein physiologischen Bedrohungen, die andere
auf die Lokomotion bezüglich. Zur ersten Gruppe gehören die
Angst vor Schlangen, Gewitter, Dunkelheit, Ungeziefer u. dgl.,
sowie die typische moralische Überbedenklichkeit, Formen der
Zweifelsucht 5 hier wird die disponible Angst einfach zur Ver¬
stärkung von Abneigungen verwendet, die jedem Menschen in¬
stinktiv eingepflanzt sind. Gewöhnlich bildet sich eine zwangsartig
wirkende Phobie aber erst dann, wenn eine Reminiszenz an ein
Erlebnis hinzukommt, bei welchem diese Angst sich äußern konnte,
z. B. nachdem der Kranke ein Gewitter im Freien mitgemacht
Berechtigung, von der Neurasthenie . .. die „Angstneurose^* ahzutrennen 315
hat. Man tut Unrecht, solche Fälle einfach als Fortdauer starker
Eindrücke erklären zu wollen^ was diese Erlebnisse bedeutsam
und ihre Erinnerung dauerhaft macht, ist doch nur die Angst,
die damals hervortreten konnte und heute ebenso hervortreten
kann. Mit anderen Worten, solche Eindrücke bleiben kräftig nur
bei Personen mit „ängstlicher Erwartung^^
Die andere Gruppe enthält die Agoraphobie mit allen ihren
Nebenarten, sämtliche charakterisiert durch die Beziehung auf die
Lokomotion. Ein vorausgegangener Schwindelanfall findet sich
hiebei häufig als Begründung der Phobie 5 ich glaube nicht, daß
man ihn jedesmal postulieren darf. Gelegentlich sieht man, daß
nach einem ersten Schwindelanfall ohne Angst die Lokomotion
zwar beständig von der Sensation des Schwindels begleitet wird,
aber ohne Einschränkung möglich bleibt, daß dieselbe aber unter
den Bedingungen des Alleinseins, der engen Straße u. dgl. ver¬
sagt, wenn einmal sich zum Schwindelanfalle Angst hinzugesellt hat.
Das Verhältnis dieser Phobien zu den Phobien der Zwangsneu¬
rose, deren Mechanismus ich in einem früheren Aufsätze^ in diesem
Blatte aufgedeckt habe, ist folgender Art: Die Übereinstimmung
liegt darin, daß hier wie dort eine Vorstellung zwangsartig wird
durch die Verknüpfung mit einem disponiblen Affekt. Der Mecha¬
nismus der Affektversetzung gilt also für beide Arten von
Phobien. Bei den Phobien der Angstneurose ist aber l) dieser
Affekt ein monotoner, stets der der Angst 5 2) stammt er nicht
von einer verdrängten Vorstellung her, sondern erweist sich bei
psychologischer Analyse als nicht weiter reduzierbar, wie er
auch durch Psychotherapie nicht anfechtbar ist. Der Mecha¬
nismus der Substitution gilt also für die Phobien der Angst¬
neurose nicht.
Beiderlei Arten von Phobien (oder Zwangsvorstellungen) kommen
häufig nebeneinander vor, obwohl die atypischen Phobien, die auf
1) Die Abwehr-Neuropsychosen. Neurol. Zentralbl., 1894, Nr. 10 und 11, S. 290 ff.
dieses Bandes.
314 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Zwangsvorstellungen beruhen, nicht notwendig auf dem Boden
der Angstneurose erwachsen müssen. Ein sehr häufiger, anschei¬
nend komplizierter Mechanismus stellt sich heraus, wenn bei einer
ursprünglich einfachen Phobie der Angstneurose der Inhalt der
Phobie durch eine andere Vorstellung substituiert wird, die Sub¬
stitution also nachträglich zur Phobie hinzukommt. Zur Substitu¬
tion werden am häufigsten die „Schutzmaßregeln^^ benützt, die
ursprünglich zur Bekämpfung der Phobie versucht worden sind.
So entsteht z. B. die Grübelsucht aus dem Bestreben, sich den
Gegenbeweis zu liefern, daß man nicht verrückt ist, wie die
hypochondrische Phobie behauptet: das Zaudern und Zweifeln,
vielmehr Repetieren der folie de doute entspringt dem berech¬
tigten Zweifel in die Sicherheit des eigenen Gedankenablaufes, da
man sich doch so hartnäckiger Störung durch die zwangsartige
Vorstellung bewußt ist u. dgl. Man kann daher behaupten, daß
auch viele Syndrome der Zwangsneurose, wie die folie de doute
und Ähnliches, klinisch, wenn auch nicht begrifflich, der Angst¬
neurose zuzurechnen sind.^
8) Die Verdauungstätigkeit erfährt bei der Angstneurose nur
wenige, aber charakteristische Störungen. Sensationen wie Brech¬
neigung und Übligkeiten sind nichts Seltenes, und das Symptom
des Heißhungers kann allein oder mit anderen (Kongestionen)
einen rudimentären Angstanfall abgeben ^ als chronische Ver¬
änderung, analog der ängstlichen Erwartung, findet man eine
Neigung zur Diarrhöe, die zu den seltsamsten diagnostischen Irr-
tümern Anlaß gegeben hat. Wenn ich nicht irre, ist es diese
Diarrhöe, auf welche Möbius^ unlängst in einem kleinen Auf¬
sätze die Aufmerksamkeit gelenkt hat. Ich vermute ferner, Peyers
reflektorische Diarrhöe, die er von Erkrankungen der Prostata
ableitet,^ ist nichts anderes als diese Diarrhöe der Angstneurose.
1) Obsessions et phobies. R 4 vue neurologique, 1895.
2) Möbius: Neuropathologische Beiträge, 1894, 2. Heft.
5) Peyer: Die nervösen Affektionen des Darmes. Wiener Klinik, Jänner 1893.
Berechtigung^ von der Neurasthenie ... die „Angstneurose^ abzutrennen 315
Eine reflektorische Beziehung wird dadurch vorgetäuscht, daß in der
Ätiologie der Angstneurose dieselben Faktoren ins Spiel kommen, die
bei der Entstehung von solchen Prostataaffektionen u. dgl. tätig sind.
Das Verhalten der Magendarmtätigkeit bei der Angstneurose zeigt
einen scharfen Gegensatz zu der Beeinflussung derselben Funktion
bei der Neurasthenie. Mischfölle zeigen oft die bekannte „Ab¬
wechslung von Diarrhöe und Verstopfung^^ Der Diarrhöe analog
ist der Harndrang der Angstneurose.
Die Parästhesien, die den Schwindel- oder Angstanfall
begleiten können, werden dadurch interessant, daß sie sich,
ähnlich wie die Sensationen der hysterischen Aura, zu einer festen
Reihenfolge assoziieren^ doch finde ich diese assoziierten Empfin¬
dungen im Gegensätze zu den hysterischen atypisch und wechselnd.
Eine weitere Ähnlichkeit mit der Hysterie wird dadurch erzeugt,
daß bei der Angstneurose eine Art von Konversion^ auf körper¬
liche Sensationen stattfindet, die sonst nach Belieben übersehen
werden können, z. B. auf die rheumatischen Muskeln. Eine ganze
Anzahl sogenannter Rheumatiker, die übrigens auch als solche nach¬
weisbar sind, leidet eigentlich an — Angstneurose. Neben dieser
Steigerung der Schmerzempfindlichkeit habe ich bei einer Anzahl
von Fällen der Angstneurose eine Neigung zu Halluzinationen
beobachtet, welch letztere sich nicht als hysterische deuten ließen.
10) Mehrere der genannten Symptome, welche den Angst¬
anfall begleiten oder vertreten, kommen auch in chronischer
Weise vor. Sie sind dann noch weniger leicht kenntlich, da die
sie begleitende ängstliche Empfindung undeutlicher ausfällt als
beim Angstanfall. Dies gilt besonders für die Diarrhöe, den
Schwindel und die Parästhesien. Wie der Schwindelanfall durch
einen Ohnmachtsanfall, so kann der chronische Schwindel durch
die andauernde Empfindung großer Hinfälligkeit, Mattigkeit u. dgl.
vertreten werden.
1) Freud: Abwehr-Neuropsychosen.
3i6
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
II
Vorkommen und Ätiologie der Angstneurose
In manchen Fällen von Angstneurose läßt sich eine Ätiologie
überhaupt nicht erkennen. Es ist bemerkenswert, daß in solchen
Fällen der Nachweis einer schweren hereditären Belastung selten
auf Schwierigkeiten stößt.
Wo man aber Grund hat, die Neurose für eine erworbene
zu halten, da findet man bei sorgfältigem, dahin zielendem
Examen als ätiologisch wirksame Momente eine Reihe von
Schädlichkeiten und Einflüssen aus dem Sexualleben. Dieselben
scheinen zunächst mannigfaltiger Natur, lassen aber leicht den
gemeinsamen Charakter herausfinden, der ihre gleichartige
Wirkung auf das Nervensystem erklärt^ sie finden sich ferner
entweder allein oder neben anderen banalen Schädlichkeiten,
denen man eine unterstützende Wirkung zuschreiben darf. Diese
sexuelle Ätiologie der Angstneurose ist so überwiegend häufig
nachzuweisen, daß ich mich getraue, für die Zwecke dieser
kurzen Mitteilung die Fälle mit zweifelhafter oder anders¬
artiger Ätiologie beiseite zu lassen.
Für die genauere Darstellung der ätiologischen Bedingungen,
unter denen die Angstneurose vorkommt, wird es sich empfehlen,
Männer und Frauen gesondert zu behandeln. Die Angstneurose
stellt sich bei weiblichen Individuen — nun abgesehen von deren
Disposition — in folgenden Fällen ein:
a) als virginale Angst oder Angst der Adoleszenten.
Eine Anzahl von unzweideutigen Beobachtungen hat mir ge¬
zeigt, daß ein erstes Zusammentreffen mit dem sexuellen Problem,
eine einigermaßen plötzliche Enthüllung des bisher Verschleierten,
z. B. durch den Anblick eines sexuellen Aktes, eine Mitteilung
oder Lektüre, bei heranreifenden Mädchen eine Angstneurose
hervorrufen kann, die fast in typischer Weise mit Hysterie kom¬
biniert ist 5
Berechtigung, von der Neurasthenie die . .. „Angstneurose^ abzutrennen 317
b) als Angst der Neuvermählten. Junge Frauen, die bei
den ersten Kohabitationen anästhetisch geblieben sind, verfallen
nicht selten der Angstneurose, die wieder verschwindet, nachdem
die Anästhesie normaler Empfindlichkeit Platz gemacht hat. Da
die meisten jungen Frauen bei solcher dnfanglicher Anästhesie
gesund bleiben, bedarf es für das Zustandekommen dieser Angst
Bedingungen, die ich auch angeben werde;
c) als Angst der Frauen, deren Männer Ejaculatio praecox oder
sehr herabgesetzte Potenz zeigen; und
d) deren Männer den Coitus interruptus oder reservatus üben.
Diese Fälle gehören zusammen, denn man kann sich bei der
Analyse einer großen Anzahl von Beispielen leicht überzeugen,
daß es nur darauf ankommt, ob die Frau beim Koitus zur Be¬
friedigung gelangt oder nicht. Im letzteren Falle ist die Be¬
dingung für die Entstehung der Angstneurose gegeben. Dagegen
bleibt die Frau von der Neurose verschont, wenn der mit Eja¬
culatio praecox behaftete Mann den Congressus unmittelbar darauf
mit besserem Erfolge wiederholen kann. Der Congressus reservatus
mittels des Kondoms stellt für die Frau keine Schädlichkeit dar,
wenn sie sehr rasch erregbar und der Mann sehr potent ist; im
andern Falle steht diese Art des Präventiv Verkehrs den andern
an Schädlichkeit nicht nach. Der Coitus interruptus ist fast regel¬
mäßig eine Schädlichkeit; für die Frau wird er es aber nur dann,
wenn der Mann ihn rücksichtslos übt, d. h. den Koitus unter¬
bricht, sobald er der Ejakulation nahe ist, ohne sich um den Ab¬
lauf der Erregung der Frau zu kümmern. Wartet der Mann im
Gegenteile die Befriedigung der Frau ab, so hat ein solcher
Koitus für letztere die Bedeutung eines normalen; es erkrankt
aber dann der Mann an Angstneurose. Ich habe eine große An¬
zahl von Beobachtungen gesammelt und analysiert, aus denen obige
Sätze hervorgehen;
e) als Angst der Witwen und absichtlich Abstinenten,
nicht selten in typischer Kombination mit Zwangsvorstellungen;
5i8
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
f) als Angst im Klimakterium während der letzten großen
Steigerung der sexuellen Bedürftigkeit.
Die Fälle c, und e enthalten die Bedingungen, unter denen
die Angstneurose beim weiblichen Geschlecht am häufigsten und
am ehesten unabhän^g von hereditärer Disposition entsteht. An
diesen — heilbaren, erworbenen — Fällen von Angstneurose
werde ich den Nachweis zu führen versuchen, daß die aufge-
fundene sexuelle Schädlichkeit wirklich das ätiologische Moment
der Neurose darstellt. Ich will nur vorher auf die sexuellen Be¬
dingungen der Ahgstneurose bei Männern eingehen. Hier möchte
ich folgende Gruppen aufstellen, die sämtlich ihre Analogien bei
den Frauen finden.
a) Angst der absichtlich Abstinenten, häufig mit Symptomen
der Abwehr (Zwangsvorstellungen, Hysterie) kombiniert. Die
Motive, die für absichtliche Abstinenz maßgebend sind, bringen
es mit sich, daß eine Anzahl von hereditär Veranlagten, Sonder¬
lingen u. dgl. zu dieser Kategorie zählt.
b) Angst der Männer mit frustraner Erregung (während des
Brautstandes), Personen, die (aus Furcht vor den Folgen des sexuellen
Verkehrs) sich mit Betasten oder Beschauen des Weibes begnügen.
Diese Gruppe von Bedingungen (die übrigens unverändert auf das
andere Geschlecht zu übertragen ist — Brautschaft, Verhältnisse
mit sexueller Schonung) liefert die reinsten Fälle der Neurose.
c) Angst der Männer, die Coitus interruptus üben. Wie schon
bemerkt, schädigt der Coitus interruptus die Frau, wenn er ohne
Rücksicht auf die Befriedigung der Frau geübt wird ^ er wird
aber zur Schädlichkeit für den Mann, wenn dieser, um die Be¬
friedigung der Frau zu erzielen, den Coitus willkürlich dirigiert,
die Ejakulation aufschiebt. Auf solche Weise läßt sich verstehen,
daß von den Ehepaaren, die im Coitus interruptus leben, ge¬
wöhnlich nur ein Teil erkrankt. Bei Männern erzeugt der
Coitus interruptus übrigens nur selten reine Angstneurose, meist
eine Vermengung derselben mit Neurasthenie.
Berechtigung^ von der Neurasthenie ... die „Angstneurose^ abzutrennen 319
d) Angst der Männer im Senium. Es gibt Männer, die wie
die Frauen ein Klimakterium zeigen und zur Zeit ihrer ab¬
nehmenden Potenz und steigenden Libido Angstneurose pro¬
duzieren.
Endlich muß ich noch zwei Fälle anschließen, die für beide
Geschlechter gelten:
a) Die Neurastheniker infolge von Masturbation verfallen in
Angstneurose, sobald sie von ihrer Art der sexuellen Befriedigung
ablassen. Diese Personen haben sich besonders unfähig gemacht,
die Abstinenz zu ertragen.
Ich bemerke hier als wichtig für das Verständnis der Angst¬
neurose, daß eine irgend bemerkenswerte Ausbildung derselben
nur bei potent gebliebenen Männern und bei nicht anästhetischen
Frauen zustande kommt. Bei Neurasthenikern, die durch Mastur¬
bation bereits schwere Schädigung ihrer Potenz erworben haben,
fällt die Angstneurose im Falle der Abstinenz recht dürftig aus
und beschränkt sich meist auf Hypochondrie und leichten chro¬
nischen Schwindel. Die Frauen sind ja in ihrer Mehrheit als
„potent^^ zu nehmen; eine wirklich impotente, d. h. wirklich
anästhetische Frau ist gleichfalls der Angstneurose wenig zu¬
gänglich und erträgt die angeführten Schädlichkeiten auffällig
gut.
Wieweit man etwa sonst berechtigt ist, konstante Beziehungen
zwischen einzelnen ätiologischen Momenten und einzelnen Symp¬
tomen aus dem Komplex der Angstneurose anzunehmen, möchte
ich hier noch nicht erörtern.
ß) Die letzte der anzuführenden ätiologischen Bedingungen
scheint zunächst überhaupt nicht sexueller Natur zu sein. Die
Angstneurose entsteht, und zwar bei beiden Geschlechtern, auch
durch das Moment der Überarbeitung, erschöpfender Anstrengung,
z. B. nach Nachtwachen, Krankenpflegen und selbst nach schweren
Krankheiten.
520
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Der Haupteinwand gegen meine Aufstellung einer sexuellen
Ätiologie der Angstneurose wird wohl dahin lauten: derartige
abnorme Verhältnisse des Sexuallebens fänden sich so überaus
häufig, daß sie überall zur Hand sein müssen, wo man nach
ihnen sucht. Ihr Vorkommen in den angeführten Fällen von
Angstneurose beweise also nicht, daß in ihnen die Ätiologie der
Neurose aufgedeckt sei. Übrigens sei die Anzahl der Personen,
die Coitus interruptus u. dgl. treiben, unvergleichlich größer als
die Anzahl der mit Angstneurose Behafteten, und die überwiegende
Menge der ersteren befände sich bei dieser Schädlichkeit recht
wohl.
Ich habe darauf zu erwidern, daß man bei der anerkannt
übergroßen Häufigkeit der Neurosen und der Angstneurose spe¬
ziell ein selten vorkommendes ätiologisches Moment gewiß
nicht erwarten dürfe; ferner daß damit geradezu ein Postulat
der Pathologie erfüllt sei, wenn sich bei einer ätiologischen
Untersuchung das ätiologische Moment noch häufiger nach weisen
lasse als dessen Wirkung, da ja für letztere noch andere Be¬
dingungen (Disposition, Summation der spezifischen Ätiologie,
Unterstützung durch andere, banale Schädlichkeiten) erfordert
werden können; ferner, daß die detaillierte Zergliederung ge¬
eigneter Fälle von Angstneurose die Bedeutung des sexuellen
Moments ganz unzweideutig erweist. Ich will mich hier aber
nur auf das ätiologische Moment des Coitus interruptus und
auf die Hervorhebung einzelner beweisender Erfahrungen be¬
schränken.
i) Solange die Angstneurose bei jungen Frauen noch nicht
konstituiert ist, sondern in Ansätzen hervortritt, die immer wieder
spontan verschwinden, läßt sich nach weisen, daß jeder solche Schub
der Neurose auf einen Koitus mit mangelnder Befriedigung zu¬
rückgeht. Zwei Tage nach dieser Einwirkung, bei wenig resistenten
Personen am Tage nachher, tritt regelmäßig der Angst- oder
Schwindelanfall auf, an den sich andere Symptome der Neurose
Berechtigung, von der Neurasthenie ... die „Angstneurose^ abzutrennen 321
schließen, um — bei seltenerem ehelichen Verkehr — wieder mit¬
einander abzuklingen. Eine zufällige Reise des Mannes, ein Auf¬
enthalt im Gebirge, der mit Trennung des Ehepaares verbunden
ist, tun gut 5 die zumeist in erster Linie eingeleitete gynäkologische
Behandlung nützt dadurch, daß während ihrer Dauer der eheliche
Verkehr aufgehoben ist. Merkwürdigerweise ist der Erfolg der
lokalen Behandlung ein vorübergehender, stellt sich die Neurose
noch im Gebirge wieder ein, sobald der Mann seinerseits in die
Ferien tritt u, dgl. Läßt man als ein dieser Ätiologie kundiger
Arzt bei noch nicht konstituierter Neurose den Coitus interruptus
durch normalen Verkehr ersetzen, so ergibt sich die thera¬
peutische Probe auf die hier aufgestellte Behauptung. Die Angst
ist behoben und kehrt ohne neuen, ähnlichen Anlaß nicht wieder.
2) In der Anamnese vieler Fälle von Angstneurose findet man
bei Männern wie bei Frauen ein auffälliges Schwanken in der
Intensität der Erscheinungen, ja im Kommen und Gehen des
ganzen Zustandes. Dieses Jahr war fast ganz gut, das nächstfol¬
gende gräßlich u. dgl., einmal fällt die Besserung zugunsten einer
bestimmten Kur aus, die aber beim nächsten Anfalle ganz im
Stich gelassen hat u. dgl. m. Erkundigt man sich nun nach An¬
zahl und Reihenfolge der Kinder und stellt diese Ehechronik dem
eigentümlichen Verlauf der Neurose gegenüber, so ergibt sich als
einfache Lösung, daß die Perioden von Besserung oder Wohlbe¬
finden mit den Graviditäten der Frau zusammenfallen, während
welcher natürlich der Anlaß für den Präventivverkehr entfallen
war. Dem Manne aber hatte jene Kur, sei es beim Pfarrer Kneipp
oder in der hydrotherapeutischen Anstalt, genützt, nach welcher
er seine Frau gravid antraf.
3) Aus der Anamnese der Kranken ergibt sich häufig, daß die
Symptome der Angstneurose zu einer bestimmten Zeit die einer
andern Neurose, etwa der Neurasthenie, abgelöst und sich an
deren Stelle gesetzt haben. Es läßt sich dann ganz regelmäßig
nach weisen, daß kurz vor diesem Wechsel des Bildes ein ent-
Freud, I.
21
322
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
sprechender Wechsel in der Art der sexuellen Schädigung statt¬
gefunden hat.
Während derartige, nach Belieben zu vermehrende Erfahrungen
dem Arzte für eine gewisse Kategorie von Fällen die sexuelle
Ätiologie geradezu aufdrängen, lassen sich andere Fälle, die sonst
unverständlich blieben, mittels des Schlüssels der sexuellen Ätiologie
wenigstens widerspruchslos verstehen und einreihen. Es sind dies
jene sehr zahlreichen Fälle, in denen zwar alles vorhanden ist,
was wir bei der vorigen Kategorie gefunden haben, die Erschei¬
nungen der Angstneurose einerseits, das spezifische Moment des
Coitus interruptus anderseits, wo aber noch etwas anderes sich
einschiebt, nämlich ein langes Intervall zwischen der vermeint¬
lichen Ätiologie und deren Wirkung, und etwa noch ätiologische
Momente nicht sexueller Natur. Da ist z. B. ein Mann, der auf
die Nachricht vom Tode seines Vaters einen Herzanfall bekommt
und von da an der Angstneurose verfallen ist. Der Fall ist nicht
zu verstehen, denn der Mann war bisher nicht nervös 5 der Tod
des hochbejahrten Vaters erfolgte keineswegs unter besonderen
Umständen, und man wird zugeben, daß das normale, erwartete
Ableben eines alten Vaters nicht zu den Erlebnissen gehört, die
einen gesunden Erwachsenen krank zu machen pflegen. Vielleicht
wird die ätiologische Analyse durchsichtiger, wenn ich hinzunehme,
daß dieser Mann seit elf Jahren den Coitus interruptus mit
Rücksicht auf seine Frau ausübt. Die Erscheinungen sind we¬
nigstens genau die nämlichen, wie sie bei anderen Personen nach
kurzer derartiger sexueller Schädigung und ohne Dazwischenkunft
eines anderen Traumas auftreten. Ähnlich zu beurteilen ist der
Fall einer Frau, deren Angstneurose nach dem Verlust eines
Kindes ausbricht, oder des Studenten, der in der Vorbereitung
zu seiner letzten Staatsprüfung durch die Angstneurose gestört
wird. Ich finde die Wirkung hier wie dort nicht durch die an
gegebene Ätiologie erklärt. Man muß sich nicht beim Studieren
„überarbeiten“, und eine gesunde Mutter pflegt auf den Verlust
Berechtigung^ von der Neurasthenie ... die ^Angstneurose^ abzutrennen 323
eines Kindes nur mit normaler Trauer zu reagieren. Vor allem
aber würde ich erwarten, daß der Student durch Überarbeitung
eine Kephalasthenie, die Mutter in unserem Beispiele eine Hysterie
akquirieren sollte. Daß sie beide Angstneurose bekommen, veran¬
laßt mich, Wert darauf zu legen, daß die Mutter seit acht Jahren
im ehelichen Coitus interruptus lebt, der Student aber seit
drei Jahren ein warmes Liebesverhältnis mit einem „anständigen^^
Mädchen unterhält, das er nicht schwängern darf.
Diese Ausführungen laufen auf die Behauptung hinaus, daß
die spezifische sexuelle Schädlichkeit des Coitus interruptus dort,
wo sie nicht imstande ist, für sich allein die Angstneurose her¬
vorzurufen, doch wenigstens zu ihrer Erwerbung disponiert. Die
Angstneurose bricht dann aus, sobald zur latenten Wirkung des
spezifischen Moments die Wirkung einer anderen, banalen Schäd¬
lichkeit hinzutritt. Letztere kann das spezifische Moment quanti¬
tativ vertreten, aber nicht qualitativ ersetzen. Das spezifische
Moment bleibt stets dasjenige, welches die Form der Neurose
bestimmt. Ich hoffe, diesen Satz für die Ätiologie der Neurosen
auch in größerem Umfang erweisen zu können.
Ferner ist in den letzten Erörterungen die an sich nicht un¬
wahrscheinliche Annahme enthalten, daß eine sexuelle Schädlich¬
keit wie der Coitus interruptus sich durch Summation zur Gel¬
tung bringt. Je nach der Disposition des Individuums und der
sonstigen Belastung von dessen Nervensystem wird es kürzere
oder längere Zeit brauchen, ehe der Effekt dieser Summation
sichtbar wird. Die Individuen, welche den Coitus interruptus
scheinbar ohne Nachteil ertragen, werden in Wirklichkeit durch
denselben zu Störungen der Angstneurose disponiert, die irgend
einmal spontan oder nach einem banalen, sonst unangemessenen
Trauma losbrechen können, gerade wie der chronische Alkoholiker
auf dem Wege der Summation endlich eine Zirrhose oder andere
Erkrankung entwickelt oder unter dem Einfluß eines Fiebers in
ein Delirium verfallt.
21 *
5^4
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
m
Ansätze zu einer Theorie der Angstneurose
Die nachstehenden Ausführungen beanspruchen nichts als den
Wert eines ersten, tastenden Versuches, dessen Beurteilung die
Aufnahme der im vorigen enthaltenen Tatsachen nicht beein¬
flussen sollte. Die Würdigung dieser „Theorie der Angstneurose“
wird ferner noch dadurch erschwert, daß sie bloß einem Bruchstücke
aus einer umfassenderen Darstellung der Neurosen entspricht.
In dem bisher über die Angstneurose Vorgebrachten sind bereits
einige Anhaltspunkte für einen Einblick in den Mechanismus
dieser Neurose enthalten. Zunächst die Vermutung, es dürfte sich
um eine Anhäufung von Erregung handeln, sodann die überaus
wichtige Tatsache, daß die Angst, die den Erscheinungen der
Neurose zugrunde liegt, keine psychische Ableitung zuläßt.
Eine solche wäre z. B. vorhanden, wenn sich als Grundlage der
Angstneurose ein einmaliger oder wiederholter, berechtigter Schreck
fände, der seither die Quelle der Bereitschaft zur Angst abgäbe.
Allein dies ist nicht der Fall 5 durch einen einmaligen Schreck
kann zwar eine Hysterie oder eine traumatische Neurose erworben
werden, nie aber eine Angstneurose. Ich habe, da sich unter
den Ursachen der Angstneurose der Coitus interruptus so sehr
in den Vordergrund drängt, anfangs gemeint, die Quelle der
kontinuierlichen Angst könnte in der beim Akte jedesmal sich
wiederholenden Furcht liegen, die Technik könnte mißglücken
und demnach Konzeption erfolgen. Ich habe aber gefunden, daß
dieser Gemütszustand der Frau oder des Mannes während des
Coitus interruptus für die Entstehung der Angstneurose gleich¬
gültig ist, daß die gegen die Folgen einer möglichen Konzeption
im Grunde gleichgültigen Frauen der Neurose ebenso ausgesetzt
sind wie die vor dieser Möglichkeit Schaudernden, und daß es
nur darauf ankam, welcher Teil bei dieser sexuellen Technik
seine Befriedigung einbüßte.
Berechtigung, von der Neurasthenie ... die „Angstneurose** aJbzutrennen 325
Einen weiteren Anhaltspunkt bietet die noch nicht erwähnte
Beobachtung, daß in ganzen Reihen von Fällen die Angstneurose
mit der deutlichsten Verminderung der sexuellen Libido, der
psychischen Lust, einhergeht, so daß die Kranken auf die
Eröffnung, ihr Leiden rühre von „ungenügender Befriedigung“,
regelmäßig antworten : Das sei unmöglich, gerade jetzt sei alles
Bedürfnis bei ihnen erloschen. Aus all diesen Andeutungen, daß
es sich um Anhäufung von Erregung handle, daß die Angst,
welche solcher angehäufter Erregung wahrscheinlich entspricht,
somatischer Herkunft sei, so daß also somatische Erregung ange¬
häuft werde, ferner daß diese somatische Erregung sexueller
Natur sei und daß eine Abnahme der psychischen Beteiligung an
den Sexualvorgängen nebenher gehe — alle diese Andeutungen,
sage ich, begünstigen die Erwartung, der Mechanismus der
Angstneurose sei in der Ablenkung der somatischen
Sexualerregung vom Psychischen und einer dadurch
verursachten abnormen Verwendung dieser Erregung
zu suchen.
Man kann sich diese Vorstellung vom Mechanismus der Angst¬
neurose klarer machen, wenn man folgende Betrachtung über
den Sexualvorgang akzeptiert, die sich zunächst auf den Mann
bezieht. Im geschlechtsreifen männlichen Organismus wird —
wahrscheinlich kontinuierlich — die somatische Sexualerregung
produziert, die periodisch zu einem Reiz für das psychische Leben
wird. Schalten wir, um unsere Vorstellungen darüber besser zu
fixieren, ein, daß diese somatische Sexualerregung sich als Druck
auf die mit Nervenendigungen versehene Wandung der Samen¬
bläschen äußert, so wird diese viszerale Erregung zwar kontinuier¬
lich anwachsen, aber erst von einer gewissen Höhe an imstande
sein, den Widerstand der eingeschalteten Leitung bis zur Hirn¬
rinde zu überwinden und sich als psychischer Reiz zu äußern.
Dann aber wird die in der Psyche vorhandene sexuelle Vorstel¬
lungsgruppe mit Energie ausgestattet, und es entsteht der psy-
3a6
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
chische Zustand libidinöser Spannung, welcher den Drang nach
Aufhebung dieser Spannung mit sich bringt. Eine solche psy¬
chische Entlastung ist nur auf dem Wege möglich, den ich als
spezifische oder adäquate Aktion bezeichnen will. Diese ad¬
äquate Aktion besteht für den männlichen Sexualtrieb in einem
komplizierten spinalen Reflexakt, der die Entlastung jener Nerven¬
endigungen zur Folge hat, und in allen psychisch zu leistenden
Vorbereitungen für die Auslösung dieses Reflexes. Etwas anderes
als die adäquate Aktion würde nichts fruchten, denn die somatische
Sexualerreguug setzt sich, nachdem sie einmal den Schwellenwert
erreicht hat, kontinuierlich in psychische Erregung um; es muß
durchaus dasjenige geschehen, was die Nervenendigungen von dem
auf sie lastenden Druck befreit, somit die ganze derzeit vorhandene
somatische Erregung aufhebt und der subkortikalen Leitung ge¬
stattet, ihren Widerstand herzustellen.
Ich werde es mir versagen, kompliziertere Fälle des Sexual¬
vorganges in ähnlicher Weise darzustellen. Ich will nur noch die
Behauptung aufstellen, daß dieses Schema im wesentlichen auch
auf die Frau zu übertragen ist, trotz aller das Problem verwir¬
renden, artefiziellen Verzögerung und Verkümmerung des weib¬
lichen Geschlechtstriebes. Es ist auch bei der Frau eine somatische
Sexualerregung anzunehmen und ein Zustand, in dem diese Er¬
regung psychischer Reiz wird, Libido und den Drang nach der
spezifischen Aktion hervorruft, an welche sich das Wollustgefühl
knüpft. Nur ist man bei der Frau nicht imstande anzugeben,
was etwa der Entspannung der Samenbläschen hier analog wäre.
In den Rahmen dieser Darstellung des Sexual Vorganges läßt
sich nun sowohl die Ätiologie der echten Neurasthenie als
die der Angstneurose eintragen. Neurasthenie entsteht jedesmal,
wenn die adäquate (Aktion) Entlastung durch eine minder ad¬
äquate ersetzt wird, der normale Koitus unter den günstigsten
Bedingungen also durch eine Masturbation oder spontane Pol¬
lution; zur Angstneurose aber führen alle Momente, welche die
Berechtigungy von der Neurasthenie ... die y^Angstneurose^ abzutrennen 327
psychische Verarbeitung der somatischen Sexualerregung verhindern.
Die Erscheinungen der Angstneurose kommen zustande, indem die
von der Psyche abgelenkte somatische Sexualerregung sich sub¬
kortikal, in ganz und gar nicht adäquaten Reaktionen ausgibt.
Ich will es nun versuchen, die vorhin angegebenen ätiologi¬
schen Bedingungen der Angstneurose daraufhin zu prüfen, ob sie
den von mir aufgestellten gemeinsamen Charakter erkennen lassen.
Als erstes ätiologisches Moment habe ich für den Mann die ab¬
sichtliche Abstinenz angeführt. Abstinenz besteht in der Versagung
der spezifischen Aktion, die sonst auf die Libido erfolgt. Eine
solche Versagung wird zwei Konsequenzen haben können, nämlich,
daß die somatische Erregung sich anhäuft, und dann zunächst,
daß sie auf andere W^ege abgelenkt wird, auf denen ihr eher
Entladung winkt als auf dem Wege über die Psyche. Es wird
also die Libido endlich sinken und die Erregung subkortikal als
Angst sich äußern. Wo die Libido nicht verringert wird, oder die
somatische Erregung auf kurzem Wege in Pollutionen verausgabt
wird oder infolge der Zurückdrängung wirklich versiegt, da ent¬
steht eben alles andere als Angstneurose. Auf solche Weise führt
die Abstinenz zur Angstneurose. Die Abstinenz ist aber auch das
Wirksame an der zweiten ätiologischen Gruppe, der frustranen
Erregung. Der dritte Fall, der des rücksichtsvollen Coitus reser-
vatus, wirkt dadurch, daß er die psychische Bereitschaft für den
Sexualablauf stört, indem er neben der Bewältigung des Sexual¬
affekts eine andere, ablenkende, psychische Aufgabe einführt.
Auch durch diese psychische Ablenkung schwindet allmählich die
Libido, der weitere Verlauf ist dann derselbe wie im Falle der
Abstinenz. Die Angst im Senium (Klimakterium der Männer) er¬
fordert eine andere Erklärung. Hier läßt die Libido nicht nach^
es findet aber, wie während des Klimakteriums der Weiber, eine
solche Steigerung in der Produktion der somatischen Erregung
statt, daß die Psyche für die Bewältigung derselben sich als relativ
insuffizient erweist.
3^8
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Keine größeren Schwierigkeiten bereitet die Subsumierung der
ätiologischen Bedingungen bei der Frau unter den angeführten
Gesichtspunkt. Der Fall der virginalen Angst ist besonders klar.
Hier sind eben die Vorstellungsgruppen noch nicht genug ent¬
wickelt, mit denen sich die somatische Sexualerregung verknüpfen
soll. Bei der anästhetischen Neuvermählten tritt die Angst nur
dann auf, wenn die ersten Kohabitationen ein genügendes Maß
von somatischer Erregung wecken. Wo die lokalen Zeichen solcher
Erregtheit (wie spontane Reizempfindung, Harndrang u. dgl.) fehlen,
da bleibt auch die Angst aus. Der Fall der Ejaculatio praecox, des
Coitus interruptus, erklärt sich ähnlich wie beim Manne dadurch,
daß für den psychisch unbefriedigenden Akt allmählich die Libido
schwindet, während die dabei wachgerufene Erregung subkortikal
ausgegeben wird. Die Herstellung einer Entfremdung zwischen
dem Somatischen und dem Psychischen im Ablauf der Sexual¬
erregung erfolgt beim Weibe rascher und ist schwerer zu be¬
seitigen als beim Manne. Der Fall der Witwenschaft und der
gewollten Abstinenz sowie der Fall des Klimakteriums erledigt
sich beim Weibe wohl ebenso wie beim Manne, doch kommt für
den Fall der Abstinenz gewiß noch die absichtliche Verdrängung
des sexuellen Vorstellungskreises hinzu, zu welcher die mit der
Versuchung kämpfende abstinente Frau sich häufig entschließen
muß, und ähnlich mag in der Zeit der Menopause der Abscheu
wirken, den die alternde Frau gegen die übergroß gewordene
Libido empfindet.
Auch die beiden zuletzt angeführten ätiologischen Bedingungen
scheinen sich ohne Schwierigkeit einzuordnen.
Die Angstneigung der neurasthenisch gewordenen Masturbanten
erklärt sich daraus, daß diese Personen so leicht in den Zustand
der „Abstinenz^^ geraten, nachdem sie sich so lange gewöhnt
hatten, jeder kleinen Quantität somatischer Erregung eine aller¬
dings fehlerhafte Abfuhr zu schaffen. Endlich läßt der letzte Fall,
die Entstehung der Angstneurose durch schwere Krankheit, Über-
Berechtigung^ von der Neurasthenie ... die „Angstneurose^ abzutrennen 35^9
arbeitung, erschöpfende Krankenpflege u. dgl., in Anlehnung an
die Wirkungsweise des Coitus interruptus die zwanglose Deutung
zu, die Psyche werde hier durch Ablenkung insuffizient zur
Bewältigung der somatischen Sexualerregung, einer Aufgabe,
die ihr ja kontinuierlich obliegt. Man weiß, wie tief unter
solchen Bedingungen die Libido sinken kann, und man hat hier
ein schönes Beispiel einer Neurose, die zwar keine sexuelle
Ätiologie, aber doch einen sexuellen Mechanismus er¬
kennen läßt.
Die hier entwickelte Auffassung stellt die Symptome der Angst¬
neurose gewissermaßen als Surrogate der unterlassenen spezifi¬
schen Aktion auf die Sexualerregung dar. Ich erinnere zur
weiteren Unterstützung derselben daran, daß auch beim nor¬
malen Koitus die Erregung sich nebstbei als Atembeschleunigung,
Herzklopfen, Schweißausbruch, Kongestion u. dgl. ausgibt. Im
entsprechenden Angstanfalle unserer Neurose hat man die Dys¬
pnoe, das Herzklopfen u. dgl. des Koitus isoliert und gesteigert
vor sich.
Es könnte noch gefragt werden: Warum gerät denn das Nerven¬
system unter solchen Umständen, bei psychischer Unzulänglichkeit
zur Bewältigung der Sexualerregung, in den eigentümlichen Affekt¬
zustand der Angst? Darauf ist andeutungsweise zu erwidern: Die
Psyche gerät in den Affekt der Angst, wenn sie sich unfähig fühlt,
eine von außen nahende Aufgabe (Gefahr) durch entsprechende
Reaktion zu erledigen; sie gerät in die Neurose der Angst, wenn
sie sich unfähig merkt, die endogen entstandene (Sexual-) Erregung
auszugleichen. Sie benimmt sich also, als projizierte sie diese
Erregung nach außen. Der Affekt und die ihm entsprechende
Neurose stehen in fester Beziehung zueinander, der erstere ist die
Reaktion auf eine exogene, die letztere die Reaktion auf die
analoge endogene Erregung. Der Affekt ist ein rasch vorüber¬
gehender Zustand, die Neurose ein chronischer, weil die exogene
Erregung wie ein einmaliger Stoß, die endogene wie eine konstante
550
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Kraft wirkt. Das Nervensystem reagiert in der Neurose
gegen eine innere Erregungsquelle wie in dem ent¬
sprechendem Affekt gegen eine analoge äußere.
IV
Beziehung zu anderen Neurosen
Es erübrigen noch einige Bemerkungen über die Beziehungen
der Angstneurose zu den anderen Neurosen nach Vorkommen und
innerer Verwandtschaft.
Die reinsten Fälle von Angstneurose sind auch meist die aus¬
geprägtesten. Sie finden sich bei potenten jugendlichen Individuen,
bei einheitlicher Ätiologie und nicht zu langem Bestände des
Krankseins.
Häufiger ist allerdings das gleichzeitige und gemeinsame Vor¬
kommen von Angstsymptomen mit solchen der Neurasthenie,
Hysterie, der Zwangsvorstellungen, der Melancholie. Wollte man
sich durch solche klinische Vermengung abhalten lassen, die Angst¬
neurose als eine selbständige Einheit anzuerkennen, so müßte man
konsequenterweise auch auf die mühsam erworbene Trennung von
Hysterie und Neurasthenie wieder verzichten.
Für die Analyse der „gemischten Neurosen^^ kann ich den
wichtigen Satz vertreten: Wo sich eine gemischte Neurose
vorfindet, da läßt sich eine Vermengung mehrerer spezifi¬
scher Ätiologien nachweisen.
Eine solche Vielheit ätiologischer Momente, die eine gemischte
Neurose bedingt, kann bloß zufällig zustande kommen, etwa in¬
dem eine neu hinzutretende Schädlichkeit ihre Wirkungen zu
denen einer früher vorhandenen addiert^ z. B. eine Frau, die von
jeher Hysterica war, tritt zu einer gewissen Zeit ihrer Ehe in
den Coitus reservatus ein und erwirbt jetzt zu ihrer Hysterie
eine Angstneurose; ein Mann, der bisher masturbiert hatte und
Berechtigungy von der Neurasthenie ... die „Angstneurose^ abzutrennen 531
neurasthenisch wurde, wird Bräutigam, erregt sich bei seiner Braut,
und jetzt gesellt sich zur Neurasthenie eine frische Angstneurose
hinzu.
In anderen Fällen ist die Mehrheit ätiologischer Momente keine
zufällige, sondern das eine derselben hat das andere mit zur
Wirkung gebracht; z. B. eine Frau, mit welcher ihr Mann Coitus
reservatus ohne Rücksicht auf ihre Befriedigung übt, sieht sich
genötigt, die peinliche Erregung nach einem solchen Akt durch
Masturbation zu beenden; sie zeigt infolgedessen nicht reine Angst¬
neurose, sondern daneben Symptome von Neurasthenie; eine zweite
Frau wird unter derselben Schädlichkeit mit lüsternen Bildern zu
kämpfen haben, deren sie sich erwehren will, und wird auf solche
Weise durch den Coitus interruptus nebst der Angstneurose Zwangs¬
vorstellungen erwerben; eine dritte Frau endlich wird infolge des
Coitus interruptus die Neigung zu ihrem Manne einbüßen, eine
andere Neigung erwerben, welche sie sorgfältig geheim hält, und
wird infolgedessen ein Gemenge von Angstneurose und Hysterie
zeigen.
In einer dritten Kategorie von gemischten Neurosen ist der
Zusammenhang der Symptome ein noch innigerer, indem die näm¬
liche ätiologische Bedingung gesetzmäßig und gleichzeitig beide
Neurosen hervorruft. So z. B. erzeugt die plötzliche sexuelle Auf¬
klärung, die wir bei der virginalen Angst gefunden haben, immer
auch Hysterie; die allermeisten Fälle von absichtlicher Abstinenz
verknüpfen sich von Anfang an mit echten Zwangsvorstellungen;
der Coitus interruptus der Männer scheint mir niemals reine
Angstneurose provozieren zu können, sondern stets eine Vermen¬
gung derselben mit Neurasthenie u. dgl.
Es geht aus diesen Erörterungen hervor, daß man die ätiologi¬
schen Bedingungen des Vorkommens noch unterscheiden muß von
den spezifischen ätiologischen Momenten der Neurosen. Erstere,
z. B. der Coitus interruptus, die Masturbation, die Abstinenz, sind
noch vieldeutig und können ein jedes verschiedene Neurosen
352
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
produzieren 5 erst die aus ihnen abstrahierten ätiologischen Momente^
wie inadäquate Entlastung, psychische Unzulänglichkeit^
Abwehr mit Substitution, haben eine unzweideutige und spezi¬
fische Beziehung zur Ätiologie der einzelnen großen Neurosen.
Ihrem inneren Wesen nach zeigt die Angstneurose die inter¬
essantesten Übereinstimmungen und Verschiedenheiten gegen die
anderen großen Neurosen, besonders gegen Neurasthenie und
Hysterie. Mit der Neurasthenie teilt sie den einen Hauptcharakter,
daß die Erregungsquelle, der Anlaß zur Störung, auf somatischerri
Gebiete liegt, anstatt wie bei Hysterie und Zwangsneurose auf
psychischem. Im übrigen läßt sich eher eine Art von Gegensätz¬
lichkeit zwischen den Symptomen der Neurasthenie und denen
der Angstneurose erkennen, die etwa in den Schlagworten: An¬
häufung — Verarmung an Erregung, ihren Ausdruck fände. Diese
Gegensätzlichkeit hindert nicht, daß sich die beiden Neurosen
miteinander vermengen, zeigt sich aber doch darin, daß die ex¬
tremsten Formen in beiden Fällen auch die reinsten sind.
Mit der Hysterie zeigt die Angstneurose zunächst eine Reihe
von Übereinstimmungen in der Symptomatologie, deren genauere
Würdigung noch aussteht. Das Auftreten der Erscheinungen als
Dauersymptome oder in Anfällen, die auraartig gruppierten Par-
ästhesien, die Hyperästhesien und Druckpunkte, die sich bei ge¬
wissen Surrogaten des Angstanfalles, bei der Dyspnoe und dem
Herzanfalle finden, die Steigerung der etwa organisch berechtigten
Schmerzen (durch Konversion): — diese und andere gemeinschaft¬
liche Züge lassen sogar vermuten, daß manches, was man der
Hysterie zurechnet, mit mehr Fug und Recht zur Angstneurose
geschlagen werden dürfte. Geht man auf den Mechanismus der
beiden Neurosen ein, soweit er sich bis jetzt hat durchschauen
lassen, so ergeben sich Gesichtspunkte, welche die Angstneurose
geradezu als das somatische Seitenstück zur Hysterie erscheinen
lassen. Hier wie dort Anhäufung von Erregung — worin viel¬
leicht die vorhin geschilderte Ähnlichkeit der Symptome gegründet
Berechtigung^ von der Neurasthenie ,.. die „Angstneurose^ abzutrennen 333
ist^ — hier wie dort eine psychische Unzulänglichkeit, der
zufolge abnorme somatische Vorgänge Zustandekommen.
Hier wie dort tritt an Stelle einer psychischen Verarbeitung eine
Ablenkung der Erregung in das Somatische ein; der Unterschied
liegt bloß darin, daß die Erregung, in deren Verschiebung sich
die Neurose äußert, bei der Angstneurose eine rein somatische
(die somatische Sexualerregung), bei der Hysterie eine psychische
(durch Konflikt hervorgerufene) ist. Es kann daher nicht wunder¬
nehmen, daß Hysterie und Angstneurose sich gesetzmäßig mit¬
einander kombinieren wie bei der „virginalen Angst^^ oder der
„sexuellen Hysterie^^, daß die Hysterie eine Anzahl von Sym¬
ptomen einfach der Angstneurose entlehnt u. dgl. Diese innigen
Beziehungen der Angstneurose zur Hysterie geben auch ein neues
Argument ab, um die Trennung der Angstneurose von der Neur¬
asthenie zu fordern; denn verweigert man diese, so kann man
auch die so mühsam erworbene und für die Theorie der Neurosen
so unentbehrliche Unterscheidung von Neurasthenie und Hysterie
nicht mehr aufrecht erhalten.
OßSESSIONS ET PHOBIES
Leur mecanisme psychique et leur etiologie
Zuerst erschienen in der ^Revue neurolo-
gique<‘, III (189s).
Je commencerai par contester deux assertions, qui se trouvent
souvent rdpdtees sur le compte des syndromes: „obsessions et
phobies^^ II faut dire: 1° qu’ils ne se rattachent pas ä la neur-
asthenie propre, puisque les malades atteints de ces symptomes
sont aussi souvent des neurastheniques que non; 2° qu’il n’est
pas justifie de les faire ddpendre de la degendration mentale,
parce qu’ils se trouvent chez des personnes pas plus ddgdnerees
que la plupart des nevrosiques en general, parce qu’ils s’amen-
dent quelquefois et qu’on parvient meme quelquefois ä les
guerir.^
Les obsessions et les phobies sont des nevroses ä part, d’un
mecanisme special et d’une etiologie que j’ai reussi ä mettre en
lumidre dans un certain nombre de cas, et qui, je l’espdre, se
montreront de meme dans bon nombre de cas nouveaux.
Quant ä la division du sujet je propose d’abord d’dcarter une
classe d’obsessions intenses, qui ne sont autre chose que des sou-
1) Je suis tres content de trouver que les auteurs les plus r^cents sur notre
sujet expriment des opinions voisines de la mienne. Voir: Gelineau, Des peurs ma-
ladives ou phobies, 1894, et Hack Tuke^ On imperative ideas, Brain^
Obsessions et phohies
335
venirs, des images non alterees d’ev^nements importants. Je citerai,
par exemple, Tobsession de Pascal qui croyait toujours voir un
abime ä son cote gauche, „depuis qu’il avait manqud d’etre
pr^cipite dans la Seine avec son carosse^^ Ces obsessions et phobies,
qu’on pourrait nommer traumatiques^ se rattachent aux symptomes
de l’hysterie.
Ce groupe ä part il faut distinguer: A) les obsessions vraies^
B) les phobies. La difference essentielle est la suivante.
II y a dans tonte obsession deux choses: une idee qui
s’impose au malade; 2° un etat emotif associe. Or dans la classe
des phobies, cet etat emotif est toujours Vangoisse^ pendant que
dans les obsessions vraies ce peut etre au meme titre que l’an-
xiete un autre etat emotif, comme le doute, le remords, la colfere.
Je tächerai d’abord d’expliquer le mdcanisme psychologique vrai-
ment remarquable des obsessions vraies, qui est bien diffdrent de
celui des phobies.
I
Dans beaucoup d’obsessions vraies, il est bien evident que
rötat emotif est la chose principale, puisque cet ^tat persiste
inaltere pendant que l’id^e associee est varide. Par exemple, la
fille de l’observation I, avait des remords, un peu en raison de
tout, d’avoir vole, maltraite ses soeurs, fait de la fausse monnaie,
etc. Les personnes qui doutent, doutent de beaucoup de choses a
la fois ou successivement. C’est l’dtat emotif qui, dans ces cas,
reste le meme: l’idde change. En d’autres cas l’idee aussi semble
fixee, comme chez la fille de l’observation IV, qui poursuivait d’une
haine incomprehensible les servantes de la maison en changeant
pourtant de personne.
Eh bien, une analyse psychologique scrupuleuse de ces cas
montre que Vetat emotif^ comme tel, est toujours justifie. La fille I,
qui a des remords, a de bonnes raisons; les femmes de l’obser-
vation III qui doutaient de leur rdsistance contre des tentations
336
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
savaient bien pourquoi^ la fille de l’observation IV, qui detestait
les servantes, avait bien le droit de se plaindre etc. Seulement,
et c’est dans ces deux caractbres que consiste l’empreinte patho-
logique: i) Vetat emotif s'est eternise^ 2) l’idee associee n'est plus
Videe juste^ Videe originale^ en rapport avec Vetiologie de TObses¬
sion^ eile en est un remplagant^ une Substitution.
La preuve en est qu’on peut toujours trouver dans les ante-
c^dents du malade ä Vorigine de Vobsession, Tidde originale, sub-
stituee. Les idees substituees ont des caracteres communs, elles
correspondent ä des impressions vraiment penibles de la vie sexu¬
elle de Tindividu que celui-ci s’est efforce d’oublier. II a rdussi
seulement ä remplacer Tidee inconciliable par une autre idee mal
appropride a s’associer a Tdtat dmotif, qui de son cotd est restd
le meme. C’est cette mdsalliance de Tdtat dmotif et de Tidde
associde qui rend compte du caractdre d’absurditd propre aux
obsessions. Je veux rapporter mes observations, et donner une
tentative d’explication thdorique comme conclusion.
Obs. I. — Une fille qui se faissait des reproches, qu’elle savait absurdes,
d’avoir vole, fait de la fausse monnaie, de s’etre conjuree, etc., selon sa
lecture joumaliere.
Redressement de la Substitution, — Elle se reprochait l’onanisme qu’elle
pratiquait en secret sans pouvoir y renoncer.
Elle fut guerie par une observation scrupuleuse qui l’empecha de se
masturber.
Obs. II. — Jeune homme, dtudiant en mddecine, qui souffrait d’une
Obsession analogue. II se reprochait toutes les actions immorales: d’avoir
tue sa Cousine, ddflore sa soeur, incendie une maison, etc. II parvint jusqu’ä
la necessite de se retourner dans le rue pour voir s’il n’avait pas encore
tue le dernier passant.
Redressement de la Substitution, — II avait lu, dans un livre quasi-
medical, que Tonanisme, auquel il ^tait sujet, abfmait la morale, et il s’en
ötait emu.
Obs. III. — Plusieurs femmes qui se plaignaient de l’obsession
de se jeter par la fenetre, de blesser leurs enfants avec des couteaux
oiseaux, etc.
Obsessions et phohies
537
Redressement. — Obsessions de tentations typiques. C’etaient des fem-
mes qiii, pas du tout satisfaites dans le mariage, se debattaient contre
les desirs et les idees voluptueuses qui les hantaient k la vue d’autres
hommes,
Obs. IV. — Une fille qui parfaitement saine d’esprit et tres intelli¬
gente montrait une Haine incontrolahle contre les servantes de la maison^
qui s’etait eveillee ä l’occasion d’une servante effrontee, et s’etait transmise
depuis de fille en fille, jusqu’ä rendre le menage impossible, C’etait un
Sentiment mele de haine et de degoüt. Elle donnait comme motif que les
saletes de ces filles lui gätaient son idee de l’amour.
Redressement. — Cette fille avait ete temoin involontaire d’un rendez-
vous amoureux de sa mere. Elle s’etait cache le visage, bouche les oreilles
et s’^tait donn^ la plus grande peine pour oublier la scene, qui la degoütait
et l’aurait mise dans l’impossibilit^ de rester avec sa mere qu’elle aimait
tendrement. Elle y reussit, mais la colere, de ce qu’on lui avait souille
l’image de l’amour, persista en eile, et cet etat emotif ne tarda pas ä s’as-
socier l’idee d’une personne pouvant remplacer la mere.
Obs. V. — üne jeune fille s’etait presque completement isolee en con-
sequence de la peur obs^dante de l’incontinence des urines. Elle ne pouvait
plus quitt er sa chambre ou recevoir une visite sans avoir urine nombre
de fois.
Chez eile et en repos complet la peur n’existait pas.
• Redressement. — C’etait une Obsession de tentation ou de mefiance.
Elle ne se möfiait pas de sa vessie mais de sa resistance contre une impul-
sion amoureuse. L’origine de l’obsession le montrait bien. CJne fois, au
theätre, eile avait senti ä la vue d’un homme qui lui plaisait une envie
amoureuse accompagnee (comme toujours dans la pollution spontanee des
femmes) de l’envie d’uriner. Elle fut oblig^ ä quitter le theätre, et de ce
moment eile etait en proie ä la peur d’avoir la meme Sensation, mais
l’envie d’uriner s’etait substituee ä l’envie amoureuse. Elle guerit com¬
pletement.
Les observations dnumerees, bien qu’elles montrent un degre
variable de complexitd, ont ceci de commun, que l’idee originale
(inconciliable) est substituee, par une autre idee, idde rempla-
§ante. Dans les observations qui vont suivre maintenant^ l’idee
originale est aussi remplacee mais non par une autre idee^ eile
se trouve substituee par des actes ou impulsions qui ont servi k
Freud, L
22
358
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
l’origine comme Soulagements ou procedes protecteurs, et qui
maintenant se trouvent en association grotesque avec un ötat
^motif qui ne leur convient pas, mais qui est rest^ le meme, et
aussi justifi^ qu’ä l’origine.
Obs. VI. — Obsession d*arithmomanie, — Une femme avait contractu
le besoin de compter toujours les planches du parquet, les marches de
Pescalier, etc., ce qu’elle faisait dans un dtat d’angoisse ridicule.
Redressement, — Elle avait commencd k compter pour se distraire de
ses id^es obs^dantes (de tentation). Elle y avait rdussi, mais l’impulsion de
compter s’dtait substitude k l’obsession primitive.
Obs. VII. — Obsession de „Grübelsucht^ (folie de sp^culation). Une
femme souffrait d’attaques de cette Obsession, qui ne cessaient qu’aux temps
de maladie, pour y laisser la place k des peurs hypochondriaques. Le sujet
de l’attaque dtait ou une partie du corps ou une fonction, par exemple,
la respiration: Pourquoi faut-il respirer? Si je ne voulais respirer? etc.
Redressement, — Tout d’abord eile avait souffert de peur de devenir
folie, phobie hypochondriaque assez commune chez les femmes non satis*
faites par leur mari, comme eile l’^tait. Pour se garantir qüelle n'allait pas
devenir folie^ qu’elle jouissait encore de son Intelligence, eile avait com-
menc^ ä se poser des questions, a s’occuper de problemes s^rieux. Cela la
tranquillisait d’abord, mais avec le temps cette habitude de la spdculation
se substituait ä la phobie. Depuis plus de quinze ans des periodes de peur
(pathophobie) et de folie de sp^culation alternaient chez eile.
Obs. VIII. — Folie du doute, — Plusieurs cas, qui montraient les
symptomes typiques de cette Obsession, mais qui s’expliquaient bien simple-
ment. Ces personnes avaient souffert ou souffraient encore d’obsessions
diverses, et la conscience que l’obsession les avait derangdes dans toutes
leurs actions et interrompu maintes fois le cours de leurs pens^es provo-
quait le doute Idgitime dans la fiddlitd de leur memoire. Chacun de npus
verra chanceler son assurance et sera oblig^ de relire une lettre ou de re-
faire un compte si son attention a dte divertie plusieurs fois pendant
l’exdcution de l’acte. Le doute est une cons^quence bien logique de la
pr^sence des obsessions.
Obs. IX. — Folie du doute (hesitation), — La fülle de l’obs. IV dtait
devenue extr^mement tardive dans toutes les actions de la vie ordinaire,
particulierement dans sa toilette. II lui fallait des heures pour nouer les
cordons de ses souliers ou pour se nettoyer les ongles des mains. Elle don-
Obsessions et phohies
339
nait comme explication qu’elle ne pouvait faire sa toilette ni pendant que
les pensöes obsedantes la pr^occupaient, ni immödiatement apr^s chaque
retour de l’id^e obsedante.
Obs. X. — Folie du doutCy crainte des papiers. — üne jeune femme,
qui avait souffert des scrupules apres avoir ^crit une lettre, et qui dans
ce m^me temps ramassait tous les papiers qu’elle voyait, donnait comme
explication l’aveu d’un amour que jadis eile ne voulait pas confesser.
A force de se röpöter sans cesse le nom de son bien-aim^, eile fut
saisie par la peur que ce nom se serait glisse dans sa plume, qu’elle l’au-
rait trac^ sur quelque bout de papier dans une minute pensive.^
Obs. XI. — Mysophohie, — Une femme qui se lavait les mains cent
fois par jour et ne touchait les loquets des portes que du coude.
Redressement, — C’^tait les cas de Lady Macbeth. Les lavages ^taient
symboliques et destinös ä substituer la puret^ physique k la puret^ morale
qu’elle regrettait avoir perdue. Elle se tourmentait de remords pour une
infid^litö conjugale dont eile avait d^cidö de chasser le souvenir. Elle se
lavait aussi les parties genitales.
Quant ä la throne de cette Substitution, je me contenterai de
rdpondre ä trois questions qui se posent ici:
1® Comment cette Substitution peut-elle se faire?
II semble qu’elle est l’expression d’une disposition psychique
spdciale. Au moins recontre-t-on dans les obsessions assez souvent
l’hdrdditd similaire, comme dans l’hyst^rie. Ainsi le malade de
l’obs. n me racontait que son pfere avait souffert de symptomes
semblables. H me fit connaitre un jour un cousin germain
avec obsessions et tic convulsif, et la falle de sa soeur ag^e
de 11 ans, qui montrait ddjä des obsessions (probablement de
remords).
2 ® Quel est le motif de cette Substitution?
Je crois qu’on peut l’envisager comme un acte de difense (Abwehr)
du moi contre Videe inconciliable. Parmi mes malades il y en a qui
se rappellent l’effort de la volontd pour chasser Tidde ou le
i) Yoir aussi la chanson popidaire allemande:
Auf jedes weiße Blatt Papier möcht ich es schreiben:
Dein ist mein Herz und soll es ewig, ewig hleihen.
340
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Souvenir penible du rayon de la conscience (V. les obs/ III, IV,
XI). En d’autres cas cette expulsion de l’idee inconciliable s’öst
produite d’une manibre inconsciente qui n’a pas laiss^ trace dans
la mdmoire des malades.
5° Pourquoi Vetat emotif associe ä Videe obsedante s'est-il
perpetue^ au lieu de s'evanouir comme les autres etats de notre
moi?
On peut donner cette reponse en s’adressant ä la theorie d^ve-
loppee pour la genbse des symptomes hyst^riques par M. Breuer
et moi.^ Ici je veux seulement remarquer que, par le fait meme
de la Substitution, la disparition de l’etat emotif devient im-
possible.
II
A ces deux groupes d’obsessions vraies s’ajoute la classe des
„phobies“, qu’il faut considerer maintenant. J’ai deja mentionne
la grande difference des obsessions et des phobies; que dans les
derniferes l’^tat emotif est toujours l’anxi^te, la peur. Je pourrais
ajouter que les obsessions sont multiples et plus specialisees, les
phobies plutot monotones et typiques.
Mais ce n’est pas une difference capitale.
On peut discerner aussi parmi les phobies deux groupes, carac-
terises par Tobjet de la peur: phobies communes: peur exa-
geree des choses que tout le monde abhorre ou craint un peu:
la nuit, la solitude, la mort, les maladies, les dangers en general,
les serpents, etc.: 2° phobies d’occasion, peur de conditions speciales,
qui n’inspirent pas la crainte ä Thomme sain, par exemple l’agora-
phobie et les autres phobies de la locomotion. II est interessant k
noter que ces derniferes phobies ne sont pas obsedantes comme
les obsessions vraies et les phobies communes. L’etat emotif ici
ne parait que dans le cas de ces conditions spöciales que le ma¬
lade evite soigneusement.
1) Neurologisclus Zentralblatt, 1895, Nr. 1 und 2.
341
Obsessions et phohies
Le mecanisme des phobies est tout ä fait different de celui
des obsessions. Ce n’est plus le rbgne de la Substitution. Ici on
ne d^voile plus par l’analyse psychique une idde inconciliable,
substituee. On ne trouve jamais autre chose que Tetat emotif^
anxieux, qui par une sorte d’election a fait ressortir toutes les
idees propres a devenir l’objet d’une phobie. Dans le cas de
l’agoraphobie, etc., on recontre souvent le Souvenir dune attaque
dangoisse^ et en verite ce que redoute le malade c’est l’ev^nement
d’une ‘ teile attaque dans les conditions speciales oü il croit ne
pouvoir y echapper.
L’angoisse de cet etat emotif, qui est au fond des phobies, n’est pas
derivd d’un Souvenir quelconquej on doit bien se demander quelle
peut etre la source de cette condition puissante du systbme nerveux.
Eh bien j’espfere pouvoir d^montrer une autre fois qu’il y a
lieu de constituer une nevrose sp^ciale, la nevrose anxieuse^ de
laquelle cet etat emotif est le Symptome principal^ je donnerai
l’^numeration de ses symptomes vari^s, et j’insisterai en ce qu’il
faut differencier cette nevrose de la neurasthenie, avec laquelle
eile est maintenant confondue. Ainsi les phohies font part de la
nevrose anxieuse^ et elles sont presque toujours accompagnees
d’autres symptomes de la meme Serie.
La nevrose anxieuse est dorigine sexuelle^ eile aussi, autant
que je puis voir, mais eile ne se rattache pas ä des id( 5 es tirees
de la vie sexuelle: eile n’a pas de mecanisme psychique, ä vrai
dire. Son etiologie specifique est l’accumulation de la tension
genesique, provoquee par l’abstinence ou l’irritation genesique
fruste (pour donner une formule generale pour l’effet du coi't
r&erv^, de l’impotence relative du mari, des excitations sans satis-
faction des fianc^s, de l’abstinence forcee, etc.).
C’est dans de telles conditions extremement frequentes, princi-
palement pour la femme dans la societe actuelle, que se d^veloppe
la nevrose anxieuse, de laquelle les phobies sont une manifestation
psychique.
343
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Je ferai remarquer, comme concliision, qu’il peut y avoir com-
binaison de phobie et d’obsession propre, et meme que c’est un
^v^nement trfes frequent. On peut trouver qu’il y avait au com-
mencement de la maladie une phobie d^velopp^e comme Sym¬
ptome de la ndvrose anxieuse. L’id^e qui constitue la phobie qui
s’y trouve associ^e k la peur, peut etre substitu^e par une autre
id^e ou plutot par le procede protecteur qui semblait soulager la
peur. L’obs. VI (folie de la spdculation) präsente un bei exemple
de cette categorie, phobie doublee dune Obsession vraie par sub^
stitution.
ZUR KRITIK DER »ANGSTNEUROSEi
Zuerst erschienen in der „Wiener Klinischen
Rundschau^, iS^f.
InNummer2 des„NeurologischenZentralblattes‘^vonMendel, 1895,
habe ich einen kleinen Aufsatz veröffentlicht, in welchem ich den Ver¬
such wage, eine Reihe von nervösen Zuständen von der Neurasthenie
abzutrennen und unter dem Namen „Angstneuroseselbständig
zu machen/ Ich ließ mich hiezu bewegen durch ein konstantes
Zusammentreffen klinischer und ätiologischer Charaktere, das ja
überhaupt für eine Sonderung maßgebend sein darf. Ich fand
nämlich, worin mir E. Hecker^ zuvorgekommen war, daß die
in Rede stehenden neurotischen Symptome sich sämtlich zusam¬
menfassen ließen als zum Ausdruck der Angst gehörig, und ich
konnte aus meinen Bemühungen um die Ätiologie der Neurosen
hinzufügen, daß diese Teilstücke des Komplexes „Angstneurose“
besondere ätiologische Bedingungen erkennen lassen, die der
Ätiologie der Neurasthenie nahezu gegensätzlich sind. Meine
Erfahrungen hatten mich gelehrt, daß in der Ätiologie der
Neurosen (wenigstens der erworbenen Fälle und erwerbbaren
Formen) sexuelle Momente eine hervorragende und viel zu wenig
x) Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomen-
komplex als „Angstneurose“ abzutrennen. (S. 506 ff. dieses Bandes.)
2)E. Hecker. Über larvierte und abortive Angstzustände bei Neurasthenie.
Zentralblatt für Nervenheilkunde. Dez. 1893.
344
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
gewürdigte Rolle spielen, so daß etwa die Behauptung, „die Ätio¬
logie der Neurosen liege in der Sexualität“, bei all ihrer not¬
wendigen Unrichtigkeit per excessum et defectum doch der Wahr¬
heit näher kommt als die anderen, gegenwärtig herrschenden
Lehren. Ein weiterer Satz, zu dem mich die Erfahrung drängte,
ging dahin, daß die verschiedenen sexuellen Noxen nicht etwa
unterschiedslos in der Ätiologie aller Neurosen zu finden seien,
sondern daß unverkennbar besondere Beziehungen einzelner Noxen
zu einzelnen Neurosen beständen. Ich durfte so annehm^n,* daß
ich die spezifischen Ursachen der einzelnen Neurosen aufgedeckt
hatte. Ich suchte dann die Besonderheit der sexuellen Noxen,
welche die Ätiologie der Angstneurose ausmachen, in eine kurze
Formel zu fassen, und gelangte (in Anlehnung an meine Auf¬
fassung des Sexual Vorganges, 1 . c. p. 6i) zu dem Satze: Angst¬
neurose schaffe alles, was die somatische Sexualspannung vom
Psychischen abhalte, an ihrer psychischen Verarbeitung störe,.
Wenn man auf die konkreten Verhältnisse zurückgeht, in denen
sich dieses Moment zur Geltung bringt, so ergibt sich die Be¬
hauptung, daß freiwillige oder unfreiwillige Abstinenz, sexueller
Verkehr mit unvollständiger Befriedigung, Coitus interruptus, Ab¬
lenkung des psychischen Interesses von der Sexualität u. dgl.
die spezifischen ätiologischen Faktoren der von mir Angstneurose
genannten Zustände seien.
Als ich meine hier erwähnte Mitteilung zur Veröffentlichung
brachte, täuschte ich mich keineswegs über deren Macht, Über¬
zeugung zu erwecken. Zunächst konnte ich mir ja sagen, daß
ich nur eine knappe, unvollständige, stellenweise sogar schwer
verständliche Darstellung gegeben hatte, vielleicht gerade genügend^
um die Erwartung der Leser vorzubereiten. Sonst hatte ich kaum
Beispiele angeführt und keine Zahlen genannt, die Technik der
Erhebung der Anamnese nicht gestreift, zur Verhütung von Mi߬
verständnissen nichts vorgesorgt, andere als die naheliegehdsien
Einwände nicht berücksichtigt und von der Lehre selbst eben
Zi/r Kritik der „Angstneurose*^ 545
nur den Hauptsatz und nicht die Einschränkungen hervorgehoben.
Deimhach konnte auch wirklich ein jeder sich seine eigene Meinung
vcin der Verbindlichkeit der ganzen Aufstellung bilden. Ich konnte
aber noch auf eine andere Erschwerung der Zustimmung rechnen.
Ich weiß sehr wohl, daß ich mit der „sexuellen Ätiologieder
Neurosen nichts Neues vorgebracht habe, daß die Unterströmungen
in der medizinischen Literatur, welche diesen Tatsachen Rechnung
getragen, nie ausgegangen sind, und daß die offizielle Medizin
der Schulen sie eigentlich auch gekannt hat. Allein die letztere
hat so getan, als wüßte sie nichts davon 5 sie hat von ihrer
Kenntnis keinen Gebrauch gemacht, keine Folgerung aus ihr ge¬
zogen. Solches Verhalten muß wohl eine tiefgehende Begründung
haben, etwa in einer Art von Scheu, sexuelle Verhältnisse ins
Auge zu fassen, oder in einer Reaktion gegen ältere, als über¬
wunden betrachtete Erklärungsversuche. Jedenfalls mußte man vor¬
bereitet sein, auf Widerstand zu stoßen, wenn man den Versuch
wagte, anderen etwas glaubwürdig zu machen, was diese ohne
jede Mühe auch selbst hätten entdecken können.
Es wäre bei solcher Sachlage vielleicht zweckmäßiger, auf
kritische Einwendungen nicht eher zu antworten, als bis ich mich
über das komplizierte Thema selbst ausführlicher geäußert und
besser verständlich gemacht hätte. Dennoch kann ich den Motiven
nicht widerstehen, die mich veranlassen, einer Kritik meiner Lehre
von der Angstneurose aus den letzten Tagen auch unverzüglich
zü begegnen. Ich tue dies wegen der Person des Autors, L. Löwen¬
feld in München, des Verfassers der „Pathologie und Therapie
der Neurasthenie und Hysteriedessen Urteil beim ärztlichen
Publikum schwer ins Gewicht fallen dürfte, wegen einer mi߬
verständlichen Auffassung, mit welcher mich die Darstellung
Lö^verifelds belastet, und weil ich von Anfang ah den Eindruck
bekämpfen möchte, als sei meine Lehre gar so mühelos durch
die nächstbesten, im Vorbeigehen angebrachten Einwendungen zu
widerlegen.
546
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Löwenfeld' findet mit sicherem Blick als das Wesentliche
meiner Arbeit heraus, daß ich für die Angstsymptome eine spe¬
zifische und einheitliche Ätiologie sexueller Natur behaupte. Ist
dies nicht als Tatsache festzustellen, so entfallt auch der Haupt¬
grund für die Abtrennung einer selbständigen Angstneurose von
der Neurasthenie. Eis erübrigt dann allerdings eine Schwierigkeit,
auf die ich aufmerksam gemacht habe, daß nämlich die Angst¬
symptome so unverkennbare Beziehungen auch zur Hysterie
haben, so daß durch die Entscheidung im Sinne Löwenfelds
die Sonderung von Hysterie und Neurasthenie zu Schaden kommt 5
allein dieser Schwierigkeit wird durch die später zu würdigende
Berufung auf die Heredität als gemeinsame Ursache all dieser
Neurosen begegnet.
Durch welche Argumente stützt nun Löwenfeld den Ein¬
spruch gegen meine Lehre?
l) Ich habe als wesentlich für das Verständnis der Angstneu¬
rose hervorgehoben, daß die Angst derselben eine psychische Ab¬
leitung nicht zuläßt, das heißt, daß man die Angstbereitschaft,
die den Kern der Neurose bildet, nicht durch einen einmaligen
oder wiederholten, psychisch berechtigten Schreckaffekt erwerben
kann. Durch Schreck entstünde wohl eine Hysterie oder trau¬
matische Neurose, aber keine Angstneurose. Es ist diese Leugnung,
wie man leicht einsieht, nichts anderes als das Gegenstück zu
meiner Behauptung positiven Inhalts, die Angst meiner Neurose
entspreche somatischer und vom Psychischen abgelenkter Sexual¬
spannung, die sich sonst als Libido geltend gemacht hätte.
Dagegen betont nun Löwenfeld, daß in einer Anzahl von
Fällen „Angstzustände unmittelbar oder einige Zeit nach einem
psychischen Shok (bloßem Schreck oder Unfällen, die mit Schrecken
verbunden waren) auftreten, und daß zum Teil hiebei Ver-
i)L. Löwenfeld:] Über die Verknüpfung- neurasthenischer und hysterischer
Symptome in Anfallsform nebst Bemerkungen über die Freudsche Angstneurose.
Münchener med. Wochenschr. Nr. 15, 1895.
Zi/r Kritik der yjAngstneurose*^
347
hältnisse bestehen, welche die Mitwirkung sexueller Schädlich¬
keiten der angegebenen Art höchst unwahrscheinlich machen
Er teilt als besonders prägnantes Beispiel eine Krankenbeob¬
achtung (anstatt vieler) in Kürze mit. In diesem Beispiel handelt
es sich um eine dreißigjährige, seit vier Jahren verheiratete Frau,
erblich belastet, die vor einem Jahre eine erste schwierige Ent¬
bindung hatte. Wenige Wochen nach ihrer Niederkunft erschrak
sie über einen Krankheitsanfall ihres Mannes, lief in ihrer Auf¬
regung im Hemd im kalten Zimmer herum. Von da an krank,
zuerst mit abendlichen Angstzuständen und Herzklopfen, später
kamen Anfalle von konvulsivischem Zittern und in weiterer
Folge Phobien u. dgl.: das Bild einer voll entwickelten Angst¬
neurose. „Hier sind die Angstzustände^^, schließt Löwenfeld,
„offenbar psychisch abgeleitet, durch den einmaligen Schrecken
herbeigeführt.
Ich bezweifle nicht, daß der geehrte Autor über viele ähnliche
Fälle verfügt^ kann ich doch selbst mit einer großen Reihe
analoger Beispiele dienen. Wer solche Fälle von Ausbruch der
Angstneurose nach psychischem Shok, überaus häufige Vorkomm¬
nisse, nicht gesehen hätte, dürfte sich nicht anmaßen, in Sachen
der Angstneurose mitzusprechen. Ich will nur dabei anmerken,
daß in der Ätiologie solcher Fälle nicht jedesmal Schreck oder
ängstliche Erwartung nachweisbar sein muß; eine beliebige andere
Gemütsbewegung tut es auch. Wenn ich rasch einige Fälle aus
meiner Erinnerung mustere, so fällt mir ein Mann von fünfund¬
vierzig Jahren ein, der den ersten Angstanfall (mit Herzkollaps) auf die
Nachricht vom Tode seines betagten Vaters bekam; von da an ent¬
wickelte sich volle und typische Angstneurose mit Agoraphobie;
ferner ein junger Mann, der in dieselbe Neurose durch die Er¬
regung über die Zwistigkeiten zwischen seiner jungen Frau und
seiner Mutter verfiel und nach jedem neuen häuslichen Zank
neuerdings agoraphobisch wurde; ein Student, der, einigermaßen
verbummelt, die ersten Angstanfälle in einer Periode scharfer
348
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Prüfungsarbeit unter dem Sporn väterlicher Ungnade produzierte 5
eine selbst kinderlose Frau, die infolge der Angst um die Ge¬
sundheit einer kleinen Nichte erkrankte, u. dgl. m. An der Tat¬
sache selbst, die Löwenfeld gegen mich verwertet, besteht
nicht der leiseste Zweifel.
Wohl aber an ihrer Deutung. Es fragt sich, soll man hier
ohneweiters auf das post hoc ergo propter hoc eingehen, sich
jede kritische Verarbeitung des Rohmaterials ersparen? Man kennt
ja Beispiele genug dafür, daß die letzte auslösende Ursache sich
vor der kritischen Analyse nicht als causa efficiens bewähren
konnte. Man denke an das Verhältnis von Trauma und Gicht
beispielsweise! Die Rolle des Traumas ist hier, bei der Provokation
eines Gichtanfalles in dem vom Trauma betroffenen Glied, wahr¬
scheinlich keine andere, als sie in der Ätiologie der Tabes und
der Paralyse sein dürfte 5 nur scheint im Beispiel der Gicht be¬
reits für jede Einsicht absurd, daß das Trauma die Gicht „ver¬
ursacht“ anstatt provoziert haben sollte. Man muß doch nach¬
denklich werden, wenn man ätiologische Momente solcher Art
— banale möchte ich sie nennen — in der Ätiologie der man¬
nigfaltigsten Krankheitszustände antrifft. Gemütsbewegung, Schreck
ist auch solch ein banales Moment 5 Chorea, Apoplexie, Paralysis
agitans und was nicht alles sonst kann der Schreck geradeso
hervorrufen wie eine Angstneurose. Nun darf ich freilich nicht
weiter argumentieren, wegen dieser Ubiquität genügten die ba¬
nalen Ursachen unseren Anforderungen nicht, es müßte außer¬
dem spezifische Ursachen geben. Das hieße den Satz, den ich
erweisen will, vorwegnehmen. Ich bin aber berechtigt, folgender¬
art zu schließen: Wenn sich die nämliche spezifische Ursache
in der Ätiologie aller oder der allermeisten Fälle von Angst¬
neurose nachweisen läßt, dann braucht sich unsere Auffassung
nicht dadurch beirren lassen, daß der Ausbruch der Krankheit
erst nach der Einwirkung des einen oder anderen banalen Mo¬
ments, wie es Gemütsbewegung ist, erfolgt.
549
7jur Kritik der „Angsineurose^
So war es nun in meinen Fällen von Angstneurose. Der Mann,
der -— rätselhafterweise — auf die Nachricht vom Tode seines
Vaters erkrankte (ich mache diese Randglosse, weil dieser Tod
nicht unerwartet und nicht unter ungewöhnlichen, erschütternden
Umständen erfolgte), dieser Mann lebte seit elf Jahren im Coitus
interruptus mit seiner Ehefrau, welche er meistens zu befriedigen
trachtete^ der junge Mann, der den Streitigkeiten zwischen seiner
Frau und seiner Mutter nicht gewachsen war, hatte bei seiner
jungen Frau von Anfang an das Zurückziehen geübt, um sich
die Belastung mit Nachkommenschaft zu ersparen 5 der Student,
der sich durch Überarbeitung eine Angstneurose zuzog anstatt
der zu erwartenden Cerebrasthenie, unterhielt seit drei Jahren ein
Verhältnis mit einem Mädchen, das er nicht schwängern durfte;
die Frau, die, selbst kinderlos, über die Krankheit einer Nichte
der Angstneurose verfiel, war mit einem impotenten Mann ver¬
heiratet und sexuell nie befriedigt worden u. dgl. Nicht alle diese
Fälle sind gleich klar oder für meine These gleich gut bewei¬
send; aber wenn ich sie an die sehr beträchtliche Anzahl von
Fällen anreihe, in denen die Ätiologie nichts anderes als das
spezifische Moment aufweist, fügen sie sich der von mir aufge¬
stellten Lehre widerspruchslos ein und gestatten eine Erwei¬
terung unseres ätiologischen Verständnisses über die bisher gel¬
tenden Grenzen.
Wenn mir jemand nach weisen will, daß ich in vorstehender
Betrachtung die Bedeutung der banalen ätiologischen Momente
ungebührlich zurückgesetzt habe, so muß er mir Beobachtungen
entgegenhalten, in denen mein spezifisches Moment vermißt wird,
also Fälle von Entstehung der Angstneurose nach psychischem
Shok bei (im ganzen) normaler vita sexualis. Man urteile
nun, ob der Fall von Löwenfeld diese Bedingung erfüllt. Mein
geehrter Gegner hat sich diese Anforderung offenbar nicht klar
gemacht, sonst würde er uns über die vita sexualis seiner Pa¬
tientin nicht so völlig im unklaren lassen. Ich will es beiseite
350
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
lassen, daß der Fall einer dreißigjährigen Dame offenbar mit einer
Hysterie kompliziert ist, an deren psychischer Ableitbarkeit ich
am wenigsten zweifle; ich gebe die Angstneurose neben dieser
Hysterie natürlich ohne Einspruch zu. Aber ehe ich einen Fall
für oder gegen die Lehre von der sexuellen Ätiologie der
Neurosen verwerte, muß ich das sexuelle Verhalten der Patientin
eingehender als Löwenfeld hier studiert haben. Ich werde mich
nicht mit dem Schlüsse begnügen: da die Dame zur Zeit des
psychischen Shoks kurz nach einer Entbindung war, dürfte der
Coitus interruptus im letzten Jahre keine Rolle gespielt haben
und somit sexuelle Noxen hier entfallen. Ich kenne Fälle von
Angstneurose bei jährlich wiederholter Gravidität, weil (unglaub¬
licherweise) von dem befruchtenden Koitus an jeder Verkehr
eingestellt wurde, so daß die kinderreiche Frau all die Jahre über
an Entbehrung litt. Eis ist keinem Arzte unbekannt, daß Frauen
von sehr wenig potenten Männern konzipieren, die nicht im¬
stande sind, ihnen Befriedigung zu verschaffen, und endlich gibt
es, womit gerade die Vertreter der Hereditätsätiologie rechnen
sollten, Frauen genug, die mit einer kongenitalen Angstneurose
behaftet sind, d. h. die eine solche vita sexualis mitbringen
respektive ohne nachweisbare äußere Störung entwickeln, wie
man sie sonst durch Coitus interruptus und ähnliche Noxen er¬
wirbt. Bei einer Anzahl dieser Frauen kann man eine hysterische
Erkrankung der Jugendjahre eruieren, seit welcher die vita sexu¬
alis gestört und eine Ablenkung der Sexualspannung vom Psy¬
chischen hergestellt ist. Frauen mit solcher Sexualität sind einer
wirklichen Befriedigung selbst durch normalen Koitus unfähig
und entwickeln Angstneurose entweder spontan oder nach dem
Zutritt weiterer wirksamer Momente. Was von alledem mag in
dem Falle Löwenfelds Vorgelegen haben? Ich weiß es nicht, aber ich
wiederhole, gegen mich beweisend ist dieser Fall nur, wenn die
Dame, die auf einmaligen Schreck mit einer Angstneurose ant¬
wortet, sich vorher einer normalen vita sexualis erfreut hat.
35»
Zur Kritik der y^Angstneurose^
Wir können unmöglich ätiologische Forschungen aus der Anam¬
nese betreiben, wenn wir die Anamnese so hinnehmen, wie der
Kranke sie gibt, oder uns mit dem begnügen, was er uns preis¬
geben will. Wenn die Syphilidologen die Zurückführung eines
Initialaffekts an den Genitalien auf sexuellen Verkehr noch von
der Aussage des Patienten abhängen ließen, würden sie eine ganz
stattliche Anzahl von Schankern bei angeblich virginalen Individuen
von Erkältung herleiten können, und die Gynäkologen fönden
kaum Schwierigkeiten, das Wunder der Parthenogenesis an ihren
unverheirateten Klientinnen zu bestätigen. Ich hoffe, es wird der¬
einst durchdringen, daß auch die Neuropathologen bei der Er¬
hebung der Anamnese großer Neurosen von ähnlichen ätiologi¬
schen Vorurteilen ausgehen dürfen.
2) Ferner sagt Löwenfeld, er habe wiederholt Angstzustände
auftauchen und verschwinden gesehen, wo eine Änderung im
sexuellen Leben sicher nicht statthatte, dagegen andere Faktoren
im Spiele waren.
Ganz dieselbe Erfahrung habe ich auch gemacht, ohne daß
sie mich beirrt hätte. Auch ich habe die Angstzufalle durch
psychische Behandlung, Allgemeinbesserung u. dgl. zum Schwin¬
den gebracht. Ich habe natürlich daraus nicht geschlossen, daß
der Mangel an Behandlung die Ursache der Angstanfalle war.
Nicht etwa, daß ich Löwenfeld einen derartigen Schluß unter¬
schieben wollte5 ich will mit obiger scherzhafter Bemerkung nur
andeuten, daß die Sachlage leicht kompliziert genug sein kann,
um den Einwand von Löwenfeld völlig zu entwerten. Ich habe
nicht schwer gefunden, die hier vorgebrachte Tatsache mit der
Behauptung der spezifischen Ätiologie der Angstneurose zu ver¬
einigen. Man wird mir gerne zugestehen, daß es ätiologisch
wirksame Momente gibt, die, um ihre Wirkung zu üben, in
einer gewissen Intensität (oder Quantität) und über einen ge¬
wissen Zeitraum wirken müssen, die sich also summieren^ die^
Alkoholwirkung ist ein Vorbild für solche Verursachung durch
352
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Summation. Demnach wird es einen Zeitraum geben dürfen^ in
dem die spezifische Ätiologie in ihrer Arbeit begriffen, aber deren
Wirkung noch nicht manifest ist. Während solcher Zeit ist die
Person noch nicht krank, aber sie ist zur bestimmten Erkrankung,
in unserem Falle zur Angstneurose, disponiert, und nun wird der
Zutritt einer banalen Noxe die Neurose auslösen können, geradeso
wie eine weitere Steigerung in der Einwirkung der spezifischen
Noxe. Man kann dies auch so ausdrücken: Es reicht nicht hin,
daß das spezifische ätiologische Moment vorhanden ist, es muß
auch ein bestimmtes Maß davon voll werden, und bei der Er¬
reichung dieser Grenze kann' eine Quantität spezifischer Noxe
durch einen Betrag banaler Schädlichkeit ersetzt werden. Wird
letzterer wieder weggenommen, so befindet man sich unterhalb
einer Schwelle^ die Krankheitserscheinungen treten wieder zurück.
Die ganze Therapie der Neurosen beruht darauf, daß man die
Gesamtbelastung des Nervensystems, welcher dieses erliegt, durch
sehr verschiedenartige Beeinflussungen der ätiologischen Mischung
unter die Schwelle bringen kann. Auf Fehlen oder Existenz
einer spezifischen Ätiologie ist aus diesen Verhältnissen kein
Schluß zu ziehen.
Das sind doch gewiß einwurfsfreie und gesicherte Erwägungen.
Wem sie noch nicht genügen, der möge folgendes Argument auf
sich wirken lassen. Nach der Ansicht Löwenfelds und so vieler
anderer ist die Ätiologie der Angstzustände in der Heredität zu
finden. Die Heredität ist nun gewiß einer Änderung entzogen;
wenn Angstneurose durch [Behandlung geheilt wird, sollte man
nun mit Löwenfeld schließen dürfen, daß die Heredität nicht
die Ätiologie enthalten kann.
Übrigens, ich hätte mir die Verteidigung gegen die beiden
angeführten Ein wände von Löwenfeld ersparen können, wenn
mein geehrter Gegner meiner Arbeit selbst größere Aufmerksam¬
keit geschenkt hätte. Die beiden Einwendungen sind in meiner
Arbeit selbst vorgesehen und beantwortet (S. 68 ff.); ich könnte
TLur Kritik der ^^Angstneurose^
353
die Ausführungen von dort hier nur wiederholen, ich habe mit
Absicht selbst die nämlichen Krankheitsfälle hier neuerdings
analysiert. Auch die ätiologischen Formeln, auf die ich eben vor¬
hin Wert legte, sind im Texte meiner Abhandlung enthalten.
Ich will sie hier nochmals wiederholen. Ich behaupte: Es gibt
für die Angstneurose ein spezifisches ätiologisches Mo¬
ment, welches in seiner Wirkung von banalen Schäd¬
lichkeiten zwar quantitativ vertreten, aber nicht qua¬
litativ ersetzt werden kann. Ferner: Dieses spezifische
Moment bestimmt vor allem die Form der Neurose^ ob
eine neurotische Erkrankung überhaupt zustande kommt,
hängt von der Gesamtbelastung des Nervensystems (im
Verhältnis zu dessen Tragfähigkeit) ab. In der Regel sind
die Neurosen überdeterminiert, d. h. es wirken in ihrer Ätio¬
logie mehrere Faktoren zusammen.
}) Um die Widerlegung der nächsten Bemerkungen Löwen¬
felds brauche ich mich weniger zu bemühen, da dieselben einer¬
seits meiner Lehre wenig anhaben, anderseits Schwierigkeiten her¬
vorheben, die ich als vorhanden anerkenne. Löwenfeld sagt:
„Die Freudsche Theorie ist aber ganz und gar ungenügend,
das Auftreten und Ausbleiben der Angstanfälle im einzelnen zu
erklären. Wenn die Angstzustände, i. e. die Erscheinungen der
Angstneurose, lediglich durch subkortikale Aufspeicherung der
somatischen Sexualerregung und abnorme Verwendung derselben
zustande kommen würden, so müßte jeder mit Angstzuständen
Behaftete, so lange keine Änderungen in seinem sexuellen Leben
eintreten, von Zeit zu Zeit einen Angstanfall haben, wie der
Epileptische seinen Anfall von grand und petit mal hat. Dies ist
aber, wie die alltägliche Erfahrung zeigt, durchaus nicht der Fall.
Die Angstanfälle treten weit überwiegend nur bei bestimmten
Anlässen ein5 wenn der Patient diese meidet oder durch irgend
eine Vorkehrung deren Einfluß zu paralysieren weiß, so bleibt
er von Angstanfällen verschont, er mag dem Congressus interrup-
Freud, I.
23
354
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
tus oder der Abstinenz andauernd huldigen oder sich einer nor¬
malen vita sexualis erfreuen/^
Darüber ist nun sehr viel zu sagen. Zunächst, daß Löwenfeld
meiner Theorie eine Folgerung aufnötigt, die sie nicht zu akzep¬
tieren braucht. Daß es bei der Aufspeicherung der somatischen
Sexualerregung so zugehen müsse wie bei der Anhäufung des
Reizes zum epileptischen Krampfe, ist eine allzu detaillierte Auf¬
stellung, zu welcher ich keinen Anlaß gegeben habe, und ist
nicht die einzige, die sich darbietet. Ich brauche nur anzunehmen,
daß das Nervensystem ein gewisses Maß von somatischer Sexual¬
erregung, auch wenn diese von ihrem Ziele abgelenkt sei, zu
bewältigen vermöge, und daß Störungen nur dann entstehen,
wenn das Quantum dieser Erregung eine plötzliche Steigerung
erfährt, und die Anforderung Löwenfelds wäre beseitigt. Ich
habe mich nicht getraut, meine Theorie nach dieser Richtung
hin auszubauen, hauptsächlich darum, weil ich keine sicheren
Stützpunkte auf dem Wege dahin zu finden erwartete. Ich will
bloß andeuten, daß wir uns die Produktion von Sexualspannung
nicht unabhängig von ihrer Verausgabung vorstellen dürfen, daß
im normalen Sexualleben diese Produktion bei Anregung durch
das Sexualobjekt sich wesentlich anders gestaltet als bei psy¬
chischer Ruhe u. dgl.
Zuzugeben ist, daß die Verhältnisse hier wohl anders liegen als
bei epileptischer Krampfneigung, und daß sie aus der Theorie der
Aufspeicherung somatischer Sexualerregung noch nicht im Zu¬
sammenhänge abzuleiten sind.
Der weiteren Behauptung Löwenfelds, daß die Angstzustände
nur bei gewissen Anlässen auftreten, bei deren Vermeidung sie
ausbleiben, gleichgültig, welches die vita sexualis des Betreffenden
sein mag, ist entgegenzuhalten, daß Löwenfeld hiebei offenbar
nur die Angst der Phobien im Auge hat, wie auch die an die
zitierte Stelle geknüpften Beispiele zeigen. Von den spontanen
Angstanfällen, deren Inhalt Schwindel, Herzklopfen, Atemnot^
Zwr Kritik der y, Angstneurose
355
Zittern, Schweiß u. dgl. ist, spricht er gar nicht. Das Auftreten
und Ausbleiben dieser Angstanfälle zu erklären, scheint meine
Theorie aber keineswegs untüchtig. In einer ganzen Reihe solcher
Fälle von Angstneurose ergibt sich nämlich wirklich der Anschein
einer Periodizität des Auftretens von Angstzuständen ähnlich der
bei Epilepsie beobachteten, nur daß hier der Mechanismus dieser
Periodizität durchsichtiger wird. Bei näherer Erforschung findet
man nämlich mit großer Regelmäßigkeit einen aufregenden sexu¬
ellen Vorgang auf (d. h. einen solchen, der imstande ist, soma¬
tische Sexualspannung zu entbinden), an welchen sich mit Ein¬
haltung eines bestimmten, oft ganz konstanten Zeitintervalls der
Angstanfall anschließt. Diese Rolle spielen bei abstinenten Frauen
die menstruale Erregung, die gleichfalls periodisch wiederkehren¬
den nächtlichen Pollutionen, vor allem der (in seiner Unvoll¬
ständigkeit schädliche) sexuelle Verkehr selbst, der diesen seinen
Wirkungen, den Angstanfällen, die eigene Periodizität überträgt.
Kommen Angstanfalle, welche die gewohnte Periodizität durch¬
brechen, so gelingt es zumeist, sie auf eine Gelegenheitsursache
von seltenerem und unregelmäßigem Vorkommen zurückzuführen,
ein vereinzeltes sexuelles Erlebnis, Lektüre, Schaustellung u. dgl.
Das Intervall, das ich erwähnt habe, beträgt einige Stunden bis
zu zwei Tagen ^ es ist dasselbe, mit welchem bei anderen Personen
auf dieselben Veranlassungen hin die bekannte Sexualmigräne auf-
tritt, die ihre sicheren Beziehungen zum Symptomenkomplex der
Angstneurose hat.
Daneben gibt es reichlich Fälle, in denen der einzelne Angst¬
zustand durch das Hinzutreten eines banalen Moments, durch
Aufregung beliebiger Art, provoziert wird. Es gilt also für die
Ätiologie des einzelnen Angstanfalles dieselbe Vertretung wie für
die Verursachung der ganzen Neurose. Daß die Angst der Phobien
anderen Bedingungen folgt, ist nicht sehr verwunderlich 5 die
Phobien haben ein komplizierteres Gefüge als die einfach somati¬
schen Angstanfälle. Bei ihnen ist die Angst mit einem bestimmten
23*
356
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Vorstellungs- oder Wahrnehmungsinhalt verknüpft, und die Er¬
weckung dieses psychischen Inhalts ist die Hauptbedingung für das
Auftreten dieser Angst. Die Angst wird dann „entbunden“, ähnlich
wie z. B. die Sexualspannung durch die Erweckung libidinöser Vor¬
stellungen^ aber dieser Vorgang ist allerdings in seinem Zusammen¬
hänge mit der Theorie der Angstneurose noch nicht aufgeklärt.
Ich sehe nicht ein, weshalb ich streben sollte, Lücken und
Schwächen meiner Theorie zu verbergen. Die Hauptsache an dem
Problem der Phobien scheint mir zu sein, daß Phobien bei
normaler vita sexualis — d. i. bei Nichterfüllung der spezifi¬
schen Bedingung von Störung der vita sexualis im Sinne einer
Ablenkung des Somatischen vom Psychischen — überhaupt
nicht zustande kommen. Mag sonst am Mechanismus der
Phobien noch so vieles dunkel sein, meine Lehre ist erst wider¬
legt, wenn man mir Phobien bei normaler vita sexualis oder selbst
bei nicht spezifisch bestimmter Störung derselben nachweist.
4) Ich übergehe nun zu einer Bemerkung, die ich meinem
geehrten Herrn Kritiker nicht unwidersprochen lassen darf.
Ich hatte in meiner Mitteilung über die Angstneurose ( 1 . c.
S. 516) geschrieben:
„In manchen Fällen von Angstneurose läßt sich eine Ätiologie
überhaupt nicht erkennen. Es ist bemerkenswert, daß in solchen
Fällen der Nachweis einer schweren hereditären Belastung selten
auf Schwierigkeiten stößt.“
„Wo man aber Grund hat, die Neurose für eine erworbene
zu halten, da findet man bei sorgfältigem, dahin zielendem Examen
als ätiologisch wirksame Momente eine Reihe von Schädlichkeiten
und Einflüssen aus dem Sexualleben . . .“ Löwenfeld druckt
diese Stelle ab und knüpft an sie folgende Glosse: „Als ,erworben^
scheint demnach F. die Neurose immer zu betrachten, wenn Ge¬
legenheitsursachen derselben aufzufinden sind.“
Wenn sich dieser Sinn zwanglos aus meinem Texte ableiten
läßt, so gibt letzterer meinem Gedanken sehr entstellten Ausdruck.
Tjur Kritik der y, Angstneurose
357
Ich mache darauf aufmerksam, daß ich vorhin in der Wert¬
schätzung der Gelegenheitsursachen mich weit strenger als Löwen¬
feld erwiesen habe. Sollte ich die Meinung meiner Sätze selbst
erläutern, so würde ich es tun, indem ich nach der Bedingung:
Wo man aber Grund hat, die Neurose für eine erworbene
zu halten . . ., einschalte: weil der (im vorigen Satz erwähnte)
Nachweis hereditärer Belastung nicht gelingt. Der Sinn
ist: Ich halte den Fall für einen erworbenen, in dem sich Here¬
dität nicht nachweisen läßt. Ich benehme mich dabei wie alle
Welt, vielleicht mit dem kleinen Unterschiede, daß andere den
Fall auch dann für hereditär bedingt erklären, wo Heredität nicht
besteht, so daß sie die ganze Kategorie erworbener Neurosen über¬
sehen. Dieser Unterschied aber läuft zu meinen Gunsten. Ich ge¬
stehe jedoch zu, daß ich solches Mißverständnis durch die Rede¬
wendung im ersten Satze: „es läßt sich eine Ätiologie überhaupt
nicht erkennenselbst verschuldet habe. Ich werde sicherlich
auch von anderer Seite zu hören bekommen, ich schaffe mir mit
der Suche nach den spezifischen Ursachen der Neurosen über¬
flüssige Mühe. Die wirkliche Ätiologie der Angstneurosen wie der
Neurosen überhaupt sei ja bekannt, es sei die Heredität, und zwei
wirkliche Ursachen könnten nebeneinander nicht bestehen. Die
ätiologische Rolle der Heredität leugnete ich wohl nicht? Dann
aber seien alle anderen Ätiologien — Gelegenheitsursachen und
einander gleichwertig oder gleich minderwertig.
Ich teile diese Anschauung über die Rolle der Heredität
nicht, und da ich gerade dieses Thema in meiner kurzen Mit¬
teilung über die Angstneurose am wenigsten gewürdigt habe,
will ich versuchen, hier etwas vom Unterlassenen nachzuholen
und den Eindruck zu verwischen, als hätte ich mich bei der
Abfassung meiner Arbeit nicht um alle zugehörigen Rätselfragen
gemüht.
Ich glaube, man ermöglicht sich eine Darstellung der wahr¬
scheinlich sehr komplizierten ätiologischen Verhältnisse, die in der
358
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Pathologie der Neurosen obwalten, wenn man sich folgende ätio¬
logische Begriffe festlegt:
a) Bedingung, b) spezifische Ursache, c) konkurrierende
Ursache und, als den vorigen nicht gleichwertigen Terminus,
d) Veranlassung oder auslösende Ursache.
Um allen Möglichkeiten zu genügen, nehme man an, es handle
sich um ätiologische Momente, die einer quantitativen Verände¬
rung, also der Steigerung oder Verringerung fähig sind.
Läßt man sich die Vorstellung einer mehrgliedrigen ätiologi¬
schen Gleichung gefallen, die erfüllt sein muß, wenn der Effekt
zustande kommen soll, so charakterisiert sich als Veranlassung
oder auslösende Ursache diejenige, welche zuletzt in die Gleichung
eintritt, so daß sie dem Erscheinen des Effekts unmittelbar vor¬
hergeht. Nur dieses zeitliche Moment macht das Wesen der Ver¬
anlassung aus, jede der andersartigen Ursachen kann im Einzel¬
falle auch die Rolle der Veranlassung spielen^ in derselben ätiologi¬
schen Häufung kann diese Rolle wechseln.
Als Bedingungen sind solche Momente zu bezeichnen, bei
deren Abwesenheit der Effekt nie zustande käme, die aber für
sich allein auch unfähig sind, den Effekt zu erzeugen, sie mögen
in noch so großem Ausmaße vorhanden sein. Es fehlt dazu noch
die spezifische Ursache.
Als spezifische Ursache gilt diejenige, die in keinem Falle
von Verwirklichung des Effekts vermißt wird, und die in ent¬
sprechender Quantität oder Intensität auch hinreicht, den Effekt
zu erzielen, wenn nur noch die Bedingungen erfüllt sind.
Als konkurrierende Ursachen darf man solche Momente auf¬
fassen, welche weder jedesmal vorhanden sein müssen, noch imstande
sind, in beliebigem Ausmaße ihrer Wirkung für sich allein den Effekt
zu erzeugen, welche aber neben den Bedingungen und der spezifi¬
schen Ursache zur Erfüllung der ätiologischen Gleichung mitwirken.
Die Besonderheit der konkurrierenden oder Hilfsursachen scheint
klar; wie unterscheidet man aber Bedingungen und spezifische
359
Tjur Kritik der y^Angstneurose^
Ursachen, da sie beide unentbehrlich und doch keines von ihnen
allein zur Verursachung genügend sind?
Da scheint denn folgendes Verhalten eine Entscheidung zu
gestatten. Unter den „notwendigen Ursachen“ findet man
mehrere, die auch in den ätiologischen Gleichungen vieler anderer
Effekte wiederkehren, daher keine besondere Beziehung zum ein¬
zelnen Effekt verraten 5 eine dieser Ursachen aber stellt sich den
anderen gegenüber, dadurch, daß sie in keiner anderen oder in
sehr wenigen ätiologischen Formeln aufzufinden ist, und diese hat
den Anspruch, spezifische Ursache des betreffenden Effekts zu
heißen. Ferner sondern sich Bedingungen und spezifische Ursache
besonders deutlich in solchen Fällen, in denen die Bedingungen
den Charakter von lange bestehenden und wenig veränderlichen
Zuständen haben, die spezifische Ursache einem rezent einwirken¬
den Faktor entspricht.
Ich will ein Beispiel für dieses vollständige ätiologische Schema
versuchen:
Effekt: Phthisis pulmonum.
Bedingung: Disposition, meist hereditär durch Organbeschaffen-
heiten gegeben.
Spezifische Ursache: Der Bazillus Kochii.
Hilfsursachen: Alles Depotenzierende: Gemütsbewegungen wie
Eiterungen oder Erkältungen.
Das Schema für die Ätiologie der Angstneurose scheint mir
ähnlich zu lauten:
Bedingung: Heredität.
Spezifische Ursache: Ein sexuelles Moment im Sinne einer
Ablenkung der Sexualspannung vom Psychischen.
Hilfsursachen: Alle banalen Schädigungen: Gemütsbewegung,
Schreck, wie physische Erschöpfung durch Krankheit oder Über¬
leistung.
W^enn ich diese ätiologische Formel für die Angstneurose im
einzelnen diskutiere, kann ich noch folgende Bemerkungen hinzu-
560
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
fügen: Ob eine besondere persönliche Beschaffenheit (die nicht
hereditär bezeugt zu sein brauchte) für die Angstneurose unbe¬
dingt erfordert wird, oder ob jeder normale Mensch durch etwaige
quantitative Steigerung des spezifischen Momentes zur Angstneu¬
rose gebracht werden kann, weiß ich nicht sicher zu entscheiden,
neige aber sehr zur letzteren Meinung. — Die hereditäre Dis¬
position ist die wichtigste Bedingung der Angstneurose, aber keine
unentbehrliche, da sie in einer Reihe von Grenzfällen vermißt
wird. — Das spezifische sexuelle Moment wird in der übergroßen
Zahl der Fälle mit Sicherheit nachgewiesen, in einer Reihe von
Fällen (kongenitalen) sondert es sich von der Bedingung der Here¬
dität nicht ab, sondern ist durch diese miterfüllt, d. h. die Kranken
bringen jene Besonderheit der vita sexualis als Stigma mit (die
psychische Unzulänglichkeit zur Bewältigung der somatischen
Sexualspannung), über welche sonst der Weg zur Erwerbung der
Neurose führte in einer anderen Reihe von Grenzfällen ist die
spezifische Ursache in einer konkurrierenden enthalten, wenn
nämlich die besagte psychische Unzulänglichkeit durch Er¬
schöpfung u. dgl. zustande kommt. Alle diese Fälle bilden fließende
Reihen, nicht abgesonderte Kategorien^ durch alle zieht sich indes
das ähnliche Verhalten im Schicksal der Sexualspannung, und für
die meisten gilt die Sonderung von Bedingung, spezifischer und
Hilfsursache, konform der oben gegebenen Auflösung der ätiologi¬
schen Gleichung.
Ich kann, wenn ich meine Erfahrungen danach befrage, ein
gegensätzliches Verhalten von hereditärer Disposition und spezifi¬
schem sexuellen Moment für die Angstneurose nicht auffinden.
Im Gegenteil, die beiden ätiologischen Faktoren unterstützen und
ergänzen einander. Das sexuelle Moment wirkt meistens nur bei
jenen Personen, die eine hereditäre Belastung mit dazu bringen;
die Heredität allein ist meistens nicht imstande, eine Angstneurose
zu erzeugen, sondern wartet auf das Eintreffen eines genügenden
Maßes der spezifischen sexuellen Schädlichkeit. Die Konstatierung
Tjur Kritik der ,,Angstneurose
561
der Heredität überhebt darum nicht der Suche nach einem spezifi¬
schen Moment, an dessen Auffindung sich übrigens auch alles
therapeutische Interesse knüpft. Denn was will man therapeutisch
mit der Heredität als Ätiologie anfangen? Sie hat seit jeher bei
dem Kranken bestanden und wird bis an dessen Ende weiter
bestehen. Sie ist an und für sich weder geeignet, das episodische
Auftreten einer Neurose, noch deren Aufhören durch Behandlung
verstehen zu lassen. Sie ist nichts als eine Bedingung der
Neurose, eine unsäglich wichtige zwar, aber doch eine zum
Schaden der Therapie und des theoretischen Verständnisses über¬
schätzte. Man denke nur, um sich durch den Kontrast der Tat¬
sachen überzeugen zu lassen, an die Fälle von familiären Nerven¬
krankheiten (Chorea chronica, Thomson sehe Krankheit u. dgl.),
in denen die Heredität alle ätiologischen Bedingungen in sich
vereinigt.
Ich möchte zum Schlüsse die wenigen Sätze wiederholen, durch
welche ich in erster Annäherung an die Wirklichkeit die gegen¬
seitigen Beziehungen der verschiedenen ätiologischen Faktoren
auszudrücken pflege:
1) Ob überhaupt eine neurotische Erkrankung zustande
kommt, hängt von einem quantitativen Faktor ab, von der Ge¬
samtbelastung des Nervensystems im Verhältnis zu dessen Resistenz¬
fähigkeit. Alles was diesen Faktor unter einem gewissen Schwellen¬
wert halten oder dahin zurückbringen kann, hat therapeutische
Wirksamkeit, indem es die ätiologische Gleichung unerfüllt läßt.
Was man unter „Gesamtbelastung^^, was man unter „Resistenz-
fähigkeit^^ des Nervensystems zu verstehen habe, das ließe sich
mit Zugrundelegung gewisser Hypothesen über die Nervenfunktion
wohl deutlicher ausführen,
2) Welchen Umfang die Neurose erreicht, das hängt in erster
Linie von dem Maß hereditärer Belastung ab. Die Heredität wirkt
wie ein in den Stromkreis eingeschalteter Multiplikator, der den
Ausschlag der Nadel um das Vielfache vergrößert.
562
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
ß) Welche Form aber die Neurose annimmt, — den Sinn des
Ausschlages — dies bestimmt allein das aus dem Sexualleben
stammende spezifische ätiologische Moment.
Ich hoffe, daß im ganzen, obwohl ich mir der vielen noch
unerledigten Schwierigkeiten des Gegenstandes bewußt bin, meine
Aufstellung der Angstneurose sich für das Verständnis der Neurosen
fruchtbarer erweisen wird, als Löwenfelds Versuch, denselben Tat¬
sachen Rechnung zu tragen durch die Konstatierung „einer Ver¬
knüpfung neurasthenischer und hysterischer Symptome
in Anfallsform^^
WEITERE BEMERKUNGEN ÜBER DIE
ABWEHR-NEUROPSYCHOSEN
Zuerst erschienen im ^^Neurologischen Zentral-
blatt“, l 8 p 6 , Nr. lo.
Als „Abwehr-Neuropsychosen^^ habe ich 1894 in einem
kleinen Aufsatze (Neurologisches Zentralblatt, Nr. 10 und 11)
Hysterie, Zwangsvorstellungen, sowie gewisse Fälle von akuter
halluzinatorischer Verworrenheit zusammengefaßt, weil sich für
diese Affektionen der gemeinsame Gesichtspunkt ergeben hatte,
ihre Symptome entstünden durch den psychischen Mechanismus
der (unbewußten) Abwehr, d. h. bei dem Versuche, eine unver¬
trägliche Vorstellung zu verdrängen, die in peinlichen Gegen¬
satz zum Ich der Kranken getreten war. An einzelnen Stellen
eines seither erschienenen Buches „Studien über Hysterievon
Dr. J. Breuer und mir, habe ich dann erläutern und an Kranken¬
beobachtungen darlegen können, in welchem Sinne dieser psy¬
chische Vorgang der „Abwehr^^ oder „Verdrängung^^ zu verstehen
ist. Ebendaselbst finden sich auch Angaben über die mühselige,
aber vollkommen verläßliche Methode der Psychoanalyse, deren
ich mich bei diesen Untersuchungen, die gleichzeitig eine Therapie
darstellen, bediene.
Meine Erfahrungen in den beiden letzten Arbeitsjahren haben
mich nun in der Neigung bestärkt, die Abwehr zum Kernpunkt
364
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
im psychischen Mechanismus der erwähnten Neurosen zu machen,
und haben mir anderseits gestattet, der psychologischen Theorie
eine klinische Grundlage zu geben. Ich bin zu meiner eigenen
Überraschung auf einige einfache, aber eng umschriebene Lö¬
sungen der Neurosenprobleme gestoßen, über die ich auf den
nachfolgenden Seiten vorläufig und in Kürze berichten will. Ich
kann es mit dieser Art der Mitteilung nicht vereinen, den Be¬
hauptungen die Beweise anzufügen, deren sie bedürfen, hoffe
aber, diese Verpflichtung in einer ausführlichen Darstellung ein¬
lösen zu können.
I
Die „spezifische“ Ätiologie der Hysterie
Daß die Symptome der Hysterie erst durch Zurückführung
auf „traumatisch“ wirksame Erlebnisse verständlich werden, und
daß diese psychischen Traumen sich auf das Sexualleben be¬
ziehen, ist von Breuer und mir bereits in früheren Veröffent¬
lichungen ausgesprochen worden. Was ich heute als einförmiges
Ergebnis meiner an 15 Fällen von Hysterie durchgeführten
Analysen hinzuzufügen habe, betrifft einerseits die Natur dieser
sexuellen Traumen, anderseits die Lebensperiode, in der sie vor¬
fallen. Es reicht für die Verursachung der Hysterie nicht hin,
daß zu irgend einer Zeit des Lebens ein Erlebnis auftrete,
welches das Sexualleben irgendwie streift und durch die Ent¬
bindung und Unterdrückung eines peinlichen Affekts pathogen
wird. Es müssen vielmehr diese sexuellen Traumen der
frühen Kindheit (der Lebenszeit vor der Pubertät)
angehören, und ihr Inhalt muß in wirklicher Irri¬
tation der Genitalien (koitusähnlichen Vorgängen) be¬
stehen.
Diese spezifische Bedingung der Hysterie — sexuelle Passi¬
vität in vor sexuellen Zeiten — fand ich in allen analysierten
Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen
365
Fällen von Hysterie (darunter zwei Männer) erfüllt. Wie sehr die
Anforderung an hereditäre Disposition durch solche Bedingtheit
der akzidentellen ätiologischen Momente verringert wird, be¬
darf nur der Andeutung^ ferner eröffnet sich ein Verständnis für
die ungleich größere Häufigkeit der Hysterie beim weiblichen
Geschlecht, da dieses auch im Kindesalter eher zu sexuellen An¬
griffen reizt.
Die nächstliegendsten Einwendungen gegen dieses Resultat
dürften lauten, daß sexuelle Angriffe gegen kleine Kinder zu
häufig vorfallen, als daß ihrer Konstatierung ein ätiologischer
Wert zukäme, oder daß solche Erlebnisse gerade darum wirkungs¬
los bleiben müssen, weil sie ein sexuell unentwickeltes Wesen
betreffen; ferner daß man sich hüten müsse, derlei angebliche
Reminiszenzen den Kranken durchs Examen aufzudrängen, oder
an die Romane, die sie selbst erdichten, zu glauben. Den letzteren
Einwendungen ist die Bitte entgegenzuhalten, daß doch nie¬
mand allzu sicher auf diesem dunkeln Gebiete urteilen möge,
der sich noch nicht der einzigen Methode bedient hat, welche
es zu erhellen vermag (der Psychoanalyse zur Bewußtmachung
des bisher Unbewußten).^ Das Wesentliche an den ersteren
Zweifeln erledigt sich durch die Bemerkung, daß ja nicht die
Erlebnisse selbst traumatisch wirken, sondern deren Wiederbe¬
lebung als Erinnerung, nachdem das Individuum in die sexu¬
elle Reife eingetreten ist.
Meine dreizehn Fälle von Hysterie waren durchwegs von schwerer
Art, alle mit vieljähriger Krankheitsdauer, einige nach längerer
und erfolgloser Anstaltsbehandlung. Die Kindertraumen, welche
die Analyse für diese schweren Fälle aufdeckte, mußten sämt¬
lich als schwere sexuelle Schädigungen bezeichnet werden; ge¬
legentlich waren es geradezu abscheuliche Dinge. Unter den Per-
1) Ich vermute selbst, daß die so häufigen Attentatsdichtungen der Hyste¬
rischen Zvvangsdichtungen sind, die von der Erinnerungsspur des Kindertraumas
ausgehen.
366
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
soneiij welche sich eines solchen folgenschweren Abusus schuldig
machten, stehen obenan Kinderfrauen, Gouvernanten und andere
Dienstboten, denen man allzu sorglos die Kinder überläßt, ferner
sind in bedauerlicher Häufigkeit lehrende Personen vertreten^ in sieben
von jenen dreizehn Fällen handelte es sich aber auch um schuldlose
kindliche Attentäter, meist Brüder, die mit ihren um wenig jün¬
geren Schwestern Jahre hindurch sexuelle Beziehungen unterhalten
hatten. Der Hergang war wohl jedesmal ähnlich, wie man ihn
in einzelnen Fällen mit Sicherheit verfolgen konnte, daß nämlich
der Knabe von einer Person weiblichen Geschlechts mißbraucht
worden war, daß dadurch in ihm vorzeitig die Libido geweckt
wurde, und daß er dann einige Jahre später in sexueller Aggres¬
sion gegen seine Schwester genau die nämlichen Prozeduren
wiederholte, denen man ihn selbst unterzogen hatte.
Aktive Masturbation muß ich aus der Liste der für Hysterie
pathogenen sexuellen Schädlichkeiten des frühen Kindesalters aus¬
schließen. Wenn diese doch so häufig neben der Hysterie gefun¬
den wird, so rührt dies von dem Umstande her, daß die Mastur¬
bation selbst weit häufiger, als man meint, die Folge des Mi߬
brauches oder der Verführung ist. Gar nicht selten erkranken
beide Teile des kindlichen Paares später an Abwehrneurosen, der
Bruder an Zwangsvorstellungen, die Schwester an Hysterie, was
natürlich den Anschein einer familiären neurotischen Disposition
ergibt. Diese Pseudoheredität löst sich aber mitunter auf über¬
raschende Weise5 in einer meiner Beobachtungen waren Bruder,
Schwester und ein etwas älterer Vetter krank. Aus der Analyse,
die ich mit dem Bruder vornahm, erfuhr ich, daß er an Vor¬
würfen darüber litt, daß er die Krankheit der Schwester ver¬
schuldet^ ihn selbst hatte der Vetter verführt, und von diesem
war in der Familie bekannt, daß er das Opfer seiner Kinderfrau
geworden war.
Die obere Altersgrenze, bis zu welcher sexuelle Schädigung in
die Ätiologie der Hysterie fällt, kann ich nicht sicher angeben^
Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen
367
ich zweifle aber, ob sexuelle Passivität nach dem achten bis zehn¬
ten Jahre Verdrängung ermöglichen kann, wenn sie nicht durch
vorherige Erlebnisse dazu befähigt wird. Die untere Grenze reicht
so weit als das Erinnern überhaupt, also bis ins zarte Alter von
eineinhalb oder zwei Jahren! (Zwei Fälle.) In einer Anzahl meiner
Fälle ist das sexuelle Trauma (oder die Reihe von Traumen) im
dritten und vierten Lebensjahre enthalten. Ich würde diesen son¬
derbaren Funden selbst nicht Glauben schenken, wenn sie sich
nicht durch die Ausbildung der späteren Neurose volle Vertrauens¬
würdigkeit verschaffen würden. In jedem Falle ist eine Summe
von krankhaften Symptomen, Gewohnheiten und Phobien nur
durch das Zurückgehen auf jene Kindererlebnisse erklärlich, und
das logische Gefüge der neurotischen Äußerungen macht eine
Ablehnung jener aus dem Kinderleben auftauchenden, getreu be¬
wahrten Erinnerungen unmöglich. Es wäre freilich vergebens,
diese Kindertraumen einem Hysterischen außerhalb der Psycho¬
analyse abfragen zu wollen 5 ihre Spur ist niemals im bewußten
Erinnern, nur in den Krankheitssymptomen aufzufinden.
Alle die Erlebnisse und Erregungen, welche in der Lebens¬
periode nach der Pubertät den Ausbruch der Hysterie vorbereiten
oder veranlassen, wirken nachweisbar nur dadurch, daß sie die
Erinnerungsspur jener Kindheitstraumen erwecken, welche dann
nicht bewußt wird, sondern zur Affektentbindung und Verdrän¬
gung führt. Es steht mit dieser Rolle der späteren Traumen in
gutem Einklänge, daß sie nicht der strengen Bedingtheit der
Kindertraumen unterliegen, sondern nach Intensität und Beschaf¬
fenheit variieren können, von wirklicher sexueller Überwältigung
bis zu bloßen sexuellen Annäherungen und zur Sinneswahr¬
nehmung sexueller Akte bei anderen oder Aufnahme von Mit¬
teilungen über geschlechtliche Vorgänge.^
1) In einem Aufsatze über die Angstneurose (Neurologisches Zentralblatt, 1895,
Nr. 2) [S. 506 dieses Bandes] erwähnte ich, daß „ein erstes Zusammentreffen mit
dem sexuellen Problem bei heranreifenden Mädchen eine Angstneurose hervorrufen
368
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
In meiner ersten Mitteilung über die Abwehrneurosen blieb
es unaufgeklärt, wieso das Bestreben der bis dahin Gesunden,
ein solches traumatisches Erlebnis zu vergessen, den Erfolg haben
könne, die beabsichtigte Verdrängung wirklich zu erzielen und
damit der Abwehrneurose das Tor zu öffnen. An der Natur des
Erlebnisses konnte es nicht liegen, da andere Personen trotz der
gleichen Anlässe gesund blieben. Es konnte also die Hysterie nicht
aus der Wirkung des Traumas voll erklärt werden^ man mußte
zugestehen, daß die Fähigkeit zur hysterischen Reaktion schon
vor dem Trauma bestanden hatte.
An Stelle dieser unbestimmten hysterischen Disposition kann
nun ganz oder teilweise die posthume Wirkung des sexuellen
Kindertraumas treten. Die „Verdrängung“ der Erinnerung an ein
peinliches sexuelles Erlebnis reiferer Jahre gelingt nur solchen
Personen, bei denen dies Erlebnis die Erinnerungsspur eines
Kindertraumas zur Wirkung bringen kann.^
kann, die in fast typischer Weise mit Hysterie kombiniert ist“. Ich weiß heute,
daß die Gelegenheit, bei welcher solche virginale Angst aushricht, eben nicht
dem ersten Zusammentreffen mit der Sexualität entspricht, sondern daß hei diesen
Personen ein Erlebnis sexueller Passivität in den Kinderjahren vorhergegangen ist,
dessen Erinnerung bei dem „ersten Zusammentreffen“ geweckt wird.
i) Eine psychologische Theorie der Verdrängung müßte auch Auskunft darüber
gehen, warum nur Vorstellungen sexuellen Inhaltes verdrängt werden können. Sie
darf von folgenden Andeutungen ausgehen: Das Vorstellen sexuellen Inhaltes erzeugt
bekanntlich ähnliche Erregungsvorgänge in den Genitalien wie das sexuelle Erleben
selbst. Man darf annehmen, daß diese somatische Erregung sich in psychische um¬
setzt. In der Regel ist die diesbezügliche Wirkung heim Erlebnisse viel stärker als
hei der Erinnerung daran. Wenn aber das sexuelle Erlebnis in die Zeit sexueller
Unreife fällt, die Erinnerung daran während oder nach der Reife erweckt wird, dann
wirkt die Erinnerung ungleich stärker erregend als seinerzeit das Erlebnis, denn
inzwischen hat die Pubertät die Reaktionsfähigkeit des Sexualapparats in unver¬
gleichbarem Maße gesteigert. Ein solches umgekehrtes Verhältnis zwischen realem
Erlebnis und Erinnerung scheint aber die psychologische Bedingung einer Verdrän¬
gung zu enthalten. Das Sexualleben bietet — durch die Verspätung der Pubertäts¬
reife gegen die psychischen Fimktionen — die einzig vorkommende Möglichkeit für
jene Umkehrung der relativen Wirksamkeit. Die Kindertraumen wirken nach¬
träglich wie frische Erlebnisse, dann aber unbewußt. Weitergehende psy¬
chologische Erörterungen müßte ich auf ein anderes Mal verschieben. — Ich be¬
merke noch, daß die hier in Betracht kommende Zeit der „sexuellen Reifung“ nicht
mit der Pubertät zusammenfällt, sondern vor dieselbe (achtes bis zehntes Jahr).
PTeitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen
369
Zwangsvorstellungen haben gleichfalls ein sexuelles Kinder¬
erlebnis (anderer Natur als bei Hysterie) zur Voraussetzung. Die
Ätiologie der beiden Abwehr-Neuropsychosen bietet nun folgende
Beziehung zur Ätiologie der beiden einfachen Neurosen, Neur¬
asthenie und Angstneurose. Die beiden letzteren Affektionen sind
unmittelbare Wirkungen der sexuellen Noxen selbst, wie ich es
in einem Aufsatze über die Angstneurose 1895 dargelegt habe5
die beiden Abwehrneurosen sind mittelbare Folgen sexueller
Schädlichkeiten, die vor Eintritt der Geschlechtsreife eingewirkt
haben, nämlich Folgen der psychischen Erinnerungsspuren an diese
Noxen. Die aktuellen Ursachen, welche Neurasthenie und Angst¬
neurose erzeugen, spielen häufig gleichzeitig die Rolle von er¬
weckenden Ursachen für die Abwehrneurosen5 anderseits können
die spezifischen Ursachen der Abwehrneurose, die Kindertraumen,
gleichzeitig den Grund für die später sich entwickelnde Neur¬
asthenie legen. Endlich ist auch der Fall nicht selten, daß eine
Neurasthenie oder Angstneurose anstatt durch aktuelle sexuelle
Schädlichkeiten nur durch fortwirkende Erinnerung an Kinder¬
traumen in ihrem Bestände erhalten wird.^
II
Wesen und Mechanismus der Zwangsneurose
In der Ätiologie der Zwangsneurose haben sexuelle Erlebnisse
der frühen Kinderzeit dieselbe Bedeutung wie bei Hysterie, doch
handelt es sich hier nicht mehr um sexuelle Passivität, sondern
1) [Zusatz 1^24:'] Dieser Abschnitt steht unter der Herrschaft eines Irrtums, den
ich seither wiederholt bekannt imd korrigiert habe. Ich verstand es damals noch nicht,
die Phantasien der Analysierten über ihre Kinderjahre von realen Erinnerungen zu
unterscheiden. Infolgedessen schrieb ich dem ätiologischen Moment der Verführung
eine Bedeutsamkeit und Allgemeingültigkeit zu, die ihm nicht zukommen. Nach der
Überwindung dieses Irrtums eröffnete sich der Einblick in die spontanen Äuflenmgen
der kindlichen Sexualität, die ich in den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie‘% 1905,
beschrieben habe. Doch ist nicht alles im obigen Text Enthaltene zu verwerfen; der
Verführung bleibt eine gewisse Bedeutung für die Ätiologie gewahrt und manche
psychologische Ausführungen halte ich auch heute noch für zutreffend.
Freud, I.
i
24
370
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
um mit Lust ausgeführte Aggressionen und mit Lust empfundene
Teilnahme an sexuellen Akten, also um sexuelle Aktivität. Mit
. dieser Differenz der ätiologischen Verhältnisse hängt es zusammen,
^"'daß bei der Zwangsneurose das männliche Geschlecht bevorzugt
erscheint.
Ich habe übrigens in all meinen Fällen von Zwangsneurose
einen Untergrund von hysterischen Symptomen gefunden,
die sich auf eine der Lusthandlung vorhergehende Szene sexueller
Passivität zurückführen ließen. Ich vermute, daß dieses Zusammen¬
treffen ein gesetzmäßiges ist, und daß vorzeitige sexuelle Aggres¬
sion stets ein Erlebnis von Verführung voraussetzt. Ich kann aber
gerade von der Ätiologie der Zwangsneurose noch keine abge¬
schlossene Darstellung geben 5 es macht mir nur den Eindruck,
als hinge die Entscheidung darüber, ob auf Grund der Kinder¬
traumen Hysterie oder Zwangsneurose entstehen soll, mit den
zeitlichen Verhältnissen der Entwicklung von Libido zusammen.
Das Wesen der Zwangsneurose läßt sich in einer einfachen
Formel aussprechen: Zwangsvorstellungen sind jedesmal ver¬
wandelte, aus der Verdrängung wiederkehrende Vorwürfe, die
sich immer auf eine sexuelle, mit Lust ausgeführte Aktion der
Kinderzeit beziehen. Zur Erläuterung dieses Satzes ist es not¬
wendig, den typischen Verlauf einer Zwangsneurose zu beschreiben.
In einer ersten Periode — Periode der kindlichen Immoralität —
fallen die Ereignisse vor, welche den Keim der späteren Neurose
enthalten. Zuerst in frühester Kindheit die Erlebnisse sexueller
Verführung, welche später die Verdrängung ermöglichen, sodann
die Aktionen sexueller Aggression gegen das andere Geschlecht,
welche später als Vorwurfshandlungen erscheinen.
Dieser Periode wird ein Ende bereitet durch den — oft selbst
verfrühten — Eintritt der sexuellen „Reifung“. Nun knüpft sich
an die Erinnerung jener Lustaktionen ein Vorwurf, und der Zu¬
sammenhang mit dem initialen Erlebnisse von Passivität ermög¬
licht es, — oft erst nach bewußter und erinnerter Anstrengung, —
Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen
371
diesen zu verdrängen und durch ein primäres Abwehrsymptom
zu ersetzen. Gewissenhaftigkeit, Scham, Selbstmißtrauen sind solche
Symptome, mit denen die dritte Periode, die der scheinbaren
Gesundheit, eigentlich der gelungenen Abwehr, beginnt.
Die nächste Periode, die der Krankheit, ist ausgezeichnet durch
die Wiederkehr der verdrängten Erinnerungen, also durch
das Mißglücken der Abwehr, wobei es unentschieden bleibt, ob
die Erweckung derselben häufiger zufällig und spontan oder in¬
folge aktueller sexueller Störungen gleichsam als Nebenwirkung
derselben erfolgt. Die wiederbelebten Erinnerungen und die aus
ihnen gebildeten Vorwürfe treten aber niemals unverändert ins
.Bewußtsein ein, sondern was als Zwangsvorstellung und Zwangs¬
affekt bewußt wird, die pathogene Erinnerung für das bewußte
Leben substituiert, sind Kompromißbildungen zwischen den ver¬
drängten und den verdrängenden Vorstellungen.
Um die Vorgänge der Verdrängung, der Wiederkehr des Ver¬
drängten und der Bildung der pathologischen Kompromißvor¬
stellungen anschaulich und wahrscheinlich zutreffend zu beschreiben,
müßte man sich zu ganz bestimmten Annahmen über das Sub¬
strat des psychischen Geschehens und des Bewußtseins entschließen.
So lange man dies vermeiden will, muß man sich mit folgenden,
eher bildlich verstandenen Bemerkungen bescheiden: Es gibt zwei
Formen der Zwangsneurose, je nachdem allein der Erinnerungs¬
inhalt der Vorwurfshandlung sich den Eingang ins Bewußtsein
erzwingt oder auch der an sie geknüpfte Vorwurfsaffekt. Der
erstere Fall ist der der typischen Zwangsvorstellungen, bei denen
der Inhalt die Aufmerksamkeit des Kranken auf sich zieht, als
Affekt nur eine unbestimmte Unlust empfunden wird, während
zum Inhalt der Zwangsvorstellung nur der Affekt des Vorwurfs
passen würde. Der Inhalt der Zwangsvorstellung ist gegen den
der Zwangshandlung im Kindesalter in zweifacher Weise ent¬
stellt: erstens, indem etwas Aktuelles an die Stelle des Vergangenen
gesetzt ist, zweitens, indem das Sexuelle durch Analoges, nicht
24*
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
57 ^
Sexuelles, substituiert wird. Diese beiden Abänderungen sind die
Wirkung der immer noch in Kraft stehenden Verdrängungs¬
neigung, die wir dem „Ich^^ zuschreiben wollen. Der Einfluß der
wiederbelebten pathogenen Erinnerung zeigt sich darin, daß der
Inhalt der Zwangsvorstellung noch stückweise mit dem Ver¬
drängten identisch ist oder sich durch korrekte Gedankenfolge
von ihm ableitet. Rekonstruiert man mit Hilfe der psychoanalyti¬
schen Methode die Entstehung einer einzelnen Zwangsvorstellung,
so findet man, daß von einem aktuellen Eindrücke aus zwei ver¬
schiedene Gedankengänge angeregt worden sind 5 der eine davon,
der über die verdrängte Erinnerung gegangen ist, erweist sich als
ebenso korrekt logisch gebildet wie der andere, obwohl er bewußt¬
seinsunfähig und unkorrigierbar ist. Stimmen die Resultate der
beiden psychischen Operationen nicht zusammen, so kommt es
nicht etwa zur logischen Ausgleichung des Widerspruches zwischen
beiden, sondern neben dem normalen Denkergebnisse tritt als
Kompromiß zwischen dem Widerstande und dem pathologischen
Denkresultate eine absurd erscheinende Zwangsvorstellung ins
Bewußtsein. Wenn die beiden Gedankengänge den gleichen Schluß
ergeben, verstärken sie einander, so daß ein normal gewonnenes
Denkresultat sich nun psychologisch wie eine Zwangsvorstellung ver¬
hält. Wo immer neurotischer Zwang im Psychischen auf-
tritt, rührt er von Verdrängung her. Die Zwangsvorstellungen
haben sozusagen psychischen Zwangskurs nicht wegen ihrer eigenen
Geltung, sondern wegen der Quelle, aus der sie stammen, oder
die zu ihrer Geltung einen Beitrag geliefert hat.
Eine zweite Gestaltung der Zwangsneurose ergibt sich, wenn
nicht der verdrängte Erinnerungsinhalt, sondern der gleichfalls
verdrängte Vorwurf eine Vertretung im bewußten psychischen
Leben erzwingt. Der Vorwurfsaffekt kann sich durch einen psy¬
chischen Zusatz in einen beliebigen anderen Unlustaffekt ver¬
wandeln; ist dies geschehen, so steht dem Bewußtwerden des
substituierenden Affekts nichts mehr im Wege. So verwandelt
TVeitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen
375
sich Vorwurf (die sexuelle Aktion im Kindesalter vollführt zu
haben) mit Leichtigkeit in Scham (wenn ein anderer davon er¬
führe), in hypochondrische Angst (vor den körperlich schädi¬
genden Folgen jener Vorwurfshandlung), in soziale Angst (vor
der gesellschaftlichen Ahndung jenes Vergehens), in religiöse
Angst, in Beachtungswahn (Furcht, daß man jene Handlung
anderen verrate), in Versuchungsangst (berechtigtes Mißtrauen
in die eigene moralische Widerstandskraft) u. dgL Dabei kann der
Erinnerungsinhalt der Vorwurfshandlung im Bewußtsein mitver¬
treten sein oder gänzlich zurückstehen, was die diagnostische Er¬
kennung sehr erschwert. Viele Fälle, die man bei oberflächlicher
Untersuchung für gemeine (neurasthenische) Hypochondrie hält,
gehören zu dieser Gruppe der Zwangsaffekte, insbesondere die
sogenannte „periodische Neurasthenieoder „periodische Melan¬
cholie^^ scheint in ungeahnter Häufigkeit sich in Zwangsaffekte
und Zwangsvorstellungen aufzulösen, eine Erkennung, die thera¬
peutisch nicht gleichgültig ist.
Neben diesen Kompromißsymptomen, welche die Wiederkehr
des Verdrängten und somit ein Scheitern der ursprünglich er¬
zielten Abwehr bedeuten, bildet die Zwangsneurose eine Reihe
weiterer Symptome von ganz anderer Herkunft. Das Ich sucht
sich nämlich jener Abkömmlinge der initial verdrängten Erinne¬
rung zu erwehren und schafft in diesem Abwehrkampfe Sym¬
ptome, die man als „sekundäre Abwehr“ zusammenfassen
könnte. Es sind dies durchwegs „Schutzmaßregeln“, die bei
der Bekämpfung der Zwangsvorstellungen und Zwangsaffekte gute
Dienste geleistet haben. Gelingt es diesen Hilfen im Abwehr¬
kampfe wirklich, die dem Ich aufgedrängten Symptome der
Wiederkehr neuerdings zu verdrängen, so überträgt sich der Zwang
auf die Schutzmaßregeln selbst und schafft eine dritte Gestaltung
der „Zwangsneurose“, die Zwangshandlungen. Niemals sind
diese primär, niemals enthalten sie etwas anderes als eine Abwehr,
nie eine Aggression 5 die psychische Analyse weist von ihnen nach.
374
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
daß sie — trotz ihrer Sonderbarkeit — durch Zurückführung auf
die Zwangserinnerung, die sie bekämpfen, jedesmal voll aufzu¬
klären sind/
Die sekundäre Abwehr der Zwangsvorstellungen kann erfolgen
durch gewaltsame Ablenkung auf andere Gedanken möglichst
konträren Inhaltes; daher im Falle des Gelingens der Grübel¬
zwang, regelmäßig über abstrakte, übersinnliche Dinge, weil
die verdrängten Vorstellungen sich immer mit der Sinnlichkeit
beschäftigten. Oder der Kranke versucht, jeder einzelnen Zwangs¬
idee durch logische Arbeit und Berufung auf seine bewußten Er¬
innerungen Herr zu werden; dies führt zum Denk- und Prü¬
fungszwange und zur Zweifelsucht. Der Vorzug der Wahr¬
nehmung vor der Erinnerung bei diesen Prüfungen veranlaßt den
Kranken zuerst und zwingt ihn später, alle Objekte, mit denen
er in Berührung getreten ist, zu sammeln und aufzubewahren.
Die sekundäre Abwehr gegen die Zwangsaffekte ergibt eine noch
größere Reihe von Schutzmaßregeln, die der Verwandlung in
Zwangshandlungen fähig sind. Man kann dieselben nach ihrer
i) Ein Beispiel anstatt vieler: Ein elfjähriger Knabe hatte sich folgendes Zere¬
moniell vor dem Zubettgehen zwangsartig eingerichtet: Er schlief nicht eher ein,
als bis er seiner Mutter alle Erlebnisse des Tages haarklein vorerzählt hatte; auf
dem Teppich des Schlafzimmers durfte abends kein Papierschnitzelchen und kein
emderer Unrat zu finden sein; das Bett mußte ganz an die Wand angerückt werden,
drei Stühle davorstehen, die Polster in ganz bestimmter Weise liegen. Er selbst
mußte, um einzuschlafen, zuerst eine gewisse Anzahl von Malen mit beiden Beinen
stoßen imd sich dann auf die Seite legen. — Das klärte sich folgendermaßen auf:
Jahre vorher hatte es sich zugetragen, daß ein Dienstmädchen, welches den schönen
Knaben zu Bette bringen sollte, die Gelegenheit benützte, um sich dann über ihn
zu legen und ihn sexuell zu mißbrauchen. Als dann später einmal diese Erinnerung
durch ein rezentes Erlebnis geweckt wvirde, gab sie sich dem Bewußtsein durch den
Zwang zu obigem Zeremoniell kund, dessen Sinn leicht zu erraten war und im ein¬
zelnen durch die Psychoanalyse festgestellt wurde: Sessel vor dem Bett und dieses
an die Wand gerückt — damit niemand mehr zum Bett Zugang haben könne; Polster
in einer gewissen Weise geordnet — damit sie anders geordnet seien als an jenem
Abend; die Bewegungen mit den Beinen — Wegstoßen der auf ihm liegenden Person;
Schlafen auf der Seite — weil er bei der Szene auf dem Rücken gelegen; die aus¬
führliche Beichte vor der Mutter — weil er diese und andere sexuelle Erlebnisse
infolge von Verbot der Verführerin ihr verschwiegen hatte; endlich Reinhaltung des
Bodens im Schlafzimmer — weil dies der Hauptvorwurf war, den er bis dahin von
der Mutter hatte hinnehmen müssen.
Weitere Bemerkungen über die Abwehr•Neuropsychosen
375
Tendenz gruppieren: Maßregeln der Buße (lästiges Zeremoniell,
Zahlenbeobachtung), der Vorbeugung (allerlei Phobien, Aber¬
glauben, Pedanterie, Steigerung des Primärsymptoms der Gewissen¬
haftigkeit), der Furcht vor Verrat (Papiersammeln, Menschen¬
scheu), der Betäubung (Dipsomanie). Unter diesen Zwangshand¬
lungen und -Impulsen spielen die Phobien als Existenzbeschrän¬
kungen des Kranken die größte Rolle.
Es gibt Fälle, in welchen man beobachten kann, wie sich der
Zwang von der Vorstellung oder vom Affekt auf die Maßregel
überträgt; andere, in denen der Zwang periodisch zwischen dem
Wiederkehrsymptome und dem Symptom der sekundären Abwehr
oszilliert; aber daneben noch Fälle, in denen überhaupt keine
Zwangsvorstellung gebildet, sondern die verdrängte Erinnerung
sogleich durch die scheinbar primäre Abwehrmaßregel vertreten
wird. Hier wird mit einem Sprunge jenes Stadium erreicht, welches
sonst erst nach dem Abwehrkampf den Verlauf der Zwangs¬
neurose abschließt. Schwere Fälle dieser Affektion enden mit der
Fixierung von Zeremoniellhandlungen, allgemeiner Zweifelsucht
oder einer durch Phobien bedingten Sonderlingsexistenz.
Daß die Zwangsvorstellung und alles von ihr Abgeleitete keinen
Glauben findet, rührt wohl daher, daß bei der ersten Verdrängung
das Abwehrsymptom der Gewissenhaftigkeit gebildet worden
ist, das gleichfalls Zwangsgeltung gewonnen hat. Die Sicherheit,
in der ganzen Periode der gelungenen Abwehr moralisch gelebt
zu haben, macht es unmöglich, dem Vorwurfe, welchen ja die
Zwangsvorstellung involviert, Glauben zu schenken. Nur vorüber¬
gehend beim Auftreten einer neuen Zwangsvorstellung und hie
und da bei melancholischen Erschöpfungszuständen des Ichs er¬
zwingen die krankhaften Symptome der Wiederkehr auch den
Glauben. Der „Zwang^^ der hier beschriebenen psychischen Bil¬
dungen hat ganz allgemein mit der Anerkennung durch den
Glauben nichts zu tun, und ist auch mit jenem Moment, das
man als „Stärke‘^ oder „Intensität^^ einer Vorstellung bezeichnet.
376
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
nicht zu verwechseln. Sein wesentlicher Charakter ist vielmehr die
Unauflösbarkeit durch die bewußtseinsfähige psychische Tätigkeit,
und dieser Charakter erfährt keine Änderung, ob nun die Vor¬
stellung, an der der Zwang haftet, stärker oder schwächer, inten¬
siver oder geringer „beleuchtet“, „mit Energie besetzt“ wird u. dgl.
Ursache dieser Unangreifbarkeit der Zwangsvorstellung oder
ihrer Derivate ist aber nur ihr Zusammenhang mit der ver¬
drängten Erinnerung aus früher Kindheit, denn wenn es gelungen
ist, diesen bewußt zu machen, wofür die psychotherapeutischen
Methoden bereits auszureichen scheinen, dann ist auch der Zwang
gelöst.
III
Analyse eines Falles von chronischer Paranoia^
Seit längerer Zeit schon hege ich die Vermutung, daß auch die
Paranoia — oder Gruppen von Fällen, die zur Paranoia gehören
— eine Abwehrpsychose ist, d. h. daß sie wie Hysterie und
Zwangsvorstellungen hervorgeht aus der Verdrängung peinlicher
Erinnerungen, und daß ihre Symptome durch den Inhalt des Ver¬
drängten in ihrer Form determiniert werden. Eigentümlich müsse
der Paranoia ein besonderer Weg oder Mechanismus der Ver¬
drängung sein, etwa wie die Hysterie die Verdrängung auf dem
Wege der Konversion in die Körperinnervation, die Zwangs¬
neurose durch Substitution (Verschiebung längs gewisser assozia¬
tiver Kategorien) bewerkstelligt. Ich beobachtete mehrere Fälle, die
dieser Deutung günstig waren, hatte aber keinen gefunden, der
sie erwies, bis mir durch die Güte des Herrn Dr. J. Breuer vor
einigen Monaten ermöglicht wurde, den Fall einer intelligenten
zweiunddreißigjährigen Frau, dem man die Bezeichnung als chro¬
nische Paranoia nicht wird versagen können, in therapeutischer
Absicht einer Psychoanalyse zu unterziehen. Ich berichte schon
i) [Zusatz 1^24:'] Wohl richtiger Dementia paranoides.
Weitere Bemerkungen über die Abwehr•Neuropsychosen
577
hier über einige bei dieser Arbeit gewonnene Aufklärungen, weil
ich keine Aussicht habe, die Paranoia anders als in sehr verein¬
zelten Beispielen zu studieren, und weil ich es für möglich halte,
daß diese Bemerkungen einen hierin günstiger gestellten Psychiater
veranlassen könnten, in der jetzt so regen Diskussion über Natur
und psychischen Mechanismus der Paranoia das Moment der „Ab¬
wehr“ zu seinem Rechte zu bringen. Natürlich liegt es mir fern,
mit der nachstehenden einzigen Beobachtung etwas anderes sagen
zu wollen, als: dieser Fall ist eine Abwehrpsychose, und es dürfte
in der Gruppe „Paranoia“ noch andere geben, die es gleichfalls sind.
Frau P., zweiunddreißig Jahre alt, seit drei Jahren verheiratet, Mutter
eines zweijährigen Kindes, stammt von nicht nervösen Eltern; ihre beiden
Geschwister kenne ich aber als gleichfalls neurotisch. Es ist zweifelhaft,
ob sie nicht einmal in der Mitte der Zwanzigerjahre vorübergehend depri¬
miert und in ihrem Urteile beirrt war; in den letzten Jahren war sie
gesund und leistungsfähig, bis sie ein halbes Jahr nach der Geburt ihres
Kindes die ersten Anzeichen der gegenwärtigen Erkrankung erkennen ließ.
Sie wurde verschlossen und mißtrauisch, zeigte Abneigung gegen den Ver¬
kehr mit den Geschwistern ihres Mannes und klagte, daß die Nachbarn in
der kleinen Stadt sich anders als früher, unhöflich und rücksichtslos gegen
sie benähmen. Allmählich steigerten sich diese Klagen an Intensität, wenn
auch nicht an Bestimmtheit: man habe etwas gegen sie, obwohl sie keine
Ahnung habe, was es sein könne. Aber es sei kein Zweifel, alle — Ver¬
wandte wie Freunde — versagten ihr die Achtung, täten alles, sie zu
kränken. Sie zerbreche sich den Kopf, woher das komme; wisse es nicht.
Einige Zeit später klagte sie, daß sie beobachtet werde, man ihre Gedanken
errate, alles wisse, was bei ihr im Hause vorgehe. Eines Nachmittags kam
ihr plötzlich der Gedanke, man beobachte sie abends beim Auskleiden.
Von nun an wendete sie beim Auskleiden die kompliziertesten Vorsichts¬
maßregeln an, schlüpfte im Dunkeln ins Bett und entkleidete sich erst
unter der Decke. Da sie jedem Verkehr auswich, sich schlecht nährte und
sehr verstimmt war, wurde sie im Sommer 1895 in eine Wasserheilanstalt
geschickt. Dort traten neue Symptome auf und verstärkten sich schon vor¬
handene. Schon im Frühjahr hatte sie plötzlich eines Tages, als sie mit
ihrem Stubenmädchen allein war, eine Empfindung im Schoße bekommen
und sich dabei gedacht, das Mädchen habe jetzt einen unanständigen Ge^
378
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
danken. Diese Empfindung wurde im Sommer häufiger, nahezu kontinuier¬
lich, sie spürte ihre Genitalien, „wie man eine schwere Hand spürtDann
fing sie an, Bilder zu sehen, über die sie sich entsetzte, Halluzinationen
von weiblichen Nacktheiten, besonders einen entblößten weiblichen Schoß
mit Behaarung; gelegentlich auch männliche Genitalien. Das Bild des be¬
haarten Schoßes und die Organempfindung im Schoße kamen meist ge¬
meinsam. Die Bilder wurden sehr quälend für sie, da sie dieselben regel¬
mäßig bekam, wenn sie in Gesellschaft einer Frau war und daran die
Deutung sich anschloß, sie sehe jetzt die Frau in unanständigster Blöße,
aber im selben Moment habe die Frau dasselbe Bild von ihr (l). Gleich¬
zeitig mit diesen Gesichtshalluzinationen — die nach ihrem ersten Auf¬
treten in der Heilanstcdt für mehrere Monate wieder verschwanden —
fingen Stimmen an, sie zu belästigen, die sie nicht erkannte und sich nicht
zu erklären wußte. Wenn sie auf der Straße war, hieß es: Das ist die
Frau P. — Da geht sie. Wo geht sie hin? — Man kommentierte jede
ihrer Bewegungen und Handlungen, gelegentlich hörte sie Drohungen und
Vorwürfe. Alle diese Symptome wurden ärger, wenn sie in Gesellschaft
oder gar auf der Straße war; sie verweigerte darum auszugehen, erklärte
dann, sie habe Ekel vor dem Essen und kam rasch herunter.
Dies erfuhr ich von ihr, als sie im Winter 1895 nach Wien
in meine Behandlung kam. Ich habe es ausführlich dargestellt,
um den Eindruck zu erwecken, daß es sich hier wirkhch um
eine recht häufige Form von chronischer Paranoia handle, zu
welchem Urteil die noch später anzuführenden Details der Sym¬
ptome und ihres Verhaltens stimmen werden. Wahnbildungen zur
Deutung der Halluzinationen verbarg sie mir damals oder sie
waren wirklich noch nicht vorgefallen5 ihre Intelligenz war un¬
vermindert; als auffällig wurde mir nur berichtet, daß sie ihrem
in der Nachbarschaft lebenden Bruder wiederholt Rendezvous
gegeben, um ihm etwas anzuvertrauen, ihm aber nie etwas mit¬
geteilt habe. Sie sprach nie über ihre Halluzinationen und zuletzt
auch nicht mehr viel über die Kränkungen und Verfolgungen,
unter denen sie litt.
Was ich nun von dieser Kranken zu berichten habe, betrifft
die Ätiologie des Falles und den Mechanismus der Halluzinationen.
fFeitere Bemerkungen über die Abwehr•Neuropsychosen
379
Ich fand die Ätiologie, als ich ganz wie bei einer Hysterie die
Breuersche Methode zunächst zur Erforschung und Beseitigung
der Halluzinationen in Anwendung brachte. Ich ging dabei von
der Voraussetzung aus, es müsse bei dieser Paranoia wie bei den
zwei anderen mir bekannten Abwehrneurosen unbewußte Gedanken
und verdrängte Erinnerungen geben, die auf dieselbe Weise wie
dort ins Bewußtsein zu bringen seien, unter Überwindung eines
gewissen Widerstandes, und die Kranke bestätigte sofort diese Er¬
wartung, indem sie sich bei der Analyse ganz wie zum Beispiel
eine Hysterica benahm und unter Aufmerksamkeit auf den Druck
meiner Hand (vergleiche die „Studien über Hysterie“) Gedanken
vorbrachte, die gehabt zu haben sie sich nicht erinnerte, die sie
zunächst nicht verstand, und die ihrer Erwartung widersprachen.
Es war also das Vorkommen bedeutsamer unbewußter Vorstellun¬
gen auch für einen Fall von Paranoia erwiesen, und ich durfte
hoffen, auch den Zwang der Paranoia auf Verdrängung zurückzu¬
führen. Eigentümlich war nur, daß sie die aus dem Unbewußten
stammenden Angaben zumeist wie ihre Stimmen innerlich hörte
oder halluzinierte.
Über die Herkunft der Gesichtshalluzinationen oder wenigstens
der lebhaften Bilder erfuhr ich folgendes: Das Bild des weiblichen
Schoßes kam fast immer mit der Organempfindung im Schoße
zusammen, letztere war aber viel konstanter und sehr oft ohne
das Bild.
Die ersten Bilder von weiblichen Schößen waren aufgetreten
in der Wasserheilanstalt, wenige Stunden, nachdem sie eine An¬
zahl von Frauen tatsächlich im Baderaum entblößt gesehen hatte,
erwiesen sich also als einfache Reproduktionen eines realen Ein¬
druckes. Man durfte nun voraussetzen, daß diese Eindrücke nur
darum wiederholt worden seien, weil sich ein großes Interesse an
sie geknüpft habe. Sie gab die Auskunft, sie habe sich damals
für jene Frauen geschämt; sie schäme sich selbst, nackt gesehen
zu werden, seitdem sie sich erinnere. Da ich nun diese Scham
580
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
für etwas Zwanghaftes ansehen mußte, schloß ich nach dem
Mechanismus der Abwehr, es müsse hier ein Erlebnis verdrängt
worden sein, bei dem sie sich nicht geschämt, und forderte sie
auf, die Erinnerungen auftauchen zu lassen, welche zu dem Thema
des Schämens gehörten. Sie reproduzierte mir prompt eine Reihe
von Szenen vom siebzehnten Jahre bis zum achten, in denen sie
sich im Bade vor der Mutter, der Schwester, dem Arzte ihrer
Nacktheit geschämt hatte; die Reihe lief aber in eine Szene mit
sechs Jahren aus, wo sie sich im Kinderzimmer zum Schlafengehen
entkleidete, ohne sich vor dem anwesenden Bruder zu schämen.
Auf mein Befragen kam heraus, daß es solcher Szenen viele ge¬
geben habe, und daß die Geschwister Jahre hindurch die Ge¬
wohnheit geübt hätten, sich einander vor dem Schlafengehen
nackt zu zeigen. Ich verstand nun, was der plötzliche Einfall
bedeutet hatte, man beobachte sie beim Schlafengehen. Es war
ein unverändertes Stück der alten Vorwurfserinnerung, und sie
holte jetzt an Schämen nach, was sie als Kind versäumt hatte.
Die Vermutung, daß es sich hier um ein Kinderverhältnis handle,
wie auch in der Ätiologie der Hysterie so häufig, wurde durch
weitere Fortschritte der Analyse bekräftigt, bei denen sich gleich¬
zeitig Lösungen für einzelne im Bild der Paranoia häufig wieder¬
kehrende Details ergaben. Der Anfang ihrer Verstimmung fiel
zusammen mit einem Zwiste zwischen ihrem Manne und ihrem
Bruder, infolgedessen der letztere ihr Haus nicht mehr betrat. Sie
hatte diesen Bruder immer sehr gehebt und entbehrte ihn um
diese Zeit sehr. Sie sprach aber außerdem von einem Moment
ihrer Krankengeschichte, in dem ihr zuerst „alles klar wurde“,
d. h. in dem sie zur Überzeugung gelangte, daß ihre Vermutung,
allgemein mißachtet und mit Absicht gekränkt zu werden, Wahr¬
heit sei. Diese Sicherheit gewann sie durch den Besuch einer
Schwägerin, welche im Verlauf des Gesprächs die Worte fallen
ließ: „Wenn mir etwas Derartiges passiert, nehme ich es auf die
leichte Achsel!“ Frau P. nahm diese Äußerung zunächst arglos
Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen
581
hin^ nachdem aber ihr Besuch sie verlassen hatte, kam es ihr vor,
als sei in diesen Worten ein Vorwurf für sie enthalten gewesen,
als ob sie gewohnt sei, ernste Dinge leicht zu nehmen, und von
dieser Stunde an war sie sicher, daß sie ein Opfer der allgemeinen
Nachrede sei. Als ich sie examinierte, wodurch sie sich berechtigt
gefühlt, jene Worte auf sich zu beziehen, antwortete sie, der Ton,
in dem die Schwägerin gesprochen, habe sie — allerdings nach¬
träglich — davon überzeugt, was doch ein für Paranoia charak¬
teristisches Detail ist. Ich zwang sie nun, sich an die Reden der
Schwägerin vor der angeschuldigten Äußerung zu erinnern, und
es ergab sich, daß diese erzählt hatte, im Vaterhause habe es mit
den Brüdern allerlei Schwierigkeiten gegeben, und daran die
weise Bemerkung geknüpft: „In jeder Familie gehe allerlei vor,
worüber man gerne eine Decke breite. Wenn ihr aber Derartiges
passiere, dann nehme sie es leicht.Frau P. mußte nun bekennen,
daß an diese Sätze vor der letzten Äußerung ihre Verstimmung
angeknüpft hatte. Da sie diese beiden Sätze, die eine Erinnerung
an ihr Verhältnis zum Bruder wecken konnten, verdrängt hatte
und nur den bedeutungslosen letzten Satz behalten, mußte sie die
Empfindung, als mache ihr die Schwägerin einen Vorwurf, an
diesen knüpfen, und da der Inhalt desselben keine Anlehnung
hiefür bot, warf sie sich vom Inhalte auf den Ton, mit dem diese
Worte gesprochen worden waren. Ein wahrscheinlich typischer
Beleg dafür, daß die Mißdeutungen der Paranoia auf einer Ver¬
drängung beruhen.
In überraschender Weise löste sich auch ihr sonderbares Ver¬
fahren, ihren Bruder zu Zusammenkünften zu bestellen, bei denen
sie ihm dann nichts zu sagen hatte. Ihre Erklärung lautete, sie
habe gemeint, er müsse ihr Leiden verstehen, wenn sie ihn bloß
ansehe, da er um die Ursache desselben wisse. Da nun dieser
Bruder tatsächlich die einzige Person war, die um die Ätiologie
ihrer Krankheit wissen konnte, ergab sich, daß sie nach einem
Motiv gehandelt hatte, das sie bewußt zwcir selbst nicht verstand,
382
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
das aber vollkommen gerechtfertigt erschien, sobald man ihm einen
Sinn aus dem Unbewußten unterlegte.
Es gelang mir dann, sie zur Reproduktion der verschiedenen
Szenen zu veranlassen, in denen der sexuelle Verkehr mit dem
Bruder (mindestens vom sechsten bis zum zehnten Jahre) gegipfelt
hatte. Während dieser Reproduktionsarbeit sprach die Organemp¬
findung im Schoße mit, wie es bei der Analyse hysterischer Er¬
innerungsreste regelmäßig beobachtet wird. Das Bild eines nackten
weiblichen Schoßes (jetzt aber auf kindliche Proportionen reduziert
und ohne Behaarung) stellte sich dabei gleichfalls ein oder blieb
weg, je nachdem die betreffende Szene bei hellem Lichte oder
im Dunkeln vorgefallen war. Auch der Eßekel fand in einem
abstoßenden Detail dieser Vorgänge eine Erklärung. Nachdem wir
die Reihe dieser Szenen durchgemacht hatten, waren die hallu¬
zinatorischen Empfindungen und Bilder verschwunden, um (wenig¬
stens bis heute) nicht wiederzukehren.'
Ich hatte also gelernt, daß diese Halluzinationen nichts anderes
als Stücke aus dem Inhalt der verdrängten Kindererlebnisse waren,
Symptome der Wiederkehr des Verdrängten.
Nun wandte ich mich an die Analyse der Stimmen. Hier war
vor allem zu erklären, daß ein so gleichgültiger Inhalt: „Hier geht
die Frau P.“ — „Sie sucht jetzt Wohnung^^ u. dgl. von ihr so
peinlich empfunden werden konnte 5 sodann, auf welchem Wege
gerade diese harmlosen Sätze es dazu brachten, durch halluzina¬
torische Verstärkung ausgezeichnet zu werden. Von vornherein
war klar, daß diese „Stimmennicht halluzinatorisch reproduzierte
Erinnerungen sein konnten wie die Bilder und Empfindungen,
sondern vielmehr „laut gewordene“ Gedanken.
Das erstemal, als sie Stimmen hörte, geschah es unter folgen¬
den Umständen: Sie hatte mit großer Spannung die schöne Er-
1) Als späterhin eine Exazerbation die ohnehin spärlichen Erfolge der Behandlung
aufhob, sah sie die anstößigen Bilder fremder Genitalien nicht wieder, sondern hatte
die Idee, die Fremden sähen ihre Genitalien, sobald sie sich hinter ihr befänden.
Weitere Bemerkungen über die Abwehr•Neuropsychosen
383
Zählung von O. Ludwig, „Die Heiterethei“ gelesen und bemerkt,
daß sie bei der Lektüre von aufsteigenden Gedanken in Anspruch
genommen wurde. Unmittelbar darauf ging sie auf der Landstraße
spazieren, und nun sagten ihr plötzlich die Stimmen, als sie an
einem Bauernhäuschen vorüberging: „So hat das Haus der Heitere-
thei ausgesehen! Da ist der Brunnen und da der Strauch! Wie
glücklich war sie doch bei all ihrer Armut !‘^ Dann wiederholten
ihr die Stimmen ganze Abschnitte, die sie eben gelesen hatte;
aber es blieb unverständlich, warum Haus, Strauch und Brunnen
der Heiterethei und gerade die belang- und beziehungslosesten
Stellen der Dichtung sich ihrer Aufmerksamkeit mit pathologi¬
scher Stärke aufdrängen mußten. Indes war die Lösung des Rätsels
nicht schwer. Die Analyse ergab, daß sie während der Lektüre
auch andere Gedanken gehabt hatte und durch ganz andere Stellen
des Buches angeregt worden war. Gegen dieses Material — Ana¬
logien zwischen dem Paare der Dichtung und ihr und ihrem
Manne, Erinnerungen an Intimitäten ihres Ehelebens und an
Familiengeheimnisse — dies alles hatte sich ein verdrängen¬
der Widerstand erhoben, weil es auf leicht nachweisbaren Ge¬
dankenwegen mit ihrer sexuellen Scheu zusammenhing und so in
letzter Linie auf die Erweckung der alten Kindererlebnisse hinaus¬
kam. Infolge dieser von der Verdrängung geübten Zensur gewannen
die harmlosen und idyllischen Stellen, die mit den beanstandeten
durch Kontrast und auch durch Vizinität verknüpft waren, die
Verstärkung für das Bewußtsein, die ihnen das Lautwerden er¬
möglichte. Der erste der verdrängten Einfälle bezog sich z. B.
auf die Nachrede, der die vereinsamt lebende Heldin von seiten
der Nachbarn ausgesetzt war. Die Analogie mit ihrer eigenen
Person wurde von ihr leicht gefunden. Auch sie lebte in einem
kleinen Orte, verkehrte mit niemand und glaubte sich von den
Nachbarn mißachtet. Dies Mißtrauen gegen ihre Nachbarn hatte
seinen wirklichen Grund darin, daß sie anfangs genötigt war, sich
mit einer kleinen Wohnung zu begnügen, in welcher die Schlaf-
5^4
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
zimmerwand, an der die Ehebetten des jungen Paares standen,
an ein Zimmer der Nachbarn stieß. Mit dem Beginn ihrer Ehe
erwachte in ihr — offenbar durch unbewußte Erweckung ihres
Kinderverhältnisses, in dem sie Mann und Frau gespielt hatten —
eine große sexuelle Scheu ^ sie besorgte beständig, daß die Nach¬
barn Worte und Geräusche durch die trennende Wand vernehmen
könnten, und diese Scham verwandelte sich bei ihr in Argwohn
gegen die Nachbarn.
Die Stimmen verdankten also ihre Entstehung der Verdrängung
von Gedanken, die in letzter Auflösung eigentlich Vorwürfe an¬
läßlich eines dem Kindertrauma analogen Erlebnisses bedeuteten^
sie waren demnach Symptome der Wiederkehr des Verdrängten,
aber gleichzeitig Folgen eines Kompromisses zwischen Widerstand
des Ichs und Macht des Wiederkehrenden, der in diesem Falle
eine Entstellung bis zur Unkenntlichkeit herbeigeführt hatte. In
anderen Fällen, in denen ich Stimmen bei Frau P. zu analysieren
Gelegenheit hatte, war die Entstellung minder groß^ doch hatten
die gehörten Worte immer einen Charakter von diplomatischer
Unbestimmheit^ die kränkende Anspielung war meist tief versteckt,
der Zusammenhang der einzelnen Sätze durch fremdartigen Aus¬
druck, ungewöhnliche Sprachformen u. dgl. verkleidet: Charaktere,
die den Gehörshalluzinationen der Paranoiker allgemein eigen sind,
und in denen ich die Spur der Kompromißentstellung erblicke.
Die Rede: „Da geht die Frau P., sie sucht Wohnung in der
Straße^^, bedeutete z. B. die Drohung, daß sie nie genesen werde,
denn ich hatte ihr zugesagt, daß sie nach der Behandlung im¬
stande sein werde, in die kleine Stadt, wo ihr Mann beschäftigt
war, zurückzukehren ^ sie hatte für einige Monate in Wien provi¬
sorisch Wohnung gemietet.
In einzelnen Fällen vernahm Frau P. auch deutlichere Drohungen,
z. B. in betreff der Verwandten ihres Mannes, deren zurück¬
haltender Ausdruck aber immer noch mit der Qual kontrastierte,
welche ihr solche Stimmen bereiteten. Nach dem, was man sonst
TFeitere Bemerkungen über die Abwehr•Neuropsychosen
385
von Paranoikern weiß, bin ich geneigt, ein allmähliches Erlahmen
jenes die Vorwürfe abschwächenden Widerstandes anzunehmen, so
daß endlich die Abwehr voll mißlingt, und der ursprüngliche
Vorwurf, das Schimpfwort, welches man sich ersparen wollte, in
unveränderter Form zurückkehrt. Indes weiß ich nicht, ob dies
ein konstanter Ablauf ist, ob die Zensur der Vorwurfsreden nicht
von Anfang an ausbleiben oder bis zum Ende ausharren kann.
Es erübrigt mir nur noch, die an diesem Falle von Paranoia
gewonnenen Aufklärungen für eine Vergleichung der Paranoia
mit der Zwangsneurose zu verwerten. Die Verdrängung als Kern
des psychischen Mechanismus ist hier wie dort nachgewiesen, das
Verdrängte ist in beiden Fällen ein sexuelles Kindererlebnis. Jeder
Zwang rührt auch bei dieser Paranoia von Verdrängung her; die
Symptome der Paranoia lassen eine ähnliche Klassifizierung zu,
wie sie sich für die Zwangsneurose als berechtigt erwiesen hat.
Ein Teil der Symptome entspringt wieder der primären Abwehr,
nämlich alle Wahnideen des Mißtrauens, Argwohns, der Ver¬
folgung durch andere. Bei der Zwangsneurose ist der initiale Vor¬
wurf verdrängt worden durch die Bildung des primären Abwehr¬
symptoms: Selbstmißtrauen. Dabei ist der Vorwurf als berechtigt
anerkannt worden, und zur Ausgleichung schützt nun die Geltung,
welche sich die Gewissenhaftigkeit im gesunden Intervall erworben
hat, davor, dem als Zwangsvorstellung wiederkehrenden Vorwurfe
Glauben zu schenken. Bei Paranoia wird der Vorwurf auf einem
Wege, den man als Projektion bezeichnen kann, verdrängt, indem
das Abwehrsymptom des Mißtrauens gegen andere errichtet
wird; dabei wird dem Vor würfe die Anerkennung entzogen, und
wie zur Vergeltung fehlt es dann an einem Schutze gegen die in
den Wahnideen wiederkehrenden Vorwürfe.
Andere Symptome meines Falles von Paranoia sind als Sym¬
ptome der Wiederkehr des Verdrängten zu bezeichnen und tragen
auch, wie die der Zwangsneurose, die Spuren des Kompromisses
an sich, der ihnen allein den Eintritt ins Bewußtsein gestattet.
Freud, I.
25
586
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
So die Wahnidee, beim Auskleiden beobachtet zu werden, die
visuellen, die Empfindungshalluzinationen und das Stimmenhören.
Nahezu unveränderter, nur durch Auslassung unbestimmt ge¬
wordener Erinnerungsinhalt findet sich in der erwähnten Wahn¬
idee vor. Die Wiederkehr des Verdrängten in visuellen Bildern
nähert sich eher dem Charakter der Hysterie als dem der Zwangs¬
neurose, doch pflegt die Hysterie ihre Erinnerungssymbole ohne
Modifikation zu wiederholen, während die paranoische Erinnerungs¬
halluzination eine Entstellung erfährt, wie sie der Zwangsneurose
zukommt^ ein analoges modernes Bild setzt sich an die Stelle des
verdrängten (Schoß einer erwachsenen Frau anstatt des eines Kindes^
daran sogar die Behaarung besonders deutlich, weil diese dem
ursprünglichen Eindruck fehlte). Ganz der Paranoia eigentümlich
und in dieser Vergleichung weiter nicht zu beleuchten ist der
Umstand, daß die verdrängten Vorwürfe als lautgewordene Ge¬
danken wiederkehren, wobei sie sich eine zweifache Entstellung
gefallen lassen müssen, eine Zensur, die zur Ersetzung durch andere
assoziierte Gedanken oder zur Verhüllung durch unbestimmte Aus¬
drucksweise führt, und die Beziehung auf rezente, den alten bloß
analoge Erlebnisse.
Die dritte Gruppe der bei Zw^angsneurose gefundenen Sym¬
ptome, die Symptome der sekundären Abwehr, kann bei der
Paranoia nicht als solche vorhanden sein, da sich gegen die wieder¬
kehrenden Symptome, die ja Glauben finden, keine Abwehr geltend
macht. Zum Ersätze hiefür findet sich bei Paranoia eine andere
Quelle für Symptombildung; die durch das Kompromiß ins Be¬
wußtsein gelangten Wahnideen (Symptome der Wiederkehr) stellen
Anforderungen an die Denkarbeit des Ichs, bis daß sie wider¬
spruchsfrei angenommen werden können. Da sie selbst unbeein¬
flußbar sind, muß das Ich sich ihnen anpassen und somit ent¬
spricht den Symptomen der sekundären Abwehr bei der Zwangs¬
neurose hier die kombinatorische Wahnbildung, der Deutungs¬
wahn, der in die Ich-Veränderung ausläuft. Mein Fall war in
Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen
387
dieser Hinsicht unvollständige er zeigte damals noch nichts von
Deutungsversuchen, die sich erst später einstellten. Ich zweifle
aber nicht daran, daß man noch ein wichtiges Resultat wird fest¬
stellen können, wenn man die Psychoanalyse auch auf dieses
Stadium der Paranoia anwendet. Es dürfte sich'ergeben, daß auch
die sogenannte Erinnerungsschwäche der Paranoiker eine ten¬
denziöse, d. h. auf Verdrängung beruhende und ihren Absichten
dienende ist. Es werden nachträghch jene gar nicht pathogenen
Erinnerungen verdrängt und ersetzt, die mit der Ich-Veränderung
in Widerspruch stehen, welche die Symptome der Wiederkehr
gebieterisch erfordern.
l’h^:r^:dit^: et l’:^:tiologie des
N^:VROSES
Zuerst erschienen in der „Revue neurologique'‘
IV (l8q6).
Je m’adresse sp^cialement aux disciples de J.-M. Charcot pour
faire valoir quelques objections contre la theorie etiologique des
ndvroses qui nous a ete transmise par notre maitre.
On sait quel est le role attribue ä l’heredite nerveuse dans
cette theorie. Elle est pour les affections nevrosiques la seule cause
vraie et indispensable, les autres influences etiologiques ne devant
aspirer qu’au nom d’agents provocateurs.
Ainsi le maitre lui-meme et ses Cleves, MM. Guinon, Gilles
de la Tourette, Janet et d’autres Tont enonce pour la grande
nevrose, l’hysterie et, je crois, la meme opinion est soutenue en
France et un peu partout pour les autres nevroses, bien qu’elle
n’ait pas ete emise d’une manifere aussi solennelle et decidee pour
ces dtats analogues ä l’hysterie.
C’est depuis longtemps que j’entretiens quelques soupgons dans
cette matiere, mais il m’a fallu attendre pour trouver des faits
d’appui dans l’experience journalifere du medecin. Maintenant mes
objections sont d’un double ordre, arguments de faits et argu-
ments tirds de la spdculation. Je commencerai par les premiers,
en les arrangeant selon l’importance que je leur concfede.
Uheredite et Vetiohgie des nevroses
389
I
a) On a parfois juge comme nerveuses et demonstratives d’une
tendance nevropathique hereditaire, des affections qui assez souvent
sont ^trangeres au domaine de la neuropathologie et ne d^pendent
pas ndcessairement d’une maladie du systfeme nerveux. Ainsi les
n^vralgies vraies de la face et nombre des cephalees, qu’on croyait
nerveuses, mais qui d^rivent plutot des alt^rations pathologiques
post-infectieuses et des suppurations dans le Systeme cavitaire
pharyngo-nasal. Je me tiens persuad^, que les malades en profi-
teraient si nous abandonnions plus souvent le traitement de ces
affections aux chirurgiens rhinologistes.
b) On a accepte comme donnant lieu a la Charge de tare ner-
veuse hereditaire pour le malade en question toutes les affections
nerveuses trouv^es dans sa famille sans en compter la frequence
et la gravit^. N’est-ce pas que cette manibre de voir semble con-
tenir une Separation nette entre les familles indemnes de toute
pr^disposition nerveuse et les familles qui y soient sujettes sans
borne ni restriction? Et les faits ne plaident-ils pas plutot en
faveur de l’opinion opposöe, savoir qu’il y ait des transitions et
des degr^s de disposition nerveuse et qu’aucune famille n’y echappe
tout a fait?
c) Assur^ment notre opinion sur le role ^tiologique de l’h^r^-
dite dans les maladies nerveuses doit etre le resultat d’un examen
impartial statistique et non pas d’une petitio principii, Tant que
cet examen n’aura pas ^te fait on devrait croire l’existence des
n^vropathies acquises aussi possible que celle des n^vropathies here-
ditaires. Mais s’il peut y avoir des n^vropathies acquises par des
hommes non predispos^s, on ne pourra plus nier que les affections
nerveuses rencontr^es chez les parents de notre malade, ne soient
en partie de cette origine. Alors on ne saura plus les invoquer
comme preuves concluantes de la disposition hereditaire, qu’on
impose au malade ä raison de son histoire familiale, puisque le
390
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
diagnostic r^trospectif des maladies des ascendants ou des membres
absents de la famille ne reussit que tres rarement.
d) Ceux qui se sont attaches ä M. Fournier et ä M. Erb con-
cernant le role etiologique de la Syphilis dans le tabes dorsal et
la paralysie progressive, ont appris qu’il faut reconnaitre des in-
fluences dtiologiques puissantes dont la collaboration est indispen¬
sable pour la pathogenie de certaines maladies, que l’heredite a
eile seule ne saurait produire. Cependant M. Charcot est demeure
jusqu’ä son dernier temps, comme j’ai su par une lettre privee
du maitre, en stricte Opposition contre la theorie de Fournier qui
pourtant gagne du terrain de jour en jour.
e) II n'est pas douteux que certaines nevropathies peuvent se
developper chez l’homme parfaitement sain et de famille irre-
prochable. C’est ce qu’on observe tous les jours pour la nevrasthenie
de Beard^ si la nevrasthenie se bornait aux gens predisposes eile
n’aurait jamais gagne l’importance et l’etendue que nous lui con-
naissons.
^ II y a dans la pathologie nerveuse, Vheredite similaire et
l’heredite dite dissimilaire. Pour la premiere on ne trouvera rien
a redire^ c’est meme trbs remarquable, que dans les affections
qui ddpendent de l’hörddite similaire (maladie de Thomson, de
Friedreich^ myopathies, chorde de Huntington etc.) on ne rencontre
jamais la trace d’une autre influence etiologique accessoire. Mais
l’herddite dissimilaire, beaucoup plus importante que l’autre, laisse
des lacunes qu’il faudrait combler pour arriver a une solution
satisfaisante des problömes dtiologiques. Elle consiste dans le fait
que les membres de la meme famille se montrent visites par les
ndvropathies les plus diverses, fonctionelles et organiques, sans
qu’on puisse ddvoiler une loi qui dirige la Substitution d’une
maladie pour une autre ou l’ordre de leur succession a travers
les gendrations. A cot^ des individus malades il y a dans ces familles
des personnes qui restent saines, et la theorie de l’h^r^ditd dissi¬
milaire ne nous dit pas pourquoi cette personne Supporte la meme
Uheredite et Vetiologie des nevroses
591
Charge her^ditaire sans y succomber, ni pourquoi une autre per¬
sonne malade aura choisi, parmi les affections qui constituent
la grande famille ndvropathique, une teile affection nerveuse au
lieu d’en avoir choisi une autre, l’hysterie au lieu de l’^pilepsie,
de la vdsanie, etc. Comme il n’y a pas une fortuite, en patho-
gdnie nerveuse pas plus qu’ailleurs, il faut bien conceder que ce
n’est pas l’heredite qui preside au choix de la nevropathie qui se
developpera chez le membre d’une famille predispose, mais qu’il
y a lieu de soupgonner l’existence d’autres influences etiologiques,
d’une nature moins imcomprehensible, qui meriteraient alors le
nom d’une etiologie specifique de teile ou teile affection nerveuse.
Sauf l’existence de ce facteur etiologique special l’heredite n’aurait
pu rien faire; eile se serait pretde ä la production d’une autre
ndvropathie si l’etiologie specifique en question avait etd substituee
par une influence quelqu’autre.
II
On a trop peu recherchd ces causes specifiques et d^terminan-
tes des nevropathies l’attention des medecins demeurant dblouie
par la grandiose perspective de la condition dtiologique here-
ditaire.
Neanmoins eiles meritent bien qu’on les rende l’objet d’une
^tude assidue; bien que leur puissance pathogenique ne seit en
gdndral qu’accessoire a celle de l’her^dit^, un grand interet pra-
tique se rattache ä la connaissance de cette etiologie specifique
qui pretera un acces ä notre travail therapeutique, tandis que la
disposition herdditaire, fixde d’avance pour le malade dhs sa nais-
sance, arrete nos efforts en pouvoir inabordable.
Je me suis engage depuis des annees dans la recherche de
l’dtiologie des grandes nevroses (etats nerveux fonctionnels ana-
logues ä l’hysterie) et c’est le resultat de ces etudes que je
raconterai dans les lignes qui vont suivre. Pour dviter tout
392
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
malentendu possible j’exposerai d’abord deux remarques sur la
nosographie des n^vroses et sur l’etiologie des nevroses en ge¬
neral.
II m’a fallu commencer mon travail par une innovation noso-
graphique. A cote de l’hysterie j’ai trouve raison de placer la
nevrose des obsessions (Zwangsneurose) comme affection autonome
et independante, bien que la plupart des auteurs fassent ranger
les obsessions parmi les syndromes constituant la ddgdneres-
cence mentale ou les confondent avec la nevrasthdnie. Moi^
j’avais appris par l’examen de leur mecanisme psychique, que
les obsessions sont liees ä l’hysterie plus dtroitement qu’on ne
croiraitJ
Hysterie et nevrose d’obsessions forment le premier groupe des
grandes nevroses, que j’ai etudiees. Le second contient la nev-
rasthenie de Beard que j’ai decomposee en deux ^tats fonctionnels
separes par l’^tiologie comme par l’aspect symptomatique, la
nevrasthenie propre et la nevrose dangoisse (Angstneurose), de-
nomination qui, seit dit en passant, ne me convient pas a moi-
meme. J’ai donne les raisons de cette Separation, que je crois
n^essaire, en detail dans un memoire publie en 1895 (Neurolo¬
gisches Zentralblatt, n° 10—11).
Quant ä l’etiologie des nevroses, je pense qu’on doit recon-
naitre en theorie que les influences etiologiques differentes entre
elles par leur dignite et manifere de relation avec l’effet qu’elles
produisent, se laissent ranger en trois classes: 1) Conditions, qui
sont indispensables pour la production de l’affection en question^
mais qui sont ‘de nature universelle et se recontrent aussi bien
dans r^tiologie de beaucoup d’autres affections; 2) Causes concur-
rentes, qui partagent le caractere des conditions qu’elles fonction-
nent dans la causation d’autres affections aussi bien que dans celle
de l’affection en question, mais qui ne sont pas indispensables, pour
que cette dernifere se produise^ 5) Causes specifiques, autant in¬
dispensables que les conditions, mais de nature etroite et qui
Uheredite et Vetiologie des nevroses
393
n’apparaissent que dans l’etiologie de raffection, de laquelle eiles
sont specifiques.
Eh bien, dans la pathogenese des grandes nevroses l’h^rdditd
remplit le role d’une condition, puissante dans tous les cas et
meme indispensable dans la plupart des cas. Elle ne saurait se
passer de la collaboration des causes specifiques, mais l’importance
de la disposition herdditaire se trouve ddmontree par le fait que
les memes causes specifiques agissant sur un individu sain ne pro-
duiraient aucun effet pathologique manifeste pendant que chez
une personne predisposde leur action fera eclore la nevrose, de
laquelle le developpement en intensite et etendue sera conforme
au degre de cette condition hereditaire.
L’action de Fheredite est donc comparable ä celle du fil mul-
tiplicateur dans le circuit dlectrique, qui exagere la ddviation
visible de l’aiguille, mais qui ne pourra pas en ddterminer la
direction.
Dans les relations qui existent entre la condition hereditaire et
les causes specifiques des nevroses il y a encore autre chose ä
noter. L’experience montre, ce qu’on aurait pu supposer d’avance,
qu’on ne devrait pas negliger dans ces questions d’etiologie les
quantites relatives pour ainsi dire des influences etiologiques. Mais
on n’aurait pas devine le fait suivant, qui semble ddcouler de mes
observations, que Fheredite et les causes specifiques peuvent se
remplacer par le cote quantitatif, que le meme effet patho¬
logique sera produit par la concurrence d’une dtiologie specifique
trfes serieuse avec une disposition mediocre ou d’une hdreditd ner-
veuse chargee avec une influence spdcifique Idgfere. Alors ce n’est
qu’un extreme bien plausible de cette serie, qu’on rencontre aussi
des cas de ndvroses, ou on cherchera en vain un degrd apprdciable
de disposition hereditaire, pourvu que ce manque soit compensd
par une puissante influence spdcifique.
Comme causes concurrentes ou accessoires des nevroses, ont
peut enumerer tous les agents banals rencontrds ailleurs: emotions
594
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
morales, epuisement somatique, maladies aigues, intoxications,
accidents traumatiques, surmenage intellectuel, etc. Je tiens a la
proposition qu’aucun d’eux, ni meme le dernier, n’entre re-
guliferement ou necessairement dans l’etiologie des nevroses, et
e sais bien qu’enoncer cette opinion c’est se mettre en Opposition
directe contre une theorie consideree comme universelle et irr^-
prochable. Depuis que Beard avait declar^ la nevrasthdnie etre le
fruit de notre civilisation moderne, il n’a trouve que des
croyants^ mais il m’est impossible ä moi d’accepter cette opinion.
Une etude laborieuse des nevroses m’a appris que l’etiologie sp^-
cifique des nevroses s’est soustraite ä la connaissance de Beard.
Je ne veux pas deprecier l’importance dtiologique de ces agents
banals. Ils sont tres vari^s, d’une occurrence frequente, et accusds
le plus souvent par les malades memes, il se rendent plus evidents
que les causes specifiques des nevroses, etiologie ou cach^e ou
ignoröe. Ils remplissent assez souvent la fonction des agents pro-
vocateurs qui rendent manifeste la nevrose jusque lä latente, et un
interet pratique se rattache ä eux, parce que la consideralion de
ces causes banales peut preter des points d’appui ä une th^rapie
qui ne vise pas la guerison radicale, et qui se contente de re-
fouler l’affection ä son ^tat ant^rieur de latence.
Mais on n’arrive pas a constater une relation constante et etroite
entre une de ces causes banales et teile ou autre affection ner-
veuse^ l’emotion morale, par exemple, se trouve aussi bien dans
l’etiologie de Thysterie, des obsessions, de la n^vrasthenie, comme
dans celle de l’^pilepsie, de la maladie de Parkinson, du diabbte,
et nombre d’autres.
Les causes concurrentes banales pourront aussi remplacer Tetio-
logie specifique en rapport de quantite, mais jamais la substituer
complbtement. Il y a nombre de cas ou toutes les influences btio-
logiques sont representbes par la condition herbditaire et la cause
spdcifique, les causes banales faisant defaut. Dans les autres cas, les
facteurs etiologiques indispensables ne suffisent pas par leur quantitb
Uheredite et Vetiohgie des nevroses
395
4 eux pour faire eclater la nevrose, un etat de sant4 apparente
peut etre maintenu pour longtemps, qui est en verite un etat de
prddisposition nevrosique^ il suffit alors qu’une cause banale sura-
joute son action, la nevrose devient manifeste. Mais il faut bien
remarquer, dans de telles conditions, que la nature de l’agent banal
survenant est tout a fait indifferente, dmotion, traumatisme, maladie
infectieuse ou autre^ Teffet pathologique ne sera pas modifie selon
cette Variation, la nature de la nevrose sera toujours domin^e par
la cause specifique pr^existante.
Quelles sont donc ces causes specifiques des nevroses? Est-ce
une seule ou y en a-t-il plusieures? Et peut-on constater une re-
lation etiologique constante entre teile cause et tel effet nevrosique,
de mani^re que chacune des grandes nevroses puisse etre ramenee
a une Ätiologie particuliere?
Je veux maintenir, appuye sur un examen laborieux des faits,
que cette dernifere supposition correspond bien a la realite, que
chacune des grandes nevroses enumerees a pour cause immddiate
un trouble particulier de l’economie nerveuse, et que ces modi-
fications pathologiques fonctionnelles reconnaissent comme source
commune la vie sexuelle de Vindividu, soit desordre de la vie
sexuelle actuelle^ soit evenements importants de la vie passee.
Ce n’est pas, a vrai dire, une proposition nouvelle, inoui’e. On
a toujours admis les desordres sexuels parmi les causes de la ner-
vosite, mais on les a subordonnes a l’heredite, coordonnes aux
autres agents provocateurs^ on a restreint leur influence etiologique
a un nombre limite des cas observes. Les medecins avaient meme
pris l’habitude de ne pas les rechercher si le malade ne les accu-
sait lui-meme. Les caractöres distinctifs de ma manifere de voir
sont que j’äfeve ces influences sexuelles au rang de causes sp 4 ci-
fiques, que je reconnais leur action dans tous les cas de nevrose,
enfin que je trouve un parallelisme regulier, preuve de relation
dtiologique particulifere entre la nature de l’influence sexuelle et
Tesp^ce morbide de la nevrose.
396
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Je suis bien sür que cette theorie ^voquera un orage de con-
tradictions de la part des medecins contemporains. Mais ce n’est
pas ici le lieu de donner les documents et les experiences, qui
m’ont impose ma conviction, ni d’expliquer le vrai sens de l’ex-
pression un peu vague „desordres de l’economie ndrveuse^^ Ce
sera fait, j’espfere le plus amplement, dans un ouvrage que je pre-
pare sur la matiere. Dans le memoire prdsent je me borne ä
dnoncer mes resultats.
La nevrasthenie propre, d’un aspect clinique trfes monotone, si
l’on a mis ä part la nevrose d’angoisse (fatigue, Sensation de casque^
dyspepsie flatulente, Obstipation, paresthesies spinales, faiblesse sexuelle
etc.) ne reconnait comme etiologie specifique que Tonanisme (im¬
modere) ou les pollutions spontanees.
C’est l’action prolongee et intensive de cette satisfaction sexuelle
pernicieuse qui suffit ä elle-meme pour provoquer la ndvrose
ndvrasthenique ou qui impose ä ce sujet le cachet nevrasth^nique
special manifest^ plus tard sous l’influence d’une cause occasionelle
accessoire. J’ai rencontre aussi des personnes qui presentaient les
signes de la Constitution nevrasth^nique chez lesquels je n’ai pas
rdussi ä mettre en dvidence l’^tiologie nomm^e, mais j’ai constate
au moins que chez ces malades la fonction sexuelle n’etait jamais
d^veloppee au niveau normal 5 ils semblaient doues par hdritage
d’une Constitution sexuelle, analogue ä celle qui chez le ndvr-
asthenique est produite en consequence de l’onanisme.
La nevrose d’angoisse, de laquelle le tableau clinique est beau-
coup plus riche (irritabilit^, etat d’attente anxieuse, phobies, attaques
d’angoisse complfetes ou rudimentaires, de peur, de vertige, tremble-
ments, sueurs, congestion, dyspn^e, tachycardie etc. 5 diarrhde chroni-
que, vertige chronique de locomotion, hyperesth&ie, insomnies etc.)'
est facilement devoilee comme l’effect specifique de divers desordres
de la vie sexuelle, qui ne manquent pas d’un caractfere commun
1) Voir pour la symptomatolog^ie comme P 4 tiologie de la nevrose d’angoisse, mon
memoire cit 4 plus haut. Neurologisches Zentralblatty 1895, n® 10—11. *
U her Mite et Vetiologie des nevroses
597
a eux tous. L’abstinence forcee, rirritation genitale fruste (qui
n’est pas assouvie par l’acte sexuel), le coit imparfait ou interrompu
(qui n’aboutit pas a la jouissance), les efforts sexuels, qui sur-
passant la capacite psychique du sujet etc., tous ces agents, qui
sont d’une occurrence trop frequente dans la vie moderne, semblent
convenir en ce qu’ils troublent Tequilibre des fonctions psychiques
et somatiques dans les actes sexuels, et qu’ils empechent la parti-
cipation psychique necessaire pour d^livrer l’^conomie nerveuse de
la tension genesique.
Ces remarques, qui contiennent peut-etre le germe d’une expli-
cation theorique du mecanisme fonctionnel de la n^vrose en
question, laissent dejä soupconner, qu’une exposition complbte et
vraiment scientifique de la matiere ne soit pas possible actuelle-
ment et qu’il faudrait avant tout aborder le problbme physio-
logique de la vie sexuelle sous un point de vue nouveau.
Je finis par dire, que la pathogenbse de la nevrasthenie et de
la n^vrose d’angoisse peut bien se passer de la concurrence d’une
disposition her^ditaire. C’est le r&ultat de l’observation de tous
les jours^ mais si l’her^dite est presente, le developpement de la
nevrose en subira l’influence formidable.
Pour la deuxibme classe des grandes nevroses, hysterie et nevrose
d’obsessions, la solution de la question ^tiologique est d’une simpli-
citd et uniformite surprenante. Je dois mes resultats ä l’emploi
d’une nouvelle methode de psychoanalyse, au procede explorateur
de J. Breuer, un peu subtil, mais qu’on ne saurait remplacer, tant
il s’est montre fertile pour eclaircir les voies obscures de l’ideation
inconsciente. Au moyen de ce procede — qu’il ne faut pas d^crire
ä cet endroit^ — on poursuit les symptomes hystdriques jusqu’ä
leur origine qu’on trouve toutes les fois dans un evenement de
la vie sexuelle du sujet bien approprie pour produire une emotion
pdnible. Ailant en arribre dans le passd du malade, de pas en
i) Voir: J. Breuer und Sigm. Freud. Studien über Hysterie, Wien, 1895.
398
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
pas et toujours dirige par renchainement organique des symptomes,
des Souvenirs et des pensees eveilles, je suis arrive enfin au point
de depart du processus pathologique et il m’a fallu voir, qu’il y
avait au fond la meme chose dans tous les cas soumis ä l’analyse,
l’action d’un agent, qu’il faut accepter comme cause specifique de
l’hysterie.
C’est bien un Souvenir qui se rapporte ä la vie sexuelle, mais
qui offre deux caractbres de la derniere importance. L’evenement
duquel le sujet a gar de le Souvenir inconscient est une experience
precoce de rapports sexuels avec irritation veritable des parties
genitales^ suite dabus sexuel pratique par une autre personne et
la Periode de la vie qui renferme cet evdnement funeste est la
premiere jeunesse^ les ann^es jusqu’a Tage de huit ä dix ans, avant
que l’enfant seit arrive ä la maturite sexuelle.
Experience de passivite sexuelle avant la puberte: teile est donc
r^tiologie specifique de Thysterie.
Je joindrai sans retard quesques details de faits et quelques re¬
marques commentaires au r^sultat enonce, pour combattre la
mefiance que j’attends. J’ai pu pratiquer la psychoanalyse complfete
en treize cas d’hysterie, trois de ce nombre combinaisons vraies
d’hysterie avec nevrose d’obsessions (je ne dis pas: hysterie avec
obsessions). Dans aucun de ces cas ne manquait l’evenement caractdris^
lä-haut^ il etait represent^ ou par un attentat brutal commis par
une personne adulte ou par une seduction moins rapide, et moins
repoussante, mais aboutissant ä la meme fin. Sept fois sur treize
il s’agissait d’une liaison infantile des deux cotes, de rapports sexuels
entre une petite fille et un gargon un peu plus äg^, le plus sou-
vent son frfere, et lui-meme victime d’une seduction ant^rieure.
Ces liaisons s’etaient continuees quelquefois pendant des ann( 5 es
jusqu’ä la puberte des petits coupables, le gargon repetant toujours
et sans innovation sur la petite fille les memes pratiques, qu’il
avait subi lui-meme de la part d’une servante ou gouvernante,
et qui pour cause de cette origine ^taient souvent de nature de-
Uheredite et Vetiologie des nevroses
599
goütante. Dans quelques cas il y avait concurrence d’attentat et
de liaison infantile, ou abus brutal reitere.
La date de l’experience precoce etait variable: en deux cas la serie
commengait dans la deuxieme annee (?) du petit etre^ l äge de prefe¬
rence est dans mes observations la quatrifeme ou cinquibme annee. C’est
peut-etre un peu par accident, mais j’ai regu de lä l’impression qu’un
evdnement de passivite sexuelle qui n’arrive qu’aprfes Tage de huit
ä dix ans, ne pourra plus jeter les fondements de la nevrose.
Comment peut-on rester convaincu de la realite de ces con-
fessions d’analyse qui pretendent etre des Souvenirs conservfe de-
puis la premibre enfance, et comment se munir contre l’inclina-
tion de mentir et la facilite d’invention attribuees aux hysteri-
ques? Je m’accuserais de credulitd blamable moi-meme, si je ne
disposais de preuves plus concluantes. Mais c’est que les malades
ne racontent jamais ces histoires spontan^ment, ni ne vont jamais
dans le cours d’un traitement offrir au medecin tout d’un coup
le Souvenir complet d’une teile scene. On ne reussit ä reveiller
la trace psychique de l’övenement sexuel precoce que sous la
pression la plus energique du procedd analyseur et contre une
rdsistance dnorme, aussi faut-il leur arracher le Souvenir morceau
par morceau, et pendant qu’il s’eveille dans leur conscience, ils
deviennent la proie d’une emotion difficile ä contrefaire.
On finira meme par se convaincre si l’on n’est pas influencd
par la conduite des malades, pourvu qu’on puisse suivre en detail
le cours d’une psychoanalyse d’hysterie par refdre.
L’^venement precoce en question a laisse une empreinte im-
pdrissable dans l’histoire du cas, il y est repr&ente par une foule
de symptomes et de traits particuliers, qu’on ne saurait expliquer
autrement^ il est exigd d’une manibre peremptoire par l’enchaine-
ment subtil mais solide de la structure intrinsbque de la nevrose;
l’efFet thdrapeutique de l’analyse reste en retard, si l’on n’a pas
pbndtre aussi loin^ alors on n’a pas d’autre choix que de rbfuter
ou de croire le tout ensemble.
400
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Peut-on comprendre, qu’une teile experience sexuelle precoce,
subie par un individu, duquel le sexe est ä peine diff^rencie, de-
vienne la source d’une abnormite psychique persistante comme
l’hystdrie? Et comment s’accorderait une teile supposition avec nos
idees actuelles sur le mecanisme psychique de cette n^vrose? On
peut donner une rdponse satisfaisante ä la premifere question: C’est
justement parce que le sujet est infantile, que l’irritation sexuelle
precoce produit nul ou peu d’effet a sa date, mais la trace psy¬
chique en est conserv^e. Plus tard, quand a la puberte se sera
ddveloppee la rdactivite des Organes sexuels ä un niveau presque
incommensurable avec l’etat infantile, il arrive d’une manifere ou
d’une autre, que cette trace psychique inconsciente se reveille.
Gräce au changement du a la pubertd le Souvenir deploiera une
puissance qui a fait totalement defaut ä l’evenement lui-meme^
le Souvenir agira comme s'ü etait un evenement actuel. II y a pour
ainsi dire action posthume dun traumatisme sexueL
Autant que je vois, ce reveil du Souvenir sexuel aprfes la puberte,
l’evenement meme etant arrive ä un temps recule avant cette
periode, constitue la seule eventualite psychologique, pour que
l’action immödiate d’un Souvenir surpasse celle de l’evdnement
actuel. Mais c’est lä une constellation anormale, qui atteint un
cotd faible du mecanisme psychique et produit n^cessairement un
effet psychique pathologique.
Je crois comprendre que cette relation inverse entre Teffet psy^
chique du Souvenir et de Vevenement contient la raison pour la-
quelle le Souvenir reste inconscient.
On arrive ainsi a un probleme psychique tres complexe, mais
qui düment apprecid promet de jeter un jour, une lumiöre vive
sur les questions les plus delicates de la vie psychique.
Les id^es ici exposees, ayant pour point de d^part le resultat
de la Psychoanalyse, qu’on trouve toujours comme cause sp^cifi-
que de l’hystdrie un Souvenir d’exp^rience sexuelle precoce, ne
s’accordent pas avec la theorie psychologique de la nevrose de
Uheredite et Vetiologie des nevroses
401
M. Janet, ni avec une autre, mais eiles harmonisent parfaitement
avec mes propres speculations d^velopp^es ailleurs sur les Abwehr^
neurosen^\
Tous les evenements posterieurs ä la pubertd, auxquels il faut
attribuer . une influence sur le developpement de la nevrose liystdri-
que et sur la formation de ses] symptomes ne sont vraiment que
des causes concurrentes, „agents provocateurs“ comme disait Charcot,
pour qui l’heredite nerveuse occupait la place que je rdclame pour
l’experience sexuelle precoce. Ces agents accessoires ne sont pas
Sujets aux conditions strictes, qui pesent sur les causes spdcifiques;
l’analyse demontre d’une manifere irrdfutable qu’ils ne jouissent
d’une influence pathogene pour Thysterie que par leur facultd
d’dveiller la trace psychique inconsciente de l’evdnement infantile.
C’est aussi gräce a leur connexion avec l’empreinte pathogene pri-
maire et aspirds par eile, que leurs Souvenirs deviendront incons-
cients k leur tour et pourront aider Taccroissement d’une activitd
psychique soustraite au pouvoir des fonctions conscientes.
La ndvrose d’obsessions (Zwangsneurose) relbve d’une cause
spdcifique trds analogue ä celle de l’hystdrie. On y trouve aussi
un dvdnement sexuel prdcoce, arrivd avant Tage de la pubertd,
duquel le Souvenir devient actif pendant ou aprds cette epoque,
et les memes remarques et raisonnements exposds a l’occasion de
l’hystdrie pourront s’appliquer aux observations de l’autre ndvrose
(six cas, dont trois purs). II n’y a qu’une diffdrence qui semble
capitale. Nous avons trouvd au fond de l’dtiologie hystdrique un
dvdnement de passivitd sexuelle, une expdrience subie avec indiffd-
rence ou avec un petit peu de ddpit ou d’effroi. Dans la ndvrose
d’obsessions il s’agit au contraire d’un dvdnement, qui a fait plaisir,
d’une aggression sexuelle inspiree par le desir (en cas de gar§on)
ou d’une participation avec jouissance aux rapports sexuels (en cas
de petite fille). Les iddes obsedantes, reconnues par l’analyse dans
leur sens intime, rdduites pour ainsi dire ä leur expression la plus
simple ne sont pas autre chose que des reprochesy que le sujet
Freud, I.
46
402
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
s'adresse a cause de cette jouissance sexuelle anticipeey mais des
reproches defigures par un travail psychique inconscient de trans-
formation et de Substitution.
Le fait meme, que de telles aggressions sexuelles se passent
dans un age aussi tendre, semble denoncer l’influence d’une sdduc-
tion anterieure, de laquelle la precocite du ddsir sexuel soit la
consequence. L’analyse vient confirmer ce soupgon, dans les cas
analyses par moi. On s’explique de cette maniere un fait inter¬
essant toujours present dans ces cas d’obsessions, la complication
reguliere du cadre symptomatique par un certain nombre de sym-
ptomes simplement hysteriques.
L’importance de Telement actif de la vie sexuelle pour la cause
des obsessions com me de la passivite sexuelle pour la pathogdn^se
de rhysterie semble meme devoiler la raison de la connexion plus
intime de Thysterie avec le sexe feminin et de la preference des
hommes pour la nevrose d’obsessions. On rencontre parfois des
couples de malades nevroses, qui ont ete un couple de petits
amoureux dans leur premifere jeunesse, Thomme souffrant d’obses¬
sions, la femme d’hysterie^ s’il s’agit d’un frere et de la soeur on
pourra mdprendre pour un effet de l’heredite nerveuse, ce qui en
verite derive d’experiences sexuelles prdcoces.
II y a Sans doute des cas d’hysterie ou d’obsession purs et isol^s,
independants de nevrasthenie ou nevrose d’angoisse^ mais ce n’est
pas la r^gle. Plus souvent la psycho-nevrose se presente comme
accessoire aux nevroses nevrastheniques, evoquee par eux et sui-
vant leur decours. C’est parce que les causes specifiques des der-
niers, les desordres actuels de la vie sexuelle, agissent en meme
temps comme causes accessoires des psycho-ndvroses, dont ils eveil-
lent et raniment la cause specifique, le Souvenir de l’experience
sexuelle precoce.
Quant ä l’lieredite nerveuse, je suis loin de savoir dvaluer au
juste son influence dans l’etiologie des psycho-nevroses. Je concfede
que sa presence est indispensable dans les cas graves, je doute
Uheredite et Vetiologie des nevroses
403
qu’elle soit n^cessaire pour les cas legers, mais je suis convaincu
que l’heredite nerveuse ä eile seule ne peut pas produire les
psycho-nevroses, si leur etiologie specifique, Tirritation sexuelle
precoce, fait defaut. Je vois meme, que la question de savoir la-
quelle des nevroses, hysterie ou obsessions, se developpera dans un
cas donnd, n’est pas jugee par l’heredite mais par un caractbre
special de cet ^v^nement sexuel de la premifere jeunesse.
ZUR ÄTIOLOGIE DER HYSTERIE
Zuerst erschienen in der ^^Wiener Klinischen
Rundschau^, j8^6, Nr. 22 — 26. (Ausführung nach
einem Vortrage im ,,Verein für Psy-chiatrie und Neuro¬
logie^^ in Wien am 2. Mai 18^6.)
Meine Herren! Wenn wir daran gehen, uns eine Meinung über
die Verursachung eines krankhaften Zustandes wie die Hysterie
zu bilden, betreten wir zunächst den Weg der anamnestischen
Forschung, indem wir den Kranken oder dessen Umgebung ins
Verhör darüber nehmen, auf welche schädlichen Einflüsse sie selbst
die Erkrankung an jenen neurotischen Symptomen zurückführen.
Was wir so in Erfahrung bringen, ist selbstverständlich durch alle
jene Momente verfälscht, die einem Kranken die Erkenntnis des
eigenen Zustandes zu verhüllen pflegen, durch seinen Mangel an
wissenschaftlichem Verständnis für ätiologische Wirkungen, durch
den Fehlschluß des post hoc^ ergo propter hoc^ durch die Unlust,
gewisser Noxen und Traumen zu gedenken oder ihrer Erwähnung
zu tun. Wir halten darum bei solcher anamnestischer Forschung
an dem Vorsatze fest, den Glauben der Kranken nicht ohne ein¬
gehende kritische Prüfung zu dem unserigen zu machen, nicht
zuzulassen, daß die Patienten uns unsere wissenschaftliche Meinung
über die Ätiologie der Neurose zurechtmachen. Wenn wir einer¬
seits gewisse konstant wiederkehrende Angaben anerkennen, wie
die, daß der hysterische Zustand eine lang andauernde Nach-
Zur Ätiologie der Hysterie
405
Wirkung einer einmal erfolgten Gemütsbewegung sei, so haben
wir anderseits in die Ätiologie der Hysterie ein Moment einge¬
führt, welches der Kranke selbst niemals vorbringt und nur ungern
gelten läßt, die hereditäre Veranlagung von seiten der Erzeuger.
Sie wissen, daß nach der Meinung der einflußreichen Schule
Charcots die Heredität allein als wirkliche Ursache der Hysterie
Anerkennung verdient, während alle anderen Schädlichkeiten ver¬
schiedenartigster Natur und Intensität nur die Rolle von Gelegen¬
heitsursachen, von jyagents provocateurs^^ spielen sollen.
Sie werden mir ohneweiters zugeben, daß es wünschenswert
wäre, es gäbe einen zweiten Weg, zur Ätiologie der Hysterie zu
gelangen, auf welchem man sich unabhängiger von den Angaben
der Kranken wüßte. Der Dermatologe z. B. weiß ein Geschwür
als luetisch zu erkennen nach der Beschaffenheit der Ränder, des
Belags, des Umrisses, ohne daß ihn der Einspruch des Patienten,
der eine Infektionsquelle leugnet, daran irre machte. Der Gerichts¬
arzt versteht es, die Verursachung einer Verletzung aufzuklären,
selbst wenn er auf die Mitteilungen des Verletzten verzichten
muß. Es besteht nun eine solche Möglichkeit, von den Symptomen
aus zur Kenntnis der Ursachen vorzudringen, auch für die Hysterie.
Das Verhältnis der Methode aber, deren man sich hiefür zu be¬
dienen hat, zur älteren Methode der anamnestischen Erhebung
möchte ich Ihnen in einem Gleichnisse darstellen, welches einen
auf anderem Arbeitsgebiete tatsächlich erfolgten Fortschritt zum
Inhalt hat.
Nehmen Sie an, ein reisender Forscher käme in eine wenig
bekannte Gegend, in welcher ein Trümmerfeld mit Mauerresten,
Bruchstücken von Säulen, von Tafeln mit verwischten und un-
lesbaren Schriftzeichen sein Interesse erweckte. Er kann sich damit
begnügen zu beschauen, was frei zutage liegt, dann die in der
Nähe hausenden, etwa halbbarbarischen Einwohner ausfragen, was
ihnen die Tradition über die Geschichte und Bedeutung jener
monumentalen Reste kundgegeben hat, ihre Auskünfte aufzeichnen
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
406
und — Weiterreisen. Er kann aber auch anders vergehen 5 er kann
Hacken, Schaufeln und Spaten mitgebracht haben, die Anwohner
für die Arbeit mit diesen Werkzeugen bestimmen, mit ihnen das
Trümmerfeld in Angriff nehmen, den Schutt wegschaffen und von
den sichtbaren Resten aus das Vergrabene aufdecken. Lohnt der
Erfolg seine Arbeit, so erläutern die Funde sich selbst^ die Mauer¬
reste gehören zur Umwallung eines Palastes oder Schatzhauses,
aus den Säulentrümmern ergänzt sich ein Tempel, die zahlreich
gefundenen, im glücklichen Falle bilinguen Inschriften enthüllen
ein Alphabet und eine Sprache, und deren Entzifferung und Über¬
setzung ergibt ungeahnte Aufschlüsse über die Ereignisse der Vor¬
zeit, zu deren Gedächtnis jene Monumente erbaut worden sind.
Saxa loquuntur!
Will man in annähernd ähnlicher Weise die Symptome einer
Hysterie als Zeugen für die Entstehungsgeschichte der Krankheit
laut werden lassen, so muß man an die bedeutsame Entdeckung
J. Breuers anknüpfen, daß die Symptome der Hysterie (die
Stigmata beiseite) ihre Determinierung von gewissen trau¬
matisch wirksamen Erlebnissen des Kranken herleiten, als
deren Erinnerungssymbole sie im psychischen Leben des¬
selben reproduziert werden. Man muß sein Verfahren — oder
ein im Wesen gleichartiges — an wenden, um die Aufmerksam¬
keit des Kranken vom Symptom aus auf die Szene zurückzuleiten,
in welcher und durch welche das Symptom entstanden ist, und
man beseitigt nach seiner Anweisung dieses Symptom, indem man
bei der Reproduktion der traumatischen Szene eine nachträgliche
Korrektur des damaligen psychischen Ablaufes durchsetzt.]
Es liegt heute meiner Absicht völlig ferne, die schwierige
Technik dieses therapeutischen Verfahrens oder die dabei gewon¬
nenen psychologischen Aufklärungen zu behandeln. Ich mußte nur
an dieser Stelle anknüpfen, weil die nach Breuer vorgenommenen
Analysen gleichzeitig den Zugang zu den Ursachen der Hysterie
zu eröffnen scheinen. Wenn wir eine größere Reihe von Sym-
Zur Ätiologie der Hysterie
407
ptomen bei zahlreichen Personen dieser Analyse unterziehen, so
werden wir ja zur Kenntnis einer entsprechend großen Reihe von
traumatisch wirksamen Szenen geleitet werden. In diesen Erleb¬
nissen sind die wirksamen Ursachen der Hysterie zur Geltung
gekommen^ wir dürfen also hoffen, aus dem Studium der trau¬
matischen Szenen zu erfahren, welche Einflüsse hysterische Sym¬
ptome erzeugen und auf welche Weise.
Diese Erwartung trifft zu, notwendigerweise, da ja die Sätze
von Breuer sich bei der Prüfung an zahlreicheren Fällen als
richtig erweisen. Aber der Weg von den Symptomen der Hysterie
zu deren Ätiologie ist langwieriger und führt über andere Ver¬
bindungen, als man sich vorgestellt hätte.
Wir wollen uns nämlich klar machen, daß die Zurückführung
eines hysterischen Symptoms auf eine traumatische Szene nur
dann einen Gewinn für unser Verständnis mit sich bringt, wenn
diese Szene zwei Bedingungen genügt, wenn sie die betreffende
determinierende Eignung besitzt, und wenn ihr die nötige
traumatische Kraft zuerkannt werden muß. Ein Beispiel anstatt
jeder Worterklärung! Es handle sich um das Symptom des hyste¬
rischen Erbrechens^ dann glauben wir dessen Verursachung (bis
auf einen gewissen Rest) durchschauen zu können, wenn die
Analyse das Symptom auf ein Erlebnis zurückführt, welches be¬
rechtigterweise ein hohes Maß von Ekel erzeugt hat, wie
etwa der Anblick eines verwesenden menschlichen Leichnams.
Ergibt die Analyse anstatt dessen, daß das Erbrechen von einem
großen Schreck, z. B. bei einem Eisenbahnunfall, herrührt, so
wird man sich unbefriedigt fragen müssen, wieso denn der Schreck
gerade zum Erbrechen geführt hat. Es fehlt dieser Ableitung an
der Eignung zur Determinierung. Ein anderer Fall von un¬
genügender Aufklärung liegt vor, wenn das Erbrechen etwa von
dem Genuß einer Frucht herrühren soll, die eine faule Stelle
zeigte. Dann ist zwar das Erbrechen durch den Ekel determiniert,
aber man versteht nicht, wie der Ekel in diesem Falle so mächtig
4o8
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
werden konnte, sich durch ein hysterisches Symptom zu verewigen ^
es mangelt diesem Erlebnisse an traumatischer Kraft.
Sehen wir nun nach, inwieweit die durch die Analyse auf¬
gedeckten traumatischen Szenen der Hysterie bei einer größeren
Anzahl von Symptomen und Fällen den beiden erwähnten An¬
sprüchen genügen. Hier stoßen wir auf die erste große Ent¬
täuschung! Es trifft zwar einige Male zu, daß die traumatische
Szene, in welcher das Symptom entstanden ist, wirklich beides,
die determinierende Eignung und die traumatische Kraft besitzt,
deren wir zum Verständnis des Symptoms bedürfen. Aber weit
häufiger, unvergleichlich häufiger, finden wir eine der drei übrigen
Möglichkeiten verwirklicht, die dem Verständnisse so ungünstig
sind: die Szene, auf welche wir durch die Analyse geleitet werden,
in welcher das Symptom zuerst aufgetreten ist, erscheint uns ent¬
weder ungeeignet zur Determinierung des Symptoms, indem ihr
Inhalt zur Beschaffenheit des Symptoms keine Beziehung zeigte
oder das angeblich traumatische Erlebnis, dem es an inhaltlicher
Beziehung nicht fehlt, erweist sich als normalerweise harmloser,
für gewöhnlich wirkungsunfähiger Eindruck^ oder endlich die
„traumatische Szene^^ macht uns nach beiden Richtungen irre^
sie erscheint ebenso harmlos wie ohne Beziehung zur Eigenart des
hysterischen Symptoms.
(Ich bemerke hier nebenbei, |daß Breuers Auffassung von der
Entstehung hysterischer Symptome durch die Auffindung trau¬
matischer Szenen, die an sich bedeutungslosen Erlebnissen ent¬
sprechen, nicht gestört worden ist. Breuer nahm nämlich — im
Anschlüsse an Charcot — an, daß auch ein harmloses Erlebnis
zum Trauma erhoben -werden und determinierende Kraft ent¬
falten kann, wenn es die Person in einer besonderen psychischen
Verfassung, im sogenannten hypnoiden Zustand, betrifft. Allein
ich finde, daß zur Voraussetzung solcher hypnoider Zustände oft¬
mals jeder Anhalt fehlt. Entscheidend bleibt, daß die Lehre von
den hypnoiden Zuständen nichts zur Lösung der anderen Schwierig-
7jur Ätiologie der Hysterie
4Q9
keiten leistet, daß nämlich den traumatischen Szenen so häufig
die determinierende Eignung abgeht.)
Fügen Sie hinzu, meine Herren, daß diese erste Enttäuschung
beim Verfolg der Br euer sehen Methode unmittelbar durch eine
andere eingeholt wird, die man besonders als Arzt schmerzlich
empfinden muß. Zurückführungen solcher Art, wie wir sie ge¬
schildert haben, die unserem Verständnis betreffs der Determi-
nierung und der traumatischen Wirksamkeit nicht genügen, bringen
auch keinen therapeutischen Gewinn; der {Kranke hat seine Sym¬
ptome ungeändert behalten, trotz des ersten Ergebnisses, das uns
die Analyse geliefert hat. Sie mögen verstehen, wie groß dann
die Versuchung wird, auf [eine Fortsetzung der ohnedies müh¬
seligen Arbeit zu verzichten.
Vielleicht aber bedarf es nur eines neuen Einfalles, um uns
aus der Klemme zu helfen und zu wertvollen Resultaten zu
führen! Der Einfall ist folgender: Wir wissen ja durch Breuer,
daß die hysterischen Symptome zu lösen sind, wenn wir von
ihnen aus den Weg zur Erinnerung eines traumatischen Erleb¬
nisses finden können. Wenn nun die aufgefundene Erinnerung
unseren Erwartungen nicht entspricht, vielleicht ist derselbe Weg
ein Stück weiter zu verfolgen, vielleicht verbirgt sich hinter der
ersten traumatischen Szene die Erinnerung an eine zweite, die
unseren Ansprüchen besser genügt, und^ deren Reproduktion mehr
therapeutische Wirkung entfaltet, so daß die erstgefundene Szene
nur die Bedeutung eines Bindegliedes in der Assoziationsverkettung
hat? !Und vielleicht wiederholt sich dieses Verhältnis, die Ein¬
schiebung unwirksamer Szenen als notwendiger Übergänge bei
der Reproduktion mehrmals, bis man vom hysterischen Symptom
aus endlich zur eigentlich traumatisch wirksamen, in jeder Hin¬
sicht, therapeutisch wie analytisch, befriedigenden Szene gelangt?
Nun, meine Herren, diese Vermutung ist richtig. Wo die erst-
aufgefundene Szene unbefriedigend ist, sagen wir dem Kranken,
dieses Erlebnis erkläre nichts, es müsse sich aber hinter ihm ein
410
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
bedeutsameres, früheres Erlebnis verbergen, und lenken seine Auf¬
merksamkeit nach derselben Technik auf den Assoziationsfaden,
welcher beide Erinnerungen, die aufgefundene und die aufzu¬
findende verknüpft/ Die Fortsetzung der Analyse führt dann jedes¬
mal zur Reproduktion neuer Szenen von den erwarteten Charak¬
teren. Wenn ich z. B. den vorhin ausgewählten Fall von hyste¬
rischem Erbrechen wieder aufnehme, den die Analyse zunächst
auf einen Schreck bei einem Eisenbahnunfall zurückgeführt hat,
welcher der determinierenden Eignung entbehrt, so erfahre ich
aus weitergehender Analyse, daß dieser Unfall die Erinnerung an
einen andern, früher vorgekommenen, geweckt hat, den der
Kranke zwar nicht selbst erlebte, der ihm aber Gelegenheit zu
dem Grauen und Ekel erregenden Anbhck eines Leichnams bot.
Es ist, als ob das Zusammenwirken beider Szenen die Erfüllung
unserer Postulate ermöglichte, indem das eine Erlebnis durch
den Schreck die traumatische Kraft, das andere durch seinen In¬
halt die determinierende Wirkung beistellt. Der andere Fall, daß
das Erbrechen auf den Genuß eines Apfels zurückgeführt wird,
an dem sich eine faule Stelle befindet, wird durch die Analyse
etwa in folgender Weise ergänzt: Der faulende Apfel erinnert an
ein früheres Erlebnis, an das Sammeln abgefallener Äpfel in
einem Garten, wobei der Kranke zufällig auf einen ekelhaften
Tierkadaver stieß.
Ich will auf diese Beispiele nicht mehr zurückkommen, denn
ich muß das Geständnis ablegen, daß sie keinem Falle meiner
Erfahrung entstammen, daß sie von mir erfunden sind^ höchst¬
wahrscheinlich sind sie auch schlecht erfunden^ derartige Auf¬
lösungen hysterischer Symptome halte ich selbst für unmöglich.
Aber der Zwang, Beispiele zu fingieren, erwächst mir aus mehreren
i) Es bleibt dabei absichtlich außer Erörterung, von welchem Reuig die Asso¬
ziation der beiden Erinnerungen ist (ob durch Gleichzeitigkeit, kausaler Art, nach
inhaltlicher Ähnlichkeit usw.) und auf welche psychologische Charakteristik die ein¬
zelnen „Erinnerungen“ (bewußte oder unbewußte) Anspruch haben.
ILur Ätiologie der Hysterie
411
Momenten, von denen ich eines unmittelbar anführen kann. Die
wirklichen Beispiele sind alle unvergleichlich komplizierter 5 eine
einzige ausführliche Mitteilung würde diese Vortragsstunde aus¬
füllen. Die Assoziationskette besteht immer aus mehr als zwei
Gliedern, die traumatischen Szenen bilden nicht etwa einfache,
perlschnurartige Reihen, sondern verzweigte, stammbaumartige Zu¬
sammenhänge, indem bei einem neuen Erlebnis zwei und mehr
frühere als Erinnerungen zur Wirkung kommen 5 kurz, die Auf¬
lösung eines einzelnen Symptoms mitteilen, fallt eigentlich zu¬
sammen mit der Angabe, eine Krankengeschichte vollständig dar¬
zustellen.
Wir wollen es nun aber nicht versäumen, den einen Satz
nachdmcklich hervorzuheben, den die analytische Arbeit längs
dieser Erinnerungsketten unerwarteterweise gegeben hat. Wir haben
erfahren, daß kein hysterisches Symptom aus einem realen
Erlebnis allein hervorgehen kann, sondern daß alle Male
die assoziativ geweckte Erinnerung an frühere Erlebnisse
zur Verursachung des Symptoms mitwirkt. Wenn dieser Satz
— wie ich meine — ohne Ausnahme richtig ist, so bezeichnet
er uns aber auch das Fundament, auf dem eine psychologische
Theorie der Hysterie aufzubauen ist.
Sie könnten meinen, jene seltenen Fälle, in welchen die Ana¬
lyse das Symptom sofort auf eine traumatische Szene von guter
determinierender Eignung und traumatischer Kraft zurückführt
und es durch solche Zurückführung gleichzeitig wegschafft, wie
dies in Breuers Krankengeschichte der Anna O. geschildert
wird, seien doch mächtige Einwände gegen die allgemeine Geltung
des eben aufgestellten Satzes. Das sieht in der Tat so aus^ allein
ich muß Sie versichern, ich habe die triftigsten Gründe, anzu¬
nehmen, daß selbst in diesen Fällen eine Verkettung wirksamer
Erinnerungen vorliegt, die weit hinter die erste traumatische
Szene zurückreicht, wenngleich die Reproduktion der letzteren
allein die Aufhebung des Symptoms zur Folge haben kann.
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
412
Ich meine, es ist wirklich überraschend, daß hysterische Sym¬
ptome nur unter Mitwirkung von Erinnerungen entstehen können,
zumal wenn man erwägt, daß diese Erinnerungen nach allen
Aussagen der Kranken ihnen im Momente, da das Symptom zu¬
erst auftrat, nicht zum Bewußtsein gekommen waren. Hier ist
Stoff für sehr viel Nachdenken gegeben, aber diese Probleme
sollen uns für jetzt nicht verlocken, unsere Richtung nach der
Ätiologie der Hysterie zu verlassen. Wir müssen uns vielmehr
fragen: Wohin gelangen wir, wenn wir den Ketten assoziierter
Erinnerungen folgen, welche die Analyse uns aufdeckt? Wie weit
reichen sie? Haben sie irgendwo ein natürliches Ende? Führen
sie uns etwa zu Erlebnissen, die irgendwie gleichartig sind, dem
Inhalte oder der Lebenszeit nach, so daß wir in diesen überall
gleichartigen Faktoren die gesuchte Ätiologie der Hysterie er¬
blicken könnten?
Meine bisherige Erfahrung gestattet mir bereits, diese Fragen
zu beantworten. Wenn man von einem Falle ausgeht, der mehrere
Symptome bietet, so gelangt man mittels der Analyse von jedem
Symptom aus zu einer Reihe von Erlebnissen, deren Erinne¬
rungen in der Assoziation miteinander verkettet sind. Die ein¬
zelnen Erinnerungsketten verlaufen zunächst distinkt voneinander
nach rückwärts, sind aber, wie bereits erwähnt, verzweigt5 von
einer Szene aus sind gleichzeitig zwei oder mehr Erinnerungen
erreicht, von denen nun Seitenketten ausgehen, deren einzelne
Glieder wieder mit Gliedern der Hauptkette assoziativ verknüpft
sein mögen. Der Vergleich mit dem Stammbaum einer Familie,
deren Mitglieder auch untereinander geheiratet haben, paßt hier
wirklich nicht übel. Andere Komplikationen der Verkettung er¬
geben sich daraus, daß eine einzelne Szene in derselben Kette
mehrmals erweckt werden kann, so daß sie zu einer späteren
Szene mehrfache Beziehungen hat, eine direkte Verknüpfung mit
ihr aufweist und eine durch Mittelglieder hergestellte. Kurz, der
Zusammenhang ist keineswegs ein einfacher und die Aufdeckung
TLur Ätiologie der Hysterie
413
der Szenen in umgekehrter chronologischer Folge (die eben den
Vergleich mit der Aufgrabung eines geschichteten Trümmerfeldes
rechtfertigt) trägt zum rascheren Verständnis des Herganges ge¬
wiß nichts bei.
Neue Verwicklungen ergeben sich, wenn man die Analyse weiter
fortsetzt. Die Assoziationsketten für die einzelnen Symptome be¬
ginnen dann in Beziehung zueinander zu treten^ die Stammbäume
verflechten sich. Bei einem gewissen Erlebnis der Erinnerungs¬
kette, z. B. für das Erbrechen, ist außer den rückläufigen Gliedern
dieser Kette eine Erinnerung aus einer andern Kette erw^eckt
worden, die ein anderes Symptom, etwa Kopfschmerz, begründet.
Jenes Erlebnis gehört darum beiden Reihen an, es stellt also einen
Knotenpunkt dar, wie deren in jeder Analyse mehrere aufzu¬
finden sind. Sein klinisches Korrelat mag etwa sein, daß von
einer gewissen Zeit an die beiden Symptome zusammen auftreten,
symbiotisch, eigentlich ohne innere Abhängigkeit voneinander.
Knotenpunkte anderer Art findet man noch weiter rückwärts.
Dort konvergieren die einzelnen Assoziationsketten^ es finden sich
Erlebnisse, von denen zwei oder mehrere Symptome ausgegangen
sind. An das eine Detail der Szene hat die eine Kette, an ein
anderes Detail die zweite Kette angeknüpft.
Das wichtigste Ergebnis aber, auf welches man bei solcher
konsequenten Verfolgung der Analyse stößt, ist dieses: Von welchem
Fall und von welchem Symptom immer man seinen Ausgang ge¬
nommen hat, endlich gelangt man^unfehlbar auf das Ge¬
biet des sexuellen Erlebens. Hiemit wäre also zuerst eine
ätiologische Bedingung hysterischer Symptome aufgedeckt.
Ich kann nach früheren Erfahrungen voraussehen, daß gerade
gegen diesen Satz oder gegen die Allgemeingültigkeit dieses Satzes
Ihr Widerspruch, meine Herren, gerichtet sein ^wird. Ich sage
vielleicht besser: Ihre Widerspruchsneigung, denn es stehen wohl
noch keinem von Ihnen Untersuchungen zu Gebote, die, mit dem¬
selben Verfahren angestellt, ein anderes Resultat ergeben hätten.
414
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Zur Streitsache selbst will ich nur bemerken, daß die Auszeich¬
nung des sexuellen Moments in der Ätiologie der Hysterie bei
mir mindestens keiner vorgefaßten Meinung entstammt. Die beiden
Forscher, als deren Zögling ich meine Arbeiten über Hysterie
begonnen habe, Charcot wie Breuer, standen einer derartigen
Voraussetzung ferne, ja sie brachten ihr eine persönliche Abneigung
entgegen, von der ich anfangs meinen Anteil übernahm. Erst die
mühseligsten Detailuntersuchungen haben mich, und zwar lang¬
sam genug, zu der Meinung bekehrt, die ich heute vertrete. Wenn
Sie meine Behauptung, die Ätiologie auch der Hysterie läge im
Sexualleben, der strengsten Prüfung unterziehen, so erweist sie
sich als vertretbar durch die Angabe, daß ich in etwa achtzehn
Fällen von Hysterie diesen Zusammenhang für jedes einzelne Sym¬
ptom erkennen und, wo es die Verhältnisse gestatteten, durch den
therapeutischen Erfolg bekräftigen konnte. Sie können mir dann
freilich einwenden, die neunzehnte und die zwanzigste Analyse
werden vielleicht eine Ableitung hysterischer Symptome auch aus
anderen Quellen kennen lehren und damit die Gültigkeit der
sexuellen Ätiologie von der Allgemeinheit auf achtzig Prozent
einschränken. Wir wollen es gerne ab warten, aber da jene acht¬
zehn Fälle gleichzeitig alle sind, an denen ich die Arbeit der
Analyse unternehmen konnte, und da niemand diese Fälle mir
zum Gefallen ausgesucht hat, werden Sie es begreiflich finden,
daß ich jene Erwartung nicht teile, sondern bereit bin, mit meinem
Glauben über die Beweiskraft meiner bisherigen Erfahrungen
hinauszugehen. Dazu bewegt mich übrigens noch ein anderes
Motiv von einstweilen bloß subjektiver Geltung. In dem einzigen
Erklärungsversuch für den physiologischen und psychischen Mecha¬
nismus der Hysterie, den ich mir zur Zusammenfassung meiner
Beobachtungen gestalten konnte, ist mir die Einmengung sexueller
Triebkräfte zur unentbehrlichen Voraussetzung geworden.
Also man gelangt endlich, nachdem die Erinnerungsketten kon¬
vergiert haben, auf sexuelles Gebiet und zu einigen wenigen Er-
Zur Ätiologie der Hysterie
415
lebnissen, die zumeist in die nämliche Lebensperiode, in das Alter
der Pubertät fallen. Aus diesen Erlebnissen soll man die Ätiologie
der Hysterie entnehmen und durch sie die Entstehung hysterischer
Symptome verstehen lernen. Hier erlebt man aber eine neue und
schwerwiegende Enttäuschung! Die mit so viel Mühe aufgefun¬
denen, aus allem Erinnerungsmaterial extrahierten, anscheinend
letzten traumatischen Erlebnisse haben zwar die beiden Charaktere:
Sexualität und Pubertätszeit gemein, sind aber sonst so sehr dis¬
parat und ungleichwertig. In einigen Fällen handelt es sich
wohl um Erlebnisse, die wir als schwere Traumen anerkennen
müssen, um einen Versuch der Vergewaltigung, der dem unreifen
Mädchen mit einem Schlage die ganze Brutalität der Geschlechts¬
lust enthüllt, um eine unfreiwillige Zeugenschaft bei sexuellen
Akten der Eltern, die in einem ungeahntes Häßliches aufdeckt
und das kindliche wie das moralische Gefühl verletzt u. dgl. In
anderen Fällen sind diese Erlebnisse von erstaunlicher Gering¬
fügigkeit. Eine meiner Patientinnen zeigte zugrunde ihrer Neurose
das Erlebnis, daß ein ihr befreundeter Knabe zärtlich ihre Hand
streichelte und ein andermal seinen Unterschenkel an ihr Kleid
drängte, während sie nebeneinander bei Tische saßen, wobei noch
seine Miene sie erraten ließ, es handle sich um etwas Unerlaubtes.
Bei einer andern jungen Dame hatte gar das Anhören einer
Scherzfrage, die eine obszöne Beantwortung ahnen ließ, hingereicht,
den ersten Angstanfall hervorzurufen und damit die Erkrankung
zu eröffnen. Solche Ergebnisse sind offenbar einem Verständnis für
die Verursachung hysterischer Symptome nicht günstig. Wenn
es ebensowohl schwere wie geringfügige Erlebnisse, ebensowohl
Erfahrungen am eigenen Leib wie visuelle Eindrücke und durch
das Gehör empfangene Mitteilungen sind, die sich als die letzten
Traumen der Hysterie erkennen lassen, so kann man etwa die
Deutung versuchen, die Hysterischen seien besonders geartete
Menschenkinder, — wahrscheinlich infolge erblicher Veranlagung
oder degenerativer Verkümmerung, — bei denen die Scheu vor
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
416
der Sexualität, die im Pubertätsalter normalerweise eine gewisse
Rolle spielt, ins Pathologische gesteigert und dauernd festgehalten
wird^ gewissermaßen Personen, die den Anforderungen der Sexualität
psychisch nicht Genüge leisten können. Man vernachlässigt bei
dieser Aufstellung allerdings die Hysterie der Männer^ aber auch,
wenn es derartige grobe Ein wände nicht gäbe, wäre die Ver¬
suchung kaum sehr groß, bei dieser Lösung stehen zu bleiben.
Man verspürt hier nur zu deutlich die intellektuelle Empfindung
des Halbverstandenen, Unklaren und Unzureichenden.
Zum Glück für unsere Aufklärung zeigen einzelne der sexuellen
Pubertätserlebnisse eine weitere Unzulänglichkeit, die geeignet ist,
zur Fortsetzung der analytischen Arbeit anzuregen. Es kommt
nämlich vor, daß auch diese Erlebnisse der determinierenden Eig¬
nung entbehren, wenngleich dies hier viel seltener ist als bei den
traumatischen Szenen aus späterer Lebenszeit. So z. B. hatten sich
bei den beiden Patientinnen, die ich vorhin als Fälle mit eigentlich
armlosen Pubertätserlebnissen angeführt habe, im Gefolge dieser
Erlebnisse eigentümliche schmerzhafte Empfindungen in den Geni¬
talien eingestellt, die sich als Hauptsymptome der Neurose fest¬
gesetzt hatten, deren Determinierung weder aus den Pubertäts¬
szenen noch aus späteren abzuleiten war, die aber sicherlich nicht
zu den normalen Organenempfindungen oder zu den Zeichen
sexueller Aufregung gehörten. Wie nahe lag es nun, sich hier zu
sagen, man müsse die Determinierung dieser Symptome in noch
anderen, noch weiter zurückreichenden Erlebnissen suchen, man
müsse hier zum zweiten Male jenem rettenden Einfall folgen, der
uns vorhin von den ersten traumatischen Szenen zu den Erinne¬
rungsketten hinter ihnen geleitet? Man kommt damit freilich in
die Zeit der ersten Kindheit, die Zeit vor der Entwicklung des
sexuellen Lebens, womit ein Verzicht auf die sexuelle Ätiologie
verbunden scheint. Aber hat man nicht ein Recht anzunehmen,
daß es auch dem Kindesalter an leisen sexuellen Erregungen nicht
gebricht, ja, daß vielleicht die spätere sexuelle Entwicklung durch
Tjur Ätiologie der Hysterie
417
Kindererlebnisse in entscheidender Weise beeinflußt wird? Schädi¬
gungen, die das unausgebildete Organ, die in Entwicklung begriffene
Funktion, treffen, verursachen ja so häufig schwerere und nachhalti¬
gere Wirkungen, als sie im reiferen Alter entfalten könnten. Vielleicht
liegen der abnormen Reaktion gegen sexuelle Eindrücke, durch
welche uns die Hysterischen in der Pubertätszeit überraschen, ganz
allgemein solche sexuelle Erlebnisse der Kindheit zugrunde, die dann
von gleichförmiger und bedeutsamer Art sein müßten? Man ge¬
wänne so eine Aussicht, als frühzeitig erworben aufzuklären, was
man bisher einer durch die Heredität doch nicht verständlichen
Prädisposition zur Last legen mußte. Und da infantile Erlebnisse
sexuellen Inhalts doch nur durch ihre Erinnerungsspuren eine
psychische Wirkung äußern könnten, wäre dies nicht eine will¬
kommene Ergänzung zu jenem Ergebnis der Analyse, daß hysteri¬
sche Symptome immer nur unter der Mitwirkung von Er¬
innerungen entstehen?
II
Sie erraten es wohl, meine Herren, daß ich jenen letzten
Gedankengang nicht so weit ausgesponnen hätte, wenn ich Sie
nicht darauf vorbereiten wollte, daß er allein es ist, der uns nach
so vielen Verzögerungen zum Ziele führen wird. Wir stehen
nämlich wirklich am Ende unserer langwierigen und beschwer¬
lichen analytischen Arbeit und finden hier alle bisher festgehaltenen
Ansprüche und Erwartungen erfüllt. Wenn wir die Ausdauer haben,
mit der Analyse bis in die frühe Kindheit vorzudringen, so weit
zurück nur das Erinnerungsvermögen eines Menschen reichen kann,
so veranlassen wir in allen Fällen den Kranken zur Reproduktion
von Erlebnissen, die infolge ihrer Besonderheiten sowie ihrer Be¬
ziehungen zu den späteren Krankheitssymptomen als die gesuchte
Ätiologie der Neurose betrachtet werden müssen. Diese infantilen
Erlebnisse sind wiederum sexuellen Inhalts, aber weit gleich¬
förmigerer Art als die letztgefundenen Pubertätsszenen 5 es handelt
Freud, I
27
418 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
sich bei ihnen nicht mehr um die Erweckung des sexuellen Themas
durch einen beliebigen Sinneseindruck, sondern um sexuelle Erfah¬
rungen am eigenen Leib, um geschlechtlichen Verkehr (im weiteren
Sinne). Sie gestehen mir zu, daß die Bedeutsamkeit solcher Szenen
keiner weiteren Begründung bedarf^ fügen Sie nun noch hinzu, daß
Sie in den Details derselben jedesmal die determinierenden
Momente auffinden können, die Sie etwa in den anderen, später
erfolgten und früher reproduzierten Szenen noch vermißt hätten.
Ich stelle cdso die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von
Hysterie befinden sich — durch die analytische Arbeit reprodu¬
zierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalles — ein
oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Er¬
fahrung, die der frühesten Jugend angeboren.^ Ich halte dies für
eine wichtige Enthüllung, für die Auffindung eines caput Nili
der Neuropathologie, aber ich weiß kaum, wo anzuknüpfen, um
die Erörterung dieser Verhältnisse fortzuführen. Soll ich mein aus
den Analysen gewonnenes tatsächliches Material vor Ihnen aus¬
breiten, oder soll ich nicht lieber vorerst der Masse von Ein¬
wänden und Zweifeln zu begegnen suchen, die jetzt von Ihrer
Aufmerksamkeit Besitz ergriffen haben, wie ich wohl mit Recht
vermuten darf? Ich wähle das letztere; vielleicht können wir dann
um so ruhiger beim Tatsächlichen verweilen:
a) Wer der psychologischen Auffassung der Hysterie überhaupt
feindlich entgegensteht, die Hoffnung nicht aufgeben möchte, daß
es einst gelingen wird, ihre Symptome auf „feinere anatomische
Veränderungen“ zurückzuführen, und die Einsicht abgewiesen hat,
daß die materiellen Grundlagen der hysterischen Veränderungen nicht
anders als gleichartig sein können mit jenen unserer normalen Seelen¬
vorgänge, der wird selbstverständlich für die Ergebnisse unserer
Analysen kein Vertrauen übrig haben; die prinzipielle Verschieden¬
heit seiner Voraussetzungen von den unserigen entbindet uns aber
auch der Verpflichtung, ihn in einer Einzelfrage zu überzeugen.
i') [Zusatz 1^24 f\ Siehe die Bemerkung auf S. 419.
Zur Ätiologie der Hysterie
419
Aber auch ein anderer, der sich minder abweisend gegen die
psychologischen Theorien der Hysterie verhält, wird angesichts
unserer analytischen Ergebnisse die Frage aufzuwerfen versucht
sein, welche Sicherheit die Anwendung der Psychoanalyse mit sich
bringt, ob es denn nicht sehr wohl möglich sei, daß entweder der
Arzt solche Szenen als angebliche Erinnerung dem gefälligen
Kranken aufdrängt, oder daß der Kranke ihm absichtliche Erfin¬
dungen und freie Phantasien vorträgt, die jener für echt annimmt.
Nun, ich habe darauf zu erwidern, die allgemeinen Bedenken
gegen die Verläßlichkeit der psychoanalytischen Methode können
erst gewürdigt und beseitigt werden, wenn eine vollständige
Darstellung ihrer Technik und ihrer Resultate vorhegen wird^
die Bedenken gegen die Echtheit der infantilen Sexualszenen
aber kann man bereits heute durch mehr als ein Argument ent¬
kräften. Zunächst ist das Benehmen der Kranken, während sie
diese infantilen Erlebnisse reproduzieren, nach allen Richtungen
hin unvereinbar mit der Annahme, die Szenen seien etwas anderes
als peinlich empfundene und höchst ungern erinnerte Reahtät.
Die Kranken wissen vor Anwendung der Analyse nichts von
diesen Szenen, sie pflegen sich zu empören, wenn man ihnen
etwa das Auftauchen derselben ankündigt ^ sie können nur durch
den stärksten Zwang der Behandlung bewogen werden, sich in
deren Reproduktion einzulassen, sie leiden unter den heftigsten
Sensationen, deren sie sich schämen und die sie zu verbergen
trachten, während sie sich diese infantilen Erlebnisse ins Be¬
wußtsein rufen, und noch, nachdem sie dieselben in so über¬
zeugender Weise wieder durchgemacht haben, versuchen sie es,
ihnen den Glauben zu versagen, indem sie betonen, daß sich
hiefür nicht wie bei anderem Vergessenen ein Erinnerungsgefühl
eingestellt hat.^
1) [Zusatz 1^2^;] All dies ist richtig, aber es ist zu bedenken, daß ich mich damals
von der Überschätzung der Realität und der Geringschätzung der Phantasie noch nicht
frei gemacht hatte.
27 *
420
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Letzteres Verhalten scheint nun absolut beweiskräftig zu sein.
Wozu sollten die Kranken mich so entschieden ihres Unglaubens
versichern, wenn sie aus irgend einem Motiv die Dinge, die sie
entwerten wollen, selbst erfunden haben?
Daß der Arzt dem Kranken derartige Reminiszenzen aufdränge,
ihn zu ihrer Vorstellung und Wiedergabe suggeriere, ist weniger
bequem zu widerlegen, erscheint mir aber ebenso unhaltbar. Mir
ist es noch nie gelungen, einem Kranken eine Szene, die ich er¬
wartete, derart aufzudrängen, daß er sie mit allen zu ihr ge¬
hörigen Empfindungen zu durchleben schien^ vielleicht treffen es
andere besser.
Es gibt aber noch eine ganze Reihe anderer Bürgschaften für
die Realität der infantilen Sexualszenen. Zunächst deren Uni¬
formität in gewissen Einzelheiten, wie sie sich aus den gleich¬
artig wiederkehrenden Voraussetzungen dieser Erlebnisse ergeben
muß, während man sonst geheime Verabredungen zwischen den
einzelnen Kranken für glaubhaft halten müßte. Sodann, daß die
Kranken gelegentlich wie harmlos Vorgänge beschreiben, deren
Bedeutung sie offenbar nicht verstehen, weil sie sonst entsetzt sein
müßten, oder daß sie, ohne Wert darauf zu legen, Einzelheiten
berühren, die nur ein Lebenserfahrener kennt und als feine
Charakterzüge des Realen zu schätzen versteht.
Verstärken solche Vorkommnisse den Eindruck, daß die Kranken
wirklich erlebt haben müssen, was sie unter dem Zwang der
Analyse als Szene aus der Kindheit reproduzieren, so entspringt
ein anderer und mächtigerer Beweis hiefür aus der Beziehung der
Infantilszenen zum Inhalt der ganzen übrigen Krankengeschichte.
Wie bei den Zusammenlegbildern der Kinder sich nach mancherlei
Probieren schließlich eine absolute Sicherheit herausstellt, welches
Stück in die freigelassene Lücke gehört — weil nur dieses eine
gleichzeitig das Bild ergänzt und sich mit seinen unregelmäßigen
Zacken zwischen die Zacken der anderen so einpassen läßt, daß
kein freier Raum bleibt und kein Übereinanderschieben notwendig
Zwr Ätiologie der Hysterie 421
wird, — so erweisen sich die Infantilszenen inhaltlich als unab¬
weisbare Ergänzungen für das assoziative und logische Gefüge der
Neurose, nach deren Einfügung erst der Hergang verständhch —
man möchte oftmals sagen: selbstverständlich — wird.
Daß auch der therapeutische Beweis für die Echtheit der In¬
fantilszenen in einer Reihe von Fällen zu erbringen ist, füge ich
hinzu, ohne diesen in den Vordergrund drängen zu wollen. Es
gibt Fälle, in denen ein vollständiger oder partieller Heilerfolg zu
erreichen ist, ohne daß man bis zu den Infantilerlebnissen herab¬
steigen muß^ andere, in welchen jeder Erfolg ausbleibt, ehe die
Analyse ihr natürliches Ende mit der Aufdeckung der frühesten
Traumen gefunden hat. Ich meine, im ersteren Falle sei man vor
Rezidiven nicht gesichert; ich erwarte, daß eine vollständige Psycho¬
analyse die radikale Heilung einer Hysterie bedeutet. Indes, greifen
wir hier den Lehren der Erfahrung nicht vor!
Es gäbe noch einen, einen wirklich unantastbaren Beweis für
die Echtheit der sexuellen Kindererlebnisse, wenn nämlich die
Angaben der einen Person in der Analyse durch die Mitteilung
einer anderen Person in oder außerhalb einer Behandlung bestätigt
würden. Diese beiden Personen müßten in ihrer Kindheit an dem¬
selben Erlebnis Anteil genommen haben, etwa in einem sexuellen
Verhältnis zueinander gestanden sein. Solche Kinderverhältnisse
sind, wie Sie gleich hören werden, gar nicht selten; es kommt
auch häufig genug vor, daß beide Beteiligte später an Neurosen
erkranken, und doch, meine ich, ist es ein Glücksfall, daß mir
eine solche objektive Bestätigung unter achtzehn Fällen zweimal
gelungen ist. Einmal war es der gesund gebliebene Bruder, der
mir unaufgefordert zwar nicht die frühesten Sexualerlebnisse mit
seiner kranken Schwester, aber wenigstens solche Szenen aus ihrer
späteren Kindheit und die Tatsache von weiter zurückreichenden
sexuellen Beziehungen bekräftigte. Ein andermal traf es sich, daß
zwei in Behandlung stehende Frauen als Kinder mit der nämlichen
männhchen Person sexuell verkehrt hatten, wobei einzelne Szenen
4^2
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
ä trois zustande gekommen waren. Ein gewisses Symptom, das
sich von diesen Kindererlebnissen ableitete, war, als Zeuge dieser
Gemeinschaft, in beiden Fällen zur Ausbildung gelangt.
b) Sexuelle Erfahrungen der Kindheit, die in Reizungen der
Genitalien, koitusähnlichen Handlungen usw. bestehen, sollen also
in letzter Analyse als jene Traumen anerkannt werden, von denen
die hysterische Reaktion gegen Pubertätserlebnisse und die Ent¬
wicklung hysterischer Symptome ausgeht. Gegen diesen Ausspruch
werden sicherlich von verschiedenen Seiten zwei zueinander gegen¬
sätzliche Einwendungen erhoben werden. Die einen werden sagen,
derartige sexuelle Mißbrauche, an Kindern verübt oder von Kindern
untereinander, kämen zu selten vor, als daß man mit ihnen die Be¬
dingtheit einer so häufigen Neurose wie der Hysterie decken könnte;
andere werden vielleicht geltend machen, dergleichen Erlebnisse seien
im Gegenteil sehr häufig, allzu häufig, als daß man ihrer Feststellung
eine ätiologische Bedeutung zusprechen könnte. Sie werden ferner
anführen, daß es bei einiger Umfrage leicht fällt, Personen auf¬
zufinden, die sich an Szenen von sexueller Verführung und
sexuellem Mißbrauche in ihren Kinder] ahren erinnern, und die
doch niemals hysterisch gewesen sind. Endlich werden wir als
schwerwiegendes Argument zu hören bekommen, daß in den
niederen Schichten der Bevölkerung die Hysterie gewiß nicht
häufiger vorkommt als in den höchsten, während doch alles dafür
spricht, daß das Gebot der sexuellen Schonung des Kindesalters an
den Proletarierkindern ungleich häufiger übertreten wird.
Beginnen wir unsere Verteidigung mit dem leichteren Teil der
Aufgabe. Es scheint mir sicher, daß unsere Kinder weit häufiger
sexuellen Angriffen ausgesetzt sind, als man nach der geringen,
von den Eltern hierauf verwendeten Fürsorge erwarten sollte. Bei
den ersten Erkundigungen, was über dieses Thema bekannt sei,
erfuhr ich von Kollegen, daß mehrere Publikationen von Kinder¬
ärzten vorliegen, welche die Häufigkeit sexueller Praktiken selbst
an Säuglingen von seiten der Ammen und Kinderfrauen anklagen.
7jur Ätiologie der Hysterie
423
und aus den letzten Wochen ist mir eine von Dr. St ekel in
Wien herrührende Studie in die Hand geraten, die sich mit
dem „Koitus im Kindesalter^^ beschäftigt (Wiener medizinische
Blätter, 18. April 1896). Ich habe nicht Zeit gehabt, andere lite¬
rarische Zeugnisse zu sammeln, aber selbst, wenn diese sich nur
vereinzelt fänden, dürfte man erwarten, daß mit der Steigerung
der Aufmerksamkeit für dieses Thema sehr bald die große Häufig¬
keit von sexuellen Erlebnissen und sexueller Betätigung im Kindes¬
alter bestätigt werden wird.
Schließlich sind die Ergebnisse meiner Analyse imstande, für
sich selbst zu sprechen. In sämtlichen achtzehn Fällen (von reiner
Hysterie und Hysterie mit Zwangsvorstellungen kombiniert, sechs
Männer und zwölf Frauen) bin ich, wie erwähnt, zur Kenntnis
solcher sexueller Erlebnisse des Kindesalters gelangt. Ich kann
meine Fälle in drei Gruppen bringen, je nach der Herkunft der
sexuellen Reizung. In der ersten Gruppe handelt es sich um
Attentate, einmaligen oder doch vereinzelten Mißbrauch meist
weiblicher Kinder von seiten erwachsener, fremder Individuen (die
dabei groben, mechanischen Insult zu vermeiden verstanden),
wobei die Einwilligung der Kinder nicht in Frage kam und als
nächste Folge des Erlebnisses der Schreck über wog. Eine zweite
Gruppe bilden jene weit zahlreicheren Fälle, in denen eine das Kind
wartende erwachsene Person — Kindermädchen, Kindsfrau, Gou¬
vernante, Lehrer, leider auch allzuhäufig ein naher Verwandter —
das Kind in den sexuellen Verkehr einführte und ein — auch
nach der seelischen Richtung ausgebildetes — förmliches Liebes¬
verhältnis, oft durch Jahre, mit ihm unterhielt. In die dritte
Gruppe endlich gehören die eigentlichen Kinderverhältnisse, sexuelle
Beziehungen zwischen zwei Kindern verschiedenen Geschlechtes,
zumeist zwischen Geschwistern, die oft über die Pubertät hinaus
fortgesetzt werden, und die nachhaltigsten Folgen für das be¬
treffende Paar mit sich bringen. In den meisten meiner Fälle er¬
gab sich kombinierte Wirkung von zwei oder mehreren solcher
4^4
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Ätiologien^ in einzelnen war die Häufung der sexuellen Erlebnisse
von verschiedenen Seiten her geradezu erstaunlich. Sie verstehen
aber diese Eigentümlichkeit meiner Beobachtungen leicht, wenn
Sie in Betracht ziehen, daß ich durchweg Fälle von schwerer
neurotischer Erkrankung, die mit Existenzunfähigkeit drohte, zu
behandeln hatte.
Wo ein Verhältnis zwischen zwei Kindern vorlag, gelang nun
einige Male der Nachweis, daß der Knabe — der auch hier die
aggressive Rolle spielt — vorher von einer erwachsenen weiblichen
Person verführt worden war, und daß er dann unter dem Drucke
seiner vorzeitig geweckten Libido und infolge des Erinnerungs¬
zwanges an dem kleinen Mädchen genau die nämlichen Praktiken
zu wiederholen suchte, die er bei der Erwachsenen erlernt hatte,
ohne daß er selbständig eine Modifikation in der Art der sexuellen
Betätigung vorgenommen hätte.
Ich bin daher geneigt anzunehmen, daß ohne vorherige Ver¬
führung Kinder den Weg zu Akten sexueller Aggression nicht
zu finden vermögen. Der Grund zur Neurose würde demnach im
Kindesalter immer von seiten Erwachsener gelegt, und die Kinder
selbst übertragen einander die Disposition, später an Hysterie zu
erkranken. Ich bitte, verweilen Sie noch einen Moment bei der
besonderen Häufigkeit sexueller Beziehungen im Kindesalter gerade
zwischen Geschwistern und Vettern infolge der Gelegenheit zu
häufigem Beisammensein, stellen Sie sich vor, daß zehn oder fünf¬
zehn Jahre später in dieser Familie mehrere Individuen der jungen
Generation krank gefunden werden, und fragen Sie sich, ob dieses
familiäre Auftreten der Neurose nicht geeignet ist, zur Annahme
einer erblichen Disposition zu verleiten, wo doch nur eine Pseudo¬
heredität vorliegt und in Wirklichkeit eine Übertragung, eine
Infektion in der Kindheit stattgefunden hat.
Nun wenden wir uns zu dem andern Einwand, welcher gerade
auf der zugestandenen Häufigkeit infantiler Sexualerlebnisse und
auf der Erfahrung fußt, daß viele Personen sich an solche Szenen
TLur Ätiologie der Hysterie
425
erinnern, die nicht hysterisch geworden sind. Dagegen sagen wir
zunächst, daß die übergroße Häufigkeit eines ätiologischen Moments
unmöglich zum Vorwurf gegen dessen ätiologische Bedeutung ver¬
wendet werden kann. Ist der Tuberkelbazillus nicht allgegenwärtig
und wird von weit mehr Menschen eingeatmet, als sich an Tuber¬
kulose erkrankt zeigen? Und wird seine ätiologische Bedeutung
durch die Tatsache geschädigt, daß er offenbar der Mitwirkung
anderer Faktoren bedarf, um die Tuberkulose, seinen spezifischen
Effekt, hervorzurufen? Es reicht für seine Würdigung als spezifische
Ätiologie aus, daß Tuberkulose nicht möghch ist ohne seine Mit¬
wirkung. Das gleiche gilt wohl auch für unser Problem. Es stört
nicht, wenn viele Menschen infantile Sexualszenen erleben ohne
hysterisch zu werden^ wenn nur alle, die hysterisch werden, solche
Szenen erlebt haben. Der Kreis des Vorkommens eines ätiologi¬
schen Faktors darf gerne ausgedehnter sein als der seines Effekts,
nur nicht enger. Es erkranken nicht alle an Blattern, die einen
Blatternkranken berühren oder ihm nahe kommen, und doch ist
Übertragung von einem Blatternkranken fast die einzige uns be¬
kannte Ätiologie der Erkrankung.
Freilich, wenn infantile Betätigung der Sexualität ein fast all¬
gemeines Vorkommnis wäre, dann fiele auf deren Nachweis in
allen Fällen kein Gewicht. Aber erstens wäre eine derartige Be- I
hauptung sicherhch eine arge Übertreibung, und zweitens ruht
der ätiologische Anspruch der infantilen Szenen nicht allein auf
der Beständigkeit ihres Vorkommens in der Anamnese der Hyste¬
rischen, sondern vor allem auf dem Nachweis der assoziativen und
logischen Bande zwischen ihnen und den hysterischen Symptomen,
der Ihnen aus einer vollständig mitgeteilten Krankengeschichte
sonnenklar einleuchten würde.
Welches mögen die anderen Momente sein, deren die „spezi¬
fische Ätiologie“ der Hysterie noch bedarf, um die Neurose wirk¬
lich zu produzieren? Dies, meine Herren, ist eigentlich ein Thema
für sich, das ich zu behandeln nicht vorhabe ^ ich brauche heute
4^6
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
bloß die Kontaktstelle aufzuzeigen, an welcher die beiden Teil¬
stücke des Themas — spezifische und Hilfsätiologie — ineinander
greifen. Es wird wohl eine ziemliche Anzahl von Faktoren in
Betracht kommen, die erbliche und persönliche Konstitution, die
innere Bedeutsamkeit der infantilen Sexualerlebnisse, vor allem
deren Häufung^ ein kurzes Verhältnis mit einem fremden, später
gleichgültigen Knaben wird an Wirksamkeit zurückstehen gegen
mehrjährige, innige, sexuelle Beziehungen zum eigenen Bruder. Es
sind in der Ätiologie der Neurosen quantitative Bedingungen
ebensowohl bedeutsam wie qualitative^ es sind Schwellenwerte zu
überschreiten, wenn die Krankheit manifest werden soll. Ich halte
die obige ätiologische Reihe übrigens selbst nicht für vollzählig
und das Rätsel, warum die Hysterie in den niederen Ständen
nicht häufiger ist, durch sie noch nicht erledigt. (Erinnern Sie
sich übrigens, welche überraschend große Verbreitung Charcot
für die männliche Hysterie des Arbeiterstandes behauptete.) Ich
darf Sie aber auch daran mahnen, daß ich selbst vor wenigen
Jahren auf ein bisher wenig gewürdigtes Moment hingewiesen
habe, für welches ich die Hauptrolle in der Hervorrufung der
Hysterie nach der Pubertät in Anspruch nehme. Ich habe damals
ausgeführt, daß sich der Ausbruch der Hysterie fast regelmäßig
auf einen psychischen Konflikt zurückführen läßt, indem eine
unverträgliche Vorstellung die Abwehr des Ichs rege mache und
zur Verdrängung auffordere. Unter welchen Verhältnissen dieses
Abwehrbestreben den pathologischen Effekt hat, die dem Ich
peinliche Erinnerung wirklich ins Unbewußte zu drängen und
an ihrer Statt ein hysterisches Symptom zu schaffen, das konnte
ich damals nicht angeben. Ich ergänze es heute: Die Abwehr
erreicht dann ihre Absicht, die unverträgliche Vorstel¬
lung aus dem Bewußtsein zu drängen, wenn bei der be¬
treffenden, bis dahin gesunden Person infantile Sexual¬
szenen als unbewußte Erinnerungen vorhanden sind, und
wenn die zu verdrängende Vorstellung in logischen oder
Tjur Ätiologie der Hysterie
4^7
assoziativen Zusammenhang mit einem solchen infantilen
Erlebnis gebracht werden kann.
Da das Abwehrbestreben des Ichs von der gesamten moralischen
und intellektuellen Ausbildung der Person abhängt, sind wir nun
nicht mehr ohne jedes Verständnis für die Tatsache, daß die
Hysterie beim niederen Volk so viel seltener ist als ihre spezifische
Ätiologie gestatten würde.
Meine Herren, kehren wir noch einmal zurück zu jener letzten
Gruppe von Einwänden, deren Beantwortung uns so weit geführt
hat. Wir haben gehört und anerkannt, daß es zahlreiche Personen
gibt, die infantile Sexualerlebnisse sehr deutlich erinnern, und die
doch nicht hysterisch sind. Dieser Ein wand ist ganz ohne Gewicht,
er wird uns aber Anlaß zu einer wertvollen Bemerkung bieten.
Personen dieser Art dürfen nach unserem Verständnis der Neurose
gar nicht hysterisch sein, oder wenigstens nicht hysterisch infolge
der Szenen, die sie bewußt erinnern. Bei unseren Kranken sind
diese Erinnerungen niemals bewußt^ wir heilen sie aber von ihrer
Hysterie, indem wir ihnen die unbewußten Erinnerungen der
Infantilszenen in bewußte verwandeln. An der Tatsache, daß sie
solche Erlebnisse gehabt haben, konnten und brauchten wir nichts
zu ändern. Sie ersehen daraus, daß es auf die Existenz der infan¬
tilen Sexualerlebnisse allein nicht ankommt, sondern daß eine
psychologische Bedingung noch dabei ist. Diese Szenen müssen
als unbewußte Erinnerungen vorhanden sein^ nur solange und
insofern sie unbewußt sind, können sie hysterische Symptome er¬
zeugen und unterhalten. Wovon es aber abhängt, ob diese Erleb¬
nisse bewußte oder unbewußte Erinnerungen ergeben, ob die Be¬
dingung hiefür im Inhalt der Erlebnisse, in der Zeit, zu der sie vor¬
fallen, oder in späteren Einflüssen liegt, dies ist ein neues Problem,
dem wir behutsam aus dem Wege gehen wollen. Lassen Sie sich
bloß daran mahnen, dciß uns die Analyse als erstes Resultat den
Satz gebracht hat: Die hysterischen Symptome sind Ab¬
kömmlinge unbewußt wirkender Erinnerungen.
4^8
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
c) Wenn wir daran festhalten, infantile Sexualerlebnisse seien
die Grundbedingung, sozusagen die Disposition der Hysterie, sie
erzeugen die hysterischen Symptome aber nicht unmittelbar,
sondern bleiben zunächst wirkungslos und wirken pathogen erst
später, wenn sie im Alter nach der Pubertät als unbewußte Er¬
innerungen geweckt werden, so haben wir uns mit den zahl¬
reichen Beobachtungen auseinanderzusetzen, welche das Auftreten
hysterischer Erkrankung bereits im Kindesalter und vor der
Pubertät erweisen. Indes löst sich die Schwierigkeit wieder, wenn
wir die aus den Analysen gewonnenen Daten über die zeitlichen
Umstände der infantilen Sexualerlebnisse naher betrachten. Man
erfährt dann, daß in unseren schweren Fällen die Bildung hyste¬
rischer Symptome nicht etwa ausnahmsweise, sondern eher regel¬
mäßig mit dem achten Jahr beginnt, und daß die Sexualerleb¬
nisse, die keine unmittelbare Wirkung äußern, jedesmal weiter
zurückreichen, ins dritte, vierte, selbst ins zweite Lebensjahr. Da
in keinem einzigen Fall die Kette der wirksamen Erlebnisse mit
dem achten Jahr abbricht, muß ich annehmen, daß diese Lebens¬
periode, in welcher der Wachstumsschub der zweiten Dentition
erfolgt, für die Hysterie eine Grenze bildet, von welcher an ihre
Verursachung unmöglich wird. Wer nicht frühere Sexualerlebnisse
hat, kann von da an nicht mehr zur Hysterie disponiert werden 5
wer solche hat, kann nun bereits hysterische Symptome entwickeln.
Das vereinzelte Vorkommen von Hysterie auch jenseits dieser
Altersgrenze (vor acht Jahren) ließe sich noch als Erscheinung der
Frühreife deuten. Die Existenz dieser Grenze hängt sehr wahr¬
scheinlich mit Entwicklungsvorgängen im Sexualsystem zusammen.
Verfrühung der somatischen Sexualentwicklung kommt häufig zur
Beobachtung, und es ist selbst denkbar, daß sie durch vorzeitige
sexuelle Reizung befördert werden kann.
Man gewinnt so einen Hinweis darauf, daß ein gewisser in¬
fantiler Zustand der psychischen Funktionen wie des Sexual¬
systems erforderlich ist, damit eine in diese Periode fallende
7jur Ätiologie der Hysterie
429
sexuelle Erfahrung spater als Erinnerung pathogene Wirkung ent¬
falte. Ich getraue mich indes noch nicht, über die Natur dieses
psychischen Infantihsmus und über seine zeitliche Begrenzung
Näheres auszusagen.
d) Eine weitere Einwendung könnte etwa daran Anstoß nehmen,
daß die Erinnerung der infantilen Sexualerlebnisse so großartige
pathogene Wirkung äußern soll, während das Erleben derselben
selbst wirkungslos geblieben ist. Wir sind ja in der Tat nicht
daran gewöhnt, daß von einem Erinnerungsbild Kräfte ausgehen,
welche dem realen Eindruck gefehlt haben. Sie bemerken hier
übrigens, mit welcher Konsequenz bei der Hysterie der Satz
durchgeführt ist, daß Symptome nur aus Erinnerungen hervor¬
gehen können. Alle die späteren Szenen, bei denen die Symptome
entstehen, sind nicht die wirksamen, und die eigentlich wirk¬
samen Erlebnisse erzeugen zunächst keinen Effekt. Wir stehen
aber hier vor einem Problem, welches wir mit gutem Recht von
unserem Thema sondern können. Man fühlt sich freilich zu einer
Synthese aufgefordert, wenn man die Reihe von auffälligen Be¬
dingungen überdenkt, zu deren Kenntnis wir gelangt sind: daß,
um ein hysterisches Symptom zu bilden, ein Abwehrbestreben
gegen eine peinliche Vorstellung vorhanden sein muß^ daß diese
eine logische oder assoziative Verknüpfung aufweisen muß mit
einer unbewußten Erinnerung durch wenige oder zahlreiche
Mittelglieder, die in diesem Moment gleichfalls unbewußt bleiben;
daß jene unbewußte Erinnerung nur sexuellen Inhalts sein kann;
daß sie ein Erlebnis zum Inhalt hat, w^elches sich in einer gewissen
infantilen Lebensperiode zugetragen hat; und man kann nicht umhin,
sich zu fragen, wie es zugeht, daß diese Erinnerung an ein seiner¬
zeit harmloses Erlebnis posthum die abnorme Wirkung äußert, einen
psychischen Vorgang wie das Abwehren zu einem pathologischen
Resultat zu leiten, während sie selbst dabei unbewußt bleibt?
Man wird sich aber sagen müssen, dies sei ein rein psycho¬
logisches Problem, dessen Lösung vielleicht bestimmte Annahmen
430
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
über die normalen psychischen Vorgänge und über die Rolle des
Bewußtseins dabei notwendig macht, das aber einstweilen unge¬
löst bleiben kann, ohne unsere bisher gewonnene Einsicht in die
Ätiologie der hysterischen Phänomene zu entwerten.
III
Meine Herren, das Problem, dessen Ansätze ich soeben formu¬
liert habe, betrifft den Mechanismus der hysterischen Symptom¬
bildung. Wir sind aber genötigt, die Verursachung dieser Sym¬
ptome darzustellen, ohne diesen Mechanismus in Betracht zu
ziehen, was eine unvermeidhche Einbuße an Abrundung und
Durchsichtigkeit unserer Erörterung mit sich bringt. Kehren wir
zur Rolle der infantilen Sexualszenen zurück. Ich fürchte, ich
könnte Sie zur Überschätzung von deren symptombildender Kraft
verleitet haben. Ich betone darum nochmals, daß jeder Fall von
Hysterie Symptome aufweist, deren Determinierung nicht aus in¬
fantilen, sondern aus späteren, oft aus rezenten Erlebnissen her¬
stammt. Ein anderer Anteil der Symptome geht freilich auf die
allerfrühesten Erlebnisse zurück, ist gleichsam von ältestem Adel.
Dahin gehören vor allem die so zahlreichen und mannigfaltigen
Sensationen und Parästhesien an den Genitalien und anderen
Körperstellen, die einfach dem Empfindungsinhalt der Infantilszenen
in halluzinatorijscher Reproduktion, oft auch in schmerzhafter Ver¬
stärkung, entsprechen.
Eine andere Reihe überaus gemeiner hysterischer Phänomene,
der schmerzhafte Harndrang, die Sensation bei der Defäkation,
Störungen der Darmtätigkeit, das Würgen und Erbrechen, Magen¬
beschwerden und Speiseekel, gab sich in meinen Analysen gleich¬
falls — und zwar mit überraschender Regelmäßigkeit — als
Derivat derselben Kindererlebnisse zu erkennen und erklärte sich
mühelos aus konstanten Eigentümlichkeiten derselben. Die infan¬
tilen Sexualszenen sind nämlich arge Zumutungen für das Ge-
431
Zur Ätiologie der Hysterie
fühl eines sexuell normalen Menschen^ sie enthalten alle Aus¬
schreitungen, die Vt)n Wüstlingen und Impotenten bekannt sind,
bei denen Mundhöhle und Darmausgang mißbräuchlich zu sexueller
Verwendung gelangen. Die Verwunderung hierüber weicht beim
Arzte alsbald einem völligen Verständnis. Von Personen, die
kein Bedenken tragen, ihre sexuellen Bedürfnisse an Kindern zu
befriedigen, kann man nicht erwarten, daß sie an Nuancen in
der Weise dieser Befriedigung Anstoß nehmen, und die dem
Kindesalter anhaftende sexuelle Impotenz drängt unausbleiblich
zu denselben Surrogathandlungen, zu denen sich der Erwachsene
im Falle erworbener Impotenz erniedrigt. Alle die seltsamen Be¬
dingungen, unter denen das ungleiche Paar sein Liebesverhältnis
fortführt: der Erwachsene, der sich seinem Anteil an der gegen¬
seitigen Abhängigkeit nicht entziehen kann, wie sie aus einer
sexuellen Beziehung notwendig hervorgeht, der dabei doch mit
aller Autorität und dem Rechte der Züchtigung ausgerüstet ist
und zur ungehemmten Befriedigung seiner Launen die eine Rolle
mit der anderen vertauscht^ das Kind, dieser Willkür in seiner
Hilflosigkeit preisgegeben, vorzeitig zu allen Empfindlichkeiten er¬
weckt und allen Enttäuschungen ausgesetzt, häufig in der Aus¬
übung der ihm zugewiesenen sexuellen Leistungen durch seine
unvollkommene Beherrschung der natürlichen Bedürfnisse unter¬
brochen — alle diese grotesken und doch tragischen Mißverhält¬
nisse prägen sich in der ferneren Entwicklung des Individuums
und seiner Neurose in einer Unzahl von Dauereffekten aus, die
der eingehendsten Verfolgung würdig wären. Wo sich das Ver¬
hältnis zwischen zwei Kindern abspielt, bleibt der Charakter der
Sexualszenen doch der nämliche abstoßende, da ja jedes Kinder¬
verhältnis eine vorausgegangene Verführung des einen Kindes
durch einen Erwachsenen postuliert. Die psychischen Folgen eines
solchen Kinderverhältnisses sind ganz außerordentlich tiefgreifende^
die beiden Personen bleiben für ihre ganze Lebenszeit durch ein
unsichtbares Band miteinander verknüpft.
432
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Gelegentlich sind es Nebenumstände dieser infantilen Sexual¬
szenen, welche in späteren Jahren zu determinierender Macht für
die Symptome der Neurose gelangen. So hat in einem meiner
Fälle der Umstand, daß das Kind abgerichtet wurde, mit seinem
Fuß die Genitalien der Erwachsenen zu erregen, hingereicht, um
Jahre hindurch die neurotische Aufmerksamkeit auf die Beine
und deren Funktion zu fixieren und schließlich eine hysterische
Paraplegie zu erzeugen. In einem andern Falle wäre es rätselhaft
geblieben, warum die Kranke in ihren Angstanfällen, die ge¬
wisse Tagesstunden bevorzugten, gerade eine einzige von ihren
zahlreichen Schwestern zu ihrer Beruhigung nicht von ihrer Seite
lassen wollte, wenn die Analyse nicht ergeben hätte, daß der
Attentäter sich seinerzeit bei jedem seiner Besuche erkundigt
hatte, ob diese Schwester zu Hause sei, von der er eine Störung
befürchten mußte.
Es kommt vor, daß die determinierende Kraft der Infantilszenen
sich so sehr verbirgt, daß sie bei oberflächlicher Analyse über¬
sehen werden muß. Man vermeint dann, man habe die Erklärung
eines gewissen Symptoms im Inhalt einer der späteren Szenen
gefunden und stößt im Verlaufe der Arbeit auf denselben Inhalt
in einer der Infantilszenen, so daß man sich schließlich sagen
muß, die spätere Szene verdanke ihre Kraft, Symptome zu deter¬
minieren, doch nur ihrer Übereinstimmung mit der früheren. Ich
will darum die spätere Szene nicht als bedeutungslos hinstellen ^ wenn
ich die Aufgabe hätte, die Regeln der hysterischen Symptombildung
vor Ihnen zu erörtern, würde ich als eine dieser Regeln anerkennen
müssen, daß zum Symptom jene Vorstellung auserwählt wird, zu
deren Hebung mehrere Momente Zusammenwirken, die von ver¬
schiedenen Seiten her gleichzeitig geweckt wird, was ich an anderer
Stelle durch den Satz auszudrücken versucht habe: Die hysteri¬
schen Symptome seien überdeterminiert.
Noch eines, meine Herren^ ich habe zwar vorhin das Ver¬
hältnis der rezenten Ätiologie zur infantilen als ein besonderes
Tjur Ätiologie der Hysterie
433
Thema beiseite gerückt^ aber ich kann doch den Gegenstand nicht
verlassen, ohne diesen Vorsatz wenigstens durch eine Bemerkung
zu übertreten. Sie gestehen mir zu, es ist vor allem eine Tat¬
sache, die uns am psychologischen Verständnis der hysterischen
Phänomene irre werden läßt, die uns zu warnen scheint, psychische
Akte bei Hysterischen und bei Normalen mit gleichem Maß zu
messen. Es ist dies das Mißverhältnis zwischen psychisch er¬
regendem Reiz und psychischer Reaktion, das wir bei den Hyste¬
rischen antreffen, welches wir durch die Annahme einer allge¬
meinen abnormen Reizbarkeit zu decken suchen und häufig phy¬
siologisch zu erklären bemüht sind, als ob gewisse, der Übertragung
dienende Hirnorgane sich bei den Kranken in einem besonderen
chemischen Zustand befänden, etwa wie die Spinalzentren des
Strychninfrosches, oder sich dem Einflüsse höherer hemmender
Zentren entzogen hätten, wie im vivisektorischen Tierexperiment.
Beide Auffassungen mögen hie und da zur Erklärung der
hysterischen Phänomene vollberechtigt sein^ das stelle ich nicht in
Abrede. Aber der Hauptanteil des Phänomens, der abnormen,
übergroßen, hysterischen Reaktion auf psychische Reize, läßt eine
andere Erklärung zu, die durch zahllose Beispiele aus den Ana¬
lysen gestützt wird. Und diese Erklärung lautet: Die Reaktion
der Hysterischen ist eine nur scheinbar übertriebene^
sie muß uns so erscheinen, weil wir nur einen kleinen
Teil der Motive kennen, aus denen sie erfolgt.
In Wirklichkeit ist diese Reaktion proportional dem erregenden
Reiz, also normal und psychologisch verständlich. Wir sehen dies
sofort ein, wenn die Analyse zu den manifesten, dem Kranken
bewußten Motiven jene anderen Motive hinzugefügt hat, die ge¬
wirkt haben, ohne daß der Kranke um sie wußte, die er uns
also nicht mitteilen konnte.
Ich könnte Stunden damit ausfüllen, Ihnen diesen wichtigen
Satz für den ganzen Umfang der psychischen Tätigkeit bei Hyste¬
rischen zu erweisen, muß mich aber hier auf wenige Beispiele
Freud, I.
28
434
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
beschränken. Sie erinnern sich an die so häufige seelische ^jErnp-
findhchkeit“ der Hysterischen, die sie auf die leiseste Andeutung
einer Geringschätzung reagieren läßt, als seien sie tödlich be¬
leidigt worden. Was würden Sie nun denken, wenn Sie eine
solche hochgradige Verletzbarkeit bei geringfügigen Anlässen
zwischen zwei gesunden Menschen, etwa Ehegatten, beobachten
würden? Sie würden gewiß den Schluß ziehen, die eheliche Szene,
der Sie beigewohnt, sei nicht allein das Ergebnis des letzten klein¬
lichen Anlasses, sondern da habe sich durch lange Zeit Zündstoff
angehäuft, der nun in seiner ganzen Masse durch den letzten An¬
stoß zur Explosion gebracht worden sei.
Bitte, übertragen Sie denselben Gedankengang auf die Hyste¬
rischen. Nicht die letzte, an sich minimale Kränkung ist es, die
den Weinkrampf, den Ausbruch von Verweiflung, den Selbstmord¬
versuch erzeugt, mit Mißachtung des Satzes von der Proportio¬
nalität des Effekts und der Ursache, sondern diese kleine aktuelle
Kränkung hat die Erinnerungen so vieler und intensiverer früherer
Kränkungen geweckt und zur Wirkung gebracht, hinter denen
allen noch die Erinnerung an eine schwere, nie verwundene
Kränkung im Kindesalter steckt. Oder: wenn ein junges Mädchen
sich die entsetzlichsten Vorwürfe macht, weil sie geduldet, daß
ein Knabe zärtlich im geheimen über ihre Hand gestrichen, und
von da ab der Neurose verfällt, so können Sie zwar dem Rätsel
mit dem Urteil begegnen, das sei eine abnorme, exzentrisch an¬
gelegte, hypersensitive Person^ aber Sie werden anders denken,
wenn Ihnen die Analyse zeigt, daß jene Berührung an eine an¬
dere, ähnliche, erinnerte, die in sehr früher Jugend vorfiel und
die ein Stück aus einem minder harmlosen Ganzen war, so daß
eigentlich die Vorwürfe jenem alten Anlaß gelten. Schließlich ist
das Rätsel der hysterogenen Punkte auch kein anderes^ wenn Sie
die eine ausgezeichnete Stelle berühren, tun Sie etwas, was Sie
nicht beabsichtigt haben ^ Sie wecken eine Erinnerung auf, die
einen Krampfanfall auszulösen vermag, und da Sie von diesem
Zur Ätiologie der Hysterie
435
psychischen Mittelglied nichts wissen, beziehen Sie den Anfall als
Wirkung direkt auf Ihre Berührung als Ursache. Die Kranken
befinden sich in derselben Unwissenheit und verfallen darum in
ähnliche Irrtümer, sie stellen beständig „falsche Verknüpfungen^^
her zwischen dem letztbewußten Anlaß und dem von so viel
Mittelgliedern abhängigen Effekt. Ist es dem Arzte aber möglich
geworden, zur Erklärung einer hysterischen Reaktion die be¬
wußten und die unbewußten Motive zusammenzufassen, so muß
er diese scheinbar übermäßige Reaktion fast immer als eine an¬
gemessene, nur in der Form abnorme anerkennen.
Sie werden nun gegen diese Rechtfertigung der hysterischen
Reaktion auf psychische Reize mit Recht einwenden, sie sei doch
keine normale, denn warum benehmen die Gesunden sich anders^
warum wirken bei ihnen nicht alle längst verflossenen Erregungen
neuerdings mit, wenn eine neue Erregung aktuell ist? Es macht
ja den Eindruck, als blieben bei den Hysterischen alle alten Er¬
lebnisse wirkungskräftig, auf die schon so oft, und zwar in stür¬
mischer Weise reagiert wurde, als seien diese Personen unfähig,
psychische Reize zu erledigen. Richtig, meine Herren, etwas Der¬
artiges muß man tatsächlich als wahr annehmen. Vergessen Sie
nicht, daß die alten Erlebnisse der Hysterischen bei einem aktu¬
ellen Anlasse als unbewußte Erinnerungen ihre Wirkung
äußern. Es scheint, als ob die Schwierigkeit der Erledigung, die
Unmöglichkeit, einen aktuellen Eindruck in eine machtlose Er¬
innerung zu verwandeln, gerade an dem Charakter des psychisch
Unbewußten hinge. Sie sehen, der Rest des Problems ist wiederum
Psychologie, und zwar Psychologie von einer Art, für welche uns
die Philosophen wenig Vorarbeit geleistet haben.
Auf diese Psychologie, die für unsere Bedürfnisse erst zu er¬
schaffen ist, — auf die zukünftige Neurosenpsychologie — muß
ich Sie auch verweisen, wenn ich Ihnen zum Schluß eine Mit¬
teilung mache, von der Sie zunächst eine Störung unseres be¬
ginnenden Verständnisses für die Ätiologie der Hysterie besorgen
28*
436
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
werden. Ich muß es nämlich aussprechen, daß die ätiologische
Rolle der infantilen Sexualerlebnisse nicht auf das Gebiet der
Hysterie eingeschränkt ist, sondern in gleicher Weise für die merk¬
würdige Neurose der Zwangsvorstellungen, ja vielleicht auch für
die Formen der chronischen Paranoia und andere funktionelle
Psychosen Geltung hat. Ich drücke mich hiebei minder bestimmt
aus, weil die Anzahl meiner Analysen von Zwangsneurosen noch
weit hinter der von Hysterien zurücksteht ^ von Paranoia habe ich
gar nur eine einzige ausreichende und einige fragmentarische Ana¬
lysen zur Verfügung. Aber was ich da gefunden, schien mir ver¬
läßlich und hat mich mit sicheren Erwartungen für andere Fälle
erfüllt. Sie erinnern sich vielleicht, daß ich für die Zusammen¬
fassung von Hysterie und Zwangsvorstellungen unter dem Titel
„Abwehrneurosen“ bereits früher eingetreten bin, ehe mir noch
die Gemeinsamkeit der infantilen Ätiologie bekannt war. Nun muß
ich hinzufügen, — was man freilich nicht allgemein zu erwarten
braucht, — daß meine Fälle von Zwangsvorstellungen sämtlich einen
Untergrund von hysterischen Symptomen, meist Sensationen und
Schmerzen, erkennen ließen, die sich gerade auf die ältesten Kinder¬
erlebnisse zurückleiteten. Worin liegt nun die Entscheidung, ob
aus den unbewußt gebliebenen infantilen Sexualszenen später
Hysterie oder Zwangsneurose oder gar Paranoia hervorgehen soll,
wenn sich die anderen pathogenen Momente hinzugesellt haben?
Diese Vermehrung unserer Erkenntnisse scheint ja dem ätiolo¬
gischen Wert dieser Szenen Eintrag zu tun, indem sie die Spezi¬
fität der ätiologischen Relation aufhebt.
Ich bin noch nicht in der Lage, meine Herren, eine verläßliche
Antwort auf diese Frage zu geben. Die Anzahl meiner analysierten
Fälle, die Mannigfaltigkeit der Bedingungen in ihnen, ist nicht
groß genug hiefür. Ich merke bis jetzt, daß die Zwangsvorstellun¬
gen bei der Analyse regelmäßig als verkappte und verwandelte
Vorwürfe wegen sexueller Aggressionen im Kindesalter
zu entlarven sind, daß sie darum bei Männern häufiger gefunden
TLur Ätiologie der Hysterie
457
werden als bei Frauen, und häufiger bei ihnen sich entwickeln als
Hysterie. Ich könnte daraus schließen, daß der Charakter der In¬
fantilszenen, ob sie mit Lust oder nur passiv erlebt werden, einen
bestimmenden Einfluß auf die Auswahl der späteren Neurose hat,
aber ich möchte auch den Einfluß des Alters, in dem diese Kinder¬
aktionen vorfallen, und anderer Momente nicht unterschätzen.
Hierüber muß erst die Diskussion weiterer Analysen Aufschluß
geben5 wenn es aber klar sein wird, welche Momente die Ent¬
scheidung zwischen den möglichen Formen der Abwehr-Neuro-
psychosen beherrschen, wird es wiederum ein rein psychologisches
Problem sein, kraft welches Mechanismus die einzelne Form ge¬
staltet wird.
Ich bin nun zum Ende meiner heutigen Erörterungen gelangt.
Auf Widerspruch und Unglauben gefaßt, möchte ich meiner Sache
nur noch eine Befürwortung mit auf den Weg geben. Wie immer
Sie meine Resultate aufnehmen mögen, ich darf Sie bitten, die¬
selben nicht für die Frucht wohlfeiler Spekulation zu halten. Sie
ruhen auf mühsehger Einzelerforschung der Kranken, die bei den
meisten Fällen hundert Arbeitsstunden und darüber verweilt hat.
Wichtiger noch als Ihre Würdigung der Ergebnisse ist mir Ihre
Aufmerksamkeit für das Verfahren, dessen ich mich bedient habe,
das neuartig, schwierig zu handhaben und doch unersetzlich für
wissenschaftliche und therapeutische Zwecke ist. Sie sehen wohl
ein, man kann den Ergebnissen, zu denen diese modifizierte
Br euer sehe Methode führt, nicht gut widersprechen, wenn man
die Methode beiseite läßt und sich nur der gewohnten Methode
des Krankenexamens bedient. Es wäre ähnlich, als wollte man
die Funde der histologischen Technik mit der Berufung auf
die makroskopische Untersuchung widerlegen. Indem die neue
Forschungsmethode den Zugang zu einem neuen Element des
psychischen Geschehens, zu den unbewußt gebliebenen, nach
Breuers Ausdruck „bewußtseinsunfähigen^^ Denkvorgängen
breit eröffnet, winkt sie uns mit der Hoffnung eines neuen.
43«
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
besseren Verständnisses aller funktionellen psychischen Störungen.
Ich kann es nicht glauben, daß die Psychiatrie es noch lange
aufschieben wird, sich dieses neuen Weges zur Erkenntnis zu
bedienen.
DIE SEXUALITÄT IN DER ÄTIOLOGIE
DER NEUROSEN
Zuerst erschienen in der y^Wiener Klinischen
Rundschau^^ 18^8, Nr, 2, 4^ J und 7.
Durch eingehende Untersuchungen bin ich in den letzten Jahren
zur Erkenntnis gelangt, daß Momente aus dem Sexualleben die
nächsten und praktisch bedeutsamsten Ursachen eines jeden Falles
von neurotischer Erkrankung darstellen. Diese Lehre ist nicht
völlig neu5 eine gewisse Bedeutung ist den sexuellen Momenten
in der Ätiologie der Neurosen von jeher und von allen Autoren
eingeräumt worden^ für manche Unterströmungen in der Medizin
ist die Heilung von „Sexualbeschwerdenund von „Nerven¬
schwäche“ immer in einem einzigen Versprechen vereint gewesen.
Es wird also nicht schwer halten, dieser Lehre die Originalität
zu bestreiten, wenn man einmal darauf verzichtet haben wird,
ihre Triftigkeit zu leugnen.
In einigen kürzeren Aufsätzen, die in den letzten Jahren im
„Neurologischen Zentralblatt“, in der „Revue neurologique“ und
in der „Wiener Klinischen Rundschau“ erschienen sind, habe ich
versucht, das Material und die Gesichtspunkte anzudeuten, welche
der Lehre von der „sexuellen Ätiologie der Neurosen“ eine wissen-
schafthche Stütze bieten. Eine ausführliche Darstellung steht noch
aus, und zwar wesentlich darum, weil man bei der Bemühung,
440
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
den als tatsächlich erkannten Zusammenhang aufzuklären, zu immer
neuen Problemen gelangt, für deren Lösung es an Vorarbeiten
fehlt. Keineswegs verfrüht erscheint mir aber der Versuch, das
Interesse des praktischen Arztes auf die von mir behaupteten Ver¬
hältnisse zu lenken, damit er sich in einem von der Richtigkeit
dieser Behauptungen und von den Vorteilen überzeuge, welche
er für sein ärztliches Handeln aus ihrer Erkenntnis ableiten kann.
Ich weiß, daß es an Bemühungen nicht fehlen wird, den Arzt
durch ethisch gefärbte Argumente von der Verfolgung dieses Gegen¬
standes abzuhalten. Wer sich bei seinen Kranken überzeugen will,
ob ihre Neurosen wirklich mit ihrem Sexualleben Zusammenhängen,
der kann es nicht vermeiden, sich bei ihnen nach ihrem Sexual¬
leben zu erkundigen und auf wahrheitsgetreue Aufklärung über
dasselbe zu dringen. Darin soll aber die Gefahr für den einzelnen
wie für die Gesellschaft liegen. Der Arzt, höre ich sagen, hat kein
Recht, sich in die sexuellen Geheimnisse seiner Patienten einzu¬
drängen, ihre Schamhaftigkeit — besonders der weiblichen Per¬
sonen — durch solches Examen gröblich zu verletzen. Seine un¬
geschickte Hand kann nur Familienglück zerstören, bei jugend¬
lichen Personen die Unschuld beleidigen und der Autorität der
Eltern vergreifen^ bei Erwachsenen wird er unbequeme Mitwisser¬
schaft erwerben und sein eigenes Verhältnis zu seinen Kranken
zerstören. Es sei also seine ethische Pflicht, der ganzen sexuellen
Angelegenheit ferne zu bleiben.
Man darf wohl antworten: Das ist die Äußerung einer des
Arztes unwürdigen Prüderie, die mit schlechten Argumenten ihre
Blöße mangelhaft verdeckt. Wenn Momente aus dem Sexualleben
wirklich als Krankheitsursachen zu erkennen sind, so fällt die Er¬
mittlung und Besprechung dieser Momente eben hiedurch ohne
weiteres Bedenken in den Pflichtenkreis des Arztes. Die Verletzung
der Schamhaftigkeit, die er sich dabei zuschulden kommen läßt,
ist keine andere und keine ärgere, sollte man meinen, als wenn
er, um eine örtliche Affektion zu heilen, auf der Inspektion der
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen 441
weiblichen Genitalien besteht, zu welcher Forderung ihn die Schule
selbst verpflichtet. Von älteren Frauen, die ihre Jugendjahre in
der Provinz zugebracht haben, hört man oft noch erzählen, daß
sie einst durch übermäßige Genitalblutungen bis zur Erschöpfung
heruntergekommen waren, weil sie sich nicht entschließen konnten,
einem Arzt den Anblick ihrer Nacktheit zu gestatten. Der erzieh-
hche Einfluß, der von den Ärzten auf das Publikum geübt wird,
hat es im Lauf einer Generation dahin gebracht, daß \>ei unseren
jungen Frauen solches Sträuben nur höchst selten vorkommt. Wo
es sich träfe, würde es als unverständige Prüderie, als Scham am
Unrechten Orte verdammt werden. Leben wir denn in der Türkei,
würde der Ehemann fragen, wo die kranke Frau dem Arzte nur
den Arm durch ein Loch in der Mauer zeigen darf?
Es ist nicht richtig, daß das Examen und die Mitwisserschaft
in sexuellen Dingen dem Arzt eine gefährliche Machtfülle gegen
seine Patienten verschafft. Derselbe Einwand konnte sich mit mehr
Berechtigung seinerzeit gegen die Anwendung der Narkose richten,
durch welche der Kranke seines Bewußtseins und seiner Willens¬
bestimmung beraubt, und es in die Hand des Arztes gelegt wird,
ob und wann er sie wieder erlangen soll. Doch ist uns heute die
Narkose unentbehrlich geworden, weil sie dem ärztlichen Bestreben
zu helfen, dienlich ist wie nichts anderes, und der Arzt hat die
Verantwortlichkeit für die Narkose unter seine anderen ernsten
Verpflichtungen aufgenommen.
Der Arzt kann in allen Fällen Schaden stiften, wenn er unge¬
schickt oder gewissenlos ist, in anderen Fällen nicht mehr und
nicht minder als bei der Forschung nach dem Sexualleben seiner
Patienten. Freilich, wer in einem schätzenswerten Ansätze zur
Selbsterkenntnis sich nicht das Taktgefühl, den Ernst und die Ver¬
schwiegenheit zutraut, deren er für das Examen der Neurotiker
bedarf, wer von sich weiß, daß Enthüllungen aus dem Sexual¬
leben lüsternen Kitzel anstatt wissenschaftlichen Interesses bei ihm
hervorrufen werden, der tut recht daran, dem Thema der Ätiologie
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
44 ^
der Neurosen fernzubleiben. Wir verlangen nur noch, daß er sich
auch von der Behandlung der Nervösen fernhalte.
Es ist auch nicht richtig, daß die Kranken einer Erforschung
ihres Sexuallebens unüberwindliche Hindernisse entgegensetzen.
Erwachsene pflegen sich nach kurzem Zögern mit den Worten
zurechtzurücken: Ich bin doch beim Arzte, dem darf man alles
sagen. Zahlreiche Frauen, die an der Aufgabe, ihre sexuellen Ge¬
fühle zu verbergen, schwer genug durchs Leben zu tragen haben,
finden sich erleichtert, wenn sie beim Arzte merken, daß hier
keine andere Rücksicht über die ihrer Heilung gesetzt ist, und
danken es ihm, daß sie sich auch einmal in sexuellen Dingen rein
menschlich gebärden dürfen. Eine dunkle Kenntnis der vorwaltenden
Bedeutung sexueller Momente für die Entstehung der Nervosität,
wie ich sie für die Wissenschaft neu zu gewinnen suche, scheint
im Bewußtsein der Laien überhaupt nie untergegangen zu sein.
Wie oft erlebt man Szenen wie die folgende: Man hat ein Ehe¬
paar vor sich, von dem ein Teil an Neurose leidet. Nach vielen
Einleitungen und Entschuldigungen, daß es für den Arzt, der in
solchen Fällen helfen will, konventionelle Schranken nicht geben
darf u. dgl., teilt man den beiden mit, man vermute, der Grund
der Krankheit liege in der unnatürlichen und schädlichen Art des
sexuellen Verkehrs, die sie seit der letzten Entbindung der Frau
gewählt haben dürften. Die Ärzte pflegen sich um diese Verhält¬
nisse in der Regel nicht zu kümmern, allein das sei nur ver-
verwerflich, wenn auch die Kranken nicht gerne davon hören usw.
Dann stößt der eine Teil den andern an und sagt: Siehst du, ich
habe es dir gleich gesagt, das wird mich krank machen. Und der
andere antwortet: Ich hab’ mir’s ja auch gedacht, aber was soll
man tun?
Unter gewissen anderen Umständen, etwa bei jungen Mädchen,
die ja systematisch zur Verhehlung ihres Sexuallebens erzogen
werden, wird man sich mit einem recht bescheidenen Maße von
aufrichtigem Entgegenkommen begnügen müssen. Es fällt aber
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen
443
hier ins Gewicht, daß der kundige Arzt seinen Kranken nicht
unvorbereitet entgegentritt und in der Regel nicht Aufklärung,
sondern bloß Bestätigung seiner Vermutungen von ihnen zu fordern
hat. Wer meinen Anweisungen folgen will, wie man sich die
Morphologie der Neurosen zurechtzulegen und ins Ätiologische zu
übersetzen hat, dem brauchen die Kranken nur wenig Geständ¬
nisse mehr zu machen. In der nur allzu bereitwillig gegebenen
Schilderung ihrer Krankheitssymptome haben sie ihm meist die
Kenntnis der dahinter verborgenen sexuellen Fal^toren mitverraten.
Es wäre von großem Vorteile, wenn die Kranken besser wüßten,
mit welcher Sicherheit dem Arzte die Deutung ihrer neurotischen
Beschwerden und der Rückschluß von ihnen auf die wirksame
sexuelle Ätiologie nunmehr möglich ist. Es wäre sicherlich ein
Antrieb für sie, auf die Heimlichkeit von dem Augenblicke an zu
verzichten, da sie sich entschlossen haben, für ihr Leiden um
Hilfe zu bitten. Wir haben aber alle ein Interesse daran, daß auch
in sexuellen Dingen ein höherer Grad von Aufrichtigkeit unter
den Menschen Pflicht werde, als er bis jetzt verlangt wird. Die
sexuelle Sittlichkeit kann dabei nur gewinnen. Gegenwärtig sind
wir in Sachen der Sexualität samt und sonders Heuchler, Kranke
wie Gesunde. Es wird uns nur zugute kommen, wenn im Ge¬
folge der allgemeinen Aufrichtigkeit ein gewisses Maß von Duldung
in sexuellen Dingen zur Geltung gelangt.
Der Arzt hat gewöhnlich ein sehr geringes Interesse an manchen
der Fragen, w^elche unter den Neuropathologen in betreff der Neuro¬
sen diskutiert werden, etwa ob man Hysterie und Neurasthenie
strenge zu sondern berechtigt ist, ob man eine Hystero-Neur-
asthenie daneben unterscheiden darf, ob man das Zwangsvorstellen
zur Neurasthenie rechnen oder als besondere Neurose anerkennen
soll u. dgl. m. Wirklich dürfen auch solche Distinktionen dem
Arzte gleichgültig sein, so lange sich an die getroffene Entschei¬
dung weiter nichts knüpft, keine tiefere Einsicht und kein Finger¬
zeig für die Therapie, so lange der Kranke ja allen Fällen in die
444
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Wasserheilanstalt geschickt wird, oder zu hören bekommt — daß
ihm nichts fehlt. Anders aber, wenn man unsere Gesichtspunkte
über die ursächlichen Beziehungen zwischen der Sexualität und
den Neurosen annimmt. Dann erwacht ein neues Interesse für die
Symptomatologie der einzelnen neurotischen Fälle, und es gelangt
zur praktischen Wichtigkeit, deiß man das komplizierte Bild richtig
in seine Komponenten zu zerlegen und diese richtig zu benennen
verstehe. Die Morphologie der Neurosen ist nämlich mit geringer
Mühe in Ätiologie zu übersetzen, und aus der Erkenntnis dieser
leiten sich, wie selbstverständlich, neue therapeutische Anwei¬
sungen ab.
Die bedeutsame Entscheidung nun, die jedesmal durch sorg¬
fältige Würdigung der Symptome sicher getroffen werden kann,
geht dahin, ob der Fall die Charaktere einer Neurasthenie oder
einer Psychoneurose (Hysterie, Zwangsvorstellen) an sich trägt.
(Es kommen ungemein häufig Mischfälle vor, in denen Zeichen
der Neurasthenie mit denen einer Psychoneurose vereinigt sind 5
wir wollen aber deren Würdigung für später aufsparen.) Nur bei
den Neurasthenien hat das Examen der Kranken den Erfolg, die
ätiologischen Momente aus dem Sexualleben aufzudecken^ die¬
selben sind dem Kranken, wie natürlich, bekannt und gehören
der Gegenwart, richtiger der Lebenszeit seit der Geschlechtsreife
an (wenngleich auch diese Abgrenzung nicht alle Fälle einzu¬
schließen gestattet). Bei den Psychoneurosen leistet ein solches
Examen wenige es verschafft uns etwa die Kenntnis von Momenten,
die man als Veranlassungen anerkennen muß, und die mit dem
Sexualleben Zusammenhängen oder auch nicht; im ersteren Falle
zeigen sie sich dann nicht von anderer Art als die ätiologischen
Momente der Neurasthenie, lassen also eine spezifische Beziehung
zur Verursachung der Psychoneurose durchaus vermissen. Und doch
liegt auch die Ätiologie der Psychoneurosen in jedem Falle wieder¬
um im Sexuellen. Auf einem merkwürdigen Umwege, von dem
später die Rede sein wird, kann man zur Kenntnis dieser Ätio-
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen
445
logie gelangen und begreiflich finden, daß der Kranke uns von
ihr nichts zu sagen wußte. Die Ereignisse und Einwirkungen
nämlich, welche jeder Psychoneurose zugrunde liegen, gehören
nicht der Aktualität an, sondern einer längst vergangenen, sozu¬
sagen prähistorischen Lebensepoche, der frühen Kindheit, und
darum sind sie auch dem Kranken nicht bekannt. Er hat sie —
in einem bestimmten Sinne nur — vergessen.
Sexuelle Ätiologie also in allen Fällen von Neurose^ aber bei
den Neurasthenien solche von aktueller Art, bei den Psycho-
neurosen Momente infantiler Natur ^ dies ist der erste große Gegen¬
satz in der Ätiologie der Neurosen. Ein zweiter ergibt sich, wenn
man einem Unterschiede in der Symptomatik der Neurasthenie
selbst Rechnung trägt. Hier finden sich einerseits Fälle, in denen
sich gewisse für die Neurasthenie charakteristische Beschwerden
in den Vordergrund drängen: Der Kopfdruck, die Ermüdbarkeit,
die Dyspepsie, die Stuhlverstopfung, die Spinalirritation usf. In
anderen Fallen treten diese Zeichen zurück, und das Krankheits¬
bild sötzt sich aus anderen Symptomen zusammen, die sämtlich
eine Beziehung zum Kernsymptom, der „ Angsterkennen lassen
(freie Ängstlichkeit, Unruhe, Erwartungsangst, komplette, rudimen¬
täre und supplementäre Angstanfälle, lokomotorischer Schwindel,
Agoraphobie, Schlaflosigkeit, Schmerzsteigerung usw.). Ich habe
dem ersten Typus von Neurasthenie seinen Namen belassen, den
zweiten aber als „ Angstneurose ausgezeichnet, und diese Schei¬
dung an anderem Orte begründet, woselbst auch der Tatsache des
in der Regel gemeinsamen Vorkommens beider Neurosen Rechnung
getragen wird. Für unsere Zwecke genügt die Hervorhebung, daß
der symptomatischen Verschiedenheit beider Formen ein Unter¬
schied der Ätiologie parallel geht. Die Neurasthenie läßt sich jedes¬
mal auf einen Zustand des Nervensystems zurückführen, wie er
durch exzessive Masturbation erworben wird oder durch gehäufte
Pollutionen spontan entsteht^ bei der Angstneurose findet man
regelmäßig sexuelle Einflüsse, denen das Moment der Zurückhaltung
446
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
oder der unvollkommenen Befriedigung gemeinsam ist, wie: Coitus
interruptus, Abstinenz bei lebhafter Libido, sogenannte frustrane
Erregung u. dgl. In dem kleinen Aufsatze, welcher die Angst¬
neurose einzuführen bemüht war, habe ich die Formel ausge¬
sprochen, die Angst sei überhaupt eine von ihrer Verwendung
abgelenkte Libido.
Wo in einem Falle Symptome der Neurasthenie und der Angst¬
neurose vereinigt sind, also ein Mischfall vorliegt, da hält man
sich an den empirisch gefundenen Satz, daß einer Vermengung
von Neurosen ein Zusammenwirken von mehreren ätiologischen
Momenten entspricht, und wird seine Erwartung jedesmal be¬
stätigt finden. Wie oft diese ätiologischen Momente durch den
Zusammenhang der sexuellen Vorgänge organisch miteinander ver¬
knüpft sind, z. B. Coitus interruptus oder ungenügende Potenz
des Mannes mit der Masturbation, dies wäre einer Ausführung im
einzelnen wohl würdig.
Wenn man den vorliegenden Fall von neurasthenischer Neurose
sicher diagnostiziert und dessen Symptome richtig gruppiert hat,
so darf man sich die Symptomatik in Ätiologie übersetzen und
dann von den Kranken dreist die Bekräftigung seiner Vermutungen
verlangen. Anfänglicher Widerspruch darf einen nicht irre machen;
man besteht fest auf dem, was man erschlossen hat, und besiegt
endlich jeden Widerstand dadurch, daß man die Unerschütterlich-
keit seiner Überzeugung betont. Man erfährt dabei allerlei aus
dem Sexualleben der Menschen, womit sich ein nützliches und
lehrreiches Buch füllen ließe, lernt es auch nach jeder Richtung
hin bedauern, daß die Sexualwissenschaft heutzutage noch als un¬
ehrlich gilt. Da kleinere Abweichungen von einer normalen vita
sexualis viel zu häufig sind, als daß man ihrer Auffindung Wert
beilegen dürfte, wird man bei seinen neurotisch Kranken nur
schwere und lange Zeit fortgesetzte Abnormität des Sexuallebens
als Aufklärung gelten lassen; daß man aber durch sein Drängen
einen Kranken, der psychisch normal ist, veranlassen könnte, sich
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen
447
selbst fälschlich sexueller Vergehen zu bezichtigen, das darf man
getrost als eine imaginäre Gefahr vernachlässigen.
Verfährt man in dieser Weise mit seinen Kranken, so erwirbt
man sich auch die Überzeugung, daß es für die Lehre von der
sexuellen Ätiologie der Neurasthenie negative Fälle nicht gibt. Bei
mir wenigstens ist diese Überzeugung so sicher geworden, daß ich
auch den negativen Ausfall des Examens diagnostisch verwertet
habe, nämlich um mir zu sagen, daß solche Fälle keine Neur¬
asthenie sein können. So kam ich mehrmals dazu, eine progressive
Paralyse anstatt einer Neurasthenie anzunehmen, weil es mir nicht
gelungen war, die nach meiner Lehre erforderliche ausgiebige
Masturbation nachzuweisen, und der Verlauf dieser Fälle gab mir
nachträglich Recht. Ein andermal, wo der Kranke, bei Abwesen¬
heit deutlicher organischer Veränderungen, über Kopfdruck, Kopf¬
schmerzen, Dyspepsie klagte und meinen sexuellen Verdächtigungen
mit Aufrichtigkeit und überlegener Sicherheit begegnete, fiel es
mir ein, eine latente Eiterung in einer der Nebenhöhlen der Nase
zu vermuten, und ein spezialistisch geschulter Kollege bestätigte
diesen aus dem sexuell negativen Examen gezogenen Schluß, in¬
dem er den Kranken durch Entleerung von fötidem Eiter aus einer
Highmorshöhle von seinen Beschwerden befreite.
Der Anschein, als ob es dennoch „negative Fälle‘^ gäbe, kann
auch auf andere Weise entstehen. Das Examen weist mitunter
ein normales Sexualleben bei Personen nach, deren Neurose einer
Neurasthenie oder einer Angstneurose für oberflächliche Beobach¬
tung wirklich genug ähnlich sieht. Tiefer eindringende Unter¬
suchung deckt aber dann regelmäßig den wahren Sachverhalt auf.
Hinter solchen Fällen, die man für Neurasthenie gehalten hat,
steckt eine Psychoneurose, eine Hysterie oder Zwangsneurose. Die
Hysterie insbesondere, die so viele organische Affektionen nach¬
ahmt, kann mit Leichtigkeit eine der aktuellen Neurosen Vor¬
täuschen, indem sie deren Symptome zu hysterischen erhebt. Solche
Hysterien in der Form der Neurasthenie sind nicht einmal sehr
44 ^
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
selten. Es ist aber keine wohlfeile Auskunft, wenn man für die
Neurasthenien mit sexuell negativer Auskunft auf die Psychoneuro-
sen rekurriert^ man kann den Nachweis hiefür führen auf jenem
Wege, der allein eine Hysterie untrüglich entlarvt, auf dem Wege
der später zu erwähnenden Psychoanalyse.
Vielleicht wird nun mancher, der gerne bereit ist, der sexuellen
Ätiologie bei seinen neurasthenisch Ehanken Rechnung zu tragen,
es doch als eine Einseitigkeit rügen, wenn er nicht aufgefordert
wird, auch den anderen Momenten, die als Ursachen der Neur¬
asthenie bei den Autoren allgemein erwähnt sind, seine Aufmerk¬
samkeit zu schenken. Es fällt mir nun nicht ein, die sexuelle
Ätiologie bei den Neurosen jeder anderen zu substituieren, so daß
ich deren Wirksamkeit für aufgehoben erklären würde. Das wäre
ein Mißverständnis. Ich meine vielmehr, zu all den bekannten
und wahrscheinlich mit Recht anerkannten ätiologischen Momenten
der Autoren für die Entstehung der Neurasthenie kommen die
sexuellen, die bisher nicht hinreichend gewürdigt worden sind,
noch hinzu. Diese verdienen aber, nach meiner Schätzung, daß
man ihnen in der ätiologischen Reihe eine besondere Stellung
an weise. Denn sie allein werden in keinem Falle von Neurasthenie
vermißt, sie allein vermögen es, die Neurose ohne weitere Beihilfe
zu erzeugen, so daß diese anderen Momente zur RoUe einer Hilfs-
und Supplementärätiologie herabgedrückt scheinen ^ sie allein ge¬
statten dem Arzte, sichere Beziehungen zwischen ihrer Mannig¬
faltigkeit und der Vielheit der Krankheitsbilder zu erkennen. Wenn
ich dagegen die Fälle zusammenstelle, die angeblich durch Über¬
arbeitung, Gemütsaufregung, nach einem Typhus u. dgl. neurasthe¬
nisch geworden sind, so zeigen sie mir in den Symptomen nichts
Gemeinsames, ich wüßte aus der Art der Ätiologie keine Erwartung
in betreff der Symptome zu bilden, wie umgekehrt aus dem Khank-
heitsbilde nicht auf die einwirkende Ätiologie zu schließen.
Die sexuellen Ursachen sind auch jene, welche dem Arzte am
ehesten einen Anhalt für sein therapeutisches Wirken bieten. Die
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen
449
Heredität ist unzweifelhaft ein bedeutsamer Faktor, wo sie sich
findet5 sie gestattet, daß ein großer Krankheitseffekt zustande
kommt, wo sich sonst nur ein sehr geringer ergeben hätte. Allein
die Heredität ist der Beeinflussung des Arztes unzugänghch^ ein
jeder bringt seine hereditären Krankheitsneigungen mit sich^ wir
können nichts mehr daran ändern. Auch dürfen wir nicht ver¬
gessen, daß wir gerade in der Ätiologie der Neurasthenien der
Heredität den ersten Rang notwendig versagen müssen. Die Neur¬
asthenie (in beiden Formen) gehört zu den Affektionen, die jeder
erblich Unbelastete bequem erwerben kann. Wäre es anders, so
wäre ja die riesige Zunahme der Neurasthenie undenkbar, über
welche alle Autoren klagen. Was die Zivilisation betrifft, zu deren
Sündenregister man oft die Verursachung der Neurasthenie zu
schreiben pflegt, so mögen auch hierin die Autoren Recht haben
(wiewohl wahrscheinlich auf ganz anderen Wegen, als sie ver¬
meinen)^ aber der Zustand unserer Zivilisation ist gleichfalls für
den einzelnen etwas Unabänderhches^ übrigens erklärt dieses
Moment bei seiner Allgemeingültigkeit für die Mitglieder der¬
selben Gesellschaft niemals die Tatsache der Auswahl bei der Er¬
krankung. Der nicht neurasthenische Arzt steht ja unter demselben
Einflüsse der angeblich unheilvollen Zivilisation wie der neurasthe¬
nische Kranke, den er behandeln soll. — Die Bedeutung er¬
schöpfender Einflüsse bleibt mit der oben gegebenen Einschrän¬
kung bestehen. Aber mit dem Momente der „Überarbeitung^^,
das die Ärzte so gerne ihren Patienten als Ursache ihrer Neurose
gelten lassen, wird übermäßig viel Mißbrauch getrieben. Es ist
ganz richtig, daß jeder, der sich durch sexuelle Schädhchkeiten
zur Neurasthenie disponiert hat, die intellektuelle Arbeit und die
psychischen Mühen des Lebens schlecht verträgt, aber niemals
wird jemand durch Arbeit oder durch Aufregung allein neurotisch.
Geistige Arbeit ist eher ein Schutzmittel gegen neurasthenische
Erkrankung; gerade die ausdauerndsten intellektuellen Arbeiter
bleiben von der Neurasthenie verschont, und was die Neurasthe-
Freud, I.
29
450
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
niker als „krankmachende Überarbeitung^^ anklagen, das verdient
in der Regel weder der Qualität noch dem Ausmaße nach als
„geistige Arbeit^^ anerkannt zu werden. Die Ärzte werden sich wohl
gewöhnen müssen, dem Beamten, der sich in seinem Bureau „über-
angestrengt^^, oder der Hausfrau, der ihr Hauswesen zu schwer
geworden ist, die Aufklärung zu geben, daß sie nicht erkrankt sind,
weil sie versucht haben, ihre für ein zivilisiertes Gehirn eigentlich
leichten Pflichten zu erfüllen, sondern weil sie während dessen ihr
Sexualleben gröblich vernachlässigt und verdorben haben.
Nur die sexuelle Ätiologie ermöglicht uns ferner das Verständnis
aller Einzelheiten der Krankengeschichten bei Neurasthenikern, der
rätselhaften Besserungen mitten im Krankheitsverlaufe und der
ebenso unbegreiflichen Verschlimmerungen, die von Ärzten und
Kranken dann gewöhnlich mit der eingeschlagenen Therapie in
Beziehung gebracht werden. In meiner mehr als zw^eihundert Fälle
umfassenden Sammlung ist z. B. die Geschichte eines Mannes
verzeichnet, der, nachdem ihm die hausärztliche Behandlung nichts
genützt hatte, zu Pfarrer Kneipp ging und von dieser Kur an
ein Jahr von außerordentlicher Besserung mitten in seinen Leiden
zu verzeichnen hatte. Als aber ein Jahr später die Beschwerden
sich wieder verstärkten und er neuerdings Hilfe in Wörishofen
suchte, blieb der Erfolg dieser zweiten Kur aus. Ein Blick in die
Familienchronik dieses Patienten löst das zweifache Rätsel auf:
sechseinhalb Monate nach der ersten Rückkehr aus Wörishofen
wurde dem Kranken von seiner Frau ein Kind geboren^ er hatte
sie also zu Beginn einer noch unerkannten Gravidität verlassen
und durfte nach seiner Wiederkunft natürlichen Verkehr mit ihr
pflegen. Als nach Ablauf dieser für ihn heilsamen Zeit seine
Neurose durch neuerlichen Coitus interruptus wieder angefacht
war, mußte sich die zweite Kur erfolglos erweisen, da jene oben
erwähnte Gravidität die letzte blieb.
Ein ähnlicher Fall, in dem gleichfalls eine unerwartete Ein¬
wirkung der Therapie zu erklären war, gestaltete sich noch lehr-
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen 451
reicher, indem er eine rätselhafte Abwechslung in den Symptomen
der Neurose enthielt. Ein jugendlicher Nervöser war von seinem
Arzte in eine wohlgeleitete Wasserheilanstalt wegen typischer
Neurasthenie geschickt worden. Dort besserte sich sein Zustand
anfänglich immer mehr, so daß alle Aussicht vorhanden war, den
Patienten als dankbaren Anhänger der Hydrotherapie zu entlassen.
Da trat in der sechsten Woche ein Umschlag ein^ der Kranke
„vertrug das Wasser nicht mehr^^, wurde immer nervöser und
verließ endlich nach zwei weiteren Wochen ungeheilt und unzu¬
frieden die Anstalt. Als er sich bei mir über diesen Trug der
Therapie beklagte, erkundigte ich mich ein wenig nach den Sym¬
ptomen, die ihn mitten in der Kur befallen hatten. Merkwürdiger¬
weise hatte sich darin ein Wandel vollzogen. Er war mit Kopf¬
druck, Müdigkeit und Dyspepsie in die Anstalt gegangen^ was
ihn in der Behandlung gestört hatte, waren: Aufgeregtheit, An¬
fälle von Beklemmung, Schwindel im Gehen und Sclilafstörung
gewesen. Nun konnte ich dem Kranken sagen: „Sie tun der Hydro¬
therapie Unrecht. Sie sind, wie Sie selbst sehr wohl gewußt haben,
infolge von lange fortgesetzter Masturbation erkrankt. In der
Anstalt haben sie diese Art der Befriedigung aufgegeben und sich
darum rasch erholt. Als Sie sich aber wohl fühlten, haben Sie
unklugerweise Beziehungen zu einer Dame, nehmen wir an, einer
Mitpatientin, gesucht, die nur zur Aufregung ohne normale Be¬
friedigung führen konnten. Die schönen Spaziergänge in der Nähe
der Anstalt gaben Ihnen gute Gelegenheit dazu. An diesem Ver^
hältnisse sind Sie von neuem erkrankt, nicht an einer plötzlich
aufgetretenen Intoleranz gegen die Hydrotherapie. Aus Ihrem
gegenwärtigen Befinden schließe ich übrigens, daß Sie dasselbe
Verhältnis auch in der Stadt fortsetzen.“ Ich kann versichern, daß
der Kranke mich dann Punkt für Punkt bestätigt hat.
Die gegenwärtige Therapie der Neurasthenie, wie sie wohl am
günstigsten in den Wasserheilanstalten geübt wird, setzt sich das
Ziel, die Besserung des nervösen Zustandes durch zwei Momente:
29*
452
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Schonung und Stärkung des Patienten zu erreichen. Ich wüßte
nichts anderes gegen diese Therapie vorzubringen, als daß sie den
sexuellen Bedingungen des Falles keine Rechnung trägt. Nach
meiner Erfahrung ist es höchst wünschenswert, daß die ärztlichen
Leiter solcher Anstalten sich genügend klar machen, daß sie es
nicht mit Opfern der Zivilisation oder der Heredität, sondern —
sit venia verbo — mit Sexualitätskrüppeln zu tun haben. Sie
würden sich dann einerseits ihre Erfolge wie ihre Mißerfolge
leichter erklären, anderseits aber neue Erfolge erzielen, die bis jetzt
dem Zufalle oder dem unbeeinflußten Verhalten des Kranken an¬
heimgegeben sind. Wenn man eine ängstlich-neurasthenische Frau
von ihrem Hause weg in die Wasserheilanstalt schickt, sie dort,
aller Pflichten ledig, baden, turnen und sich reichlich ernähren
läßt, so wird man gewiß geneigt sein, die oft glänzende Besse¬
rung, die so in einigen Wochen oder Monaten erreicht wird, auf
Rechnung der Ruhe, welche die Kranke genossen hat, und der
Stärkung, die ihr die Hydrotherapie gebracht hat, zu setzen. Das
mag so sein^ man übersieht aber dabei, daß mit der Entfernung
vom Hause für die Patientin auch eine Unterbrechung des ehe¬
lichen Verkehrs” gegeben] ist, und daß erst diese zeitweihge Aus¬
schaltung der krankmachenden Ursache ihr die Möghchkeit gibt,
sich bei zweckmäßiger Therapie zu erholen. Die Vernachlässigung
dieses ätiologischen Gesichtspunktes rächt sich nachträglich, indem
der scheinbar so befiiedigende Heilerfolg sich als sehr flüchtig er¬
weist. Kurze Zeit, nachdem der Patient in seine Lebensverhältnisse
zurückgekehrt ist, stellen sich die Symptome des Leidens wieder
ein und nötigen ihn, entweder immer von Zeit zu Zeit einen
Teil seiner Existenz unproduktiv in solchen Anstalten zu ver¬
bringen, oder veranlassen ihn, seine Hoffnungen auf Heilung
anderswohin zu richten. Es ist also klar, daß die therapeutischen
Aufgaben bei der Neurasthenie nicht in den Wasserheilanstalten,
sondern innerhalb der Lebensverhältnisse der Kranken in Angriff
zu nehmen sind.
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen 455
Bei anderen Fällen kann unsere ätiologische Lehre dem Anstaltsarzte
Aufklärung über die Quelle von Mißerfolgen geben, die sich noch in
der Anstalt selbst ereignen, und ihm nahelegen, wie solche zu
vermeiden sind. Die Masturbation ist bei erwachsenen Mädchen
und reifen Männern weit häufiger, als man anzunehmen pflegt,
und wirkt als Schädlichkeit nicht nur durch die Erzeugung der
neurasthenischen Symptome, sondern auch, indem sie die Kranken
unter dem Drucke eines als schändlich empfundenen Geheimnisses
erhält. Der Arzt, der nicht gewohnt ist, Neurasthenie in Mastur¬
bation zu übersetzen, gibt sich für den Krankheitszustand Rechen¬
schaft, indem er sich auf ein Schlagwort wie Anämie, Unter¬
ernährung, Überarbeitung usw. bezieht, und erwartet nun bei An¬
wendung der dagegen ausgearbeiteten Therapie die Heilung seines
Kranken. Zu seinem Erstaunen wechseln aber beim Kranken Zeiten
von Besserung mit anderen ab, in denen unter schwerer Verstim¬
mung alle Symptome sich verschlimmern. Der Ausgang einer
solchen Behandlung ist im allgemeinen zweifelhaft. Wüßte der
Arzt, daß der Kranke die ganze Zeit über mit seiner sexuellen
Angewöhnung kämpft, daß er in Verzweiflung verfallen ist, weil
er ihr wieder einmal unterliegen mußte, verstünde er, dem Kranken
sein Geheimnis abzunehmen, dessen Schwere in seinen Augen zu
entwerten, und ihn bei seinem Abgewöhnungskampfe zu unter¬
stützen, so würde der Erfolg der therapeutischen Bemühung hie¬
durch wohl gesichert.
Die Abgewöhnung der Masturbation ist nur eine der neuen
therapeutischen Aufgaben, welche dem Arzte aus der Berücksichti¬
gung der sexuellen Ätiologie erwachsen, und diese Aufgabe gerade
scheint wie jede andere Abgewöhnung nur in einer Krankenanstalt
und unter beständiger Aufsicht des Arztes lösbar. Sich selbst über¬
lassen, pflegt der Masturbant bei jeder verstimmenden Einwirkung
auf die ihm bequeme Befriedigung zurückzugreifen. Die ärzthche
Behandlung kann sich hier kein anderes Ziel stecken, als den
wieder gekräftigten Neurastheniker dem normalen Geschlechts-
454
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
verkehre zuzuführen, denn das einmal geweckte und durch eine
geraume Zeit befriedigte Sexualbedürfnis läßt sich nicht mehr zum
Schweigen bringen, sondern bloß auf einen anderen Weg ver¬
schieben. Eine ganz analoge Bemerkung gilt übrigens auch für
alle anderen Abstinenzkuren, die so lange nur scheinbar gelingen
werden, so lange sich der Arzt damit begnügt, dem Kranken das
narkotische Mittel zu entziehen, ohne sich um die Quelle zu
kümmern, aus welcher das imperative Bedürfnis nach einem solchen
entspringt. „Gewöhnung^^ ist eine bloße Redensart ohne aufklären¬
den Wert^ nicht jedermann, der eine Zeitlang Morphium, Kokain,
Chloralhydrat u. dgl. zu nehmen Gelegenheit hat, erwirbt hie¬
durch die „Sucht^^ nach diesen Dingen. Genauere Untersuchung
weist in der Regel nach, daß diese Narkotika zum Ersätze —
direkt oder auf Umwegen — des mangelnden Sexualgenusses be¬
stimmt sind, und wo sich normales Sexualleben nicht mehr her¬
steilen läßt, da darf man den Rückfall des Entwöhnten mit Sicher¬
heit erwarten.
Die andere Aufgabe wird dem Arzte durch die Ätiologie der
Angstneurose gestellt und besteht darin, den Kranken zum Verlassen
aller schädlichen Arten des Sexualverkehrs und zur Aufnahme
normaler sexueller Beziehungen zu veranlassen. Wie begreiflich,
fällt diese Pflicht vor allem dem ärztlichen Vertrauensmanne des
Kranken, dem Hausarzte, zu, der seine Klienten schwer schädigt,
wenn er sich zu vornehm hält, um in diese Sphäre einzu¬
greifen.
Da es sich hiebei zumeist um Ehepaare handelt, stößt das Be¬
mühen des Arztes alsbald mit den malthusianischen Tendenzen,
die Anzahl der Konzeptionen in der Ehe einzuschränken, zusammen.
Es scheint mir unzweifelhaft, daß diese Vorsätze in unserem Mittel¬
stände immer mehr an Ausbreitung gewinnen^ ich bin Ehepaaren
begegnet, die schon nach dem ersten Kinde die Verhütung der
Konzeption durchzuführen begannen, und anderen, deren sexueller
Verkehr von der Hochzeitsnacht an diesem Vorsatze Rechnung
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen 455
tragen wollte. Das Problem des Malthusianismus ist weitläufig und
kompliziert^ ich habe nicht die Absicht, es hier erschöpfend zu
behandeln, wie es für die Therapie der Neurosen eigentlich er¬
forderlich wäre. Ich gedenke nur zu erörtern, welche Stellung der
Arzt, der die sexuelle Ätiologie der Neurosen anerkennt, zu diesem
Problem am besten einnehmen kann.
Das Verkehrteste ist es offenbar, wenn er dasselbe — unter
welchen Vorwänden immer — ignorieren will. Was notwendig
ist, kann nicht unter meiner ärztlichen Würde sein, und es ist
notwendig, einem Ehepaare, das an die Einschränkung der Kinder¬
zeugung denkt, mit ärztlichem Rate beizustehen, wenn man
nicht einen Teil oder beide der Neurose aussetzen will. Es läßt
sich nicht bestreiten, daß malthusianische Vorkehrungen irgend
einmal in einer Ehe zur Notwendigkeit werden, und theoretisch
wäre es einer der größten Triumphe der Menschheit, eine der
fühlbarsten Befreiungen vom Naturzwange, dem unser Geschlecht
unterworfen ist, wenn es gelänge, den verantwortlichen Akt der
Kinderzeugung zu einer willkürlichen und beabsichtigten Handlung
zu erheben, und ihn von der Verquickung mit der notwendigen
Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses loszulösen.
Der einsichtsvolle Arzt wird es also auf sich nehmen zu ent¬
scheiden, unter welchen Verhältnissen die Anwendung von Ma߬
regeln zur Verhütung der Konzeption gerechtfertigt ist, und wird
die schädlichen unter diesen Hilfsmitteln von den harmlosen zu
sondern haben. Schädlich ist alles, was das Zustandekommen der
Befriedigung hindert 5 bekanntlich besitzen wir aber derzeit kein
Schutzmittel gegen die Konzeption, welches allen berechtigten An¬
forderungen genügen würde, d. h. sicher, bequem ist, der Lust¬
empfindung beim Koitus nicht Eintrag tut und das Feingefühl der
Frau nicht verletzt. Hier ist den Ärzten eine praktische Aufgabe
gestellt, an deren Lösung sie ihre Kräfte dankbringend setzen
können. Wer jene Lücke in unserer ärztlichen Technik ausfüllt,
der hat Unzähligen den Lebensgenuß erhalten und die Gesund-
456
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
heit bewahrt, freilich dabei auch eine tief einschneidende Verände¬
rung in unseren gesellschaftlichen Zuständen angebahnt.
Hiemit sind die Anregungen nicht erschöpft, die aus der Er¬
kenntnis einer sexuellen Ätiologie der Neurosen fließen. Die Haupt¬
leistung, die uns zugunsten der Neurastheniker möglich ist, fällt
in die Prophylaxis. Wenn die Masturbation die Ursache der Neur¬
asthenie in der Jugend ist und späterhin durch die von ihr ge¬
schaffene Verminderung der Potenz auch zu ätiologischer Bedeu¬
tung für die Angstneurose gelangt, so ist die Verhütung der
Masturbation bei beiden Geschlechtern eine Aufgabe, die mehr
Beachtung verdient, als sie bis jetzt gefunden hat. Überdenkt man
alle die feineren und gröberen Schädigungen, die von der angeblich
immer mehr um sich greifenden Neurasthenie ausgehen, so erkennt
man geradezu ein Volksinteresse darin, daß die Männer mit
voller Potenz in den Sexualverkehr eintreten. In Sachen
der Prophylaxis aber ist der einzelne ziemlich ohnmächtig. Die
Gesamtheit muß ein Interesse an dem Gegenstände gewinnen
und ihre Zustimmung zur Schöpfung von gemeingültigen Ein¬
richtungen geben. Vorläufig sind wir von einem solchen Zustande,
der Abhilfe versprechen würde, noch weit entfernt, und darum kann
man mit Recht auch unsere Zivilisation für die Verbreitung der
Neurasthenie verantwortlich machen. Es müßte sich vieles ändern.
Der Widerstand einer Generation von Ärzten muß gebrochen
werden, die sich nicht mehr an ihre eigene Jugend erinnern
können; der Hochmut der Väter ist zu überwinden, die vor ihren
Kindern nicht gerne auf das Niveau der Menschlichkeit herab¬
steigen wollen, die unverständige Verschämtheit der Mütter ist zu
bekämpfen, denen es jetzt regelmäßig als unerferschliche, aber un¬
verdiente Schicksalsfügung erscheint, daß „gerade ihre Kinder
nervös geworden sind“. Vor allem aber muß in der öffentlichen
Meinung Raum geschaffen werden für die Diskussion der Pro¬
bleme des Sexuallebens; man muß von diesen reden können, ohne
für einen Ruhestörer oder für einen Spekulanten auf niedrige
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen
457
Instinkte erklärt zu werden. Und somit verbliebe auch hier ge¬
nügend Arbeit für ein nächstes Jahrhundert, in dem unsere Zivili¬
sation es verstehen soll, sich mit den Ansprüchen unserer Sexualität
zu vertragen!
Der Wert einer richtigen diagnostischen Scheidung der Psycho-
neurosen von der Neurasthenie bezeigt sich auch darin, daß die
ersteren eine andere praktische Würdigung und besondere thera¬
peutische Maßnahmen erfordern. Die Psychoneurosen treten unter
zweierlei Bedingungen auf, entweder selbständig oder im Gefolge
der Aktualneurosen (Neurasthenie und Angstneurose). Im letzteren
Falle hat man es mit einem neuen, übrigens sehr häufigen Typus
von gemischten Neurosen zu tun. Die Ätiologie der Aktualneurose
ist zur Hilfsätiologie der Psychoneurose geworden^ es ergibt sich
ein Krankheitsbild, in dem etwa die Angstneurose vorherrscht, das
aber sonst Züge der echten Neurasthenie, der Hysterie und der
Zwangsneurose enthält. Man tut nicht gut, angesichts einer solchen
Vermengung etwa auf eine Sonderung der einzelnen neurotischen
Krankheitsbilder zu verzichten, da es doch nicht schwer ist, sich
den Fall in folgender Weise zurechtzulegen: Wie die vorwiegende
Ausbildung der Angstneurose beweist, ist hier die Erkrankung
unter dem ätiologischen Einfluß einer aktuellen sexuellen Schädlich¬
keit entstanden. Das betreffende Individuum war aber außerdem
zu einer oder mehreren Psychoneurosen durch eine besondere
Ätiologie disponiert und wäre irgend einmal spontan oder bei
Hinzutritt eines andern schwächenden Moments an Psychoneurose
erkrankt. Nun ist die noch fehlende Hilfsätiologie für die Psycho¬
neurose durch die aktuelle Ätiologie der Angstneurose hinzugefügt
worden.
Für solche Fälle hat sich mit Recht die therapeutische Übung
eingebürgert, von der psychoneurotischen Komponente im Krank¬
heitsbilde abzusehen und ausschließlich die Aktualneurose zu be¬
handeln. Es gelingt in sehr vielen Fällen, auch der mitgerissenen
Neurose Herr zu werden, wenn man der Neurasthenie zweck-
45 ^
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
mäßig entgegentritt. Eine andere Beurteilung erfordern aber jene
Fälle von Psychoneurose, die, sei es spontan auftreten, oder nach
dem Ablaufe einer aus Neurasthenie und Psychoneurose gemengten
Erkrankung als selbständig übrig bleiben. Wenn ich von „spon¬
tanem“ Auftreten einer Psychoneurose gesprochen habe, so meine
ich damit nicht etwa, daß man bei anamnestischer Nachforschung
jedes ätiologische Moment vermißt. Dies kann wohl der Fall sein,
man kann aber auch auf ein indifferentes Moment, eine Gemüts¬
bewegung, Schwächung durch somatische Erkrankung u. dgl. hin¬
gewiesen werden. Doch muß man für alle diese Fälle festhalten,
daß die eigentliche Ätiologie der Psychoneurosen nicht in diesen
Veranlassungen liegt, sondern der gewöhnlichen Weise anamnesti¬
scher Erhebung unfaßbar bleibt.
Wie bekannt, ist es diese Lücke, welche man versucht hat,
durch die Annahme einer besonderen neuropathischen Disposition
auszufüllen, deren Existenz einer Therapie solcher Krankheitszu¬
stände freilich nicht viel Aussicht auf Erfolg übrig ließe. Die
neuropathische Disposition selbst wird als Zeichen einer allge¬
meinen Degeneration aufgefaßt, und somit gelangt dieses be¬
queme Kunstwort zu einer überreichlichen Verwendung gegen
die armen Kranken, denen zu helfen die Ärzte recht ohnmächtig
sind. Zum Glück steht es anders. Die neuropathische Disposition
existiert wohl, aber ich muß bestreiten, daß sie zur Erzeugung
der Psychoneurose hinreicht. Ich muß ferner bestreiten, daß das
Zusammentreffen von neuropathischer Disposition und veranlassen¬
den Ursachen des späteren Lebens eine ausreichende Ätiologie
der Psychoneurosen darstellt. Man ist in der Zurückführung der
Krankheitsschicksale des einzelnen auf die Erlebnisse seiner Ahnen
zu weit gegangen und hat daran vergessen, daß zwischen der
Empfängnis und der Reife des Individuums ein langer und be¬
deutsamer Lebensabschnitt liegt, die Kindheit, in welcher die
Keime zu späterer Erkrankung erworben werden können. So ist
es tatsächlich bei der Psychoneurose. Ihre wirkliche Ätiologie ist
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen 45g
zu finden in Erlebnissen der Kindheit, und zwar wiederum —
und ausschließlich — in Eindrücken, die das sexuelle Leben be¬
treffen. Man tut Unrecht daran, das Sexualleben der Kinder völlig
zu vernachlässigen^ sie sind, so viel ich erfahren habe, aller psy¬
chischen und vieler somatischen Sexualleistungen fähig. So wenig
die äußeren Genitalien und die beiden Keimdrüsen den ganzen
Geschlechtsapparat des Menschen darstellen, ebensowenig beginnt
sein Geschlechtsleben erst mit der Pubertät, wie es der groben
Beobachtung erscheinen mag. Es ist aber richtig, daß die Organi¬
sation und Entwicklung der Spezies Mensch eine ausgiebigere se¬
xuelle Betätigung im Kindesalter zu vermeiden strebt^ es scheint,
daß die sexuellen Triebkräfte beim Menschen aufgespeichert werden
sollen, um dann bei ihrer Entfesselung zur Zeit der Pubertät
großen kulturellen Zwecken zu dienen. (Wilh. Fließ.) Aus einem
derartigen Zusammenhänge läßt sich etwa verstehen, warum se¬
xuelle Erlebnisse des Kindesalters pathogen wirken müssen. Sie
entfalten ihre Wirkung aber nur zum geringsten Maße zur Zeit,
da sie verfallen^ weit bedeutsamer ist ihre nachträgliche
Wirkung, die erst in späteren Perioden der Reifung eintreten
kann. Diese nachträgliche Wirkung geht, wie nicht anders möglich,
von den psychischen Spuren aus, welche die infantilen Sexual¬
erlebnisse zurückgelassen haben. In dem Intervall zwischen dem
Erleben dieser Eindrücke und deren Reproduktion (vielmehr dem
Erstarken der von ihnen ausgehenden libidinösen Impulse) hat
nicht nur der somatische Sexualapparat, sondern auch der psy¬
chische Apparat eine bedeutsame Ausgestaltung erfahren, und
darum erfolgt auf die Einwirkung jener früheren sexuellen Er¬
lebnisse nun eine abnorme psychische Reaktion, es entstehen
psychopathologische Bildungen.
In diesen Andeutungen konnte ich nur die Hauptmomente an¬
führen, auf welche sich die Theorie der Psychoneurosen stützt:
die Nachträglichkeit, den infantilen Zustand des Geschlechts¬
apparates und des Seeleninstrumentes. Um ein wirkliches Ver-
460
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
ständnis des Entstehungsmechanismus der Psychoneurosen zu er¬
zielen, brauchte es breiterer Ausführungen^ vor allem wäre es
unvermeidlich, gewisse Annahmen über die Zusammensetzung und
die Arbeitsweise des psychischen Apparates, die mir neu scheinen,
als glaubwürdig hinzustellen. In einem Buche über „Traum-
deutung^^, das ich gegenwärtig vorbereite, werde ich die Ge¬
legenheit finden, jene Fundamente einer Neurosenpsychologie
zu berühren. Der Traum gehört nämlich in dieselbe Reihe psy-
chopathologischer Bildungen wie die hysterische fixe Idee, die
Zwangsvorstellung und die Wahnidee.
Da die Erscheinungen der Psychoneurosen vermittels der Nach-
träghchkeit von unbewußten psychischen Spuren aus entstehen,
werden sie der Psychotherapie zugänglich, die allerdings hier an¬
dere Wege einschlagen muß als den bis jetzt einzig begangenen
der Suggestion mit oder ohne Hypnose. Auf der von J. Breuer
angegebenen „kathartischen“ Methode fußend, habe ich in den
letzten Jahren ein therapeutisches Verfahren nahezu ausgearbeitet,
welches ich das „psychoanalytische^^ heißen will, und dem
ich zahlreiche Erfolge verdanke, während ich hoffen darf, seine
Wirksamkeit noch erheblich zu steigern. In den 1895 veröffent¬
lichten Studien über Hysterie (mit J. Breuer) sind die ersten
Mitteilungen über Technik und Tragweite der Methode gegeben
worden. Seither hat sich manches, wie ich behaupten darf, zum
Besseren daran geändert. Während wir damals bescheiden aus¬
sagten, daß wir nur die Beseitigung von hysterischen Symptomen,
nicht die Heilung der Hysterie selbst in Angriff nehmen könnten,
hat sich mir seither diese Unterscheidung als inhaltslos heraus-
gesteUt, also die Aussicht auf wirkliche Heilung der Hysterie und
Zwangsvorstellungen ergeben. Es hat mich darum recht lebhaft
interessiert, in den Publikationen von Fachgenossen zu lesen: In
diesem Falle habe das sinnreiche, von Breuer und Freud er¬
sonnene Verfahren versagt, oder: Die Methode habe nicht ge¬
halten, was sie zu versprechen schien. Ich hatte dabei etwa die
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen
461
Empfindungen eines Menschen, der in der Zeitung seine Todes¬
anzeige findet, sich aber dabei in seinem Besserwissen beruhigt
fühlen darf. Das Verfahren ist nämlich so schwierig, daß es durch¬
aus erlernt werden muß 5 und ich kann mich nicht besinnen, daß
es einer meiner Kritiker von mir hätte erlernen wollen, glaube auch
nicht, daß sie sich, ähnlich wie ich, genug intensiv damit beschäftigt
haben, um es selbständig auffinden zu können. Die Bemerkungen
in den Studien über Hysterie sind vollkommen unzureichend, um
einem Leser die Beherrschung dieser Technik zu ermöglichen, streben
solche vollständige Unterweisung auch keineswegs an.
Die psychoanalytische Therapie ist derzeit nicht allgemein an¬
wendbar; ich kenne für sie folgende Einschränkungen: Sie er¬
fordert ein gewisses Maß von Reife und Einsicht beim Kranken,
taugt daher nicht für kindliche Personen oder für erwachsene
Schwachsinnige und Ungebildete. Sie scheitert bei allzu betagten
Personen daran, daß sie bei ihnen, dem angehäuften Material ent¬
sprechend, allzuviel Zeit in Anspruch nehmen würde, so daß man
bis zur Beendigung der Kur in einen Lebensabschnitt geraten
würde, für welchen auf nervöse Gesundheit nicht mehr Wert
gelegt wird. Endlich ist sie nur dann möglich, wenn der Kranke
einen psychischen Normalzustand hat, von dem aus sich das patholo¬
gische Material bewältigen läßt. Während einer hysterischen Ver¬
worrenheit, einer eingeschalteten Manie oder Melancholie ist mit
den Mitteln der Psychoanalyse nichts zu leisten. Man kann solche
Fälle dem Verfahren noch unterziehen, nachdem man mit den ge¬
wöhnlichen Maßregeln die Beruhigung der stürmischen Erschei¬
nungen herbeigeführt hat. In der Praxis werden überhaupt die
chronischen Fälle von Psychoneurosen besser der Methode stand¬
halten als die Fälle von akuten Krisen, bei denen das Haupt¬
gewicht naturgemäß auf die Raschheit der Erledigung fällt. Daher
geben auch die hysterischen Phobien und die verschiedenen
Formen der Zwangsneurose das günstigste Arbeitsgebiet für diese
neue Therapie.
462
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Daß die Methode in diese Schranken gebannt ist, erklärt sich
zum guten Teil aus den Verhältnissen, unter denen ich sie aus¬
arbeiten mußte. Mein Material sind eben chronisch Nervöse der
gebildeteren Stände. Ich halte es für sehr wohl möglich, daß sich
ergänzende Verfahren für kindliche Personen und für das Pu¬
blikum, welches in den Spitälern Hilfe sucht, ausbilden lassen. Ich
muß auch anführen, daß ich meine Therapie bisher ausschließlich
an schweren Fällen von Hysterie und Zwangsneurose erprobt habe;
wie es sich bei jenen leichten Erkrankungsfällen gestalten würde,
die man bei einer indifferenten Behandlung von wenigen Monaten
in wenigstens scheinbare Genesung ausgehen sieht, weiß ich nicht
anzugeben. Wie begreiflich, durfte eine neue Therapie, die viel¬
fache Opfer erfordert, nur auf solche Kranke rechnen, die bereits
die anerkannten Heilmethoden ohne Erfolg versucht hatten, oder
deren Zustände den Schluß berechtigten, sie hätten von diesen
angeblich bequemeren und kürzeren Heilverfahren nichts zu er¬
warten. So mußte ich mit einem unvollkommenen Instrumente
sogleich die schwersten Aufgaben in Angriff nehmen; die Probe
ist um so beweiskräftiger ausgefallen.
Die wesentlichen Schwierigkeiten, die sich jetzt noch der
psychoanalytischen Heilmethode entgegensetzen, liegen nicht an
ihr selbst, sondern in dem Mangel an Verständnis für das Wesen
der Psychoneurosen bei Ärzten und Laien. Es ist nur das not¬
wendige Korrelat zu dieser vollen Unwissenheit, wenn sich die
Ärzte für berechtigt halten, den Kranken durch die unzutref¬
fendsten Versicherungen zu trösten oder zu therapeutischen
Maßnahmen zu veranlassen. „Kommen Sie für sechs Wochen
in meine Anstalt und Sie w^erden Ihre Symptome (Reiseangst,
Zwangsvorstellungen usw.) verloren haben. Tatsächlich ist die
Anstalt unentbehrlich für die Beruhigung akuter Zufälle im
Verlaufe einer Psychoneurose durch Ablenkung, Pflege und
Schonung; zur Beseitigung chronischer Zustände leistet sie —
nichts, und zwar die vornehmen, angeblich wissenschaftlich ge-
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen
465
leiteten Sanatorien ebensowenig wie die gemeinen Wasserheil¬
anstalten.
Es wäre würdiger und dem Kranken, der sich doch schließlich
mit seinen Beschwerden abfinden muß, zuträglicher, wenn der
Arzt die Wahrheit sprechen würde, wie er sie alle Tage kennen
lernt: Die Psychoneurosen sind als Genus keineswegs leichte Er¬
krankungen. Wenn eine Hysterie anfängt, kann niemand vorher
wissen, wann sie ein Ende nehmen wird. Man tröstet sich meist
vergeblich mit der Prophezeiung: Eines Tages wird sie plötzlich
vorüber sein. Die Heilung erweist sich häufig genug als ein
bloßes Übereinkommen zur gegenseitigen Duldung zwischen dem
Gesunden und dem Kranken im Patienten oder erfolgt auf dem
Wege der Umwandlung eines Symptoms in eine Phobie. Die
mühsam beschwichtigte Hysterie des Mädchens lebt nach kurzer
Unterbrechung durch das junge Eheglück in der Hysterie der
Ehefrau wieder auf, nur daß jetzt eine andere Person als früher,
der Ehemann, durch sein Interesse veranlaßt wird, über den Er¬
krankungsfall zu schweigen. Wo es nicht zu manifester Existenz¬
unfähigkeit infolge von Krankheit kommt, da fehlt doch fast nie
die Einbuße an aller freien Entfaltung der Seelenkräfte. Zwangs¬
vorstellungen kehren das ganze Leben hindurch wieder; Phobien
und andere Willenseinschränkungen sind für jede Therapie bisher
unbeeinflußbar gewesen. Das alles wird dem Laien vorenthalten,
und darum ist der Vater einer hysterischen Tochter entsetzt, wenn
er z. B. einer einjährigen Behandlung seines Kindes zustimmen
soll, wo doch die Krankheit etwa erst einige Monate gedauert hat.
Der Laie ist sozusagen von der Überflüssigkeit all dieser Psycho¬
neurosen tief innerlich überzeugt, er bringt darum dem Krank¬
heitsverlaufe keine Geduld und der Therapie keine Opferbereit¬
schaft entgegen. Wenn er sich angesichts eines Typhus, der drei
Wochen anhält, eines Beinbruches, der zur Heilung sechs Monate
beansprucht, verständiger benimmt, wenn ihm die Fortsetzung
orthopädischer Maßnahmen durch mehrere Jahre einsichtlich er-
464
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
scheint, sobald sich die ersten Spuren einer Rückgratsverkrüm¬
mung bei seinem Kinde zeigen, so rührt dieser Unterschied von
dem besseren Verständnis der Ärzte her, die ihr Wissen in ehr¬
licher Mitteilung dem Laien übertragen. Die Aufrichtigkeit der
Ärzte und die Gefügigkeit der Laien wird sich auch für die
Psychoneurosen herstellen, wenn erst die Einsicht in das Wesen
dieser Affektionen ärztliches Gemeingut geworden ist. Die psycho¬
therapeutische Radikalbehandlung derselben wird wohl immer
eine besondere Schulung erfordern und mit der Ausübung anderer
ärztlicher Tätigkeit unverträglich sein. Dafür winkt dieser, in der
Zukunft wohl zahlreichen, Klasse von Ärzten Gelegenheit zu
rühmlichen Leistungen und eine befriedigende Einsicht in das
Seelenleben der Menschen.
ÜBER DECKERINNERUNGEN
Zuerst erschienen in der ^Monatsschrift für
Psjrchiatrie und Neurologie^^l8^p.
Im Zusammenhänge meiner psychoanalytischen Behandlungen
(bei Hysterie, Zwangsneurose u. a.) bin ich oftmals in die Lage
gekommen, mich um die Bruchstücke von Erinnerungen zu be¬
kümmern, die den einzelnen aus den ersten Jahren ihrer Kind¬
heit im Gedächtnisse geblieben sind. Wie ich schon an anderer
Stelle angedeutet habe, muß man für die Eindrücke dieser Lebens¬
zeit eine große pathogene Bedeutung in Anspruch nehmen. Ein
psychologisches Interesse aber ist dem Thema der Kindheits¬
erinnerungen in allen Fällen gesichert, weil hier eine funda¬
mentale Verschiedenheit zwischen dem psychischen Verhalten des
Kindes und des Erwachsenen auffällig zutage tritt. Es bezweifelt
niemand, daß die Erlebnisse unserer ersten Kinder] ahre unver-
löschbare Spuren in unserem Seeleninnern zurückgelassen haben;
wenn wir aber unser Gedächtnis befragen, welches die Ein¬
drücke sind, unter deren Einwirkung bis an unser Lebensende zu
stehen uns bestimmt ist, so liefert es entweder nichts oder eine
relativ kleine Zahl vereinzelt stehender Erinnerungen von oft frag¬
würdigem oder rätselhaftem Wert. Daß das Leben vom Gedächtnis
als zusammenhängende Kette von Begebenheiten reproduziert wird,
kommt nicht vor dem sechsten oder siebenten, bei vielen erst
Freud, I.
30
466
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
nach dem zehnten Lebensjahr zustande. Von da an stellt sich aber
auch eine konstante Beziehung zwischen der psychischen Bedeutung
eines Erlebnisses und dessen Haften im Gedächtnis her. Was ver¬
möge seiner unmittelbaren oder bald nachher erfolgten Wir¬
kungen wichtig erscheint, das wird gemerkt^ das für unwesent¬
lich Erachtete wird vergessen. Wenn ich mich an eine Begeben¬
heit über lange Zeit hin erinnern kann, so finde ich in der Tat¬
sache dieser Erhaltung im Gedächtnisse einen Beweis dafür, daß
dieselbe mir damals einen tiefen Eindruck gemacht hat. Ich pflege
mich zu wundern, wenn ich etwas Wichtiges vergessen, noch
mehr vielleicht, wenn ich etwas scheinbar Gleichgültiges bewahrt
haben sollte.
Erst in gewissen pathologischen Seelenzuständen wird die für
den normalen Erwachsenen gültige Beziehung zwischen psychi¬
scher Wichtigkeit und Gedächtnishaftung eines Eindruckes wieder
gelöst. Der Hysterische z. B. erweist sich regelmäßig als amnestisch
für das Ganze oder einen Teil jener Erlebnisse, die zum Aus¬
bruch seiner Leiden geführt haben, und die doch durch diese
Verursachung für ihn bedeutsam geworden sind oder es auch ab¬
gesehen davon, nach ihrem eigenen Inhalt, sein mögen. Die Ana¬
logie dieser pathologischen Amnesie mit der normalen Amnesie für
unsere Kindheitsjahre möchte ich als einen wertvollen Hinweis
auf die intimen Beziehungen zwischen dem psychischen Inhalt
der Neurose und unserem Kdnderleben ansehen.
Wir sind so sehr an diese Erinnerungslosigkeit der Kinder¬
eindrücke gewöhnt, daß wir das Problem zu verkennen pflegen,
welches sich hinter ihr verbirgt, und geneigt sind, sie als selbst¬
verständlich aus dem rudimentären Zustand der seelischen Tätig¬
keiten beim Kinde abzuleiten. In Wirklichkeit zeigt uns das
normal entwickelte Kind schon im Alter von drei bis vier Jahren
eine Unsumme hoch zusammengesetzter Seelenleistungen in seinen
Vergleichungen, Schlußfolgerungen und im Ausdruck seiner Gefühle,
und es ist nicht ohne weiteres einzusehen, daß für diese, den
über Deckerinnerungen
467
späteren so voll gleichwertigen, psychischen Akte Amnesie be¬
stehen muß.
Eine unerläßliche Vorbedingung für die Bearbeitung jener
psychologischen Probleme, die sich an die ersten Kindheitserinne¬
rungen knüpfen, wäre natürlich die Sammlung von Material,
indem man durch Umfrage feststellt, was für Erinnerungen aus
dieser Lebenszeit eine größere Anzahl von normalen Erwachsenen
mitzuteilen vermag. Einen ersten Schritt nach dieser Richtung
haben V. und C. Henri 1895 durch Verbreitung eines von
ihnen aufgesetzten Fragebogens getan ^ die überaus anregenden Er¬
gebnisse dieser Umfrage, auf welche von hundertdreiundzwanzig
Personen Antworten einliefen, wurden dann von den beiden Autoren
1897 in L’annee psychologique T. III veröffentlicht. (Enquete sur
les Premiers Souvenirs de l’enfance.) Da mir aber gegenwärtig die
Absicht ferne liegt, das Thema in seiner Vollständigkeit zu behandeln,
werde ich mich mit der Hervorhebung jener wenigen Punkte
begnügen, von denen aus ich zur Einführung der von mir so ge¬
nannten „Deckerinnerungengelangen kann.
Das Lebensalter, in welches der Inhalt der frühesten Kindheits¬
erinnerung verlegt wird, ist meist die Zeit zwischen zwei und
vier Jahren (so bei achtundachtzig Personen in der Beobachtungs¬
reihe der Henri). Es gibt aber einzelne, deren Gedächtnis weiter
zurückreicht, selbst bis in das Alter vor dem vollendeten ersten
Jahr, und anderseits Personen, bei denen die früheste Erinnerung
erst aus dem sechsten, siebenten, ja achten Jahre stammt. Womit
diese individuellen Verschiedenheiten sonst Zusammenhängen, läßt
sich vorläufig nicht angeben5 man bemerkt aber, sagen die Henri,
daß eine Person, deren früheste Erinnerung in ein sehr zartes
Alter fällt, etwa ins erste Lebensjahr, auch über weitere einzelne
Erinnerungen aus den nächsten Jahren verfügt, und daß die Repro¬
duktion des Erlebens als fortlaufende Erinnerungskette bei ihr von
einem früheren Termin — etwa vom fünften Jahre an — anhebt
als bei anderen, deren erste Erinnerung in eine spätere Zeit fallt.
30*
468
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Es ist also nicht nur der Zeitpunkt für das Auftreten einer ersten
Erinnerung, sondern die ganze Funktion des Erinnerns bei einzelnen
Personen verfrüht oder verspätet.
Ein ganz besonderes Interesse wird sich der Frage zu wenden,
welches der Inhalt dieser frühesten Kindheitserinnerungen zu
sein pflegt. Aus der Psychologie der Erwachsenen müßte man die
Erwartung herübernehmen, daß aus dem Stoff des Erlebten solche
Eindrücke als merkenswert ausgewählt werden, welche einen
mächtigen Affekt hervorgerufen haben oder durch ihre Folgen
bald nachher als bedeutsam erkannt worden sind. Ein Teil der
von den Henri gesammelten Erfahrungen scheint diese Erwar¬
tung auch zu bestätigen, denn sie führen als die häufigsten Inhalte
der ersten Kindheitserinnerungen einerseits Anlässe zu Furcht,
Beschämung, Körperschmerzen u. dgl., anderseits wichtige Begeben¬
heiten wie Krankheiten, Todesfälle, Brände, Geburt von Ge¬
schwistern usw. auf. Man würde so geneigt anzunehmen, daß das
Prinzip der Gedächtnisauswahl für die Kinderseele das nämliche
sei wie für die Erwachsenen. Es ist nicht unverständhch, aber
doch ausdrücklicher Erwähnung wert, daß die erhaltenen Kind¬
heitserinnerungen ein Zeugnis dafür ablegen müssen, auf welche
Eindrücke sich das Interesse des Kindes zum Unterschiede von dem
des Erwachsenen gerichtet hat. So erklärt es sich dann leicht, daß
z. B. eine Person mitteilt, sie erinnere sich aus dem Alter von
zwei Jahren an verschiedene Unfälle, die ihren Puppen zugestoßen
sind, sei aber amnestisch für die ernsten und traurigen Ereig¬
nisse, die sie damals hätte wahrnehmen können.
Es steht nun im schärfsten Gegensatz zu jener Erwartung und
muß gerechtes Befremden hervorrufen, wenn wir hören, daß bei
manchen Personen die frühesten Kindheitserinnerungen alltägliche
und gleichgültige Eindrücke zum Inhalt haben, die beim Erleben
eine Affektwirkung auch auf das Kind nicht entfalten konnten, und
die doch mit allen Details — man möchte sagen: überscharf —
gemerkt worden sind, während etwa gleichzeitige Ereignisse
469
über Deckerinnerungen
nicht im Gedächtnis behalten wurden, selbst wenn sie nach dem
Zeugnis der Eltern seinerzeit das Kind intensiv ergriffen hatten.
So erzählen Henri von einem Professor der Philologie, dessen
früheste Erinnerung, in die Zeit zwischen drei und vier Jahren
verlegt, ihm das Bild eines gedeckten Tisches zeigte, auf dem eine
Schüssel mit Eis steht. In dieselbe Zeit fällt auch der Tod seiner
Großmutter, der das Kind nach der Aussage seiner Eltern sehr
erschüttert hat. Der nunmehrige Professor der Philologie weiß
aber nichts von diesem Todesfall, er erinnert sich aus dieser Zeit
nur an eine Schüssel mit Eis.
Ein anderer berichtet als erste Kindheitserinnerung eine Episode
von einem Spaziergang, auf dem er von einem Baum einen Ast
abbrach. Er glaubt noch heute angeben zu können, an welchem
Ort das vor fiel. Es waren mehrere Personen mit dabei, und eine
leistete ihm Hilfe.
Henri bezeichnen solche Fälle als selten vorkommende5 nach
meinen — allerdings zumeist bei Neurotikern gesammelten —
Erfahrungen sind sie häufig genug. Eine der Gewährspersonen
der Henri hat einen Erklärungsversuch für diese ob ihrer Harm¬
losigkeit unbegreiflichen Erinnerungsbilder gewagt, den ich für
ganz zutreffend erklären muß. Er meint, es sei in solchen Fällen
die betreffende Szene vielleicht nur unvollständig in der Erinne¬
rung erhalten^ gerade darum erscheint sie nichtssagend^ in den
vergessenen Bestandteilen wäre wohl all das enthalten, was den
Eindruck merkenswert machte. Ich kann bestätigen, daß dies
sich wirklich so verhält 5 nur würde ich es vorziehen, anstatt
„vergessene Elemente des Erlebnisses^^ „weggelassenezu sagen.
Es ist mir oftmals gelungen, durch psychoanalytische Behandlung
die fehlenden Stücke des Kindererlebnisses aufzudecken und so
den Nachweis zu führen, daß der Eindruck, von dem ein Torso
in der Erinnerung verblieben war, nach seiner Ergänzung wirk¬
lich der Voraussetzung von der Gedächtniserhaltung des Wichtigsten
entsprach. Damit ist eine Erklärung für die sonderbare Auswahl,
470
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
welche das Gedächtnis unter den Elementen eines Erlebnisses
trifft, allerdings nicht gegeben 5 man muß sich erst fragen, warum
gerade das Bedeutsame unterdrückt, das Gleichgültige erhalten
wird. Zu einer Erklärung gelangt man erst, wenn man tiefer in
den Mechanismus solcher Vorgänge eindringt^ man bildet sich
dann die Vorstellung, daß zwei psychische Kräfte an dem Zu¬
standekommen dieser Erinnerungen beteiligt sind, von denen die
eine die Wichtigkeit des Erlebnisses zum Motiv nimmt, es erinnern
zu wollen, die andere aber — ein Widerstand — dieser Aus¬
zeichnung widerstrebt. Die beiden entgegengesetzt wirkenden
Kräfte heben einander nicht auf; es kommt nicht dazu, daß das
eine Motiv das andere — mit oder ohne Einbuße — überwältigt,
sondern es kommt eine Kompromißwirkung zustande, etwa analog
der Bildung einer Resultierenden im Kräfteparallelogramm. Das
Kompromiß besteht hier darin, daß zwar nicht das betreffende
Erlebnis selbst das Erinnerungsbild abgibt — hierin behält der
Widerstand recht — wohl aber ein anderes psychisches Element,
welches mit dem anstößigen durch nahe Assoziationswege ver¬
bunden ist; hierin zeigt sich wiederum die Macht des ersten
Prinzips, welches bedeutsame Eindrücke durch die Herstellung von
reproduzierbaren Erinnerungsbildern fixieren möchte. Der Erfolg des
Konflikts ist also der, daß anstatt des ursprünglich berechtigten
ein anderes Erinnerungsbild zustande kommt, welches gegen das
erstere um ein Stück in der Assoziation verschoben ist. Da
gerade die wichtigen Bestandteile des Eindrucks diejenigen sind,
welche den Anstoß wachgerufen haben, so muß die ersetzende
Erinnerung dieses wichtigen Elements bar sein; sie wird darum
leicht banal ausfallen. Unverständlich erscheint sie uns, weil wir
den Grund ihrer Gedächtniserhaltung gern aus ihrem eigenen
Inhalt ersehen möchten, während er doch in der Beziehung
dieses Inhalts zu einem anderen, unterdrückten Inhalt ruht.
Um mich eines populären Gleichnisses zu bedienen, ein ge¬
wisses Erlebnis der Kinderzeit kommt zur Geltung im Gedächt-
über Deckerinnerungen
471
nis, nicht etwa weil es selbst Gold ist, sondern weil es bei Gold
gelegen ist.
Unter den vielen möglichen Fällen von Ersetzung eines psychi¬
schen Inhalts durch einen anderen, welche alle ihre Verwirk¬
lichung in verschiedenen psychologischen Konstellationen finden,
ist der Fall, der bei den hier betrachteten Kindererinnerungen
vorliegt, daß nämlich die unwesentlichen Bestandteile eines Er¬
lebnisses die wesentlichen des nämlichen Erlebnisses im Gedächt¬
nisse vertreten, offenbar einer der einfachsten. Es ist eine Ver¬
schiebung auf der Kontiguitätsassoziation, oder wenn man den
ganzen Vorgang ins Auge faßt, eine Verdrängung mit Ersetzung
durch etwas Benachbartes (im örtlichen und zeitlichen Zusammen¬
hänge). Ich habe einmal Anlaß gehabt, einen sehr ähnlichen Fall
von Ersetzung aus der Analyse einer Paranoia mitzuteilen.^ Ich
erzählte von einer halluzinierenden Frau, der ihre Stimmen große
Stücke aus der „Heiterethei^^ von O. Ludwig wiederholten, und zwar
gerade die belang- und beziehungslosesten Stellen der Dichtung.
Die Analyse wies nach, daß es andere Stellen derselben Geschichte
waren, welche die peinlichsten Gedanken in der Kranken wach¬
gerufen hatten. Der peinliche Affekt war ein Motiv zur Abwehr,
die Motive zur Fortsetzung dieser Gedanken waren nicht zu
unterdrücken, und so ergab sich als Kompromiß, daß die harm¬
losen Stellen mit pathologischer Stärke und Deutlichkeit in der
Erinnerung hervortraten. Der hier erkannte Vorgang: Konflikt,
Verdrängung, Ersetzung unter Kompromißbildung kehrt
bei allen psychoneurotischen Symptomen wieder, er gibt den
Schlüssel für das Verständnis der Symptombildung5 es ist also
nicht ohne Bedeutung, wenn er sich auch im psychischen Leben
der normalen Individuen nachweisen läßt^ daß er bei nor¬
malen Menschen die Auswahl gerade der Kindheitserinnerungen
beeinflußt, erscheint als ein neuer Hinweis auf die bereits betonten
1) Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen. Neurologisches Zentral¬
blatt, 1896, Nr. 10. [Enthalten in diesem Band der Gesamtausgabe.]
472
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
innigen Beziehungen zwischen dem Seelenleben des Kindes und
dem psychischen Material der Neurosen.
Die offenbar sehr bedeutsamen Vorgänge der normalen und
pathologischen Abwehr und die Verschiebungserfolge, zu denen
sie führen, sind, soweit meine Kenntnis reicht, von den Psycho¬
logen noch gar nicht studiert worden, und es bleibt noch festzu¬
stellen, in welchen Schichten der psychischen Tätigkeit und unter
welchen Bedingungen sie sich geltend machen. Der Grund für
diese Vernachlässigung mag wohl sein, daß unser psychisches
Leben, insofern es Objekt unserer bewußten inneren Wahr¬
nehmung wird, von diesen Vorgängen nichts erkennen läßt, es
sei denn in solchen Fällen, die wir als „Denkfehler^^ klassifizieren,
oder in manchen auf komischen Effekt angelegten psychischen
Operationen. Die Behauptung, daß sich eine psychische Intensität
von einer Vorstellung her, die dann verlassen bleibt, auf eine
andere verschieben kann, welche nun die psychologische Rolle der
ersteren weiterspielt, wirkt auf uns ähnlich befremdend, wie etwa
gewisse Züge des griechischen Mythus, wenn z. B. Götter einen
Menschen mit Schönheit Vie mit einer Hülle überkleiden, wo
wir nur die Verklärung durch verändertes Mienenspiel kennen.
Weitere Untersuchungen über die gleichgültigen Kindheits¬
erinnerungen haben mich dann belehrt, daß deren Entstehung
noch anders zugehen kann, und daß sich hinter ihrer scheinbaren
Harmlosigkeit eine ungeahnte Fülle von Bedeutung zu verbergen
pflegt. Hiefür will ich mich aber nicht auf bloße Behauptung
beschränken, sondern ein einzelnes Beispiel breit ausführen, welches
mir unter einer größeren Anzahl ähnlicher als das lehrreichste
erscheint, und das durch seine Zugehörigkeit zu einem nicht oder
nur sehr wenig neurotischen Individuum sicherlich an Wert¬
schätzung gewinnt.
Ein achtunddreißigjähriger akademisch gebildeter Mann, der
sich trotz seines fernab liegenden Berufs ein Interesse für psycho¬
logische Fragen bewahrt hat, seitdem ich ihn durch Psychoana-
475
Über Deckerinnerungen
lyse von einer kleinen Phobie befreien konnte, lenkte im Vor¬
jahre meine Aufmerksamkeit auf seine Kindheitserinnerungen, die
schon in der Analyse eine gewisse Rolle gespielt hatten. Nach¬
dem er mit der Untersuchung von V. und C. Henri bekannt
geworden war, teilte er mir folgende zusammenfassende Dar¬
stellung mit:
„Ich verfüge über eine ziemliche Anzahl von frühen Kindheits¬
erinnerungen, die ich mit großer Sicherheit datieren kann. Im
Alter von voll drei Jahren habe ich nämlich meinen kleinen
Geburtsort verlassen, um in eine große Stadt zu übersiedeln ^
meine Erinnerungen spielen nun sämtlich in dem Orte, wo ich
geboren bin, fallen also in das zweite bis dritte Jahr. Es sind
meist kurze Szenen, aber sehr gut erhalten und mit allen Details
der Sinneswahrnehmung gestaltet, so recht im Gegensatz zu
meinen Erinnerungsbildern aus reifen Jahren, denen das visuelle
Element völlig abgeht. Vom dritten Jahr an werden die Erinne¬
rungen spärlicher und weniger deutlich^ es finden sich Lücken
vor, die mehr als ein Jahr umfassen müssen; erst vom sechsten
oder siebenten Jahre an, glaube ich, wird der Strom der Erinne¬
rung kontinuierlich. Ich teile mir die Erinnerungen bis zum Ver¬
lassen meines ersten Aufenthaltes ferner in drei Gruppen. Eine
erste Gruppe bilden jene Szenen, von denen mir die Eltern nach¬
träglich wiederholt erzählt haben; ich fühle mich bei diesen nicht
sicher, ob ich das Erinnerungsbild von Anfang an gehabt, oder
ob ich es mir erst nach einer solchen Erzählung geschaffen habe.
Ich bemerke, daß es auch Vorfälle gibt, denen bei mir trotz mehr¬
maliger Schilderung von seiten der Eltern kein Erinnerungsbild
entspricht. Auf die zweite Gruppe lege ich mehr Wert; es sind
Szenen, von denen mir — soviel ich weiß — nicht erzählt
wurde, zum Teil auch nicht erzählt werden konnte, weil ich die
mithandelnden Personen: Kinderfrau, Jugendgespielen nicht wieder¬
gesehen habe. Von der dritten Gruppe werde ich später reden.
Was den Inhalt dieser Szenen und somit deren Anspruch auf
474
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Erhaltung im Gedächtnis betrifft, so möchte ich behaupten, daß
ich über diesen Punkt nicht ganz ohne Orientierung bin. Ich
kann zwar nicht sagen, daß die erhaltenen Erinnerungen den
wichtigsten Begebenheiten jener Zeit entsprechen, oder was ich
heute so beurteilen würde. Von der Geburt einer Schwester, die
zweieinhalb Jahre jünger ist als ich, weiß ich nichts5 die Abreise,
der Anblick der Eisenbahn, die lange Wagenfahrt vorher haben
keine Spur in meinem Gedächtnis hinterlassen. Zwei kleine Vor¬
fälle während der Eisenbahnfahrt habe ich mir dagegen gemerkt^
wie Sie sich erinnern, sind diese in der Analyse meiner Phobie
vorgekommen. Am meisten Eindruck hätte mir doch eine Ver¬
letzung im Gesicht machen müssen, bei der ich viel Blut verlor
und vom Chirurgen genäht wurde. Ich kann die Narbe, die von
diesem Unfall zeugt, noch heute tasten, aber ich weiß von keiner
Erinnerung, die direkt oder indirekt auf dieses Erlebnis hin wiese.
Vielleicht war ich übrigens damals noch nicht zwei Jahre.
„Demnach verwundere ich mich über die Bilder und Szenen
der beiden ersten Gruppen nicht. Es sind allerdings verschobene
Erinnerungen, in denen das Wesentliche zumeist ausgeblieben ist^
aber in einigen ist es zum mindesten angedeutet, in anderen
wird es mir leicht, nach gewissen Fingerzeigen die Ergänzung
vorzunehmen, und wenn ich so verfahre, so stellt sich mir ein
guter Zusammenhang zwischen den einzelnen Erinnerungsbrocken
her, und ich ersehe klar, welches kindliche Interesse gerade diese
Vorkommnisse dem Gedächtnis empfohlen hat. Anders steht es
aber mit dem Inhalt der dritten Gruppe, deren Besprechung ich
mir bisher aufgespart habe. Hier handelt es sich um ein Material,
— eine längere Szene und mehrere kleine Bilder, — mit dem
ich wirklich nichts anzufangen weiß. Die Szene erscheint mir
ziemlich gleichgültig, ihre Fixierung unverständlich. Erlauben Sie,
daß ich sie Ihnen schildere: Ich sehe eine viereckige, etwas ab¬
schüssige Wiese, grün und dicht bewachsen^ in dem Grün sehr
viele gelbe Blumen, offenbar der gemeine Löwenzahn. Oberhalb
über Deckerinnerungen
475
der Wiese ein Bauernhaus, vor dessen Tür zwei Frauen stehen,
die miteinander angelegentlich plaudern, die Bäuerin im Kopftuch
und eine Kinderfrau. Auf der Wiese spielen drei Kinder, eines
davon bin ich (zwischen zwei und drei Jahren alt), die beiden
anderen mein Vetter, der um ein Jahr älter ist, und meine fast
genau gleichaltrige Cousine, seine Schwester. Wir pflücken die
gelben Blumen ab und halten jedes eine Anzahl von bereits ge¬
pflückten in den Händen. Den schönsten Strauß hat das kleine
Mädchen^ wir Buben aber fallen wie auf Verabredung über sie
her und entreißen ihr die Blumen. Sie läuft weinend die Wiese
hinauf und bekommt zum Trost von der Bäuerin ein großes
Stück Schwarzbrot. Kaum daß wir das gesehen haben, werfen wir
die Blumen weg, eilen auch zum Haus und verlangen gleichfalls
Brot. Wir bekommen es auch, die Bäuerin schneidet den Laib
mit einem langen Messer. Dieses Brot schmeckt mir in der Er¬
innerung so köstlich und damit bricht die Szene ab.‘^
„Was an diesem Erlebnis rechtfertigt nun den Gedächtnisauf¬
wand, zu dem cs mich veranlaßt hat? Ich habe mir vergeblich
den Kopf darüber zerbrochen^ liegt der Akzent auf unserer Un¬
liebenswürdigkeit gegen das kleine Mädchen^ sollte das Gelb des
Löwenzahns, den ich natürlich heute gar nicht schön finde, meinem
Auge damals so gefallen haben ^ oder hat mir nach dem Herum¬
tollen auf der Wiese das Brot so viel besser geschmeckt als sonst,
daß daraus ein unverlöschbarer Eindruck geworden ist? Beziehun¬
gen dieser Szene zu dem unschwer zu erratenden Interesse, welches
die anderen Kinderszenen zusammenhält, kann ich auch nicht finden.
Ich habe überhaupt den Eindruck, als ob es mit dieser Szene
nicht richtig zuginge; das Gelb der Blumen sticht aus dem En¬
semble gar zu sehr hervor, und der Wohlgeschmack des Brotes
erscheint mir auch wie halluzinatorisch übertrieben. Ich muß mich
dabei an Bilder erinnern, die ich einmal auf einer parodistischen
Ausstellung gesehen habe, in denen gewisse Bestandteile anstatt
gemalt plastisch aufgetragen waren, natürlich die unpassendsten.
476
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
z. B. die Tournüren der gemalten Damen. Können Sie mir nun
einen Weg zeigen, der zur Aufklärung oder Deutung dieser über¬
flüssigen Kindheitserinnerung führt
Ich hielt es für geraten zu fragen, seit wann ihn diese Kind¬
heitserinnerung beschäftige, ob er meine, daß sie seit der Kind¬
heit periodisch in seinem Gedächtnis wiederkehre, oder ob sie
etwa irgendwann später nach einem zu erinnernden Anlaß auf¬
getaucht sei. Diese Frage war alles, was ich zur Lösung der Auf¬
gabe beizutragen brauchte ^ das übrige fand mein Partner, der kein
Neuling in solchen Arbeiten war, von selbst.
Er antwortete: „Daran habe ich noch nicht gedacht. Nachdem
Sie mir diese Frage gestellt haben, wird es mir fast zur Gewi߬
heit, daß diese Kindererinnerung mich in jüngeren Jahren gar
nicht beschäftigt hat. Ich kann mir aber auch den Anlaß denken,
von dem die Erweckung dieser und vieler anderer Erinnerungen
an meine ersten Jahre ausgegangen ist. Mit siebzehn Jahren
nämlich bin ich zuerst wieder als Gymnasiast zum Ferienaufent¬
halte in meinen Heimatsort gekommen, und zwar als Gast einer
uns seit jener Vorzeit befreundeten Familie. Ich weiß sehr wohl,
welche Fülle von Erregungen damals Besitz von mir genommen
hat. Aber ich sehe schon, ich muß Ihnen nun ein ganzes großes
Stück meiner Lebensgeschichte erzählen ^ es gehört dazu, und Sie
haben es durch Ihre Frage heraufbeschworen. Hören Sie also: Ich
bin das Kind von ursprünglich wohlhabenden Leuten, die, wie
ich glaube, in jenem kleinen Provinznest behaglich genug gelebt
hatten. Als ich ungefähr drei Jahre alt war, trat eine Katastrophe
in dem Industriezweig ein, mit dem sich der Vater beschäftigte.
Er verlor sein Vermögen, und wir verließen den Ort notgedrungen,
um in eine große Stadt zu übersiedeln. Dann kamen lange harte
Jahre ^ ich glaube, sie waren nicht wert, sich etwas daraus zu
merken. In der Stadt fühlte ich mich nie recht behaglich^ ich
meine jetzt, die Sehnsucht nach den schönen Wäldern der Heimat,
in denen ich schon, kaum daß ich gehen konnte, dem Vater zu
tyher Deckerinnerungen
477
entlaufen pflegte, wie eine von damals erhaltene Erinnerung be¬
zeugt, hat mich nie verlassen. Es waren meine ersten Ferien auf
dem Lande, die mit siebzehn Jahren, und ich war, wie gesagt,
Gast einer befreundeten Familie, die seit unserer Übersiedlung
groß empor gekommen war. Ich hatte Gelegenheit, die Behäbig¬
keit, die dort herrschte, mit der Lebensweise bei uns zu Hause
in der Stadt zu vergleichen. Nun nützt wohl kein Ausweichen
mehr^ ich muß Ihnen gestehen, daß mich noch etwas anderes
mächtig erregte. Ich war siebzehn Jahre alt, und in der gastlichen
Familie war eine fünfzehnjährige Tochter, in die ich mich sofort
verliebte. Es war meine erste Schwärmerei, intensiv genug, aber
vollkommen geheim gehalten. Das Mädchen reiste nach wenigen
Tagen ab in das Erziehungsinstitut, aus dem sie gleichfalls auf
Ferien gekommen war, und diese Trennung nach so kurzer Be¬
kanntschaft brachte die Sehnsucht erst recht in die Höhe. Ich erging
mich viele Stunden lang in einsamen Spaziergängen durch die wieder¬
gefundenen herrlichen Wälder mit dem Aufbau von Luftschlössern
beschäftigt, die seltsamerweise nicht in die Zukunft strebten, son¬
dern die Vergangenheit zu verbessern suchten. Wenn der Zu¬
sammenbruch damals nicht eingetreten wäre, wenn ich in der
Heimat geblieben wäre, auf dem Lande aufgewachsen, so kräftig
geworden wie die jungen Männer des Hauses, die Brüder der
Geliebten, und wenn ich dann den Beruf des Vaters fortgesetzt
hätte und endlich das Mädchen geheiratet, das ja all die Jahre
über mir hätte vertraut werden müssen! Ich zweifelte natürlich
keinen Augenblick, daß ich sie unter den Umständen, welche
meine Phantasie schuf, ebenso heiß geliebt hätte, wie ich es
damals wirklich empfand. Sonderbar, wenn ich sie jetzt ge¬
legentlich sehe — sie hat zufällig hieher geheiratet, — ist sie
mir ganz außerordentlich gleichgültig, und doch kann ich mich
genau erinnern, wie lange nachher die gelbe Farbe des Kleides,
das sie beim ersten Zusammentreffen trug, auf mich gewirkt, wenn
ich dieselbe Farbe irgendwo wieder sah.“
478
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Das klingt ja ganz ähnlich wie Ihre eingeschaltete Bemerkung,
daß Ihnen der gemeine Löwenzahn heute nicht mehr gefällt.
Vermuten Sie nicht eine Beziehung zwischen dem Gelb in der
Kleidung des Mädchens und dem so überdeutlichen Gelb der
Blumen in Ihrer Kinderszene?
„Möglich, doch war es nicht dasselbe Gelb. Das Kleid war
eher gelbbraun wie Goldlack. Indes kann ich Ihnen wenigstens
eine Zwischen Vorstellung, die Ihnen taugen würde, zur Verfügung
stellen. Ich habe später in den Alpen gesehen, daß manche Blumen,
die in der Ebene lichte Farben haben, auf den Höhen sich in
dünklere Nuancen kleiden. Wenn ich nicht sehr irre, gibt es auf
den Bergen häufig eine dem Löwenzahn sehr ähnliche Blume,
die aber dunkelgelb ist und dann dem Kleid der damals Geliebten
in der Farbe ganz entsprechen würde. Ich bin aber noch nicht
fertig, ich komme zu einer in der Zeit naheliegenden zweiten
Veranlassung, welche meine Kindheitseindrücke in mir aufgerührt
hat. Mit siebzehn Jahren hatte ich den Ort wiedergesehen ^ drei
Jahre später war ich in den Ferien auf Besuch bei meinem
Onkel, traf also die Kinder wieder, die meine ersten Gespielen
gewesen waren, denselben um ein Jahr älteren Vetter und dieselbe
mit mir gleichaltrige Cousine, die in der Kinderszene von der
Löwenzahnwiese auftreten. Diese Familie hatte gleichzeitig mit
uns meinen Geburtsort verlassen und war in der fernen Stadt
wieder zu schönem Wohlstand gekommen.
Und haben Sie sich da auch wieder verliebt, diesmal in die
Cousine, und neue Phantasien gezimmert?
„Nein, diesmal ging es anders. Ich war schon auf der Universität
und gehörte ganz den Büchern 5 für meine Cousine hatte ich nichts
übrig. Ich habe damals meines Wissens keine solchen Phantasien
gemacht. Aber ich glaube, zwischen meinem Vater und meinem
Onkel bestand der Plan, daß ich mein abstruses Studium gegen
ein praktisch besser verwertbares vertauschen, nach Beendigung
der Studien mich im Wohnort des Onkels niederlassen und meine
über Deckerinnerungen
479
Cousine zur Frau nehmen sollte. Als man merkte, wie versunken
in meine eigenen Absichten ich war, ließ man wohl den Plan
wieder fallen; ich meine aber, daß ich ihn sicher erraten habe.
Später erst, als junger Gelehrter, als die Not des Lebens mich
hart anfaßte, und ich so lange auf eine Stellung in dieser Stadt
zu warten hatte, mag ich wohl manchmal daran gedacht haben,
daß der Vater es eigentlich gut mit mir gemeint, als er durch
dieses Heiratsprojekt mich für den Verlust entschädigt wissen wollte,
den jene erste Katastrophe mir fürs ganze Leben gebracht.
In diese Zeit Ihrer schweren Kämpfe ums Brot möchte ich
also das Auftauchen der in Rede stehenden Kindheitsszene ver¬
legen, wenn Sie mir noch bestätigen, daß Sie in denselben Jahren
die erste Bekanntschaft mit der Alpenwelt geschlossen haben.
„Das ist richtig; Bergtouren waren damals das einzige Ver¬
gnügen, das ich mir erlaubte. Aber ich verstehe Sie noch nicht
recht.“
Sogleich. Aus Ihrer Kinderszene heben Sie als das intensivste
Element hervor, daß Ihnen das Landbrot so ausgezeichnet schmeckt.
Merken Sie nicht, daß diese fast halluzinatorisch empfundene Vor¬
stellung mit der Idee Ihrer Phantasie korrespondiert, wenn Sie
in der Heimat geblieben wären, jenes Mädchen geheiratet hätten,
wie behaglich hätte sich Ihr Leben gestaltet, symbolisch ausge¬
drückt, wie gut hätte Ihnen Ihr Brot geschmeckt, um das Sie in
jener späteren Zeit gekämpft haben? Und das Gelb der Blumen
deutet auf dasselbe Mädchen hin. Sie haben übrigens in der Kind¬
heitsszene Elemente, die sich nur auf die zweite Phantasie, wenn
Sie die Cousine geheiratet hätten, beziehen lassen. Die Blumen
wegwerfen, um ein Brot dafür einzutauschen, scheint mir keine
üble Verkleidung für die Absicht, die Ihr Vater mit Ihnen hatte.
Sie sollten auf Ihre unpraktischen Ideale verzichten und ein „Brot¬
studium“ ergreifen, nicht wahr?
„So hätte ich also die beiden Reihen von Phantasien, wie sich
mein Leben behaglicher hätte gestalten können, miteinander ver-
480
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
schmolzen, das ,Gelb^ und das ,Land^brot aus der einen, das
Wegwerfen der Blumen und die Personen aus der anderen ent¬
nommen?“
So ist es^ die beiden Phantasien aufeinander projiziert und eine
Kindheitserinnerung daraus gemacht. Der Zug mit den Alpen¬
blumen ist dann gleichsam die Marke für die Zeit dieser Fabrikation.
Ich kann Ihnen versichern, daß man solche Dinge sehr häufig
unbewußt macht, gleichsam dichtet.
„Aber dann wäre es ja keine Kindheitserinnerung, sondern eine
in die Kindheit zurückverlegte Phantasie. Mir sagt aber ein Gefühl,
daß die Szene echt ist. Wie vereint sich das?“
Für die Angaben unseres Gedächtnisses gibt es überhaupt keine
Garantie. Ich will Ihnen aber zugeben, daß die Szene echt ist^
dann haben Sie sie aus unzählig viel ähnlichen oder anderen hervor¬
gesucht, weil sie sich vermöge ihres — an sich gleichgültigen —
Inhaltes zur Darstellung der beiden Phantasien eignete, die für
Sie bedeutsam genug waren. Ich würde eine solche Erinnerung,
deren Wert darin besteht, daß sie im Gedächtnisse Eindrücke und
Gedanken späterer Zeit vertritt, deren Inhalt mit dem eigenen
durch symbolische und ähnliche Beziehungen verknüpft ist, eine
Deckerinnerung heißen. Jedenfalls werden Sie aufhören, sich
über die häufige Wiederkehr dieser Szene in Ihrem Gedächtnis
zu verwundern. Man kann sie nicht mehr eine harmlose nennen,
wenn sie, wie wir gefunden haben, die wichtigsten Wendungen
in Ihrer Lebensgeschichte, den Einfluß der beiden mächtigsten
Triebfedern, des Hungers und der Liebe, zu illustrieren be¬
stimmt ist.
„Ja, den Hunger hat sie gut dargestellt^ aber die Liebe?“
In dem Gelb der Blumen, meine ich. Ich kann übrigens nicht
leugnen, daß die Darstellung der Liebe in dieser Ihrer Kindheits¬
szene hinter meinen sonstigen Erfahrungen weit zurück bleibt.
„Nein, keineswegs. Die Darstellung der Liebe ist ja die Haupt¬
sache daran. Jetzt verstehe ich erst! Denken Sie doch: einem
über Deckerinnerungen
481
Mädchen die Blume wegnehmen, das heißt ja: deflorieren. Welch
ein Gegensatz zwischen der Frechheit dieser Phantasie und meiner
Schüchternheit bei der ersten, meiner Gleichgültigkeit bei der
zweiten Gelegenheit.“
Ich kann Sie versichern, daß derartige kühne Phantasien die
regelmäßige Ergänzung zur juvenilen Schüchternheit bilden.
„Aber dann wäre es nicht eine bewußte Phantasie, die ich er¬
innern kann, sondern eine unbewußte, die sich in diese Kindheits¬
erinnerungen verwandelt?“
Unbewußte Gedanken, welche die bewußten fortsetzen. Sie
denken sich: wenn ich die oder die geheiratet hätte, und dahinter
entsteht der Antrieb, sich dieses Heiraten vorzustellen.
„Ich kann es jetzt selbst fortsetzen. Das Verlockendste an dem
ganzen Thema ist für den nichtsnutzigen Jüngling die Vorstellung
der Brautnacht; was weiß er von dem, was nachkommt. Diese Vor¬
stellung wagt sich aber nicht ans Licht, die herrschende Stim¬
mung der Bescheidenheit und des Respekts gegen die Mädchen
erhält sie unterdrückt. So bleibt sie unbewußt . . .“
Und weicht in eine Kindheitserinnerung aus. Sie haben Recht,
gerade das Grobsinnliche an der Phantasie ist der Grund, daß sie
sich nicht zu einer bewußten Phantasie entwickelt, sondern zu¬
frieden sein muß, in eine Kindheitsszene als Anspielung in ver¬
blümter Form Aufnahme zu finden.
„Warum aber gerade in eine Kindheitsszene, möchte ich fragen?“
Vielleicht gerade der Harmlosigkeit zuliebe. Können Sie sich
einen stärkeren Gegensatz zu so argen sexuellen Aggressionsvor¬
sätzen denken als Kindertreiben? Übrigens sind für das Ausweichen
von verdrängten Gedanken und Wünschen in die Kindheits¬
erinnerungen allgemeinere Gründe maßgebend, denn Sie können
dieses Verhalten bei hysterischen Personen ganz regelmäßig nach-
weisen. Auch scheint es, daß das Erinnern von Längstvergangenem
an und für sich durch ein Lustmotiv erleichtert wird. ^^Forsan
et haec olim meminisse juvabit.^^
Freud. I.
3 '
482
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
„Wenn dem so ist, so habe ich alles Zutrauen zur Echtheit
dieser Löwenzahnszene verloren. Ich halte mir vor, daß in mir
auf die zwei erwähnten Veranlassungen hin, von sehr greifbaren
realen Motiven unterstützt, der Gedanke auftaucht: Wenn du
dieses oder jenes Mädchen geheiratet hättest, wäre dein Leben
viel angenehmer geworden. Daß die sinnliche Strömung in mir
den Gedanken des Bedingungssatzes in solchen Vorstellungen wieder¬
holt, welche ihr Befriedigung bieten können 5 daß diese zweite
Fassung desselben Gedankens infolge ihrer Unverträglichkeit mit
der herrschenden sexuellen Disposition unbewußt bleibt, aber
gerade dadurch in den Stand gesetzt ist, im psychischen Leben
fortzudauern, wenn die bewußte Fassung längst durch die ver¬
änderte Realität beseitigt ist; daß der unbewußt gebliebene Satz
nach einem geltenden Gesetz, wie Sie sagen, bestrebt ist, sich in
eine Kindheitsszene umzuwandeln, welche ihrer Harmlosigkeit
wegen bewußt werden darf; daß er zu diesem Zweck eine neue
Umgestaltung erfahren muß, oder vielmehr zwei, eine, die dem
Vordersatz das Anstößige benimmt, indem sie es bildlich aus¬
drückt, eine zweite, die den Nachsatz in eine Form preßt, welche
der visuellen Darstellung fähig ist, wozu die Mittel Vorstellung
Brot—Brotstudium verwendet wird. Ich sehe ein, daß ich durch
die Produktion einer solchen Phantasie gleichsam eine Erfüllung
der beiden unterdrückten Wünsche — nach dem Deflorieren
und nach dem materiellen Wohlbehagen — hergestellt habe.
Aber nachdem ich mir von den Motiven, die zur Entstehung
der Löwenzahnphantasie führten, so vollständig Rechenschaft
geben kann, muß ich annehmen, daß es sich hier um etwas
handelt, was sich überhaupt niemals ereignet hat, sondern un¬
rechtmäßig unter meine Kindheitserinnerungen eingeschmuggelt
w'orden ist.^^
Nun muß ich aber den Verteidiger der Echtheit spielen. Sie
gehen zu weit. Sie haben sich von mir sagen lassen, daß jede
solche unterdrückte Phantasie die Tendenz hat, in eine Kindheits-
über Deckerinnerungen
4§5
Szene auszuweichen; nun nehmen Sie hinzu, daß dies nicht gelingt,
wenn nicht eine solche Erinnerungsspur da ist, deren Inhalt mit
dem der Phantasie Berührungspunkte bietet, die ihr gleichsam
entgegenkommt. Ist erst ein solcher Berührungspunkt gefunden —
hier ist es das Deflorieren, die Blume wegnehmen, — so wird
der übrige Inhalt der Phantasie durch alle zulässigen Zwischen¬
vorstellungen (denken Sie an das Brot!) so weit umgemodelt, bis
sich neue Berührungspunkte mit dem Inhalt der Kinderszene er¬
geben haben. Sehr wohl möglich, daß bei diesem Prozeß auch
die Kinderszene selbst Veränderungen unterliegt; ich halte es für
sicher, daß auf diesem Wege auch Erinnerungsfälschungen zu¬
stande gebracht werden. In Ihrem Falle scheint die Kindheits¬
szene nur ziseliert worden zu sein; denken Sie an die übermäßige
Hervorhebung des Gelb und an den übertriebenen Wohlgeschmack
des Brotes. Das Rohmaterial war aber brauchbar. Wäre es so
nicht gewesen, so hätte sich diese Erinnerung eben nicht aus
allen anderen zum Bewußtsein erheben können. Sie hätten keine
solche Szene als Kindheitserinnerung bekommen, oder vielleicht
eine andere, denn Sie wissen ja, wie leicht es unserem Witz wird,
Verbindungsbrücken von überallher überallhin zu schlagen. Für
die Echtheit Ihrer Löwenzahnerinnerung spricht übrigens außer
Ihrem Gefühl, das ich nicht unterschätzen möchte, noch etwas
anderes. Sie enthält Züge, die nicht auflösbar durch Ihre Mit¬
teilungen sind, auch zu den aus der Phantasie stammenden Be¬
deutungen nicht passen. So z. B. wenn der Vetter Ihnen mit¬
hilft, die Kleine der Blumen zu berauben. Könnten Sie mit einer
solchen Hilfeleistung beim Deflorieren einen Sinn verbinden?
Oder mit der Gruppe der Bäuerin und der Kinderfrau oben
vor dem Haus?
„Ich glaube nicht.
Die Phantasie deckt sich also nicht ganz mit der Kindheitsszene,
sie lehnt sich nur in einigen Punkten an sie an. Das spricht für
die Echtheit der Kindheitserinnerung.
3 ^*
4^4
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
„Glauben Sie, daß eine solche Deutung von scheinbar harm¬
losen Kindheitserinnerungen oftmals am Platze ist?^^
Nach meinen Erfahrungen sehr oft. Wollen Sie es zum Scherz
versuchen, ob die beiden Beispiele, welche die Henri mitteilen,
die Deutung als Deckerinnerungen für spätere Erlebnisse und
Wünsche zulassen? Ich meine die Erinnerung an den gedeckten
Tisch, auf dem eine Schale mit Eis steht, was mit dem Tod der
Großmutter Zusammenhängen soll, und die zweite von dem Ast,
den sich das Kind auf einem Spaziergang abbricht, wobei ihm
ein anderer Hilfe leistet?
Er besann sich eine Weile: „Mit der ersten weiß ich nichts
anzufangen. Es ist sehr wahrscheinlich eine Verschiebung im
Spiele, aber die Mittelglieder sind nicht zu erraten. Für die zweite
getraute ich mich einer Deutung, wenn die Person, die sie als
ihre eigene mitteilt, kein Franzose wäre.^^
Jetzt verstehe ich Sie nicht. Was soU das ändern?
„Es ändert viel, da der sprachhche Ausdruck wahrscheinlich
die Verbindung zwischen der Deckerinnerung und der gedeckten
vermittelt. Im Deutschen ist ,sich einen ausreißen^ eine recht
bekannte, vulgäre Anspielung auf die Onanie. Die Szene würde
die Erinnerung an eine später erfolgte Verführung zur Onanie
in die frühe Kindheit zurück verlegen, da ihm doch jemand dazu
verhilft. Es stimmt aber doch nicht, weil in der Kindheitsszene
so viel andere Personen mit dabei sind.^^
Während die Verleitung zur Onanie in der Einsamkeit und im
Geheimen stattgefunden haben muß. Gerade dieser Gegensatz
spricht mir für Ihre Auffassung^ er dient wiederum dazu, die
Szene harmlos zu machen. Wissen Sie, was es bedeutet, wenn wir
im Traum „viele fremde Leute“ sehen, wie es in den Nacktheits¬
träumen so häufig vorkommt, bei denen wir uns so entsetzlich
geniert fühlen? Nichts anderes als — Geheimnis, was also durch
seinen Gegensatz ausgedrückt ist. Übrigens bleibt die Deutung
ein Scherz^ wir wissen ja wirklich nicht, ob der Franzose
über Deckerinnerungen
485
in den Worten casser une brauche dun arbre oder in einer
etwas rektifizierten Phrase eine Anspielung an die Onanie erkennen
wird.
Der Begriff einer Deckerinnerung als einer solchen, die ihren
Gedächtnis wert nicht dem eigenen Inhalt, sondern dessen Be¬
ziehung zu einem anderen unterdrückten Inhalt verdankt, dürfte
aus der vorstehenden, möglichst getreu mitgeteilten Analyse einiger¬
maßen klar geworden sein. Je nach der Art dieser Beziehung
kann man verschiedene Klassen von Deckerinnerungen unter¬
scheiden. Von zwei dieser Klassen haben wir unter unseren soge¬
nannten frühesten Kindheitserinnerungen Beispiele gefunden, wenn
wir nämlich die unvollständige und durch diese Unvollständigkeit
harmlose Infantilszene mit unter den Begriff der Deckerinnerung
fallen lassen. Es ist vorauszusehen, daß sich Deckerinnerungen auch
aus den Gedächtnisresten der späteren Lebenszeiten bilden werden.
Wer den Hauptcharakter derselben, große Gedächtnisfähigkeit bei
völlig gleichgültigem Inhalt, im Auge behält, wird leicht Beispiele
dieser Art zahlreich in seinem Gedächtnis nachweisen können. Ein
Teil dieser Deckerinnerungen mit später erlebtem Inhalt verdankt
seine Bedeutung der Beziehung zu unterdrückt gebliebenen Er¬
lebnissen der frühen Jugend, also umgekehrt wie in dem von mir
analysierten Falle, in dem eine Kindererinnerung durch später
Erlebtes gerechtfertigt wird. Je nachdem das eine oder das andere
zeitliche Verhältnis zwischen Deckendem und Gedecktem statt hat,
kann man die Deckerinnerung als eine rückläufige oder als eine
vorgreifende bezeichnen. Nach einer anderen Beziehung unter¬
scheidet man positive und negative Deckerinnerungen (oder Trutz¬
erinnerungen), deren Inhalt im Verhältnis des Gegensatzes zum
unterdrückten Inhalt steht. Das Thema verdiente wohl eine gründ¬
lichere Würdigung^ ich begnüge mich hier damit, aufmerksam
zu machen, welche komplizierten — übrigens der hysterischen
486
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre
Symptombildung durchaus analogen — Vorgänge an der Her¬
stellung unseres Erinnerungsschatzes beteiligt sind.
Unsere frühesten Kindheitserinnerungen werden immer Gegen¬
stand eines besonderen Interesses sein, weil hier das eingangs er¬
wähnte Problem, wie es denn kommt, daß die für alle Zukunft
wirksamsten Eindrücke kein Erinnerungsbild zu hinterlassen
brauchen, zum Nachdenken über die Entstehung der bewußten
Erinnerungen überhaupt auffordert. Man wird sicherlich zunächst
geneigt sein, die eben behandelten Deckerinnerungen unter den
Kindheitsgedächtnisresten als heterogene Bestandteile auszuscheiden,
und sich von den übrigen Bildern die einfache Vorstellung zu
machen, daß sie gleichzeitig mit dem Erleben als unmittelbare
Folge der Einwirkung des Erlebten entstehen und von da an
nach den bekannten Reproduktionsgesetzen zeitweise wiederkehren.
Die feinere Beobachtung ergibt aber einzelne Züge, welche schlecht
zu dieser Auffassung stimmen. So vor allem den folgenden: In
den meisten bedeutsamen und sonst einwandfreien Kinderszenen
sieht man in der Erinnerung die eigene Person als Kind, von
dem man weiß, daß man selbst dieses Kind ist^ man sieht dieses
Kind aber, wie es ein Beobachter außerhalb der Szene sehen
würde. Die Henri versäumen nicht aufmerksam zu machen, daß
viele ihrer Gewährspersonen diese Eigentümlichkeit der Kinder¬
szenen ausdrücklich hervorheben. Nun ist es klar, daß dieses Er¬
innerungsbild nicht die getreue Wiederholung des damals emp¬
fangenen Eindrucks sein kann. Man befand sich ja mitten in
der Situation und achtete nicht auf sich, sondern auf die Außen¬
welt.
Wo immer in einer Erinnerung die eigene Person so als ein
Objekt unter anderen Objekten auftritt, darf man diese Gegen¬
überstellung des handelnden und des erinnernden Ichs als einen
Beweis dafür in Anspruch nehmen, daß der ursprüngliche Ein¬
druck eine Überarbeitung erfahren hat. Es sieht aus, als wäre hier
eine Kindheit-Erinnerungsspur zu einer späteren (Erweckungs-)
über Deckerinnerungen
487
Zeit ins Plastische und Visuelle rückübersetzt worden. Von einer
Reproduktion aber des ursprünglichen Eindrucks ist uns niemals
etwas zum Bewußtsein gekommen.
Noch mehr Beweiskraft zugunsten dieser anderen Auffassung
der Kindheitsszenen muß man einer zweiten Tatsache zugestehen.
Unter den mit gleicher Bestimmtheit und Deutlichkeit auftretenden
Infantilerinnerungen an wichtige Erlebnisse gibt es eine Anzahl
von Szenen, die sich bei Anwendung von Kontrolle — etwa durch
die Erinnerung Erwachsener — als gefälschte herausstellen. Nicht
daß sie frei erfunden wären 5 sie sind insofern falsch, als sie eine
Situation an einen Ort verlegen, wo sie nicht stattgefunden hat
(wie auch in einem von den Henri mitgeteilten Beispiel),
Personen miteinander verschmelzen oder vertauschen, oder sich
überhaupt als Zusammensetzung von zwei gesonderten Erlebnissen
zu erkennen geben. Einfache Untreue der Erinnerung spielt gerade
hier, bei der großen sinnlichen Intensität der Bilder und bei der
Leistungsfähigkeit der jugendlichen Gedächtnisfunktion, keine er¬
hebliche Rolle 5 eingehende Untersuchung zeigt vielmehr, daß
solche Erinnerungsfälschungen tendenziöse sind, d. h. daß sie den
Zwecken der Verdrängung und Ersetzung von anstößigen oder un¬
liebsamen Eindrücken dienen. Auch diese gefälschten Erinnerungen
müssen also zu einer Lebenszeit entstanden sein, da solche Konflikte
und Antriebe zur Verdrängung sich bereits im Seelenleben geltend
machen konnten, also lange Zeit nach der, welche sie in ihrem
Inhalt erinnern. Auch hier ist aber die gefälschte Erinnerung die
erste, von der wir wissen^ das Material an Erinnerungsspuren,
aus dem sie geschmiedet wurde, blieb uns in seiner ursprünglichen
Form unbekannt.
Durch solche Einsicht verringert sich in unserer Schätzung der
Abstand zwischen den Deckerinnerungen und den übrigen Er¬
innerungen aus der Kindheit. Vielleicht ist es überhaupt zweifel¬
haft, ob wir bewußte Erinnerungen aus der Kindheit haben, oder
nicht vielmehr bloß an die Kindheit. Unsere Kindheitserinnerungen
488 Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre: Über Deckerinnerungen
zeigen uns die ersten Lebensjahre, nicht wie sie waren, sondern wie
sie späteren Erweckungszeiten erschienen sind. Zu diesen Zeiten
der Erweckung sind die Kindheitserinnerungen nicht, wie man
zu sagen gewohnt ist, aufgetaucht, sondern sie sind damals ge¬
bildet worden, und eine Reihe von Motiven, denen die Absicht
historischer Treue fern liegt, hat diese Bildung sowie die Aus¬
wahl der Erinnerungen mitbeeinflußt.
INHALT DES ERSTEN BANDES
Seite
Studien über Hysterie. i
Vorwort zur ersten Auflage. 5
Vorwort zur zweiten Auflage. 5
Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene
(von Breuer und Freud). 7
Krankengeschichten. 25
A) Frau Emmy v. N . . vierzig Jahre, aus Livland .... 25
B) Miß Lucy R., dreißig Jahre.89
C) Katharina.iio
D) Fräulein Elisabeth v. R.122
Zur Psychotherapie der H3^sterie.178
Frühe Arbeiten zur Neurosenlehre (1892 —1899) 239
V orwort.241
Charcot.243
Ein Fall von hypnotischer Heilung nebst Bemerkungen über die
Entstehung hysterischer Symptome durch den „Gegenwillen258
Quelques considerations pour une etude comparative des paralysies
motrices organiques et hysteriques.273
Die Abwehr-Neuropsychosen.290
Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten
Symptomenkomplex als „Angstneurose^^ abzutrennen . . . 306
l) Klinische Symptomatologie der Angstneurose.308
II) Vorkommen und Ätiologie der Angstneurose.316
III) Ansätze zu einer Theorie der Angstneurose.324
IV) Beziehung zu anderen Neurosen.330
4
490
Inhalt des ersten Bandes
Seite
Obsessions et Phobies.334
Zur Kritik der „Angstneurose“.343
Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychosen . . . 363
I) Die „spezifische“ Ätiologie der Hysterie.364
II) Wesen und Mechanismus der Zwangsneurose.369
III) Analyse eines Falles von chronischer Paranoia.376
L’heredite et l’etiologie des nevroses.388
Zur Ätiologie der Hysterie.404
Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen.439
Über Deckerinnerungen.465
Sigin. Freud (1891)
KUNSTBEILAGE
am Anfang des Bandes
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K SAMME r
CHRIFTEi r
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ST*! DIEN ÜB'.
H Y S T E R I :•
NEUROSENLEh'
1892-1899
/J./
F88,
F R E'I^ p;-
CH R f FT j;
1
STUDIEN ÜB
H Y S T E R I :
iEüROSENLEi:
1892-1890
/3J
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